Der Schutz der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht: Eine rechtsvergleichende Studie [1 ed.] 9783428504824, 9783428104826

Gegenstand dieser rechtsvergleichenden Arbeit ist die Frage, wie der Schutz der Berufsfähigkeit im deutschen Verfassungs

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Der Schutz der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht: Eine rechtsvergleichende Studie [1 ed.]
 9783428504824, 9783428104826

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ALEXANDRA BORRMANN

Der Schutz der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiers und Detlef Merten Band 82

Der Schutz der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht Eine rechtsvergleichende Studie

Von

Alexandra Borrmann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Borrmann, Alexandra:

Der Schutz der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht : eine rechtsvergleichende Studie I von Alexandra Borrmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum europäischen Recht ; Bd. 82) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10482-X

Alle Rechte vorbehalten

© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-10482-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Vorwort Es mag zwar sein, daß, wie Noteboom sagt, Europa in gewisser Weise eine Fiktion ist, denn "im allgemeinen pflegen sich Töchter phönizischer Könige nicht auf den Rücken eines x-beliebigen Stiers zu setzen, um sich nach Kreta entführen zu lassen" 1• Das Regelwerk der EU ist nun auch weniger lyrisch als die griechische Mythologie, dennoch verschafft es zumindest für den Bereich der Europäischen Union mit den Grundfreiheiten für den Einzelnen sehr real eine bislang ungeahnte Freiheit und die Möglichkeit der Mobilität. Diese Arbeit setzt sich mit der Frage auseinander, inwieweit das Grundrecht der Berufsfreiheit im Recht der Europäischen Gemeinschaft verankert ist. Hierbei wird besonderes Augenmerk auf den Grundrechtsgehalt der Gewährleistungen aufgrund der Grundfreiheiten gelegt. Angesichts der ständig fortschreitenden Rechtsentwicklung kann die vorliegende Untersuchung in gewisser Weise nur eine Momentaufnahme darstellen. Diese Arbeit, die als Dissertation an der Universität Köln angefertigt wurde, ist auf dem Stand November 1999. Die Rechtsentwicklung sowie Literatur und Rechtsprechung konnten daher nur bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt werden. Keine Erwähnung finden aus diesem Grund auch die Vertragsänderungen anläßlich des Vertrags von Nizza, insbesondere die Verabschiedung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Für die Anregung zum Thema und die Betreuung der Arbeit danke ich Prof. Dr. P. J. Tettinger. Prof. Dr. S. Hohe danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Prof. Dr. S. Magiera und Prof. Dr. D. Merten danke ich für die Aufnahme in die Schriftenreihe. Für ihre Unterstützung danke ich Jörg Kopitzke und Elke Karrenberg. Meinen Eltern danke ich für alles. Gewidmet ist die Arbeit meiner Großmutter, Frau Dr. lrmgard Heckmann (1913- 2000). Köln, im Februar 2001

1

Nooteboom, in: Wie wird man Europäer, S. 34.

Alexandra Borrmann

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I. Erkenntnistheoretische Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. Idee einer menschlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einschränkungsmöglichkeit der rechtlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Historische Entwicklung der Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehungszeit in Kontinentaleuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ab 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dreißiger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Berufsfreiheit als Menschen- und Bürgerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht .. .. . ...... . . .. .. ... ... .. . . . . . . .. . .. . 40 I. Rechtsquellen . . .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . .. . . . . .. . .. .. .. .. .. .. . . . .. . . . . . . . 40 1. Geschriebenes Verfassungsrecht .. .. .. . .. . .. .. . . . .. . .. . .. .. .. . .. . .. . . . . . .. . . .. 40 2. Richterrecht .. . .. .. . .. . . .. .. .. .. .. .. .. . . .. .. . . . . .. .. .. . .. .. . .. .. . .. . . . . .. . . . .. . 40 3. Einßuß des Buroparechts auf die Auslegung der Berufsfreiheit im deutschen Recht ........................................... . .............................. a) Offenheit des Grundgesetzes für den internationalen Ein1luß . . . . . . . . . . . . . b) Stellung des Europarechtes im Verhältnis zum nationalen Recht . . . . . . . . . c) Art der Einwirkung auf das nationale Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Entstehung der Vorschrift des Art. 12 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Art. 121 GG als Abwehrrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Personeller Anwendungsbereich .. .. . . . .. . .. . .. .. . . .. .. .. . .. .. .. . . .. . . .. . . .. .. a) Adressat .. .. . . .. .. . .. .. .. .. . .. .. .. . .. . .. . .. . .. .. . .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. . .. . .. aa) Erweiterung der Schutzgewährung auf internationale Bindungen . . . bb) Unmittelbare Bindung Privater... .................... ......... ....... b) Grundrechtsberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Personenmehrheiten.. .... .... .. . .... . . .. .. .... ..... ...... . ... ...... .. 2. Räumlicher Geltungsbereich . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schutzbereich . .. .. . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Berufsbegriff .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. . .. . .. .. .. .. .. . .. .. . .. .. . .. . aa) Offener Berufsbegriff .. .. .. .. .. . .. .. .. . . .. .. . . .. .. . .. .. .. .. .. .. . . .. . . ( 1) Berufsbildlehre . . . . . .. .. .. . .. .. . .. .. . . .. .. .. .. .. . .. .. .. .. . . .. .. .. . (2) Europäisierung der Berufsbilder . . .. .. .. .. .. .. . .. .. . . .. . . .. . . .. .. bb) Negative Berufsfreiheit .... ...... ... . . . .. ... . ..... .. . .. .. . ..... .. ... . . cc) Erlaubtsein als objektive Zulassungsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42 43 44 46 47 47 48 48 48 49 50 50 52 55 55 56 56 56 59 60 60

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Inhaltsverzeichnis

dd) Selbständige und unselbständige Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Erwerbs- bzw. Nichterwerbsarbeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) 'Staatlich vorbehaltene oder gebundene Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ö,) Staatlich vorbehaltene Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Staatlich gebundene Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf die staatlich gebundenen und vorbehaltenen Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Öffnung des Beamtenstatus für Unionsbürger . . . . . . . . . . . . . . . (b) Das öffentliche Unternehmen im europäischen Binnenmarkt b) Die Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Berufswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Berufsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wahl der Arbeitsstätte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Freie Wahl der Ausbildungsstätte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Wettbewerbsfreiheit . . . . . ........................ . ................. , . . 4. Eingriff . , .................... . ... . .................. . . , . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Klassischer Eingriffsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erweiterung des Eingriffsbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Jede Einwirkung als Eingriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Weiterentwicklung des Eingriffsbegriffs bei der Berufsfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bundesverwaltungsgericht ................ . . . , . . . ................ , . . . dd) Weiterentwicklung des Schwere-Kriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Theorie der Schutzgutanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kollidierendes Verfassungsrecht als Schutzbereichsbegrenzung...... . . . . 5. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung .. . ... . . . . . . .. . . . . . .. ...... ........ . . . . . . a) Gesetzliche Grundlage gern. Art. 12 Abs. 1 S. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Stufentheorie des Bundesverfassungsgerichtes .................... , . . aa) Stufendarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grenzfälle bei der Stufentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Behandlung der "Grenzfälle" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zweck ...................... . .............................................. aa) Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Differenzierung der Gemeinwohlbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhältnismäßigkeit ........ . .......................................... , . . . aa) Geeignet, erforderlich .. ....................... , .................. , . . . bb) Zurnutbar (verhältnismäßig im engeren Sinne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtfertigung von Ausübungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Subjektive Zulassungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Objektive Zulassungsschranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Insbesondere staatliche Monopole , ............ . ..... . ... , . . . (b) Einfluß der europäischen Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . e) Anwendung der Stufentheorie durch das Bundesverfassungsgericht heute .. . ...................... . . . . . .................. . ... . .................. . . . IV. Art. 12 I GG als verfassungsrechtliche Wertentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Teilhabe- und Leistungsrechte aus Art.l21 GG........ . .... . ... .......... .. ..... I. Staatsziel Berufsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis a) Recht auf Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Recht auf Bildung . . . . . . .. .. .. ...... .. .. . .... . . . ... .. ...... .. .. . . . . . . . . . .. . 2. Europäisierung des Rechts auf Arbeit und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Ausstrahlungswirkung der Berufsfreiheit auf das Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Objektive Schutzpflicht ...... . ..................... . . . ................... . . . . . ... 1. Neuere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Schutzpflichten aus der Berufsfreiheit ..... . ..................... .. .................... . ... .... a) Der Schutz der deutschen Seeleute vor ausländischer Konkurrenz . . . . . . . b) Der Kündigungsschutzbeschluß des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . .. . 2. Ambivalenz des Schutzgebotes bei Art. 12 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen- ein Überblick . . . . . . . . . . . I. Der britische Sonderweg ....................... . ... . . . ..................... . . . ... II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einzeldarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Dänemark, Schweden, Finnland ... .... . ... . .. ... ..... . ........ .. .. .. . ... . b) Irland ............. . ............................ . . . ....................... .. c) Belgien, Niederlande .......................... . . . ................ . .... . .. . d) Frankreich ............... . ................ . .... .. ............... . . . ...... . . e) Italien, Griechenland, Spanien, Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Österreich, Luxemburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geschützter Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Natürliche Personen . .. . ....... .. .... .... .... . . . . . .. .. ....... . ..... ........ b) Personenmehrheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Auswirkungen auf die Gewährung von Rechtsschutz .... . ....... .. . . ..... 3. Inhalt der Berufsfreiheit in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten .. .. . . ... . . 4. Umfang des Schutzes der Berufsfreiheit ............ . ....................... . . a) Unterscheidung selbständig/unselbständig .... . .................. . ... ..... b) Geschützte Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unterscheidung zwischen Berufswahl und -ausübung ...... . ...... . . bb) Ausbildungsfreiheit .... ... ... . . . .... . . . .... . .... . . . .. . .......... .. . . . 5. Einschränkbarkeil ...... . . . ......... . ......... . .... . . . ............ . . . ........ . . a) Gesetzesvorbehalt .. . . . .............. .. . . . . .... . . . ............ . . . . .. . . ..... b) Eingriffsrechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verhältnismäßigkeilsgrundsatz ..................................... . . bb) Wesensgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Recht auf Arbeit ........................................................... . ... 7. Wirkung der Grundrechte im Privatrecht ............ . .............. . ...... . ... a) Drittwirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Konstituierung von Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Europäisierung der Verfassungslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107 107 108 109 109 111 111 113 115 117 119 119 119 120 122 123 123 124 124 124 126 126 127 128 129 130 130 130 134 135

D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht .... . . . ... . ............. . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangslage ....... . .... . . . . . ............ .. . . .. . . . .............. . .. . . . . . . ..... 2. Ziel des Europarechts .. . ............. .. ............. . ................. . ....... 3. Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141 141 141 142 143

Inhaltsverzeichnis

10

ll.

III. IV. V.

VI.

a) Gesetzesrecht .............................. . ........................ . . . . ... b) Richterrecht ............................... . ... . .................... . . . ... . Grundrechtliche Verbürgungen aus den Verträgen ... . .................. . ... . . . . . I. Vertrag über die Europäische Gemeinschaft .. . . . . . . .. ................. . . . . . .. 2. Präambeln von EEA und EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art.6IIEUV .......................................................... . . ... ... Europäische Menschenrechtskonvention .................................. .. ..... Grundrechtserklärungen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung eines Grundrechtsschutzes aus allgemeinen Rechtsprinzipien . . . . . I. Zuständigkeit des EuGH ...... . ......... . .. . ...... . . ................ . . ... .... . 2. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ursprung der Rechtsfigur der Allgemeinen Rechtsprinzipien ... . . . .. .... b) Ermittlungsmethode ..... . ........................................ . ........ 3. Verptlichtete aus den allgemeinen Grundsätzen ...................... . . . . . .... 4. Rang der Rechtsquelle .............................. . .... ...... ...... . ....... . 5. Herleitung der Berufsfreiheit aus allgemeinen Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . a) Inhalt eines Grundrechtes der Berufsfreiheit aus allgemeinen Rechtsprinzipien-Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einschränkbarkeil der Berufsfreiheit aus allgemeinen Rechtsprinzipien . c) Wesensgehalt und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Schranken-Schranken ..................... . ......................................... . . . ...... 6. Kritik am Grundrechtsschutz aus Allgemeinen Rechtsprinzipien ...... . ...... Die Personenverkehrsfreiheiten des EGV . . .... . ......... . .. ... . . . . . .. . . . .. . .... . I. Methodik ............ . ..... . . . ............. . ..... .. . . .......................... 2. Anwendungsbereich ....... . . . ........................ . .......... . ...... . ...... a) Personal ............... . ............................................ . ...... aa) Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Arbeitnehmer (Art. 39 EGV) ..................................... (2) Selbständiger (Art. 43 EGV) ........... . ......................... (3) Personenmehrheiten (Art. 43,48 EGV) . . ........................ bb) Teilnahme am Wutschaftsleben ...................................... (1) Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Prostitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kultur, Sport, insbesondere die Erstreckung auf den Profifußball cc) Staatsangehörigkeitserfordemis ............................... . ...... b) Räumlicher Anwendungsbereich .......................................... c) Sachlicher Anwendungsbereich . .................... . ..................... 3. Inhalt der Freiheiten . ...................... . .............. ... .................. a) Umfang der Gewährleistungen aus Art. 39 II EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bewerbung- Art. 39 Abs. 3 lit. a EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Freizügigkeit während der Beschäftigung- Art. 39 Abs. 3 lit. b EGV cc) Berufsausübung - Art. 39 Abs. 3 lit. c EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Freizügigkeit nach Beendigung der Beschäftigung - Art. 39 Abs. 3 lit.d EGV .... ........ . .. . . . ...... ........... .. . .. .................. .. ee) Ausbildung ... . .... ... ............. ..... .................. .. .. ..... ... fi) Begleitrechte für Familienangehörige ................ . ... .. ..........

143 144 147 147 148 149 150 151 153 154 154 154 155 157 158 158 158 160 161 162 166 167 167 168 168 168 168 169 170 171 171 172 174 175 175 176 176 177 178 178 179 179 182

Inhaltsverzeichnis b) Umfang der Gewährleistungen aus Art.43 EGV .................. . . . .. . .. aa) Allgemeines ............................... . .................. . . . . . ... bb) Personenmehrheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Handelnder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Erstreckung der Anwendbarkeit auf privatrechtliche Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Rechtsgrundlage .............. . ... . . . ............ . .... . . ..... . (b) Einschränkende Auslegung ... . . . . . . . .............. . ........ . . (aa) Die Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb)Rechtfertigungsgründe ...... . . . . . .. . . . ... . ... . . .. .... .. . . (cc) Verhältnis zum Sekundärrecht . .. ..... . .......... . . . . . . . . (dd)Mitwirkungspflicht Art. 5 ll EGV ............. . . . ...... . . (ee) Verhältnis zum Wettbewerbsrecht. ............ . ........ . . (ft) Strukturelles Ungleichgewicht . . ..................... . . .. (gg) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Niederlassungsfreiheit .......... . ... . ..... . .......... . ...... . . (2) Arten des Eingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Direkte Diskriminierung ......... . . . ................ . ...... . . (b) Versteckte Diskriminierung ...... . . . .............. . . .. ..... . . (c) Beschränkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Warenverkehrsfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Personenverkehrsfreiheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Urteil vom 12.7.1984- Rechtssache Klopp . ...... . . (~)Urteil vom 30.4.1986- Kommission/Frankreich .... (y) Urteil vom 12.2.1987- Kommission/Belgien ..... . . (ö) Urteil vom 7.7.1988- Rechtssache Stanton . ...... . . (e) Urteil vom 31.3.1993- Rechtssache Kraus . .. ..... . . (~)Urteil vom 15.12.1995- Rechtssache Bosman ...... (Tl) Konvergenz der Personenverkehrsfreiheiten . . . . . . . . . (9) Übertragung der Keck-Rechtsprechung auf die Personenverkehrsfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Umgekehrte Diskriminierung ................ . . . .. . . . . . .... . . (3) Keine Verdrängung durch andere Vorschriften ................. . . bb) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtfertigung von Diskriminierungen ................. . ...... . . (a) Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit .... . .. ... . ....... . . .. . . . .. .. . .. ......... . ... . .. . .. . ....... (aa) Insbesondere Arbeitnehrnerfreizügigkeit . . . . . .. ........ . . (bb)Die Rechtfertigungsaspekte im einzelnen ..... . . . ...... . . (b) Vorbehalt der öffentlichen Verwaltung bzw. Gewalt (Art. 39 IV, 45 EGV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Art. 86 II EGV ...... . .... . .. . .. .. . . ................. .. . .. . . .. (d) Schranken-Schranke der Verhältnismäßigkeit ....... . . . . . . . . . (2) Rechtfertigung sonstiger Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Vorbehalt des Allgemeininteresses ........ . .. . .... . . . ...... . . (b) Rechtfertigungsgrund nichtwirtschaftliche Betätigung? ... . .

11 183 183 184 185 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 197 198 200 200 201 202 203 204 204 205 206 207 209 210 213 213 213 214 215 216 217 219 220 220 221 222

12

Inhaltsverzeichnis (c) Verhältnismäßigkeit ................................ . . . ... . ... (aa) Geeignet.................... . . . . . .................... . ... . (bb)Erforderlich ..... .... . .......... ..... . . ..... . . .. . . . ...... . (cc) Angemessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Rechtfertigung durch kollidierendes Vertragsrecht bzw. den Grundrechten aus allgemeinen Rechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . (aa) Vertragsrecht .................. . .. . ............. . . ... . . ... (bb)Kollision von Grundrechten und Grundfreiheiten ........ (3) Mißbrauchsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

E. Zusammenschau des Schutzgehalts der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Darstellung hinsichtlich der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vergleich hinsichtlich der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsquellenrang von GG und EGV .......... . ................ . ..... . .. . b) Rechtsquellenrang von ungeschriebenen Grundrechten ..... . .. . ....... . . 2. Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verknüpfung der Ebenen ................ . ........................... . ......... III. Vergleich hinsichtlich des Umfangs der Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Träger, Rechtsweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Adressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Berufsfreiheit als staatsgerichtetes Abwehrrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grobstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eingriffsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtfertigungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Schutz eines Gemeinwohlgutes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wesensgehalt .. . . . . . . . ................ . . . . . . . ................ . ... . . . . . 4. Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Weitere Funktionen der Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Teilhabekomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wertentscheidung für die Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Gibt es ein Grundrecht der Berufsfreiheit auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene? I. Bedarf es eines Grundrechts der Berufsfreiheit auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene? .............. . .. .... .... . ........... . ..... ... .. . . . ......... . .... . ..... . .... II. Grundrechtscharakter der Personenverkehrsfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zielrichtung der Personenverkehrsfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verknüpfung von Berufsfreiheit und Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Historischer Zusammenhang von Freizügigkeit und Berufsfreiheit . . bb) Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirtschaftliche lmplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Überschneiden der Funktionen "Schaffung des gemeinsamen Marktes" und "individuelle Freiheitssicherung" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vergleich mit dem nationalen Recht . . . . . . . . ..... . . . . . ........ . ......

223 223 223 224 225 225 225 227 229 229 231 231 231 233 233 235 237 237 238 238 238 239 239 240 240 241 242 242 243 243 243 244 247 247 249 250 250 250 250 251 251 253

Inhaltsverzeichnis cc) Kompetenzielle Betrachtung ............... . ................ . ...... . . 2. Anwendungsbereich der Personenverkehrsfreiheiten bzw. des Art. 121 GG . . 3. Gleichheits- und freiheitsrechtliche Elemente der Personenverkehrsfreiheiten ...................... . . . . . ........... . ............ . ....... ... ...... . .. ... . . . 4. Das Verhältnis von Personenverkehrsfreiheiten zu Grundrechten . . . . . . . . . . . . . 5. Drittwirkung der Personenverkehrsfreiheiten ..... . . . ................... ... . . . a) Vergleich mit den Grundrechten des EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Drittwirkung und Gemeinwohl . .. .. .. . .. . . . . .. .. . .. .. . .. . .. . .. . .. . . . . . .. . . 6. Die Personenverkehrsfreiheiten als Grundrecht der Berufsfreiheit . . . . . . . . . . . a) Bewertung der EuGH-Rechtsprechung zu den Personenverkehrsfreiheiten als Grundrecht ...... ..... ........................ . ......................... b) Möglichkeit einer Änderung der Auslegungsrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Personenverkehrsfreiheiten als Grundrecht der Berufsfreiheit ...... . ... . .

13 253 254 255 256 257 257 258 260 261 262 263

G. Ergebnis ... . . . .................. . . . . . .................... . ......................... . ... 266

Literaturverzeichnis .. .. .. . .. .. . .. .. . . .. .. .. .. . .. .. . .. .. . .. . .. .. . .. . .. .. . . .. .. . . . . .. .. .. . . 270 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

Abkürzungsverzeichnis a.A. AcP

AK

AöR ArbuR Art. BayVBl BayVGH BBG BT-DrS BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE B-VG Diss.

cc

CE C.M.L.R. DÖD DÖV DtZ DVBl DZWir ed. EGV E.L.Rev. etal. EU EuGH EuGRZ EuR EuZW EWGV FAZ FS GewArch GG HbdStR. Hrsg.

andere Auffassung Archiv für die civilistische Praxis Alternativkommentar Archiv des öffentlichen Rechts Arbeit und Recht Artikel Bayrische Verwaltungsblätter Bayrischer Verwaltungsgerichtshof Bundesbeamtengesetz Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts Bundesverfassungsgesetz Dissertation Conseil Constitutionel Conseil d 'Etat Common Market Law Review Der öffentliche Dienst Die öffentliche Verwaltung Deutsch-deutsche Zeitung Deutsche Verwaltungsblätter Deutsche Zeitschrift für Wlftschaftsrecht editor Vertrag über die europäische Gemeinschaft European Law Review und andere Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte Zeitschrift Europarecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung Festschrift Gewerbearchiv Grundgesetz Handbuch des Staatsrechts Herausgeber

Abkürzungsverzeichnis JA JböR JURA JuS JZ Kap.

KI

LAG L.Q.Rev. Mod.L.Rev. m.w. N. NJW NVwZ ÖJZ OVG RabelsZ RdA RiA RiW RN RS Slg. SpuRt StGG

sz

VBlBW Verf. VerwArch VfGH vgl.

vo

VVdStRL WissR WRV ZaöRV ZAR ZBR ZfRV ZfschwR ZRP

Juristische Ausbildung Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Kritische Justiz Landesarbeitsgericht Law Quarterly Review Modern Law Review mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Neue Verwaltungsrechtszeitschrift Österreichische Juristenzeitung Oberverwaltungsgericht Raheiszeitschrift für Rechtsvergleichung Recht der Arbeit Rechtim Amt Recht der internationalen Wirtschaft Randnummer Rechtssache amtliche Sammlung der Entscheidungen des EuGH Sport und Recht Staatsgrundgesetz Süddeutsche Zeitung Verwaltungsblätter Baden-Wümemberg Verfassung Verwaltungsarchiv Verfassungsgerichtshof vergleiche Verordnung Verband der Staatsrechtslehrer Wissenschaftsrecht Weimarer Reichsverfassung Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht Zeitschrift flir Ausländerrecht Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für schweizerisches Recht Zeitschrift für Rechtspolitik

15

Einleitung I. Ziel der Arbeit Art. 1 I der italienischen Verlassung besagt, daß Italien eine demokratische, auf der Arbeit gegründete Republik ist. Dies ist nicht der einzige, wenn aber vielleicht einer der prägnantesten (Verlassungs-)Hinweise dafür, daß die Arbeit für den Menschen und damit auch für das Recht ein wichtiger Bereich ist.

Es muß unterschieden werden zwischen der Arbeit, die alle Menschen täglich tun, mit der sie aus Freude oder Pflichtgefühl oder einer Mischung aus beidem anfallende Tätigkeiten erledigen, und der Arbeit, für die sie bezahlt werden oder mit denen sie sich Geld erwirtschaften. Auch diese Beschäftigungen werden sicherlich aus Freude oder Pflichtgefühl oder einer Mischung aus beidem erledigt. Das besondere an dieser Art der Arbeit ist aber, daß sie über die Verrichtung der Tätigkeit als solcher darüber hinaus noch einen Gewinn bringt. Der Mensch arbeitet in aller Regel, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, weswegen er einen Beruf ergreift. Auf diese Weise schafft Arbeit Besitz und Vermögen und eröffnet weitere Möglichkeiten. Für viele Menschen prägt der Beruf einen großen Teil ihrer Lebenszeit. Gleichzeitig bestimmt der Beruf weitgehend den sozialen Status eines Menschen. Er ist damit "nicht nur Beitragen zum Erwirtschaften des Sozialprodukts, sondern ein unentrinnbarer Schauplatz menschlicher Selbstverwirklichung" 1• Diese Ansicht teilt auch das Bundesverlassungsgericht, indem es formuliert, das Recht schütze Arbeit "in ihrer Beziehung zur Persönlichkeit des Menschen, die sich erst dann voll ausformt und vollendet, indem der einzelne sich einer Tätigkeit widmet, die für ihn Lebensgrundlage ist und durch die er zugleich einen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung erbringt" 2• Die Grundrechte sind im allgemeinen ein elementarer Bestandteil einer Verlassung. Sie erlüllen viele Funktionen, indem sie das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger3 zum Staat ausgestalten und dem staatlichen Handeln Grenzen setzen. Grundrechte sind aber auch mehr als positives Recht, sie sind Ausdruck einer politischen Grundentscheidung über das Verhältnis des einzelnen zu der Gemeinschaft, in der er lebt. Sie sind bedeutsamer Bestandteil der Werte- und Rechtskultur einer 1 Badura, Persönlichkeitsrechtliche Schutzpflichten des Staats im Arbeitsrecht in: FS Molitor, S. 1, 13. 2 BVerfGE 3, 377, 397, bestätigt in E50, 290, 362, ausführlich dazu zuletzt BVerfGE 97, 198. 3 Im folgenden wird der Einfachheit halber lediglich die männliche Form verwendet, die dann sowohl Männer als auch Frauen bezeichnet.

2 Bomnann

18

Einleitung

Gemeinschaft4 • Daß der Berufsfreiheit hierbei eine hervorgehobene Rolle zukommt, ergibt sich aus der gerade beschriebenen Bedeutung der Arbeit für den Menschen sowie dem Umstand, daß die Art, in der die Arbeit organisiert ist, zugleich Aufschluß über die Gesellschaftsordnung gibt. Auf letzteren Aspekt kann im Rahmen dieser Arbeit allerdings nur am Rande eingegangen werden. Besonderen Einfluß hat die europäische Rechtssetzung und Rechtsprechung auf den Bereich der BerufstätigkeiL Dem Maastrichturteil des Bundesverfassungsgerichts5 liegt die ernstzunehmende Besorgnis zugrunde, daß die fortschreitende Übertragung von Kompetenzen an die Europäische Union zu einer Aushöhlung des Grundrechtskataloges des Grundgesetzes führt. Im Extremfall gingen die Grundrechtsgarantien ins Leere, weil die zunehmend maßgebliche Hoheitsgewalt durch sie nicht gebunden sei 6• Da die Europäische Gemeinschaft, die eine Säule der Europäische Union ist, aufgrundder ihr übertragenen Regelungskompetenz in weitreichender Weise in die Rechte des einzelnen Bürger eingreift, stellt sich somit die Frage, inwieweit das europäische Gemeinschaftsrecht grundrechtliche Verbürgungen enthält, in denen das Verhältnis der Bürger der einzelnen Mitgliedsstaaten zu den Autoritäten der EG geregelt ist. Auch wenn das deutsche Grundgesetz nicht den Anspruch erheben kann, "Urmutter europarechtlicher Grundrechtssetzung" 7 zu sein, und damit verbindlicher Maßstab für das gesamte europäische Recht, besteht auch aus deutscher Sicht dennoch mit einer gewissen Berechtigung das Bedürfnis darüber zu wachen, daß sich der Rechtsschutz für seine Bürger infolge der europäischen Integration inhaltlich nicht verschlechtert. In dieser Arbeit soll dementsprechend untersucht werden, wie der Schutz der Berufstätigkeit auf europäischer Ebene ausgestaltet ist und ob diese Ausgestaltung im Vergleich zu Art. 12 I GG aus deutscher Sicht als ausreichend angesehen werden kann. II. Gang der Untersuchung Als methodischer Ansatz wurde für diese Arbeit die Rechtsvergleichung gewählt. Ziel der Rechtsvergleichung ist es, wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Herausarbeitungvon Ähnlichkeiten und Unterschieden zu gewinnen 8• Vorliegend ist zu4

5

Stern, HbdStR V § 108 RN 2.

BVerfGE 89, 155.

6 Kokott, DerGrundrechtsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: AöR 121 (1996), 599,600. 7 Hirsch, Die Grundrechte in der EU, in: RdA 1998, 194,200. 8 Rechtsvergleichung wird zuweilen als 5. Auslegungsmethode (neben Wortlaut, Systematik, Historischer und teleologischer Auslegung) bezeichnet. Auch das BVerfG bedient sich der Methode zur Ermittlung nationalen Rechts: z.B. Gutachten des Max-Planck-lnstituts für ausl.

II. Gang der Untersuchung

19

nächst die synchrone oder horizontale Rechtsvergleichung nach Constantinesco anzuwenden9. Darunter versteht man ein Vergleich zwischen zeitlich nahe beieinander liegenden räumlich entfernten Rechtsordnungen. Die Besonderheit liegt allerdings darin, daß der Geltungsbereich der zu vergleichenden Rechtsordnungen nicht nebeneinander liegt, sondern sich überlappt. Da insgesamt die Arbeit unter einer normativen Fragestellung steht, kann man auch von wertender Rechtsvergleichung sprechen 10• Hinsichtlich der Methode wurde der von Ebert sowie Zweigert/Kötz entwickelte Aufbau zugrundegelegt 11 , wenngleich die Arbeit nicht schematisch hiernach aufgebaut werden konnte. Um dem Thema gerecht zu werden, verlangte es, beizeiten vorzugreifen bzw. Exkurse zu machen. Nach einer historischen und geistesgeschichtlichen Einleitung (Kapitel A) werden - getrennt für das deutsche Verfassungsrecht und das europäische Gemeinschaftsrecht - die Regelungsbereiche der Berufsfreiheit in den beiden Rechtsordnungen vorgestellt (Kapitel B, D). Zwischen diesen beiden großen Kapiteln wird ein Überblick über die Regelung der Berufsfreiheit in den Verfassungsordnungen der übrigen EG-Mitgliedsstaaten gegeben (Kapitel C). Neben der Beschreibung des vorgefundenen geschriebenen Rechts geht es in diesen Kapitel auch darum zu sehen, wie die Anwendung und die Effektivität der Rechtsnormen hinsichtlich ihrer Schutzgewährung ausgestattet sind. Damit geht einher, daß der Hintergrund der Norm, die "soziale Tatsächlichkeit" 12 untersucht wird. Das bedeutet, es muß untersucht werden, was für eine Bedeutung die jeweilige Norm in Ansehung der Wirklichkeit hat (law in action) 13 • Danach werden die auf den einzelnen Ebenen gefundenen Ergebnisse nebeneinandergestellt und verglichen. Unterschiede und Ähnlichkeiten werden herausgearbeitet. Bei der Vergleichung von Grundrechten steht neben der Untersuchung des materiellen Schutzgehalts die Frage nach der Rechtsquellenqualität, d. h. nach der Art des Schutzes im Vordergrund. Es muß ermittelt werden, ob es eine Metasprache gibt, ob also der Begriff der Berufsfreiheit im deutschen und im Gemeinschaftsrecht gleichwertig gebraucht wird.

öff. Recht über Grundmandatsklauseln in europäischen Staaten, sowie über die Wahlkreiseinteilung in den westlichen europäischen Demokratien; abgedruckt in ZaöRV 1997, 57, 2-3). 9 Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd.2, S.51 f. w "Im Vorgang des Vergleichens ist unausgesprochen das Suchen nach einer gerechten Lösung eingeschlossen" -Zweigert, in: FS Dolle Bd. 2, S.401. 11 Ebert, Rechtsvergleichung. Einführung in die Grundlagen; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts. 12 Eber!, Rechtsvergleichung, S. 155. 13 Eber!, Rechtsvergleichung, S. 155; s. a. Buxbaum, Die Rechtsvergleichung zwischen nationalem Staat und internationaler Wirtschaft, in: RabelsZ 1996, 201, 219f. 2*

20

Einleitung

Auf der letzten Stufe schließt sich im Rahmen der Wertung der gefundenen Ergebnisse die Frage an, ob es auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts ein Grundrecht der Berufsfreiheit gibt 14•

14 Es ist Kennzeichen der angewandten Rechtsvergleichung, daß eine Wertung nach dem Zweck des Vergleiches, Wertung als Interessenwertung vorgenommen wird, vgl. Ebert, Rechtsvergleichung, S. 163.

A. Grundlagen Wenn die Berufsfreiheit als Grundrecht betrachtet und auf europäischer Ebene verglichen werden soll, so fällt zunächst auf, daß das Recht in Buropa einer gemeinsamen Tradition entspringt, gemeinsame historische und geistesgeschichtliche Wurzeln hat. Auch im Staats- und Rechtsverständnis haben Veränderungen nicht an den jeweiligen Landesgrenzen Halt gemacht, was dazu geführt hat, daßtrotzder Bewahrung landesspezifischer Eigenarten, der Schutz individueller Rechte verhältnismäßig gleichartig verlief1• Wenn im folgenden der Stand eines Schutzes der Berufsfreiheit auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene festgestellt und auf seinen Grundrechtsgehalt überprüft werden soll, so ist dafür wichtig, sich den Kontext dieser Entwicklung vor dem gesamteuropäischen historischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund zumindest überblicksartig zu vergegenwärtigen. Die Berufsfreiheit hat, wie die Entwicklung der Grundrechte im heutigen Verständnis überhaupt, ihren Ausgang im Liberalismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts 2: "Wer leugnet es wohl, wie hoch sich das Herz ihm erhoben ... , als man hörte vom Rechte der Menschen, das allen gemein sei, von der begeistemden Freiheit und der löblichen Gleichheit!"3

I. Erkenntnistheoretische Herleitung 1. Idee einer menschlichen Freiheit

Die Idee vor- bzw. überstaatlicher dem Menschen von Natur aus gegebener unveräußerlicher Grundrechte hat im stoisch-christlichen Naturrecht ihren geistigen Ursprung. Seine für heute relevante Ausprägung hat der Freiheitsbegriff in der Aufklärungsepoche erlangt. Aufbauend auf der Tradition Lockes, Rousseaus und Kants, die den für heute relevanten Freiheitsbegriff geprägt haben\ hat Rawls in 1 Einführend vgl. Stern, Staatsrecht III 1, S. 51 ff; Starck, Entwicklung der Grundrechte in Deutschland, in: GS Sasse Bd. 2, 777. 2 Peters nennt es den rationalen (individualistischen) Liberalismus, in: Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, S. 240. 3 J. W. von Goethe, Hermann und Dorothea, Kap. VI, 6-10. 4 Als wichtige Werke lassen sich unter anderem nennen Locke, Ein Versuch über den menschlichen Verstand 1670; Rousseau, Abhandlung über Ursprung und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, 1753; Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; 1785.

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A. Grundlagen

seiner Theorie der Gerechtigkeit5 nach eigenen Worten die Theorie vom Gesellschaftsvertrag "auf eine höhere Abstraktionsebene gestellt"6• Seinem Werk von 1971, mit dem Rawls Prinzipien eines liberalen und sozialen Rechtsstaates aufgestellt hat?, wird in der politischen Philosophie der Gegenwart sowohl hinsichtlich ihres Inhalts als auch der Diskussionen, die dadurch entfacht wurden, ein großer Stellenwert beigemessen8• Entsprechend dieser Denktradition besitzt jeder Mensch eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles des ganzen Volkes nicht aufgehoben werden kann9• Der Begriff der Freiheit wird nach Rawls sowohl negativ wie positiv gefüllt 10: Ein Mensch ist frei, wenn er von Einschränkungen frei ist und tun und lassen kann, was er will. Das ist dann der Fall, wenn er nach seinen eigenen Wünschen, Haltungen, Meinungen, Charaktereigenschaften usw. handelt 11 , oder anders ausgedrückt, "lndividuals should prima facie be free to select their own ideas of the Good and develop a plan for everyday life accordingly"12. Aus dem kategorischen Imperativ Kants hat Rawls das deootologische Postulat aufgestellt, daß jeder Mensch in gleichem Maße in den Genuß der Freiheit gelangen können muß 13. Wie die Freiheit ausgefüllt wird, entzieht sich der Definition von außen. So läßt sich in der Freiheit ein egoistisch-eigennütziger Wesenszug erblicken 14. Gleichzeitig ist es ein Kennzeichen der menschlichen Gemeinschaftsorientiertheit, daß der Mensch für sich allein nur ein Teil dessen ist, was er sein könnte. Daraus folgt, daß man das Angewiesensein auf andere nicht beseitigen kann 15 . Mithilfe eines Denkexperiments ermittelt Rawls die notwendigen Voraussetzungen, damit der einzelne ~lohn Rawls, A Theory of lustice, 1971, vorliegend wird die deutsche Übersetzung von Hermann Vetter (10. Auflage, Frankfurt/Main 1998) zugrundegelegt Die Seitenzahlangaben beziehen sich folglich auf diese Textausgabe. 6 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kapitel 1/1, S. 12. 7 Vgl. Kersting, lohn Rawls, S. 52. 8 Im Rahmen dieser Arbeit soll deswegen von diesem Denkansatz ausgegangen werden, auf die weiteren Entwicklungen und auch die Kritik an Rawls kann leider nicht eingegangen werden. Es wird auf die weiterführende Literatur verwiesen, so z. B. 0. Höffe (Hrsg.), Über lohn Rawls Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1977; W Kersting, lohn Rawls zur Einführung, Harnburg 1993; R. Kley, Vertragstheorien der Gerechtigkeit, Bem 1989. 9 Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap. 1/1 S. 19. 10 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap. 4/32, S. 230. 11 Hier knüpft er an arn sog. weichen Determinismus, vgl. Hügli/Lübke, Philosophielexikon, S.l95. 12 Feldman, Civil Liberties, S. 5, 8, vgl auch Leisner, Die verfassungsrechtliche Freiheit und ihre Begrenzung, S. 626. 13 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap. 4/40, S. 283 ff, 285. 14 So Burmeister, Dienende Freiheitsgewährleistungen, in: FS Stern, S. 835, 846: im Begriff der Freiheit ist eine autonome Bestimmungskompetenz über die subjektiv als maßgeblich empfundenen Gesichtspunkte des Gebrauchs und Nichtgebrauchs angelegt. 1 ~ Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap. 9n9, S. 574.

I. Erkenntnistheoretische Herleitung

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seine persönliche Freiheit, das eigene Verhalten nach persönlichem "unbeeintlußtem" Willen zu bestimmen, wahrnehmen kann: Wie würden die Menschen einen Zustand gestalten, wenn sie in der gedachten "ursprünglichen" Situation wären, daß sie die allgemeinen Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft, aber nicht ihre persönliche Identität und ihre besonderen Wünsche und Fähigkeiten kennen 16? Das Ergebnis ist, daß jedes Individuum umfassende persönliche und politische Rechte haben muß, etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf persönliches Eigentum, auf politische Mitbestimmung sowie die selben Chancen wie andere, eine Ausbildung und Arbeit zu erhalten. Besonders deutlich tritt die Relevanz dieses Gerechtigkeitsgrundsatzes im Bereich der Arbeit hervor. Da jeder möchte, daß jeder (auch er selbst) nach Grundsätzen handelt, denen alle in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zustimmen würden, gilt für den Bereich der Erwerbstätigkeil, daß jeder durch freiwillige und sinnvolle Arbeit gemäß seiner Neigung frei teilnehmen können soll 17• Aus der Gemeinschaftsgebundenheit der Freiheit folgt aber auch, daß Konfliktfälle auftreten können sowohl zwischen den Interessen der Einzelnen untereinander als auch in bezug auf die Gemeinschaft. In solchen Fallen muß ein Ausgleich geschaffen werden 18• 2. Rechtliche Freiheit

An dieser Stelle greift das Recht ein, welches, als Kontliktlöser verstanden, die Kollisionen der Individualinteressen zu einem möglichst gerechten Ausgleich bringen soll. (Berufs)-freiheit als rechtliche Freiheit wird zunächst lediglich formal verstanden. Ihre juristische Komponente liegt in der Ausschaltung oder Zulassung einer gewissen unmittelbaren Einwirkung des "Verhaltens" eines Rechtssubjekts auf ein anderes. Im rechtlichen Zusammenhang versteht Rawls unter Freiheit, frei zu sein von bestimmten Zwängen, etwas zu tun oder zu lassen, sowie den Schutz des eigenen Thns oder Lassens vor Eingriffen anderer. Im Zusammenhang mit verfassungsmäßigen und gesetzlichen Beschränkungen ist Freiheit eine bestimmte Struktur der Institutionen, ein bestimmtes System öffentlicher Regeln zur Festlegung von Rechten und Ptlichten 19• Dies entspricht der Berufsfreiheit in ihrer liberalen Tradi16 Imagination eines Urzustandes- vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap. 3/23 ff, S.l52 ff, Kritisiert wird diese Vorgehensweise zum Beispiel von Habermas, Faktizität und Geltung, S. 80 ff, der diesen Ansatz als "artifizielle Größe oder Konstrukt" bezeichnet. Ich halte ihn dennoch für sinnvoll, da bei aller Vorsicht, die diese Herangehensweise verlangt, dennoch nur durch ein solches Konstrukt und die Verstandesleistung ein verallgemeinerbarer Freiheitsbegriff geschaffen werden kann. 17 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap. 9n9, S. 574. An dieser Stelle wird deutlich, wie stark Rawls Theorie in der Idee vom sozialen Rechtsstaat verwurzelt ist. 18 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap.4/31, S. 227; 4/39 baut hier auf der praktischen Philosophie Kants, insb. der Metaphysik der Sitten auf, vgl. Kap. 4/40, S. 285 ff. 19 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap. 4/32, S. 230 f.

A. Grundlagen

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tion als Abwehrrecht Allerdings kann sich eine rechtliche Freiheitsgewährleistung, die zum Ziel hat, alle Menschen ihre Freiheit ausüben zulassen, nicht darauf beschränken, selbst die Freiheitssphäre nicht zu berühren. Um dem Ziel, die Gewährung von Freiheit als Freiheit unter Gleichen 20 gerecht zu werden, kann sich die rechtliche Betätigung nicht nur auf diesen formalen Aspekt beschränken. Es bedarf einer materiellen Füllung des Freiheitsbegriffe mittels Verknüpfung von Gleichheit und Freiheit zur (Wieder-)herstellung realer Freiheit für alle- im Sinne einer Chancengleichheit21. 3. Einschränkungsmöglichkeit der rechtlichen Freiheit

Damit stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis unterschiedliche Werte, also die jeweilige individuelle Freiheit und Gemeinschaftsinteressen zueinander stehen und welchem Wert im Konfliktfalle der Vorrang einzuräumen ist. Rawls geht von dem Vorrang der gleichen Freiheit aus 22: Jeder solle gleiches Recht auf ein umfangreiches System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich sei. Die Gleichheit dürfe nur durchbrachen werden, wenn die Vorteile, die einer bestimmten Gruppe von Menschen zugute kommen, allen, vor allem den schlechter Gestellten, nütze23 • Nachraugig dazu stellt Rawls den Grundsatz auf, daß soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so zu gestalten seien, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten sei, daß sie zu jedermanns Vorteil dienten, und (b) sie mit den Positionen und Ämtern verbunden seien, die jedem offen stünden 24 • Der Maßstab dafür, daß ein Konfliktfall vorliegt, der es notwendig macht, die Freiheit des Einzelnen einzuschränken, ergibt sich aus dem Grundsatz Rawls, den er "Gerechtigkeit als Fairness" nennt: Die Parteien (im Urzustand, s.o.) haben völlige Freiheit, beliebige Grundsätze zu wählen, aber sie möchten auch mit eben dieser Wahlfreiheit ihre Natur als vernünftige und gleiche Mitglieder des intelligiblen Reiches ausdrücken, d. h. als Wesen, die die Welt so betrachten und das in ihrem Leben als Mitglieder der Gesellschaft ausdrücken können. Die Gleichheit der Vernunftwesen verlangt, daß die gewählten Grundsätze auch für andere annehmbar sind25 . Auf diese Weise wird ein Gemeinwille entwickelt, welcher die rationale Legitimität für die Freiheitsbeschränkung darstellt. 20

Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap. 2/11, S. 81; 4/31 ff, S.227ff.

21 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit Kap. 2/14, S. 1081.

22 "Der wirksame Schutz der gleichen Freiheit rückt als Stütze der Selbstachtung immer mehr in den Mittelpunkt", Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap. 8/82, S. 594. 23 Vgl. Kritik bei Kersting, lohn Rawls, S. 59 insb. FN 31. 24 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap. 2/11, S. 81; 47/32f, S. 233f, ausführlich Kap. 5/46, S. 336 f. 25 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Kap. 4/40, S. 288 f wieder in offensichtlicher Anlehnung an den kategorischen Imperativ Kants, vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 401/402.

II. Historische Entwicklung der Berufsfreiheit

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Trotz aller Zweifel an dieser vernunftgeprägten Herleitung 26 bleibt sie doch die einzig mögliche, um für eine Gesellschaft allgemeingültige Normen zu schaffen. Gerade weil die Zweifel nach der Effizienz der Berufung auf das sittliche Wesen im Menschen zur Ermittlung des Gemeinwillens ihre Berechtigung hat, und weil ein Gemeinwillen in einer pluralistischen Gesellschaft häufig kaum ermittelbar ist27 , muß die individuelle Freiheit größtmöglich gewahrt bleiben, so daß die Wahrung individueller Freiheiten "should have priority over the pursuit of social goods" 28 • Der unbedingte Vorrang der Grundfreiheiten steht in Übereinstimmung mit der Wertschätzung, die den Grundrechten in der politisch-liberalen Kultur zuteil wird und entspricht damit dem politischen Verständnis dieser Zeit29•

II. Historische Entwicklung der Berufsfreiheit 1. Entstehungszeit in Kontinentaleuropa

In ganz Mitteleuropa setzte sich im 18./19. Jahrhundert die Auffassung durch, daß die Gewährung individueller Rechte jedem Menschen30 aufgrund seines Menschseins zustehe. Darunter wurde zuallererst gerechnet, daß das Recht, jeder solle unabhängig von der Herkunft "seinen Weg machen" können und dürfen 31 , als Grundlage eines selbstbestimmten und freiheitlichen Lebens notwendig sei. Maß26 Vgl. nur Rorty, Menschenrechte, Rationalität und Gefühl, in: Shute/Hurtley (Hrsg.): Die Idee der Menschenrechte 1996, S.144, 151: "... meine Zweifel an der Effizienz einer Berufung auf sittliches Wissen sind Zweifel an der kausalen Wirkung und nicht am epistemologischen Status." 27 Vgl. Feldman, Civilliberties, S. 7. 28 Diese pragmatische Argumentation verfolgt auch Rawls in seinen neueren Schriften, so in seinem 1993 (dt. 1998) erschienenen Buch Po1itical Liberalism; vgl. Kersting, John Raw1s, S. 223 f, Feldman, Civil Liberties, S. 5. 29 V gl. zur Kritik aber die Nachweise bei Kersting, John Rawls zur Einführung, S. 54, insb. FN30. 30 Im historischen Zusammenhang wurden die unveräußerlichen Menschenrechte als Männerrechte verstanden, obwohl der Ausschluß der Frauen von der Gewährung von Menschenund Bürgerrechten in der Folge der französischen Revolution dem Universalistischen Gedanken widersprach. Entsprechend der Rousseauschen Auffassung hätte eine rechtliche Ungleichbehandlung von Männem und Frauen nicht erfolgen dürfen. Dennoch wurde eine solche geduldet bzw. forciert und dadurch gerechtfertigt, daß an das biologische Geschlecht normative Betrachtungen geknüpft wurden. So wurde ein "evolutionäres Defizit der weiblichen Physis" (vgl. Roth, Emile Durkheim und die Prinzipien von 1789, S.l84) festgestellt. Geprägt war diese Geisteshaltung u. a. von Aussprüchen wie diesem: "Die Rolle der Frauen gefährdet eklatant die Naturgesetze, welche den Männemund nicht den Frauen Stärke, Vernunft, Waffen und Dominanz gaben" (Bodin, zit. nach van Caenenen, Constitutional Law, S. 187). Es liegt die Deutung nahe, daß die Zusicherung von Menschen- und Bürgerrechten im Verhältnis der Geschlechter zueinander letztlich auch mit einer gewissen Art von Machterhalt verknüpft war. 3 1 Die Freiheit der Person rechnete man bereits seit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts zu den "lois fondamentales"; vgl. Oestrich, Die Entwicklung der Menschenreche S. 57.

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A. Grundlagen

gehlich für die Führung eines selbstbestimmten Lebens ist die freie Wahl des Berufs, zum einen natürlich wegen der Bedeutung der Tätigkeit für das Individuum. So erkannte Hegel in der Arbeit den "vornehmsten Ausdruck menschlicher Selbstbestimmung", Kant gar den "Endzweck" des Menschen 32. Zugleich beinhaltete die Forderung nach freier Berufswahl gesellschaftspolitische Brisanz. Der Grundsatz der freien Berufswahl stellte ein Gegenbild zur bis dahin vorherrschenden Berufsordnung der Ständegesellschaft dar, nach deren Konzeption die Berufsstände als Vertreter der realen gesellschaftlichen Interessen Träger des Staates sein sollten und die Ausübung einer Berufstätigkeit von der Zugehörigkeit zu der entsprechenden Zunft abhängig gemacht worden war, was zu der Entstehung einer festgefügten beruflichen Ordnung geführt hatte. Die Freiheitsgewährleistungen des Mittelalters, wie z. B. die städtischen Verfassungen oder Landesfreiheiten, waren stets nur Freiheiten der Stände oder Korporationen gewesen. Gleiches gilt für die Magna Charta von 1215, in der der Beginn der englischen Freiheitsentwicklung gesehen wird 33. Erst das Fallen der Zunftschranken (zuerst Mitte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien) und die Schaffung der Gewerbefreiheit hat zu einem Aufweichen dieses starren Systems geführt34• Methodisch erfolgten die ersten Normierungen von Grund- und Menschenrechten mittels eines Prozesses des Umdeutens überlieferter konkreter Freiheiten der Ständegesellschaft in allgemeine Freiheiten der Menschen35. Während die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 als der erste geschriebene Menschenrechtskatalog Europas (nach amerikanischem Vorbild36) die Berufsfreiheit nicht explizit, sondern vielmehr als Teil der persönlichen 32 Hege/, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 187; Kant, Kritik der Urteilslcraft, 1790, §83; vgl. dazu Schneider, Art.l2 GG- Freiheitdes Berufs und Grundrechtder Arbeit, in: VVdStLR 43 (1985) 8, lOf. 33 Vgl. auch die Charta im Frieden von Fexhe (1316) als entsprechender Markstein in der belgiseben Geschichte sowie die Magna Charta Tirols (1342) in Österreich und die Haandfaestning von 1282 in Dänemark. 34 Vgl. ausführlich Quante. Die geistesgeschichtlichen Grundlagen und die Entwicklung der Gewerbefreiheit in Deutschland, S. 27 ff; Ziekow, Freiheit und Bindung des Gewerbes, Diss. Berlin 1989, S.35ff. 35 Maier, Überlegungen zu einer Geschichte der Menschenrechte, in: FS Lerche, S.43, 44 ff; Oestrich, Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 63; speziell die Gewerbefreiheit betreffend s. Quante, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen und Entwicklung der Gewerbefreiheit in Deutschland, S. 24 ff. 36 Vorläufer für die modernen europäischen Grundrechtskataloge war die 1766 erlassene Bill of Rights of Virginia (section 1), die wiederum ihre Wurzeln in der englischen Geschichte hat. Bedeutsam in der Entwicklung waren die Petition of Rights aus dem Jahre 1628, die Habeas Corpus-Akte von 1679 und schließlich die Bill ofRights von 1688, wodurch die Kolonialisten in ihrem Selbstverständnis, unveräußerliche Rechte zu haben, geprägt waren. S.Bachof, in: Bettermann/Nipperdey, S. 157; Hartung, Die Entwicklung der Grundreche seit 1776, S.13ff; Maier, in: FS Lerche, S.43ff; Dreier, Kontexte des Grundgesetzes, in: DVB11999, 667,670.

II. Historische Entwicklung der Berufsfreiheit

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Freiheit37 mitgeschützt ansah, findet sich in der zwei Jahre später in Kraft getretenen ersten geschriebenen Verfassung in Europa 38, dem französischen acte constitutionel vom 3.9.1791, folgende Norm die Berufs- und Gewerbefreiheit betreffend39: § 17 "Keine Art von Beschäftigung, des Erwerbs und des Handels kann dem Fleiße der Bürger untersagt werden" 40•

Damit bildet diese Verfassungsurkunde in ihrer Zeit allerdings eine Ausnahme. In den meisten folgenden Verfassungen des frühen 19. Jahrhunderts ist entsprechend der Stimmung der Zeit die Festschreibung nationaler Unabhängigkeit gegenüber Grundrechtsgewährleistungen der Bürger in den Vordergrund gerückt. So enthalten die Verfassungen Schwedens von 1809, Spaniens von 181241 , der Niederlande42 und Norwegens, beide von 1814, Portugals von 1822 sehr wenige bis gar keine Grundrechtsgewährleistungen. Auch der nachnapoleonische französische acte constitutionel von 1814 stellte sich nur noch als Rumpffassung zur Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 dar, beschränkte die grundrechtliehen Gewährleistungen zudem auf die "öffentlichen Rechte der Franzosen", womit sie den Universalistischen Anspruch der Revolution verloren hatten. Die Verfassungsurkunde Belgiens von 1831, die als "das modernste Grundgesetz der damaligen Zeit" 43 bezeichnet wird, enthielt zwar angelehnt an die Verfassungen von 1776 und 1789 Grundrechte (genauso wenig allerdings eine explizite Gewährung der Berufs- oder Gewerbefreiheit, letztere war seit 1791 einfachgesetzlich garantiert), beschränkten sie aber ebenso wie die französische acte auf ,,Rechte der Belgier". Mit der Beschränkung der Rechte auf die Staatsangehörigen hat eine Positivierung des Rechtsschutzes eingesetzt. Im Gegensatz zu den ganz frühen Urkunden werden die Grundrechte nicht mehr vorausgesetzt, sondern ihre Gewährung (oder Konstituierung) stellt vielmehr einen Ausdruck staatlicher Souveränität dar44• 37 Art. 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte lautet: ,,La liberte consiste de faire tout ce qui ne nuit pas a autrui." 38 Bereitsam 3.5.1791 war in Polen eine liberale Verfassung in Kraft getreten. Diese Verfassung enthielt jedoch keine Grundrechte und änderte auch an der Lehnsherrschaft nichts. (vgl. van Caenegen, An historical Introduction to westem constitutionallaw, S. 184 f). Gleichzeitig wurde die polnische Verfassung infolge der zweiten polnischen Teilung im folgenden Jahr obsolet. 39 Zu Hintergründen vgl. van Caenegen, An historical introduction to Western Constitutional Law, 184ff. 40 Zitiert nach Hartung, Die Entwicklung der Menschenrechte, S. 63. 41 Diese wurde allerdings von dem bourbonischen König Ferdinand VII nach dessen Rückkehr nach Spanien 1814 nicht anerkannt und hatte damit nur sehr kurze Zeit Gültigkeit. Der Text der spanischen Verfassung von 1812 ist in dt. Übersetzung abgedruckt in Altmann, Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, S.156ff. 42 Erweitert 1849. 43 Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S. l17. 44 S.Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S. 71; Häberle, Europäische Rechtskultur, S. 291 ff; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, S.115.

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A. Grundlagen

Die belgisehe Verfassung diente in der Folgezeit bei der Schaffung vieler neuer Verfassungsurkunden als Vorbild. So ist in starker Anlehnung an die belgisehe Verfassung 1849 eine Iuxemburgische Verfassung entstanden. Auch die Verfassung Dänemarks entstand 1849 nach Vorbild der belgisehern Verfassung. Sie enthielt demgegenüber aber eine explizite Gewährung die Berufsfreiheit betreffend: § 88: Alle Beschränkungen des freien und gleichen Zugangs zur Berufsausübung sind, soweit sie nicht zum Wohle der Allgemeinheit begründet sind, aufzuheben45 •

Der Grund für die Einfügung einer entsprechenden Norm war, daß- anders als in Belgien und auch in weiten Teilen Deutschlands 46 - die Gewerbefreiheit in Dänemark noch nicht gesetzlich verankert war. Mit dieser Regelung wurde bezweckt, für deren Durchsetzung eine konstitutionelle Verankerung zu schaffen 47 • In der Verfassung Griechenlands, die 1864 unter dem ursprünglich dänischen König Wilhelm Georg aus dem Haus Holstein-Glücksburg 48 und unter teilweise wörtlicher Übernahme aus der französischen Verfassung von 1830 und der belgiseben Verfassung von 1831 und auch in geringem Umfang der dänischen Verfassung49 , zustande gekommen war, sucht man eine Gewährung der Berufsfreiheit vergeblich; wohl aber wurde neben der Abschaffung der Leibeigenschaft und dem gleichen Zugang zum Staatsdienst auch festgeschrieben, daß jeder nach Maßgabe der Gesetze Lehranstalten errichten darf 50• 1848 entstand die für die Einheit des zersplitterten Italiens so wichtige Verfassung Sardiniens 51 • Sie war die einzige liberale Verfassung im italienischen Raum, ebenso unter Vorbildnahmeder französischen und belgiseben Verfassungen entstan45 In deutscher Übersetzung abgedruckt in: Altmann, Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, S.156ff. 46 In Preußen z. B. ist die Gewerbefreiheit einfachgesetzlich bereits 1807 eingeführt worden. 47 Diese Taktik zeigte Erfolg. Einige Jahre später, 1857 wurde die Gewerbefreiheit durch die Gewerbeordnung eingeführt; im Nachbarland Schweden geschah dies im übrigen 1864. vgl. Gralla, Grundrechte in Dänemark, in: JbÖR 38 (1989), 299, 303; Dübeck, Introduktion til dansk ret, S.50; Jägerskiöld, Administrative Law, S. 79, 84. 48 Bereits 1844 war eine Verfassung in Griechenland nach französischem und belgiseben Vorbild entstanden, ohne aber die demokratischen Grundlagen der letzteren anzunehmen. Erst die Wahl Prinz Wilhelm Georgs zum König der Hellenen und die Verfassung von 1864, deren wesentlicher Gegenstand die Schaffung einer (beschränkten) Demokratie in den politischen Wirren war, brachte das moderne Staatsverständnis nach Griechenland. vgl. N. Saripolos, Das Staatsrecht des Königreichs Griechenland, Tübingen 1909; einen Überblick verschafft Kerameus!Kozyris, lntroduction to Greek Law, Deventer 1988, S. 7 ff. Interessant in diesem Zusammenhang auch N. Pantazopoulos/G .L. v Maurer, The total Influence of European Prototypes on Greek Legislation, 1988. 49 lliopoulos-Strangas, Der Einfluß desGrundgesetzsauf griechisches Verfassungsrecht, in: Stern, 40 Jahre Grundgesetz, S. 259, 262. 50 Nach Saripolos, Das Staatsrecht des Königreichs Griechenland, S. 30ff. 51 Statutedel Regno di Sardegna vom 4.3.1848, abgedruckt in Altmann, Ausgewählte Urkunden der außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, S. 227; s. a. Kind/er, Einführung in das italienische Recht, RN 3 ff, 8 m. w. N.

II. Historische Entwicklung der Berufsfreiheit

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den. Demokratische Errungenschaften lagen in der Gewährung erster persönlicher Freiheitsrechte, worunter nicht die Berufsfreiheit fiel 52 • Die süddeutschen Landesverfassungen des Vormärz53 sind nach Vorbild der französischen Charte von 1814 entstanden. Man wollte nicht anknüpfen an den revolutionären Geist von 1789, sondern lediglich unter Beibehaltung des monarchischen Charakters im jeweiligen Land dem Volke Anteil am Staatsleben gewähren. Genau wie einige norddeutsche Verfassungen 54 waren sie im Vergleich zu den europäischen Verwandten wortreicher und enthielten für jeweiligen Staatsbürger ("Eingeborenen"55) explizit die Gewährung der Freiheit der Berufswahl, die verknüpft wurde mit der freien Wahl der Ausbildungsstätte, der Wissenschaftsfreiheit, dem Recht zum Studium außerhalb der Landesgrenzen und dem Zugang zum Staatsdienst. Darüber hinaus enthielten sie Regelungen, mittels derer in erster Linie die Handels- und Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit gewährt wurden56. Darauf aufbauend hieß es in der Paulskirchenverfassung vom 28.3.184957 : § 133: Jeder Deutsche hat das Recht, an jedem Orte des Reichsgebietes seinen Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, Liegenschaften jeder Art zu erwerben und darüber zu verfügen, jeden Nahrungszweig zu betreiben, das Gemeindebürgerrecht zu gewinnen. § 158: Es steht einem jeden frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden wie und wo er will 58 •

Von der belgiseben Verfassung geprägt und von den Beratungen in Frankfurt bestimmt59 entstand 1867 das Österreichische Staatsgrundgesetz (StGG) mit folgendem Inhalt die Berufsfreiheit betreffend: 52 Gewährt wurden die Versammlungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit; vgl. Kind/er, Einführung in das italienische Recht, RN3 ff, 10; hierzu ebenso Ritterspach, Die italienische Verfassung nach 40 Jahren, in: JbÖR 37 (1988), 65 ff. 53 V gl. Art. 29 und 31 der Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25.9.1819; abgedruckt in E. H. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. 1, 1961, S.171 ff, s.a. die bayrische Verfassungsurkunde vom 26.5.1818 und die Verfassung des Großherzogtums Badens, die einige Monate später, entstanden ist- hierzu Hartung, Die Entwicklung der Menschenrechte, S. 22f. 54 Sie verdanken ihre Entstehung der französischen Julirevolution 1830: Art. 27 und 36 der Verfassungsurkunde für das Kurfürstentum Hessen vom 5.1.1831; Art. 28 der Verfassungsurkunde für das Königreich Sachsen vom 4.9.1831 abgedruckt in E. H. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd.1, 1961, S. 171 ff. 55 So die bayrische Verfassungsurkunde von 26.5.1818. 56 Einfachgesetzlich war die Gewerbefreiheit nach und nach in allen europäischen Staaten eingeführt worden, in Preußen z.B. 1807. 51 Die Grundrechte des deutschen Volkes wurden in der Frankfurter Nationalversammlung als eigenständiges Gesetz verkündet und in die Verfassung des deutschen Reichs vom 28.3.1849 aufgenommen, vgl. Hartung, Entwicklung der Grundrechte, S. 25. Er spottet über die Paulskirchenverfassung: "Mit deutscher Gründlichkeit und Umständlichkeit suchen sie die Rechtssphäre des Einzelnen Deutschen gegenüber dem Staat und seinen Beamten bis ins Kleinste abzugrenzen". 58 Vgl. Dürig!Rudo/f, Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte, S. 94. 59 Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S. 134.

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A. Grundlagen

Art. 18: Es steht Jedermann frei, seinen Beruf zu wählen, und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will. Art. 6 1: Jeder Staatsbürger kann an jedem Orte des Staatsgebietes seinen Aufenthalt und Wohnsitz nehmen, Liegenschaften jeder Art erwerben und über dieselben frei verfügen, sowie unter den gesetzlichen Bestimmungen jeden Erwerbszweig betreiben60 •

Bemerkenswert an der berufsfreiheitlichen Gewährleistung der Paulskirchenverfassung und der Österreichischen Verfassung ist die Kombination aus persönlicher wie gewerblicher Freizügigkeit und allgemeiner Berufsausübungsfreiheit Wenn man sich veranschaulicht, daß "das Einheitsverlangen, von dem das deutsche Volk beseelt war und dessen Erfüllung die eigentliche Aufgabe der Nationalversammlung darstellte" 61 die Berufsfreiheit als explizite Gewährung für das gesamte deutsche Reich62 erst hervorgebracht hat, und diese als Garantie zum Schutz der handwerklichen Wanderfreiheit und der freien Wahl des Studienortes entstanden ist, verdeutlicht dies die enge Verknüpfung von Berufsfreiheit und Freizügigkeit63 • Gleichzeitig sind gewisse Parallelen zwischen der Rechtsentwicklung des deutschen Rechts des letzten Jahrhunderts und der Entwicklung des EG-Rechts unverkennbar64. Die Grundrechtskonzeption der Paulskirchenverfassung wird als Rezeption eines Grundrechtssystens gewertet, welches sich voll in Einklang mit der bürgerlichen Freiheits- und Rechtsgesinnung seiner Zeit befunden hat und einer bereits zur Tradition gewordenen Rechtskultur entsprochen hat65 • Grundrechte waren im frühen 19. Jahrhundert zunächst die Hebel, um die altständische in eine bürgerliche Gesellschaft umzuformen, Eingriffe zu legitimieren und Privilegien abzubauen: die Zielrichtung war in erster Linie antifeudal66 • Die ökonomische Entfaltung zielte auf die Mobilisierung des Bodens, des Gewerbes und des Handels. Die Freizügigkeit wurde im Sinne des Bürgertums benötigt, damit Industriearbeiter in die Städte kommen Zitiert nach Walter/Mayer, Grundriß des Österreichischen Bundesverfassungsrechts, S.15. So Hartung, Entwicklung der GrundrechteS. 25. 62 Insofern war die Formulierung, daß die Grundrechte jedem Deutschen gewährt werden sollten, sehr neu und nicht zu vergleichen mit der Beschränkung der Gewährleistung auf Staatsangehörige wie z. B. in Frankreich oder Belgien. 63 Vgl. eingehend Hoffmann, Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, S. 65; Bachof, Berufsfreiheit, S. 158; Dürig geht davon aus, daß die Berufsfreiheit aus der Freizügigkeit entstanden ist, vgl. Freizügigkeit S.510ff. 64 In diese Richtung auch Hilf, Ein Grundrechtskatalog für die Europäische Gemeinschaft, in: EuR 1991, 19, 23; Frowein, Die Verfassung der EU aus Sicht der Mitgliedsstaaten, in: EuR 1995, 315, 316; Heintzen, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht in der EU, in: EuR 1992, 1, 4; Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme der "Verfassungsentwicklung", in: ZaöRV 55 (1995), 659ff. 65 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 776; Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S. 133. 66 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, S.372 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 60 61

II. Historische Entwicklung der Berufsfreiheit

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konnten 67. Zugleich diente die entsprechende freiwillige Selbstbeschränkung der staatlichen Bürokratie der Gesellschaft durch Begünstigung der ökonomischen Seite der Freiheit dazu, die Steuerleistung anzuheben68• Die "soziale Komponente", den Pauperismus auf dem Lande zu bekämpfen, war lediglich ein Nebeneffekt Die unverkennbaren Mißstände, die mit der Entstehung der modernen Fabrikindustrie verbunden waren und - als Antithese zum Liberalismus69- bereits zu einer lebhaften sozialistischen Bewegung geführt hatten, waren schlichtweg ignoriert worden. Von dem heraufdämmemden Verfassungsproblem Kapital/Arbeit war noch nicht die Rede. Anders als die Paulskirchenverfassung enthielten die in der französischen Verfassung vom 4.11.1848 gewährten Rechte bereits einen sozialen Einschlag, sie befand sich also bereits auf der Schwelle zwischen liberalem und sozialem Staat. 2. Ab 1918

Nach dem ersten Weltkrieg entstand in Deutschland in der Verfassung der Weimarer Republik als ein Kompromiß zwischen den bürgerlichen und den sozialistischen Kräften, die eine umfassende Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse erstrebten, eine Kombination aus Freiheitsrechten und sozialen Gewährleistungen. So hieß es in der Weimarer Reichsverfassung von 1919: Art. 111: Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Reiche. Jeder hat das Recht, sich am beliebigen Orte aufzuhalten und niederzulassen, Grundstücke zu erwerben und jeden Nahrungszweig zu betreiben. Einschränkungen bedürfen eines Reichsgesetzes. Art. 151: III. Die Freiheit des Handels und des Gewerbes wird nach Maßgabe der Reichsgesetze gewährleistet. Art.157: Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reichs. Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht. Art. 163: I. Der Deutsche hat unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert. II. Jedem Deutschen soll die Möglichkeit gegeben werden, durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben. Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen angemessenen Unterhalt gesorgt ...70 (es folgen weitere Staatszielbestimmungen die Berufsfreiheit betreffend) 67 V gl. Scholler, Soziale Grundrechte in der Paulskirchenverfassung, in: Der Staat 1974, 51, 57: Mittels Wahl der Formulierung ,jeder Nahrungszweig"- statt wie zuvor geplant Kunstund Gewerbefreiheit- ist seiner Ansicht nach gerade auch die Rechtsposition der Arbeiter bedacht worden. 68 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 114m. w. N. 69 Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S. 122. 70 Vgl. Dürig/Rudolf, Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte, S.ll5.

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A. Grundlagen

Bemerkenswert ist, daß die Verknüpfung von Freizügigkeit und Berufsfreiheit auch hier aufrechterhalten blieb (Art. 111). Der Kompromiß zwischen den Rechten und Pflichten der Bürger und zwischen liberalistischen und sozialistischen Grundrechten, der aufgrund der Entstehungsgeschichte auch als historisch bipolar bezeichnet wird71 , stellt die Verknüpfung der großen Gruppen von Menschenrechten dar und findet seither in vielen Grund- und Menschenrechtskatalogen seinen Niederschlag72 • Das zeigt sich zunächst ebenfalls in den Verfassungsurkunden der in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg entstandenen europäischen Staaten, wie z.B. Finnland (1919), Polen (1922), die Tschechoslowakei (1920), Rumänien (1920) und Österreich (1920). In Irland orientierte man sich nach der Unabhängigkeit von Großbritannien bei der Verfassungsentstehung im Jahr 1922 sowohl an der Praxis des common law, als auch an kontinentalen Traditionen. Obwohl in der Zwischenkriegszeit die Zahl der Staaten, die sich Verfassungen gaben, noch einmal deutlich zunahm, wird ein "erschreckender Verfall der Grundrechtskataloge und ihrer Handhabung in der Zwischenkriegszeit" festgestellf3. Wie in der Weimarer Reichsverfassung waren die Grundrechtskataloge infolge der Kompromißhaftigkeit ausführlicher und damit weniger handhabbar. Die griechische Verfassung von 1927, die unter Einfluß der WRV entstanden war, war instabil und blieb nur acht Jahre inkraff4 • Die irische Verfassung litt daran, daß sie entsprechend ihrer Tradition aus dem common law leicht zu handhaben und durch die Gerichte nicht überprüfbar war75 • Auch das Österreichische Bundesverfassungsgesetz war geprägt von Konflikten. Insbesondere bei den Grundrechten traten ideologische Differenzen zwischen den Parteien eklatant zutage 76, so daß der bestehende Grundrechtekatalog von 1867 aufrechterhalten und durch verschiedene Gesetze aus der Monarchie und der Zeit der provisorischen Verfassung ergänzt wurde 77 • Es wird gesagt, die Entwicklung der Grundfreiheiten und Menschenrechte sei in der Zwischenkriegszeit auf einem Tiefpunkt angelangf8 • 3. Dreißiger Jahre

In den dreißiger Jahren fand die nunmehr über 150 Jahre währende Entwicklung verfaßter Rechte in Deutschland ein jähes Ende79 • Die parlamentarische Demokratie Schneider, in: VVdStRL 43 (1985), S. 8, 12. Vgl. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S. 72. 73 Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S. 277. 74 lliopoulos-Strangas, Der Einfluß des deutschen Grundgesetzes auf griechisches Verfassungsrecht, S. 259 f; s. a. Gmelin, Die Verfassung der Republik Griechenland, in: JöR 1928, 270. 75 Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S. 287; Casey, Constitutional Law in Ireland, S. 8ff, l2f. 76 Öhlinger, Verfassungsrecht, S. 41. 77 Oberndorfer, Berufsfreiheit, S. 618. 78 Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S. 277. 79 S. das Kapitel: Faschistische Regime, in: Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S. 412ff. 71

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II. Historische Entwicklung der Berufsfreiheit

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wurde durch das sogenannte völkische Recht des Nationalsozialismus ersetzt. Das völkische Führerrecht beruhte auf dem Grundgedanken, daß der Führer der Träger des völkischen Willens sei. Dieser offenbare sich ihm aus dem Volk, aus dessen Anlagen, Kräften und Aufgaben 80• Ob die Weimarer Verfassung mit der Machtergreifung Hitlers am 30.1.1933 zu gelten aufgehört hat, war zur Zeit des Dritten Reichs umstritten. Während diejenigen, die der Auffassung waren, die Weimarer Reichsverfassung habe weiterbestanden, dies damit begründeten, daß der Nationalsozialismus sich der Formen des alten Rechts bedient habe, stützten diejenigen, die davon ausgingen, die Weimarer Verfassung habe auch formal zu gelten aufgehört, ihre Auffassung damit, daß das völkische Rechts auf eigener Grundlage ruhe81 • In jedem Fall ist die WRV nicht abgeschafft worden, sie wurde allerdings zur Unkenntlichkeit entstellt. Die liberalen Grundrechte waren mit dem Prinzip des nationalsozialistischen völkischen Rechts nicht vereinbar: "Es gibt keine persönliche, vorstaatliche und außerstaatliche Freiheit des einzelnen, die vom Staat zu respektieren wäre." 82 Beginnend mit der Notverordnung vom 28.2.1933 "zum Schutz von Volk und Staat" und schließlich mittels eines Gesetzes über den Neuaufbau des Reiches vom 12.11.1933, wonach die Verfassung durch die Reichsregierung gesetzt werden konnte, wurden die Grundrechte gänzlich beseitigt. Die Einbindung in die völkische Gemeinschaft war total, sie umfaßte den gesamten Lebensbereich des einzelnen. Das Arbeitsverhältnis stellte eine der "Kernstellungen der volksgenössischen Ordnung": Der einzelne befand sich als Glied der im Betrieb befindlichen völkischen Lebensgemeinschaft83 • Das Recht zur Arbeit war zu einer Pflicht zur Arbeit geworden. Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20.1.1934 und parallel dazu das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Behörden vom 23.3.1934 ftihrten zu einer tiefgreifenden Umgestaltung des Arbeitslebens nach nationalsozialistischen Wertvorstellungen, in der die Gesinnung auch für das Arbeitsleben zur beherrschenden Grundlage wurde 84• Zur Überwachung der Einhalten der Arbeitsehre, dem höchsten Wert im Bereich der Arbeitswelt, wurden Ehrengerichtsverfahren durchgeführt, die bis zur Entziehung des Arbeitsplatzes bzw. der Aberkennung der Fähigkeit, Führer einer Betriebsgemeinschaft zu sein, ftihrten 85 • Mit dem Reichtsarbeitsdienstgesetz vom 26.6.1935 wurde zudem eine generelle Arbeitspflicht für alle jungen Deutschen beiderlei Geschlechts eingeführt86• Huber, Verfasssungsrecht des großdeutschen Reichs, S.l96. Vgl. Huber, Verfassungsrecht des großdeutschen Reichs, S.46ff. 82 Huber, Verfassungsrecht des großdeutschen Reichs, S. 361. 83 Huber, Verfassungsrecht des großdeutschen Reichs, S. 395 f; ausführlich Kühn, Der Führergedanke in der neuen Arbeitsverfassung, in: FS Schmidt 1936, S.l41 ff. s• So wörtlich in der zeitgenössischen Veröffentlichung von Kühn, in: FS Schmidt S. 141, 145. 85 E.R. Huber, Verfassungsrecht des großdeutschen Reichs, S.402f; Kühn, in: FS Schmidt, S.l41. 86 AusführlichE. R. Huber, Verfassungsrecht des großdeutschen Reichs, S.424. 80 81

3 Bonmann

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A. Grundlagen

Die Gewerbefreiheit wurde nicht pauschal aufgehoben, aber die freie Zulassung, Fortführung oder auch die Aufgabe eines Gewerbebetriebs wurden in wesentlich stärkerem Maße eingeengt87• Zahlreiche Gesetze und Rechtsverordnungen regelten die Führung eines Gewerbes. Als Beispiele können genannt werden: das Gesetz zum Schutz des Einzelhandels vom 12.5.1933, das Gesetz über wirtschaftliche Maßnahmen vom 3.7.1934, in denen die Ausübung bestimmter gewerblicher Tätigkeiten gesperrt wurde 88 • Viele Tätigkeiten wurden genehmigungspß.ichtig gemacht. Das galt u. a. für die Fischindustrie 89, die Milchwirtschaft90, die Stärkeindustrie91 , die Faserstoffverarbeitung92 , die Obst- und Gemüseverwertung 93 und die Wirtschaftswerbung94. Zulassungspß.ichtig wurden nicht nur Beschäftigungen wie die des Steuerberaters95 , sondern auch z. B. der Betrieb eines Schrotthandels96• Gleichzeitig wurde die Möglichkeit, erteilte Erlaubnisse zurückzunehmen, durch Verschärfung der entsprechenden Regelungen in der Gewerbeordnung und in den Spezialgesetzen erweitert. Verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen solche Maßnahmen gab es nicht97 • Die Judenverfolgung und -vernichtung war mit einer Verdrängung aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben eingeleitet worden98 • Die gesetzlichen Regelungen, die diesem Prozeß zugrunde lagen, war zunächst das bereits genannte Reichsarbeitsgesetz von 1934. Auf Grundlage der sogenannten Nürnberger Rassengesetze vom 5.9.1935 wurden Rechtsverordnungen und andere untergesetzliche Normen erlassen, die dazu führten, daß Ende 1939 Juden endgültig aus dem Wirtschaftsleben entfernt worden waren 99 • Entscheidend war vor allem die am 12.11.1938 erlassene VO ,,Zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben"100. 87 Vgl. den zeitgenössischen und kritischen Beitrag von Oschey, Über Gewerbefreiheit in der Gesetzgebung des Dritten Reichs, in: FS Schrnidt (1936), S. 79, 86. 88 Weitere gesperrte Gewerbebetreibe waren Kreditinsititute lt. VO vom 4.9.1934 sowie die Betreibung von Mühlen lt. Gesetz vom 15.9.1933. 89 VO vom 26.1. und 4.9.1934. 90 VO vom 27.3.1934. 91 VO vom 30.4.1934. 92 VO vom 19.7.1934. 93 VO vom 5.11.1933 über den Zusammenschluß in Obst- und Gemüseverwertungsindustrie. 94 Gesetz über die Wirtschaftswerbung vom 12.9.1933. 9s Gesetz über die Zulassung von Steuerberatern vom 6.5.1933. % SchrotthändlerVO vom 13.12.1933. 97 Zum ganzen ausführlich Oeschey, in: FS Schrnidt, S. 7991 f. 98 Ausführlich Gensehe I, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, 1966. 99 Z.B. wurde mitder VO vom 14.11.1935 das Ausscheiden von Juden aus dem öffentlichen Dienst angeordnet. Nach der Prüfungsordnung für Apotheker vom 8.12.1934 wurden Juden nicht mehr zur Prüfung zugelassen. Die endgültige staatlich gelenkte Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft erfolgte ab April 1938; ausführlich Genschel, Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft, S. 151 ff. 1oo RGBl 19381, 1580.

li. Historische Entwicklung der Berufsfreiheit

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Mit dem sogenannten Anschluß Österreichs an das deutsche Reich am 13.3.1938, der durch zwei übereinstimmende Gesetze in Österreich und dem Deutschen Reich durchgeführt worden war 101 , wurde die politische Grundordnung des deutschen Reichs in Österreich übernommen. Auch wenn das Österreichische Recht weiterhin galt, wurde es vielfach ersetzt durch reichsdeutsche Vorschriften. Das deutsche Recht und damit auch die Bestimmungen die Arbeitswelt betreffend, wurden nach und nach durch Verordnungen und Erlasse auch in Österreich eingeführt 102• Auch in anderen europäischen Staaten wurden in den Zwanziger und Dreißiger Jahren totalitäre Systeme errichtet, die Deutschland im Abbau von Grundrechten folgten. Bereits während der 1920er Jahre hatte B. Mussolini in Italien ein diktatorisches Einparteiensystem geschaffen 103• Auch in Portugal wurden die verfaßten Rechte mit Errichtung des ständisch-autoritären "Estado Novo" im Jahr 1933 erheblich eingeschränkt. In Griechenland errichtete Metaxas 1936 ein faschistisches Regime, Spanien befand sich seit dem gleichen Jahr im Bürgerkrieg und schließlich in einer autokratischen Diktatur unter Franco, die tiefgreifende Veränderungen auch im Bereich des Verfassungsrechts zur Folge hatte 104 • Was Spanien und Portugal betrifft, endete diese Zeit, in der liberale Rechte im historischen Verständnis außer Kraft waren, erst in den 70er Jahren 105 • 4. England

Die britische Verfassungsentwicklung verlief anders als im übrigen Europa, was an der gegenüber dem Kontinent eigenständigen geschichtlichen Entwicklung lag, die seit dem ausgehenden Mittelalter stärker geprägt wurde durch die Ausbreitung über die Meere denn der Verknüpfungen zum Festland 106• Die Rechtsentwicklung verlief "organically rather than logically" 107• Die französische Revolution hat sich nicht in der gleichen Weise prägend auf das britische Rechts- und Gesellschaftsleben ausgewirkt wie auf die übrigen kontinentaleuropäischen Länder. Sie führte nicht zu einem Entstehen einer Freiheitsbewegung, sondern im Gegenteil entstand als Abwehrreaktion auf die französische Revolution in der Zeit um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine besondere Traditionsverbundenheit ,,Jeder Mißstand schien durch die Tradition geheiligt und zur Aufrechterhaltung der Ordnung unentbehrlich". Die folgenden Reformen standen dementsprechend unter 101 BVG v. 13.3.1938, BGBl. 75; Reichsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 13.3.1938, RGBI19381, 237. 102 S. Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht, S. 28 f; als zeitgenössische Quelle s. Huber, Verfassungsrecht des großdeutschen Reichs, S. 96. IOJ Vgl. zu den rechtlichen Auswirkungen Kindler, Einführung in das italienische Recht, RN 18ffm. w.N. 104 V gl. ausführlich /Mn, Einführung in das spanische Recht, S. 52 ff. 10s V gl. Mayers Geschichtslexikon, Bd. 2, Db-Grot, Bd. 3, Grou-Lav; Bd. 5, Pe-SRP. 106 V gl. Schröder, Englische Geschichte, S. 51. 107 Lyall, Introduction to British Law, S.45.

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A. Grundlagen

dem Motto: "reform that you may preserve" 108 • Diese Rechtsentwicklung hat dazu geführt, daß die "Mode der Verfassungsgebung" Großbritannien nicht erfaßt hat. Gleichwohl gibt es natürlich Verfassungsrecht, welches in verschiedenen Urkunden niedergelegt ist 109• Allerdings gibt es in Großbritannien keine schriftlich fixierten Grundrechte im kontinentaleuropäischen Sinne. Daß dies lange Zeit nicht als Mangel des Systems gesehen wurde, wird damit begründet, daß das britische Recht auf dem Grundsatz aufbaut, daß grundsätzlich alles erlaubt ist, was nicht verboten ist. Hergeleitet wird dieses Verständnis aus dem Grundsatz des "freebom Englishman" des 18. Jahrhundert. Dabei handelt es sich um eine Grundüberzeugung, die als alle Klassen der englischen Gesellschaft verbindende Besonderheit der englischen Nation bezeichnet wird, und ihren Ausdruck in dem Bewußtsein der gemeinsamen Freiheit fand 110: ,,Rule Britannia, Rule the Waves, Britons will never be Slaves". Die Gemeinsamkeit schaffende Überzeugung richtete sich zum einen als Abgrenzung nach außen, aber auch gegen Veränderungen im Inneren 111 • Erschüttert wurde dieser Konsens auch nicht durch die Arbeiterbewegung. Den Werten der Arbeiterklasse habe in Großbritannien "immer etwas merkwürdig Passives" angehaftet 112• Das englische Recht baut auf der jahrhundertealten, durch Gerichtsentscheidungen entstandenen Rechtsfindung auf (case law). Das von der Legislative geschaffene Recht, das sogenannte statute law, ist dagegen nur als Rechtsquelle zweiten Ranges zu betrachten, da das statute law lediglich die Aufgabe hat, die Normenkomplexe des case law zu ergänzen oder die durch den Lauf der Zeit entstandenen Veränderungen der Umstände notwendig gewordenen Korrekturen vorzunehmen 113 • Damit entspricht es dem System des Common Law, daß Rechtspositionen durch die Rechtsprechung entwickelt werden. So haben die englischen Gerichte auf die jeweiligen Bedürfnisse der Gesellschaft reagiert, indem sie sogenannte civilliberties- Bürgerfreiheiten - hergeleitet haben. Deren Funktion bestand und besteht bis heute darin, die Freiheitssphäre zu beschreiben, die dem einzelnen nach den zulässigen Einschränkungen noch verbleibt: " ... a liberty is simply an area of human activity which at present is unregulated by the law" 114• Die Rechtsprechung hat eine stärkere BinMacaulay, zitiert nach: Schröder, Englische Geschichte, S. 57. Der britische Begriff des Verfassungsrechtes deckt sich mit dem deutschen Begriff des materiellen Verfassungsrecht oder Staatsrechts; vgl. Stein, Staatsrecht, § 1 V, allgemein zum britischen Begriff des Verfassungsrechts Thompson, Constitutional Law, S. 2, v. Bernsdorff, Einführung ins Englische Recht, S. 28; Lyall, Introduction to British Law, S. 44; Thompson, Constitutional and Administrative Law, S. 2. 110 Ausführlich Schröder, Englische Geschichte, S. 45 f, 63; Lyall, An Introduction to British Law, S. 63; Thompson, British Constitutional and Administrative Law, S. 248. 111 Schroeder, Englische Geschichte, S. 45 stellt fest, daß dieses freiheitszentrierte Selbstbewußtsein des 18. und 19. Jahrhunderts eine xenophobe und nationalistische Komponente gehabt habe. 112 Dahrendorf, On Britain, London 1982, S.63. 11 3 vBernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 7. tt4 Fenwick , Civilliberties, S. 7. 108 109

III. Berufsfreiheit als Menschen- und Bürgerrecht

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dungswirkung, als das im kontinentalen Recht der Fall ist. Die Entscheidungen sind rechtsverbindlich für die Untergerichte und zwar so lange, bis sie durch das erkennende Gericht außer Kraft gesetzt (overruled) werden 115 • In Großbritannien ist im letzten Jahrzehnt die Skepsis gegenüber der ungeschriebenen Verfassung gewachsen. Großbritannien war gegen Ende der Ära Thatcher der Staat, gegen den die meisten Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig waren 116• Die Zentralisierung und Intensivierung der Staatsgewalt waren hierfür verantwortlich gemacht worden. Zynisch wurde der Zustand des Landes kommentiert: "Wahrend britische Politiker sich der einzigartigen Geschichte der Freiheit ihres Landes rühmen, sehen sich die Wähler dazu gezwungen, in letzter Instanz in Straßburg Schutz zu suchen" 117• Daher wurde am 300. Jahrestag der Glorious Revolution die Gruppe Charter 88 gegründet, die u. a. eine geschriebene Verfassung fordertell8. Blair hatte bereits vor seiner Wahl ein Gesetz in Aussicht gestellt, welches es Briten ermöglichen soll, sich wegen Verletzung von Menschenrechten -entsprechend der EMRK 119 - an britische Gerichte zu wenden 120• Ein entsprechendes Gesetz ist am 9.11.1998 verabschiedet worden 121 • "lt is one of the major constitutional changes which the government ist making." 122• III. Berufsfreiheit als Menschen- und Bürgerrecht Mit der Überschrift "droits de 1'homme et du citoyen" über der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 verband sich die weniger rechtliche als vielmehr politische Forderung, alle Menschen seien aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft auch Bürger, mithin die Forderung nach Ineinssetzung des Menschund Bürgerseins 123• Kulturell hat diese Forderung ihre Wurzeln in der christlichen Lehre von der Einheit des Menschheit 124• 115 Stare decisis-Doktrin, vgl. Cross, Stare decisis in Contemporary England, in: L.Q.Rev. 82 (1966), 203; Lundmark, Common Law, S.151 ff, 162ff. 116 C. Hitchens, For the Sake of Arguments, Essaysand Minority Reports, London (1993), S.160. 117 A. Sampson, The Essential Anatomy ofBritain Democracy in Crisis, 1992, S.160; zitiert nach: Schröder, Englische Geschichte, S. 98 f. 11 s Im Vergleich zu den vorigen Jahrhunderten fehle die Sicherung durch den Adel- daher seien nunmehr förmliche konstitutionelle Garantien und geschriebene Regeln nötig, so analysiert Schröder, Englische Geschichte, S. 99. 119 Eingehend unten Kapitel Dill. 120 Mit der angekündigten Initiative würde zum ersten mal seit 1688 eine Vorlage mit Bezug auf eine Bill of Rights vor das Parlament kommen, so Schröder, Englische Geschichte, S. 99. 121 Http://www.hrnso.gov.uk/acts/acts 1998/19980042.htm; Zu Entwicklung und Inhalt vgl. Greer, A Guide to the Human Rights Act 1998, E. L. Rev. 24 (1999), 3. 122 Lord /rvine ofLairg, The Development ofHuman Rights in Britain, in: Public Law 1998, 221. 123 Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Recht, S.56; Hartung, Entwicklung der Grundrechte, S. 17 sieht hierin den maßgeblichen Unterschied zwischen der franzö-

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A. Grundlagen

Nach Scheitern der Revolution ließen die frühkonstitutionellen Verfassungsurkunden nur noch Rechte zu, die sie ihren Untertanen gewährten, so z. B. in der französischen Charta von 1814 oder die für die Verfassungsentwicklung stets gelobte Verfassung Belgiens von 1831 125 • Etwa zur gleichen Zeit bildete sich die Kategorie der "Staatsangehörigkeit" heraus, was dazu führte, daß die Rechtekataloge grundsätzlich nur die jeweiligen Staatsangehörigen begünstigten 126• Einige Verfassungen enthielten sowohl Inländerrechte als auch allgemeine für alle geltende Gewährleistungen; darunter ist besonders hervorzuheben, daß die Paulskirchenverfassung ebenso wie die Österreichische Verfassung von 1867 die Berufswahl- und Ausübungsfreiheil auch für Ausländer gewährten. Die Weimarer Reichsverfassung nahm das aber wieder zurück und beschränkte die Gewährleistung auf Deutsche. Eine solche Akzentverschiebung läßt sich auch im Österreichischen Verfassungsrecht erblicken 127 • Zwar gab es nach dem zweiten Weltkrieg eine weltweite Rückbesinnung auf die Menschenrechte 128, dennoch blieb die Berufsfreiheit zumeist ein den Staatsangehörigen vorbehaltenes Recht 129• Die Berufsfreiheit, die als Konkretisierung der individuellen menschlichen Freiheit entstanden ist, müßte jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zustehen. Eine Unterscheidung nach der Nationalität wäre mithin nicht zulässig. Ein "vorstaatliches", gleichwohl einer bestimmten Gruppe vorenthaltenes Recht ist nicht gut sischen Menschenrechtserklärung und der Bill of Rights of Virginia von 1776. Bei letzterer sei es noch darum gegangen, eine gemeinsame Gesellschaft zu schaffen, während die Franzosen auf einer bestehenden aufbauten, bereits Bürger waren. 124 S. Galater 3, 28: ,,Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Jesus Christus." Das stete Ringen mit diesem Anspruch hat Lessing dem Nathan in den Mund gelegt (2. Akt, Vers 5): "Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, als Mensch? Ab! Wenn ich einen mehr in euch gefunden hätte, dem es genügt, ein Mensch zu heißen!" 125 Einige Rechte, v. a. die Gewissensfreiheit wurden weiterhin allen gewährleistet, z. B. in der Verfassungsurkunde Württembergs von 1819; ebenso die Paulskirchenverfassung enthielt einige Rechte, aber gerade nicht die Glaubensfreiheit, auch gegenüber Nichtdeutschen. 126 S. nur Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, 1973; ders. in: HbdStR I, 1987, § 14 RN 34; Sachs, Ausländergrundrechte im Schutzbereich von Deutschengrundrechten, in: BayVBl 90, 385. 127 Art. 66 Abs. 2 des Staatsvertrages von St. Germain, der gern. Art. 149 I B-VG "als Verfassungsrecht zu gelten" hat, besagt, daß "Unterschiede in Religion, Glaube oder Bekenntnis ... keinem Österreichischen Staatsangehörigen beim Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte nachteilig sein (dürfen), wie namentlich bei der Zulassung zu öffentlichen Stellen, Ämtern und Würden oder bei den verschiedenen Berufs- oder Erwerbstätigkeiten". 128 Am deutlichsten wird diese Entwicklung wohl durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN vom 10.12.1948, die mit den Worten beginnt: ,,Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnende Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet..." 129 V gl. unten Darstellung in Kapitel B III 1 b zum deutschen Recht; zu den übrigen EG-Mitgliedsstaaten Kapitel C II 2.

III. Berufsfreiheit als Menschen- und Bürgerrecht

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denkbar 130• Insoweit die Berufsfreiheit also unmittelbar Ausdruck der allen Menschen zukommenden Menschenwürde ist, kann ihre Gewährleistung nicht nur auf Staatsangehörige beschränkt sein 131 • Allerdings hat nicht der gesamte Inhalt der Berufsfreiheit an der Menschenrechtsqualität teil. Wenn und insoweit die menschliche Freiheit darüber hinaus ein nur auf staatliche Setzung beruhendes Grundrecht darstellt, kann solche zusätzliche Gewährleistung Angehörigen der eigenen Staaten vorbehalten bleiben 132• Die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit ist dann Niederschlag der mittels der Staatsangehörigkeit "zum Ausdruck kommenden Grundbeziehung der mitgliedschaftliehen Verbindung und rechtlichen Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft" 133, die Implikationen für Wirtschaft, Ausbildungswesen, Arbeitsmarkt und Staatsfinanzenzur Folge hat 134• Inwiefern der Ausschluß von Ausländern zum einen im Hinblick auf die Europäische Gemeinschaft, zum anderen gegenüber Ausländern, die bereits sehr lange in einem anderen Land leben und in die Gesellschaft dort integriert sind m, gerechtfertigt ist, ist zumindest fraglich. Auf erstere Frage wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch eingegangen, letztere Fragestellung kann im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht behandelt werden.

130 V gl. Bachof, Freiheit des Berufs, S. 177, ausführlich Häberle, Europäische Rechtskultur, S.281ff. 131 Im deutschen Recht wird dieser Menschenwürdegehalt durch Art. 1 I, II, 19 II GG geschützt. S.Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. I II RN 85; Art. 2 I RN 66; Pieroth!Schlink, Staatsrecht II, RN 138; zur Schwierigkeit des Begriffes der Menschenwürde im Recht vgl. Vitzhum, Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, in: JZ 1985, 201 ff. 132 Bachof, Freiheit des Berufs, S.178: "Der Staat ist gegenüber seinen eigenen Angehörigen stärker in der Pflicht: es wäre eine Überforderung, vom Staat die Gewährung der vollen Berufsfreiheit auch an Ausländer, auf Kosten seiner eigenen Bürger, zu verlangen ..." 133 BVerjGE 37, 217, 241, vgl. ausführlich Stern, Staatsrecht Illl, § 70117b, S.l029ff. 134 Vgl. Meessen, Das Grundrecht der Berufsfreiheit, in: JuS 1982, 400f. m V gl. in bezug auf das deutsche Recht z. B. BVerjGE 78, 179 (Ausschluß von Ausländern zur Heilpraktikererlaubnis).

B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht In diesem Kapitel wird der Umfang des Schutzes der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht dargestellt.

I. Rechtsquellen Bei der Untersuchung des Schutzes der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht bilden die Anknüpfungspunkte entsprechend den Rechtsquellen im kontinentaleuropäischen Recht das Gesetzesrecht und das Richterrecht 1• 1. Geschriebenes Verfassungsrecht

Die Berufsfreiheit findet sich im ersten Teil des Grundgesetzes in Art. 12 I GG. Das Grundgesetz hat als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland einen Geltungsanspruch entsprechend der Leitnorm des Art. 1III GG 2 als unmittelbar geltendes Recht (Art. 20 III GG) gegenüber aller staatlichen Gewalt. Verfassungsrecht ist das positivierte höchstrangige Recht im Staat. Alle anderen Rechtssätze sind ihm nachgeordnet und haben ihm zu weichen, wenn sie mit ihm in Widerspruch stehen, Art. 82 I GG 3 • Art. 79 III GG verbietet die Veränderung der Grundrechte, also auch des Art. 12 I GG, in ihrem Menschenrechtsbekenntnisgehalt und entfaltet damit einen besonderen Bestandsschutz4 • 2. Richterrecht

Richterrecht- auch richterliche Rechtsfortbildung genannt- entsteht, indem die Gerichte bei der Lösung eines Einzelfalles gesetztes Recht auf den konkreten Fall anwenden. In einer Kette von Entscheidungen entsteht so eine Gerichtsauffassung, die - anders als zum Beispiel im angelsächsischen Recht- zwar keine präjudizierende Wirkung hat (keine stare cases darstellen 5), ihre Wirkung aber dadurch entfalEbert, Rechtsvergleichung, S. 150. BVerfGE 31, 58, 72; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, RN 12. 3 Stern, Staatsrecht I, S. 105. 4 BVerfGE 84, 90, 121; s. a. Stern, Die Bedeutung der Unantastbarkeilsgarantie des Art. 79 III GG für die Grundrechte, In: JuS 1985, 330, 337; Chwolik-Lanfermann, Die Grundrechte im Gemeinschaftsrecht, S. 30; Sachs, Normtypen im deutschen Verfassungsrecht, in: ZG 1991, 1, 10. 5 Vgl. aber z. B. die quanititative Untersuchung von Wagner-Däubler, Präjudizien im deutschen, englischen und OS-amerikanischen Recht, in: RabelsZ 59 (1995), 113ff; Fikentscher, 1

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I. Rechtsquellen

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ten, daß sie in der Rechtsanwendung Orientierung für die Instanzengerichte sind6 • Die Rechtsprechung wird unter Zugrundelegung eines weiten Rechtsquellenbegriffs als Rechtsquelle verstanden, denn "Rechtsquelle im Sinne rechtsvergleichender Forschung ist alles, was das Rechtsleben ... gestaltet und mitgestaltet." 7 Daß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine solch mitgestaltende Rolle in bezug auf die Berufsfreiheit zukommt, wird im nun folgenden Kapitel gezeigt werden. Verfassungsrechtliche Bedenken werden gegen diese Methode insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung erhoben 8• Die Kritik, als Quasigesetzgeber zu fungieren, trifft dabei vor allem das Bundesverfassungsgericht9 • Dieses äußert sich dazu wie folgt 10: Gemäß Art. 20 III GG sei die Rechtsprechung an Recht und Gesetz gebunden; ein starrer Rechtspositivismus werde von der Verfassung weder verlangt noch gewünscht. Eine grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiv-staatDie Bedeutung der Präjudizien im deutschen und französischen Recht, in: Arbeiten zur Rechtsvergleichung 123 (1985), S.l8; sowie Lundmark, Stare decisis vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Rechtstheorie 28 (1997), 3155ffm. w.N. Die Autorenkommen zu dem Schluß, daß das Bundesverfassungsgericht "einer Spielart der stare decisis-Doktrin" folge, was sich darin zeige, daß das Gericht nur selten von einmal getroffenen Entscheidungen abweiche. 6 Der Gesetzgeber besitzt die Gesetzgebungsprärogative, nicht aber das Gesetzgebungsmonopol, ist er doch an höherrangiges Recht und an grundlegende Rechtsprinzipien gebunden, vgl. Kriele, Allgemeine Staatslehre, S.61 f; vgl. auchEverling, Rechtsvereinheitlichung durch Richterrecht in der Europäischen Gemeinschaft, in: RabelsZ 50 (1986), S.l93, 205. Lundmark, in: Rechtstheorie 28 (1997), 215, 340. 7 Zweigert, Methode der Rechtsvergleichung, S. 196; s. a. Ebert, Rechtsvergleichung, S. 150ff; Heußner, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Richterrecht, in: FS Hilger und Stumpf, S. 317; Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, in: JZ 1985, 149; Coing, Zur Ermittlung von Sätzen des Richterrechts, in: JuS 1975, 277; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 366 ff, 413 ff; ders.: Der Richter als Gesetzgeber?, in: FS Henkel, S. 31, 43; Prütting, Prozessuale Aspekte richtrerlicher Rechtsfortbildung, in: FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Köln, S. 305, 308. 8 Bedenken gegenüber der richterlichen Rechtsfortbildung gingen im 19. Jahrhundert von der privatrechtliehen Methodenlehre aus, die das Rechtssystem als geschlossenes der Ergänzung nicht bedürfendes System betrachtete. Heute werden die Probleme verfassungsrechtlich in derFrage nach der Gewaltenteilung gesehen, vgl. Everling, in: RabelsZ 50 (1986), 193, 198 m. w. N.; Schaich, Das Bundesverfassungsgericht, RN 12; Scheuner, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: DÖV 1980,473; Simon, in: HbdVerfR S. 1661;Dreier, GG Art. 1 III RN I; vgl. in diesem Zusammenhang auch Esser, In welchem Ausmaß bilden Rechtsprechung und Lehre Rechtsquellen?, in: ZvgiR 75 (1976), 66; Leisner, Richterrecht in Verfassungsschranken, in: DVBI1986, 705; Larenz, Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, in: NJW 1965, 1. 9 Geführt wird diese Diskussion unter dem Oberbegriff des ,judicial self restraint"- vgl. Simon, in: HbdVRII, 1253, 1275; Stern, Staatsrecht II, S. 329ff, 933 ff; Häberle (Hrsg.): Verfassungsgerichtsbarkeit; Pod/ech, Verfassungsgerichtsbarkeit als Grundrechtsschutz, in: FS Martin Hirsch, S.437; Fuß, Der Schutz des Vertrauens auf Rechtskontinuität im deutschen Verfassungsrecht und im europäisdchen Gemeinschaftsrecht, in: FS Kutscher, S.201; Raiser, Richterrecht heute, in: ZRPol 1985, 116 jeweils m. w. N. to BVerjGE 34, 269, 292.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

liehen Rechtsordnung sei praktisch nicht erreichbar. Deshalb gehöre es auch zur richterlichen Tätigkeit, Wertvorstellungen, die sich aus der Verfassung ergeben, zu erkennen und in Entscheidungen zu realisieren- selbst dann, wenn diese in den Gesetzestexten nicht expressis verbis niedergelegt sind. Richterrecht wird nach dem Grad der Entfernung vom geschriebenen Recht in drei nicht trennscharf voneinander unterscheidbare Stufen eingeteilt. Die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung als Gesetzesanwendung praeter Iegern wird auch ergänzende Rechtsfortbildung genannt. Die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung oder abändernde Rechtsfindung bildet die zweite Stufe. Rechtsfortbildungcontra Iegern und contra ius liegt dann vor, wenn die Fortbildung mit Sinn und Zweck derbetreffenden Norm nicht in Einklang steht und ist nur im Falle eines Gesetzesnotstands zulässig und mit den Verfassungsprinzipien vereinbar 11 • 3. Einfluß des Buroparechts auf die Auslegung der Berufsfreiheit im deutschen Recht Die immer enger werdenden wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verknüpfungen der Staaten untereinander führen auch auf dem Gebiet des Rechts dazu, daß Einflüsse aus anderen Rechtsordnungen Eingang in die nationale Rechtssetzung und das Rechtsverständnis finden 12• Wahrend die Einflußnahme von Rechtsordnungen der Nationalstaaten untereinander lediglich rein tatsächlich aufgrund vergleichbarer gesellschaftlicher Veränderungen und einer gemeinsamen Rechtskulturentwicklung entstehen bzw. mittels rechtsvergleichender Vorarbeit Eingang ins nationale Recht finden können 13, kann überstaatliches Recht, d. h. Völkerrecht, aber vor allem das europäischen Gemeinschaftsrecht unmittelbarer auf die jeweilige nationale Rechtsordnung und damit auch auf die Verfassungswirklichkeit einwirken. 11 Vgl. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 70f; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 366ff, 413ff; ders. in: FS Henkel, S. 31, 43; Prütting, in: FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Köln, S. 305, 308. Andere Einteilungsmodelle gehen auf lpsen, Ossenbühl und Stern zurück, beruhen im Ergebnis aber auch auf dieser Einteilung. S. /psen, Richterrecht, S. 63 ff, Ossenbühi/Fritz, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat, S. 6ff; Stern, Das Grundgesetz im fünften Jahrzehnt seiner Geltung, in: ders.: Der Staat des Grundgesetzes, S. l52, 159ff. 12 Die Interdependenz ist selbstverständlich keine neuzeitliche Erscheinung, vielmehr gibt es kein Rechtssystem, das isoliert und ohne fremde Einflüsse entstanden wäre- vgl. Kranjc, Europäische Integration, S. 33 und speziell für die Entstehung der Berufsfreiheit oben Kapitel

All.

13 Vgl. aktuell die Rechtsentwicklung in Osteuropa - insb. zum Einfluß des deutschen Rechts bei der Entstehung der Rechtsordnungen zum Beispiel Banaszak, Die Grundrechte in Polen nach dem Umbruch, S. 57 ff; Diemer-Benedict, Die Grundrechte in der neuen polnischen Verfassung, in: ZaöRV 1998, 205; Küpper, Völkerrecht, Verfassung und Außenpolitik in Ungarn, in: ZaöRV 1998, 238, 251 ff; für den westeuropäischen Raum vgl. Starck, Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungsentwicklung, 1990, mit Länderberichten aus Österreich, Italien, Frankreich, Griechenland, Portugal und Spanien.

I. Rechtsquellen

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a) Offenheit des Grundgesetzes für den internationalen Einfluß Das Offensein des innerstaatlichen Rechts für externe Einflüsse aus transnationalen oder internationalen Quellen ist ein wesentliches Kennzeichen des modernen Staates 14 und bedeutet einen Verzicht auf die Ausschließlichkeit der souveränen staatlichen Rechtsmacht zugunsten der Eingliederung in den Ordnungsrahmen der internationalen Gemeinschaft 15• Die internationale Offenheit ist im Grundgesetz zwar nicht ausdrücklich erwähnt, findet aber an mehreren Stellen ihren Ausdruck. So findet sich der Grundsatz der offenen Staatlichkeit und der Völkerrechtsfreundlichkeit in der Präambel ("gleichwertiges Glied in einem vereinten Europa") 16 und den Artikeln 1 II, 911,24 bis 26 GG 17• Sie bezwecken die Einordnung der Bundesrepublik Deutschland als friedliches Glied in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft 18 • Die Offenheit gegenüber dem europäischen Gemeinschaftsrecht ergibt sich ebenfalls bereits aus der Präambel. Das Bundesverfassungsgericht hat hieraus die verfassungsrechtliche Grundentscheidung zur Einigung Europas hergeleitet 19• Speziell für die europäische Integration wurde nach der Wende ein neuer Art. 23 als "Herzstück der Gesetze zum Vertrag über die Europäische Union" 20 oder als Integrationshebel21 14 Als Abkehr von der Idee des geschlossenen Nationalstaates vgl. Stern, Staatsrecht Bd.1, S.516; Tomuschat, in: HbdStRVII § 172RN2; siehe auchBVeifGE 89, 155, 183. EbensoMosler, in: HbdStR VII S. 604; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 24 RN 1. 15 So Tomuschat, in: HbdStR VII§ 72 RN9. 16 Ähnliche Formulierungen finden sich auch in den anderen europäischen Verfassungen, vgl. Präambel Art. 1 der französischen Verfassung von 1958 i. V. m. Art. 15 der Präambel von 1946; Art.ll der italienischen Verfassung von 1947; Art. 25 belgische, § 20 dänische, Art.29 Abs. 4 Nr. 3 irische, Art. 49 luxemburgische, Art. 67 niederländische, Art. 8 II, III griechische, Art. 93 spanische, Kap. 10 §schwedische Verfassung. 17 Steinberger/Klein/Thürer, in: VVdStRL 50 (1990), 9ff; 56ff; 97ff; Tomuschat, in: HbdStR VII § 72 RN 1; Streinz, in: Sachs, Art. 25 RN 9, Art. 24 RN 6; Rojahn, in: v. Münch/Kunig, Art. 24 RN2ffjew.m. w.N. Bemerkenswert ist, daß der in Art.25 GG befindliche Grundsatz selbst auf internationalem, nämlich angelsächsischem Vorbild beruht: "lnternationallaw is part of the law of the land" geht im britischen Recht auf 1737 zurück; vgl. Brownie, Principles ofPublic International Law, S.43. 18 Womit dem Prinzip des friedlichen Zusammenlebens der V6lker Verfassungsrang zugesprochen wird-vgl. BVeifGE 63, 343, 370; 47, 377, 382; 87, 237, 239; s. auch hinsichtlich der Bedeutung der Menschenrechte als Maßstab zur Verfassungskonkretisierung Sommermann, Völkerrechtliche Garantien als Maßstab der Verfassungskonkretisierung, in: AöR 114 (1989), 391. 19 BVeifGE 73, 339, 386; in dieser Entscheidung ist allerdings keine Entscheidung über die Art und Weise dieser Einigung getroffen, vgl. Zuleeg, in: AK, Präambel, RN 60; Huber, in: Sachs, Präambel, RN 41; a. A. H. P. lpsen, Zum Parlamentsentwurf einer Europäischen Union, in: Der Staat 124 (1985), 325, 344f. 20 Battis, Europäische Integration, S. 81, 88. 21 Bleckmann, Europarecht, RN 1082 f, vgl. auch Badura, Staatsziel und Garantien der Wirtschaftsverfassung in Deutschland und in Europa, in: FS Stern S.409.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

in das Grundgesetz eingefügt. Diese als Staatszielbestimmung22 formulierte Norm enthält zugleich den rechtsverbindlichen Verfassungsauftrag, zur Verwirklichung des vereinten Europas beizutragen 23 • Entsprechend dem Verfahren in Art. 23 I 2, 3 GG bietet die Norm mithin die verfassungsrechtliche Grundlage für die Öffnung der nationalen Rechtsordnung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht24 • b) Stellung des Europarechtes im Verhältnis zum nationalen Recht Das europäische Gemeinschaftsrecht weicht gegenüber dem traditionellen Völkerrecht gerade in bezugauf das Verhältnis zum nationalen Recht weit ab25 . Während das Völkerrecht sich nur an die Staaten wendet, bindet das Europarecht grundsätzlich auch die innerstaatlichen Behörden26. Da das Gemeinschaftsrecht also auch im innerstaatlichen Bereich Wrrkung entfaltet, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der nationalen und der gemeinschaftlichen Rechtsordnung im KollisionsfalL Der EuGH geht seit der Entscheidung Costa/ENEL27 davon aus, daß die Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts hinsichtlich Geltung, Rang und unmittelbarer Anwendbarkeit nicht vom nationalen, sondern vom Gemeinschaftsrecht abschließend bestimmt werde, d. h. diesem gegenüber dem nationalen Recht, auch dem Verfassungsrecht28, der Vorrang eingeräumt werden müsse 29. Diesen Vorrang hätten die Mitgliedsstaaten in Art.lOII EGV anerkannt. Diese Auffassung wird vom Bundesverfassungsgericht nicht voll geteilt 30• Da die Geltung des Gemeinschaftsrechts die jeweilige Öffnung der nationalen Rechtsord22 So die amtliche Begründung BR-DrS 501/92, S.4, 11; vgl. auch Randelzofer, in: Maunz/ Dürig, Art.24, RN202, FN644. 23 BT-DrS 12/3338, S. 6; Badura, in: FS SternS. 409 f; v. Simson/Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, S. !Off, Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, in: JZ 1993, 585 m.w.N. 24 "Ist die Tür einmal offen, ist das Hereinströmen und Sichauswirken (des außernationalen Rechts durch die nationalen Gerichte) oft nicht mehr umfassend kontrollierbar" warntE. Klein, Gedanken zu einer Europäisierung des Verfassungsrechts, in: FS Stern S. 1301. 25 Vgl. allgemein Bethlehem, Three systems in search of a framework, S. 169ff; Eiffler, Der Grundrechtsschutz durchBVeifG, EGMR und EuGH, in: JuS 1999, 1068. 26 Vgl. nur Bleckmann, Europarecht RN 1090. 27 EuGHRS6/64-Costa/ENEL,Slg.l964, 1251, 1269ff; RS 14/68- Wilhelm, Slg. 1696, I , 15; 11no.- Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 70, 1125, 1135; RS48n1- Kommission/ Italien, Slg.1972, 529, 534; RS t06n7- Simmenthal, Slg.1978, 629, 643f; RS44n9-Hauer, Slg. 1979, 3727, 3728. 28 Erstmals ausdrücklich in EuGH RS ttno- Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, 1171. 29 So auch Schilling, Rang und Geltung von Rechtsnormen, S. 249 f. 30 Vgl. zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit 1969 insb. BVeifGE 22, 293, 31, 145" 174; 37, 271; 73, 339; 75,223,244 und zuletzt 89, 155, 175; Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung findet sich bei Hölscheidt!Schotten, Von Maastricht nach Karlsruhe, 1993; Hilf, Solangs II: wie lange noch Solange? in: EuGRZ 1987, 1; Bleckmann, Europarecht,

I. Rechtsquellen

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nung für das Gemeinschaftsrecht voraussetze, könne sich der Vorrang des Gemeinschaftsrechts nur aus einem Zusammenwirken des Gemeinschaftsrechts mit dem nationalen Recht ergeben: "Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unionsvertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die vom Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrundeliegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsgebiet nicht verbindlich."31. Daraus folgt, daß nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts das Gemeinschaftsrecht nur in den Grenzen der Vorrang eingeräumt werden kann, in denen es sich im Rahmen seiner Kompetenzen bewegt und das nationale Recht sich ihm gegenüber öffnet. Für das deutsche Recht gilt somit, daß die Öffnung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht gemäß Art. 23 I 2, 3 GG, 79 III i. V. m. Art. 20 I, II GG begrenzt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem Maastrichturteil 32 seine Zuständigkeit dergestalt ausgedehnt, daß auch Rechtsakte von Organen und supranationalen Organisationen unmittelbar durch es geprüft werden. Zugleich setzt es seine Gerichtsbarkeit in bezug auf europarechtlich relevante Sachverhalte weiterhin grundsätzlich zugunsten des EuGH aus und schreitet nur in sog. Extrem- und Ausnahmefällen ein 33 • Es behält sich somit eine eingeschränkte Prüfungskompetenz auf die generelle Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsschutzes vor. Es ist nach eigener Auffassung nach wie vor dann zuständig, wenn der EuGH die geltend gemachten Grundrechte "schlechthin und generell" nicht anerkennt und somit der Grundrechtsstandard auf Gemeinschaftsebene "generell und offenkundig" unterschritten ist34 • Für diese Fälle nimmt das Bundesverfassungsgericht für sich in Anspruch, einen wirksamen Grundrechtsschutz zu gewährleisten, indem es den Wesensgehalt der deutschen Grundrechte auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft sichert. Ein solcher Fall ist bislang nicht eingetreten35• RN 1069ff; Steinberger, Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis zwischen Europäischen Gemeinschaftsrecht und deutschem Recht, in: FS Doehring, 1989, 951; Kloepfer, EG-Recht und Verfassungsrecht in der Rechtsprechung des BVerfG, in: JZ 1988, 1089; Zeidler, Wandel durch Annäherung- Das Bundesverfassungsgericht und das Europarecht, in: FS Sirnon 1987, 727, Tomuschat, Aller guten Dinge sind III?, in: EuR 1990, 340; Beutler!Bieber/Piepkorn!Streil, Die EG, S. 87ff; 0/mi, in: RMC 1981, 178ff, 242ff, 379ff; Bernhardt, in: FS Bindschedler 1980, 229ff, Everling, in: DVBI 1985, 1201; Kugelmann, Grundrechte in Europa, S. l7ff; Stein, Etikettierung von Tabakerzeugnissen und Warnhinweise, in: EuR 1997, 169. 31 BVerfGE 89, 155, 174. Das läßt sich zugunsten der Rechtsbetroffenen inhaltlich gut auf das Prinzip des checks and balances stützen. 32 BVerfGE 89, 155. 33 S. bereits BVerfGE 73, 339, 387. 34 Nach BVerfGE 89, 155, 175 folgt das aus einem Kooperationsverhältnis zwischen dem EuGH und dem BVerfG. 35 Der Österreichische Verfassungsgerichtshof hat als erstes nationales Verfassungsgericht dem EuGH einen Fall im Vorlageverfahren vorgelget, s. Beschluß vom I 0.3.1999 - B 2251/97 u.a., vor dem EuGH als RS C-143/99 - Adria Wien Pipeline GmbH und WarendorferG. Peggauer Zementwerke GmbH geführt (abgedruckt in: EuGRZ 1999, 365).

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

Es kann insgesamt also von einem grundsätzlichen Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht, auch dem Verfassungsrecht, ausgegangen werden.

c) Art der Einwirkung auf das nationale Verfassungsrecht Es gibt im Gemeinschaftsrecht Regeln, die unmittelbar im nationalen Recht gelten. Darunter fallen Vertragsbestimmungen, sofern sie durch den EuGH für unmittelbar geltendes Recht erklärt wurden36, sowie Verordnungen (Art. 249 EGV) und deren Auslegung durch den EuGH 37• Darüber hinaus gibt es Rechtsakte der EG, die mittelbar, d. h. infolge eines Umsetzungsakts gelten. Darunter fallen die Richtlinien (Art. 94 EGV), die in nationales Recht umgesetzt werden müssen 38, und deren Auslegung durch den EuGH, die allerdings wiederum direkt die Auslegung auch des nationalen Umsetzungsakts bindet39• Die konkrete Folge für die nationalen Grundrechte ist, daß die neuen unmittelbar geltenden Regeln und zum Teil auch die, die eines Umsetzungsakts bedürfen40, sich einer verfassungsrechtlichen Überprüfung entziehen. Das kann dazu führen, daß in Deutschland Rechtsnormen Geltung haben, die nicht im Einklang mit der Verfassung stehen. Da die gemeinschaftsrechtlichen Normen jedoch in Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht stehen müssen, kann ein Grundrechtsverstoß nur dann entstehen, wenn und soweit der Schutzgehalt des europäischen Gemeinschaftsrechts hinter dem des deutschen Verfassungsrechts zurückbleibt. Ob dem so ist, ist Gegenstand der folgenden Untersuchung. Dazu wird zunächst der Gehalt der Berufsfreiheit im nationalen Recht dargestellt. Dabei wird den mate36 Insbesondere zu nennen sind die Grundfreiheiten und das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 12-EGV). 37 Hier ist insbesondere zu nennen VO 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. 38 Zur unmittelbaren Wirkung von nicht (rechtzeitig) umgesetzten Richtlinien siehe EuGH RS 9no- Leberpfennig, Slg.1970, 825; RS41n4- van Duyn, S1g.l974, 1337; Bleckmann, Europarecht, RN 431 ff; Oppermann, Europarecht, RN 466 ff jeweils m. w. N. Diese kann aber nur zugunsten des einzelnen gelten und folglich keine Grundrechtsbeeinträchtigung zur Folge haben. 39 So zum Beispiel die Entscheidungen zur Wahrung von Arbeitnehmerrechten bei Betriebsübergang EuGH RS 19/83- Wendelboe, S1g.1985, 457; RS 135/83- Abels, Slg. 1985, 469; RS 179/83- Industriebound FNV, Slg. 1985, 511; RS 186/83- Botzen, Slg. 1985, 519 u. a. Mittelbar rechtsvereinheitlicher Effekt wird zudem den Regelungen zu Einfuhrbeschränkungen und dem Verbot der Maßnahmen mit gleicher Wirkung zugeschrieben. vgl. Everling, Rechtsvereinheitlichung durch Richterrecht in der Europäischen Gemeinschaft, in: RabelsZ 50 (1986}, 193, 217ffmit zahlreichen Beispielen. 40 Die Überprüfungskompetenz des BVerfG entfällt bei Richtlinien, die entsprechend detailliert sind, daß dem nationalen Gesetzgeber bei deren Umsetzung kein eigener Gestaltungsspielraum mehr verbleibt; vgl. BVerfG NJW 1990, 974; Tomuschat, in: EuR 1990, 340, 344; Everling in: EuR 1990, 195, 204, a. A. Scholz, Wie lange noch bis Solange Ill? in: NJW 1990, 941,945.

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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riellen Einflüssen, die das Gemeinschaftsrecht auf den Inhalt der Berufsfreiheit im deutschen Recht hat, besonderes Augenmerk gewidmet41 .

II. Entstehung der Vorschrift des Art. 12 I GG In Weiterentwicklung zur Berufsfreiheit der Weimarer Reichsverfassung 42 wurde im Parlamentarischen Rat die Abtrennung der Berufsfreiheit von der Freizügigkeit43 -das heißt Trennung des Bereiches der persönlichen und beruflichen Freizügigkeit44 - vorgenommen. Die Gewerbefreiheit findet keine explizite Erwähnung mehr, es herrscht aber Einigkeit darüber, daß sie von Art. 12 I GG gleichwohl mit umfaßt ist45 . Die besondere Neuerung im Grundrechtsschutz wird in allererster Linie in ihrer besseren Wirksamkeit gesehen. Wahrend die WRV Bindungswirkung nur gegenüber der Landesgesetzgebung hatte46, bindet das Grundgesetz, wie bereits dargelegt, alle Staatsgewalt.

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht Art. 12 I GG ist ein klassisch liberales Freiheitsrecht47. Als solches liegt seine wichtigste Funktion in der Abwehr von staatlichen Eingriffen48, das bedeutet konkret die Gewährleistung der Freiheit vom Staat im Bereich der Arbeit und des Berufes. Klares Schutz- und Ordnungsziel ist die grundrechtliche Gewährleistung der 41 Allgemein zur Europäisierung des Verfassungsrechts Rengeling, Gedanken zur Europäisierung des Rechts, in ders.: Europäisierung des Rechts, 1996, S.l ff und die Beiträge von Bieber, Scheuing und Weiler, in: Kreuzer/Scheuing (Hrsg.): Die Europäisierung der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen in der EU, 1997. 42 Vgl. oben Kapitel A Il2. 43 Diskussionsgrundlage war gewesen: Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet. Jeder Bundesangehörige hat das Recht, an jedem Ort der Bundesrepublik seinen Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen sowie seinen Beruf und seinen Arbeitsplatz frei zu wählen. Dem Gesetze bleibt es vorbehalten, die Berufsausübung zu regeln. Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspßicht. Zwangsarbeit ist nur im Vollzug einer gerichtlich angeordneteten Freiheitsentziehung zulässig. zit. nach Bryde, Art. 12 I GG- Freiheit des Berufs, in: NJW 84,2177,2178. 44 Bachof, in: Bettermann/Nipperdey, Grundrechte Bd. 3, S. 165; zur Arbeit im ParlamentarischerRatausführlichJÖR n.F.1 (195/52) S.l33ff,Bryde, in: NJW 1984,2177,2178 beurteilt die Vorarbeiten als unergiebig: ,,Politik der Nichtentscheidung unter eher punktueller Erfassung des Regelungsbereiches der zu schaffenden Norm". 45 Vgl. nur BVerjGE 21, 261,266. 46 Papier, Artikel 12 I GG- Freiheit des Berufs und das Recht auf Arbeit, in: DVBl 1984, 801; zur Berufsfreiheit in der DDR vgl. Schmidt-Eriksen, Art. 121 GG- Freiheit des Berufs und das Recht auf Arbeit, in: DtZ 1990, 108, 109. 47 V gl. eingehend Stern, Staatsrecht III 2, § 96 IV S. 1797; Burmeister, in: FS Stern S. 835, 839ff. 48 Vgl. oben Kapitel AI3.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

freien Selbstbestimmung und Verfügung über den Beruf, die erworbene berufliche Qualifikation und die Berufsausübung49• Art. 12 I GG enthält zunächst ein für das Arbeits- und Wirtschaftsleben zentrales Freiheitsrecht, das dem einzelnen die freie Entfaltung der Persönlichkeit zur materiellen Sicherung seiner individuellen Lebensgestaltung ermöglicht50 • Die Schutzrichtung der Norm besteht in der Konkretisierung des Grundrechtes auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Bereich der individuellen Leistung und Existenzerhaltung. Die Berufsfreiheit ist damit in erster Linie persönlichkeitsbezogen51 • Sie schützt mithin die individuelle Selbstbestimmung durch Arbeit und Beruf52• 1. Personeller Anwendungsbereich

a) Adressat Von der Struktur und der Geschichte her ist die Berufsfreiheit darauf gerichtet, den Freiheitsraum des Individuums zu sichern, einen status negativus des Bürgers gegen den Staat zu begründen 53• Daraus folgt, daß die Berufsfreiheit primär gegen die inländische öffentliche Gewalt gerichtet ist 54• aa) Erweiterung der Schutzgewährung auf internationale Bindungen Infolge der europäischen Integration haben europäische Institutionen vermehrt Kompetenzen übertragen bekommen, deren Ausübung dazu geeignet ist, in die durch Abwehrrechte geschützten Rechtspositionen- und damit auch der Berufsfreiheit- einzugreifen. Im Maastricht-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht deshalb explizit hervorgehoben, daß die BR Deutschland zum unaufgebbaren Schutz ihrer Bürger auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft verpflichtet ist55• Als eine Konsequenz aus der Öffnung des Grundgesetzes für internationale und supranationale Bindungen sieht es deshalb die Gewährung von grundrechtlichem Schutz auch gegenüber Akten der Gemeinschaftsorgane, wenn in Rechte des Individuums Badura, Arbeit als Beruf, in: FS Herschel, S.21, 33. Tettinger, Verfassungsrecht und Wirtschaftsordnung, in: DVB11999, 679,684. 51 Schneider, in: VVdStRL 43, 8, 40 nennt diesen Grundrechtsgehalt i. V. m. Art. 1 und 2 GG den personalen Kern. 52 Vgl. dazu Schneider und Lecheler, in: VVdStRL 43, 8ff, 43ff; Bryde, in: NJW 1984, 2177 ff; Häberle, Arbeit als Verfassungsproblem, in: JZ 1984, 345 ff; Papier, Art.12 GG- Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, in: DVB11984, 801; Pietzcker, Art.1 2 GG - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, in: NVwZ 1984, 55 0ff, Wendt, Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, in: DÖV 1984, 601 . 53 Stern, Staatsrecht Bd. III 2, S. 1797. 54 Stern, Staatsrecht Bd. III 1 S. 1229; Kunig, in: v. Münch, Art. 1 RN 52, /sensee, in: HbdStR V S. 385; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 1, RN20. ss BVerjGE 89, 155, 174. 49

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III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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eingegriffen wird 56• Bemerkenswert an dieser Ausführung ist weniger die praktische Relevanz, die wegen des gleichzeitig ausgesprochenen Prüfungsverzichts 57 unerheblich sein dürfte. Entscheidend ist vielmehr, daß das Bundesverfassungsgericht bei der Frage der Gewährung des Schutzes beim Individuum, welches den Eingriff in die geschützte Rechtsposition erleidet, anknüpft58 • Diese auch als Paradigmenwechsel59 bezeichnete Änderung der Blickrichtung rückt in gewisser Weise die Blickrichtung der Grundrechtsverletzung zurecht, indem konsequenterweise angeknüpft wird an der zu schützenden Freiheitssphäre. bb) Unmittelbare Bindung Privater Eine unmittelbare Bindung Privater aus Art. 12 I GG anzunehmen würde bedeuten, daß der Einzelne gegenüber anderen Privaten ein Abwehrrecht unmittelbar aus dem Grundrecht herleiten könnte 60 • Ein solches Verständnis liefe jedoch dem Wortlaut des Art. 1 III GG zuwider: Danach sind die drei Gewalten an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden und damit gerade nicht der Bürger. Auch die Bindung der Legislative und Judikative muß nicht zu einer horizontalen Wrrkung der Grundrechte unter den Bürgern führen. Schließlich bedeutet die Grundrechtsbindung, daß sie vertikal, also im Verhältnis Staat- Bürger, Beachtung finden müssen. Nicht jedoch kann daraus gefolgert werden, daß eine horizontale Grundrechtsgeltung konstituiert werden solle61 • Zudem besteht der Zweck grundrechtlicher Gesetzesvorbehalte darin, einen Ausgleich zwischen Privatinteressen und Gemeinwohlbelangen zu schaffen. Im Privatrecht hingegen werden Abwägungen zum Zwecke des Interessenausgleiches nur zwischen Privatbelangen vorgenommen - Gemeinwohlbelange finden dort gerade keine Berücksichtigung62• BVerfGE 89, 155, 175. Das entspringt aus dem Kooperationsverhältnis- vgl. BVerfGE 89, 155, 175. 58 Aus diesem Schutzauftrag entwickelt das BVerfG die Schutzgewährung gegenüber den Hoheitsakten der Gemeinschaftsorgane. So schreibt Höfling, in: Sachs, Art. 1, RN 82, offensichtlich stehe dahinter die Vorstellung, der deutsche Staat müsse auf seinem Hoheitsgebiet immer als Garant der Grundrechte zur Verfügung stehen; ebenso 8/eckmann, Europarecht, RN 1133; Kirchhojf. in: HbdStR VII § 83, RN 30ff. 59 So Klein, in: FS Stern, S. 1301, 1304; weiterführend ders., Grundrechtsdogmatik und verfassungsprozessuale Überlegungen zur Maastrichtentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: GS Grabitz, S. 271, 276ff. 60 Die Lehre von der unmittelbaren horizontalen (Dritt-)Wirkung der Grundrechte geht zurück auf Nipperdey, Grundrechte im Privatrecht, 1961, ders. in: FS Nawiaski 1956, S.l57; vgl. ausführlich Gamillscheg, Die Grundrechte der Arbeit, S. 75ff. 61 Doerig, Das Staatsrecht in der BR Deutschland, S.209; Dürig, in: Maunz/Dürig Art. I III RN 121; Stern, Staatsrecht III l, S.l486; 0/diges, Neue Aspekte der Grundrechtsgestaltung im Privatrecht, in: FS Friauf, S.281, 284. 62 0/diges, in: FS Friauf, S.28l, 283; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, in: AcP 184 (1984), 201, 204; Hermes, Grundrechtsschutz druch Privatrecht auf neuer Grundlage?, in: NJW 1990, 1764. 56 57

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

Es kann somit keine Drittwirkung unmittelbar aus der Abwehrfunktion des Grundrechts hergeleitet werden63 • b) Grundrechtsberechtigte aa) Natürliche Personen Art. 12 I GG ist seinem Wortlaut nach ein Bürgerrecht. Grundrechtsberechtigte sind dem Wortlaut entsprechend Deutsche im Sinne des Art. 116 I 00 64 • Ausländer werden in ihrer Berufsfreiheit durch und im Rahmen des Art. 2 I GG geschützt65 •

Ungeklärt ist, inwieweit die Berufsfreiheit trotz des eindeutigen Wortlauts auch für Unionsbürger Geltung hat66• Ohne auf das folgende Kapitel zum gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutz vorgreifen zu wollen, soll hier der Hinweis genügen, daß eine Ungleichbehandlung von Deutschen und Unionsbürgern durch nationales Recht einen Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot aus Art. 12 EGV darstellt, welches für den Bereich der Berufsfreiheit in Art. 39 ff, 43 ff EGV konkretisiert ist67 • Das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot verbietet grundsätzlich, daß die Mitgliedsstaaten eine schlechterstellende Differenzierung zulasten von EG-Ausländern aufgrund der Staatsangehörigkeit vornehmen. Ein solches Vorgehen ist, entsprechend dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts, unzulässig. Eine Möglichkeit, der Gemeinschaftswidrigkeit entgegenzuwirken, besteht darin, Art. 12 I GG unter Stützung auf Art. 10 II EGV europarechtskonform in erweiternder Auslegung auch auf Unionsbürger anzuwenden 68 • Damit wäre dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot am effektivsten nachgekommen. Dies wird wegen des eindeutigen Wortlautes vielfach abgelehnt. Gestützt wird die Ablehnung darauf, daß die klassische staatsrechtliche Differenzierung zwischen Menschen63 Mit der Ablehnung der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte ist nichts gesagt über eine mittelbare Wirkung, die erst im folgenden Teil-,Teilhabe- und Leistungsrechte aus Art.121 GG - erörtert werden soll. 64 Siehe nur Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art.12, RN9, Art, 116 RN 1 ff. 65 Vgl. BVerfGE 35, 382, 399,49, 168, 180; 78, 179, 197; BVerjG in: DVBl 88, 949, Ausschluß von Ausländern zur Heilpraktikererlaubnis; s. a. Sachs, in: DVBl 1988, 385; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 12, RN 96 geht von einem ausschließenden Spezialverhältnis zwischen Art.121 und 21 GG aus. 66 Vgl. Bauer!Krahl, Europäische Unionsbürger als Träger von Deutschen. Grundrechten?, in: JZ 1995, 1077; Kugelmann, Grundrechte in Europa, S.15; Quaritsch, Der grundrechtliche Status der Ausländer, in: HbdStR V § 20 RN 99; Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, S.361ff. 67 Die europarechtlichen Grundlagen werden im Kapitel D ausführlich behandelt. 68 So verstehen es Breuer, in: HbdStR VI, S. 895f; Klein, in: FS Stern S.1301, 1310; Gusy, Die Freiheit von Berufswahl und Berufsausübung, in: JA 1992, 257; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art.12, RN9.

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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und Bürgerrechten nicht aufgegeben werden könne 69 • Verzichtet man aus den genannten Gründen auf die erweiternde Auslegung, so müßte, um den Unionsbürgern dennoch einen gleichwertigen Rechtsschutz zu gewähren, dieser aus Art. 39 oder 43 EGV i. V. m. dem Prinzip vom Vorrang des Vertragsrechts hergeleitet werden 70 • In dem Fall wäre der Rechtsschutz für EG-Ausländer nicht nationaler sondern europarechtlicher Natur. Materiell-rechtlich darf diese Vorgehensweise nicht zu einer Schlechterstellung führen. Fraglich ist aber, ob der Rechtsschutz genauso effektiv gewährleistet wird. Die Gewährung des nationalen Rechtsschutzes ist Teil der aufgrund des Gemeinschaftsrechtes verpflichtenden Gleichbehandlung- ob jedoch die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht einzulegen, davon mit umfaßt ist, ist umstritten. Abgelehnt wird die Öffnung der Verfassungsbeschwerde damit, daß es sich nicht um einen ordentlichen Rechtsbehelf handele, sondern die Eröffnung der Verfassungsbeschwerde vielmehr Ausfluß staatsbürgerlicher Rechte sei. Daher müsse sie Gemeinschaftsangehörigen nach dem EGV nicht eingeräumt werden 71 • Dagegen spricht aber, daß die Verweigerung der Verfassungsbeschwerde ungeachtet ihrer staatsrechtlichen Qualifizierung zu einer gemeinschaftsrechtlichen Ungleichbehandlung in einem Bereich führt, in dem das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkte Gleichbehandlung verlangt 72 • Aus diesem Grunde wäre eine Verweigerung des vollständigen Rechtsschutzes gegenüber Unionsbürgern eine gemeinschaftswidrige Ungleichbehandlung, die zu einer gemeinschaftsrechtlich relevanten Schlechterstellung führt. Ungeachtet dieser Auseinandersetzung besteht für Ausländer im allgemeinen- wie bereits festgestellt- der Schutz der Berufsfreiheit über Art. 2 I GG, der auch die Möglichkeit zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde gewährt. Daraus folgt, daß auch Unionsbürger grundsätzlich die Möglichkeit haben, Verfassungsbeschwerde einzulegen. Mit Rücksicht auf das Gleichbehandlungsgebot darf allerdings der Schutz der Berufsfreiheit vor dem Bundesverfassungsgericht für Unionsbürger nicht schwächer ausgestaltet sein als für Deutsche. Die Überprüfung des Schutzbereichs der Berufsfreiheit und deren Einschränkbarkeit aus Art. 2 I GG muß daher in diesen Fällen den gleichen Schutzgehalt aufweisen wie bei Art.12 I GG. Art. 2 I GG muß mithin in den Schranken des Art. 12 I GG geprüft werden 73 • 69 Tettinger, in: Sachs Art. 12 RN 20; Ossenbüh/, Die Freiheit der Unternehmen nach dem Grundgesetz, in: AöR 115 (1990) 1, 4 m. w. N.; vgl. zu der Unterscheidung Menschen- und Bürgerrecht oben Kapitel AIII. Kritisch zu dem Argument in diesem ZusammenhangDrathen, Deutschengrundrechte, S. 46 f: "angesichts der integrationsfreundlichen Tendenz des Grundgesetzes kann in der Unterscheidung zwischen Menschen- und Bürgerrechten kein grundsätzliches Verbot der Erweiterung der Grundrechtsgewährleistung gesehen werden." 1o So Drathen, Deutschengrundrechte, S.189. 71 Everling, in: ZaöRV 1967, 805, 807; Bethge, in: AöR 104 (1979), 54, 86. 72 Drathen, Deutschengrundrechte, S.l89; Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, S. 99. 73 So Bauer/Kahl, in: JZ 1995, 1077, 1083, in diese Richtung tendiert auch Tettinger, in: Sachs Art. 12 RN21.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

Im Ergebnis ist es also unerheblich, ob Unionsbürgern der deutsche Grundrechtsschutz mittels erweiternder Auslegung des Art.l2I GG oder aufgrunddes gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbotes und Art. 2 I GG gewährt wird 74 • Die folgenden Ausführungen über Inhalt und Schranken der Berufsfreiheit betreffen in jedem Fall auch den Grundrechtsschutz von Angehörigen der EU-Mitgliedsstaaten. bb) Personenmehrheiten Auch wenn eine juristische Person einen Beruf nicht im Sinne einer Lebensaufgabe ausüben kann 75 , können sich gemäß Art. 19 III GG auch inländische juristische Personen des Privatrechts auf das Grundrecht der Berufsfreiheit berufen, insoweit sie eine Erwerbstätigkeit ausübt und diese ihrem Wesen und ihrer Art nach in gleicher Weise von einer juristischen wie von einer natürlichen Person wahrgenommen werden kann 76 • Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es darum geht, ein Gewerbe zu betreiben77 • Grundsätzlich fallen hierunter Gesellschaften mit beschränkter Haftung 78 , Aktiengesellschaften79 , Stiftungen bürgerlichen Rechts 80. Auch die Handelsgesellschaften (offene Handelsgesellschaft, Kommanditgesellschaft81 ) sind Träger des Berufsgrundrechts. Grundsätzlich können sich auch eingetragene Vereine auf die Grundrechte berufen82, hinsichtlich der Berufsfreiheit stellt sich hier allerdings das Problem, daß lediglich solche Tätigkeiten geschützt werden, die zu Erwerbszwecken betrieben werden. Auch teilrechtsfähige Vereine und Gesellschaften bürgerlichen Rechts können unter diesen Voraussetzungen Träger des Berufsgrundrechts sein83. Juristische Personen des öffentlichen Rechts sowie vom Staat geschaffene juristische Personen des Privatrechts, die Aufgaben und Funktionen der öffentlichen Verwaltung erfüllen, können wegen ihrer Staatsgerichtetheit keinen Schutz der Berufsfreiheit erlangen84. Sie werden nicht in der Ausübung von Freiheitsrechten tätig, Im Ergebnis ebenso Drathen, Deutschengrundrechte, S. 192. So wörtlich BVerwGE 97, 12, 23. 76 BVerfGE 21, 261, 266; 22, 280, 383; 30, 292, 312; 50, 290, 363; allgemein Bleckmann/ Helm, Die Grundrechtsfähigkeitjuristischer Personen, in: DVB11992, 9; vgl. auch unten: Untemehmerfreiheit. 77 BVerfGE 45, 63, 80; 68, 193, 212, ausführlich Bethge, in: AöR 104 (1979), 265ff. 78 BVerfGE 3, 259, 363. 79 BVerfGE 50,290,319. 80 BVerfGE 57, 220, 240; 70, 138, 160. 8t BVerfGE 42, 212, 219; 53, I, 13. 82 BVerfGE 3, 383, 390; 53, 366, 386. 83 Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art.l9, RN 14. 84 BVerfGE21, 362, 369; 61, 82, IOOf; 68, 193,206- vgl. weitere Nachweise beiJarass, in: Jarass/Pieroth, Art.l9, RN 13a, 16; Breuer, in: HbdStR VI§ 48 RN 57 S. 1000. 74 75

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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sondern aufgrund einer Kompetenzeinräumung, Dies gilt auch bei erwerbswirtschaftlicher Betätigung85• Gleiches gilt für juristische Personen des Privatrechts, deren Anteile vollständig von juristischen Personen des öffentlichen Rechts gehalten werden 86• Problematisch ist die Einordnung gemischtwirtschaftlicher Unternehmen, bei denen neben privaten Rechtssubjekten auch juristische Personen des öffentlichen Rechts beteiligt sind87 • Das Bundesverfassungsgericht lehnt eine Grundrechtsträgerschaft jedenfalls dann ab, wenn der jeweilige Hoheitsträger die Möglichkeit hat, entscheidenden Einfluß auf das Unternehmen zu nehmen 88 • Inländisch ist ein Unternehmen nach der herrschenden Sitztheorie, wenn es sein effektives tatsächliches selbstgewähltes Aktionszentrum im Inland, d. h. im Geltungsbereich des Grundgesetzes89 hat 90• Es kommt bei der Beurteilung damit nicht auf die Staatsangehörigkeit der Mitglieder der juristischen Person an 91 , denn die Grundrechtsfaltigkeil steht gemäß Art. 19 III GG der Gesellschaft und nicht den für sie handelnden oder hinter ihr stehenden natürlichen Personen zu92 • Dem Wortlaut des Art. 19 III GG, wonach "auch inländische juristische Personen" sich auf die Grundrechte berufen können, läßt sich nicht eindeutig den Schluß zu, daß ausländische juristische Personen nicht grundrechtsberechtigt sind93 • Das Bundesverfassungsgericht läßt die Verfassungsbeschwerde ausländischer juristischer Personen wegen Verletzung von Verfahrens- und Prozeßgrundrechten der Art. l7, 19IV, 101, 103I GG zu 94 • Im übrigen aber wird Art. l9III GG dahin ausgelegt, daß die Erwähnung "inländisch" bedeute, daß ausländische juristische Personen gerade nicht grundrechtsberechtigt sein sollen95 • Dies lasse sich mit der historiTettinger, in: DVB11999, 679,685. BVerjGE 45, 63, 78ff; 68, 193, 212f. 87 Vgl. Stern, Staatsrecht Bd. III/1, S. 1169; Pieroth, Die Grundrechtsberechtigung gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen, in: NVwB11992, 85. 88 BVerjG, in: JZ 1990, 335. 89 Zum früheren Streit vgl. nur Stern, Staatsrecht 1112, S.1144f; Krüger, in: Sachs, Art.19 RN 50. 90 Vgl. BVerjGE 21,207, 208f; BGHZ16, 387, 395f; vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 19, 111 RN 31; Stern, Staatsrecht 1112, S. 1139ff; Pieroth/Schlink, Staatsrecht li, RN 161; Isensee, in: HbdStR V§ 118 RN 44; Dreier, in: ders. Grundgesetz, Art.l9III, RN31; a.A. Quaritsch, in: HbdStR V§ 120 RN40; Bleckmann/Helm, in: DVBI1992, 9, 13, die die Staatszugehörigkeit nach der Kontrolltheorie bestimmen. 91 Stern, Staatsrecht III2 S.l148; Badura, StaatsrechtS. 72; Pieroth/Schlink, Staatsrecht li, RN 161; Dreier, in: ders.: Art.19III, RN32; a.A. Quaritsch, in: HbdStR V§ 120, RN54ffunter Hinweis auf die Kontrolltheorie. 92 So Dreier, in: ders., Art. 19 III, RN 32. 93 Das wäre der Fall gewesen, wenn der Wortlaut "gelten nur für inländische juristische Personen" gelautet hätte. Vgl. hierzu und zum folgenden Drathen, Deutschengrundrechte, S. 7, Bethge, in: AöR 104 (1979), 24, 30; v.Mutius, in: Bonner Kommentar, Art.19III, RN 49; Krebs, in: v. Münch, Art. 19, RN33; Stern, Staatsrecht III 1 § 71 VI6 jeweils m. w.N. 94 BVerjGE 12, 6, 8; 18, 441 , 447. 95 BVerjGE 21,207, 209. 85

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

sehen Genese und Sinn und Zweck der Norm begründen 96 • Auch für juristische Personen anderer EU-Mitgliedsstaaten gilt, daß ihnen aufgrunddes europarechtlichen Diskriminierungsverbotes materiell uneingeschränkt dieselben Rechte eingeräumt werden wie entsprechenden inländischen juristischen Personen. Die Versagung der Grundrechtsposition führt jedoch zu einem Ausschluß von der Verfassungsbeschwerde und damit zu einer Schlechterstellung gegenüber inländischen juristischen Personen97 • Anders als natürliche Personen können juristische Personen diesen Schutz wegen Art. 19 III GG nicht über den Umweg des Art. 2 I GG erhalten98 • Folgt man der Auffassung, die Verfassungsbeschwerde müsse aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots ungeachtet der Qualifizierung als außerordentlichem Rechtsbehelf nach deutschem Recht auch EG-Ausländern zustehen- wofür wie gesehen gute Gründe sprechen-, so läßt sich ein Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Gleichbehandlungsgebot feststellen. Noch stärker als bei natürlichen Personen stellt sich angesichts der Integrationsentwicklungen gerade im Wirtschaftsleben angesichts der damit verbundenen Zufälle, die die Zugehörigkeit eines Unternehmens zu dem einen oder anderen Land beinhalten, die Frage nach der Berechtigung der Versagung des formellen Grundrechtsstatus für juristische Personen der Mitgliedsstaaten. Daher muß, um der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit entgegenzuwirken, Art. 19 III GG erweiternd zugunsten der Angehörigen der EG-Mitgliedsstaaten ausgelegt werden99 • Methodisch stützen läßt sich das durch Art. 12 EGV i. V. m. dem Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts 100 bzw. einer europakonformen Auslegung der Inländerklausel 101 • Im Ergebnis ist also festzuhalten, daß der Schutz der Berufsfreiheit auch für juristische Personen mit Sitz in einem der EU-Mitgliedsstaaten Geltung hat 102• Im Mitbestimmungsurteil 103 hat das BVerfG als Ausfluß der Gewerbefreiheit auch die Unternehmerfreiheit- im Sinne freier Gründung und Führung von UnterVgl. die zahlreichen Nachweise beiDrathen, Deutschengrundrechte S. 7ff. Vgl. oben Kapitel B III 1 b)aa). 98 Obwohl Art. 2 I GG grundsätzlich für juristische Personen anwendbar ist, vgl. BVerfGE 20,323,336; 23, 12,30;44,353,372. 99 Als eine Art Rechtsreflex versteht es Bal/erstedt, Grundrechte III 1 S. 80, FN 217; Bachof, Die Freiheit des Berufs, S. 177, vgl. hierzu ausführlich Drathen, Deutschengrundrechte S.204ff. 100 Wölker, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 48 RN 4; Zuleeg, Zur staatsrechtlichen Stellung des Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland, in: DÖV 1973, S. 361; Scheuing, Das Niederlassungsrechtim Prozeß der Integration, in: JZ 1975, 151, 157; i.E. auch Maunz, in: Maunz/Dürig Art. 14 RN 11; Krebs, in: v. Münch, Art. 19 III, RN 33; Breuer, in: HbdStR V S. 895; ähnlich Weber, Berufsausbildung und Berufszugang für Juristen im EG-Binnenmarkt, in: NVwZ 90, 1, 3. 101 Vgl. Bleckmann, in: WiVerw 87, 119, 133f, Bedenken dazu hat Drathen, DeutschengrundrechteS. 209, die er im Ergebnis aber verwirft. 102 So im Ergebnis auch Rittner, Untemebmerfreiheit, S. 22. 103 BVerfGE 50, 290, 363. 96 97

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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nehmen als Teil des Gewährleistungsgehalts aus Art.121 GG -anerkannt 104• Die Berufsfreiheit wird allerdings - wie dargelegt- maßgeblich geprägt durch den personalen Grundzug. Dieser werde, so das Bundesverfassungsgericht, bei Klein- und Mittelbetriebenvoll verwirklicht; bei Großunternehmen hingegen gehe der personale Grundzug jedoch nahezu gänzlich verloren. Da Großunternehmen ihre Berufsfreiheit nur unter Zuhilfenahme anderer, der Arbeitnehmer, wahrnehmen könnten, stehe der Gewährleistungsgehalt "in einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion", könne mithin die über das Unternehmen hinauswirkenden Auswirkungen der Wahrnehmung dieser Freiheit nicht außer Betracht lassen 105 • 2. Räumlicher Geltungsbereich

Gemäß Art. 1 III GG erstreckt sich der räumliche Geltungsbereich der Grundrechte auf Auswirkungen der inländischen öffentlichen Gewalt auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes, i.e. das deutsche Staatsgebiet 106• Wie bereits gesehen behält sich das Bundesverfassungsgericht eine Kompetenz zur Überprüfung von Gemeinschaftsrechtsakten auf dem gesamten Gebiet der EU vor, übt sie allerdings vorerst nicht aus 107• Umfaßt werden darüber hinaus die Aktivitäten der inländischen öffentlichen Gewalt im Ausland sowie deren Auswirkungen 108• 3. Schutzbereich

Wie eingangs festgestellt, kann die rechtliche Freiheit - Berufsfreiheit - nicht deckungsgleich sein mit einer natürlichen Freiheit. Rechtliche Freiheit bedeutet, einen durch den Staat nicht verletzbaren Raum zu haben. Diesen Raum zu beschreiben, fällt naturgemäß schwer, schließlich ist es gerade Sinn von Freiheit, daß sie durch den einzelnen selbst, d. h. nach eigener Vorstellung, gestaltet und damit auch definiert wird. Wenn also ein Schutzbereich als grundrechtlich geschützter Bereich festgelegt werden soll, um einen Tatbestand zu formen, und damit die rechtliche Freiheit faßbar und handhabbar zu machen, muß dies mit großer Sorgfalt gegenüber der rechtlich nicht faßbaren natürlichen Freiheit und ausschließlich zu dem Zwecke erfolgen, die Einschränkbarkeil der rechtlichen Freiheit zu präzisieren. 104 BVerfGE 21, 261, 266; 21, 380, 383; 41, 205, 228; 50, 290, 362, vgl. Tettinger, Das Grundrecht der Berufsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 108 (1985), 92, 95f. tos BVerfGE 50, 290, 365, vgl. Rittner, Untemehmerfreiheit, S. 17, 352. 106 Noch einmal hervorgehoben durch das BVerfG in BVerfGE 89, 155, 174; vgl. Klein, in: FS Stern, S: 1301, 1311; Höfling, in: Sachs, Art.1, RN79; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Präambel, RN40. 107 BVerfGE 89, 155, 174f; vgl. oben Kapitel BI2b). 108 BVerfGE 6, 290, 295; 57, 9, 23; von Münch, in: ders., Art. 23, RN22; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Art. I, RN 20; Präambel, RN 9.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

a) Berufsbegriff Seit dem Apothekenurteil des Bundesverfassungsgerichts 109 wird allgemein unter Beruf jede auf eine gewisse Dauer angelegte 110, der Schaffung der Erhaltung einer Lebensgrundlage dienende Betätigung verstanden. Darüber hinaus werden Merkmale angeführt, deren Berechtigung im einzelnen umstritten ist. Der Berufsbegriff selbst kann, anders als die Berufsfreiheit nicht auf eine lange verfassungsrechtliche Tradition zurückblicken, ist vielmehr eine Neuschöpfung des Bundesverfassungsgerichts 111 • Im folgenden werden die Merkmale, die den Berufsbegriff zusammensetzen, im einzelnen untersucht. aa) Offener Berufsbegriff Jede freiheitsrechtliche Formulierung unterliegt einer "sprachlichen Auslegung" 112 : Durch sie können Vorstellungsinhalte des allgemeinen Kultur- und damit auch politischen Bewußtseins einfiießen 113• So wird "Beruf' zum Schlüsselbegriff der Berufsfreiheit: nur was in den Normbereich fällt, wird geschützt 114• Die hervorgehobene Stellung läßt keine Einengung des Berufsbegriffes aufbestehende feststehende Vorstellungen von dem, was ein Beruf ist und wie er ausgestaltet sein soll, zu 115 • Es muß aus dem Grunde der Berufsfreiheit ein offenes Verständnis von Beruf zugrundegelegt werden, welches keine überhöhten begrifflichen Restriktionen erfahren darf 116•

(1) Berufsbildlehre Um den Berufsbegriff handhabbar zu machen, hat das Bundesverfassungsgericht die Berufsbildlehre entwickeltm. Hiernach fallen in den Schutzbereich des Art.121 GG grundsätzlich "nicht nur alle Berufe, die sich in bestimmten, traditionell oder gar rechtlich fixierten ,Berufsbildern' darstellen, sondern auch die vom einzelnen frei gewählten untypischen Betätigungen, aus denen sich wiederum neue, feste Berufsbilder ergeben mögen". 118 Die Berufsfreiheit umfaßt also insbesondere das BVeifGE 7, 377, 397. S. aber unten B III3a)ee). 111 So Lecheler, in: VVdStRL 43, 47, 61. 112 V gl. Hilf. Die sprachliche Struktur der Verfassung, in: HbdStR VI, insb. RN 29 ff. 113 Leisner, Die verfassungsrechtliche Freiheit und ihre Begrenzung, S. 625, 640. 114 Friauf, in: JA 1984, 537, 538; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RN 310. 115 Pieroth!Schlink, Staatsrecht II, RN905. 116 Tettinger, in: AöR 108 (1985), 92,95 m.w.N. 117 BVeifGE 7, 377, 397 unter Hinweis auf BVerwGE 2, 89, 92; 4, 250, 254ff. 118 Daher vom BVeifG als "in hohem Maße zukunftsgerichtet" bezeichnet BVeifGE 30, 292, 234. 109 11o

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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Recht zur Erfindung neuer Berufe oder, anders ausgedrückt, keine Beschränkung auf die Aufnahme bestehender Berufe 119 Dieser Aspekt erlangt heute wieder besondere Bedeutung, wo es nicht mehr genügend Arbeit in bestehenden Berufen gibt 120• Man kann an so unterschiedliche neue Berufe wie den Tierheilpraktiker 121 oder den im Rheinland beliebten Pittermännchenbringservice denken. Bei der Würdigung eines neuartigen Berufs fällt es häufig schwer zu beurteilen, ob es sich wirklich um einen neuen Beruf handelt oder die betreffende Beschäftigung nur Teil eines bereits bestehenden Berufes ist 122• So stellt sich die Frage, ob der Tierheilpraktiker im übrigen eine Tierarztpraxis führt, in der er nunmehr zusätzlich alternative Heilmethoden anbietet oder ob es sich bei dem Pittermännchenbringservice nicht eigentlich um einen normalen Getränkemarkt handelt, der den Kunden die Waren vor Ort liefert. Das Bundesverfassungsgericht mußte eine solche Abgrenzung am Fall des Verbots der gewerblichen Arbeitnehmerüberlassung in Betrieben des Baugewerbes vornehmen 123 • Ob eine Qualifizierung als Arbeitnehmerverleiher oder als Bauarbeiterverleiher vorgenommen wird, entscheidet, ob eine Einschränkung der beruflichen Tätigkeit lediglich einen Teil oder die gesamte Berufsausübung betrifft 124• Um die Freiheit des einzelnen nicht unnötig einzuschränken 125 , verlangt es einer detaillierten, in Hinblick auf die "tätigkeitsspezifische Differenziertheit" engen Ausarbeitung des betroffenen Berufsbildes 126• Bei bestimmten Berufsausübungen müssen zum Schutze der Allgemeinheit gewisse Anforderungen an einen Mindeststandard oder an die Art der Ausübung gestellt werden 127 • Um die im öffentlichen Interesse liegenden notwendigen Vereinheitlichungen treffen zu können, hat das BundesverfasKeine Einschränkung durch einfaches Recht möglich: vgl. BVerwGE 22, 286, 288. Vgl. Hufen, Berufsfreiheit-Erinnerung an ein Grundrecht, in: NJW 1994, 2913, 2914; anders noch Lecheler, in: VVdStRL 43, 47, 57 der 1984 kritisiert hatte, es seien keine Berufsbilder mehr findbar und wenn, dann seien diese quasi von oben erfunden und zugleich normiert. 121 Vgl. OLG Celle, in: NJW- RR96, 388. 122 Als bereits klassisches Beispiel ist in dem Zusammenhang zu erwähnen: Innerhalb kurzer Zeit wurde durch das BVerfG der Verkauf loser Milch im Rahmen eines Lebensmittelgeschäftes als eigener Beruf anerkannt, s. BVerfGE 9, 39, 98, hingegen Verkauf von Arzneifertigwaren als Teil des Drogistenberufes angesehen, s. BVerfGE 9, 73, 83. 123 BVerfGE 77, 84, 105 f. 124 Das Bundesverfassungsgericht hat im vorliegenden Fall die Qualifizierung als Arbeitnehmerverleiher angenommen, was in der Literatur, meiner Ansicht nach zurecht, heftig kritisiert wurde. 125 Und damit verbunden in rechtlicher Hinsicht zur Erhöhung des Rechtsschutzes des einzelnen beizutragen. 126 Vgl. Tettinger, in: AöR 108 (1983), 92, 101; Brandt, 40 Jahre Stufentheorie, in: JA 1998, 82, 83; Abzugrenzen ist allerdings von Fällen, bei denen das Berufserfindungsrecht dazu verwendet werden soll, um mittels einer Neuschöpfung lediglich Zugangsvoraussetzungen zu einem bestehenden Beruf zu umgehen. Das wäre z. B. dann der Fall, wenn jemand als hair stylist arbeiten wollte, um den Sachkundenachweis des Friseurhandwerkes nicht führen zu müssen. 127 Vgl. bereits die Vorarbeiten, in: JÖR NF 1, S. 133, 135. 119

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

sungsgericht im Handwerkerbeschluß ausgeführt, daß im Rahmen des Schrankenvorbehalts (Art.1212 GG) 128 Berufsbilder geschaffen werden dürfen, die ihrerseits zu einer Typisierung und Fixierung von Berufsbildern führen 129• Folge der Typisierung und Fixierung ist zum einen, daß Aspiranten die besonderen fachlichen und persönlichen Voraussetzungen für die Berufsaufnahme erfüllen müssen, also eine Monopolisierung des entsprechenden Berufes eintritt 130, sowie zum anderen, daß die betroffenen Tätigkeitsfelder nur noch entsprechend der formalisierten inhaltlichen und personellen Verfahren wahrgenommen werden können 131 • Es entsteht mithin ein Spannungsfeld zwischen individueller Berufsausübung und Gemeinschaftsbelangen 132 Um dem personalen Kern des Grundrechtes gerecht zu werden und damit der Gefahr "sachfremder Monopolisierung" vorzubeugen 133, sind jedoch Eingriffe nur zulässig unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, und zum Teil wird zusätzlich gefordert, der Stufentheorie 134• Die rechtliche Fixierung von Berufsbildern soll auf diese Weise ihre Begrenzung in den individuellen Gestaltungsmöglichkeiten finden. 135 Bei der Ermittlung soll zudem das Augenmerk darauf gelenkt werden, ob ein Berufsbild im Verhältnis zu dem Berufsfeld, innerhalb dessen sich diese Berufsausübung befindet, übermäßig oder willkürlich singulär normiert wurde oder umgekehrt Normierungen, die notwendig nur ein Berufsbild betreffen müssen, sachwidrig auf das gesamte Berufsfeld ausgedehnt wurden 136• Zweck soll sein, eine Regelung so punktuell wie möglich und so wenig eingreifend wie nötig zu gestalten, um auf diese Weise der Offenheit und Zukunftsgerichtetheit des Grundrechtes gerecht zu werden 137• BVerjGE 13, 97, 106; 17,232, 241; 21, 173, 180ff. Entwickelt im Handwerksbeschluß BVerjGE 13, 97, 106; kritisch dazu Hufen, in: NJW 1994, 2913, 2916: Der handwerksbeschluß habe weit über das Handwerk hinaus die Schutzrichtung des Grundrechtes gleichsam umgedreht- vgl. auch Friauf, in: JA 1984, 537, 539 m. w. N., der im Handwerksbeschluß lediglich die Traditionsverbundenheit des Handwerkes sieht und aus dem Grunde eine Anwendung der Grundsätze über das Handwerk hinaus ablehnt. 130 Was sich auf die Berufswahl auswirkt, vgl. zu der Begrifflichkeil Tettinger, in: Sachs, Art.12 RN 52. 131 Was die Berufsausübung betrifft vgl. Tettinger, in: Sachs, Art. 12, RN 53; im übrigen BVerjGE21, 173, 180;25,236,247;41,378,396;54,237,246;75,246,265t 132 Nach Ho.ffmann, Ein Grundrechtskatalog für die EU?, S. 115, ist eine klare Abgrenzung zwischen privatem und öffentlichem Interesse nie klar getroffen worden; vgl. auch Riede/, Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Arbeitsrecht, S.23. 133 Friauf, in: JA 1984, 539. 134 Vgl. Papier, in: DVBl 1984, 801, 802; zur Stufentheorie ausführlich unten Kapitel BIII2a). 13s Der Berufsbürger als der erste Berufsbildner; so Höfing, Beruf- Berufsfeld- Berufsbild, in: DÖV 1989, 110, 113; vgl. auch Ho.lfmann, Ein Grundrechtekatalog für die EU?, S. 117. 136 BVerjGE 75, 166, 180. 137 BVerjGE 30, 292, 334; mithilfe eines "permanenten berufsfeldorientierten Differenzierungs- und Öffnungsvorbehaltes"; dazu Höfing, in: DÖV 1989, 110. 128

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Ill. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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(2) Europäisierung der Berufsbilder Die Berufsbilder im deutschen Recht werden infolge der europäischen Integration stark mitgeprägt durch gemeinschaftsrechtliche Rechtssätze. Zur Aufhebung bestehender Beschränkungen der Freizügigkeit wurden seit den 60er Jahren bereits Richtlinien zur Koordinierung von Ausbildungen sowie zur Anerkennung von nationalen Diplomen erlassen, die zahlreiche Berufssparten betreffen 138 • Insbesondere im Bereich von Handel, Handwerk, Industrie und Landwirtschaft regeln die europäischen Rechtssätze, daß berufliche Qualifikation allein aufgrund der Berufserfahrung nachgewiesen werden kann 139• Auch das Berufsbild des Rechtsanwaltes wird derweil durch europäisches Gemeinschaftsrecht geprägtl40• Auf dem Gebiet der medizinischen Berufe ist der Erlaß von EG-Richtlinien bisher am weitesten fortgeschritten 141 • An die Ausbildung von Ärzten werden qualitative und quantitative Mindestanforderungen gestellt; bei deren Einhaltung werden die Abschlüsse europaweit anerkannt, d. h. der betreffende Arzt erhält bei nachgewiesener Ausbildung einen Rechtsanspruch auf Approbation und auf Zulassung zum Kassenarzt in jedem anderen Mitgliedsstaat 142• Jüngere Richtlinien gehen noch weiter, indem sie auf die Vgl. Clausnitzer, EG-Handbuch S.250 V gl. zum Beispiel RL64/222/EWG über die Einzelheiten der Übergangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Tätigkeiten des Großhandels sowie der Vermittlungstätigkeiten in Handel, Industrie und Handwerk; RL64/427/EWG betreffend das Gebiet der selbständig Berufstätigen derbe- und verarbeitenden Gewerbe (Industrie und Handwerk); RL68/364/EWG betreffend das Gebiet der selbständigen Tätigkeit des Einzelhandels; RL68/360/EWG betreffend das Gebiet der selbständig Tätigen der persönlichen Dienste im Restaurations- und Schaugewerbe bzw. dem Beherbergungs- und Zeltplatzgewerbes. Eine Übersicht der wichtigsten Rechtsgrundlagen findet sich bei Clausnitzer, EG-Handbuch, S. 282ff; vertiefend Schwappacht Schmitz, Das Handwerksrecht in den Mitgliedsstaaten der EU. in: GewArch - Beilage 1996, 1 ff; sowie Klinge, Die Berufszulassungs- und Ausübungsregeln des selbständigen Handwerks im europäischen Binnenmarkt, in: GewArch Beilage 1992, 1 ff. 140 Entscheidungen des EuGH den Rechtsanwaltsberuf betreffend: EuGH RS 71!76- Thieffry, Slg.l977, 765; RS33!74-van Binsbergen, Slg.l974, 1299; RS 107/83- Klopp, Slg.l984, 2971; RS427/85- Gouvemantenklausel, Slg.l988, 1123; RS 292/86- Gullung, Slg. l988, 111; RS C-340/89- Vlassopoulou, Slg.l991, 12357- an die Rechtsprechung des EuGH anknüpfend BGHZ 108, 342 und zuletzt BVerfG Beschluß vom 8.4.1998- 1 BvR 1773/96. vgl. allgemein Clausnitzer, EG-Handbuch S. 263 ff, RL 77/249/EWG zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte- diese Entwicklung wird so weiter gehen, so ist. z. B. eine Richtlinie in Vorbereitung, die Rechtsanwälten nach einer gewissen Zeit beratender Tätigkeit in einem Mitgliedsstaat unabhängig davon, in welchem (anderen) Mitgliedsstaat die Zulassung zum Rechtsanwalt erworben wurde, die Zulassung zu gewähren ist. 141 So sind bis 1993 allein 20 Richtlinien und empfehlende Richtlinien für die Berufe des Arztes, der Krankenschwester, des Zahnarztes, des Tierarztes, der Hebammen und der Apotheker ergangen- vgl. Clausnitzer, EG-Handbuch S. 257. 142 § 312 BÄO, § 3 ÄrzteZulVO und § 3 IVZulO Zahnärzte- entsprechende Regelungen gibt es auch in den Mitgliedsstaaten; Clausnitzer, EG-Handbuch S. 256 führt aus, das habe dazu geführt, daß mehr als 700 deutsche Mediziner sich in Großbritannien niedergelassen haben - ähnliches gilt für Apotheker, s. §41 Bundes-Apothekerordnung., hierzu ausführlich Ress/Ukrow, Niederlassungsrecht von Apothekern in Europa, 1991. 138

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

Vereinheitlichung spezifischer Ausbildungsinhalte hinwirken. Die Kompetenz zum Erlaß solch detaillierter Regelungen nimmt der EuGH aus Zweckmäßigkeitsgründen für sich in Anspruch 143 . So läßt sich feststellen, daß eine nationale Berufsbildlehre in der EG nicht mehr existieren kann, im Gegenteil die gemeinschaftsrechtliche Entwicklung vielmehr dahin zu zielen scheint, daß es irgendwann eine genuin europäische Berufsbildlehre geben wird. bb) Negative Berufsfreiheit Gewährt wird auch die Freiheit, überhaupt keinen Beruf zu ergreifen oder auszuüben 144. Diese ist die notwendige Kehrseite der positiven Freiheitsverbürgung, bezogen auf das Ziel, einen Lebensraum von staatlichen Eingriffen und Manipulationen freizuhalten. Erfaßt wird die Freiheit vor Berufszwang, also davor, einen bestimmten oder überhaupt einen Beruf ergreifen zu müssen 145 . Bei der negativen Berufsfreiheit handelt es sich um ein reines Abwehrrecht Insbesondere Ansprüche dem Staat gegenüber auf finanzielle Absicherung der negativen Berufsfreiheit gibt es nicht. Diese Komponente der Berufsfreiheit hat eigenständige Bedeutung neben dem Verbot des Arbeitszwanges aus Art.12 Abs. 2 und 3 GG 146. cc) Erlaubtsein als objektive Zulassungsschranke Teilweise werden für die Qualifizierung einer Tätigkeit als Beruf i. S. d. Art. 12 Abs. 1 GG als zusätzliches Definitionsmerkmal Begriffe wie "erlaubt" 147 , "sinnvll"148, "nicht sozialschädlich" oder ,,nicht sozial unwertig" 149 verwendet. Um der Gefahr zu entgehen, daß dieses Vorgehen zu einem Verstoß gegen den Vorrang der 143 Vgl. RL86/457/EWG betreffend die spezifische Ausbildung der Allgemeinmedizin. So wird im 4. Erwägungsgrund der Präambel dazu ausgeführt, daß ,.die Entwicklung in der Medizin zwischen der Forschung und der medizinischen Ausbildung einerseits und der Praxis der Berufsausübung andererseits eine immer größere Kluft gebildet hat, so daß wichtige Aspekte der Allgemeinmedizin im Rahmen der herkömmlichen medizinischen Grundausbildung in den Mitgliedsstaaten nicht mehr auf befriedigende Weise gelöst werden können." 144 BVerfGE 58, 364f, vgl. insb. Merten, Die negative Garantiefunktion der verfassungsrechtlichen Berufs- und Ausbildungsfreiheit, in: FS Stingl, S.358, 364; Hufen, in: NJW 1994, S.2913, 2914; a.A. Scholz, in: Maunz/Dürig, Art.l2, RN2. 14~ So BVerfGE 58, 358, 364. 146 So der Zwang zur Arbeit im gewählten Beruf oder die Zuweisung eines Studienplatzes als berufslenkende Maßnahme, ohne daß damit notwendigerweise der Zwang zur Arbeit umfaßt sein müßte; Vgl Bachof, Freiheit des Berufs, S.l95, Papier, in: DVBI 1984, 801 , 806. 147 BVerfGE 7, 377, 397,; 9, 73, 79; 32, 3ll, 317. 148 BVerfGE 7, 377, 397; 11, 30,41 f; 30,292, 313. 149 BVerfGE 2, 110, lll; 4, 294, 295 f; BVerwG, in: GewArch 63, 202, 204.

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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Verfassung aus Art. 20 III GG führt 150, " ... muß es allein dem Grundgesetz zu entnehmen sein, welche Betätigungen außerhalb des Grundrechtsschutzes eines Berufs stehen ... Eine Erwerbstätigkeit kann die Eigenschaft eines Berufes nicht dadurch verlieren, daß sie durch einfaches Gesetz verboten und/oder für strafbar erklärt wurde" 151 . Ob und unter welchen Voraussetzungen Betätigungen als schlechthin gemeinschädlich von vornherein außerhalb der Freiheitsverbürgung des Art. 12 I GG stehen 152, sollte mit Rücksicht auf den umfassenden individualorientierten Schutzzweck der Grundrechte und die Gefahr definitorischer Mißbräuche ausgehend von einem wertneutralen Verständnis hinsichtlich der Sozialwertigkeit menschlicher Betätigungen beurteilt werden. Als Maßstab kann nur dienen, ob andere Menschen durch die in Frage stehende Betätigung instrumentalisiert werden, d. h. in ihrem selbstbestimmten Handeln beschränkt werden. Ein solches Verhalten liefe dem Menschenbild des Grundgesetzes zuwider, welches den Einzelnen als eigenverantwortliche Persönlichkeit achtet, die sich innerhalb einer sozialen Gesellschaft entfaltet153. Die Begründungen für eine Kategorisierung müssen zudem nachvollziehbar sein und Anforderungen an Transparenz und Rationalität genügen, nicht hingegen aufbestehenden Vorverurteilungen und Tabuisierungen basieren 154. Ein solch weites Verständnis des Berufsbegriffes korrespondiert auch mit dem gemeinschaftsrechtlichen Verständnis hinsichtlich der Freizügigkeitsregeln und ihrer Einschränkbarkeit, wie sie zum Beispiel in der Entscheidung Schindler des EuGH vom 24. März 1994 zum Ausdruck kommt 155 . Auf diese Entscheidung be150 Zuletzt BVerwGE 97, 12, 22; 96. 293, 294; 96, 302, 308; Schoch, Staatliche Informationspolitik und Berufsfreiheit, in: DVBI1991, 667, 669; Robbers, Behördliche Auskünfte und warnungen gegenüber der Öffentlichkeit, in: AfP 1990, 84, 86; Papier, Staatliche Monopole und Berufsfreiheit, in: FS Stern S. 545, 553. 151 BVerwGE 22,286, 288; zuletzt 96,302, 308f; 97 12, 22; dazu Gassner, Glücksspiel und Berufsfreiheit, in: NVwZ 1995, 449; s. auch BVerfGE 88, 83; 88, 17; 86, 390; Hillgruber, Grundrechtsschutz des Arztes für die Vomahme von Schwangerschaftsabbrüchen?, in: MedR 1998,201. 152 So hat das Bundesverwaltungsgericht in den bereits zitierten Entscheidungen E96, 293; 96, 302; 97, 12 die Sozialschädlichkeit von Sportwetten und Glücksspiel verneint, ohne sich dabei aber mit dem Merkmal der Sozialschädlichkeit inhaltlich auseinanderzusetzen. 153 St. Rspr. des BVerfG st. E4, 7, 15; 7, 377, 397; 32, 98, l07f: Die Wertordnung ist durch das Grundgesetz gegeben, die dem einzelnen in seiner Gemeinschaftsbezogenheil und -gebundenheit wahrnimmt, gleichzeitig den Eigenwert unangetastet läßt; vgl. auch BVerwGE 22, 286, 288. 154 V gl. Langer, Strukturfragen der Berufsfreiheit, in: JuS 1993, 203, 204: Danach ist die Sozialschädlichkeit ohne Zweifel z. B. bei Berufsverbrechern anzunehmen. Bei der Prostitution muß differenziert werden: Zuhälterei ist wegen des Zwangs, der auf die Prostituierten ausgeübt wird, als sozialschädlich anerkannt worden. Das Verhältnis der Prostituierten zum Kunden, sofern es durch Freiwilligkeit gekennzeichnet ist, ist somit nicht sozialschädlich; vgl. die um eine wertneutrale Abwägung bemühte und daher erfreuliche Entscheidung des LAG Hessen, in: NZA 1998, 221 zur Arbeitnehmereigenschaft einer in einem Saunaclub beschäftigten Prostituierten. 155 EuGH RS C-275/92- Schindler, Slg. 1994 I, 1039.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

zieht sich im übrigen das Bundesverwaltungsgericht in einer ein halbes Jahr danach ergangenen Entscheidung explizit 156• dd) Selbständige und unselbständige Arbeit Die alte und insoweit überholte Auffassung, nur selbständige Arbeit sei geschützt 157, rührt in der falsch verstandenen 158 Herleitung der Berufsfreiheit lediglich aus der Gewerbefreiheit 159• Bereits im Parlamentarischen Rat bestand das Votum dafür, die nichtselbständige Arbeit in den Schutzbereich der Berufsfreiheit miteinzubeziehen 160• In den Anfangsjahren bestand ein höherer Regelungsbedarf bei den Freiberuflern, weil ihre Berufsausübung im Unterschied zu der der abhängig Beschäftigten einen unmittelbaren Staatsbezug aufweist 161 • Daraus ist der Vorwurf entstanden, die Berufsfreiheitsgarantie sei in Wirklichkeit zu einem um das Recht der Freiheit der freien Berufe erweiterten und zu höherer Gesetzesfestigkeit erstarkten Grundrecht der Gewerbefreiheit verengt worden 162• Spätestens seit dem Mitbestimmungsurteil des BVerfG 163 wird diese Frage nicht mehr kontrovers erörtert und die ,,Parallelwertung aller Erwerbstätigkeit" 164 anerkannt 165 • Die rechtliche Bewertung der selbständigen und unselbständigen Arbeit begleitet die allgemeingesellschaftliche Entwicklung, daß die Selbständigkeit gegenüber der abhängigen Arbeit keinen höheren Stellenwert mehr hat 166• So wird die Gefahr der Verengung der BerufsfreiBVerwGE 96, 293, 296f. Uber, Die Freiheit des Berufs, 1952, S. SOff. Iss Vgl. oben Kapitel A II. 139 Lecheler, in: VVdStRL 43, 47, 51, 61. 160 C. Schmid, 5. Sitzung vorn 29.9.1948: ,,Ich denke nicht an die Ausübung eines selbständigen Gewerbes, sondern an einen Arbeiter, an einen Angestellten, kurz, an einen Mann in abhängiger Stellung", zit. nach Bryde, in: NJW 1984, 2177, 2179 (FN35). 161 Meessen mutmaßt, daß das BVerjG so wenig Klagen von Abhängig Beschäftigten bekam, habe an der grundrechtsfreundlichen Rechtsprechung der Arbeitsgerichte gelegen, in: JuS 1982, 397,400. 162 Vgl. etwa Hoffmann-Riem, Die grundrechtliche Freiheit der arbeitsteiligen Berufsausübung, in: FS Ipsen, S. 385, 392 f, Pitschas, Berufsfreiheit und Berufslenkung, S. 62, spricht von Wirksamkeitsdefizit der Berufsfreiheitsgarantie; Badura, in: FS Hersehe! S. 21, 24; Papier, in: DVBI1984, 801, 802. 163 BVerjGE 50, 290, 349 unter Verweis auf BVerjGE 7, 377, 397; ebenso BVerjGE 91, 198. 164 Wendt, in: DÖV 1984,601, 606f. 163 Maßgeblicher als die Art der Beschäftigung muß vielmehr sein, daß Art.l2 GG als Bürgerrecht jedem zustehtLecheler, in: VVdStRL 43, Aussprache S. 80: die politische Aussage eines Bürgerrechtes sei gerade, daß nicht nach Stand, Zugehörigkeit zu bestimmten trennenden Gruppen unterschieden werde. 166 Zacher, führt in VVdStRL 43 (1985}, Aussprache, 91, 92 hierzu aus, daß sich die Wertigkeit selbständiger und unselbständiger Arbeit seit dem letzten Jahrhundert gewandelt habe: "Die Menschen wollen ja kaum noch selbständige Tätigkeit. Sondern sie wollen Arbeitnehmer werden: entweder direkt mit den Sicherungen des Beamten oder indem sie bei ' guten' Unternehmen tätig sind, so daß sie sagen können: uns kann es höchstens besser gehen, als es BeamIS6

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III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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heit auf die Arbeitnehmer gesehen, die sich stützt auf die typischerweise erhöhte Schutzbedürftigkeit 167 . Ob die Arbeitnehmer heute immer noch die Schutzbedürftigsten sind, ist allerdings fraglich. Nicht nur zahlreichen Konkurse bei Unternehmensgründungen168, sondern auch und gerade dieneueren Trends auf dem Arbeitsmarkt zur Auslagerung von Tatigkeiten (Outsourcing) und Scheinselbständigkeit belegen, daß die Schutzbedürftigkeit der Selbständigen bestimmt nicht geringer einzuschätzen ist 169. ee) Erwerbs- bzw. Nichterwerbsarbeit Berufliche Freiheit wird, entsprechend dem Menschenbild des Christentums und der Aufklärung 170, welches auch dem Grundgesetz zugrundeliegt, dem Kern menschlicher Selbstbestimmung zugeordnet: in seinem Beruf verwirklicht der Mensch einen wichtigen Teil seiner persönlichen Identität. Daraus läßt sich folgern, daß die berufliche Freiheit offenbar nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die geistige Existenzgrundlage des Menschen betrifft, das Grundrecht die Arbeit als Beruf schützt 171 . Der besondere Schutz des Art. 12 I GG gegenüber Art. 2 I GG umfaßt jedoch nur die Tatigkeit, die über die persönliche Selbstentfaltung hinaus die Funktion hat, eine materielle Lebensgrundlage zu schaffen. Daher wird mit der Berufsfreiheit lediglich die berufsmäßig organisierte Erwerbsarbeit geschützt 172• Abgestellt wird darauf, ob die Tätigkeit zur Schaffung oder Erhaltung einer Lebensgrundlage dient. Maßgeblich ist aber nicht, ob man allein von dieser Tatigkeit leben kann- auch geringfügige Beschäftigung und/oder Beschäftigung gegen geringfügige Bezahlung ist vom Schutzbereich mit umfaßt 173. Außerökonomische auf rein ideelle Interessen ausgerichtete Tatigkeiten, Hobbies und dergleichen fallen demnach nicht unter den Berufsbegriff des Art. 12 I GG 174, ebensowenig damit aber auch die ten geht." Allerdings läßt sich z. B. für das Handwerk feststellen, daß parallel zum Anwachsen der Arbeitslosenzahlen auch die Zahl der handwerklichen Betriebsgründungen wieder angestiegen seien, wenn auch von einem Boom nicht gesprochen werden könne. s. Schröter, Gründungsgeschehen im Handwerk und Arbeitsmarktentwicklung, Bochum 1994, S. 87. 167 Lecheler, in: VVdStRL 43, 47, 67. 168 S. z. B. die ausführliche Sonderbeilage zur SZ vom 15.7.1998, die in Zusammenarbeit mit dem Bundeswirtschaftsministerium entstand. 169 Hinzu kommen die über 4 Millionen Arbeitslosen- vgl. zum Schutzauftrag aus Art. 12 I GG ausführlich unten Kapitel B V. 11o Ausführlich oben Kapitel A II. 171 Vgl. dazu Schneider und Lecheler, in: VVdStRL 43, 8ff, 43ff; Bryde, in: NJW 1984, 2177ff; Häberle, in: JZ 1984, 345ff; Papier, in: DVBll984, 801; Pietzcker, in: NVwZ 1984, 550ff; Wendt, in: DÖV 1984,601. 112 Vgl. BVerfGE 7, 377, 397; 30, 292, 334; Schutzgut ist mithin nicht die Handlung, sondern das Motiv- die Schaffung der Lebensgrundlage; vgl. Gusy, in: JA 1992, 257, 258; Wendt, in: DÖV 1984,601. 173 vgl. Grubelt, in: v. Münch, Art. 12, RN 10. 174 Friauf, in: JA 1984, 537, 538.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

entgeltlose Verrichtung häuslicher oder familiärer Pflichten 175 • Als maßgebliches Kriterium zur Beurteilung, ob eine Erwerbstätigkeit vorliegt, gilt, ob eine gewisse Dauerhaftigkeit zumindest angestrebt ist 176• An die Dauerhaftigkeit werden allerdings nicht allzu hohe Anforderungen gestellt; so müssen auch Gelegenheitsarbeit und Ferienjobs nicht am Kriterium der mangelnden Dauerhaftigkeit scheitern, sofern sie der Schaffung oder Erhaltung der Lebensgrundlage dienen 117• Auch Doppel- und Nebenberufe erfüllen nach Ansicht der Rechtsprechung die Voraussetzungen des Berufsbegriffes 178, nicht dagegen Erweiterungen einer bestehenden Berufstätigkeit, die als Teil des bisherigen Berufes angesehen werden 179• Nebentätigkeiten, die nicht der Lebensgrundlage dienen, sollen nach Ansicht des BVerfG nur von Art. 2 I GG erfaßt werden 180• Das gilt vor allem für derart unbedeutende Nebentätigkeiten, deren Ausübung auch finanziell eine Spürbarkeilsgrenze für den Betreffenden nicht erreichen 181 • Es muß aber im Einzelfall geprüft werden, ob die jeweilige Nebentätigkeit aus Sicht des Handelnden der Gewinnerzielung- und damit dem Erhalt und der Schaffung der Lebensgrundlage- dient 182• Ist das der Fall, so muß sie auch vom Schutz des Art. 12 I GG erfaßt werden 183• ft) Staatlich vorbehaltene oder gebundene Berufe

(1) Staatlich vorbehaltene Berufe Grundsätzlich spielt es für die Berufsfreiheit keine Rolle, ob der Arbeitgeber ein Privater oder die öffentliche Hand ist. Auch staatlich vorbehaltene Berufe 184 werden Rittstieg, in: AK, Art.12, RN62. BVerfGE 7, 377,377, 397; 2, 1, 28 verlangt Nachhaltigkeit. 177 Grubelt, in: v. Münch. Art. 12, RN 10; Pieroth!Schlink, Staatsrecht II, RN 878; Tettinger, in: Sachs, Art.12, RN30; Wieland, in: Dreier, Art.12, RN49. 178 BVerfGE 21, 173, 179; 54,237, 245f; BVerwGE 21, 195, f; BGHZ 97, 204, 208; BAGE 22, 344, 349. Der BGH hat entschieden, daß einem teilzeitbeschäftigten wissenschaftlichen Mitarbeiter die Zulassung zur Anwaltschaft offenstehen muß, in: NJW- RR 1998, 1216 Gubelt, in: v. Münch, Art. 12, RN 15; a. A. offenbar BVerwGE 63, 99, 101. 179 BVerfGE 16, 286, 296; 48, 376, 388; Daß die Differenzierung zwischen der Erweiterung eines bestehenden Berufes und einem eigenständigen Nebenberuf häufig schwierig zu treffen sei, daraufweist Tettinger, in: AöR 108 (1983), 92, 99f hin. 180 BVerfGE 33, 44, 48; BVerwGE 60, 254, 255 f; 67, 287, 294, auch Wahlers, Kein Anspruch auf Ausübung von Nebentätigkeiten zur Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen, in: DÖD 1982, 265, 266; vgl. BAG AR- BlatteiES 1230 Nr. 16. 181 Vg1 auch Papier in: DVB11984, 801, 804; Ehlers, in: DVB11985, 879, 883m. w.N. 182 Papier, in: DVB11984, 801, 804. 183 Ehlers, in: DVBl 1985, 879, 883 m. w. N.; Grubelt, in: v. Münch, Art. 12, RN 10; Papier, in: DVB11984, 801, 804;Breuer, in: HbdStRVI, S.917f; offengelassen vonBVerwGE 84, 194, 197; Wielandt, in: Dreier, Art. 12, RN 50 läßt jede Nebentätigkeit ausreichen. 184 Darunter ist die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, die notwendige Staatsaufgaben sind, weil sie aufgrund konstituierender Elemente des Rechtsstaatsprinzips, insbesondere des 11s

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III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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von der Berufsfreiheit mitumfaßt 185. Allerdings gilt für Berufe des öffentlichen Dienstes, daß "Art. 33 II GG die Möglichkeit zu Sonderregelungen eröffnet, die darauf beruhen, daß in diesen Berufen staatliche Aufgaben wahrgenommen werden."186. Art.3311 GG verdrängt dadurch aber Art.l21 GG nicht, sondern stellt vielmehr eine zusätzliche Schranke dar 187 . Dies führt allerdings im Ergebnis dazu, daß die Freiheit der Berufswahl sich im Recht auffreien Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 II GG) erschöpft 188. Eine zusätzliche Einschränkung bietet Art. 33 V GG, jederzeit für die freie demokratische Grundordnung einzutreten (Treueptlicht) 189.

(2) Staatlich gebundene Berufe Differenzierte Betrachtung verlangt die Einordnung staatlich gebundener Berufe. Für sie ist kennzeichnend, daß der Gesetzgeber dem Befugnisinhaber öffentliche Aufgaben, die er dem eigenen Verwaltungsapparat vorbehalten könnte, überträgt und zu diesem Zwecke die Ausgestaltung des Berufs dem öffentlichen Dienst angenähert hat 190. Als Paradebeispiele gelten der Notar 191 und der Schornsteinfeger 192• staatlichen Gewaltmonopols, der alleinigen Wahrnehmungstätigkeit des Hoheitsverbandes unterfallen und von Verfassungs wegen individueller Betätigung entzogen sind; vgl. hierzu und allgemein zur Unterscheidung von Typen öffentlicher Aufgaben ausführlich Burmeister, in: FS SternS. 835, 850ff. 185 Vgl. aberOVG Münster, in: GewArch 1979,329, 330;BayVGH, in: GewArch 1991, 102; BVerwG Buchholz 11 Art.12 GG Nr. 114, wo das Betreiben von Spielbanken aus dem Schutzbereich des Art. 12 GG entzogen wurde mit der Begründung, es handele sich bei dem Betrieb von Spielbanken primär um die Wahrnehmung ordnungsrechtlicher, also originär staatliche Funktionen, nämlich das illegale Glücksspiel einzudämmen und den Spieltrieb zu kontrollieren, was es verbiete, den Betrieb einer Spielbank als wirtschaftlichen Vorgang zu kennzeichnen, so Papier, in: FS SternS. 545, 547 m. w. N. aufbauend auf BVel:fiJE 28, 119, 148. 186 BVel:fiJE73, 301, 315; 7, 377, 398; 39,334,369. 187 Jarass, in: Jarass/Pieroth Art. 12 RN 43a. 188 BVe/:fiJE 7, 377, 397f; 39, 334, 369f; 73,280, 292; 80,257, 263; 84, 133, 145; BVerwG, in: NVwZ 1989, 158; Rittstieg, in: AK, Art. 12, RN69, 71 möchte aus Art. 12 i. V.m. 3311 im Ralunen der verfügbaren Stellen und der Gleichbehandlung ein Recht auf Zugang zum öffentlichen Dienst herleiten. Dagegen spricht, daß die Entscheidung, ob eine verfügbare Planstelle besetzt wird, eine Entscheidung des Dienstherren ist. Sobald allerdings diese Entscheidung getroffen ist, besteht nach Abschluß des Besetzungsverfahrens ein Anspruch des Bestgeeigneten auf Ernennung- vgl. Remme/, Die Konkurrentenklage im Beamtenrecht, 1999, 106; so auch von Mutius, in: Verwaltungsarchiv 1979, l08f, Schmitt-Kammler, Konkurrentenklage im Beamtenrecht?, in: DÖV 1980,285, 291; Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz S.681 ff, BVerwG, in: NVwZ 1989, 158. 189 BVel:fiJE39, 334, 355; 46, 43, 52;BVerwG, in: NJW 1987, 2891; vgl. auch E92, 140, 152 wo die demokratische Zuverlässigkeit allerdings als Eignung i. S. v. Art. 33 II GG gewertet wird. 190 Jarass, in: Jarass/Pieroth Art. 12 RN 43b. 191 BVel:fiJE 54, 237, 250; 73, 280, 292; 80, 257, 265. 192 Weitere Beispiele sind der TÜV (BVerwGE 72, 126, 130), Prüfingenieure (BVel:fiJE 64, 72, 83) oder Vermessungsingenieure (BVel:fiJE 73, 301 , 316). 5 Bomnann

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

Hierbei kommt Art. 12 I GG zu voller Geltungskraft, soweit es sich nicht um die Ausübung originär staatlicher Funktionen, sondern um wirtschaftliche oder gesellschaftliche Betätigungen handelt. Darunter fallen z. B. das Gebührenrecht der Notare oder die Frage nach der Sozietätsbildung 193• Das läßt sich damit begründen, daß der Staat, wenn er hoheitliche Befugnisse aus seinem Verwaltungsapparat ausgegliedert und auf selbständige Berufe überträgt, auch die berufsgrundrechtliehen Konsequenzen tragen muß. Er darf dann nicht mehr auf das Sonderrecht aus Art. 33 GG rekurrieren 194• Was allerdings die Ausübung staatlicher Funktionen anbetrifft, ist diese- in Anlehnung an Art. 33 GG -der Verfügungsfreiheit des Einzelnen entzogen. ,,Die öffentliche Aufgabe (selbst) erfährt ... weder eine inhaltliche Veränderung noch bewirkt sie eine Freistellung von den Pflichtbindungen des Gemeinwohlauftrages, ... der keine, allenfalls begrenzte Möglichkeiten eigener Interessenverfolgung zuläßt" 195• So kann der Notarberuf zum Beispiel nur ergriffen werden, soweit der Staat entsprechende Amtsstellen zur Verfügung stellt 196, gleichzeitig bleibt ihm kein Raum für eigene Gestaltung, wenn die inhaltliche Anforderungen nach speziell für dieses Gebiet entwickelten Rechtsgrundsätzen gelten 197• Der Kreis der staatlich gebundenen Berufe ist nicht zuletzt wegen der gebotenen Weite des Berufsbegriffes eng zu ziehen. Gleichzeitig versperrt die Qualifizierung als staatlich gebundener Beruf durch die damit verbundene einfachgesetzliche Einschränkungsmöglichkeit der Berufsfreiheit "den Blick auf die Höherrangigkeit von Verfassungsrecht" 198• So wird der Rechtsanwalt, der als Organ der Rechtspflege 199 zugleich einen freien Beruf erbringt200, auch durch das BVerfG nicht mehr als staatlich gebundener Beruf bezeichnet2°1• 193 Der Notar erfährt anders als Beamte nicht die Fürsorgepflicht des Dienstherren in Form von Alimentation, er muß daher, wie die freien Berufe Gebühren erheben und kann sich daher in diesem Bereich ganz normal auf Art. 121 GG berufen, so BVerfGE 69, 373, 378; ebenso kann auch der Anwaltsnotar, wie jeder andere Anwalt, in den Grenzen des Art. 12 I GG selbst entscheiden, mit wem er zusammen eine Sozietät gründet, vgl. BVerfG Beschluß vom 8.4.1998, in: NJW 1998, 2269 ff; ausführlich Römermann, Verfassungswidrigkeit des Sozietätsverbots zwischen Anwaltsnotarten und Wirtschaftsprüfern, in: MDR 1998, 821; Henssler, Zur Verfassungswidrigkeit des Verbots einer Sozietät zwischen Anwaltsnotaren und Wirtschaftsprüfern, in: WPK-Mitt. 1998,251. 194 BVerwGE 22, 286, 288 f; keine Schutzbereichsverengung kraftder Definitionsmacht des Gesetzgebers; vgl auch Bachof, in: Bettermann/Nipperdey, S. 155, 186; Tettinger, in: Sachs, Art. 12, RN 50. 195 Burmeister, in: FS Stern, S. 835, 851. 196 BVerfGE 17,371, 380; 45,422, 428; 73,280, 294. 19 7 BVerfGE 54,237, 246; 75, 280, 292; 80,257,265. 198 Breuer, in: HbdStR VI,§ 147 RN 52, S. 916; §48 RN54f, S. 999. 199 Vgl. § 1 BRAO. 200 Vgl. § 2 BRAO. 201 BVerfGE 50, 16, 29; 63,260, 282; 93,213, 235ff: Zudem erbringt der Rechtsanwalt "gegenwärtig in der modernen Dienstleistungsgesellschaft vielfach außerprozessuale Dienstleistungen" siehe Breuer, in: HbdStR VI S. 915; Redeker, in: NJW 1982, 2610, 2611.

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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(3) Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf die staatlich gebundenen und vorbehaltenen Berufe Die gemeinschaftsrechtliche Rechtsentwicklung hat auch auf das Recht des öffentlichen Dienstes Auswirkungen, die ihrerseits eine Liberalisierung und damit eine Erstarkung der Berufsfreiheit zur Folge hat. Aus der Öffnung des Binnenmarktes folgt zum Beispiel, daß Berufserfahrung, die jemand in einem anderen Mitgliedsstaat erworben hat, auf Dienstzeiten im nationalen öffentlichen Dienst selbstverständlich angerechnet werden muß202 • (a) Öffnung des Beamtenstatus für Unionsbürger Der gemeinschaftsrechtliche Begriff der öffentlichen Verwaltung (Art. 39 IV EGV) wird restriktiver gefaßt als im deutschen Recht. Was öffentliche Verwaltung ist, wird nicht formal-organisatorisch, sondern materiell-inhaltlich auf die Ausübung von Hoheitsgewalt beschränkt und das in diesem Zusammenhang bestehende besondere Loyalitätsverhältnis ausgelegt203 • Hoheitliche Befugnisse werden hiernach nur dann ausgeübt, wenn sich ihre Tatigkeit typischerweise in Willensakten äußert, mit denen in dem Sinne Zwang auf die Bürger ausgeübt wird, daß von ihnen Gehorsam gefordert oder erzwungen wird. Ein bloßes Subordinationsverhältnis zwischen Verwaltung und Bürger genügt nicht204• So fallen entsprechend dem gemeinschaftsrechtlichen Verständnis kommerzielle Dienstleistungen wie das öffentliche Verkehrswesen, Post- und Fernmeldewesen, Rundfunk und Fernsehen, das öffentliche Gesundheitswesen, der Unterricht an staatlichen Bildungseinrichtungen und die zivile Forschung in staatlichen Forschungseinrichtungen nicht unter den Begriff der öffentlichen Verwaltung 205 • "Das deutsche Beamtenturn hat unter dem Ein202 vgl. EuGH RS 15/96 vom 15.1.1998- Schöning-Kougebetopoulou, in: EuGRZ 1998, 218; EuGH RS C-187/96 vom 12.3.1998- Orchestermusiker, in: EuZW 1998, 221, ausführlich Wahlers, Die Nichtdiskriminierung von Staatsangehörigen der EG-Mitgliedsstaaten- eine ungelöste Aufgabe, in: DÖD 1998, 129. 203 Siehe ausführlich Kapitel DVI3c)bb)(1)(b). 204 GA Mancini Slg. 1986, 1732; Ziekow, Die Freizügigkeit nach europäischem Gemeinschaftsrecht im Bereich der öffentlichen Verwaltung DÖD 1991, 11, 18; Randelzofer, in: Grabitz/Hilf, Art. 48 RN 62. 205 Entsprechend einem Kommissionsbeschluß 88/C72/02 (Abl. C72 vom 18.3.1988). Unter den Begriff der öffentlichen Verwaltung fallen die Streitkräfte, die Polizei und sonstigen Ordnungskräfte, die Rechtspflege und die Steuerverwaltung, der diplomatische Dienst, die Ministerialverwaltung sowie die Regionalregierungen, Gebietskörperschaften und Zentralbanken, soweit sie hoheitliche Aufgaben wahrnehmen, dazu Schwidden, Die europäische Freizügigkeit im öffentlichen Dienst nach nationalem Recht und nach europäischem Gemeinschaftsrecht, in: RiA 1996, 166, 169; Hillgruber, Die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts, in: ZBR 1997, 1; Fischer, Unionsbürger als Beamte in Deutschland, in: RiA 1995, 105; Everling, Zur Rechtsprechung des EuGH über die Beschäftigung von EG-Ausländem in der öffentlichen Verwaltung, in: DVB11990, 225; Höllscheidt/Baldus, Unionsbürger im öffentlichen Dienst anderer Mitgliedsstaaten, in: NwVB11997, 41.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

fluß des europäischen Gemeinschaftsrechts bereits einen tiefgreifenden auch hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtenturns i. S. d. Art. 33 V GG betreffenden Strukturwandel erfahren ..." 206 Das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot207 hat nämlich dazu geführt, daß grundsätzlich auch Unionsbürger verbeamtet werden können(§ 7 I 1 BBG) 208 • Lediglich "wenn die Aufgaben es erfordern" 209, soll die Ernennung auf deutsche Staatsangehörige beschränkt bleiben. Wann das der Fall ist, wird gemeinschaftsrechtlich ausgelegt und bleibt somit auf die Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben beschränkt. Daß ausgerechnet im traditionell national geprägten Bereich des Beamtenrechts die Auslegung, wann Aufgaben es erfordern, von Staatsangehörigen ausgeführt zu werden, der gemeinschaftsrechtlichen Auslegung überlassen wird, wird das deutsche Recht sicherlich nicht unwesentlich prägen. Zum einen wird ein vermehrter Einsatz von Angestellten erwartet210• Welche Veränderungen darüber hinaus eintreten werden, wird sich zeigen 211 • (b) Das öffentliche Unternehmen im europäischen Binnenmarkt Die Privatisierungsbewegung der letzten Jahre, zu nennen insbesondere die Entwicklungen der Post, Bahn und Telekommunikation212, verfassungsrechtlich veran206 " ... ohne daß dadurch allerdings die Institution als solche in Frage gestellt wäre." Hillgruber, in: ZBR 1997, 1, 8·. 207 Ausführlich unten Kapitel DVI3c)aa)(2). 208 Die neue Norm des BBG gilt seit dem 24.12.1993, vgl. insgesamt zu dem Komp!exBattis, in: ders.: BBG- Kommentar § 7 RN 5. Die Änderung ist letztlich eine Konsequenz aus EuGH RS 152n3 - Sotgiu, Slg. 1974, 153; RS 66/85-Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121; RS C-4/91 -Bleis u. a. sowie der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutsch-

land.

Vgl. §IIBBG. Lecheler, Der Vorbehalt des Art. 48 IV EWGV, S. 46. 211 Vgl. die Diskussion vor der Gesetzesänderung Lecheler, Die Interpretation des Art. 48 IV EWGV und ihre Konsequenzen für die Beschäftigung im nationalen öffentlichen Dienst, 1990; Horne, Der Vorbehalt des Art.48IVEWGV- seine Bedeutung und Implikationen für das Recht des öffentlichen Dienstes 1993; Ress, in: VVdStRL 48 (1990), S. 57, 84f; zum Lehrerberuf s. Schweitzer, in: GS Grabitz 1995,747 undJoppich, Die Position der Lehramtsanwärter an deutschen öffentlichen Schulen, München 1992; Schotten, Der Zugang von Unionsbürgern zum deutschen Beamtenverhältnis, in: DVBI1994, 567, 573. 212 So die Eisenbahn: Der Privatisierung läuft eine gemeinschaftsrechtliche Entwicklung seit 1965 voraus: eine Ratsentscheidung über die Harmonisierung bestimmter Vorschriften, die den Wettbewerb im Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffahrtsverkehr (Abi S.1500), die den Mitgliedsstaaten nahelegte, den Eisenbahnunternehmen eine eigene Rechtspersönlichkeit einzuräumen. Die Diskussion um die Privatisierung der deutschen Bahn ist dann "unter Ausblendung" der Rechtssetzung des Gemeinschaft erfolgt, wurde von dieser aber schließlich mit der RL91/440/EWG zur Entwicklung von Eisenbahnunternehmen in der Gemeinschaft und der VO EWG Nr. 1 893/91 ein- bzw. überholt, die schließlich keinen anderen Weg als die Privatisierung mehr ließen- hierzu vertiefend Fromm, in: DVBI 1994, 187 m. w. N. Vergleichbar ist die Entwicklung der Postprivatisierung: Das im Zuge der Postreform I geschaffene Poststruk209

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111. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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kert in den 1994 eingefügten Art. 87 e, f GG, die nicht zuletzt durch die Vertiefung der europäischen Integration vorangetrieben wurde, führt zu einer Überprüfung der hiermit überkommenen Grenzlinie zwischen öffentlicher Verwaltung und unternehmenscher Betätigung der öffentlichen Hand213 • Der nahezu europaweite Prozeß der "Entstaatlichung" von Verwaltungsaufgaben, die gemeinhin als Elemente der Daseinsvorsorge als staatliche Leistungsversorgung angesehen worden sind, führt zu privatwirtschaftlicher Darbietung von Dienstleistungen durch Handelsgesellschaften der öffentlichen Hand. Die gesetzliche Garantie zur Leistungserbringung verändert sich; da die Leistung durch Private erbracht wird, obliegt dem Staat nunmehr nur noch die Kontrolle derselben mit Mitteln der Wirtschaftsaufsicht2 14• Für die Beschäftigten der Unternehmen bedeutet diese Entwicklung eine Liberalisierung der Arbeitsverhältnisse im Angestelltenverhältnis und mit einem privaten 215 Arbeitgeber. Es wird sich nicht mehr um staatlich vorbehaltene Berufe handeln, die Einschränkung der Berufsfreiheit unter Berufung auf Art. 33 II GG werden nicht mehr zulässig sein 216 • Speziell auf die Beamtenverhältnisse in diesen Unternehmen bezogen kann gesagt werden, daß es den Post- und Bahnbeamten in Zukunft nicht mehr geben wird 217 • turgesetz vom 8.6.1983 trug ordnungspolitischen Zielvorstellungen der EG Rechnung, die im Grünbuch über die Entwicklung von Telekommunikationsdienstleistungen und -geräte 1987 formuliert worden waren, aber auch EuGH RS C-320/91 vom 9.5.1993 -Corbeau, in: EuZW 1993, 422; - hierzu ausführlich Blanke/Sterze/, Ab die Post?, in: KJ 1993, 278, 284ff; dies., Probleme der Personalüberleitung im Falle einer Privatisierung der Bundesverwaltung, in: ArbuR 1993, 265 ff.; Zur Flugsicherung speziell Basedow, Von der Deregulierung zur Privatisierung, in: FS Helmrieb 1994, 769; zum weiten Bereich der Telekommunikation sei genanntEhlermann, Telekommunikation im europäischen Wettbewerbsrecht, in: EuR 1993, 134; für den Bereich der aufgrundder Fernsehrieblinie eröffneten liberalisierten Bereich de Nanclares, Die Fernsehrichtlinie, 1995, sowie ders., Fundamental Rights and New Information Technologies, 1996. 213 Hengstschläger/Osterloh!Bauer/Jaag, in: VVdStRL 54 (1995), 165, 204; 243, 287; Schmidt, in: Die Verwaltung 28 (1995), 281; Benz, in: Die Verwaltung 28 (1995), 337. 214 Schuppert, Verwaltung zwischen privatem und staatlichem SektorS, 269, 281 stellt diese Entwicklung anschaulich dar, vgl. auch v.Loesch, Das öffentliche Unternehmen S.285, Badura, Das öffentliche Unternehmen im Binnenmarkt, in: ZGR 1997,291,292. 215 Die Betriebe können allerdings nur dann als nicht (mehr) staatlich geführt angesehen werden und damit ein privater Arbeitgeber sein, wenn der Anteil des Staates am Nachfolgeunternehmen weniger als 75% beträgt, vgl. v.Arnauld, Grundrechtsfragen im Bereich von Postwesen und Telekommunikation, in: DÖV 1998, 437, 446f; Blanke/Stelze/, in: ArbuR 1993, 265, 266ff; Martina, Die Monopole der deutschen Telekom AG und ihr rechtliches Umfeld nach dem Femmeldeanlegengesetz, in: NJW 1995,681. 216 Vgl. zu diesem weiten Bereich ausführlich Blanke/Stelze/, in: KJ 1993, 178; dies. in: ArbuR 1993, 265; Fromm, in: DVB11994, 187 jew.m. w.N. 217 "Post- und Bahnbeamte sind zu Auslaufmodellen geworden"- An der Rechtsstellung der ernannten Beamten ändert sich aber nichts, so das BVerfGE 103, 375, 380; vgl. zu den dienstrechtlichen Problemen während der Übergangszeit vArnauld, in: DÖV 1998,437, 447; Benz, Postreform II und Bahnreform, in: DÖV 1995, 679; ders. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeil der Beleihung einer Aktiengesellschaft mit Dienstherrenbefugnissen; Diss. Thbingen 1995.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

b) Die Berufsfreiheit Obwohl der Wortlaut des Art.121 GG in Satz 1 die Berufswahlfreiheit benennt und in Satz 2 Regeln hinsichtlich der Ausübung zuläßt, herrscht dennoch Einigkeit darüber, daß nicht nur die Wahl, sondern auch die Ausübung eines Berufs grundrechtlich geschützt ist, Art. 12 I GG mithin als einheitliches Grundrecht mit einheitlichem Schrankenvorbehalt auszulegen ist218• Das ergibt sich daraus, daß Berufsausübung und -wahl entsprechend den Abschnitten eines Berufsweges, der mit der Ausbildung beginnt, sich mit der Entscheidung für den erlernten Beruf fortsetzt und in der Arbeit im erlernten Beruf erfüllt, einen einheitlichen Lebensvorgang darstellen219. Diese einzelnen Abschnitte des Berufsweges sind dennoch unabhängig voneinander geschützt220 (sogenannte Mehrphasigkeit der Berufsfreiheit221 ); ein wichtiger Gesichtspunkt, weil die Abschnitte zunehmend auseinanderfallen. So leitete der Rowohlt Verlag 1990 eine Reihe "rororo Berufsbücher" mit den Worten ein: ,,Einen Beruf zu finden ist schwieriger denn je, ihn zu behalten nicht minder. Kaum einer, der einmal einen Beruf gelernt hat, kann sicher sein, ihn ein Arbeitsleben lang zu behalten." Damit geht einher, daß die Abgrenzung zwischen den einzelnen Aspekten Ausbildung und Ausübung eines Berufs häufig schwer fallt, sind die Übergänge doch fließend 222• aa) Berufswahl Berufswahl wird verstanden als die "Initiative des Individuums" 223 zur eigenen autonomen Berufsentscheidung über die Art des Berufes, über die Aufnahme, die Fortsetzung, den Wechsel oder die Aufgabe einer Erwerbstätigkeit224 • Die Berufswahl betrifft also die Frage des "Ob" der Berufstätigkeit Sie beinhaltet zugleich die Freiheit von staatlichem Arbeits- und Berufszwang (Art. 12 II) sowie das Recht, 218 Seit dem Apothekenurteil BVerjGE 7, 377 st. Rspr. Anders wäre auch systematisch nicht erklärlich, daß S. 2 einen Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in die Berufsausübung enthält- ohne Grundrechtsschutz keinen Eingriffsvorbehalt- vgl. Gusy, in: JA 1992, 257, 259. 219 Pieroth/Schlink, Staatsrecht li, RN901. 220 Vgl. Friauf, in: JA 1984, 537,541, Papier, in: DVB11984, 801, 803; Rupp, in: AöR 92 (1967), 235; Bryde, in: NJW 1984, 2181 kritisiert die Vorgehensweise: erst werde der Unterschied eingeebnet (einheitliches Grundrecht), später doch unterschiedliche Rechtsfolgen daran geknüpft. Er schlägt vor, die einheitliche Auslegung des Grundrechts aufzugeben und anstatt dessen mit zwei Berufsbegriffen zu arbeiten, einem weiten zur Eröffnung des Schutzbereiches und einem engen bei der Ausübung. Dagegen spricht aber, daß die ohnehin schwierige Abgrenzung noch größere Folgen hätte - nämlich bereits auf der Ebene der Eröffnung des Schutzbereichs. 221 Schneider, in: VVdStRL 43, 8, 27. 222 Der Grundsatz des lebenslangen Lemens bringt das auf den Punkt. 223 Hamel, Das Recht der freien Berufswahl, DVB11958, 37ff. 224 BVerjGE 17,269, 276; 21,173, 183; 39,128, 141; 44,105,1ll; 45,393, 397f; 54,301, 322; 55, 185, 196.

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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überhaupt keinen Beruf wählen, erlernen und ausüben zu wollen 225 • Berufswahl bedeutet insgesamt folglich in erster Linie Zugangs- und Bestandssicherung226 • bb) Berufsausübung Dagegen betrifft die Ausübungsfreiheit das "Wie" der beruflichen Tätigkeit insbesondere Form, Mittel und Umfang sowie Inhalt der Betätigung227 plus Dauer, äußere Erscheinungsform, Verfahrensweise. Darunter fällt die selbständige Wahl der Organisationsform228, auch hinsichtlich örtlicher229 und zeitlicher Restriktionen 230 , Darüber hinaus wird unter anderem das Führen beruflicher Bezeichnungen231 umfaßt, die Beschäftigung von Personen 232, die Gründung und Führung von Unternehmen233. Ein Aspekt, der in den letzten Jahren hervorgehobene Bedeutung erhalten hat, ist das Recht selbständiger Berufstätiger- und neu der sogenannten freien Berufe - zur Außendarstellung, soweit sie auf die Förderung des beruflichen Erfolges gerichtet ist234• Die Ausübung eines Berufes steht in untrennbarer Verknüpfung mit der Wahl desselben235, denn in der Ausübung zeigt sich regelmäßig wieder aufs Neue die Wahl. Daraus folgt, daß eine klare Abgrenzung nicht möglich ist. So kann eine Maßnahme auf den ersten Blick eine Ausübungsregel darstellen, aber ihrer Intensität nach faktisch wie eine Beschränkung der Berufswahl wirken 236 , z. B. weil derjenige gezwungen wird, unter den veränderten Umständen den Beruf niederzulegen oder erst gar nicht die Möglichkeit für sich sieht, diesen Beruf zu ergreifen. Eine tatbestandliehe Abgrenzung wird dennoch zur Vororientierung für die Schranken- und Eignungsprüfung vorgenommen237 • cc) Wahl der Arbeitsstätte Die Arbeitsplatzwahl ist der Berufswahl nachgeordnet und konkretisiert diese. Sie ist umgekehrt der Berufsausübung vorgeordnet, die erst am gewählten ArbeitsSog. negative Berufsfreiheit, vgl. BVerfGE 58, 358, 364. Schneider, VVdStRL 43, 8, 30 rn. w.N. 227 Breuer, HbStR VI919f; Gubelt, in: v.Münch, Art.12, RN38. 228 BVerfGE21, 227, 232; 32, 1, 34; vgl. auchE54, 237, 249f; 60,215, 229-Sozietätsverbot für freie Berufe. 229 Vgl. BVerfGE 41,378, 395ff. 230 Vgl. BVerfGE 22, 1, 20f; 23, 50, 56; 41, 360, 370. 231 BVerwGE 59, 213, 219. 232 BSGE 20, 52 ff. 233 BVerfGE 50, 290, 363. 234 BVerfGE 85, 97, 104; 89, 30, 33; 94,372, 389; OVG NW, Beschlußvom 30.10.1997-13 B 161/97, abgedruckt in: DÖV 1998, 345. 21s BVerfGE 7, 377, 400 st. Rspr. 236 BVerfGE 11, 30,42-45 (Kassenarzturteil) auch 25, 1, 12. 237 Die Unterscheidung wird im Bereich der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung relevant. 225

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

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platz stattfindet. Sie umfaßt den Entschluß des einzelnen, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in dem gewählten Beruf zu ergreifen oder ein bestehendes Arbeitsverhältnis beizubehalten oder aufzugeben, das bedeutet den Schutz vor staatlichen Maßnahmen, die am Erwerb eines zur Verfügung stehenden Arbeitsplatzes hindem oder zur Annahme, Beibehaltung oder Aufgabe eines bestimmten Arbeitsplatzes zwingen 238 • Da sie, wie die gesamte Berufsfreiheit, Arbeitnehmer wie Selbständige umfaßt, beinhaltet die freie Wahl der Arbeitsstätte dementsprechend auch die Niederlassungsfreiheit, also berufliche Freizügigkeit239 • Es läßt sich aus der abwehrrechtlichen Rechtsposition jedoch kein Anspruch auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes eigener Wahl oder eine Bestandsgarantie für einen einmal gewählten Arbeitsplatz herleiten 240 • Weil immer auch eine Beeinträchtigung der Wahl oder der Ausübung mitbetroffen ist, spielt die freie Wahl der Arbeitsstätte als liberales Abwehrrecht heute in der Verfassungsrechtsprechung keine große Rolle 241 • dd) Freie Wahl der Ausbildungsstätte Die Ausbildungsfreiheit umfaßt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die berufsbezogene Ausbildung, d. h. jede Ausbildung, die auf einen Beruf hin führt 242 • Damit wird abgegrenzt von allgemeinbildenden Weiterbildungen, die überhaupt keinen Berufsbezug aufweisen können243 • Das Bundesverwaltungsgericht244 faßt den Begriff der berufsbezogenen Ausbildung enger: nur wenn die abzulegende Prüfung Voraussetzung für die Ergreifung eines Berufes sei, solle die Ausbildung gemäß Art. 12 I GG geschützt sein. Eine so enge Betrachtung des Begriffes der Berufsbezogenheit widerspricht allerdings der Offenheit des Berufsbegriffes. Wenn die Ausbildung auf einen bestimmten Beruf hin absolviert werden muß, um durch die Berufsfreiheit geschützt zu werden, geht die notwendige Dynamik verloren. Neue Berufe können faktisch nicht mehr entstehen, und QuereinsteiBVerfGE 84, 133, 146; 85, 360, 373; 92, 140, 150. Art. 11 wird insoweit verdrängt, vgl. grundlegend Bachof, in: Bettermann/Nipperdey S. 155, 250; BVerfGE 41, 378, 399; 84, 133, 146ff; Breuer, HbdStR VI S. 926; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art.l2, RN 8, Gubelt, in: v. Münch, Art. 12, RN23; Tettinger, in: Sachs, Art. 12, RN65. 240 Ebenso BVerfGE 85, 360, 373; vgl unten Kapitel B V. 241 Solarass, in: Jarass/Pieroth, Art. l2, RN8; vgl. aber Rittstieg, in: AK, Art. I2, RN 116ff. 242 Darunter fallen auch der Besuch von Gymnasien- BVerfGE 58, 257, 273; vgl. Breuer, HbdStR VI S. 933 m. w. N.; sowie Einrichtungen der betrieblichen und überbetrieblichen Lehrlingsausbildung, OVG NW OVGE 16, 154, 156f; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art.l2, RN 44a; wissenschaftliche Hochschulen, Fachhochschulen und staatliche Vorbereitungsdienste, BVerfGE 33, 303, 329; 39, 334, 371; Einrichtungen des zweiten Bildungsweges, BVerfGE 41, 251, 261. 243 So soll der Besuch einer Grundschule nicht unter die Ausbildungsfreiheit fallen. vgl. Tettinger, in: Sachs, Art.l2, RN67, über Art.2I GG geschützt, vgl.BVerfGE 53, 185, 203; 59, 172, 205 f, Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 12, RN 44a. 244 BVerwGE 47, 330, 332. 238 239

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ger würden grundrechtlich außer acht gelassen. Somit muß hinsichtlich der Berufsbezogenheit einer Ausbildung ausreichen, daß sie überhaupt auf einen Beruf hinführt, nicht aber, daß sie unmittelbare Zugangsvoraussetzung ist. Träger des Grundrechts ist nur der Auszubildende245 • Das Grundrecht umfaßt räumlich und qualitativ die Wahl des Fachs 246• Geschützt wird der Eintritt in eine Ausbildung sowie die im Rahmen der Ausbildung notwendigen 247 Tätigkeiten, insbesondere die Teilnahme am Unterricht und an eventuellen Prüfungen248 ; darüber hinaus wird die negative Ausbildungsfreiheit geschütze49 • Gerade in Bereichen, in denen der Staat der einzige Ausbilder ist, läuft das Abwehrrecht leer, wenn man den entsprechenden Ausbildungsplatz nicht erhält. Daher hat das Bundesverfassungsgericht ein "prinzipiell grundrechtlich-fundiertes Recht auf Zulassung" 250 anerkannt, welches die Verteilung der bestehenden Studienplätzen nach sachgerechten Kriterien unter möglicher Berücksichtigung der Ortswahl umfaßt251 • ee) Wettbewerbsfreiheit Da das Berufsgrundrecht allen Bürgern gleichermaßen gewährt wird, ist die Folge dessen, daß die Grundrechtsträger bei der Grundrechtsausübung in Konkurrenz zueinander stehen. Daraus ergibt sich zugleich die wettbewerbsfördernde Wirkung der Norm 252, welche den individuellen Schutzgehalt des Art. 12 I GG determiniert253. Dies sollte jedoch nicht als Einschränkung, sondern vielmehr als Gehalt des Grundrechts verstanden werden. Indem Berufe frei gewählt und frei ausgeübt werden, geraten die einzelnen als Unternehmer, als Handels- und Gewerbetreibende, als Freiberufler, aber auch als Arbeitnehmer notwendig miteinander in Wettbewerb. Das Verhalten im Wettbewerb gehört zur Berufsausübung und zum Schutzbereich der Berufsfreiheit Mit dieser Freiheit zum Wettbewerb ist die Vorstellung einer Freiheit von Konkurrenz unverträglich 254 • 245 Vgl. Tettinger, in: Sachs, Art. 12, RN68; Gubelt, in: v.Münch, Art.l2, RN27; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 12, RN 45. 246 Bezogen auf die universitäre Ausbildung Gubelt, in: v. Münch, Art. 12, RN 27. 247 Daher nicht durch die Ausbildungsfreiheit geschützt: Privatdozentur, weil nicht notwendiges Durchgangsstadium zum Beruf des Hochschulprofessors; vgl. BVerwG DVBl 1994, 1359, 1360; vgl. auch BVerwGE 91, 24, 32f; Fertig, Die Zulassung als Privatdozent DVBl 1960,230,234. 248 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 12, RN 44a; zu Prüfungen ausführlich RN 52; Rittstieg, in: AK, Art.12, RN155ff. 249 Rittstieg, in: AK, Art. 12, RN 125. 250 BVerfGE 33, 303, 338; 43,291, 313ff. 251 Hierbei handelt es sich um ein sog. deritatives Teilhaberecht Ausführlich wird die Frage nach Teilhabeansprüchen unten in Kapitel B V behandelt. 252 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 12, RN 14, 4. 253 BVerfGE 34,252, 256; 55,261, 269; BVerwGE 71, 183, 193. 254 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, RN909, s. a. Canaris, in: FS Lerche, S. 873, insb. S. 878

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht 4. Eingriff

Wenn der soeben festgelegte Schutzbereich der Berufsfreiheit, also die rechtliche Freiheit, Beschränkungen seitens des Staates ausgesetzt ist, so stellt sich die Frage, ob diese rechtlich betrachtet hinzunehmen sind. Nicht nur die Festlegung des Schutzbereiches ist maßgeblich für die Art des Grundrechtsschutzes. Die Intensität des Schutzes wird entscheidend durch die dem jeweiligen Grundrecht zugeordneten Eingriffs- und Beschränkungsmöglichkeiten bestimmt255 •

a) Klassischer Eingriffsbegriff Der klassische oder unmittelbare Eingriffsbegriff wird auch als Kern der Erngriffsdogmatik bezeichnet. Er geht zurück auf das Apothekenurteil des Bundesverfassungsgerichts; hiernach liegt ein Eingriff vor, wenn ein Rechtsakt mit rechtlicher Wirkung durch Befehls- oder Zwangsgewalt unmittelbar und final den Schutzbereich eines Grundrechtes betrifft256• Darunter fallen Maßnahmen, die gezielt regelnd in die Aufnahme einer Betätigung hinsichtlich "Ob" oder "Wie" eingreifen257 oder Verpflichtungen an die Ausübung einer beruflichen Betätigung knüpfen258 • Kennzeichnend ist, daß nur eine solche Maßnahme als Eingriff gewertet werden kann, bei der die Intention der Wrrkung der Maßnahme entspricht, also eine "Identität von Regelung und Beeinträchtigung"259 besteht. Daraus folgt, daß der klassische Eingriff, der den Blick auf die Intention des Normgebers gesetzt hat, viele Fälle tatsächlicher Einwirkung, die nicht durch den Gesetzgeber gewollt sind bzw. nicht zielgerichtet hoheitlich erfolgen, nicht berücksichtigen kann.

b) Erweiterung des Eingriffsbegriffes Das gewandelte Staatsverständnis- der Staat wird nicht mehr nur als Gegner der Freiheit gesehen, sondern ist häufig erst Garant für die Wahrnehmung der grundrechtlich gewährten Freiheiten260 - führt zu einer vielfältigen Verknüpfung von Freim Lerche, HbdStR V§ 122, RN9ff.

256 BVerfGE 7, 303; vgl. Albers, Faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen als Schutzbereichsproblem, DVBI 1996, 233, 234; Bleckmann, Staatsrecht II, S. 413; Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 1992, 175ff; lsensee, HbdStR V§ 111 RN61; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Vorbem. Art. 1, RN 256; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, RN 271; Sachs, Die relevanten Grundrechtsbeeinträchtigungen, JuS 1995, 303, 304. 251 Vgl. BVerfGE 65, 116, 126; 87,363, 382; 88, 145, 159; BVerfG NJW 98,493. 258 Z. B. Mitteilungspflichten vgl. Breuer, HbdStR VI, S. 961. 259 V gl. Gallwas, Faktische Beeinträchtigung im Bereich der Grundrechte 1970, S. 12; Langer, JuS 93, 203, 205. 260 V gl. Pieroth!Schlink, Staatsrecht II, RN 273 weist auf die entsprechende Entwicklung vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat hin; BVerfGE 46, 120, 137 f: Im Leistungsstaat der Ge-

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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heitsgewährung und -verkürzung. Aus diesem Ineinanderfallen der Bereiche folgt, daß die Verkürzung der Freiheit, auf vielfältige Weise entstehen kann. Ein Eingriff muß nicht "die spiegelbildliche Belastung aufgrund staatlicher Regelung" 261 darstellen. Insbesondere können Grundrechtsverletzungen auch infolge nichthoheitlichen Handeins eintreten oder erst als verlängerte Folge einer staatlichen Maßnahme eintreten. Denkbar sind ferner Eingriffe, die als Nebenwirkung staatlicher Maßnahmen beim Adressaten oder einem Dritten eintreten262 • Sollen die Grundrechte gegen Übergriffe der Staatsgewalt umfassend Schutz bieten (und dies folgt bereits aus Art. 1 Ill GG 263 ), können sie Schutz nicht nur gegen klassische oder unmittelbare Eingriffe gewähren. Der Eingriffsbegriff bedarf dementsprechend einer Erweiterung. Abgestellt werden muß, um dem veränderten Staatshandeln gerecht zu werden, nicht so sehr auf die Intention, sondern vielmehr auf die Wirkung der Maßnahme264 • aa) Jede Einwirkung als Eingriff? Fraglich ist, ob daraus folgen muß, daß jede Einwirkung, die aufgrund einer hoheitlichen, rechtlichen oder tatsächlichen, unmittelbaren oder mittelbaren Einwirkung, die infolge ihrer tatsächlichen Auswirkung geeignet ist, die berufliche Betätigung zu beeinträchtigen, bereits als Eingriff gewertet werden muß oder soll 265 • Dagegen spricht, daß Art.121 GG als Konkretisierung der allgemeinen Handlungsfreiheit von einem Menschenbild ausgeht, welches dem einzelnen eine gemeinschaftsbezogene Freiheit gewährt, d. h. der einzelne seine Freiheit nicht ungehemmtz66, genwart eine zunehmend zu beobachtende Erscheinung, daß staatliche Einwirkungen in den Bereich der wirtschaftlichen Betätigung nicht im Wege eines unmittelbaren "gezielten" Eingriffes erfolgen, sondern durch staatliche Planung, Subventionierung oder als Folge einer bestimmten Wahrnehmung der staatlichen Leistungsverwaltung. 261 Albers, DVBI 1996, 233; Ga/lwas, Faktische Beeinträchtigung, S. !Off; Ramsauer, VerwArch 72 (1981), 89ff. 262 Einteilung nachAlbers, DVB11996, 233; Gallwas, Faktische Beeinträchtigung S.l2; Di Fabio, Grundrechte im präzeptoralen Staat, JZ93, 689, 691 verwendet den Begriff der tripolaren Grundrechtsrelation; Rüssel, Faktische Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit, JA 1998, 406. 263 Vgl. Eckhoff Der Grundrechtseingriff, S. 108; Albers, DVB196, 233, 234; Stern, Staatsrecht III 1, § 72 111 4; Schoch, Staatliche Informationspolitik und Berufsfreiheit; DVBI 1991, 667,669. 264 V gl. Gallwas, Faktische Beeinträchtigung, S. 25 ff; Bleckmann/Eckhof!DVBI 1988, 376; Langer, in: JuS 1993, 203,208. 265 So Robbers, Behördliche Auskünfte und Warnungen gegenüber der Öffentlichkeit, AfP 90, 84, 86: Man muß ... die Schutzbereiche der Grundrechte extensiv bestimmen, darf sie nicht verengen auf einzelne, isolierte Gewährleistungen ... nicht ... darf der Einzelne auf verstreute Inseln der Freiheit vertrieben, im übrigen den Wogen staatlicher Entscheidungsgewalt preisgegeben sein. S. aber auch Scherzberg, DVBI 89, 1128. 266 Sog. neoliberalistischer Freiheitsbegriff-gedacht und gefordert von Marcuse 1968, Habermas 1976, Narr-Nasehold 1971, zitiert nach Ermacora, Allgemeine Staatslehre, S.188.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

sondern als gemeinschaftsgebundenes und -bezogenes Wesen 267 ausübt, der Staat mithin nur die eingeschränkte Freiheit schützt, die eingebunden ist in die soziale Ordnung 268 • Dementsprechend kann nicht jede Verkürzung seiner Rechtsposition gleich einen verfassungsrechtlich zu rechtfertigenden Eingriff darstellen. Zudem brächte eine solche Annahme rechtsdogmatisch keinen Gewinn: Einschränkungen individueller Rechtspositionen würden dann von der Eingriffs- auf die Rechtfertigungsebene verlagert. Die Maßstäbe zur Rechtfertigung eines Eingriffes müßten, um handhabbar zu sein, folglich geringer sein, z. B. indem man auf das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für die Rechtfertigung verzichtete 269 • Wird allerdings auf das Erfordernis einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage verzichtet, leuchtet nicht ein, welchen Sinn es machen soll, einen Eingriff zunächst zu bejahen. Ein höherer Rechtsgewinn würde jedenfalls nicht erreicht270• Es zeigt sich also, daß eine Eingrenzung des Eingriffsbegriffes notwendig ist271 • Wie dies zu erfolgen hat, darüber herrscht allerdings Unklarheit.

bb) Die Weiterentwicklung des Eingriffsbegriffs bei der Berufsfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht Auch das Bundesverfassungsgericht hat erkannt, daß .,der besondere Freiheitsraum, den das Grundrecht sichern will, auch durch Vorschriften berührt werden (kann), die infolge ihrer tatsächlichen Auswirkungen geeignet sind, die Berufsfreiheit zu beeinträchtigen" 272und daraufhin den klassischen Eingriffsbegriff erweitert. Zur Eingrenzung stellt es in seinen Entscheidungen bei mittelbaren oder tatsächlichen Beeinträchtigungen darauf ab, ob die Beeinträchtigungen auf die berufliche Betätigung bezogen sind 273 • Das sei dann der Fall, wenn .,die Norm, auf die die BVerfGE 7, 377, 397. Bryde, in: NJW 1984,2177,2183 spricht davon, ein Eingriff in Art.121 GG sei kein Eingriff in eine vorstaatliche Freiheit, sondern gesetzgebensehe Abgrenzung und Ausbalancierung unterschiedlicher Interessen., ebenso Badura, in: FS Berber 1972, S. 20; Hoffmann-Riem, in: FS Ipsen 1977, S.397f; Häberle, VVdStRL 30 (1972), l03f. 269 Dies schlägt Robbers, in: AfP 1990, 84, 86 vor. Gerade auf den nicht-finalen Eingriff passe das Erfordernis einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage nicht. 270 Zudem sei eine Folge des weiten Eingriffsbegriffes eine zu erwartende Prozeßflut; so Pieroth!Schlink, Staatsrecht II, RN 282. 271 Vgl. z. B. Albers, in: DVBl 1996, 233, 236; Bleckmann, Staatsrecht II, S. 414; /sensee, HbdStR VI,§ 111 RN64;Jarass, in: Jarass/Pieroth Vorbem. Art. I, RN21a;Lerche, HbdStR V § 121, RN 52; Sachs, JuS 1995, 303, 304; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 IV, RNI20. 272 BVerfGE 13, 181, 185; 21, 73, 85; 46, 120, 137. 273 Es genügt also nicht festzustellen, ob eine Rechtsnorm oder ihre Anwendung unter bestimmten Umständen Rückwirkungen auf die Berufstätigkeit entfaltet. Das ist bei vielen Normen der Fall. Ein Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit liegt vielmehr erst dann vor, wenn die Norm, auf die die Maßnahme gestützt ist, berufsregelnde Tendenz hat. Das heißt allerdings nicht, daß die Berufstätigkeit unmittelbar betroffen sein muß. Es kann vielmehr auch 267 268

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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Maßnahme gestützt sei, infolge ihrer Gestaltung in einem engen Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufs stehe und eine objektiv berufsregelnde Tendenz" habe 274. Eine solche komme einer Vorschrift regelmäßig dann zu, wenn sie ausschließlich oder im wesentlichen nur auf berufliche Tätigkeiten anwendbar sei 275 • Hier wird im Unterschied zum klassischen Eingriffsbegriff auf das Kriterium der Unmittelbarkeit verzichtet, und erfaßt damit auch Beeinträchtigungen durch Realak:te276. Das Finalitätserfordernis findet sich aber in dem Kriterium der objektiv berufsregelnden Tendenz wieder277. Das Bundesverfassungsgericht muß sich die Kritik gefallen lassen, daß es sich, indem es an der Erfordernis der Finalität für die Frage nach dem "Ob" eines Eingriffes im Ergebnis weiter festhält, nicht vom klassischen Eingriffsbegriff gelöst hat278 und damit dem weiten Schutzauftrag des Art. 1 III GG nicht gerecht wird279 •

cc) Bundesverwaltungsgericht Anders als das Bundesverfassungsgericht hat das Bundesverwaltungsgericht280 ausgeführt, daß der Schutzbereich des Art. 12 I GG nicht nur dann berührt sei, wenn Maßnahmen mit berufsregelnder Tendenz vorgenommen werden, sondern "daß der Schutz des Art. 12 I GG sich auch erstreckt auf solche staatlichen Verlautbarungen, die als nicht bezweckte, aber voraussehbare und in Kauf genommene Nebenfolge eintreten", also die Wirkung- die Rechtsverkürzung-demHoheitsträger zuzurechvorkommen, daß eine Norm die Berufstätigkeit selbst unberührt läßt, aber im Blick auf den Beruf die Rahmenbedingungen verändert, unter denen er ausgeübt werden kann. In diesem Fall ist der Berufsbezug ebenfalls gegeben- z. B. bei Abgabenptlichten, vgl. BVerfGE 95, 267, 302. 274 BVerfGE 13, 181, l85f; 37, I, 18; 46, 120, 137; 49, 24, 47f; 70, 191, 214; 82,209, 223f; 95, 267, 302. 21s Jarass, in: Jarass/Pieroth Art. 12 RN 11. 276 Also auch Informationstätigkeiten der Öffentlichkeit gegenüber, aber nicht, soweit sie zutreffen, neutral und sachkundig ist vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 12, RN 13; LübbeWolf, Rechtsprobleme der behördlichen Umweltberatung, in: NJW 1987, 2711. 277 Es gab vereinzelte Entscheidungen, in denen die Frage der berufsregelnden Tendenz nicht erhoben wurde (BVerfGE 46, 120, 137; 49, 24, 47f; 61, 291, 308; 66, 39, 62). Dort wurde aber auch kein anderes Eingrenzungskriterium entwickelt- so ist das Bundesverfassungsgericht wieder zurückgekommen zum Kriterium der objektiv berufsregelnden Tendenz (zuletzt BVerfGE 95, 267, 302), betonte aber gleichzeitig, dies sei nicht abschließend (so ausdrücklich BVerfGE 82,209,224, vgl. Schoch, in: DVB11991, 667, 670). 278 Vgl. Sachs, in: JuS 1995, 303, 304; Albers, in: DVBl 1996, 234, 236; Di Fabio, in: DVBl 1993, 389, 396. 279 Dabei überzeugt das Merkmal der Finalität inhaltlich nicht: weil es grundgesetzlich nicht abgesichert lediglich auf Erwägungen beruhe, die dahingingen, einen ausufernden Grundrechtsschutz, der dem Gemeinwesen abträglich sei, zu vermeiden, so Schulte, Informelles Verwaltungshandeln als Mittel staatlicher Umwelt- und Gesundheitspflege, DVBl 1988, 512, 517; Sodan, Kollegiale Funktionsträger als Verfassungsproblem 1987,523. 280 BVerwGE 87, 37, 43faufbauend auf BVerwGE1l, 183, 193f.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

nen sei 281 • Eine Zurechnung ließe sich dann vornehmen, wenn die Verletzung kausal zum staatlichen Handeln sei 282, sofern infolgedessen eine schwere Beeinträchtigung der beruflichen Betätigungsfreiheit entstehe 283 •

dd) Weiterentwicklung des Schwere-Kriteriums Der Ansatz des Bundesverwaltungsgerichts, bei mittelbaren Beeinträchtigungen anstatt auf die berufsregelnde Tendenz auf die Zurechenbarkeit und Schwere einer Beeinträchtigung abzustellen, wurde in der Literatur aufgenommen und weiterentwickelt. Die Anforderung der Schwere sei ein die Grundrechtsverpflichteten schützendes Korrektiv 28\ es handele sich um ein objektives Kriterium, welches sich in der Sphäre des Betroffenen bewege und eine grundsätzlichere und bedeutsamere Perspektive eröffne, da es "nicht letztlich Bestrafung für Gut oder Böse, sondern effektive Freiheitsgewährung" bedeute 285 • Schwere ist hiernach zu definieren als deutlich erkennbare und subjektiv vom Grundrechtsträger fühlbare Positionsveränderung in bezug auf die Grundrechtsausübung 286 , die nicht als eine allgemeine Geringfügigkeilsgrenze zu verstehen, sondern im engen Zusammenhang mit dem Schutzgegenstand zu ermitteln sei. Es müsse eine Beurteilung des Freiheitsraumes in Ansehung des Schutzzweckes vorgenommen werden. Dieser Freiheitsraum wird für die Berufsfreiheit verstanden als Freiheit am Markt und im Wettbewerb 287 • Gewisse Beeinträchtigungen288 , die sich aus der Determination der Grundrechtswahmeh281 BVerwGE 87, 37, 43f, vgl. auch Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, RN274; Sachs, in: JuS 1995,303,305, ders., in: Stern, Staatsrecht III2, S.158ff, 174ff; s.a. BVerfGE66, 39, 62-Pershing II. 282 Zum Zurechnungskriterium vgl. ausführlich Sachs, in: JuS 1995, 303, 305ff m. w. N. Bea. den umfangreichen Komplex staatlicher Appelle, Warnungen etc., auf denen auch die vorliegenden Entscheidungen des BVerwG basieren; s. a. Di Fabio, Information als hoheitliches Gesta1tungsmittel, in: JuS 1997, 1, 6; Schoch, DVBl 1991, 667, 670 m. w. N.; Pietzcker, in: FS Bachof, S. 131; Hufen, in: NJW 1994, 2913, 2916 verlangt dariiber hinaus, daß die kumulative Wirkung freiheitsbedrohender Maßnahmen überprüft werden können muß. Wenn in einem solchen Fall ein Eingriff festgestellt werde, so müsse jede den geschilderte Zustand hervorrufende hoheitliche Maßnahme angreifbar sein und auf die Gesamtwirkung überprüft werden können. 283 BVerwGE 87, 37, LS 1 und S. 43; ebenso BVenvG, Urteil vom 7.12.1995- 3 C 23. 94-DVB196, 807, ebensoBVerwGE 90, 112, 120. 284 Manssen, Staatsrecht I, RN 447; Ramsauer, Die faktische Beeinträchtigung des Eigentums S.175 (zu Art.14); Schoch, in: DVBl 1991, 667, 670; Sodan, in: DÖV 1987, 858, 863; Robbers, in: AfP 1990, 84, 86; Heintzen, Hoheitliche Warnungen und Empfehlungen im Bundesstaat, in: VerwArch 81 (1990), 532, 537. 285 Di Fabio, in: JZ 1993,689, 695; a.A. Lübbe-Wolf, in: NJW 1987,2705, 2709; Leidinger, Hoheitliche Warmungen, Empfehlungen und Hinweise im Spektrum hoheitlichen Verwaltungshandelns, DÖV 1993, 925, 928. 286 Di Fabio, in: JZ 1993,689,695. 287 Vgl. oben Kapitel BIII3b)ee). 288 Sachs, in: Stern, Staatsrecht III2, S. 207: Bagatellen, Trivialitäten.

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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mung infolge der Gemeinschaftsgebundenheit ergeben, sind demnach hinzunehmen und bedeuten noch keine Rechtsverkürzung 289 • Auf diese Weise erfolgt die Abgrenzung von Beeinträchtigung zu bloßer Belästigung, die insbesondere bei faktischer und Drittbetroffenheit notwendig ist290• Diese Herangehensweise erinnert an das private Nachbarrecht Entsprechend dem Normzweck des § 906 I HGB wird ein Interessenausgleich zwischen Grundstücksnachbarn im Hinblick auf bestimmte stattfindende Einwirkungen vorgenommen, der dazu führt, daß bei ortsüblichen Einwirkungen eine Duldungspfticht besteht291 • Zur Eingrenzung individueller Freiheit bei nichtfinalen Beeinträchtigungen, die dem staatlichen Handeln kausal zuzurechnen sind, erscheint die Verweisung auf die Gemeinschaftsgebundenheit tragfaltiger als die Frage nach der Finalität bzw. der Zielgerichtetheit der die Beeinträchtigung bevorrufenden Maßnahme. Sie wird dem veränderten Blickwinkel und damit Art. liii GG jedenfalls besser gerecht. ee) Theorie der Schutzgutanalyse

In der Literatur werden die Verfahrensweisen der Bundesgerichte zum Teil für unzureichend erachtet. So wurde die Theorie der Schutzgutanalyse entwickelt292 • Die Frage, ob ein Eingriff vorliegt, soll hiernach konsequenter als vom Bundesverwaltungsgericht verfolgt, grundsätzlich293 abhängen von der jeweiligen Schutzbereichsdefinition. Hiernach wird eine Vorverlagerung der Eingriffsproblematik vorgenommen: Bereits auf der Schutzbereichsebene soll für den konkreten Fall untersucht werden, ob die in Frage stehende Beeinträchtigung im schützenswerten Bereich des Grundrechtes liegt, also die Feststellung getroffen werden, ob eine der öffentlichen Gewalt zurechenbare Beeinträchtigung des Schutzzweckes des Grund289 Damit wird keine Quantifizierung des Schadens vorgenommen. vgl. Kritik bei Leidinger, DÖV 1993,925, 929. 290 vgl. BVerfi:TE 30, 191, 198; ebenso Sachs, in: Stern, Staatsrecht III2, S. 207 f; Scherzberg, in: DVB11989, 1128, 1136; unter Rückgriff auf die Wesentlichkeilsgarantie auch BVerfi:TE 49, 89, 121,Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art.20, RN31; Vorbem. Art.1 RN21 a. 291 In den Vorarbeiten zum BGB wird dazu ausgeführt: "WJI leben auf dem Grunde des Luftmeeres. Dieser Umstand führt mit der Notwendigkeit eine Erstreckung der Wirkungen der menschlichen Tätigkeit in die Ferne mit sich. Einerseits überliefern schon die gewöhnlichen Lebensfunktionen und mehr noch die wirtschaftlichen und gewerblichen Vorgänge dem Luftmeere eine Menge von gasförmigen und in der Luft suspendierenden Körpern, welche der Bewegung des Luftmeeres folgen. Andererseits wird die menschliche Tatigkeit von physikalischen Wirkungen begleitet, welche sich weiter fortpftanzen, wie Erschütterungen, Warme, Geräusch, Licht." Mot III265 =Mudgan III 146. 292 Hier kann nur eine generalisierende Darstellung der von den zitierten Autoren entwikkelten Herangehensweisen vorgenommen werden. Für differenziertere Betrachtung ist im Rahmen dieser Arbeit kein Raum. 293 Und damit nicht nur in den Billen nichtfinaler Beeinträchtigungen wie es das Bundesverwaltungsgericht tut.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

rechts vorliegt 294• Die Frage nach der Würdigung der beeinflussenden Faktoren einer Beeinträchtigung soll hiernach verknüpft werden mit einem "Mitdenken und Aufschlüsseln kontextbezogener Abhängigkeiten der individuellen Freiheit" 29s. Es sei eine überindividuelle und kontextbezogene Perspektive einzunehmen und die jeweilige Grundrechtsnorm so zu interpretieren, daß ihre objektiv-rechtlichen Aussagen und die individualrechtliehen Schutzgehalte Bezüge zum jeweils relevanten Kontext einschließen296. Darin liege eine konsequente Umsetzung des Freiheitsverständnisses, wonach die Freiheit des Einzelnen in die Gemeinschaft eingebunden ise97 • Diese Herangehensweise mag eine philosophische Klarheit haben und eine konsequentere Umsetzung des derzeit herrschenden Freiheitsverständnisses wiedergeben. Gleichzeitig wirft es in der Anwendung Probleme auf, insbesondere gerät man in die Gefahr, daß ein Richter oder der Staat auf diese Weise die Definitionsmacht über die individuelle Freiheit erhält298 . Gerade um die Macht des Staates kontrollieren zu können, bedarf es einer konsequenteren Eingriffskontrolle. Eine Vorverlagerung299 der- egal wo sie durchgeführt wird- schwierigen Abgrenzung, was der Einzelne darf und was nicht, in die Schutzbereichsebene führt in der Rechtsanwendung zu Schwierigkeiten, vor allem was den Schutz der Freiheit betrifft; schließlich gibt es auf dieser Ebene keinen Eingriffsvorbehalt Deswegen sollte die lnbezugsetzung von Schutzgut und Eingriff nicht bereits im Bereich der Schutzbereichsdefinition erfolgen, sondern erst auf der Ebene der lnhaltsbegrenzung, und nur in solchen Fällen, in denen ein Eingriff nicht schon aufgrund der Finalität des staatlichen Handeins bejaht werden kann. c) Kollidierendes Verfassungsrecht als Schutzbereichsbegrenzung Die Lehre vom kollidierenden Verfassungsrecht als Schutzbereichsbegrenzung wurde in bezug auf vorbehaltlos gewährte Grundrechte namentlich Art. 4 und 5 III GG, entwickelt300: Grundrechtlichen Freiheiten seien durch die Normen der Verfassung ausdrücklich oder der Sache nach Grenzen gezogen301 , der Schutzbereich des einzelnen Grundrechts reiche demnach nur soweit, wie es ein im Sinne praktischer Konkordanz erfolgter Ausgleich mit kollidierenden anderen Grundrechten oder 294 Bleckmann!Eckhoff, in: DVBI1988, 373, 383; Schulte, in: DVBI1988, 512, 517; so ausdrücklich auch BVerfGE 66, 39, 60. 295 Albers, in: DVB11996, 233, 238. 2% Albers, in: DVBI 1996, 233, 238. 297 Albers, in: DVB11996, 233, 239;Lübbe-Wolf, in: NJW 1987,2705, 2711; Haussühl, Die staatlichen Warnungen im System des öffentlichen Rechts, in: VBIBW 1998,90, 94. 298 Vgl. zu dem bedeutsamen Unterschied zwischen natürlicher und rechtlicher Freiheit oben Kapitel AI. 299 So Sachs, in: Stern, Staatsrecht III 2, S. 156. 300 V gl. BVerfGE 28, 243; 30. 173, 193 ff. 301 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RN313.

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Verfassungsgütern juristisch erlaube 302. Diese Herangehensweise entspricht dem Gedanken der Einheitlichkeit der Wertordnung 303. Danach kann es keine verfassungsrechtliche Freiheit in Bereichen geben, in denen andere Verfassungsnormen das Gegenteil besagen. Auf Grundrechte mit Schrankenvorbehalt, insbesondere die hier interessierende Berufsfreiheit wurde diese Lehre im erst recht-Schluß übertragen304. So hat das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung festgestellt, der durch Art. 140 GG, 139 WRV verfassungsrechtlich gewährte Schutz des Sonntags begrenze das verfassungsrechtlich gewährleistete Maß der Eigentumsnutzung und der beruflichen Betätigung "auf das mit der Zweckbestimmung des Sonntags noch vereinbare Maß" 305 . In einer anderen Entscheidung über Listenveröffentlichungen306 wurde bereits aus der Befugnis der Bundesregierung zur Informationstätigkeit geschlossen, daß dieses Verhalten keinen Eingriff in die Berufsfreiheit bedeuten könne, solange sie ordnungsgemäß, d. h. unter Wahrung des Übermaßverbotes, durchgeführt würde. Damit nimmt das BVerwG eine Vorverlagerung der Abwägung unterschiedlicher Schutzgüter in den Schutzbereich vor. Dieses Vorgehen ist vielfach kritisiert worden. Indem die Reichweite des Schutzbereiches im Einzelfall festgelegt wird, verliert der Schutzbereich seine Bestimmbarkeil und Reichweite. Daraus mag im Einzelfall eine größere Präzision erwachsen, birgt aber auch die Gefahr mangelnder Verläßlichkeit und damit der Einzelfallgerechtigkeit307 . Im übrigen gilt hinsichtlich der Gefahr, was die Definitionsmacht über die Freiheit betrifft, das oben zur Schutzguttheorie Gesagte. Gesetzesvorbehalte werden tendenziell ihrer Funktion beraubt 308. Es läßt sich also zusammenfassen, daß kollidierendes Verfassungsrecht als Schutzbereichsbegrenzung zwar denklogisch nachvollziehbar, aber für die Rechtsanwendung nicht praktikabel ist 309• 5. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Zur Feststellung der Verfassungsmäßigkeit eines Eingriffes ist heute die Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in den Schutzbereich des Grundrechts das Vgl. Pieroth/Schlink, Staatsrecht li, RN347. St. BVerfGE 7, 198- Lüth-. 304 BVerwGE 87, 37, 45. 3os BVerwGE 79, 236, 243. 306 BVerwGE 87, 37, 50, indifferent in dieser Frage BVerfGE 69, l, 58f. 307 So Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, RN 353 unter Hinweis auf BVerfGE 30, 173, 193 ff; a.A. Lerche, HbdStR V, S. 781,789, 902. 3os Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, RN 350; vgl. insb. zur Bedeutung des Gesetzesvorbehalts im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsprinzip bei hoheitlicher Informationstätigkeit Di Fabio, in: JuS 1997, 1, 4 m. w.N. 309 Deswegen ist es aber durchaus möglich, daß mittels kollidierenden Verfassungsrechts eine Eingriffsrechtfertigung erfolgen kann- s. u. gesetzliche Grundlage gern. Art. 12 I 2 GG. 302 303

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

wichtigste lnstrument310• Speziell für die Berufsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht eine eigene Priifungsreihenfolge entwickelt, die im folgenden dargestellt und gewürdigt werden soll.

a) Gesetzliche Grundlage gern. Art.12 Abs.l S. 2 Gemäß Art. 12 I 2 GG unterliegt die Berufsfreiheit einem Gesetzesvorbehalt, der sich entgegen dem Wortlaut auf das gesamte Spektrum der Berufsfreiheit bezieht311 • Die gesetzliche Grundlage, auf der der Eingriff zu basieren hat, bedarf eines förmlichen Gesetzes oder muß aufgrundeines solchen, einer Rechtsverordnung oder Satzung ergangen sein312• Die Anforderung an die Rechtsgrundlage hängt mit Rücksicht auf die Wesentlichkeitsgarantie von der Art und damit verbunden der Intensität des Eingriffs ab 313• So können statusrechtliche Fragen der freien Berufe nicht in Satzungen der öffentlich-rechtlichen Berufskammern geregelt werden 314, wohl aber Details der Berufsausübung315 • Kollidierendes Verfassungsrecht kann nach allgemeiner Auffassung auch bei Grundrechten mit Eingriffsvorbehalt und damit der Berufsfreiheit als Eingriffsrechtfertigung dienen 316• Insbesondere die zuvor beim Schrankenvorbehalt beschriebenen Probleme hinsichtlich der Bestimmtheit des Schutzbereiches stellen sich hier nicht. Allerdings wird kritisch angemerkt, die Funktion des Gesetzesvorbehalts werde unklar, wenn die Rechtfertigung direkt auf die Grundrechte gestützt werden könne 317• Auch vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht kann ausreichende Grundlage sein, wenn es nicht gegen geschriebenes geltendes Verfassungsrecht verstößt und hinreichend bestimmt ist, d. h. Umfang und Grenzen des Eingriffes deutlich erkennbar sind318 • Die Anforderungen an die Bestimmtheit richten sich auch hier nach der Intensität des Eingriffs 319• Warnungen durch öffentliche Stellen bedürfen ebenso einer Rechtsgrundlage. Diese ergibt sich nach allgemeiner Ansicht aus den den Grundrechten hervorgehenVgl. Brandt, in: JA 1998,82,85 m. N.d. BVerfG. BVerfGE 7, 377,401 f; 33, 125, 159; 54,237, 246; 84, 133, 148; 85,360, 373; aufschlußreich hierzu auch die Vorarbeiten, abgedruckt in: JÖR NF 1, 133, 135 f. Dagegen unterscheidet Gusy, in: JA 1992, 257, 260 zwei unterschiedliche Phänomene. Die Berufswahl habe keinen Einschränkungsvorbehalt und unterliege dementsprechend lediglich verfassungsimmanenten Schranken. Nur die Berufsausübung unterliege dem Einschränkungsvorbehalt aus S. 2. 312 Zuletzt BVerfGE 98, 106. 3 13 BVerfGE33, 125, 163; 38,373, 381; 71, 162, 172f; BVerwGE 67,261,266 vgl.Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 12, RN 18m. w. N., Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, RN 938. 314 Vgl. BVerfGE 33, 125f; 76, 121, 185; BVerwGE 72, 73, 76. 315 BVerfGE 71, 162; 86, 28, 40; 94, 372, 390. 316 Vgl. v.Münch, in: ders., Vorbem. Art.l-19, RN56f. 317 So Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, RN 374 mit Alternativvorschlägen. 318 BVerfGE 86, 28, 40. 319 Vgl. BVerfGE 87, 287, 316f; bei Kontingentierung von Berufszulassungen müssen die Auswahlkriterien gesetzlich geregelt sei, vgl. BVerfGE 51,235, 238f; 73,280,294. 310 311

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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den Schutzpflichten320• Diese begründen die Staatsaufgabe, die Öffentlichkeit vor Gefahren zu warnen und stellen damit einen Teil des dem Staat zugewiesenen Tätigkeitsbereiches dar321 •

b) Die Stufentheorie des Bundesverfassungsgerichtes Das Bundesverfassungsgericht hat, noch bevor es den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlich verortet hat, im ersten Apothekenurteil 322 für die Anwendung der Berufsfreiheit die sogenannte Stufentheorie entwickelt, an der es auch immer noch im Grundsatz festhält 323 • Bereits auf der Eingriffsebene wird eine Unterscheidung von Eingriffen in die Berufsfreiheit auf drei Stufen mit zunehmender Eingriffsintensität vorgenommen. Maßstab für die Einordnung ist das Gesetz und dessen Regelungstechnik, also die Intention der Norm. aa) Stufendarstellung Auf der ersten Stufe sind Vorschriften, die sich auf die Ausübung der Berufsfreiheit beschränken, also Modalitäten und Bedingungen, unter denen sich die berufliche Tätigkeit vollzieht32\Ausübungsregeln). Dabei wird unterschieden zwischen subjektiven, d. h. solchen, die an individuelle Leistungen oder Verhalten anknüpfen, und objektiven Ausübungsregeln 325• Auf der zweiten Stufe geht es um die Einführung subjektiver Zulassungsvoraussetzungen für bestimmte Berufe, die für die Wahl oder den Verbleib in einem Beruf persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten, erworbene Abschlüsse oder erbrachte Leistungen des Berufsbewerbers vorschreiben (subjektive Zulassungsvoraussetzungen) 326. Die dritte und höchste Stufe schließlich umfaßt die Errichtung objektiver Zulassungsschranken. Das sind solche Voraussetzungen, die an die Wahl des Berufs oder 320 BVerwGE 83, 37, 47; Haussühl, in: VBlBW 1998,90, 91; Heintzen, in: NuR 1991, 301, 305m. w. N.; Leidinger, in: DÖV 1993, 925, 932; vgl. zu den sich aus Art.121 GG ergebenden Schutzpflichten unten im Kapitel B V. 32t Problematisch allerdings bei bloßen Empfehlungen, vgl. Heintzen, in: NuR 1991, 301, 305m. w.N.; Leidinger, in: DÖV 1993,925,932 sowie hinsichtlich der Verbandskompetenz kritisch zu BVerwGE 83, 37 ff Haussühl, in: Vb1BW 1998, 90, 91 m. w. N. 322 BVerfGE7, 377, 397f 323 Beachte aber zur heutigen Anwendung der Stufentheorie unten Kapitel BIII3e). 324 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, RN 929, Bsp.: Festsetzung von Ladenschlußzeiten und Polizeistunden, Beschränkungen des Schwerlastverkehrs in Ferienzeiten, Werbeverbote für bestimmte Berufe etc. m BVerfGE 86, 18, 39. 326 BVerfGE 9, 338, 345- Bsp.: Erfordernisse eines bestimmten Lebensalters, von Zuverlässigkeit oder Würdigkeit, erfolgreich abgelegter Prüfungen und beruflich erworbener Erfahrungen- vgl. Pieroth/Schlink Staatsrecht II RN 927 m. w. N.

6•

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

Ausübung geknüpft werden, die unabhängig von der Person des Berufsbewerbers bestehen327 • bb) Grenzfälle bei der Stufentheorie Die Abgrenzung zwischen den einzelnen Eingriffsstufen ist mitunter schwierig zu treffen. Dies verdeutlicht das oben328 dargestellte Beispiel zum Verbot der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung in Betrieben des Baugewerbes. Wird der Beruf des Betreffenden als gewerbliche Arbeitnehmerüberlassung bezeichnet, wie es das Bundesverfassungsgericht getan hat329, liegt ein Eingriff in die Berufsausübung vor und damit der ersten Stufe der Stufentheorie vor. Wenn man dagegen den Berufsbegriff enger faßt und die gewerbliche Bauarbeiterüberlassung als eigenständigen Beruf definiert, so liegt mit dem Verbot dieser Tätigkeit ein Eingriff in die Berufswahl, die unabhängig von der Person des Betreibers liegt, mithin in die dritte Stufe vor. Entsprechend der Wertung des BVerfG als Ausübungsregel entsteht vorliegend nun das Problem, daß eine Norm, die formal betrachtet lediglich die Ausübung normiert, für den Betroffenen, der seinen Betrieb auf diese Tätigkeit spezialisiert hat, die Wirkung einer Berufswahlregelung hat. Ein weiterer Grenzfall ist der, wenn eine subjektive Zulassungssperre-zum Beispiel die Verlängerung der Vorbereitungszeit für eine Zulassung zum Kassenarzt - in Ermangelung ausreichender entsprechender Vorbereitungsstellen sich wie eine objektive Zulassungssperre auswirkt, weil über Jahre hinweg Aspiranten ihren Vorbereitungsdienst nicht ableisten können 330. cc) Behandlung der "Grenzfälle" Die oben beschriebenen "Grenzfälle" innerhalb der Stufentheorie, bei denen die tatsächliche Wirkung einer Ausübungsregelung der einer Berufswahlregelung gleichkommt, werden entsprechend einem Eingriff auf der nächsthöheren Stufe behandelt331. Das führt dazu, daß heute im Ergebnis ein fließender Übergang zwischen den Stufen besteht332• 327 Z. B. Bedürfnisklauseln- wie im grundlegenden Fall im Apothekenurteil, ebenso steuerliche Normen mit erdrosselnder Wirkung, staatliche Monopole - für den Ausbildungsbereich fällt die Einführung eines numerus clausus darunter, wenn dieser das gewünschte Studium bundesweit und langfristig für Bewerber verschließt, die eigentlich die Hochschulreife erworben haben - vgl. Pieroth!Schlink Staatsrecht II RN923, 933 m. w. N. 328 S. oben Kapitel BIII3a)aa)(l). 329 So hat es auch das BVerfGE 11, 84, 105 f gesehen. 330 BVerfGE 11, 30, 41; 82, 144, 147; vgl. dazu Papier, in: DVBI1984, 801, 804; Rupp, in: AöR 92 (1967), 232 ff. 331 BVerfGE 11, 30, 43; 25, I, 12; 77, 84, 106. 332 So formuliert es Friauf, in: JA 1984, 537, 543.

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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c) Zweck

Der Eingriff kann nur verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn er einen legitimen Zweck verfolgt. Für die Rechtfertigung der Eingriffe in die Berufsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht333 entwickelt, daß je nach Eingriffsstufe ein unterschiedlich hoher Gemeinwohlbelang erlangt bzw. erhalten werden muß. So reicht für die Rechtfertigung eines Eingriffes in die Berufsausübungsfreiheit jeder anerkannte Gemeinwohlbelang, bei subjektiver Zulassungsschranke bedarf es des Schutzes allgemein anerkannter wichtiger Gemeinwohlbelange. Auf der höchsten Stufe der objektiven Zulassungssperre verlangt es zur Rechtfertigung nach überragend wichtigen Gemeinwohlbelangen334. aa) Gemeinwohl Mit Radbruch läßt sich Gemeinwohlgerechtigkeit als gesollte Zweck-Idee, als ethische Zweckmäßigkeit beschreiben335• Damit ist aber dem praktischen Veständnis dessen, was Gemeinwohl ist, nicht geholfen. Denn was in einer pluralistischen Gesellschaft ein zumindest verallgemeinerbares Gemeinwohlinteresse darstellt, ist schwerlich zu bestimmen336. Das Bundesverfassungsgericht beläßt demnach auch dem Gesetzgeber ein weites Ermessen bei der Füllung dieses Begriffes. So hat es bei wirtschaftspolitischen Zielsetzungen nicht nur Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren, sondern auch lenkende Maßnahmen zugelassen 337 • Die Grenze des Gemeinwohls werde gezogen, wo lediglich private (Wirtschafts-)Interessen verfolgt oder gesichert würden 338 • Gemeinwohlbelange können sich entsprechend der Systematik des Grundgesetzes und seiner Offenheit gegenüber dem internationalen, insbesondere dem europäischen Gemeinschaftsrecht, nicht auf das deutsche Gemeinwesen beschränken. Die Verschränkung und Einbeziehung des europäischen Gemeinwohls findet auf diese Weise mittels spezifischeuroparechtlicher Grundrechtsinterpretation339 Eingang in die Auslegung und Anwendung der Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht340. BVerfGE 7, 377 ff. Vgl. Übersicht bei Brandt, in: JA 1998, 82f. 335 Nach Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie S.152ff. 336 So sieht es auch Hufen, in: NJW 1994, 2913,2918. 337 BVerfGE25, 1, 17f; 37, 1, 20; 39,210, 225; 46,246, 256f; 50, 29, 332ff; 77, 84, 106, vgl. /psen, Stufentheorie und Übermaßverbot, in: JuS 1990, 634, 636. 338 BVerfGE 7, 377, 408; 11, 168, 188f; 19, 330, 332; Tettinger, Wettbewerb in den freien Berufen, in: NJW 1987, 294, 298; Papier, in: DVB11984, 801, 808; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, RN941 ; lpsen, in: JuS 1990,634, 636; Gusy, in: JA 1992, 257,263. 339 BVerfGE 73, 339, 386. 340 Ress, in: VVdStRL 48 (1990), 56, 81; Streinz, Bundesverfassungsrechtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht 1989, S.260ff; /sensee, in: HbdStRIII § 7, 333 334

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

Der Gesetzgeber trägt gewissermaßen die objektive Beweislast341 über das Vorliegen eines Gemeinwohlbelanges. Schon bei bloßer Nichterweislichkeit der konkreten gesetzgebefischen Gefahrenprognose oder der Eignung oder Erforderlichkeit der ergriffenen Maßnahmen ist Art. 12 I GG verletzt.

bb) Differenzierung der Gemeinwohlbegriffe Dem Bundesverfassungsgericht wird vorgeworfen, für die Bewertung der einen Eingriff tragenden öffentlichen Interessen als "besonders wichtig" oder "überragend" und für die Einschätzung der Beschränkung als "zwingend erforderlich" oder "unabweislich" fehlten inhaltliche Maßstäbe 342• Solche Unterteilungen ließen sich zwar behaupten, aber nicht begründen. Auch seien die Entdeckung "besonders" und "überragend wichtiger" Gemeinschaftsbelange inflationär und pauschal gehandhabt und die Rechtsprechung in dieser Frage unübersichtlich 343• So wurde als überragend wichtiges Gemeinschaftsgut anerkannt die Volksgesundheit344, Minderung der Arbeitslosigkeit345 sowie der Bestand, die Wirtschaftlichkeit und Funktionsfähigkeit der Deutschen Bahn346 aber auch der schnelle Aufbau der Verwaltung in den neuen Ländem347• Als besonders wichtige Gemeinwohlbelange wurden angenommen der Schutz vor ungeeigneten Rechtsberatem 348, die Erhaltung der Leistungsfähigkeit und des Leistungsstandards des Handwerks 349oder das Eintreten für die freiheitlich demokratische Grundordnung 350• Es läßt sich beobachten, daß der Beurteilungsspielraum, den das Gericht dem Gesetzgeber bei der Einschätzung, was überhaupt ein Gemeinwohlbelang ist, sich nicht trennen läßt von der Qualifizierung als wichtig, besonders oder überragend wi~htig. Gerade diese Inhaltsarmut machte die Stufenlehre praktikabel, zugleich aber für das Freiheitsrecht so gefährlich. Um dem Schutz der Berufsfreiheit im konkreten Fall gerecht zu werden, muß aus dem Grunde verlangt werden, daß das EiDgriffsinteresse konkret benannt und bewertet wird - auf die Volksgesundheit abzuRN50f, S. 24.; Tomuschat, in: VVdStRL 36 (1978) S.16f, 49ff; E. Klein, in: FS Stern 1301, 1312; Stern, Staatsrecht III 2, 287. 341 Papier, in: HbdVerfR, S. 823 f, RN 54, ders., in: FS SternS. 545, 555. 342 Rupp, in: NJW 1965, 993ff; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, Berlin 76. 343 Hufen, in: NJW 1994, 2913, 2918; Di Fabio, in: NJW 1997, 2863. 344 BVerfGE 7, 377; 414. 34s BVerfGE 21, 245, 251. 346 BVerfGE 40, 196, 218. 347 BVerfGE84, 133, 151 f; weitere Beispiele finden sich beiCzybulka, in: NVwZ 1991, 145; 147; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, RN922. 34s BVerfGE 75, 246, 267. 349 BVerfGE 13, 97, 107. Jso BVerfGE 39, 334.

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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stellen, ist demnach zu wenig konkret351 . Das Ziel muß sein, eine Werthierarchie zu erreichen, um auf diese Weise Unterschiede in der Qualifizierung der unterschiedlichen Gemeinwohlbelange zu erzielen. Die Rechtfertigung des Eingriffs sollte nicht allein im verfolgten Belang, sondern erst in der Beziehung von verfolgtem Ziel und der Konsequenz für den jeweiligen Grundrechtsinhaber aber auch im Blick auf die Folgen für Dritte und die Gemeinschaft im übrigen erfolgen352. Nur dann wird deutlich, wie Hufen so schön formuliert hat, daß die Berufsfreiheit auch selbst ein "überragend wichtiges Gemeinschaftsgut" ist353• d) Verhältnismäßigkeit

Der Eingriff muß verhältnismäßig sein, das heißt, er muß geeignet, erforderlich und angemessen sein, den Zweck der Maßnahme, den Schutz des Gemeinwohles, zu erreichen. Der Gesetzgeber ist hinsichtlich der Beurteilung dessen ein weiter Ermessensund Beurteilungsspielraum eingeräumt worden. Der Umfang der Beurteilung ist allerdings abhängig von der Zielrichtung, Intensität und Wrrkung des jeweiligen Eingriffs354. Je mehr die betreffende Maßnahme in die Grundrechtsposition des Betroffenen eingreift, umso kleiner ist die Ausgestaltungsfreiheit des Gesetzgebers355 • Daraus folgt, daß auf der dritten Eingriffsstufe das Gericht die volle Überprüfbarkeil hat. Die Notwendigkeit dazu ergibt sich bereits aus dem Anliegen, auf diese Weise politische Motivationen zurückdrängen zu können 356. aa) Geeignet, erforderlich In jedem Fall muß die Regelung geeignet sein, den angestrebten Zweck zu erreichen. Die Einschätzung über die Eignung einer Maßnahme obliegt allerdings voll dem Gesetzgeber357. Darüber hinaus muß sie erforderlich sein, das heißt es darf kein anderes, weniger in die Rechtsposition des Bürgers eingreifendes Mittel geben, welches genauso gem Ein erschreckendes Beispiel für die fehlende Inbezugsetzung des konkreten Falles zur Argumentation s. BVerfGE 95, 173 zur Tabakwarnhinweispflicht. Di Fabio NJW 1997, 2863, 2864 kommentiert, die Begründung des BVerfG schieße über das Ziel hinaus, wenn es zur Rechtfertigung des bloßen Gemeinwohls schwerstes Geschütz aufbringt, als ginge es um die Einführung einer Tabakprohibition. Vgl. auch die Kritik von Leisner, NJW 1997, 636, 638 wegen der ,,Flucht in Globalformeln wie die Volksgesundheit" sowie Stein, EuR 1997, 169. 352 So auch Hufen, in: NJW 1994, 2913,2918. 353 Hufen, in: NJW 1994, 2913, 2918. 354 Vgl. bereitsBVerfGE 13, 147 Leitsatz 3 und 167. 355 Vgl. BVerfGE 25, 1, 12. 356 Friauf, in: JA 1984,537, 545; Papier, in: DVB11984, 801, 805. 357 BVerfGE 95, 173, 185.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

eignet ist, den angestrebten Zweck zu erreichen. Dem Merkmal der Erforderlichkeil kommt besondere Bedeutung zu 358• Denn, so besagt der erste Teil der Stufenlehre359, darf ein Eingriff auf einer höheren Stufe erst dann erfolgen, wenn der Zweck nicht auch mithilfe einer Regelung, die einer Verletzung auf einer niedrigeren Stufe zur Folge hat, zu erreichen ist. bb) Zurnutbar (verhältnismäßig im engeren Sinne) Zu Prüfung der Zumutbarkeit der betreffenden Maßnahme wird an die Unterscheidung der zuvor festgestellten Eingriffsstufen angeknüpft. Das Maß der Rechtfertigung richtet sich nach der Intensität des Eingriffs, wie er sich aus der Qualifizierung der Eingriffsstufe ergibt 360• Innerhalb der jeweiligen Stufe wird sodann im Rahmen einer regulären Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Abwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und der widerstreitenden Interessen nach dem Gewicht der ihn zu rechtfertigenden Gründe vorgenommen 361 •

(1) Rechtfertigung von Ausübungsregeln Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit (erste Stufe der Berufsfreiheit) sind zur Lösung legitimer, mit der Wertordnung des Grundgesetzes vereinbaren Sachaufgaben zulässig 362• Als Konsequenz aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muß allerdings beachtet werden, daß, je einschneidender der Eingriff ist, desto stärker müssen die Interessen sein, die den Eingriff rechtfertigen 363• Das Bundesverfassungsgericht führt dazu aus, daß der Gesetzgeber inhaltlich umso freier sei, je mehr er sich auf das Gebot rein technischer von der Sache her gebotener Regelungen beschränke, hingegen umso stärker eingebunden sei, je mehr er in die allgemeine wirtschaftliche Dispositionsfreiheit des Untemehmers eingreife 364•

(2) Subjektive Zulassungsregeln Angemessen ist eine Beschränkung im Bereich der subjektiven Zulassungsregeln, soweit sie zum Schutz wichtiger allgemein anerkannter Gemeinschaftsgüter 358 Am Merkmal der Erforderlichkeil scheiterten z. B. die Maßnahmen in BVerfGE 36, 47, 62ff; 40, 371, 382ff; 41,378,395 ff; 43, 79, 90ff; 47,285, 327f; 53, 135, 145f; 59, 336, 355ff; 61,291, 318f. 359 Vgl. Pieroth!Schlink, Staatsrecht II, RN943. 360 Zur Behandlung der sog. Grenzfälle vgl. oben Kapitel B III 3 a) bb). 361 Pieroth!Schlink, Staatsrecht Il, RN 861. 362 Vgl. BVerfGE 30,292, 316; 33, 171, 185-188; 36, 47, 58ff; 37, 1, 18ff; 40, 371, 382f; 57, 121, 136; 59, 336, 355f; 65, 116, 125f. 363 Vgl. bereits BVerfGE 11, 30, 42f; 16, 147, 167; 16 286, 297. 364 BVerfGE 25, 1, 12; vgl. Tettinger, AöR 108 (1983), 92, 116.

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notwendig ist oder auch, wenn die Ausübung des Berufes ohne Erfüllung der Voraussetzungen unmöglich oder unsachgemäß wäre 365. Vorgeschriebene Kenntnisse und Fähigkeiten dürfen dabei nicht außer Verhältnis zur geplanten Tätigkeit stehen. Allerdings ist ein Überschuß an Ausbildungs- und Prüfungsanforderungen mit Rücksicht auf die Aufgaben und Risiken der entsprechenden Berufe hinzunehmen366. Daraus folgt, daß höhere Standards zulässig sind, wenn ein Berufsangehöriger nach erfolgreicher Ausbildung entsprechend verantwortungsvolle Aufgaben wie ein Arzt hat 367 .

(3) Objektive Zulassungsschranken Auf der dritten Stufe ist ein Eingriff nur unter strengen Voraussetzungen und unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 368 zur "Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut" zulässig 369. Zu den Schwierigkeiten, diese Begriffe mit Leben zu füllen und damit der dritten Stufe ihre Schärfe zu verleihen, ist vorher bereits eingegangen worden. (a) Insbesondere staatliche Monopole Besondere Beachtung soll im folgenden der Existenz staatlicher Monopole, insbesondere den Verwaltungsmonopolen, gewidmet werden370. Unter einem Verwaltungsmonopol versteht man die Übernahme von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung durch staatliche Unternehmen. Wo ein solches statuiert ist, gibt es für den Bürger keine Möglichkeit, einen Beruf zu ergreifen 371 . Wegen dieser berufsausschließenden Wirkung haben sie für die Berufsfreiheit eine besondere Signifikanz entsprechend einem Eingriff auf der dritten Stufe372• Dementsprechend muß die Errichtung und Aufrechterhaltung von Verwaltungsmonopolen den Legitimationskriterien 365 Zur Verfassungsmäßigkeit des großen Befähigungsnachweises im Handwerk s. BVerwG GewArch 1999, 108; s.a. EuGH Slg.1995I, 311; ausführlich zu der Entscheidung desEuCH Leisner, GewArch 1998,445. 366 BVerfGE 25, 236, 247; 13, 87, 117 f- Zahnheilkunde. 367 Tettinger, AöR 108 (1983), 92, 120. 36 8 Jarass, in: Jarass/Pieroth Art.12 RN31. 369 BVerfGE 7, 377, 414f. Das Problem der Formulierung zeigt sich in der Beliebigkeit der Anwendung: so in 11, 168, 184f Leistungsfähigkeit des öffentlichen Verkehrs), 21, 173, 179 (Steuerrechtspflege); 40, 196, 218 (Wirtschaftlichkeit der Deusehen Bundesbahn); 69, 209, 218; 75, 246, 267 (Schutz vor ungeeigneten Rechtsberatem); 84, 133, 151 f (Schneller Aufbau einer schnellen Verwaltung in den neuen Ländern) oder auch betreffend den Numerus Clausus im Ausbildungsbereich 33, 303, 338f. 37o BVerfGE 21, 245, 251 ff; 21, 261, 266. 371 Breuer, HbdStR VI § 48, RN 62. 372 BVerfGE 21,245, 249; BVerwGE 39, 159, 168; 62,224,230.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

des Art. 12 I GG genügen 373 • Dabei wird betont, daß die Überprüfung der Rechtfertigung eines Monopols nicht nur dessen sachliche Vertretbarkeit ergeben darf, sondern darüber hinaus nachweislich immer noch gerechtfertigt sein muß374. Um festzustellen, ob die Monopolisierung einer bestimmten Tätigkeit in öffentlicher Hand notwendigerweise errichtet oder beibehalten werden muß, unterscheidet man zwei Arten von Verwaltungsmonopolen, zum einen wirtschaftlich-daseinsvorsorgerische und zum anderen genuin-hoheitliche Verwaltungsmonopole. Während erstere ebenso von Privaten wahrgenommen werden können und mithin eine Beeinträchtigung der Berufsfreiheit entfalten können- somit an Art. 12 I G gemessen werden müssen - stehen letztere unter staatlichem Funktionsvorbehalt - eine Übertragung auf Private (z. B. bei der Wahrnehmung von Gefahrenabwehrmaßnahmen) wäre mit dem staatlichen Gewaltmonopol und dem hoheitlichen Funktionsvorbehalt unvereinbar375. Insgesamt wird man bei der Würdigung von Verwaltungsmonopolen dem Gesetzgeber einen gewissen Beurteilungsspielraum bei der Frage nach der Erforderlichkeit des Monopols einräumen376. (b) Einfluß der europäischen Rechtsentwicklung Gerade im Bereich der staatlichen Monopole zeigt sich der Einfluß europäischer Rechtssetzung und Rechtsprechung auf das deutsche Recht. Das Gemeinschaftsrecht stellt Dienstleistungsmonopole von vornherein unter einen Rechtfertigungszwang und hat tendenziell deregulierende Wirkung. Verwaltungsmonopole, die nach deutschem Recht als mit Art.12I GG vereinbar angesehen wurden, haben angesichts der europäischen Entwicklung wanken müssen, wie die bereits zitierte Privatisierung von Post, Telekommunikation und Bahn gezeigt hat. Dabei geht die m. E. richtige Einschätzung dahin, daß der aktuelle nahezu europaweite Entstaatlichungsprozeß erst am Anfang steht und noch weitere Märkte erfassen wird 377. Ein in Ansehung der derzeitigen Entwicklung geradezu klassisch anmutendes Beispiel ist das Arbeitvermittlungsmonopol, welches aus diesem Grunde aber nicht minder Bedeutung erlangt hat. 373 Vgl. BVeljGE 41,205, 227f; 14, 105, 111; 37,314, 322;BVerwGE96, 302, 307; Breuer, in: HbdStR VI § 48 RN 65, S. 1008; Gube/t, in: v. Münch, Art. 12, RN 67; Papier, in: HbVerfR S.623ff. 374 Tettinger, in: AöR 108 (1983), 92, 122m. w. N. m BVerwGE 96, 302, 308; vgl. Papier, in: FS Stern, S. 545, 549. 376 Wegen der Kompetenz-Kompetenz bei der Bestimmung staatlicher Aufgaben; vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 12, RN 43c. 377 Man kann an die Bereiche der Energie, des Versicherungswesens und den Verkehr denken, vgl. Tettinger, in: DVBI 1994, 88; Mösche/, in: JZ 1988, 885; König, in: VerwArch 79 (1988), 241; Schoch, in: DVB11994, 962; Mestmäcker, in: FS Steindorff, 1990, 1045; Eh/ermann, in: EuR 1993, 134; Schmidt, Privatisierung und Gemeinschaftsrecht, in: Die Verwaltung 28 (1995), 281, 314; speziell zur Elektrizitätswirtschaft Wilms, Das Europäische Gemeinschaftsrecht und die öffentlichen Unternehmen, Berlin 1996.

III. Art. 12 I GG als Abwehrrecht

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Der Bereich der Arbeitsvermittlung lag lange Zeit in ausschließlicher Verantwortung bei der Bundesanstalt für Arbeit (BA). Das Bundesverfassungsgericht sah dies 1967 auch noch als gerechtfertigt an, vor allem unter Hinweis auf den sozialen Schutzgedanken und die Transparenz des Arbeitsmarktes 378• Der EuGH hat 1991 bezüglich der Vermittlungstätigkeit von Führungskräften das Monopol der BA zum einen als Dienstleistung bezeichnet und damit dem Gemeinschaftsrecht unterstellt und dann ausgeführt, daß Mitgliedsstaaten öffentlichen Unternehmen staatliche Monopole einräumen dürften, soweit dies aus im öffentlichen Interesse liegenden Gründen nicht-wirtschaftlicher Art gerechtfertigt sei. Für den vorliegenden Fall jedoch hat es das Arbeitsvermittlungsmonopol für Führungskräfte als mit dem gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsrecht für nicht vereinbar erklärt, wenn und soweit ein grenzüberschreitender Bezug gegeben sei, die genannte Tatigkeit infolge des Monopols für private Anbieter tatsächlich verschlossen und das öffentliche Unternehmen die Nachfrage nach (Führungs-)Arbeitskräften nicht befriedigen könne 379• Das Bundessozialgericht hat sich von der EuGH-Entscheidung nur am Rande berühren lassen, indem es die hergebrachte Argumentation des Bundesverfassungsgerichts lediglich um die Ausnahme der Führungskräfte modifizierte, ansonsten aber voll für weiterhin aktuell erklärt hat 380• Der BGH hingegen hatte Zweifel ob der Aktualität der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts und legte seinen Fall gemäß Art.1001 GG vor381 • Es zeigt sich somit, daß die Entscheidung des EuGH einen Riß in die bis dato einheitliche Rechtsauffassung über das Arbeitsvermittlungsmonopol gebracht hat. Aus der Literatur kam der Rat, "anstatt über die Verteidigung eines überlebten Monopols zu räsonnieren, sollte sie (die Rechtspolitik, d. Verf.) über die zuträglichen Formen und Aufgaben einer öffentlichen Aufsicht über private Arbeitsvermittlung nachdenken" 382• Schließlich hat die Politik sich diese Aufforderung zu Herzen genommen: seit dem 1.4.1994 ist in Deutschland private Arbeitsvermittlung grundsätzlich und nicht nur für Führungskräfte erlaubt383 • Der private Arbeitsvermittler bedarf lediglich einer Erlaubnis, auf die er unter gesetzlich vorgegebenen Voraussetzungen einen Rechtsanspruch hat384• Somit ist der gesamte Bereich der Arbeitsvermittlung nunmehr für jeden prinzipiell frei zugänglich, was als solches schon einen Gewinn für die Berufsfreiheit darstellt. BVerfGE 21,245,248. EuGH RS C-41/90, Macroton, S1g. 1991 I, 1979; ausführlich Bouros, Das Arbeitsvennittlungsmonopol, S. 118 ff m. w. N. 380 BSGE 70, 206. 381 BGH Vorlagebeschluß vom 25.9.1991 IV ZR87/90, NZA 1992, 45ff. 382 Eichenhofer, in: NJW 1991,2857,2860, ebenso bereitsRauschenhofen, Das Arbeitsvermittlungsmonopo1, 1974, 184ff. 383 BGBI. I, S. 2352 ff, vgl. Eichenhofer, Sozialrecht, RN 457; zum Vergleich in anderen EUMitgliedsstaaten vgl. Peglan/Sciborski, Das Arbeitsvennittlungsmonopol im europäischen Vergleich, in: ZRD 1993, 42; Bouras, Das Arbeitsvennittlungsmonopol S. 29 ff; Schröder, Das Arbeitsvennittlungsmonopol, S. 121 ff jeweils m. w. N. 384 Dieser besteht gemäß § 293SGB III, wenn der Betreffende die erforderliche Eignung und Zuverlässigkeit hat. 378

379

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

Darüber hinaus läßt sich die Hoffnung äußern, daß dies nicht nur den Arbeitsvermittlern, sondern auch zu Vermittelnden Arbeitsplätze und damit die Möglichkeit zur Grundrechtswahrnehmung aus Art. 12 I GG eröffnet.

e) Anwendung der Stufentheorie durch das Bundesverfassungsgericht heute Die Stufentheorie des Bundesverfassungsgerichts ist in der Literatur stets auch viel Kritik begegnet. Insbesondere dadurch, daß die Anwendung der Stufentheorie die Verhältnismäßigkeitsprüfung de facto verkürzt auf die jeweils gewählte Stufe, gehe - so die Kritik - die Einteilung nicht mit der wirklichen "Intensität" des Eingriffes einher 385• Das führe dazu, daß die Stufentheorie im Einzelfall nicht genau genug sei 386• Daß, um diesem Einwand gerecht zu werden, die Stufenzuteilung nachträglich korrigiert werde, würde erst recht deutlich machen, daß die Stufentheorie überflüssig sei. Darüber hinaus wird der Stufentheorie angelastet, den Begriff des Gemeinwohls unklar zu fassen und mittels der Berufsbildfixierung die Möglichkeit zur Manipulation zu eröffnen 387• Das Bundesverfassungsgericht wendet die Stufentheorie heute nicht mehr in der strikten Form an, wie es sie im Apothekenurteil im Jahr 1958 entwickelt hat. Bereits 1961 hat das Bundesverfassungsgericht im Handwerksordnung-Beschluß erklärt, daß die Stufentheorie das Ergebnis strikter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sei 388• Für die jüngeren Entscheidungen kann registriert werden, daß das Bundesverfassungsgericht wichtige Bestandteile der Stufentheorie aufgegeben und wesentlich stärker am klassischen Maßstab des Verhältnismäßigkleitsgrundsatzes geprüft hat. Deutlich wurde dies beispielsweise bei einigen Entscheidungen, in denen es stärker auf den Bewertungsmaßstab der Zumutbarkeit für den Betroffenen abstellt389• Geblieben ist zwar die Differenzierung nach Berufsausübungs- und Berufswahlregelungen, subjektiven und objektiven Zulassungsvoraussetzungen und unterschiedlich bemessenen legitimierenden Gemeinwohlzwecken. Sind solche Zwecke gegeben, so wird heute nur noch gefragt, ob die gesetzliche Regelung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt 390• In dieser Anwendung verleiht die Stufentheorie als strukturgebender Rahmen 39 1 der Abwägung im Rahmen der Verhältm Langer, in: JuS 1993,202,208, 210;/psen, in: JuS 1990, 638,Lecheler, in: VVdStRL43 (1985), S. 57ff. 386 Bryde, in: NJW 1984,2177,2182. 387 Rupp, in: AöR 92 (1967), 212, 236; so auch Gusy, in: JA 1992,257, 263f; Czybulka, in: NVwZ 1991, 145, 146f;lpsen, in: JuS 1990,624,635;Rittstieg, in: AK,Art.12, RN 53 m. w.N.; zur weiteren Kritik vgl. Übersicht bei Tettinger, in: Sachs Art.12, RN 123ff. 388 BVerfGE 13, 30, 43f, wiederholt u.a. in E25, 1, 12; 30, 292, 315; 46, 120, 138. 389 Z.B. BVerfGE 16,286, 297; 22,380, 385; 23, 50, 60; 25, I, 12; 30,292, 3l6f; 64, 72, 82; 70, 1,28;77,308,332;76, 196,207;81, 70,89~ 85,248,259; 85, 360,377. 390 Vgl. BVerfGE 61,291, 312; 68,272, 282; 71, 162, 172; 76, 196, 207; 77, 84, 106fff; 81 , 70, 89; 75, 246, 269; Stern, Staatsrecht III2, S. 803; Tettinger, in: AöR 108 (1983), 92, 122ff; Schneider, in: VVDStRL 43 (1985), 8, 37; Jpsen, in: JuS 1990, 634ff. 391 So Pietzcker, in: NVwZ 1984, 550, 551 .

V. Teilhabe- und Leistungsrechte aus Art. 12 I GG

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nismäßigkeit schärfere Konturen, Präzision und ein gesteigertes Maß an Rationalität und ist auf diese Weise in der Lage, die Effizienz der Berufsfreiheit gerade auch dem Gesetzgeber gegenüber zu steigern392• IV. Art. 12 I GG als verfassungsrechtliche Wertentscheidung Neben der abwehrrechtlichen Dimension wird in den Grundrechten seit der richtungsweisenden Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 393 zudem eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gesehen. Mit dem Grundrechtskatalog sei eine Wertordnung erstellt worden, in deren Mittelpunkt sich die innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltende Persönlichkeit und ihre Würde befinde 394• Hierdurch werde die Wirkkraft des Grundrechts verstärkt. Die in der liberalen Tradition noch verhaftete Entscheidung 395 bot die Grundlage für die Weiterentwicklung der Grundrechtsauslegung. Heute dient der Begriff des objektiv rechtlichen Gehalts der Grundrechte als Sammelbegriff für alle die Funktionen der Grundrechte, die über die subjektive Abwehrposition hinausgehen. Es lassen sich in diesem in der Entwicklung befindlichen Bereich der Auslegung drei Arten von Gewährleistungen ausmachen. Das sind die Teilhabe- und Leistungsansprüche, Ausstrahlungswirkungen und Schutzpflichten396• Konkret stellt die Gewährung der Berufsfreiheit darüber hinaus eine "verfassungsrechtliche Wertentscheidung für einen bestimmten Lebensbereich" 397 dar, die Entscheidung für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung, in der die Berufsfreiheit ein Eckpfeiler für die geltende Wirtschaftsordnung ist398• V. Teilhabe- und Leistungsrechte aus Art. 12 I GG Liberale Freiheitsgarantien sind für die Individuen nur in dem Maße etwas wert, wie sie die sozialen Chancen haben, realen Gebrauch von der Freiheit zu machen 399, literarisch ausgedrückt handelt es sich hier um "die majestätische Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln oder Brot zu stehlen"400• Angesichts der Mittel und Möglichkeiten des modernen Staats wird die ungleiche Verteilung der Chancen nicht als Papier, in: DVB11984, 801, 804. BVerfGE 7, 198. 394 BVerfGE 7, 198, 204 f . 395 Vgl. Scheuner, in: DÖV 1971, 505, 507ff; Martens, in: VVdStRL 30 (1972), 7, 14ff; Hesse, Verfassungsrecht, RN 297 ff. 396 Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 42; Pieroth!Schlink, Staatsrecht li, RN 76. 397 BVerfGE 7, 377, 404. 398 BVerfGE 50, 290, 330, ähnlich bereits 7, 377, 400; anschau1ichZöllner, in: NJW 1990, 1, 7. 399 Schmidt-Eriksen, in: DtZ 1990, 108, 111; Tettinger, in: AöR 108 (1983), 92, 127. 400 Anatol France, Le Iis rouge 1894, nach Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 332. 392

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

Schicksalsschlag, sondern als Folge der Rechts- und Gesellschaftsordnung begriffen, für deren Ausgestaltung letztlich der Staat verantwortlich ist. Aus dieser Verantwortlichkeit leitet sich die Pflicht zum Ausgleich der durch die Gesellschaftsund Rechtsordnung bewirkten Ungleichheit ab 401 • Vielleicht noch stärker als bei anderen Grundrechtsgewährleistungen folgt aus der Berufsfreiheit eine Verantwortung des Staates, dafür Sorge zu tragen, daß jeder auch in Gebrauch dieser Freiheit kommen, d. h. einer Erwerbsarbeit nachgehen kann. Das ergibt sich aus dem kommunikativen Charakter der Norm, d. h. daß die Grundrechtswahrnehmung im Zusammenspiel mit anderen erfolgen muß, sowie der besonderen Bedeutung, die der Beruf für den Einzelnen auch als Teil der Gesellschaft hat. 1. Staatsziel Berufsfreiheit?

Anders als in den meisten Landesverfassungen und noch in der WRV finden sich explizite soziale Grundrechte im Grundgesetz nicht. Hintergrund der Auslassung solcher Gewährleistung war, daß sie in der WRV weithin uneingelöste Versprechungen geblieben waren und das Vertrauen in die Verfassung erschütterten402 • Gerade das dort statuierte Recht auf Arbeit403 muß Hohn gewirkt haben angesichts der Heerscharen von Arbeitslosen während der Weltwirtschaftskrise in den 20er Jahren. Wegen des Scheiteros in und an der Realität entstand das Grundgesetz in ,juristisch nüchternem Geist" 404, gemessen an der Praktikabilität und Durchsetzbarkeil der Normen. Auch nach der deutschen Einheit wurden keine sozialen Gewährleistungen in das Grundgesetz aufgenommen. Obwohl oder gerade weil diese die DDR-Verfassung maßgeblich prägten, hielt man sie mehrheitlich in einer gesamtdeutschen Verfassung für entbehrlich und strukturwidrig40s. Dennoch ist das Grundgesetz nicht frei von sozialen Gewährleistungen. Das Sozialstaatsprinzip in Art. 20 I, 28 I GG, ein tragender Verfassungsgrundsatz und Strukturprinzip des Grundgesetzes, welches das anzustrebende Ziel der sozialen Gerechtigkeit und Sicherheit postuliert406 • Ob Art.l21 GG, evtl. in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, den Staat zu einer bestimmten Politik verpflichten und/oder darüber hinaus als Grundlage subjektiver also einklagbarer Ansprüche dienen kann, wird im folgenden an den Beispielen des Rechts auf Arbeit und der Berufsausbildung dargestellt. 4()I

402

33f.

Bleckmann, in: DVBI1988, 938,944. Murswiek, in: HbdStR V§ 112 RN 44 m. w. N., S. 262; Badura, in: FS Hersehe!, S. 21,

Art.1631IWRV, vgl. oben Kapitel AII2. /sensee, in: Der Staat 19 (1980), 367. 4()S V gl. Limbach, in: FS Helmeich S. 279 ff; Simon, in: FS Benda, S. 337, 351. Kritisch wird angemerkt, daß ,,nur von einer Verfassung, die in ihrem Grundrechte- und Staatszielkatalog über das Ethos des Staates Aufschluß gebe, ... eine friedens- und gemeinschaftsstiftende Wirkung erhofft werden" könne. 406 Vgl. nur Stern, Staatsrecht I §21 S.678ff; aktuell Schnapp, Was können wirüber das Sozialstaatsprinzip wissen?, in: JuS 1998, 873. 4()3

4ll4

V. Teilhabe- und Leistungsrechte aus Art. 12 I GG

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a) Recht auf Arbeit Als Prototyp aller sozialen Grundrechte407 gilt das Recht auf Arbeit. Es geht zurück auf die Anfänge der modernen Grundrechtsentwicklung. Ludwig XVI hatte es zu Beginn seiner Regierung 1848 unter Eindruck der französischen Revolution mit starken Worten als erstes, heiligstes und unveräußerlichstes Menschenrecht verkündet408. Trotz der bewußten Entscheidung gegen die Einführung eines solchen Passus in die Verfassung könnte sich aus dem Systemzusammenhang - also Art. 12 I GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip - eine Verbürgung entsprechenden Inhalts ergeben. Fraglich ist nur, welchen Inhalt diese hat. Dem Wortlaut nach klingt ,,Recht auf Arbeit" nach einem Versprechen, jedem (Deutschen) einen- möglichst angemessenen- Arbeitsplatz zu verschaffen. Derart weitgehend wird das Recht auf Arbeit nach allgemeiner Meinung nicht ausgelegt. Eine derartige Verpflichtung wäre nur bei einer zentral verwalteten Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zum Preis der Freiheit möglich409; dem Recht folgte sodann die Pflicht zur Arbeit410 • Darüber hinaus verstieße eine solche Verpflichtung gegen die Bindung des Staates an die staatliche Wtrtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, die auf Wahrung bzw. Wiedererlangung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes zielt. Der Staat kann daher nicht gezwungen werden, unter Mißachtung der anderen Komponenten des ökonomischen Gleichgewichtes (vgl. § 1 StabG), Vollbeschäftigung herzustellen411 • Hinzu kommt, daß die Schaffung derartig vieler Arbeitsplätze den Staat vor das Problem stellen würde die Arbeit auch entlohnen zu müssen. Das wäre nicht leistbar. Ein originäres Recht auf Arbeit müßte wie alle Leistungsansprüche dem "Vorbehalt des Möglichen" 412 unterliegen, was ihn in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, also wenn Menschen auf das Recht angewiesen wären, ins Leere laufen ließe. Außerdem wäre ein Recht auf Arbeit bzw. die damit verbundene Pflicht zur Arbeit nicht mit Art. 9 III GG vereinbar. Auch die Koalitionsfreiheit ist ein im Grundsatz liberales Freiheitsrecht, welches die staatliche Gewalt zur Eingriffsunterlassung verpflichtet. Den Koalitionen steht das Recht zu, durch spezifisch koalitionsmäßige Betätigung die verfassungsrechtlich vorgegebenen Zwecke, nämlich die Wahrung und 4lT7 Siehe Art. 6 des Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale, kulturelle Rechte (CIPWSKR) vom 19.10.1966 und die Art. 1 der Sozialcharta vom 18.10.1961; die Landesverfassungen von Bayern {Art. 166), Berlin (Art. 18), Brandenburg (Art. 42, 48), Hessen (Art. 28), Rheinland-Pfalz (Art. 53 II), Saarland (Art.45), Sachsen (Art. 7), Sachsen-Anhalt (Art. 39), und Thüringen (Art. 36) haben das Recht auf Arbeit als Staatsziel konstituiert. 408 Vgl. Hartung, Die Entwicklung der Menschenrechte S.24. 409 Limbach, in: FS Helmrieb S. 279, 282. 4to Vgl. Art. 24 DDR-Verfassung. 411 Badura, in: FS Hersehe! S. 21, 33f; Papier, in: DVBl 1984, 801, 8ll; Schneider, in: VVdStRL 43 ( 1985) S. 8, 36. 412 Als rechtliche Kategorie vgl. BVerfGE 33,303, 333; Badura, in: Der Staat 14 (1975), 17, 45; /sensee, in: Der Staat 19 (1980), 367, 381.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, vorzunehmen413 • Unter spezifisch koalitionsmäßige Betätigung fällt z. B. auch der Arbeitskampf als Regelungsverfahren414. Die Möglichkeit, den Arbeitskampf als Mittel zur Durchsetzung von Interessen zu benutzen, ist nicht vereinbar mit einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Arbeit. Es stellt sich also heraus, daß es kein einklagbares Recht auf einen Arbeitsplatz geben, Arbeitslosigkeit also nicht gänzlich verhindert werden kann. Wohl aber ergibt sich aus dem Sozialstaatsprinzip i. V. m. Art. 12 I GG ein Anspruch auf unterstützende Maßnahmen, welche das Zurechtfinden auf dem Arbeitsmarkt erleichtern sollen und der "sozialen Abfederung von Arbeitslosigkeit" 415 dienen. Darunter fällt das Bereitstellen von Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, Ansprüche auf Umschulung, berufliche Weiterbildung und auf Unterhalt, soweit eine angemessene Arbeitstätigkeit nicht nachgewiesen werden kann416.

b) Recht auf Bildung Daß eine ausreichend umfangreiche Bildung417 dem Menschen nicht nur persönliche Erbauung bietet, sondern auch für ein erfolgreiches Berufsleben unabdingbar ist, versteht sich eigentlich von selbst. Da viele Ausbildungsgänge und fast der gesamte Hochschulbereich in staatlicher Hand sind, ist der Einzelne bei der Wahrnehmung seiner Ausbildungsfreiheit, die, wie bereits festgestellt, ebenso über Art. 12 I GG geschützt ist, darauf angewiesen, daß der Staat ihm einen Ausbildungsplatz stellt418 . Den Hochschulbereich betreffend hat das Bundesverfassungsgericht in für die Entwicklung der Teilhaberechte wegweisenden Urteilen Tendenzen gezeigt, Grundrechte im Hinblick auf sozialstaatliche Anforderungen über ihre klassische Abwehrfunktion hinaus behutsam in Richtung auf Teilhabeberechtigungen hinfort413 414

257.

BVerfGE 50,290, 367. BVerfGE 58,233, 246; allgemein Zöllner, in: AöR 98 (1973), 71; Hanau, in: AuR 1983,

Badura, in: FS Herschel, S. 21, 33 f, so auch Schneider, in: VVdStRL 43, 8, 36. Bereits in der Paulskirche gab es die Überlegung, das Recht auf Arbeit in die Verfassung miteinzubeziehen. Darunter wurde die ,,Freiheit des Daseins", das Recht nicht zu verhungern, verstanden; vgl. Scho/ler, Soziale Grundrechte in der Paulskirche, in: Der Staat 13 (1974), 51, 66f. 417 Der Brockhaus versteht unter Bildung "Vorgang und Ergebnis einer geistigen Formung des Menschen, in der er als instinktmäßig nicht festgelegtes Wesen in Auseinandersetzung mit der Welt, besonders mit Gehalten der Kultur, zur vollen Verwirklichung seines Menschseins, zur ,Humanität' gelangt ..." dtv-Brockhaus Lexikon Bd.2 1982 418 Im übrigen unterfällt das ,,Recht auf Bildung" den grundrechtliehen Gewährleistungen in Art.21, 3 I, 41, II, 5III, 611, 7, 7IV l GG- vgl. Faller, Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Bildungsbereich, in: EuGRZ 1981, 611, 613; vgl. die Gewährleistungen in fast allen Landesverfassungen zu dem Recht auf Bildung (Ausnahmen bilden das Saarland und RheinlandPfalz, dabei handelt es sich um die ältesten Verfassungen von 1946 bzw. 47). 415

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V. Teilhabe- und Leistungsrechte aus Art. 12 I GG

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zuentwickeln 419• Weil das Grundrecht der freien Wahl der Ausbildungsstätte ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos 420 sei, erkennt das Bundesverfassungsgericht ein prinzipielles grundrechtlich fundiertes Recht auf Zulassung zum Studium an. Dieses Recht kann sich aber nur auf bereits vorhandene Ausbildungsplätze beziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in diesem Zusammenhang die Frage nach einem einklagbaren Individualanspruch auf Schaffung von zusätzlichen Studienplätzen (sog. originäres oder absolutes Teilhaberecht) erörtert, sie aber schließlich ausdrücklich offengelassen und den "Vorbehalt des Möglichen" betont421 • Diese Position hat es später im sog. zweiten numerus clausus-Urteil unter stärkerer Heraushebung der bildungs-und haushaltspolitischen Verantwortung des Gesetzgebers im wesentlichen bestätigt422 • Bei Fehlen einer ausreichenden Zahl von Studienplätzen ist demnach auch ein absoluter numerus clausus für bestimmte Fächer möglich. Es wird aber im Interesse einer Optimierung des Grundrechtsschutzes nur dann für zulässig erachtet, wenn er in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter erschöpfender Nutzung der vorhandenen, mit öffentlichen Mitteln geschaffenen Ausbildungskapazitäten angeordnet wird und wenn Auswahl und Verteilung nach sachgerechten Kriterien mit einer Chance für jeden an sich hochschulreifen Bewerber und unter möglichster Berücksichtigung der Wahl des Ausbildungsortes erfolgen423 • 2. Europäisierung des Rechts auf Arbeit und Bildung

Um einen gesamteuropäischen Markt zu schaffen, ist es notwendig, daß die Menschen sich diesen erschließen - d. h. sich in ihm bewegen und überall niederlassen und Arbeit finden können. Dazu bedarf es eines vergleichbaren Bildungsstandes und, wie Art. 2 EGV es als Ziel beschreibt, eines hohes Beschäftigungsniveaus in der gesamten Union. Damit möglichst viele Menschen die Gelegenheit erhalten, vom gemeinsamen Markt zu profitieren, ist besonders daran gelegen, den gemeinsamen Arbeitsmarkt zu stärken und im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung die Vereinheitlichung voranzutreiben. Dies tut die Gemeinschaft mithilfe spezieller Förderungsprogramme und Aktionen. Um die Beschäftigung zu erhöhen, wurde der Europäische Sozialfonds errichtet, der vor allem zum Ziel hat, Regionen 41 9 Friauf, in: JA 1984, 537, 542, dazu Häberle, in: VVdStRL 30, 7 ff, 43 ff; Friauf, in: DVBl 1971 , 674; Tettinger, in: AöR 108 (1983), 92, 126ff; Meessen, in: JuS 1982, 397. 420 BVerfGE 33, 303, 331. 421 BVerfGE 33, 303, 332ff. 422 BVerfGE 43,291, 313ff. 423 BVerfGE 33,303, 338; 43,291, 313ff; 591,21 ff; ein Überblick über die Judikatur findet sich bei Schuppen, Der Zugang zu Universitäten, in: FS Hirsch 1981,567, Becker/Brehm, Die Entwicklung des Hochschulzugangsrechts in den Jahren 1989-93, in: NVwZ 1994,750. Der in diesem Zusammenhang vielfach behandelte Komplex der Berufslenkung durch Ausbildungsplatzbereitstellung kann hier nicht erörtert werden, vgl. Pitschas, Berufsfreiheit und Berufslenkung 1983; Tettinger/Widera, Verfassungsrechtliche Aspekte einer landesweiten Kapazitätenerweiterung in der Lehreinheit vorklinischer Medizin, in: WissR 23 (1990), 101, 199.

7 Bonmann

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

im Entwicklungsrückstand zu fördern424. Ergänzend hat die Europäische Kommission 1990 drei Gemeinschaftsinitiativen zur beruflichen Bildung von bestimmten Beschäftigungsgruppen ins Leben gerufen425. Im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung wurden zahlreiche Austauschprogramme statuiert, die die Mobilität während der Ausbildung fördern und damit helfen sollen, die europäische Integration voranzutreiben426. Gleichzeitig folgt aus der europäischen Bildungspolitik427- gefußt auf Art.149, 150 EGV und der Rechtsprechung des EuGH auch im Bereich zur Ausbildung die Gleichbehandlung von Unionsbürgern 428 . Das bedeutet, daß die ausbildungsbezogenen Gewährleistungen, die der Staat Deutschen gegenüber bereithält, EU-Ausländern nicht vorenthalten kann. Darunter fällt der gleichberechtigte Zugang zu Bildungs- und Ausbildungeinrichtungen, zum Teil auch die Gewährung von Ausbildungsbeihilfen429. VI. Ausstrahlungswirkung der Berufsfreiheit auf das Privatrecht Auch bürgerlich-rechtliche Vorschriften und deren Auslegung durch die Gerichte dürfen nicht im Widerspruch zur Verfassung stehen 430 - diese so selbstverständlich klingende Erkenntnis verbirgt sich hinter dem Begriff der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte, die, wohl aus historischen Gründen431 , anfangs von den Zivilrechtlern nicht gern akzeptiert wurde, inzwischen aber unbestritten ist. 424 V gl. ausführlich Bauer, Gemeinschaftsrechtliche Regelungen im Bereich der beruflichen Bildung, S. 128 ff. 425 Kommissionsdokument SEC (90), 1570 vom 8.8.1990: EUROFORM, die Förderungen im Zusammenhang mit technologischem Wandel vornimmt; NOW speziell für die Eingliederung von Frauen ins Erwerbsleben und HORIZON zur Unterstützung Behinderter und benachteiligter Gruppen. 426 Allgemeinbildende Programme sind Erasmus, Lingua, Sokrates, Jugend für Europa und Tempus; Programme der beruflichen Bildung sind Petra, Comett, Eurotecnet, rorce und Leonardo- Allein mit dem Erasmus-Programm haben im Studienjahr 1995/96 170.000 Studierende in einem anderen Land verbracht. vgl. Grünbuch der Europäischen Kommission KOM (96), 462. 427 Staudermayer, in: BayVBI 1995, 321; ders., in: WissR 1994,249 m. w. N. 428 EuGH RS 293/83 - Gravier, Slg. 1985, 593; den Einfluß der Gravier-Entscheidung auf das deutsche Recht hat Oppermann in dem Gutachten: Gemeinschaftsrecht und deutsche Bildungsordnung (Bonn 1987) dargestellt. 429 Das gilt uneingechränkt aber nur für die Kinder von sog. Wanderarbeitern und solchen, die bereits fünf Jahre im Land berufstätig waren, für andere gilt das nur für Ausbildungsbeihilfen zur Deckung von Einschreibe- und Studiengebühren. vgl. EuGH RS 9!74- Casagrande, Slg.1974, 773ff; RS39/86-Lair, S1g.l988, 3161; RS C-357/89-Ramlin, S1g.l992, 1027. 430 BVerfGE1, 198, 205f; 42, 163, 168; 73,261, 269; 81,242,254. 431 Dieser Vorbehalt läßt sich aus der Entstehungsgeschichte erklären. Als die grundlegenden zivilrechtliehen Gesetze (HGB, BGB, ZPO) in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstanden sind, entsprachen sie den Freiheitsvorstellungen der damaligen Zeit besser als das öffentliche Recht. Die Grundrechte spielten in der Rechtswirklichkeit keine Rolle. Dies änderte sich erst mit der Verabschiedung des Grundgesetzes und den gesellschaftlichen Veränderungen, denen sich das Privatrecht zum Teil nur mühsam anpaßt, man denke nur an die Umsetzung des Gleichbehandlungsgebots aus Art. 3 II GG in das Zivilrecht.

VI. Ausstrahlungswirkung der Berufsfreiheit auf das Privatrecht

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Die Grundentscheidung zum Verständnis des Grundgesetzes als Wertordnung, die bereits im Lüth-Urteil angelegt war, erlangt in letzter Zeit erneuten Aufschwung, nicht zuletzt durch einige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen die Bedeutung der Grundrechte für das Zivilrecht hervorgehoben wurde. Schon wird von einer Konstitutionalisierung des Privatrechts gesprochen und die Gefahr geäußert, die Privatrechtsordnung gerate "zunehmend unter den Einfluß der Grundrechte" 432 • Während die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers, der Verwaltung und des Richters sich aus Art. 1 III GG selbstverständlich auch auf den Erlaß von Privatrechtsnormen bezieht433 , ist hinsichtlich der Bindung Privater die Frage schwieriger zu beantworten. Wie anfangs 434 gesehen, sind Private nicht unmittelbar Adressaten der Grundrechte. Lücke 435 hat einen Vorschlag gemacht, wie eine unmittelbare Grundrechtsbindung im deutschen Recht verfassungsdogmatisch zu begründen wäre. Er leitet die unmittelbare Bindungswirkung für ("mächtige") Private mittels Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG her. Der Wortlaut: "Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen ... " ist seiner Ansicht nach sowohl eine Berechtigungs- als auch eine Verpflichtungsnorm. Die Verknüpfung von Grundrechten und -pflichten sei dem Grundgesetz nicht fremd, wie Art.14 Abs. 2 S.1 GG zeige. Solche Verpflichtungen beträfen gemäß Art.19 Abs. 3 GG auch juristische Personen. Soweit ihrem Wesen nach auf das Privatrechtsverhältnis anwendbar, könnten mithin die Grundrechte auch zwischen Privaten Geltung beanspruchen. Bislang hat diese Position noch nicht viel Echo erhalten, so daß von einer Ablehnung der unmittelbaren Drittwirkung weiterhin ausgegangen werden muß. Gerade was die Ausübung der Berufsfreiheit anbelangt, ist das Verhältnis Privater zueinander aber häufig maßgeblich, schließlich sind die meisten Arbeitsverhältnisse zwischen einem privaten Arbeitgeber und einem privaten Arbeitnehmer geschlossen, stellt die Arbeitsvertragsfreiheit einen Teil des Gewährleistungsgehaltes aus Art. 12 I, 9 III GG dar436 • Die Anknüpfung des Verhaltens Privater an die Grundrechte erfolgt über das Instrument der mittelbaren Dritt- oder Ausstrahlungswirkung. Das Bundesverfassungsgericht sieht als Gegenstand der mittelbaren Anwendung "über das Medium der das einzelne Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften", insbeson432 Oldiges, in: FS Friauf, S. 281, weitere Literatur z. B. Hager, Grundrechte im Privatrecht, in: JZ 1994, 373; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, in: AcP 184 (1984), 201; Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht 1989; Ramm, Grundrechte und Arbeitsrecht, in: JZ 1991, 1. 433 BVerfGE 84, 9, 17ff; 75,201, 218; 79,283,290. 434 Unter C II 7. in dem Abschnitt: unmittelbare Bindung Privater. 43~ Lücke, Die Drittwirkung der Grundrechte an Hand des Art.19III GG, in: JZ 1999, 377; ders. in: JÖR 47 (1999), 467. 436 Rüfner,in: GSMartens,S.215,223; ähnlichSpieß,in: DVB11994, 1222, 1225;0/diges,in: FS Friauf 8.281, 291.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

dere Generalklauseln und auslegungsbedürftige Begriffe437 , die in den Grundrechtsnormen verkörperten Werte, d. h. ihren objektiv-rechtlichen Gehalt438 • Es zeigt sich also, daß die Wirkung im Privatrecht eine Konsequenz aus der Grundrechtsbindung von Gesetzgebung und Rechtsprechung ist. Es geht nicht um eine Grundrechtsbindung der Bürger im Verhältnis untereinander. Die Lehre von der Ausstrahlungswirkung enthält gleichzeitig eine subjektiv-rechtliche Komponente: verkennt ein Gericht den grundrechtlich relevanten Gehalt einer Norm, so verletzt es als Träger öffentlicher Gewalt durch sein Urteil das Grundrecht, auf dessen Beachtung der Bürger einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat439 • Soweit allerdings die Einwirkung des Grundrechts auf privatrechtliche Vorschriften in Frage stehen, können ihm in Hinblick auf die Eigenart der geregelten Rechtsverhältnisse andere unter Umständen engere Grenzen gezogen sein als in seiner Bedeutung als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe 440 • Das beruht auf dem Umstand, daß im Bereich des Privatrechts die Privatautonomie selbst grundrechtlich geschützt ist, ein Verstoß gegen ein anderes Grundrecht also gleichzeitig den Gebrauch einer grundrechtlich geschützten Freiheit bedeutet. Die Verwerfung einer vertraglichen Norm als grundrechtswidrig muß folglich mit dem Grundsatz der Privatautonomie vereinbar sein441 • Speziell für die Berufsfreiheit läßt sich die Wirkungsweise der Dritt- oder Ausstrahlungswirkung an der Handelsvertreterentscheidung442 des Bundesverfassungsgericht aufzeigen. Die zivilgerichtliche Entscheidung, die ein mit dem Gesetz (§ 90all HGB) voll übereinstimmendes, vertraglich vereinbartes Wettbewerbsverbot unter den gegebenen Voraussetzungen für rechtmäßig gehalten hatte, wurde für mit den Wertungen des Grundgesetzes unvereinbar erklärt. Zwischen dem Handelsvertreter und seiner Vertragspartnerin liege aufgrundder (typisierten) Abhängigkeit eine gestörte Vertragsparität vor, die das vertragliche Wettbewerbsverbot nicht als eine der Berufsfreiheit wesenseigene freiwillige Selbstbeschränkung, sondern vielmehr als Fremdbestimmung erscheinen lasse. Wenn bei einer solchen Sachlage über grundrechtlich verbürgte Positionen verfügt werde, und darunter falle das Wettbewerbsverbot als Beschränkung der Berufsfreiheit, müßten staatliche Regelungen ausgleichend eingreifen, um den Grundrechtsschutz zu sichern. Das gebiete nicht zuletzt das Sozialstaatsprinzip mit seinem Schutzauftrag an den Richter, diesem zur Geltung zu verhelfen. 437 BVerfGE 73, 261 , 269: diese Ausstrahlungswirkung der Grundrechte habe der Zivilrichter bei seinem Urteil zu berücksichtigen und zur Geltung zu bringen., vgl. bereits zuvor BAGE 1, 185, 193 ff: Grundrechte als Ordnungsgrundsätze für das soziale Leben, ausf. Badura, in: FS Molitor S. 1, 2; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, RN210. 438 BVerfGE, 73, 261, 269 unter Berufung auf E7, 198, 205. 439 BVerfGE 7, 198, 206f, Pieroth/Schlink, Staatsrecht Il, RN214. 440 BVerfGE 66, 116, 135- Wallraff. 441 BVerfGE 92, 242, 253 f; 73, 261 LS I. 442 BVerfGE 81, 242; dazu Anm. Schwabe, in: DVBl 1990, 474, 477; weiterhin Hermes, Grundrechtsschutz durch Privatrecht auf neuer Grundlage?, in: NJW 1990, 1764; Canaris, in: AP Nr.65 zu Art.12; Hillgruber, in: AcP 191 (1991), 69,/sensee in: HbdStR V§ 111 , RN 130f.

VII. Objektive Schutzpflicht

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Der "Wert", der in die Privatrechtsordnung hineinstrahlt, entpuppt sich beim genaueren Hinsehen als Abwägung der differenzierten Schutzbedürftigkeit443 , d. h. das Anliegen, mittels Herstellung einer faktischen Symmetrie eine Chancengleichheit weitestmöglich zu erreichen444 • Allerdings fallt auf, daß, wenn aus Grundrechtsgründen gefordert wird, der Staat solle zum Schutz des Schwächeren vor Fremdbestimmung durch den Vertragspartner "ausgleichend eingreifen" und eine belastende vertragliche Bestimmung verbieten oder für unwirksam erklären, es sich letztlich um einen Schutzauftrag handelt. So wird diese Sequenz der Entscheidung zum Teil auch bereits als eine grundrechtliehe Schutzpflicht gedeutet445 , wenngleich das Gericht eine explizite Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechung zu der grundrechtliehen Schutzpflicht nicht vorgenommen hat, sondern die Schutzvorkehrungen ausdrücklich im Sozialstaatsprinzip verankert hat.

VII. Objektive Schutzpflicht Die Schutzpflichtlehre wurde anband von Art. 2 II i. V. m. 1 I GG im Abtreibungsurteil entwickelt446 • Danach enthält jedes Freiheitsrecht einen umfassenden Schutzauftrag, der nicht nur die eigenen Eingriffe des Staates in den Freiheitsbereich seiner Bürger verbietet, sondern ihn auch dazu verpflichtet, den Bürgern mit Mitteln der Rechtsordnung vor rechtswidrigen Zugriffen von seiten anderer zu bewahren. 447 • Dogmatischer Anknüpfungspunkt ist zudem Art. 1 III GG. Unterläßt das Gericht, die grundrechtliche Freiheitssphäre auch im Privatrecht zu bewahren, liegt darin eine Grundrechtsverletzung 448 • Primär trifft die Pflicht zur Gewährung von Schutz 443 Badura, in: FS Molitor S. 1, 5; Maunz/Zippelius, Staatsrecht§ 8 II; vgl. methodisch ebenso die neue Rechtsprechung über ruinöse Bürgschaften, insb. BVerfGE 89, 214, 229, 231, kritisch hierzu 0/diges, in: FS Friauf S.281, 297; Singer, in: JZ 1995, 1133, 1137. 444 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, RN 212, Scholz, in: FS BAG 1979, 511, 524ff;; Bleckmann, in: DVB11988, 931,944. 445 Vgl. Hermes, in: NJW 1990, 1764, 1767; Erichsen, Grundrechtliche Schutzpflichten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: JURA 1997, 85, 86; B/eckmann, in: DVBI 1988, 931, 940; vgl. in diese Richtung bereits Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971. 446 BVerfGE39, l, 41 f; nach lsensee, HbdStRV, § 11, RN80ff, 85 schließtdie Schutzrechtslehre eine "offene Flanke des Grundrechtsschutzes"; Canaris, in: JuS 1989, 161 hat sie als "missing link" in der Grundrechtsdogmatik bezeichnet; vgl. außerdemßadura, in: FS Hersehe! S.21, 34; E. Klein, in: NJW 1989, 1633; Oldiges, in: FS FriaufS.281, 303ff. 447 "Grundrecht auf Schutz" - Zum Vergleich: in Art. 1 I 2 GG ist die Pflicht des Staates konstituiert, die Würde des Menschen nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen, BVerfGE 77, 170, 214; Badura, in: FS Hersehe!, S. 21, 35; Hermes, in: NJW 1990, 1764, 1765 m. w. N.; Wahl/Mansing, in: JZ 1990, 553, 557; Dietlein, Die Lehre von den Schutzpflichten 1992, 67; Erichsen, in: JURA 1997, 85, 88; B/eckmann, in: DVBI 1988, 931,941 ff. 448 Mit dem Unterschied, daß nicht der Staat selbst der "Störer" ist vgl. Bleckmann, in: DVBI 1988, 938, 942; 0/diges, in: FS Friauf S. 281, 300ff; lsensee, HbdStR V § 111 RN 5; Oeter, Souveränität und Demokratie, in: AöR 119 (1996), 529, 536f; Singer, in: JZ 1995, 11 33, 1136.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

den Gesetzgeber. Stellvertretend hat der Richter über die Anwendung und Auslegung des einfachen Gesetzesrechts den Grundrechten zur Geltung zu verhelfen, was auch dann gilt, wenn das gesetzte Recht nicht oder nur unzureichend vorhanden ist. In einem solchen Falle folgt die unmittelbare Geltung der Grundrechte zwischen den Vertragsparteien gleichsam als Reflex. Inhaltlich tritt die Schutzpflichtenlehre in die Funktion der vormaligen Drittwirkungslehre ein und übernimmt deren Anwendungsfeld. Gleichzeitig macht sie sich die Maßstäbe, nämlich alle Grundrechte, zu eigen449 • 1991 erging die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgericht, in der die Herleitung einer Schutzpflicht aus Art.l2I GG Erwähnung fand 450• Auf die Anwendung für das privatrechtliche Arbeitsverhältnis bezogen läßt sich als erstes Indiz für die dogmatische Verankerung der Grundrechtswirkung im Privatrecht in der Lehre von der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1993 zu Art. 3 II GG und § 611 a BGB sehen 451 • In dieser Entscheidung werden zur Anwendung grundrechtlicher Schutzaufträge in einem privaten Arbeitsverhältnis erstmals die Begriffe mittelbare Drittwirkung oder Ausstrahlungswirkung nicht mehr verwandt, sondern ausschließlich auf die objektive Schutzpflicht abgestellt452 • 1. Neuere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Schutzpflichten aus der Berufsfreiheit

Konkret aus Art.12I GG hergeleitete Schutzpflichten waren Gegenstand der folgenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. In ihnen wurde der Anwendungsbereich und die Reichweite des Schutzauftrages abgesteckt.

a) Der Schutz der deutschen Seeleute vor ausländischer Konkurrenz In der Zweitregisterentscheidung453 ging es um eine Neuregelung des Flaggenrechtsgesetzes (§ 21 IV FIRG), wonach ausländische Seeleute auf deutschen Handelsschiffen zu Heimatheuern beschäftigt werden können. Die mit dem Begehren der Beschwerdeführer verbundene rechtliche Frage war, ob eine Schutzpflicht des Staates gegenüber deutschen Seeleuten besteht, die ausländische billigere Konkurrenz von deutschen Schiffen fernzuhalten. Dazu führte das Gericht wie folgt aus454: Der Staat verpflichtet sich, die Freiheitssphäre zu schützen und zu sichern. AllerVgl. lsensee, HbdStR V§ 11 RN 129; Canaris, in: AcP 184 (1984), 201, 226. BVerfGE 84, 133, 146: Hierbei ging es um die Weiterbeschäftigung ehemaliger DDRBediensteter im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland. 451 BVerfGE 89, 276, 286. 452 Ausführlich Müller, Die Berufsfreiheit der Arbeitgeber, S. 86. 453 BVerfGE 92, 26. 454 BVerfGE 92, 26,46 zum Teil unter Verweis aufE77, 170, 214; 88,203,251 ff, 254f. 449 450

VII. Objektive Schutzpflicht

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dings sei dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum bei der Erfüllung dieser Pflichten eingeräumt. Oft gehe es darum, gegensätzliche Rechtspositionen auszugleichen und jeder angemessene Geltung zu verschaffen. Dafür gebe das Grundgesetz den Rahmen, nicht aber bestimmte Inhalte vor. Dabei wird im weiteren resignativ anmutend ergänzt, daß dem Gesetzgeber nicht verwehrt sei, ,,Positionen und Koalitionen aufzugeben, die sich in der internationalen Rechtswirklichkeit ohnehin nicht behaupten"ließen455 • Eine Verletzung der Schutzpflicht könne das Bundesverfassungsgericht nur feststellen, wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen habe oder die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder unzulänglich seien, das gebotene Schutzziel zu erreichen 4~ 6 • Damit verzichtet das Bundesverfassungsgericht (zurecht) auf eine eingehende inhaltliche Prüfungskompetenz und überprüft lediglich, ob die maßgeblichen Interessen- hier im wesentlichen die Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen der Handelsschiffahrt gegen die Furcht vor personeller Verdrängung- überhaupt Berücksichtigung fanden, was es im vorliegenden Fall bejahte und deshalb die Neuregelung für verfassungsgemäß hielt.

b) Der Kündigungsschutzbeschluß des Bundesveifassungsgerichts Daß die Schutzpflichtenlehre auch dazu führt, daß Art.121 GG unmittelbare Wirkung in das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer hinein hat, hat das Bundesverfassungsgericht im Kündigungsbeschluß verdeutlicht. Darin heißt es: Es "obliegt dem Staat aber eine aus dem Grundrecht folgende Schutzpflicht ... zugunsten der Arbeitnehmer ... Den durch Art. 121 GG geschützten Interessen des Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes steht das Interesse des Arbeitgebers gegenüber ... Er (der Arbeitgeber, d. Verf.) übt damit regelmäßig seine Berufsfreiheit i. S. v. Art. 12 I GG aus ... Für den Gesetzgeber stellt sich damit ein Problem praktischer Konkordanz. Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden"457 • Da anders als bei gewöhnlichen verfassungsrechtlichen Grundrechtsprüfungen keine Abwägung zwischen Freiheitsverbürgung einerseits und dem im Schrankenvorbehalt zum Ausdruck kommenden Gemeinwohlinteresse am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips vorgenommen wird4~8 , muß in dem Fall, daß private Interessen aufeinanderprallen, der schonendste Ausgleich zwischen diesen beiden Positionen gefunden werden459• Hieraus folgt auch die Kritik an der Schutzpflichtlehre 4ss BVerfGE 95, 26, 42. Zum Umfang des gesetzgebensehen Gestaltungsspielraum auch BVerfG Beschluß vom 9.2.1998, in: NJW 98,2961. 4S6 Erichsen, in: JURA 1997, 85, 89 spricht unter Verweis auf BVerfGE 88, 203, 254 vom

Untennaßverbot 457 BVerfGE 91, 198, zum Teil unter Verweis auf BVerfGE 89, 214,232. 4SS Vgl. nur Stern, Staatsrecht llll, S. 1553. 459 Canaris, in: JuS 1989, 161, 163; Oldiges, in: FS Friauf, S. 281, 285.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

in bezug auf ihre Anwendung bei privatrechtliehen Verhältnissen. Grundrechte mit Schrankenvorbehalten seien in sich funktionierende Systeme, die auf diese Weise unzulässig verkürzt würden460 • Gleichzeitig stelle die Privatrechtsordnung ein in sich stimmiges System dar, das nicht mittels einer in "beliebigen Abwägung" verwischt werden dürfe 461 • Dieser berechtigten Kritik läßt sich dadurch begegnen, daß erneut betont wird, daß sich die Schutzpflichtlehre in erster Linie an den Gesetzgeber richtet, auch das Privatrecht grundrechtskonform auszugestalten462 • Das Gericht gewährleistet nur den verfassungsrechtlich gebotenen Minimalschutz463 • 2. Ambivalenz des Schutzgebotes bei Art. 12 I GG Der Schutzauftrag des Staates im Bereich der Berufsfreiheit ist eingebunden in ein System unterschiedlicher Interessen der beteiligten Gruppen. Zum einen findet ein Eingriff in das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer statt. Diese Regelung ist intendiert- schließlich soll gerade verhindert werden, daß der strukturell unterlegene Arbeitnehmer rechtlos dem strukturell überlegenen Arbeitgeber gegenübersteht. Ein Umstand, der sich bereits daraus ergibt, daß im Arbeitsverhältnis infolge des Direktionsrechts des Arbeitgebers ein gewisser Unterwerfungscharakter typusbildende Realität ist464 • Gleichzeitig ergibt sich das Ungleichgewicht daraus, daß typischerweise der Arbeitnehmer mehr angewiesen ist auf den konkreten Arbeitsplatz als der Arbeitgeber auf den konkreten Arbeitnehmer. Allerdings kann nicht grundsätzlich davon gesprochen werden, daß dem Schutz des Arbeitnehmers gegenüber den Interessen des Arbeitgebers der Vorzug eingeräumt wird. Denn es ist letztlich im Interesse des Arbeitnehmers, daß das Unternehmen floriert oder zumindest nicht untergeht465 • Das gilt vor allem bei kleinen und mittelständischen Unternehmen. Schutzvorschriften zugunsten von Arbeitnehmern bergen die Gefahr, daß sie die wirtschaftliche Betätigung der Unternehmen erschweren. Gleichzeitig ist Erwerbsarbeit - und damit ist in erster Linie die abhängige Erwerbsarbeit gemeint - längst zur Mangelware geworden, wie die Arbeitslosenzahlen deutlich machen. Zu viel Schutz zugunsten von Arbeitnehmern hat zur Folge, daß zahllose Arbeitslose diesen Arbeitsplatz nicht erhalten, mithin ihre Berufsfreiheit nicht ausüben können. Die soziologischen Auswirkungen von langjähriger Arbeitslosigkeit sprechen für sich, wie wichtig der (Wieder-)Einstieg in den Beruf für 460

461

59ff.

Canaris, in: AcP 184 (1984) 201, 212. Medicus, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Privatrecht, in: AcP 192 ( 1992), 35,

Vgl. Hermes, in: NJW 1990, 1974, 1768; Canaris, in: AcP 184 (1984), 201, 245. Daran hat sich das BVerfG in den oben dargestellten Entscheidungen auch gehalten. 464 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S. 140. 465 Für 1998 wurde erwartet, daß 28. 500 Unternehmenszusammenbrüche, fast 4 % mehr als 1997 und eine Verdreifachung gegenüber 1991 zu einem Verlust von rund IhMio. Arbeitsplätzen führen würde; s. FAZ 5.8.1998 S.l3. 462

463

VII. Objektive Schutzpflicht

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Arbeitslose ist466 • Ihr Schutz im Sinne der Eröffnung einer Chance, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, darf gegenüber dem der Arbeitsplatzinhaber nicht zu kurz kommen oder anders gesagt: Es kann keinen Bestandsschutz von Arbeitsverhältnissen geben, wenn dieser zu einer Privilegierung von Arbeitsplatzinhabern gegenüber Arbeitsplatzsuchenden führen 467 • Die personale Schutzrichtung und der soziale Bezug der Berufsfreiheit stehen somit in einem dialektischen Bezug zueinander468. Ein Beispiel, das die unterschiedlichen Interessen und Schutzpositionen verdeutlicht, ist die gesetzliche Festlegung von Höchstarbeitszeiten oder Lebensarbeitszeiten469. Solange sie festgesetzt werden, um den konkreten Arbeitnehmer vor Gesundheitsgefahren zu schützen, entsprechen sie dem Schutzauftrag des Art.121 GG und sind verfassungsrechtlich unbedenklich. Was Arbeitszeiten unter 40 Std./Woche angeht, wird eine Notwendigkeit in den allermeisten Berufen und Branchen verneint470. Das gleiche gilt für eine generelle Altersgrenze von 65 Jahren. Ihre Einführungen sollen arbeitsmarktpolitischen Zielen - der Schaffung neuer Arbeitsplätze dienen, womit der Staat seinem Schutzauftrag gegenüber Arbeitssuchenden gerecht zu werden versucht471 • Sie dienen dem sozialpolitischen Ziel und damit der sozialstaatlichen Aufgabe, die "Mangelware Erwerbsarbeit" gleichmäßiger zu verteilen, damit so viele wie möglich die Gelegenheit haben, ihre Berufsfreiheit überhaupt wahrnehmen zu können472 • Bei der Einführung solcher Regelungen obliegt dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung ein Ermessen473 , bei dem die jeweilige Unterordnung der einen unter die anderen Interessen zwangsläufig ist474• Soweit solche Regelungen allerdings die berufliche Freiheit des einzelnen einschränken, müssen sie sich an Art. 12 I GG messen lassen mit der Folge, daß arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zum einen die Berufsfreiheit des einzelnen Beschäftigten nicht beeinträch466 Vgl. die Nachweise bei v.Maydell, Die Arbeitslosigkeit, in: FS Krasney S. 301, 316f m. w. N.: Wenn wirklich keine Arbeit da sei, so stelle sich die Frage, ob dieses Faktum voll zu Lasten des Einzelnen oder zu Lasten des Staates bzw. zu Lasten der Gesellschaft gehe. Das Sozialstaatsgebot spreche eher gegen die erstgenannte Lösung. s. a. Zacher, in: JZ 1984, 1091, 1093. 467 Pietzcker, in: NVwZ 1984, 550, 554 f, vgl. auch Badura, in: FS Molitor, S. 1, 18; Schneider, VVdStRL 43 (1985) 8, 45. 468 Badura, in: FS Hersehe!, S. 21, 27. 469 Vgl. Hufen, in: NJW 1994,2913, 2921; Lücke, Berufsfreiheit, S. 10; Sch/üter!Belling, in: NZA 1988, 297, 300. 470 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht S. 92. 471 Vgl. R. Hüpen, Arbeitszeit, Betriebszeit und Beschäftigung, 1994 hat festgestellt, daß bei gleichzeitiger Einführung flexibler Arbeitzeitmodelle Arbeitszeitverkürzung zum Abbau von Arbeitslosigkeit beitragen kann; vgl zu unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen M. Promberger u.a.: Beschäftigungssicherung durch Arbeitszeitverkürzung, 1996. 472 Wendt, in: DÖV 1984, 601, 607. 473 BVerjGE 81,242, 255; Wendt, in: DÖV 1984, 601; Pietzcker, in: NVwZ 1984,551, 554; ausnahmsweise wurden bestimmte Schutzvorkehrungen aufgegeben, so BVerjGE 39, 1 - Schwangerschaftsabbruch. 474 BVerjGE 81,242,255.

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B. Berufsfreiheit im deutschen Verfassungsrecht

tigen dürfen; zugleich müssen sie auch mit der Unternehmerfreiheit des jeweiligen Arbeitgebers in Einklang stehen. Ein anderer Konflikt besteht darin, wenn Regelungen, die zum Schutz des Arbeitnehmers das Arbeitsverhältnis gedacht und erlassen wurden, wie z. B. das Verbot der Nacht- oder Schichtarbeit sich gleichzeitig als Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit des Arbeitnehmers (und auch des Arbeitgebers475) auswirken, weil sie nachteilige Folgen für die zu schützende Person haben. Wenn solche Regelungen nicht einen wirklichen Schutz für die Arbeitnehmer bedeuten, sind sie wegen Verletzung von Art. 12 I GO nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Auf diese Weise wurde das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen476 zuerst für gemeinschaftsrechtwidrig und schließlich auch für verfassungswidrig erklärt. Obwohl Nachtarbeit nachweislich wegen Störungen der Biorhythmik für alle Menschen stark belastend ist477, stellt das Verbot der Nachtarbeit nur für Frauen eine Einschränkung ihrer Berufsausübungsfreiheit dar, die unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung (Art. 3 I, III GG) rechtlich nicht zu rechtfertigen ist478 •

Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht §7119, § 38III5; Wendt, in: DÖV 1984,601,604. BVerfGE 85, 191, aufbauend auf EuGH RS C-345/89-Stoeckel, Slg.l991 I, 4062. 477 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht§ 2 V 3m. w. N. 478 Daß im vorliegenden Fall hinter der Norm nicht primär der Gesundheitsschutz der Frauen, sondern implizit roHenspezifischen Erwartungen entsprach, legen B. Nemitz/G. Rung/ S. v. Wasielewsky, Die arbeitsschutzbedürftige Frau, in: Das Argument 147 (1984), 699) dar. Die genannten Entscheidungen haben aus diesem Grund auch den Verstoß gegen die Gleichbehandlung von Mann und Frau erkannt. 475

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungenein Überblick Das deutsche Recht hat, wie gezeigt, eine sehr ausführliche und ausgefeilte Dogmatik zur Berufsfreiheit entwickelt. In den übrigen 14 Mitgliedsstaaten der EG sieht das zum Teil anders aus. Im folgenden soll überblicksartig der Schutz der Berufsfreiheit in den übrigen Mitgliedsstaaten dargestellt werden 1• Da jede Verfassung nicht nur juristischer Text oder normatives ,,Regelwerk" ist, sondern auch "Ausdruck eines Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen" 2 , soll gleichzeitig, soweit dies nötig ist, ein Einblick in die jeweilige Verfassungstradition gegeben werden, um zu verstehen, warum sich dort ein vom deutschen Grundrechtsverständnis verschiedenes Grundrechtsverständnis heraus entwickelt hat 3• Nicht alle Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft haben eine geschriebene Verfassung - somit auch nicht alle die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Berufsfreiheit. Irgendeine Gewährleistung die erwerbswirtschaftliche Initiative betreffend findet sich in allen Mitgliedsstaaten mit Ausnahme von Großbritannien.

I. Der britische Sonderweg In Ermangelung einer geschriebenen Verfassung4 gibt es in Großbritannien keine schriftlich fixierten Grundrechte im kontinentaleuropäischen Sinne und damit auch nicht die Gewährleistung von Berufsfreiheit mit Verfassungsrang. Immerhin ermöglicht die Verabschiedung des Human Rights Acts, daß die Grundrechte, wie sie in der EMRK6 gewährleistet sind, nun auch vor (ordentlichen) britischen Gerichten 1 Eine aktuelle und ausführliche Einzeldarstellung des Schutzes der Berufsfreiheit in den mitgliedsstaatliehen Rechtsordnungen findet sich bei Günther, Berufsfreiheit und Eigentum in der europäischen Gemeinschaft. 2 Häberle, Europäische Verfassungskultur, S.299. 3 V gl. das kulturwissenschaftliche Konzept Häberles: Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives ,,Regelwerk", sondern auch Ausdruck eines Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Zur Grundrechtskultur gehören neben den Texten auch die Kontexte, die "ambiance" des vor allem nationalen Grundrechtsverständnisses, die Werthaltungen der Öffentlichkeit, ihre Sensibilität für Grundrechtsverletzungen.; vgl. Häberle, Europäische Verfassungskultur, S. 299 ff. 4 V gl. oben Kapitel A III. 5 Http://www.hmso.gov.uk/acts/acts l998/l9980042.htm. 6 Zur EMRK ausführlicher unten Kapitel D III.

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

klagbar sind 7 • Allerdings handelt es sich bei dem Human Rights Actum einfaches Recht, also nicht um Verfassungsrecht, welches sich dadurch auszeichnet, das positivierte höchstrangige Recht im Staat zu sein8• Daraus folgt, daß auch die Inkorporierung der einen großen Teil der EMRK in das nationale Recht an dem Fehlen eines Grundrechts der Berufsfreiheit nichts ändert9 • Anstelle von Grundrechten kennt das britische Recht civilliberties, die in negativer Inhaltsbestimmung induktiv die verbleibende Freiheitssphäre beschreiben 10• Sie weisen dementsprechend weitgehende Beschränkungsmöglichkeiten auf und bieten keinen Schutz gegenüber späteren Gesetzes- und, soweit es common law betrifft, Rechtsprechungsänderungen 11 • Der Schutzumfang richtet sich vielmehr nach dem Maß der Einschränkung durch das einfache Recht. Über den Umfang der geschützten civilliberties herrscht Uneinigkeit. Im allgemeinen werden darunter (in deutlicher Anlehnung an die traditionellen Schutzpositionen) das Recht zu leben, auf persönliche Freiheit, auf Ungestörtheit der Privatsphäre, auf Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Religionsfreiheit und ein Recht auf Eigentum gezählt. Ob ein wie auch immer geartetes Recht auf Arbeit (right to work) dazu gezählt werden kann, ist umstritten 12• Als Teil der persönlichen Entfaltungsfreiheit, die verstanden wird als "the freedom of the person to behave as he pleases", wird zum Teil auch der Schutz der Berufsfreiheit als mitumfaßt angesehen. Sie wird verstanden als das ,,right of a person to dispose of his capital or his labour as he wills" 13• II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten

Im folgenden soll der Inhalt der berufsrechtlichen Gewährleistungen in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten in vergleichender Darstellung vorgestellt werden. Dabei wird in einem ersten Schritt eine Kurzcharakterisierung aller nationalstaatliehen Gewährleistungen, also eine Art TYpisierung vorgenommen. Sodann wird der 7 V gl. hierzu Lord lrvine of Lairg, The Development of Human Rights in Britain, in: Public Law 1998,221 sowie G. Marshall, lnterpreting interpretation in the Human Righs Bill, in: Public Law 1998, 167; vgl. zur Inkorporierung Grate, Die Inkorporierung des EMRK in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, in: ZaöRV 1998, 309; Greer, A Guide to the Human Rights Act 1998, in: E.L.Rev. 24 (1999), 3; s.a. Fredrrum, Bringing RightsHome, in: LQR 114 (1998), 538. 8 Stern, Staatsrecht I S. 80f, 105. 9 Zu dem Problem des Schutzgehalts der EMRK in bezug auf die Berufsfreiheit s. u. Kapitel DV. 10 Thompson, Constitutional and Administrative Law S. 248. 11 Koch, Zur Einführung eines Grundrechtskatalogs im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, S. 31. 12 Vgl. Yardley, lntroduction to British Constitutiona1 Law, S. 96. 13 Vgl. Yardley, lntroduction to British Constitutional Law, S. 97.

II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

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jeweilige Inhalt der Gewährleistung und ihre Einschränkbarkeil im Zusammenhang dargestellt. Dabei kann, aufgrund der Art der vorliegenden Arbeit, dies alles nur kurz und überblicksartig erfolgen. Die Darstellung solllediglich dazu dienen, eine Orientierung zu geben, um den gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgehalt vor dem gesarnteuropäischen nationalstaatliehen Hintergrund bewerten zu können. 1. Einzeldarstellung

Nicht in allen Ländern, in denen die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung verfassungsrechtlichen Schutz genießt, erwachsen für die Bürger daraus subjektive Rechte. In einigen Ländern handelt es sich bei entsprechenden Gewährleistungen lediglich um an den Staat gerichtete Prograrnmsätze.

a) Dänemark, Schweden, Finnland In der skandinavischen Rechtstradition, die aufgrund ihrer Entwicklung immer eine Freiheitstradition gewesen ist, wird das Recht mehr als soziales Phänomen denn als Dogmenlehre begriffen: ,,Legal realism is a part of the reality we perceive with our senses" 14• Da in den skandinavischen Ländern die individuellen Freiheitspositionen von seiten des Staates nie eine Gefährdung erfahren haben, besteht das Bedürfnis nicht wie in Deutschland, in einer Verfassung einen dezidierten Grundrechtekatalog einzurichten, vielmehr besteht das Bestreben dahin, in einem derart wichtigen Dokument wie der Verfassung über gesellschaftliche Fragen einen Konsens herzustellen oder festzuschreiben, mit der dann dementsprechend nicht individuelle Rechte gewährt, sondern eine Wertordnung geschaffen und Handlungsaufträge an den Staat erteilt werden 15• § 74 der dänischen Verfassung vom 5.6.1953 lautet: ,,Alle Beschränkungen des Rechts auf freie und gleiche Berufsausübung, soweit sie nicht durch Erfordernisse des Gemeinwohls gerechtfertigt sind, sind aufzuheben." 16

Dabei handelt es sich nicht um ein subjektives Abwehrrecht, sondern die Norm wird als eine an den Gesetzgeber gerichtete programmatische Forderung qualifi14 "The validity of legal norms can be set up as a postulate - beyond that it is a purely sociological question: whether or not the legal norms are in fact generally respected in a particular society, whether it is in fact a case that there is a relatively high degree of agreement among jurists that a particular set of norms shall be used as a basis in a society ..." Slagstad, in: Scandinavian Studies in Law 1991, 215, 218f, Ross, Ret og retfrerdighed, S. 24, 46f; Cameron, Protection of Constitutional Rights in Sweden, in: Public Law 1997, 488, 502. 15 Vgl. z. B. Thygesen, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in Dänemark, in: EuGRZ 1978, 438, 439. 16 Dieses Zitat aus der dänischen Verfasung ist, wie auch alle folgenden Zitate aus Verfassungstexten, in der deutschen Übersetzung Kimme/, Die Verfassungen der EG-Mitgliedsstaaten, 4. Auflage 1996, S. 50 entnommen.

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

ziert, die darauf gerichtet ist, eine möglichst ungehinderte Berufsausübung zu ermöglichen 17• Auch in der schwedischen Verfassung von 1974 (in der Fassung vom 1.1.1980) 18 findet sich im sehr kurzen Grundrechtekapitel kein Schutz der freien beruflichen Betätigung. Das Kapitel über die Grundlagen der Staatsform verpflichtet den Staat zur Achtung der Menschenwürde und formuliert in diesem Zusammenhang die persönliche, finanzielle und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen als das primäre Ziel der öffentlichen Tätigkeit. Diese drückt sich insbesondere darin aus, das Recht auf Arbeit und Ausbildung zu sichem 19• Kap. I § 2 der schwedischen Verfassung lautet: "Die öffentliche Gewalt ist mit Achtung vor dem gleichen Wert aller Menschen und vor der Freiheit und Würde des einzelnen Menschen auszuüben. Die persönliche, finanzielle und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen hat das primäre Ziel der öffentlichen Tätigkeit zu sein. Dem Gemeinwesen obliegt es insbesondere, das Recht auf Arbeit, Wohnung und Ausbildung zu sichern sowie für soziale Fürsorge und Sicherheit und für eine gute Lebensumwelt einzutreten ..." 20

Im Ergebnis ebenso ist es in der finnischen Verfassung: Zwar wurde 1995 eine neue Norm in die finnische Verfassung eingefügt. Art.15 der finnischen Verfassung (Regierungsform) lautet: Jedermann hat das gesetzliche Recht, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit, Beschäftigung oder Handel seiner Wahl zu verdienen. Der Staat stellt den Schutz der Arbeit sicher. Der Staat fördert die Beschäftigung und bemüht sich, das Recht eines jeden auf Arbeit zu garantieren. Das Recht auf Berufsausbildung und berufliche Umschulung wird gesetzlich geregelt Niemand darf ohne gesetzlich geregelte Gründe entlassen werden.21 •

Der Wortlaut läßt gegenüber der älteren Fassung eine "tendenzielle Aufwertung"22 eines Grundrechts der Berufsfreiheit erkennen, dennoch steht der Schutz der Arbeit als staatsgerichtete Verpflichtung weiterhin erkennbar im Vordergrund. Insgesamt kommt auch im finnischen Recht der Verfassung vornehmlich als Vorkon17 Vgl. Hofmann, Der OGH Dänemarks und die europäische Integration, in: EuGRZ 1999, 1, 5; Gralla, Grundrechtsschutz in Dänemark, S.404, ders. in: JbÖR 38 (1989), 299, 318. 18 Eine ausführliche Einführung in das schwedische Verfassungsrecht findet sich bei Holmberg/Stjernberg, Schwedische Grundgesetze, Stockholm 1992, S. 12tf. 19 Vgl. hierzu Cameron, Proteerion of Constitutional Rights in Sweden, in: Public Law 1997, 488; C. H. Berg, Grundrechtsschutz im schwedischen Verfassungsrecht, in: EuGRZ 1980,579. 20 Zitiert nach Kimme/, Die Verfassungen der EG-Mitgliedsstaaten, S.489. 21 Zitiert nach Kimme/, Die Verfassungen der EG-Mitgliedsstaaten, S.ll4. 22 Günther, Berufsfreiheit und Eigentum, S. 196.

II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

111

trolle im Gesetzgebungsverfahren Bedeutung zu. Die Möglichkeit, daß sich einzelne auf Grundrechte berufen können, hat in der Praxis keine besondere Bedeutung23 • Zusammenfassend läßt sich für die oben aufgeführten skandinavischen Länder festhalten, daß die Beruf und Arbeit betreffenden Normen in den skandinavischen Verfassungen nicht justiziabel sind und somit keine Grundrechte im deutschen Verständnis darstellen. b) Irland Eine ausdrückliche Verbürgung der Berufsfreiheit ist in der irischen Verfassung von 1937 nicht enthalten. Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, das in Art. 40 III Verf. niedergeschrieben ist, wurde jedoch erstmals 1972 durch den High Court als ungeschriebenes Verfassungsrecht ein ,,right to earn a livelihood", das Recht seinen Lebensunterhalt zu verdienen, hergeleitet 24 • Es handelt sich um ein Recht sui generis, welches am verfassungsrechtlichen Schutz teilhat und in den durch die Rechtsprechung entwickelten Schranken gewährt wird 25 • Anders als in den skandinavischen Staaten handelt es sich bei dem irischen Recht aber um ein subjektives Recht. c) Belgien, Niederlande In die niederländischen Verfassung wurde mit der Neufassung vom 17.2.1983 erstmals ein einheitlicher Grundrechtskatalog und darin das Recht auf freie Arbeitswahl eingefügt. Art. 19 III Verf. lautet: Das Recht jedes Niederländers auf freie Wahl der Arbeit wird anerkannt, unbeschadet der Einschränkungen durch Gesetz oder kraft eines Gesetzes. 26

Allerdings steht die Norm im systematischen Zusammenhang mit den sozialen Grundrechten, deren Zweck darin gesehen wird, "den Menschen ausreichend soziale, ökonomische und kulturelle Leistungen staatlicherseits zu verschaffen" 27 und damit in erster Linie Auftrag an den Gesetzgeber ist. Dennoch wird der freien Arbeitswahl in Art. 19 III Verf. Grundrechtscharakter im traditionellen Sinne beigemessen, 23

212.

M. Hiden, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in Finnland, in: JbÖR 32 (1983), 201,

24 High Court, Browne v. Attomey General ( 1992), s. I. R. 58, 64 f, 66 f,; High Court, Cafolla v. Attomey General (1985) I.R: 486, 493; High Court, Attomey Generaland Ministerfor Post and Telegraphs v. Paperlink Ltd. (1984), 373, 388f; vgl. Casey, Constitutional Law in Ireland, S. 321 m. w. N. der Rechtsprechung. 2s Vgl. unten in diesem Kapitel CII4. 26 Zitiert nach Kimme/, Die Verfassungen der EU Mitgliedsstaaten, S. 289. 27 Van Berk, Das Grundrechtsverständnis der niederländischen Verfassung von 1983 im Vergleich zum deutschen Grundrechtsverständnis, S. 36.

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

so daß die Norm subjektive Rechtspositionen entfaltet28• Die Bedeutung dieser Rechtsposition wird angesichts des weiten Einschränk:ungsvorbehaltes, die Berufswahlfreiheit sei "letztlich nur da geschützt, wo sie nicht beschränk:t" 29 sei, gering eingeschätzt30• Dennoch wird in Gesetzen keine Gefahrdung der Freiheit gesehen. Nach niederländischem Verfassungsverständnis obliegt es vornehmlich dem Gesetzgeber, die Ausgestaltung des Schutzes der Grundrechte zu regeln 31 • Ähnlich wie in Großbritannien und Skandinavien liegt ein tief verwurzeltes Vertrauen in das Funktionieren des demokratischen Systems zugrunde, welches auf der "für die Niederländer charakteristische auszeichnenden liberalen Grundeinstellung im Verfassungsalltag, ihrer Freiheitsliebe"32 fußt. Vergleichbar damit ist die Situation in Belgien. Die Funktion der Grundrechte wird darin gesehen, Schranken gegen die Machtentfaltung der Exekutive zu bieten. Gesetze stellen nach diesem Verständnis keine Begrenzungen, sondern vielmehr Garanten der Freiheit dar33 • Daraus folgt aber nicht, wie man mit deutschem Vorverständnis glauben könnte, daß ein effektiver Schutz gegen Exekutivmaßnahmen zumindest klagbare Rechtspositionen auch auf den Bereich der Berufstätigkeit beinhalten müßten. Das belgisehe Verfassungsrecht enthält erst seit 1994 überhaupt eine Norm explizit die Berufstätigkeit, nämlich das Recht auf Arbeit und freie Berufstätigkeit betreffend. Art. 23 I der belgiseben Verfassung lautet: Jeder hat das Recht, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Zu diesem Zweck gewährleistet das Gesetz, das Dekret oder die in Art.134 erwähnte Regel unter Berücksichtigung der entsprechenden Verpflichtungen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und bestimmt die Bedingungen für ihre Ausübung. Diese Rechte umfassen insbesondere: 1. das Recht auf Arbeit und die freie Wahl der Berufstätigkeit im Rahmen einer allgemeinen Beschäftigungspolitik, die u. a. darauf ausgerichtet ist, einen Beschäftigungsgrund zu gewährleisten, der so stabil und hoch wie möglich ist, das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen und gerechte Entlohnung sowie das Recht auflnforrnation, Konsultation und kollektive Verhandlungen ..." 34

Da das Recht auf Arbeit im Rahmen der allgemeinen Beschäftigungspolitik gewährleistet wird, handelt es sich somit lediglich um eine programmatische Zielbestimmung, deren Funktion eine politische Leit- oder Wertentscheidung für die Entstehung von Gesetzen mehr denn Aufwertung subjektiver Rechte darstellt35 • Als unKortmann, Constitutioneel Recht, S. 424. So Kortmann, De Grondwetsherzieningen 1983 en 1987, S. 119 FN 504. 30 Vgl. unten in diesem Kapitel CII4. 31 V gl. van Berk, Das Grundrechtsverständnis der niederländischen Verfassung von 1983 im Vergleich zum deutschen Grundrechtsverständnis, S. 66. 32 So van Berk, Das Grundrechtsverständnis der niederländischen Verfassung von 1983 im Vergleich zum deutschen Grundrechtsverständnis S. 246. 33 Stad/er, Berufsfreiheit, S. 221. 34 Zit. nach Kimme/, Die Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten, S. 3. 35 Der Staatsrat hat in beratender Tätigkeit die Aufgabe, präventiv Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung hin zu überprüfen, vgl. ausführlicher Meeus!Velu, Bestand und Be28 29

II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

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geschriebener Rechtsgrundsatz ist in Belgien die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung (liberte du commerce et de l'industrie) anerkannt. Sie hat ihren Ursprung im einfachen Recht, nämlich im französischen Decret de 1'Allarde von 1791 36, mit dem die Gewerbefreiheit das erste Mal zunächst in Frankreich, ab 1795 auch in Belgien gewährleistet wurde 37• Der Anwendungsbereich dieses Grundsatzes wird heute weit gefaßt und umfaßt neben der Aufnahme von Handels- und Gewerbetätigkeit die Wahl eines Berufes sowie die Ausübungsebene 38, in die nur durch oder aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden darf. Es läßt sich also festhalten, daß sowohl das niederländische als auch das belgisehe Recht die Berufsfreiheit als Schützenswertes Gut grundsätzlich anerkennen. Im niederländischen Recht wird die freie Berufswahl durch die Verfassung selbst geschützt, im belgiseben Recht erfolgt der Schutz vornehmlich über die Gewährleistung aus der liberte du commerce als allgemeinem Rechtsgrundsatz.

d) Frankreich Eine Besonderheit zeichnet die französischen "Grundrechte", die libertes fondamenteaux oder publiques aus. Sie sind niedergeschrieben in der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 sowie in der Präambel der Verfassung von 1946, denen aufgrund ihrer Erwähnung in der Präambel der derzeit gültigen Verfassung vom 4.10.1958 juristische Verbindlichkeit zukommt. Die Verfassung von 1958 selbst war bei ihrer Entstehung eine Verfassung ohne Grundrechte 39• Die libertes fondamenteaux können nicht mit den Grundrechten, wie sie das deutsche Grundgesetz kennt, gleichgesetzt werden. Entsprechend ihrem Entstehungsgeist ist die Zielrichtung der Menschenrechtserklärung nicht darauf gerichtet gewesen, subjektiv einklagbare Rechte dem Staat gegenüber zu formulieren, sondern vielmehr abstrakt das Prinzip der Freiheit zu verkünden. Daraus folgt, daß die libertes publiques ihrerseits erst mittels Umsetzung durch den einfachen Gesetzgeber ihre Wirksamkeit entfalten40• Eine andere Möglichkeit besteht darin, daß der Conseil d'Etat, deutungder Grundrechte in Belgien, in: EuGRZ 1981, 66, 71 sowie Stad/er, Berufsfreiheit S. 220f m. w. N. 36 Meeus!Velu, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in Belgien, in: EuGRZ 1981, 66, 75. 37 Vgl. Delperee, Droit constitutionel, S.252. 38 Vgl. ausführlich Günther, Berufsfreiheit und Eigentum, S. 92. 39 Vgl. Hübner!Constantinesco, Einführung in das französische Recht, S.55 f; Guimezanes, lntroduction au droit fran~ais, S. 64 f; Haller, Verfassungsreform in Frankreich, in: ZfschwR 1995; 1. Hb., S.201, 206. 40 In Frankreich steht man einer Bindungswirkung der Verfassung für den Gesetzgeber traditionell zurückhaltend gegenüber. Aus Art. 4 der Erklärung von 1789 ergibt sich, daß die konkreten Schranken der Freiheit durch das Gesetz bestimmt werden, womit das ursprüngliche Verständnis einhergeht, daß ein demokratisch gewähltes Parlament keine freiheitsfeindlichen Gesetze erlassen könnte oder würde. vgl. Classen, Ableitung von Schutzpflichten aus Frei8 Bonmann

114

C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

der zugleich Konsultationsorgan der Regierung (Staatsrat) und zugleich oberstes Verwaltungsgericht ist41 , die libertes publiques im Wege der Rechtsfortbildung zu "principes generaux du droit", zu allgemeinen Rechtsprinzipien erhebt, was zur Folge hat, daß die Exekutive ohne gesetzliche Grundlage nicht gegen die mittels dieses Prinzips geschützten Rechtsgüter eingreifen ctarf42 • Eine andere Möglichkeit zur Konstituierung von Rechten ist, daß der Conseil Constitutionel (CC), das Verfassungsgericht, Rechtspositionen mit Verfassungsrang (valeur constitutionel) ausstattet43. Diese Möglichkeit hat der CC vermehrt wahrgenommen und auf Grundlage der o. a. Verfassungsdokumente von 1789 und 1946 eine eigene Grundrechtsdogmatik entwickelt 44 • Dabei wird vermutet, der CC habe bei der Entwicklung des Grundrechtsschutzes die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts zum Vorbild gehabt45. Die historischen Dokumente enthalten selbst keine Gewährleistungen die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit betreffend, aber sowohl der Conseil d'Etat als auch der CC haben entsprechende Rechtspositionen hergeleitet. Der Conseil d'Etat hat die Handels- und Gewerbefreiheit (liberte du commerce et de l'industrie) als allgemeinen Rechtsgrundsatz- allerdings ohne Verfassungsrang-anerkannt und zu einer "liberte d'acces al'exercise par les citoyens de toute activite professionelle", also einem allgemeinen Recht freier wirtschaftlicher Betätigung, welches auch die Freiheit beruflicher Betätigung umfaßt, erweiternd ausgelegt46• Hingegen wurde der liberte d 'entreprendre, der Freiheit unternehmenscher Tätigkeit, durch den Conseil Constitutionel Verfassungsrang (valeur constitutionel) zuerkannt47. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß das französische Grundrechtesystem, welches durch seine historischen Wurzeln stark geprägt ist, differenziert ist und individuelle Rechtsposititonen kennt und achtet. heitsrechten, in: JbÖR 36 (1987), 29, 43, Constantinesco!Hübner, Einführung in das französische Recht S. 56. 41 Hübner!Constantinesco, Einführung in das französische Recht, S.19. 42 Ausführlich Stahl, Die Sicherung der Grundfreiheiten im öffentlichen Recht der fünften französischen Republik, S.47; Savoie in Grabitz, Grundrechte in Europa und USA, S. 203, 218; Philip, La protection des droits fondamenteaux en France, in: JbÖR 38 (1989), 119, 121ff, Guimezanes, Introduction au droit fran~ais, S. 64f; Reines, Normenhierarchie in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeisnchaften, S. 70f. 43 Philip, La protection des droits fondamenteaux en France, in: JbÖR 38 (1989), 119; Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Recht, S. 44; Fromont, in: JbÖR 1989, 151; ders., Die französische Verfassungstradition und das Grundgesetz, in: Stern, 40 Jahre Grundgesetz, S. 33, 38; allgemein zur unterschiedlichen Funktion von CE und CC Mamontoff, Reflexions sur l'experimentation du droit, in: RDP 1998, 351, 361 ff. 44 Ausführlich Deves, Der französische Conseil Constitutionel und die soziale Republik, in: DÖV 1989, 249. 45 De Witte, Interpreting the EC-treaty like a Constitution, S. 133, 137 f unter Berufung auf Häberle, Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, in: JZ 1992, 1033, 1037. 46 CE 22.6.1963, Rec. Lebon 1963, 386; 16.12.1988, Rec. Lebon 1988,447,448. 47 CC 16.1.82 18ff, Rec. 1982, 18ff.

II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

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e) Italien, Griechenland, Spanien, Portugal Die südeuropäischen Länder haben, nach Erfahrungen mit Krieg und Diktatur, ähnlich wie Deutschland viel Wert auf die Festschreibung umfangreicher Grundrechtskataloge in ihren Verfassungen gelegt. Diese Vorerfahrung (also die Desillusionierung in bezugauf das Funktionieren eines demokratischen Systems) unterscheidet diese Länder und Deutschland von den bisher beschriebenen Ländern. Im Unterschied zum deutschen Grundgesetz wurde in den Verfassungen der südeuropäischen Länder allerdings eine stärkere Betonung sozialer Rechte vorgenommen, was dazu geführt hat, daß wirtschaftliche Freiheitsgewährungen lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. Dies wird für die italienische Verfassung vom 27.12.1947, die wie die deutsche nach dem 2. Weltkrieg entstanden ist, damit erklärt, daß sie noch vor Ausbrechen des Kalten Krieges entstanden ist und Ausdruck eines Kompromisses zwischen katholischen und kommunistischen Positionen ist48 • Die vielleicht schönste Formulierung zur beruflichen Betätigung ist in Art. 1 I der italienischen Verfassung zu finden. Dort heißt es: Italien ist eine demokratische, auf der Arbeit gegründete Republik49• Regelungen, die die Berufsfreiheit bzw. die freie wirtschaftliche Betätigung betreffen, enthält die italienische Verfassung zudem in Art. 41 und 4 Verf. Wahrend Art. 4 Verf. das Recht und die Pflicht zur Arbeit statuiert, gewährleistet Art. 41 die freie wirtschaftliche Initiative: ( 1) Die privatwirtschaftliche Initiative ist frei. (2) Sie darf nicht im Gegensatz zum Gemeinwohl oder in einer weise ausgeübt werden, die der Sicherheit, der Freiheit und der Würde der Menschen schadet. (3) Das Gesetz bestimmt die Programme und die zweckmäßigen Kontrollen, um die öffentliche und private Wirtschaftstätigkeit und soziale Ziele auszurichten und abzustimmens0•

Portugal unternahm in den 70er Jahren den "nicht einfachen Versuch, eine Synthese aus liberal-rechtsstaatlichem Grundrechtsverständnis, repräsentativer Demokratie und Elementen einer egalitär-sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung herzustellen" 51 • Die Verfassung vom 2.4.1976 ist die umfangreichste der Verfassungen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Art.47I und 61 I Verf. betreffen die Berufsfreiheit bzw. die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung: 48 Polakiewitz, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in den Verfassungsbestimmungen Italiens, Portugals und Spaniens, in: ZaöRV 54 (1994), 340ff, 347; allgemein zur Entstehung der italienischen Verfassung Kind/er, Einführung in das italienische Recht, §RN20ff, zur Grundstruktur der Verfassung § 4 RN 1 ff. 49 Zitiert nach Kimme/, Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten, S. 246. so Kimme/, Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten, S. 249. si Polakiewitz, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in den Verfassungsbestimmungen Italiens, Portugals und Spaniens, in: ZaöRV 54 (1994), 340ff, 347.

s•

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

( 1) Alle haben das Recht, den Beruf oder die Art der Arbeit frei zu wählen, unbeschadet der gesetzlichen Einschränkungen, die im Interesse des Allgemeinwohls auferlegt werden oder sich aus der persönlichen Eignung ergeben. 52

Art. 61 Verf. lautet: ( 1) Innerhalb des in der Verfassung und im Gesetz festgelegten Rahmens und unter Berücksichtigung des Allgemeininteresses entfaltet sich die freie Wirtschaftsinitiative frei. (2) Allen ist das Recht und die freie Bildung von Genossenschaften gewährleistet, sofern sie die Grundsätze des Genossenschaftswesens achten. (3) Genossenschaften können ihre Tatigkeiten frei entfalten und sich zu Unionen, Föderationen und Konföderationen zusammenschließen. (4) Das Recht der Arbeiterselbstverwaltung wird nach Maßgabe des Gesetzes anerkannt53 •

Daneben finden sich v. a. in Art. 58 Verf. programmatische Aussagen die Berufstätigkeit betreffend54• Die Verfassung Griechenlands vom 11.6.1975 nach der Militärdiktatur von 1967 bis 1974 entstanden55• Den Grundrechten, die in der griechischen Verfassung unter der Überschrift "individuelle und soziale Recht" stehen, kommt angesichts dessen eine hervorgehobene Bedeutung zu. In der griechischen Verfassung ist die Berufsfreiheit nicht explizit geregelt. Art. 5 I Verf. ist neben Art. 5 III Verf., die die Freiheit der Person für unverletzlich erklärt, die einschlägige Norm 56: Art. 5 I: Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und auf die Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes.

In der Verfassung Spaniens vom 29.12.1978 sind die Regelung die Berufsfreiheit betreffend Art. 35 I und Art. 38 I Verf.: Art. 35 1: Alle Spanier haben die Pflicht zu arbeiten und das Recht auf Arbeit, auf die freie Wahl des Berufs oder eines Gewerbes, auf Fortkommen durch ihre Arbeit und auf eine Entlohnung, die zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und der ihrer Familie ausreicht. In keinem Fall darf es zu einer Diskriminierung wegen des Geschlechts kommen. Art. 38 I: Die Unternehmensfreiheit im Rahmen der Marktwirtschaft wird anerkannt. Die öffentliche Gewalt gewährleistet und schützt ihre Ausübung und die E~haltung der Produktivität, in Einklang mit den Erfordernissen der allgemeinen Wirtschaft und gegebenenfalls der Planung 57 •• • Zitiert nach Kimme/, Die Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten, S. 416. Zitiert nach Kimme/, Die Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten, S.421. 54 Ausführlich Gomes Catilho Moreira, Constitui~ao da Republica Portugesa Anotada, Art. 58 Anm. B II. allgemein Miranda, Manual de Direito Constitucional Bd. IV, S. 412 ff. ss Dagtoglou, Die griechische Verfassung von 1975/Eine Einfühung, in: JbÖR 32 (1983), 355. 56 Dagtoglou, in: JbÖR 32 (1983), 355, 358; Ilioupoulos-Strangas, Grundrechtsschutz in Griechenland, in: JbÖR 32 (1983), 395, 408. 57 Zitiert nach Kimme/, Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten, S. 530. 52 53

II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

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Die spanische Verfassung stellt unterschiedliche Schutzniveaus für die verschiedenen Grundrechte auf. Den wirtschaftlichen Grundrechten kommt hierbei innerhalb des Grundrechtskatalogs keine hervorgehobene Rolle zu 58 • Sie finden sich getrennt von den anderen Freiheitsrechten unmittelbar vor dem Abschnitt über die Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Die Unterscheidung zwischen politischen und wirtschaftlichen Grundrechten wirkt sich insbesondere darin aus, daß die Berufsfreiheit einfacher eingeschränkt und abgeändert werden kann. Zudem ist der gerichtliche Schutz für die wirtschaftlichen Grundrechte geringer59 , worauf unten noch eingegangen wird. Aufgrund des geringeren Schutzgehalts wird den in dem genannten Kapitel enthaltenen Rechte in der spanischen Literatur zum Teil sogar die Qualität als Grundrechte abgesprochen60• Weil die objektive Dimension überwiege, handele es sich mehr um einen Forderungskatalog politischen Charakters61 •

f) Österreich, Luxemburg Eine in Art und Umfang dem deutschen Recht am ehesten vergleichbare Grundrechtskonzeption weisen die Nachbarländer Österreich und Luxemburg auf. Art. 11 VI der Iuxemburgischen Verfassung vom 17.10.1868 lautet: Das Recht garantiert die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung, die Ausübung eines freien Berufs und der landwirtschaftlichen Tatigkeit, vorbehaltlich der Einschränkungen, die die gesetzliche Gewalt festlegt. 62

Diese Norm wurde erst 1948 in die Verfassung eingefügt. Aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte wird geschlossen, daß die Norm weit auszulegen ist 63 • Zusätzlich zu der o. g. Norm ist in Art. 11 IV Verf. das Recht auf Arbeit festgeschrieben. Das Österreichische Staatsgrundgesetz vom 21.12.1867 64 enthält in Art. 6 I und 18 Regelungen die Erwerbs- und Berufsfreiheit betreffend. Dabei besteht in Art. 6 I StGG eine explizite Gewährleistung der Gewerbefreiheit. 58 L6pez-Pina, Der gerichtliche Grundrechtsschutz in Spanien, in: KritV 1990, 34, 52; Sanchez Mor6n, Le Systefne de Protection des Droits Fondamenteaux et Libertes Publiques en Espagne, in: JbÖR 35 (1986), 143, 159ff. 59 Vgl. lbler, Der Grundrechtsschutz in der spanischen Verassung am Beispiel des Eigentums, in: JZ 1999, 287, 289; L6pez-Pina, in: KritV 90, 34, 52; ausführlich Sommermann, Der gerichtliche Schutz der Grundrechte in Spanien, in Horn/Weber: Richterliche Verfassungskontrolle in Lateinamerika, Spanien und Portugal S. 27, 36m. w. N. 60 lbiin, Einführung in das spanische Recht, S. 66. 6 1 lbiin, Einführung in das spanische Recht, S. 68 f. 62 Zitiert nach Kimme/, Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten, S. 272. 63 Majerus, L'Etat Luxembourgeois, S. 110. 64 S. allgemein zum Grundrechtsschutz in Österreichjüngst ZÖR 1999, Heft 1 mit zahlreichen Aufsätzen u. a. von M. Stelzer, R. Feik, W. Berka, M. Hohoubek, H. Schreiner und G. Baumgartl.

118

C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

Art. 6 I StGG: Jeder Staatsbürger kann an jedem Ort des Staatsgebiets seinen Aufenthalt und Wohnsitz nehmen, Liegenschaften jeder Art erwerben und über dieselben frei verfügen, sowie unter den gesetzlichen Bedingungen jeden Erwerbszweig ausüben. Art. 18 StGG. Es steht Jedermann frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will 65 •

Art. 6 I StGG umfaßt über seinen Wortlaut hinaus nicht nur die Aufnahme eines Erwerbstätigkeit, sondern auch die Ausübung derselben 66 • Gegenstand der Erwerbsfreiheit ist jede Tätigkeit, die auf wirtschaftlichen Erfolg gerichtet ist, also jede Art, Vermögen zu erwerben, nicht nur eine gewerbliche Tatigkeit. Sogar Beamte genießen den Schutz dieses Rechts 67 • Die Freiheit der Berufswahl und Berufsausübung in Art. 18 StGG umfaßt die Berufswahl, Berufsausbildung, den Berufsantritt und die Berufsbeendigung68 • Im Unterschied zu Art. 6 StGG steht Art.l8 StGG nur natürlichen Personen zu 69 • Besondere Bedeutung erlangt Art.l8 StGG vor allem bei der Beurteilung von Berufsausbildungsvorschriften70• In diesen Verfassungsurkunden findet sich der Schutz der Berufsfreiheit jeweils als staatsgerichtetes Abwehrrecht liberaler Tradition. Der Eingriffsbegriff ist im Österreichischen Recht allerdings enger gefaßt als im deutschen Verfassungsrecht Gegenüber rein faktischen Beeinträchtigungen bieten Art. 6 I und 18 StGG keinen Schutz71 • Es wird nur auf die Zielrichtung, die Finalität des Eingriffs abgestellt. Stellt eine Beeinträchtigung lediglich eine faktische Verhinderung dar oder handelt es sich um die Nebenwirkung einer Maßnahme, mit der andere Zwecke verfolgt sind, so liegt kein Grundrechtseingriff vor72•

Zitiert nach Kimme/, Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten, S. 316. VfGH 1.12.1987, VfSlg. Nr. 11558 Bd. 52/2, 552, 561; VfGH 1.10.1992, VfSlg. Nr. 13177 Bd.57/1, 136, 140. 67 VfSlg. 3092/1952; 7798/1976, eingehend Öhlinger Verfassungsrecht S. 353. 68 Ausführlich hierzu Oberndorfer, Die Berufswahl- und Ausbildungsfreiheit inderneueren Grundrechtsjudikatur, in: Jbl1992, 273. 69 VfSlg. 5044. 7D Mayer, B-VG Kommentar, Art.18112. 11 Zu Art. 6 I StGG s. VfGH 23.3.1993, VfSlg. Nr. 13405, Bd. 58/1, 332, 337; zu Art. 18 I StGG s. VfSlg.4019/1961. 72 VfSlg. 8309; 11705; 13403; 13856; 20.6.1995 B 166/94; 2.12.1996, B29/95; s. a. Mayer, B-VG Kommentar Art.6 CI2; zu Art.18 StGG s.Öhlinger Verfassungsrecht S.358. 65

66

II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

119

2. Geschützter Personenkreis

a) Natürliche Personen Regelungen, wonach bestimmte Rechte Staatsangehörigen vorbehalten sind, sind in den meisten Verfassungen zu finden 73 • Eine Unterscheidung zwischen Bürgerund Jedermannsgrundrechten wie im deutschen Verfassungsrecht wird ebenfalls im griechischen, irischen, italienischen, niederländischen österreichischen, portugiesischen und spanischen Verfassungsrecht vorgenommen. Diese führt zu einem formalen Ausschluß von Ausländern aus dem Schutz der Berufsfreiheit in Irland, Italien, den Niederlanden7\ Österreich75 und Spanien76• Für Irland 77 und Italien78 gilt wie für Deutschland, daß die Berufsfreiheit in ihrem Menschenwürdegehalt auch auf Ausländer anwendbar ist. Aus dem gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbot folgt für sämtliche Mitgliedsstaaten, daß eine materielle Benachteiligung von Angehörigen anderer Mitgliedsstaaten gegenüber Staatsangehörigen nicht erfolgen darf. Daher muß auch in den Ländern, deren Verfassungen einen Unterschied zwischen In- und Ausländern machen, gewährleistet werden, daß Unionsbürgern keine rechtlichen Nachteile gegenüber Staatsangehörigen erwachsen.

b) Personenmehrheiten In den meisten Mitgliedsstaaten wird die Anwendung von Grundrechten auf juristische Personen des Privatrechts angenommen, wenn diese ihrem Wesen nach auch auf sie anwendbar sind79 • Damit geht man überwiegend von der grundsätzlichen Anwendbarkeit der Berufsfreiheit/Freiheit wirtschaftlicher Betätigung auf juristische 73 Ausführlich zu diesem Themenkomplex Drathen, Deutschengrundrechte im Lichte des Gemeinschaftsrechts, der auch einen Rechtsvergleich mit den übrigen EG-Mitgliedsstaaten vornimmt. 74 Die Berufsfreiheit ist eines der wenigen Niederländern vorbehaltenen Grundrechte, vgl. de Blais/Heringes, in: Grabitz/Hilf, Grundrechte in Europa und USA, S.511, 533. 75 Vgl. zur Diskussion gerade auch in bezugauf den EU-Beitritt Öhlinger Verfassungsrecht, S: 352f, Stelzer, Stand und Perspektiven des Grundrechtsschutzes, in: FS 75 Jahre Bundesverfassung, S.601 ff. 76 Vgl. Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 194; Rodriguez lglesias, in Frowein/Stein: Die Rechtstellung von Ausländern nach staatlichem Recht und Völkerrecht Bd.2, S.l443, 1469f. 77 Die Frage der Grundrechtsgeltung für Ausländer gilt im irischen Recht als ungeklärt, wird allerdings gemeinhin für den Bereich der Gewährleistungen angenommen, der Ausfluß der Menschenwürde ist. vgl. Robinson, in: Frowein/Stein, Die Rechtsstellung von Ausländern nach staatlichem Recht und Völkerrecht Bd.l, S. 615, 630; Walsh, in: EuGRZ 1978, 446. 78 Monaco, in: Grabitz/Hilf, Grundrechte in Europa und dem USA, S. 363, 396. 79 Das ist der Fall in Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal und Spanien, vgl. Drathen, Deutschengrundrechte, S. 57 ff m. w. N ..

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

Personen des Privatrechts aus. Eine Ausnahme dazu bilden lediglich die Niederlande. Die Berufsfreiheit wird in den Niederlanden im Zusammenhang mit den sozialen Rechten gewährt und es entspreche dem "Wesen" der sozialen Grundrechte, daß sie an natürliche Personen gekoppelt seien 80• Im Österreichischen Verfassungsrecht wird lediglich die Erwerbsfreiheit, nicht aber die Berufsfreiheit81 auch auf juristische Personen des Privatrechts angewendet. Das irische Recht kennt grundsätzlich keinen Grundrechtsschutz für juristische Personen82 • Wie bei den natürlichen Personen gilt auch für die juristischen Personen des Privatrechts, daß keine Unterschiedlichbehandlung zwischen inländischen juristischen Personen und solchen aus einem Mitgliedsstaat der EG erfolgen darf, d. h. daß juristischen Personen aus einem EG-Mitgliedsstaat der Grundrechtsschutz, der inländischen juristischen Personen gewährt wird, nicht versagt werden darf83• c) Auswirkungen auf die Gewährung von Rechtsschutz Grundsätzlich steht der Rechtsweg in den Mitgliedsstaaten jedem offen. Lediglich die Verfassungsbeschwerde wird, wie im deutschen Recht, als Ausfluß der staatsbürgerlichen Rechte lediglich Staatsangehörigen vorbehalten, was in den Ländern, in denen die Individualverfassungsbeschwerde als Rechtsmittel vorgesehen ist, dazu führt, daß der Rechtsweg für Angehörige der Mitgliedsstaaten verkürzt wird. Wahrend in einigen Ländern - den Niederlanden, Luxemburgs, Finnlands und auch in Großbritannien- die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen der Prärogative des Gesetzgebers als des zuständigen Rechtssetzungsorgans gilt 84 und sich damit eine Verfassungsbeschwerde schlechthin verböte, gibt es in der Mehrzahl der Mitgliedsstaaten ein Verfassungsgericht, das jedoch in der Regel nicht das Instrument der Individualverfassungsbeschwerde kennt. So ist es in Portugal 85 und Schweden. In Belgien ist erst 1984 der Schiedsgerichtshof, der zum Teil die Funktion eines Verfassungsgerichts erfüllt, eingerichtet worden. Individuen sind bislang nicht klageberechtigt, allerdings soll eine Erweiterung der Befugnisse dieses Gerichts unter Umständen erfolgen86• Auch vor dem italienischen Verfassungsgericht ist die Verfassungsbeschwerde unbekannt. Allerdings kann das Verfahren der inzidenten Normenkontrolle nach Art. 134 I cost. auch auf Initiative von Privaten zurückgehen87 • Das 80 De Blois!Heringes, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und USA, S.5ll, 533f, insgesamt wird die Frage nach der Anwendbarkeit von Grundrechten auf juristische Personen in den Niederlanden wenig erörtert. 81 Art. 6, 18 StGG. Zur Unterscheidung vgl. oben Kapitel C II 1 t). 82 Grehan, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und USA, S. 259, 303 m. w. N. 83 Ausführlich unten Kapitel DVI2a)aa)(3). 84 Vgl. Günther, Berufsfreiheit und Eigentum S.l05. 85 Vgl. Cardoso di Costa, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Portugal, in: Starck/Weber, Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, S.279. 86 V gl. Delperee, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Belgien, in: Starck/Weber, Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, S. 343, 360. 87 Art. 1 des Verfassungsgesetzes Nr. l/1948 und Art. 23 I und IV des Gesetzes Nr. 87/1953.

Il. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

121

Gericht, dem das Recht zur Vorlage an das Verfassungsgericht zusteht, kann einem Privaten gegenüber die Vorlage nur verweigern, wenn es die Möglichkeit einer Verfassungsverletzungfür offensichtlich unbegründet hält 88• Diese Möglichkeit, ein Verfahren vor dem Verfassungsgericht anzuregen, steht jedem unabhängig von der Nationalität zu 89• Vergleichbar wie in Italien kann im griechischen Recht eine konkrete Normenkontrolle gern. Art. 100 Verf. von ,jedermann" veranlaßt werden 90 • Frankreich verfügt zwar mit dem Conseil Costitutionel über einen Verfassungsgerichtshof, dennoch gibt es im französischen Recht keine Möglichkeit für den einzelnen Bürger, ein Gesetz oder ein staatliches Handeln vor diesem Gericht auf Verfassungsgemäßheit hin überprüfen zu lassen91 • In Dänemark gibt es kein eigenes Verfassungsgericht, die ordentlichen Gerichte sind jedoch befugt, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzes zu überprüfen92• Es bedarf nicht einmal einer konkreten Rechtsschutzverletzung des einzelnen, wenn dieser wegen befürchteter Verfassungsverletzung durch ein Gesetz Klage erhebt93 • Die Individualverfassungsbeschwerde gibt es außer in Deutschland nur noch in Irland, Österreich94 und Spanien. In Spanien aber kann gemäß Art. 53 II Verf. eine Verletzung von Wirtschaftsgrundrechten, worunter die Berufsfreiheit gefaßt wird95 , von niemandem vor dem Verfassungsgericht gerügt werden96• Sie kann als subjektives Recht nur vor den Fachgerichten geltend gemacht werden97 • In Irland und Österreich stellt sich die Frage nach der Benachteiligung von EGAusländem hinsichtlich der Gewährung von Rechtsschutz. Sowohl in Österreich als 88 Ausführlich Stoy-Schne/1, Das Bundesverfassungsgericht und die Corte Costituzionale, S.l14ff. 89 Gestützt auf Art. 24 Verf., worin das Recht auf rechtliches Gehör geregelt ist; StoySchne/1, Das Bundesverfassungsgericht und die Corte Costituzionale, S. 120. 90 Vgl. Dagtoglou, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Griechenland, in: Starck/Weber, Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, S. 363, 373; Theodossis, Die gerichtliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze nach der ggriechischen Verfassung von 1975, in: AöR 117 (1992), 567. 91 Ehrmann, Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich, in: Der Staat 20 (1981), 373, 379; Starck, Der Schutz der Grundrechte durch den Verfassungsrat in Frankreich, in: AöR 113 (1988), 632. 92 Krarup, Zurneueren Verfassungsentwicklung in Dänemark, in: JböR 37 (1988), 115, 125. 93 Vgl. die Entscheidung zum dänischen Zustimmungsgesetz zum Maastrichter Vertrag; eine ausführliche Auseinandersetzung führt Hofmann, in: EuGRZ 1999, 1. 94 Österreich war das erste Land, welches eine spezialgerichtliche Instanz für den Schutz der Bürgerrechte einführte, vgl. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, S.122; Öhlinger, Constitutional Review. The austrian experience seen from a comparative perspective, in: ZöR 53 (1998), 421. 9s S.o. Kapitel CII 1 e). 96 Weber, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Spanien, in: JbÖR 34 (1985), 245, 213,/bler, in: JZ 1999,287, 289; Feiler, Das spanische Verfassungsgericht, in: JböR 29 (1980), 279. 97 Garro do Fa/la, Commentario, S. 887; Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 173.

122

C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

auch in Irland wird die Frage nach einer bestehenden Ungleichbehandlung problematisiert. Es ist nicht ganz klar, ob sich in Irland auch Nichtiren an den High Court wenden können98 • In Österreich wird erwogen, um der EG-Rechtswidrigkeit zu entgehen, die Verfassungsbeschwerde im gleichen Umfang wie für Staatsangehörige auch für EG-Ausländer zu eröffnen 99• 3. Inhalt der Berufsfreiheit in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten

Während im deutschen Verfassungsrecht die Gewerbefreiheit wie gesehen als Teil des Gewährleistungsgehalts der Berufsfreiheit geschützt wird, finden sich in den Verfassungen südeuropäischen Länder, die über ausgefeilte Grundrechtskataloge verfügen, namentlich Italiens (Art. 41), Spaniens (Art. 38), Portugals (Art. 61) und Griechenlands (Art. 51), aber auch Österreichs (Art. 6), Luxemburgs (Art. 11 VI) und Finnlands(§ 15 I) explizite Verbürgungen der Gewerbefreiheit als der Garantie freier wirtschaftlicher bzw. unternehmenscher Betätigung. In Frankreich wird der Gewerbefreiheit als allgemeinem Rechtsgrundsatz ein hoher Rang, der zum Teil auch als Verfassungsrang bezeichnet wird 100, zugesprochen. In Belgien ist die Gewerbefreiheit zwar nur einfachgesetzlich verankert, hat aber eine historische Komponente, da die Gewährleistung bereits seit 1794 besteht. Aufgrunddessen kann eine erhöhte Stellung dieser Gewährleistung angenommen werden 101 • In der schwedischen Verfassung ist die Gewerbefreiheit zwar nicht explizit geschützt. Aus dem Wortlaut des Kap. 8 § 7 Nr. 3, wonach der Regierung das Recht gewährt wird, Verordnungen zu erlassen, die u. a. die wirtschaftliche Tatigkeit betreffen 102, läßt sich folgern, daß die wirtschaftliche Tätigkeit im übrigen, also ohne gesetzliche oder verordnungsrechtliche Grundlage, nicht beschränkt werden darf103• In Dänemark wird die Gewerbefreiheit aus den entsprechenden verfassungsrechtlichen Normen in Verbindung mit einfachgesetzlicher Verankerung hergeleitee04 • In Irland erfolgt die 98 So Kel/y, Constitution, Art. 34 3.2, S. 223: "It is not clear if they (Ausländer, d. Verf.) would have the full right to rely on the provisions of the constitution guaranteeing rights to citizens." 99 Vgl. Öhlinger, Verfassungsrecht, S. 352f; Stelzer, Stand und Perspektiven des Grundrechtsschutzes, in: FS 75 Jahre Bundesverfassung, S. 601 ff m. w. N. 100 So spricht Guimezanes, lntroduction au droit fran~ais S. 275 davon: "ce principe de valeur constitutionelle". 101 V gl. Pieters, in: Grabitz/Hilf, Grundrechte in Buropa und USA, S. 31 ff; Meeus!Velu, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in Belgien, in: EuGRZ 1981, 66. 102 Kap. 8 § 7 lautet: Unbeschadet der Vorschriften von § 3 und 5 kann die Regierung aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung auf dem Verordnungsweg in anderen Bereichen als dem Steuerbereich Vorschriften erlassen, wenn diese einen der folgenden Gegenstände betreffen: ... 3. Ein- und Ausfuhr von Waren, Geld oder sonstigen Vermögenswerten, Produktion, Verkehr, Kreditgewährung, wirtschaftliche Tatigkeit ... 103 Einfachgesetzlich wird die Gewerbefreiheit in Schweden seit 1864 gewährt, vgl. Jägerskiöld, in: Strömberg, Introduction to Swedish Law, S. 79, 84. 104 § 74 Verf. i. V. m. § 1 der Gewerbeordnung von 1857; vgl. Dübeck, Introduktion til dansk ret, S.50.

II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

123

Herleitung aus dem ungeschriebenen "right to eam a livelihood", welches auch beinhaltet, daß private Initiativen in Industrie und Handel begünstigt werden sollen 105 • In der irischen Verfassung ist gern. Art. 45 II c gleichzeitig die Politik verpflichtet zu sichern, daß eine Zusammenballung des Eigentums oder der Kontrolle wesentlicher Güter in den Händen weniger nicht zu allgemeinem Schaden führen darf. 4. Umfang des Schutzes der Berufsfreiheit

Im folgenden wird dargestellt, was in den einzelnen Mitgliedsstaaten unter dem Begriff der Berufsfreiheit geschützt wird und in welchem Umfang, also welchen Schraken die jeweilige Gewährleistung unterliegt. Dabei werden lediglich die Besonderheiten benannt, also wenn in einem Land der Schutz anders oder gar nicht vorhanden ist 11l6. Hinsichtlich des Aufbaus wird die bei Artikel121 GG verwendete Prüfungsreihenfolge zugrunde gelegt.

a) Unterscheidung selbständig/unselbständig Grundsätzlich wird, wie aus dem persönlichen und freiheitsgerichteten Schutzbereich folgt, sowohl die selbständige als auch die unselbständige Arbeit gleichermaßen geschützt. Dies gilt auch für das Österreichische Verfassungsrecht, auch wenn der Wortlaut des Art. 6 I StGG lediglich die selbständige Arbeit erfaßt 107• Besonderheiten ergeben sich in diesem Punkte allerdings in Italien und Frankreich. In Italien wird dem Wortlaut der Norm (Art. 41 schützt die wirtschaftliche Betätigung) entsprechend nur die selbständige Tatigkeit geschützt, den Schutz der unselbständigen Betätigung sowie der freien Berufe leitet man aus Art. 4 I her. Diese Norm statuiert dem Wortlaut nach das Recht auf Arbeit. Diese unterschiedliche Herleitung führt dazu, daß für den Schutz der selbständigen und unselbständigen Betätigung ein unterschiedlicher Schutzumfang existiert 108 • In Frankreich wird neben der allgemeinen Betätigungsfreiheit, der liberte professionelle, die richterrechtlich als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt ist, die Unternehmerische Betätigungsfreiheit (liberte d 'entreprendre) als Gut mit Verfassungsrang auch durch das Verfassungsgericht dergestalt anerkannt 109• Diese unterschiedliche Behandlung wirkt sich in der Einschänkbarkeit aus: Der Schutz der unselbständigen Betätigung bindet nur die Exekutive, nicht aber den Gesetzgeber. 105 Vgl. Doolan, Constitutional Law and Constitutional Rights in Ireland, S. 226; Casey, Constitutional Law in lreland, S. 321 m. w. N. der Rechtsprechung. 106 Eine ausführlichere Einzeldarstellung findet sich, wie bereits erwähnt bei Günther, Berufsfreiheit und Eigentum. 107 Öhlinger, Verfassungsrecht, S. 353. 108 V gl. unten Kapitel C II 5, i. ü. Crisafulli/Paladin, Commentario breve alla Costituzione Art. 41 Anm. VI 1, Stadler, Berufsfreiheit in der Europäischen Union, S. 296. 109 CC 16.1.82 Rec. 1982, 18ff= A.J.D.A. 1982, 202ff m. Anm. Rivero; CC 20.7.88, A.J.D.A.1988, 752, 753; Günther, Berufsfreiheit und Eigentum, S. 76.

124

C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

b) Geschützte Tätigkeiten aa) Unterscheidung zwischen Berufswahl und -ausübung Angesichts der Tatsache, daß der Berufsbegriff in allen hier betrachteten Ländern weit gefaßt ist, fallen in der Regel auch alle Aspekte beruflicher Tätigkeit in den geschützten Bereich 110• In den meisten Ländern wird neben der Wahl eines Berufs auch dessen Ausübung verfassungsrechtlich geschützt. In den Niederlanden und Belgien unterfällt lediglich die Wahl des Berufs dem verfassungsrechtlichen Schutz 111 , wobei in der dortigen Literatur Zweifel angemeldet werden, inwieweit eine Abgrenzung zwischen der Wahl und Ausübung eines Berufs überhaupt sinnvoll gezogen werden könne 112• Andersherum beschränkt sich der Schutz der Berufsfreiheit im dänischen Verfassungsrecht auf die Ausübung des Berufs 113• Der Österreichische Verfassungsgerichtshof betrachtet den Schutzbereich der Berufsfreiheit unter Vorbild der vom BVerfG entwickelten Drei Stufen-Theorie differenziert nach Berufsausübung und subjektiven bzw. objektiven Bedingungen für den Berufsantritt 114 • bb) Ausbildungsfreiheit Das Recht, sich die Ausbildungsstätte frei zu wählen, was auch beinhaltet, frei von staatlichen Einwirkungen einen freien und gleichen Zugang zu Ausbildungseinrichtungen zu erhalten 115, wird außer in Deutschland noch in Österreich (Art. 18 I) und Spanien (Art. 27 I) explizit in der Form als liberales Abwehrrecht geschützt. In Irland und Portugal wird dieser Schutz hergeleitet als Bestandteil bzw. "logische Konsequenz" 116 der Berufsfreiheit Gleichzeitig wird in allen diesen Ländern das Abwehrrecht verknüpft mit einer sozialstaatliehen Komponente, die einem Staatsziel "Recht auf Bildung" entspricht 117• In den folgenden Mitgliedsstaaten wurde in 110 So versteht man in Irland unter der Berufsfreiheit "the right to prepare for and follow a chosen career", vgl. SC Landers v. Attorney General (1973), 109ILTR 1 ff. 111 Van Berk, Grundrechte in den Niederlanden und Deutschland, S. 227; Günther, Berufsfreiheit und Eigentum, S. 94, 99. 112 Vgl. nur Akkermans, Oe Grondwet, S: 235. 11 3 Wasangesichts des Wortlautes des§ 74 Verf., wo vom Zugang zur Ausübung die Rede ist, nicht zwingend ist; vgl. aberGral/a, Grundrechtsschutz in Dänemark, S.401 m. w.N. 114 Grundlegend VfSlg 10. 179/1984, Öhlinger, Verfassungsrecht S. 353 m. w. N. der Rspr. 115 Zur Definition vgl. Jenker, Das Recht auf Bildung und die Freiheit der Erziehung in den europäischen Verfassungen, S. 15. 116 Gomes Canethilo/Moreira, Constitutuiyäo da Reptiblica Portuguesa, Anotada Art. 47 Anm.IV. 117 In Österreich ergibt sich diese Komponente lediglich aus dem einfachen Recht, nämlich Art. 2, 1. Zusatzprotokoll EMRK, vgl. Spie/bücher, Das Grundrecht auf Bildung, in: Macharek/Pahr/Stadler, Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd. 2, S. 149, 152, im übrigen

II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

125

den Verfassungen das Recht auf Bildung als nicht einklagbares Staatsziel konstituiert. Diesem wird aber eine Doppelbedeutung zugeschrieben: zum einen stelle es eine soziales Grundrecht dar, zugleich wird ihm ein abwehrrechtlichen Gehalt zuerkanntu8. Dies gilt für Italien 119, Finnland 120, Schweden 12l, Frankreich 122 und Griechenland 123• Die portugiesische Verfassung hat neben dem oben angeführten abwehrrechtlichen Ausbildungsfreiheit ein eigens konstituiertes Recht auf Bildung. Dieses mutet angesichts seiner Ausführlichkeit und sozialistischen Prägung seltsam an. So wird der besondere Schutz gegenüber Jugendlichen u. a. in der Bildung und bei der ersten Anstellung hervorgehoben, wobei der Förderung der Arbeiter ein besonderer Stellenwert zukommt 124• Keine Regelungen, die die Berufsausbildung betreffen, finden sich in den Verfassungen Belgiens, der Niederlande und Dänemarks 125• Die Iuxemburgische Verfassung regelt lediglich die freie Wahl des Studienortes im In- und Ausland 126, was angesichts der Größe des Landes wohl als besonders regelungswert erschienen war. Insgesamt ist hinzuzufügen, daß auch im Bereich der Bildung das internationale Recht von Einfluß ist. Alle Mitgliedsstaaten der EU haben die EMRK 127 mitunterzeichnet und sind somit an Art. 2. des Zusatzprotokolles gebunden, welches das Recht auf Bildung konstituiert.

s. Jenker, Das Recht auf Bildung und die Freiheit der Erziehung in den europäischen Verfassungen, S.l5ff. 118 Ausführlicher Ienker, Das Recht auf Bildung und die Freiheit der Erziehung in den europäischen Verfassungen, S. 15 f. 119 Art. 35 II der italienischen Verfassung. 120 § 15 II der finnischen Regierungsform. 121 Kap. 1 § 2 II der schwedischen Verfassung. 122 Präambel der Verfassung von 1946, s. Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Recht, S. 57. 123 Art. 16, insb. Abs.4, 7 der griechischen Verfassung. 124 V gl. Thomashausen, Der Freiheitsbegriff, die Grundrechte und der Grundrechtsschutz in der neuen portugiesischen Verfassung, in: EuGRZ 1981, 1, 6. Er weist der Grundrechtskonzeption vor allem im Bildungsbereich eine wertende, pädagogische Grundhaltung nach, die allerdings zu weiten Teilen durch Verfassungsänderungen im Vorfeld des EG-Beitritts behoben wurde. Das einzige von den von Thomashausen aufgeführten Beispielen, welches noch in der Verfassung zu finden ist, ist das oben zitierte zur besonderen Rirderung der Arbeiter. Auch bei diesem ist die Zusammenschau innerhalb der Verfassung, wonach die Entfaltung der Persönlichkeit Maßstab auch der Bildungspolitik sein soll (Art. 70), zu beachten, so daß in der Realität aus dieser Norm keine freiheitsfeindlichen Tendenzen hergeleitet werden dürften. 125 Die Schulbildung ist geregelt in Art. 17 der belgiseben Verfassung; Art. 76 der dänischen und Art. 23 der niederländischen Verfassung. 126 Art. 23 IV der Iuxemburgischen Verfassung. 127 eingehend unten Kapitel D III.

126

C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

S. Einschränkbarkeit

In allen Verfassungen, die die Berufsfreiheit gewähren, ist sie nicht schrankenlos gewährt. Lediglich die Art der Einschränkbarkeit oder vielmehr die Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, damit das Recht eingeschränkt werden kann, sind unterschiedlich 128• Mit der Frage, wie effektiv der Schutz des Rechtes vor Einschränkungen ausgestaltet ist, steht und fallt der Wert der grundrechtliehen Gewährleistungen in ihrer Abwehrfunktion. Allerdings hat, wie gesehen, das Grundrecht in den unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Bedeutung. Wo lediglich ein Staatsziel konstituiert wird, also kein subjektives Recht aus der jeweiligen Norm erwächst und der Wert der Gewährleistung erst in der Umsetzung ins einfache Recht gesehen wird (wie in Belgien, Finnland) kommt einer effektiven Schrankensystematik auch kein so hoher Stellenwert zu. In Dänemark, Schweden, Finnland und Belgien stellt die als bloßer Programmsatz proklamierte Berufsfreiheit ohnehin keine einschränkbare Verbürgung dar.ln den Niederlanden ist zwar die Berufswahlfreiheit grundrechtlich gewährt, diese Gewährleistung steht aber unter allgemeinem Gesetzesvorbehalt Gleichzeitig ist dem niederländischen Recht allgemeine grundrechtsschützende rechtsstaatliche Ausprägungen wie der Verhältnismäßigkeits-und Wesensgehaltsgrundsatz fremd 129; so wird man im Ergebnis davon ausgehen müssen, daß die Wirkung des niederländischen Grundrechtsschutzes in puncto Berufsfreiheit einem Programmsatz gleichkommt. Somit verbleiben für den Vergleich hinsichtlich der Schrankensystematik die Grundrechte Österreichs, Spaniens, Portugals, Griechenlands, Frankreichs und Irlands.

a) Gesetzesvorbehalt Im Österreichischen Recht steht die Erwerbsfreiheit gern. Art. 6 I StGG unter allgemeinem Gesetzesvorbehalt; dieser wird auch auf die dem Wortlaut nach schrankenlos gewährte Berufsfreiheit (Art.18 StGG) ausgedehnt 130• Ebenso steht die Berufsfreiheit in Luxemburg und Portugal unter einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt In Spanien gilt dies lediglich für die Berufswahlfreiheit, die Ausübung kann beliebig eingeschränkt werden. Bei der Berufsausübungsfreiheit kann deswegen strenggenommen nicht von Grundrechtsschutz gesprochen werden 131 • Im französischen Recht bedürfen gern. Art. 34 Verf. wesentliche Eingriffe einer gesetzlichen 128 Vgl. allgemein Savoie, Monaco und Thomashausen, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und USA Bd. I, Strukturen nationaler Systeme, 1986, S.226; 389-390,412, 416, 614. 129 Vgl. van Berg, Das Grundrechtsverständnis der niederländischen Verfassung im Verhältnis zum deutschen Grundrechtsverständnis, S. 66ff; Kortmann, De grondwetsherzieningen 1983 en 1987, S.l19. 130 Öhlinger, Verfassungsrecht, S. 353. 131 L6pez-Pina, Spanisches Verfassungsrecht, S. 309 f.

II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

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Grundlage oder anders ausgedrückt Konkretisierung 132, die aufgrundder Kompetenzzuweisung zur Regelung in Form eines Parlamentsvorbehalts erfolgt 133 • Nach der Rechtsprechung können der Exekutive aber auch originäre Kompetenzen zur Beschränkung der Grundrechte zustehen, wenn der Gesetzgeber von seiner Kompetenz keinen Gebrauch macht. Das ist vorrangig im Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung der Fall 134. Ein differenziertes System zur Einschränkbarkeit findet sich in der italienischen Verfassung. Im Wege einer verfassungsunmittelbaren Schrankensetzung kann die Freiheit untemehmerischer Betätigung unter vier Aspekten eingeschränkt werden. Grundlage für zum Teil erhebliche Einschränkungen der Betätigungsfreiheit 135 bilden die Schranken des Absatzes 2, wonach die Betätigungsfreiheit mit Gründen des allgemeinen Wohls (utilita sociale) möglich ist oder wenn die Sicherheit oder die Freiheit gefahrdet sind oder wenn der menschlichen Würde Schaden zugefügt wird. Allerdings wird diese Einschränkbarkeit in der Praxis einem ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt gleichgesetzt 136• In Griechenland unterliegt die Berufsfreiheit einer erheblichen Gemeinwohlbindung137 und kann daher bereits auf Verfassungsebene, also verfassungsunmittelbar, eingeschränkt werden. Aus dem Grunde wird zum Teil von einem relativem Grundrechtsverständnis gesprochen, auf jeden Fallläßt sich sagen, daß ein Schrankensystem wie im deutschen Recht nicht besteht 138.

b) Eingriffsrechtfertigung Ein Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit ist nach den meisten Verfassungsordnungen nur unter Beachtung der auch im deutschen Recht bekannten rechtsstaatliehen Ausprägungen der Verhältnismäßigkeit und des Wesensgehaltes möglich. Wie bereits erwähnt, kennt das niederländische Recht allerdings diese Prinzipien nicht. Das irische Recht verwendet statt des Prinzips der Verhältnismä132 Der Wortlaut von Art. 34 Verf.: Durch Gesetz werden geregelt: - Die Bürgerrechte und die den Staatsbürgern gewährleisteten grundlegenden Garantien ... spricht mehr für Ausgestaltung denn Beschränkung. 133 Vgl. Guimezanes, Introduction au droit fran~rais, S.65: ,Jl n'y a pas au niveau constitutionel de veritable protection des libertes. Cette protection releve de Ia loi qui a, par ailleurs, consacre d'autre libertes publiques." 134 V gl. ausführlich Savoie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA, S. 235 f, 238. 135 Crisafulli/Paladin, Comrnentario breve alla Costituzione Art.41 Anm. V 1m. w. N. 136 Paladin, Diritto Costituzionale, S. 684 spricht von einer riserva implicita; vgl. ausführlich Günther, Berufsfreiheit und Eigentum, S.l36ff. 137 Vgl. Art. 25 der griechischen Verfassung: I Die Rechte der Menschen als Einzelner und als Mitglied der Gesellschaft werden vom Staat gewährleistet ... IV Der Staat ist berechtigt, von allen Bürgern die Erfüllung ihrer Pflicht zu gesellschaftlicher und nationaler Solidarität zu fordern. 138 Vgl. Dagtalou, Constitutional and Administrative Law, in: Keraneus/Kozyris, Introduction to Greek Law, S. 28, 49.

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

ßigkeit das aus dem angelsächsischen Rechtskreis kommende Prinzip der "justice"139. Darunter versteht man Gerechtigkeitserwägungen, die gestützt werden auf "mutually harmonious application" sowie, wenn eine solche nicht erreichbar ist, gestützt auf eine "hierarchy or priority of the conflicting rights" 140• aa) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz In Portugal, Spanien, Griechenland und Luxemburg müssen Eingriffe in ein Grundrecht vergleichbar dem deutschen Recht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen, wobei bei der Verfeinerung der Anwendung dieses Prinzips in Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit durch deutsche Prägung entstanden istl 41 • Im italienischen Verfassungsrecht ist eine durchgehende Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht erkennbar 142, wohl aber die Beachtung des Willkürverbots 143 • Im französischen Verfassungsrecht unterliegen lediglich Exekutivakte einer Verhältnismäßigkeitskontrolle 144• Ein ausdifferenziertes System der Verhältnismäßigkeitsprüfung in bezug auf die Berufsfreiheit nach Vorbild der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet sich im Österreichischen Verfassungsrecht Dem Verhältnismäßigkeit wird gerade bei der Prüfung der Erwerbsfreiheit ein großer Wert beigemessen 145 • Anknüpfungspunkt ist auch hier die Rechtfertigung eines Eingriffes mittels eines entsprechenden öffentlichen Interesses, welches zur Zielerreichung geeignet, adäquat und auch sonst sachlich zu rechtfertigen sein muß 146• Die Qualifizierung der Allgemeinwohlgründe als "besonders wichtig, 139 High Court, Attorney General and Minister for Post and Telegraph v. Paperlink Ltd. (1984): "1 must of course defend the citizen's right against any unjust attack and hold, ifnecessary, that any existing law has placed an excessive Iimit on the citizen 's right to eam a living". In der Literatur wird derweil auch angeregt, ob die Verwendung des Verhältnismäßigkeilsgrundsatzes nicht zweckmäßig sei. Dabei wird interessanterweise auf Kanada bezug genommen. In dem dortigen Rechtssystem wird der Begriff des ,justified" verstanden als "proportional or appropriate in the ends", also unserer Verhältnismäßigkeilsprüfung gleichkommend; vgl. Casey, Constitutional Law in lreland, S.312f. 140 "lf possible fundamental rights should be given a mutually harmonious application, xbute when it is not possible, the hierarchy or priority of the conflicting rights must be examined both as between themselves andin relation to the welfare of the society ...", The People v. Shaw (1982), I.R.1, s. Kelly, The Irish Constitution, S. 693ff. 141 S. Zuleeg, Das Grundgesetz und der EuGH, S. 238 f, ausführlich Deutsche Sektion der internationalen Juristenkommission (Hrsg.): Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen, 1985; ebenso Darstellung bei Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht Bd. 2, 1988 S.661-842. 142 Vgl. Ubetazzi, Le principle de proportionalite en droit italien, in: Kutscher (Hrsg.), Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in den europäischen Rechtsordnungen S. 53. 143 Stad/er, Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, S. 296. 144 Ausführlich Teitgen, Le principle de proportionaHte en droit fran~ais, in: Kutscher (Hrsg.), Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in den europäischen Rechtsordnungen S.53. 145 Grundlegend VfSlg 10.179/1984, ausführlich Öhlinger, Verfassungsrecht S. 353. 146 S. etwa VfSlg 13.704/1994.

li. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

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wichtig und anerkannt" wird im Österreichischen Verfassungsrecht in der Form allerdings nicht vorgenommen 147. bb) Wesensgehalt Der Schutz des Wesensgehaltes als dem unantastbaren Kernbereich der jeweiligen Grundrechtsposition wird in fast allen Verfassungen geachtet. Im italienischen Recht ist zumindest für die Freiheit der privatwirtschaftliehen Initiative die Voraussetzung aufgestellt worden, daß eine Einschränkung die Ausübung des Rechts nicht unmöglich machen darf, vielmehr ein Nutzungsrest (margine di utile) verbleiben mußi4s. Auch im französischen Recht ist es untersagt, Verfassungsrechte gänzlich zu entstellen 149. Gleiches gilt in Portugal 150, Spanien 151 und Griechenland 1s2• In Irland stellt der Schutz des Wesensgehalts einen Teil der justice-Prüfung dar 153 • Im Österreichischen Verfassungsrecht ist der Schutz des Wesensgehalts zwar vorhanden, wird aber als praktisch folgenlos beurteilt 154. Anwendung findet der Schutz des Wesensgehalts bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Ein Gesetz ist wegen Verstoßes gegen den Wesensgehalt verfassungswidrig, wenn die Freiheit der Erwerbstätigkeit in diesem Sektor praktisch beseitigt würde 1ss Die Prüfung wird in der Praxis nicht getrennt von der Verhältnismäßigkeit durchgeführt. Dem Iuxemburgischen Recht ist der Schutz des Wesensgehalts im Sinne des deutschen Rechts fremd 156.

147 VfSlg 11.558/1987; 11.848/1988; 12.094/1989; 12.082/1989; 14.179/1995; vgl. Öhlinger, Verfassungsrecht S. 356 m. N. der Rspr.; ausführlich Pollak, Verhältnismäßigkeitsprinzip und Grundrechtsschutz in der Judikatur des EuGH und der Österreichischen Rechtsprechung, S. 91 ff; Berka, Konkretisierung und Schranken der Grundrechte, in: ZÖR 1999, 31. 148 Paladin, Diritto Costitutionale S. 684 m. w. N., Günther, Berufsfreiheit und Eigentum, S. 140, Stad/er, Berufsfreiheit S. 296. 149 Vgl. ausführlichArno/d, Die Ausgestaltung und Begrenzung von Grundrechten im französischen Verfassungsrecht, in: JbÖR 38 (1989), 197,215. !5o Art. 18 III Verf.: micleo essencial. 151 L6pez-Pina, Spanisches Verfassungsrecht, S. 310; ders., Der gerichtliche Grundrechtsschutz in Spanien, in: KritV 1990, 36f. 152 /lioupoulos-Strangas, Grundrechtsschutz in Griechenland, in: JböR 32 (1983), 395, 42 m.w.N. 153 Vgl. oben Kapitel CII5b)aa). 154 VfSlg 3118/1956; Öhlinger, Verfassungsrecht, S. 353, 356, Oberndorfer, Die Berufswahl- und Berufsausübungsfreiheit, S. 621. 155 VfSlg 3968/1961; Öhlinger, Verfassungsrecht, S.356. !56 Ausführlich Majerus, L'"Etat Luxembourgeois, S.110ff.

9 Bonmann

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen 6. Recht auf Arbeit

Ein Recht auf Arbeit als den Gesetzgeber bindenden Auftrag kannte das finnische Recht seit Anfang der 80er Jahre. Es wurde einfachgesetzlich umgesetzt im Arbeitsgesetz, welches 1987 neugefaßt wurde. Der Staat werde verpflichtet, entweder Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen oder Arbeitslosengeld zu zahlen. Langzeitarbeitslosen und Jugendlichen wurde nach einer längeren Zeit der Arbeitslosigkeit ein Recht auf einen Arbeitsplatz garantiert, stellte also ein echtes subjektives Recht auf Arbeit darlS7. lnfolge der Rezession in Finnland Anfang der 90er Jahre mußte das Recht auf Arbeit mangels Erfüllbarkeit 1992 wieder aufgehoben werden. Seither wird das Recht auf Arbeit als programmatische Verpflichtung an den Staat, eine auf die Schaffung von Arbeitsplätzen gerichtete Politik zu betreiben, verstanden 158• Damit hat das Recht auf Arbeit in Finnland die gleiche rechtliche (Un-) Verbindlichkeit wie entsprechende Normen in den Verfassungen Italiens, Luxemburgs, Frankreichs, Dänemarks, Schwedens, Portugals, Spaniens, Griechenlands, der Niederlande und Belgiens 159• 7. Wirkung der Grundrechte im Privatrecht

a) Drittwirkung der Grundrechte Die in Deutschland viel diskutierte Frage, ob und gegebenenfalls wie die Grundrechte in der Gesamtrechtsordnung auf andere Rechtsgebiete als das öffentliche Recht, namentlich das Zivilrecht, Wirkung entfalten, also zum einen, ob Private aus den Grundrechten unmittelbar oder mittelbar verpflichtet werden können oder ob im Sinne eines Schutzgedankens Gesetzgeber und Gerichte zur Durchsetzung gewisser Schutzpositionen verpflichtet sind, wird selbstverständlich auch in den anderen Staaten der EG diskutiert. In den Staaten, in denen die Grundrechte ohnehin keine subjektiven Rechtspositionen des Einzelnen gegenüber dem Staat entfalten, stellt sich die Frage nach der unmittelbaren Bindung Privater an die Grundrechte nicht in der gleichen Weise wie in den anderen Staaten. So wird in Schweden und Finnland eine Drittwirkung grundsätzlich abgelehnt 160• Auch in Dänemark geht man davon aus, daß die Verfassungsbestimmungen grundsätzlich lediglich der ge157 Scheinin, Constitutional Law and Human Rights Law, in: Pöyhönen, An Introduction to Finnish Law, S. 27, 42f.; s. a. Karapuu!Rosas, Economic, Social and Cultural Rights in Finland, in: Rosas, International Human Rights Norms in Domestic Law, S.l95, 205ff. 158 Die aus der Norm folgende Pflicht sei eher politischer als juristisch genauer Art; vgl. ausführlich Scheinin, Constitutional Law and Human Rights Law, in: Pöyhönen, An Introduction to Finnish Law, S. 27, 43. 159 V gl. auch die Übersicht bei Hernekamp, Soziale Grundrechte, S. 111, s. a. Polakiewiez, in: ZaöRV 54 (1994), 340; Haller, Verfassungsreform in Frankreich, in: ZfschwR 1995 , S.202, 208f. 160 Cameron, Protection of Constitutional Rights in Sweden, in: Public Law 1997, 488, 494; Hiden, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in Finnland, in: JÖR 32 (1983), 201, 213.

II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

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setzgebenden Gewalt Grenzen setzten; eine Wirkung im Verhältnis Privater wird daher "allenfalls mittelbar" angenommen 161 • Im belgischen Verfassungsrecht entfalten die Grundrechte über die ordre public-Klausel Wrrkung auf Privatrechtsbeziehungen 162• In den Niederlanden wurde bei der Verfassungsänderung von 1983 dem Umstand gedacht, daß "trotz der historisch geprägten Ziel- und Schutzrichtung der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat sie auch geeignet sein sollten, gegen nichtstaatliche Machtentfaltung Grundrechtspositionen zu bewahren" 163• So vertrat die Regierung in der Begründung zur Verfassungsänderung den Standpunkt, Menschenrechte seien auch in Rechtsbeziehungen zwischen Personen unmittelbar anzuwenden 164, ohne aber konkret zu benennen, wie die Bindung ausgestaltet sein solle, also ob eine unmittelbare oder mittelbare horizontale Wirkung der Grundrechte angestrebt sei. In letzter Zeit nimmt die Rechtsprechung die unmittelbare Wirkung durch die Rechtsprechung immer häufiger mit dem Argument an, daß nicht einzusehen sei, warum die Freiheit nicht überall dort, wo es notwendig ist - und sei es in Privatrechtsbeziehungen -, auf die effektivste Weise geschützt werden müsse 165•

Die Diskussion um eine Wirkung der Grundrechte im Privatrecht ist in den südlichen Mitgliedsstaaten maßgeblich mit ausgelöst oder zumindest begleitet worden durch die deutsche Diskussion um die Drittwirkung 166• Das Instrument der Drittwirkung ist dem italienischen Recht nicht fremd. So geht man im italienischen Recht davon aus, daß die Grundrechte zum einen dadurch Einfluß auf private Rechtsverhältnisse ausüben, daß die Privatrechtsordung mit der Verfassung in Einklang stehen muß. Dementsprechend erfolgt ein direkter Einfluß auf die Privatrechtsordnung mittels der Generalklauseln 167 • Die italienische Verfassung enthält hierfür Normen, die bereits dem Wortlaut nach unmittelbar das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer regeln. Art. 36 der italienischen Verfassung bestimmt die Garantie einer angemessenen Bezahlung, Art. 37 die Gleichbehandlung für Frauen und Minderjährige bei gleicher Arbeit sowie Art. 40 das Streikrecht Diese Regeln ersetzen eventuell anderslautende IndividualabspraThygesen, in: EuGRZ 1978,440. Cour de Travail Brussel, Urteil vom 24.11.1977, in: IT 1978, 63f. 163 Van Berk, Das Grundrechtsverständnis in der niederländischen Verfassung von 1983 im Verhältnis zum deutschen Grundrechtsverständnis, S. 63 m. w. N. 164 V gl. Algehele Grondwetsherziening, S. 35 f, van Berk, Das Grundrechtsverständnis in der niederländischen Verfassung von 1983 im Verhältnis zum deutschen Grundrechtsverständnis, S. 63. 165 V gl. van Wissen, Grondrechten, S. 37 unter Verweis auf HR 30. Maart 1984, S. 366 und HR 9.1.1987, AB 1987, 231, s. a. van Berk, Das Grundrechtsverständnis in der niederländischen Verfassung von 1983 im Verhältnis zum deutschen Grundrechtsverständnis, S.64f. 166 Vgl. Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien, S.235, Ilioupoulos Strangas, in: JÖR 32 (1983), 395, 422 für Griechenland. 167 Vgl. Luigi Mengoni, Privatautonomie und Verfassung, in: JbltalR 10 (1997), 29, 33. 161

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

chen und können unmittelbar auf Grundlage der Verfassungsnorm eingeklagt werden168. Darüber hinaus bleiben in der Praxis jedoch Entscheidungen, in denen aus dem Gedanken der Drittwirkung die Einräumung der Befugnis zu vertraglicher Inhaltskontrolle hergeleitet werden, die Ausnahmen. Die Anwendung des Verfassungsrechts auf das Zivilrecht wird eher als Aufgabe des Zivilrechts und der Zivilrechtslehre gesehen 169. Im spanischen Verfassungsrecht wird die Frage nach der Drittwirkung der Grundrechte kontrovers diskutiert. Anknüpfungspunkt in der Verfassung ist hierzu Art. 9 I der spanischen Verfassung, wonach die Bürger und die Staatsgewalten an die Verfassung und die übrige Rechtsordnung gebunden sind. In der Rechtsprechung wird die Tendenz erkannt, daß das Problem der Drittwirkung als ein Unterfall der Grundrechtskollision (lndividualgrundrechte versus Privatautonomie) behandelt wird, was im Ergebnis zu einer unmittelbaren Grundrechtswirkung im Privatrecht führt. Eine definitive Äußerung oder Erklärung des Verfassungsgerichtes steht allerdings noch aus 170• In der Literatur finden sich jedoch auch Stimmen, die für die Bindung der Bürger an die Verfassung eine Vermittlung durch Gesetz für nötig erachteten, also eine lediglich mittelbare Wirkung der Grundrechte für Private bevorzugen. Mit dem Wortlaut der Verfassung läßt sich das insoweit rechtfertigen, als daß Art. 53, der im systematischen Zusammenhang zu den Grundrechten steht, bestimmt, daß die anerkannten Rechte alle Staatsgewalt binden, also die Bindung der Bürger nicht enthält 171 . Trotz des Wortlautes des Art. 18 I der portugiesischen Verfassung, wonach die Verfassung bezüglich der Rechte, Freiheiten und Garantien unmittelbar anwendbar ist und öffentliche und private Einrichtungen bindet, tut man sich in der portugiesischen Verfassungslehre schwer, eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht anzunehmen. Die Rechtsprechung bezieht nicht eindeutig Stellung 172• In der Literatur hat sich in Auslegung des Verfassungswortlauts die Auffassung durchgesetzt, daß in Privatrechtsverhältnissen, die wie das Staat-/Bürgerverhältnis ein Über-/Unterordnungsverhältnis darstellen, die unmittelbare Wrrkung der Grundrechte angenommen wird, im übrigen die Grundrechte mittelbar, also im Maß der Konkretisierung durch das einfache Recht gelten 173 • 168 Kind/er, Einführung in das italienische Recht, §4 RN 16; Mengoni, in: Jblta!R 10 (1997), 29, 33. 169 Schefold, Der Einfluß des Verfassungsrechts auf das Zivilrecht, in: Jblta!R 10 (1997), 49, 59; vgl. auch die Rechtsprechungsnachweise bei Mengoni, in: Jblta!R 10 (1997), 29, 33. 170 Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien S. 237 unter Verweis auf RI-2, 189/1980 BJC 1981, 23ff, m. w. N. der Literatur. 171 S. Diez Picazo y Ponce d. Leon, Verfassung, Gesetz, Richter, in: Lopez-Pina, Spanisches Verfassungsrecht, S. 459, 469; Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 234 ff. 172 Vgl. Grothmann, Grundrechtsschranken Portugal/Deutschland, S. 95 f m. N. der Rspr. 173 Vgl. Grothmann, Grundrechtsschranken Portugal/Deutschland, S. 96f m. w. N. der Literatur.

li. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

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Auch in Griechenland wird von einer grundsätzlichen Wirkung der individuellen Grundrechte im Privatrecht ausgegangen. Zum Teil wird eine Drittwirkung auch für soziale Rechte angenommen, soweit sie sich auf Privatbeziehungen auswirkten oder sich individuelle Rechte daraus herleiten ließen. Dogmatisch gestützt werden diese Annahmen auf Art. 5 I und 25 I der Verfassung. Diese Normen beschreiben die gemeinschaftsgebundene Anwendung der Grundrechte. Die herrschende Lehre plädiert für die unmittelbare Drittwirkung 174• Eine andere Auffassung geht unter Berufung auf die deutsche Lehre grundsätzlich von einer indirekten Drittwirkung aus; während eine andere Auffassung differenziert und eine Drittwirkung grundsätzlich nur bei Vorliegen eines Über-/Unterordnungsverhältnisses annimmt 175 • In Frankreich ist die Drittwirkung der libertes publiques allgemein anerkannt, was mit dem Erklärungscharakter der Grundfreiheiten bei ihrer Entstehung im 18. Jahrhundert erklärt wird. Die Proklamation von unveräußerlichen Rechten hatte den Zweck, daß diese von niemandem - also weder dem Staat noch von Privaten- eingeschränkt werden dürfen 176 • Der Umfang und die Art der Drittwirkung sind dabei allerdings unklar, lediglich für den Bereich des Arbeitsrechts ist sie, gestützt auf die Präambel der Verfassung von 1946, fundiert und durch das Verfassungsgericht als unmittelbare Drittwirkung bestätigt 177 • Im Österreichischen Verfassungsrecht ist die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung .,auf dem besten Wege, auch zum festen Bestandteil der Österreichischen Grundrechtsdogmatik zu werden" 178• Das Österreichische Recht hat, ähnlich wie das deutsche, als Ausgangspunkt Freiheitsrechte liberalen Zuschnitts, die mittels erweiternder Auslegung eine Drittwirkung zugesprochen bekommen. Während die Judikatur zu diesem Themenbereich knapp ist, setzt sich die Literatur, maßgeblich angeregt durch die deutsche Diskussion zu diesem Thema, mit der Frage nach der Drittwirkung der Grundrechte auseinander; dabei wird die enge Verknüpfung der Österreichischen zur deutschen Rechtsentwicklung hervorgehoben 179 • 174 Vgl. Übersicht bei 1/iopoulos-Strangas, Grundrechtsschutz in Griechenland, in: JböR 32 (1983), 395, 422f. 175 Vgl. Jlioupoulos Strangas, in: JÖR 32 (1983), 395, 422fm. w.N.; Korsos, in: FS Zepos, S.l75f, 201. l76 Savoie, in: Grabitz, Grundrechte in Europa und den USA, S. 232, Classen, in: JÖR 36 (1987), 29, 39m. w.N. 177 84-185 vom 18.1.1985, J.O. S.821; 77- 87 DC vom 23.11.1977, J.O. S.5530; dazuRivero, Le Conseil Constitutionel et !es libertes, 1984, S: 85ff; Classen, in: JÖR 36 (1987), 29, 39. 178 Griller, Der Schutz der Grundrechte vor Verletzung durch Private, in: Jbl 1992, 205, 214 f, s. a. Öhlinger, Verfassungsrecht, S. 295 f m. w. N., Novak, Zur Drittwirkung der Grundrechte- die Österreichische Lage aus rechtsvergleichender Sicht, in: EuGRZ 1984, 133; Hans Mayer, Der Rechtserzeugungszusammenhang und die sog. Drittwirkung der Grundrechte, in: Jbl 1990, 768; Griller, Der Schutz der Grundrechte vor Verletzungen durch Private, in: Jbl 1992,289. 17 9 So Novak, in: EuGRZ 1984, 133, 134, vgl. auch Giller, in: Jbll992, 289, 293.

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

Es sei zusätzlich erwähnt, daß in Großbritannien mit der Verabschiedung des Human Rights Act 180 1998 in der Literatur auch die Frage nach einer möglichen Horizontalwirkung der dort vermittelten Rechtspositionen nach deutschem Vorbild zur Diskussion gelangt 181 • Es lassen sich- vereinfacht- zwei grundsätzlich unterschiedliche Herangehensweisen an die Frage nach der Bindung Privater an die Grundrechte entdecken. Diese unterschiedlichen Herleitungen hängen eng mit dem Charakter und dem Verständnis der Grundrechte in den jeweiligen Ländern zusammen. Als erstes ist das "deutsche Modell" zu nennen. Die ursprünglich als Abwehrrechte konzipierten Rechte bekommen über die Auslegung der Grundrechte als Wertordnung einen erweiterten Gehalt, der eine gewisse Bindung Privater zuläßt oder fordert. Diesen Weg beschreiten so auch Österreich, zum Teil auch die südlichen Länder, die ja auch geprägt sind durch die deutsche Entwicklung. Bei letzteren ist aber die beschriebene Situation Italiens hinsichtlich der "sozialen Grundrechte" zu erwähnen, was vielleicht schon eher unter die als nächstes zu beschreibende Kategorie fällt. Das zweite Modell ist das "französische Modell", welches sich auch im nordeuropäischen Raum wiederfindet: Die Grundrechte werden von vornherein als Teil einer Wertordnung verstanden, womit eine Unterscheidung in der Bindungswirkung gegenüber dem Staat oder den Privaten erst einmal nicht vorgenommen wird. Die Bindung entsteht grundsätzlich erst durch Umsetzung in das einfache Recht bzw. durch entsprechende ,,Rechtsfortbildung" durch die Gerichte, die damit eigentlich einer Rechtssetzung gleichkommt.

b) Die Konstituierung von Schutzpflichten Eine weitere Frage, die sich im Zusammenhang mit der Frage nach der Wrrkung der Grundrechte im Privatrecht stellt, ist die, inwiefern aus den Grundrechten Schutzpflichten hergeleitet werden, die den Staat verpflichten, mit den Mitteln des Rechts für eine größtmögliche Durchsetzung der Grundrechte im Privatrechtsverhältnis zu sorgen 182• Dieses Thema kann an dieser Stelleaufgrund seines Umfanges nicht detailliert erörtert werden. So sollen ein paar Hinweise genügen. Es zeigt sich, daß die Konstituierung von Schutzpflichten eng mit dem Vorhandensein und den Aufgaben eines höchsten (auch) zur Verfassungsauslegung befugten Gerichtes zusammenhängt 183 • Es läßt sich allgemein feststellen, daß die Festlegung von Schutzpflichten den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und damit Http://www.hmso.gov.uk/acts/acts 1998/19980042.htm. Vgl. Markesinis, Privacy, Freedom of Expression and the Human Rights Bill: Lessons from Germany, in: L.Q.Rev. 115 (1999), 47, 73ff. 182 V gl. oben Kapitel B VII. 183 Vgl. ausführlich Favoreu, Le controle juridictionel de lois en Europe occidentiale, in: RDP 1984, 1147. l8o

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II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

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die Grundlage der Demokratie beeinträchtigen können 184, denn eine verfassungsgerichtliche Kontrolle von Rechtssetzungsakten bedeutet eine Einschränkung der Souveränität des Volkes, welches im Parlament seine Vertretung hat. Eine gerichtliche Überprüfbarkeit von Parlamentsentscheidungen wird in einigen Staaten als Verstoß gegen das Gewaltenteiluri"gsprinzip empfunden. Zu nennen ist zuvorderst Großbritannien 185, dies gilt aber auch für die nordeuropäischen Staaten 186, die Niederlande und Belgien. Dabei läßt sich die Existenz einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle damit rechtfertigen, daß ein Gesetz nur dann dem Gemeinwillen- dem volonte generale-entspricht, wenn es verfassungsgemäß ist 187• In diesem Sinne hat das französische Verfassungsgericht (CC) eine begrenzte Annahme von Schutzpflichten vorgenommen 188• Allerdings geht das CC im Unterschied zum Bundesverfassungsgericht nicht so weit, positive Regelungen vorzugeben, wie ein verfassungsgemäßes Gesetz aussähe 189, sondern beschränkt seine Aufgabe dahin, einen nicht ausreichenden Schutz festzustellen. Im Österreichischen Recht wird die Ableitung von Schutzpflichten aus der Verfassungaufgrund ihres Alters und ihrer Tradition abgelehnt. Allerdings hat der Verfassungsgerichtshof in einem das Versammlungsrecht betreffenden Fall einen staatlichen Schutzauftrag aus der EMRK hergeleitet 190• 8. Europäisierung der Verfassungslehren

Bereits die historische Betrachtung hat gezeigt, daß die gegenseitige Beeinflussung der Staaten während der Verfassungsbildung eine gemeinsame Verfassungstradition hat entstehen lassen. Die französische Revolution hat mit der Erklärung der Menschenrechte "eine außergewöhnliche Erweckung Europas" 191 hervorgerufen, von der aus sich die moderne Verfassungstradition auf dem Kontinent ausgebreitet hat. Seither haben sich in allen Staaten Europas, abhängig von den konkreten Umständen im jeweiligen Land, die Entwicklungen in einem gemeinsamen Fluß bewegt, in dem die vorangegangenen Etappen bestimmend für die weitere Verfas184 V gl. Classen, in: JÖR 36 (1987), 29, 44. s. a. Graf Vitzum, Gentechnologie und Menschenwürdeargument, in: ZRP 1987, 33 f: Die Gesetzgebung darf nicht zum Verfassungsvollzug werden. m Vgl. Lundmark, Common Law, S. 98. 186 S. insbesondere zu DänemarkRing/0/sen-Ring, Einführung in das skandinavische Recht RN 151. 187 V gl. Merlen, Demokratischer Staat und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: DVB11980, 773, 774. 188 V gl. ausführlich den deutsch-französischen Vergleich bei Classen, in: JÖR 36 (1987), 29. 189 S. nur BVerfGE 88, 203. 190 VfGH 12.10.1990, B20/89, vgl. Griller, in: Jbl1992, 289, 296,Novak, in: EuGRZ 1984, 133, 143. 191 SoLe Golf, Das alte Europa und die Welt der Modeme, S.48.

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

sungsentwicklung geworden sind 192. Stets haben bestehende Verfassungen als Leitund Vorbilder gedient, wenn in einem anderen Land eine neue Verfassung erschaffen wurde. Die französische Menschenrechtserklärung von 1789 und die belgisehe Verfassung von 1831 waren die großen Leitbilder des 19. Jahrhunderts. Für dieneueren Verfassungen der Nachkriegszeit ist eine solche Vorbildfunktion auch dem deutschen Grundgesetz zugekommen. Die Verfassungen Griechenlands von 1975, Portugals von 1976 und Spaniens von 1978 sind unter diesem Eindruck, aber auch dem der italienischen von 1947 und französischen Verfassung von 1946 entstanden 193. Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges führen zudem die zahlreichen internationalen Menschenrechtsübereinkommen, darunter als erstes zu nennen die UN-Menschenrechtserklärung von 1948, zu einer Beschleunigung der Vereinheitlichung von Verständnis und Auslegung entsprechender Rechte auch in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen 194. Ein besonders sinnfalliges Bild für den Einfluß übernationalen Rechts auf eine nationale Verfassungsordnung ist in der spanischen Verfassung zu finden. In Art. 10 II Verf. wird ein Auslegungsgebot normiert, wonach die Grundrechte der Verfassung in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den von Spanien unterzeichneten internationalen Verträge und Abkommen über diese Materien auszulegen sind 195. Das Österreichische Bundesverfassungsgesetz räumt der EMRK 196 und dem ersten Zusatzprotokoll zur EMRK sogar Verfassungsrang ein 197. In Frankreich kommt der EMRK Vorrang vor dem Gesetz zu, was wegen mangelnder Prüfungs- und Kassationsbefugnisse allerdings praktisch folgenlos bleibt 198. Es ist naheliegend, daß, wer aus einer Verfassung Teile übernimmt, gleichzeitig die Verfassungswirklichkeit, die sich ungeschrieben mit entwickelt hat, in die neue Verfassung mit aufnimmt 199 . Das folgt daraus, daß zur Grundrechtskultur neben den Texten auch die Kontexte, die "ambiance" des nationalen Grundrechtsverständnisses gehören, die Werthaltungen der Öffentlichkeit, ihre Sensibilität für Grundrechtsverletzungen200. Häberle weist auf den engen Zusammenhang zwischen Recht und Kultur hin. Zugleich deutet er an, daß sich durch die Rezeption aus anderen Verfas192 Morlok, Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Verfassungstheorie, S. 124; Schuppert, in: Staatswissenschaft und Staatspraxis 5 (1994), 35ff. 193 Vgl. Nachweise oben Kapitel CII 1 e). 194 Everling, in: RabelsZ 1986, 193, ders., in: Recht und Integration, S. 152-172; Dreier, in: DVB11999, 667,673. 195 V gl. Pedro Cruz Villa/on, Die Entstehung einer Europäischen Grundrechtsgemeinschaft, in: Stern, 40 Jahre Grundgesetz 1990, S. 211. 196 Vgl. ausführlicher zur EMRK unten Kapitel Dill. 197 BGB1 1964/59; vgl. Mayer, BVG-Kommentar S. 527 Kap. V; Walter!Mayer, Bundesverfassungsrecht RN 1339. 198 Gusy, Wirkungen der EMRK und der europäischen Rechtsprechung in den einzelnen Vertragsstaaten, in: ZfRV 1989, 1, 13; grundlegendAutexier, in: ZaöRV 1982,327. 199 Vgl. Häberle, Europäische Rechtskultur, S. 304. 200 Häberle, Europäische Rechtskultur, S. 302.

II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

137

sungstexten eine gemeinsame verfassungsrechtliche Kultur entwickelt, die die unterschiedlichen Prägungen und geschichtlichen Erfahrungen in sich aufnimmt. Die Prägung über die Landesgrenzen hinweg erfolgte aber zu allen Zeiten nicht nur mittels Quellenvergleichs, sondern überdies durch die Literatur und vor allem das Studium außerhalb der Landesgrenzen201 . Das Recht ist einerseits Gegenstand der Integration als Teil der geistigen, kulturellen und sozialen Wirklichkeit der zu integrierenden europäischen Staaten und Völker, andererseits aber auch Mittel der Integration. Deutlich wurde diese doppelte Funktion des Rechts bei der Entstehung des Bonner Grundgesetzes. Der Auftrag der Besatzungsmächte, eine Verfassung für die westlichen Besatzungszonen zu kreieren, war zugleich die Erziehung zur Demokratie und diente der (Wieder-)Einbindung in die westliche Gemeinschaft202. Eine Integrationswirkung kommt auch dem europäischen Gemeinschaftsrecht zu. Es beeinfiußt das Verständnis der nationalen Vorschriften, gibt ihnen zum Teil ein neuer Inhalt oder führt zumindest dazu, daß es mit neuen Akzenten versetzt wird 203 • Als ein herausragendes Beispiel für das Maß, in welchem das europäische Recht das nationale Rechtsverständnis zu prägen in der Lage ist, ist die Einführung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in das britische Recht zu nennen204. Beispielhaft wurden in Kapitel B Einflüsse des Gemeinschaftsrechts auf die Auslegung der Berufsfreiheit in Deutschland dargestellr205. Eine gemeinsame europäische Tradition zu haben und sich zu ihr zu bekennen, ist aber dennoch nicht gleichzusetzen mit kultureller Einheit. Die Rechtseinheit darf daher nicht als Wert an sich gesehen werden, sondern es müssen vielmehr auch die möglichen Gefahren erkannt werden, die entstehen können, wenn den Mitgliedsstaaten der Spielraum für Anpassungen an nationale Gegebenheiten genommen wird 206. Denn, so kann etwas pathetisch gesagt werden, hatjede Nation ihren eigenen grundrechtskulturellen Gefahrdungen gerecht zu werden207 • Es besteht für die 201 "Swedish lawyers went to Germany and France to study not only civillaw but also public law. They visited Berlin, Munich, Straßbourg and sometimes Paris. The works of Georg Meyer, Laband and Otto Mayer became known in Sweden, as also did the french treatises ... Swedish as weil as Finnish Iegalliterature was soon enriched ..." Jägerskiöld, Administrative Law, S. 79, 85. 202 S. Luigi Vittorio Ferraris, 40 Jahre Grundgesetz- Die Vorbildwirkung ausländischer Verfassungswerke in Stern: 40 Jahre Grundgesetz, S. 13 ff. 203 Vgl. Everling, in: RabelsZ 50 (1986), 193, ders., in: Recht und Integration, S. 152- 172; E. Klein, in: FS Stern, S.1301, 1315. 204 S. weiterführend Usher, The indirect intluence ofEuropean Community Law in the United Kingdorn, S. 20ff, 23, s. a. E. Klein, in: FS Stern S.1301 , 1302 mit Nachweisen aus dem Verwaltungs- und Steuerrecht. 205 V gl. zum Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf das französische Recht z. B. Goyard, Die Stellung des Gemeinschaftsrechts im französischen Recht, in: DÖV 1989, 259 206 Everling, in: RabelsZ 50 (1986), 192, 195. 207 Häberle, Europäische Rechtskultur, S. 302.

138

C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

Mitgliedsstaaten oftmals ein Spannungsverhältnis zwischen der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und der eigenen ldentität2°8• Art. 61II EUV verpflichtet die Europäische Union dementsprechend zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedsstaaten. Die Norm, die aus Sorge vor der möglichen Entstaatlichung und schrittweisen Auflösung der Nationalstaaten im Rahmen der Europäischen Union 1992 als Art. F des EUV verankert wurde, ist Ausdruck der wechselseitigen Gemeinschaftstreue gemäß Art.lO EGV 209. Der Begriff der nationalen Identität wird nicht näher definiert und es kann letztlich wohl auch nur jeder Staat für sich bestimmen, was identitätsstiftendes Merkmal ist210. In jedem Fall sollen allerdings das Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie, Achtung von Menschenrechten und Grundfreiheiten sowie die Rechtsstaatlichkeil dazugehören. Diese Merkmale werden dem Art. 6 I EUV entnommen 211 . Zugleich wird als Teil der Identität der Mitgliedsstaaten aber auch die Öffnung gegenüber der Union und der Europäischen Gemeinschaft und damit verbunden die Bereitschaft zur Integration verstanden 212 • Aufgrund dieser Deutung kann Art. 6 III EUV nicht dazu verwandt werden, um die Weiterentwicklung der Integrationsprozesse zu blockieren. Aus Art. 6 III EUV können zudem aus dem Grunde keine unmittelbaren Schranken für die Ausübung von Kompetenzen der EG abgeleitet werden, weil Art. 46 EUV die Bestimmung des Art. 61II EUV aus der Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts hinausnimmt. Kompetenzgebende Gemeinschaftsprinzipien wie das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 II EGV) und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 5 III EGV) stehen dahingehend im Dienste der nationalen Identität. Durch ihre Beachtung führen zugleich dazu, daß der nationalen Identität und den kulturellen Eigenheiten der Mitgliedsstaaten Rechnung getragen werden kann213 . Darüber hinaus kann dem Grundsatz der Achtung der nationalen Identität über eine entsprechende Auslegung des bereits angesprochenen Grundsatzes der Gemeinschaftstreue des Art. 10 EGV zur Geltung verholfen werden. Die Verpflichtung zur Achtung der nationalen Identität und kulturellen Eigenart ist zugleich ein Ausdruck wechselseitiger Gemeinschaftstreue214. Die europäische Integration kann nicht an den Mitgliedsstaaten vorbei oder über sie hinweg geschehen, zum einen, weil es nicht möglich ist und zum anderen wäre dann der Sinn der Integration verfehlt. Um den unterschiedlichen kulturellen Gege208 Volkmann, Solidarität in einem vereinten Buropa Staatswissenschaften und Staatspraxis 98, 17, 27. Er versucht diesen Zwiespalt mit dem Begriff der Solidarität zu überwinden. 209 Hilf, EU und nationale Identität der Mitgliedsstaaten, in: GS Grabitz S.l57, 167f. 210 Hilf, in: Grabitz/Hilf Art. F EUV, RN 8, Putt/er, in: Collies/Ruffert, Kommentar zum EUV Art.6 RN 195. 2 11 Putt/er, in: Collies/Ruffert, Kommentar zum EUV Art. 6 RN 192. 212 Putt/er, in: Collies/Ruffert, Kommentar zum EUV Art. 6 RN 192. 213 Vgl. BVerfGE 89, 155, 211 f. 214 Putt/er, in: Collies/Ruffert, Kommentar zum EUV Art. 6 RN 196.

II. Art und Umfang der verfassungsrechtlich gewährten Berufsfreiheit

139

benheiten in den einzelnen Mitgliedsstaaten gerecht zu werden215 , bedarf es des ständigen Austauschs zwischen den Mitgliedsstaaten und den EG-Organen. Dieser Austausch sollte geprägt sein von affirmativer oder positiver Toleranz. Darunter versteht man, daß im Grundsatz anerkannt wird, daß vielfaltige Wertetraditionen Reichtümer sind, die die menschliche Kultur allgemein und auf diese Weise auch das Recht bereichern können216• Die Grundlage für das entstandene und das entstehende europäische Recht ist die gemeinsame Rechtstradition, die sich in den einzelnen Verfassungen der Mitgliedsstaaten, in den Gemeinsamkeiten, aber genauso in den nationalen Eigenheiten findet 217 • Es kann dementsprechend aber auch aus Sicht der Mitgliedsstaaten nicht allein um "Souveränitätsverlust" gehen, sondern auch um das Aufdecken von Gestaltungsmöglichkeiten aus der eigenen Verfassung heraus 218 • Verfassungsvergleichung auf europäischer Ebene hat aus diesem Blickwinkel heraus eine ganz besondere Bedeutung, innerhalb derer der Vergleich zwischen allen Vergleichsobjekten zu gegenseitiger Befruchtung aller erfolgen muß und sollte219 : "The problern of national identity, deeply rooted in history and tradition, Ieads to the expanded approach of comparative research by including in its frame of reference the search for and explanation of divergence, of uniqueness uniformity, and the preservation of peculiarities of a given country or region by contrasting them with others. "220

Es handelt sich hierbei um einen methodischen Ansatz, der nicht neu ist und sich auch in Rawls' Theorie der Gerechtigkeit finden läßt221 • Der Gerichtshof kann dem nur gerecht werden in enger Kooperation mit den Gerichten der Mitgliedsstaaten222 • Zugleich ist zu beachten, daß dem Recht bei der europäischen Integration lediglich eine eingeschränkte Rolle zukommen kann. Es kann die Integration der Menschen nicht ersetzen oder verordnen. Daher kann die Funktion des Rechts auch lediglich 21 s "Spezifik und Reichtum Europas liegen in seiner Vielfalt", Tsatsos, in: EuGRZ 1995, 287, 293; s. a. Boruck-Arctowa, in: Rechtstheorie 1993 Beiheft 15, 25, 31f. 216 So Apel, Plurality of the Good?, in: Ratio Juris 1997, 199, 202; s. a. Alexy, Discource Theory and Human Rights, in: Ratio Juris 1996, 209. 217 Everling, in: RabelsZ 50 (1986), 192, 195. 218 Vgl. Boruck-Arctowa, in: Rechtstheorie 1993 Beiheft 15, 25, 31. 219 E. Klein, in: FS SternS. 1301, 1315 formuliert, Verfassungsvergleichung solle zu einem Dialog führen, "einen Prozeß des gegenseitigen Lemens, Gebensund Nehmens; s. a. Flauss, Les droits de l'homme dans l'union europeenne, in: RDI 1999, 109, 161 zwischen den Mitgliedsstaaten, aber auch zwischen den Mitgliedsstaaten und der Union", s.a. z. B. Mestmäcker, On the legitmacy ofEuropean Law, in: RabelsZ 1994, 615; Schwarze, in: JZ93, 585; v.Simson/Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz, 1992, 73ff; Everling, Rechtsvereinheitlichung durch Richterrecht in der Europäischen Gemeinschaft, in: RabelsZ 50 (1986), 193, 228; Buxbaum, in: RabelsZ 60 (1996), 201, 211. 220 Boruck-Arctowa, in: Rechtstheorie 1993 Beiheft 15, 25, 34f. 221 S.o. Kapitel AI; de Moor, Contract, Justice and Diversity in the Remaking of Europe, in: Rechtstheorie 1993 Beiheft 15, 71, 78. 222 Hirsch, Die Grundrechte in der EU, in: RdA 1998, 194, 200; Kirchhof!, Der Weg Europas ist der Dialog, in: EuZW 1999, 353; Schwarze, Ist das Grundgesetz ein Hindernis auf dem Weg nach Europa? in: JZ 1999, 637, 644.

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C. Die Berufsfreiheit in den europäischen Verfassungen

darin gesehen werden, Anstöße zu vermitteln und Räume zur Verfügung zu stellen, innerhalb derer ein allmähliches Zusammenwachsen der Menschen erfolgen

kann223.

223 Eingehender Volkmann, Solidarität in einem vereinten Europa, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1998, 17, 39.

D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht Im folgenden soll das Gemeinschaftsrecht in Hinblick auf die Berufsfreiheit auf seinen Verfassungsgehalt untersucht werden. Dabei sollen die jeweils herangezogenen Rechtsquellen sowie die dazugehörige Rechtsprechung des EuGH dargestellt und gewürdigt werden. Besondere Berücksichtigung wird hierbei das Entwicklungsmoment des Gemeinschaftsrechts erfahren. Danach soll auf die Frage eingegangen werden, die sich mehr oder weniger durch die gesamte Entwicklungszeit der Gemeinschaft zieht und immer wieder neu auflebt, die nach der Qualifizierung der Grundfreiheiten; hier also insbesondere die nach Art. 39 EGV als "Grundrecht". I. Allgemeines 1. Ausgangslage

Zu einem bewußten und dauernden Ziel der Politik der europäischen Staaten und Völker ist die europäische Einigung durch die Erfahrungen der beiden Weltkriege 1914-18 und 1939-45 geworden, die zu einem weitgehenden Niedergang Europas infolge der Gegensätze zwischen seinen Nationen führte 1• Das Bewußtsein jedoch, daß Europa über seine Staaten und Völker hinweg eine Einheit darstellt, reicht sehr viel weiter zurück und wurzelt in der griechisch-römischen Kultur. Ideengeschichtlich bilden der Humanismus, das Christentum und der später hinzutretende Sozialismus in seiner intemationalistischen Ausprägung die Komponenten, welche über Jahrhunderte hinweg die Vorstellung von einer Gemeinsamkeit Europas hervorriefen2. Es gab in allen Zeiten mehr oder weniger enge Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten, mithilfe derer innereuropäische Konflikte gelöst und Machtungleichgewichte auf diplomatischem Wege austariert wurden3• Die europäische 1 Vgl.lsensee, Europa- die politische Erfindung eines Erdteils, S.l03, 119: .,Mit dem Niedergang der europäischen Staaten zum Ende des zweiten Weltkrieges beginnt der Aufstieg der europäischen Idee ... In der Not der Umstände erscheint die Einigung der europäischen Staaten als der einzige Ausweg." 2 Schäfer, Europas Einheit, Herkunft, Ziel, Form, in: Isensee (Hrsg.): Europa als politische Idee und rechtliche Form, 1993, S. 9 ff; Oppermann, Europarecht RN3 ff; lmpallomeni, Auf der Suche nach einem positiven Europäischen Recht, in: ZfZV 1997, 1. 3 Das 19. Jahrhundert stellt in dieser Entwicklung eine Art Höhepunkt dar: Das ,,Europäische Konzert" der fünf Großmächte England, Frankreich, Österreich, Preußen und Rußland in der sog. Heiligen Allianz war bemüht, auf dem Konferenzwege einzelstaatliche Interessen mit dem Ziel der Erhaltung des europäischen Gleichgewichts aufeinander abzustimmen, vgl. Oppermann, Europarecht, RN7.

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D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht

Bewegung, die schließlich zur Europäischen Gemeinschaft führte, entstand erneut in der Nachkriegszeit, in der der Kalte Krieg einen Vorhang durch den Kontinent gezogen hatte. Der nichtkommunistische Teil erkannte die Notwendigkeit einer Einigung, der Bildung einer "europäischen Familie" 4 • Dies beruhte auf der Überzeugung, daß unabhängig von der eigenen nationalen Identität eine europäische Identität notwendig sei, um weiterem Krieg auf dem Kontinent vorzubeugen. Der französische Außenminister Schurnano entwickelte schließlich einen Plan, der zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl geführt hat 5• Diese war ausdrücklich mit dem Ziel errichtet worden, neben wirtschafts- und indirekt außenpolitischen Interessen eine "erste Etappe der europäischen Integration" herzustellen. 1957 wurden die Römischen Verträge zur Gründung der EAG und EWG zwischen Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Belgien und den Niederlanden unterzeichnet6. 2. Ziel des Buroparechts

Anders als im nationalen Recht, bei dem Ziel eines Rechtssystems das geordnete Zusammenleben der in dem Staat lebenden Menschen ist, mußte sich das Europäische Gemeinschaftsrecht von vornherein eine andere Aufgabe stellen: schließlich gab es keinen Staat, der ein entsprechendes Regelungsbedürfnis hatte 7• Ziel des Europarechts ist entsprechend dem Verständnis der Europäischen Gemeinschaft als einer Rechtsgemeinschaft8 gemäß Art. 94 EGV die Rechtsangleichung. Diese ist in der EG integrationsbezogen auf das Errichten eines gemeinsamen Marktes, ist ausgerichtet auf diesen Zweck hin. 9

4 W Churchill in einer Rede von 19.9.1946; In dieser Rede hat er zu der Errichtung der "Vereinigten Staaten von Europa" aufgerufen, zitiert nach Oppermann, Europarecht § I RN 12: "Unter dem Druck der äußeren Umstände beantwortete sich die Frage von selbst, was denn Europa sei. Es sind die Länder, die, geographisch gesehen westlich des Eisernen Vorhangs liegen ... und die politisch gesehen zur Verfassungsfamilie des Westens gehören." lsensee, Europa- die politische Erfindung eines Erdteils, S. 103, 119 f. 5 EGKSV vom 18.4.1951, BGBll952II, S.447. 6 Vertrag zur Gründung der EWG vom 25.3.1957, BGBl. II, S. 766, Vertrag zur Gründung der EAG vom 25.3.1957, BGBl.II, S.IOI4. 7 Zur Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaften mit Nachweisen BVerfGE 22, 293, 296; 37, 277 ff; H. P. lpsen, Der Fusionsvertrag der Europäischen Gemeinschaften, 1969, 51 ff; Everling, Vom Zweckverband zur EU - Überlegungen zur Struktur der EG in ders.(Hrsg.): Das Europäische Gemeinschaftsrecht im Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft, 1985, 32ff; E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer Europäischen Gemeinschaft, in: VVdStRL 50 (1991), 56, 58ff; Lundmark, Stare decicis vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Rechtstheorie 28 (1997), 315. 8 EuGH RS 294/83-Les Verts, Slg. 1986, 1339 RN 23. 9 Everling, Rechtsvereinheitlichung durch Richterrecht in der EG, in: RabelsZ 50 (1986), 193 ff.

I. Allgemeines

143

3. Rechtsquellen

Für das europäische Gemeinschaftsrecht kommt als Rechtsquelle zunächst einmal alles das in Betracht, was das Rechtsleben gestaltet oder mitgestaltet 10• Im folgenden soll also alles das untersucht werden, was Rechtsquelle sein kann und das jeweils Gefundene darautbin untersucht werden, ob der jeweiligen Quelle sowohl hinsichtlich Umfang als auch Art der Gewährleistung eine Art Grundrechtsstandard zukommt oder zukommen kann. a) Gesetzesrecht

Es gibt primäres Gemeinschaftsrecht, dessen wichtigster Bestandteil die drei Gründungsverträge sind 11 • Diese wurden von den Mitgliedsstaaten abgeschlossen; auf ihnen beruht die Gemeinschaft. Die Gründungsverträge entfalten unmittelbare Bindungswirkung primär den Mitgliedsstaaten gegenüber, können aber auch unmittelbar Rechte und Pflichten den Individuen gegenüber begründen, sofern die entsprechenden Vertragsnormen ohne weitere Konkretisierung anwendbar und unbedingt sind 12• Auch die Gemeinschaftsorgane sind durch die Verträge gebunden. Diese Bindung ergibt sich seit der letzten Vertragsänderung mit dem Vertrag von Amsterdam aus Art. 6 II EUV. Da der Wortlaut des Art. 6 II EUV von der Union als Verpflichtungssubjekt spricht, ist die Gemeinschaft als eine der drei Säulen der Union implizit bei ihren Maßnahmen an die Verträge gebunden 13• Für die Frage danach, wie der Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht grundrechtlich ausgestaltet ist, sind somit die Verträge und hier der EGV maßgeblicher Anknüpfungspunkt.

10 Grundlegend Zweigert, Einführung in die Rechtsvergleichung S. 196; Ebert, Rechtsvergleichung, S. 150; zu Rechtsquellen im Europarecht insg. Bleckmann, Die Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts, in: NVwZ 1993, 824, ders. Europarecht, RN237ff, Oppermann, Europarecht RN 464 ff; Gindisch in Schwarze: Das Wirtschaftsrecht des gemeinsamen Marktes in der aktuellen Rechtsentwicklung, 1983, 97 f. 11 Vertrag zur Gründung der EGKS vom 18.4.1951 (BGBl. 1952 II, S. 447), Vertrag zur Gründung der EWG vom 25.3.1957 (BGBl. 195711, S. 766), Vertrag zur Gründung der EAG vom 25.3.1957 (BGBl. 195711, S.1014). Diese Verträge wurden inzwischen verschiedentlich geändert und ergänzt, zuletzt insbesondere durch den (Maastrichter) Vertrag über die EU vom 7.2.1992 (BGBl. 199211, S. 1253) und den (Amsterdamer) Vertrag zum EUV und den EG-Verträgen vom 10.2.1997 (BGBl. 1998 II, S. 386). 12 St. Rspr. seitEuGHRS26/62-van Gend u. Loos, Slg. l963, 1, ausführlichPescatore, The Doctrine of "DirectEffect": An Infant Disease, in: E.L.Rev. 8 (1983), 155; s.a. Bleckmann Europarecht RN 525 ff, Streinz Europarecht RN 349 ff jew. m. w. N. 13 Pechstein, Die Justiziabilität des Unionsrechts, in: EuR 1999, 1, 13, bereits vor dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags Bleckmann, Europarecht RN 98; Hilf, EU und EMRK, in: FS Bernhadt S. 1193, 1206; Streinz Europarecht RN 349.

144

D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht

b) Richterrecht "All the way through the Treaty there are gaps and lacunae. These have to be filled in by judges, or by regulations and directives. It is the European way ..." 14

Der EuGH 15 ist als Organ der Europäischen Gemeinschaft (Art. 4 EGV) gebildet worden. Vorbild war insbesondere der US-amerikanische Supreme Court 16 mit der Doppelfunktion als Rechtsschutzinstanz und Verfassungsgericht 17 • Hinsichtlich des Verfahrens stand der französische Conseil d 'Etat Pate 18• Gemäß Art. 220 EGV ist er zur Sicherung und Wahrung des Recht bei der Auslegung und Anwendung des EGV zuständig. Wie Aufbau und Wortlaut des Art. 220 EGV zeigen, werden "Recht" und "Vertrag" nicht gleichgesetzt 19• Der Begriff des Rechts ist in Art. 220 EGV nicht mithin gesetzespositivistisch zu verstehen. Wie die dänische Textfassung nahelegt, in der es heißt: "Domstolen skal vreme lov og ret ved anvendelsen av denne traktaten" (=Das Gericht soll bei der Anwendung dieses Vertrages Gesetz und Recht schützen.)

hat der EuGH nach Maßgabe des positiven primären und sekundären Gemeinschaftsrechts, soweit dieses aber nicht ausreicht, auch über es hinaus das Recht zu verwirklichen und es zu diesem Zweck, soweit nötig, auch fortzubilden 20• Auch 14 Lord Denning in der Entscheidung Balmer v. Bollinger (1974), ausführliche Auseinandersetzung bei Dagtoglou, The englishjudge and the EC-law, in: CU 37 (1978), 76, 77. 15 Zu Zusammensetzung und Aufgaben vgl. u. a. Schweitzer/Hummer, Europarecht, §VIII, S. 59 ff; Oppermann, Europarecht RN 464 ff jeweils m. w. N. 16 Walter Hallstein formulierte im Jahr 1970: "Als wir den Europäischen Gerichtshof schufen, schwebte uns ein ehrgeiziger Gedanke vor: die Verfassungsstruktur der Gemeinschaft mit einem obersten Gericht zu krönen, das im vollen Sinne des Wortes Verfassungsorgan war, einem Gericht, wie der amerikanische Supreme Court in seiner glänzenden Zeit unter dem Chief Justice lohn Marshall, unter dessen Führung die urkundlich kaum skizzierte Verfassung der Vereinigten Staaten in der Gerichtspraxis Inhalt und Festigkeit gewann." s. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 1979, S. 110. Eine solche Vorbild- und Orientierungsfunktion hatte der Supreme Court hinsichtlich Stellung und Methodik auch gegenüber den Mitgliedsstaaten gehabt; vgl. m. w. N. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 73ff. 17 De Witte, Interpreting the EC-Treaty like a constitution, S.135ff; Epping, Die demokratische Legitmiation der dritten Gewalt der EG, in: Der Staat 1997, 349; vVitzum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht- rechtsvergleichende Aspekte, in: JZ 1998, 161; ausführlich Schwarze, Der Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983. 18 Vgl. Everling, Die Stellung der Judikative im Verfassungssystem der EG, in: ZfschwR 1993, , 337; P. Becker, Der Einfluß des französischen Verwaltungsrechts auf den Rechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften, 1963 insb. S. 141. Allgemein zur Einflußnahme der unterschiedlichen Rechtsordnungen auf das Gemeinschaftsrecht s. a. Dagtoglou, in: CLJ 37 (1978), 76, 97. 19 Krück, in: Groeben/fhiesing/Ehlermann Art.164 RN 4. 20 Vgl. Brandt, Der EuGH und das Gericht erster Instanz, in: JuS 1994, 300, 303; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 93; Krück, in: Groeben{fhiesing/EhlermannArt.164 RN 51; Pernice, in: Grabitz/Hilf Art.164 RN 11, 35; s.a.Lecourt, La Courde Justice des Communtaues europeennes vue de l'interieur, in: FS Kutscher S. 261; Mackenzie Stuart/Warner, Judicial Decision as a Source of Community Law, in: FS KutscherS. 773.

I. Allgemeines

145

wenn die übrigen Textfassungen des Art. 220 EGV, die nach Art. 248 EGV in gleicher Weise verbindlich sind, keine entsprechenden Hinweise auf eine über die bloße Gesetzesbindung hinausreichende Rechtsbindung beinhalten, ergibt sich bei diesen Textfassungen eine entsprechende Wertung mithilfe der systematischen Interpretation des Vertrags: in den einzelnen Regelungen des EGV, die sich mit dem gemeinschaftlichen Rechtsschutz vor dem EuGH beschäftigen, taucht auch der Begriff des "Rechts" nicht mehr auf, sondern es ist die Rede vom "Vertrag" (Art. 226-228, 230, 232, 234 EGV) bzw. die auf seine Durchführung anzuwendenden Rechtsnormen (Art. 230 EGV) oder die Handlungen der Organe der Gemeinschaft (Art. 234 EGV) 21 • Da im EGV nur rudimentäre Regelungen über die Ausgestaltung des Gemeinschaftsrechts enthalten sind, der EGV sich aufgrundseiner völkerrechtlichen Herkunft in weitem Umfang unbestimmter Rechtsbegriffe bedient und auch materielle Rechtswerte nur in Ansätzen enthalten sind, wird der EuGH immer wieder angerufen, um im Einzelfall Entscheidungen mit rechtsbildender Kraft zu fällen 22 • Das Europäische Gemeinschaftsrecht bedarf als einer Rechtsordnung, die nicht auf eine lange und gefestigte Tradition zurückblicken kann, der Ergänzung 23 • Dem EuGH als dem Integrationsfaktor erster Ordnung 24 kommt gemäß Art. 220 EGV die letztverbindliche Auslegungskompetenz des Vertrags zu. Er kann der Entscheidung nicht ausweichen, will er sich nicht dem Vorwurf der Rechtsverweigerung aussetzen25 • Daß die Gemeinschaft und damit auch ihre Rechtsordnung dynamisch auf Entwicklung angelegt ist, ergibt sich aus der Präambel des EGV, in der es heißt: "Die Grundlagen für einen immer enger werdenden Zusammenschluß der europäischen Völker" geschaffen werden soll, wirkt sich auch auf die Aufgabenstellung des EuGH aus. Die Rechtsprechung des EuGH steht damit ebenso wie das gesamte Gemeinschaftsrecht in einem permanenten Evolutionsprozeß 26 • Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH unter Hinweis auf die gemeineuropäische Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausdrücklich anerkannr27 • Allerdings hat es auch die Schranken richterlicher Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 92. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S.69; s. Everling, in: RabelsZ 50 (1986), 193, 206. 23 Krück, in: Groeben{fhiesing/Ehlermann Art. 164 RN4. 24 Der Ausdruck geht zurück auf W. Hallstein, Die echten Probleme der europäischen Integration, Kieler Vorträge, N.F. 37 (1965), S. 9, zit. nach Schweitzer/Hummer, Europarecht, S.l04. 25 S. EuGH verb. RS 7/56 und 3-7/57, Algera u. a./Gemeinsame Versammlung, Slg. 1957, 83 ff, 118; vgl. auch Everling, in: RabelsZ 50 (1986), 193, 200,Larenz, Methodenlehre, S. 243. 26 EuGH Gutachten 1/91, Gutachten gemäß Artikel 228 EWG-Vertrag, Slg. 1991 I, 6079, 6103; ausführlich Stein, Richterrecht wie anderswo auch?, in: FS Juristische Fakultät der Universität Heidelberg, S. 619, 620f. 27 BVerfGE75, 223, 243f. 21

22

10 Bomnann

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D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht

Rechtsfortbildung durch den EuGH deutlich betont28 • Da Rechtfertigung und Grenze des Richterrechts in der Gemeinschaft sich aus der Ergänzungsbedürftigkeit des Gemeinschaftsrechts sowie aus der vertragsgemäßen Sicherung seiner Bildung ergeben (Art. 220 EGV), endet die Zuständigkeit des EuGH zur Rechtsgestaltung dort, wo das Gemeinschaftsrecht allgemein seine Grenzen findet: bei der Kompetenzzuweisung, die die Mitgliedsstaaten an die Gemeinschaft übertragen haben29 • Zugleich ist der EuGH wie jedes andere Organ der Gemeinschaft auch dazu verpflichtet, seine Aufgaben unter Berücksichtigung der Zuständigkeiten der anderen Organe auszuüben 30• Allerdings sind die Grenzen zwischen zulässiger Interpretation und unzulässiger Rechtsfortbildung im Gemeinschaftsrecht weiter gefaßt als im nationalen Recht und auch schwieriger zu ziehen. Die dem deutschen Recht vertraute Unterscheidung zwischen Auslegung und ergänzender Rechtsfortbildung oder die Abgrenzung von ergänzender Rechtsfortbildung und -:findung lassen sich so nicht auf das europäische Recht übertragen 31 • Vielmehr wird, in der Tradition des romanischen Rechtskreises, sowohl die Auslegung im deutschen Sinne als auch die Rechtsfortbildung mit dem Begriff Interpretation erfaßt32• Grundlage für die rechtsfortbildende Tätigkeit des EuGH sind die Verfassungsordnungen der Mitgliedsstaaten und die europäische Rechtstradition, die er in rechtsvergleichender Tätigkeit ermittelt33 • Orientierungsmaßstab bleibt aber auch hierbei die in den Verträgen niedergelegten konkreten Sachziele34• Auch auf europäischer Ebene ist das Richterrecht fallbezogen, d. h. es entsteht schrittweise in einer Reihe von Entscheidungen35 • Die Tätigkeit des EuGH im Rah28

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BVerfGE 89, 155, 166; vgl. oben Kapitel B 13 b). Darauf hat das BVerfG im Maastrichturteil (E89, 155, 188) noch einmal hingewiesen:

"Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unionsvertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die vom Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrundeliegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsgebiet nicht verbindlich." 30 EuGHRS C-70/88, Slg.l9901, 2041, 2072f; s.a. RS294/83-Les Verts, Slg.1986, 1339, 1365 f; RS 230/81-Luxemburg/Parlament, Slg. 1983, 255, 283. 31 Zur Eigenständigkeit der Methodik der richterlichen Rechtsfortbildung im Gemeinschaftsrecht EuGH Gutachten 1/91, Gutachten gemäß Art. 228 EWG-Vertrag, Slg. 1991 I, 6079,6108. 32 Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S.109ff; de Witte, Interpreting the EC-Treaty like a constitution, S: 133, 151; Auweiler, Die Auslegungsmethoden des EuGH, S. 35 ff,; ausführlich zum französischen Recht vgl. Ausführungen bei Puck, Über die Auslegungsmethoden des EuGH, S. 102 ff m. w. N.; speziell zur Methodik bei der Herausbildung der Grundrechte aus allgemeinen Rechtsprinzipien s. u. Kapitel D V. 33 Vgl. Everling, in: RabelsZ 50 (1986), 193, 211 ff, Daig, in: FS Zweigert S. 395ff. 34 Everling, in: RabelsZ 50 (1986), 193,211. 35 Das Problem stellt sich, daß richterliche Rechtsfortbildung in verhältnismäßig wenigen Verfahren vor sich gehen muß. Wegen der großen Wirkung einer einzelnen Entscheidung müsse es dem EuGH gestattet sein, die "Befugnis zur Abstraktion" vorsichtig zu nutzen. so Everling, in: RabelsZ 50 (1986), 193,211 f, vgl. auch Schmidt, in: RabelsZ 1996,616.

II. Grundrechtliche Verbürgungen aus den Verträgen

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men der ihm zur Entscheidung vorgelegten Fragen und Rechtsstreite stellt eine natürliche Grenze für rechtsschöpferisches Wirken dar. Auch wenn den Entscheidungen des EuGH keine normative Präzedenz- oder Bindungswirkung zukommt, wird stets an frühere Judikate rückgekoppelt 36• II. Grundrechtliche Verbürgungen aus den Verträgen Mit der Bezeichnung der Gründungsverträge als "Verfassungsurkunden einer Rechtsgemeinschaft" 37 ist die Vorstellung verbunden, daß darin grundlegende Entscheidungen getroffen werden, die sich in der gesamten Rechtsordnung der Gemeinschaft wiederfinden lassen müssen 38 • Dem würde entsprechen, daß sich im primären Gemeinschaftsrecht neben organisatorischen Regelungen auch grundrechtliehe Verbürgungen wie zum Beispiel die Berufsfreiheit finden würden. Dies soll im folgenden untersucht werden39• 1. Vertrag über die Europäische Gemeinschaft

Der EGV enthält keinen Grundrechtekatalog wie zum Beispiel das Grundgesetz. Es sind lediglich einzelne wenige ausdrückliche und begrenzte Regelungen zu finden, die gemeinhin als Grundrechte ausgelegt werden. An erster Stelle ist das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 12 EGV zu nennen. Daneben wird z. B. der Grundsatz des gleichen Entgeltes fürMännerund Frauen in Art.141 EGV als grundrechtliche Gewährleistung bezeichnet. Offenbar sahen die Gründerstaaten in den Jahren 1951!57 kein zwingendes Bedürfnis, die Verhandlungen durch eine Auseinandersetzung über Grundrechte zu belasten40 • Wegen der vorrangig wirtschaftlichen Ausrichtung der EG wurde allerdings die Möglichkeit, daß durch ihre mit Drittwirkung gegen den Bürger des Mitgliedsstaates ergehenden Akte Grundrechte verletzen könnten, zunächst auch bezweifelt41 • Dies entspricht 36 Schweitzer/Hummer, Europarecht, S.107 kritisiert, es mangele in der Rechtsprechung des EuGH häufig an notwendigen Nuancierungen. Diese Methode erwecke den Eindruck eines geschlossenen Systems, verwische aber gleichzeitig die notwendige Präzisierung bei der Rechtsquellenbetrachtung und "versteinere" darüber hinaus die Rechtsprechung. 37 EuGH Gutachten 1/91 Slg. 1991, I 6078, 6102, zuvor bereits RS 294/83- Les Verts, Slg. 1986, 1339, 1365. 38 Vgl. Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhalt der EG, S. 9, 23. 39 Nicht eingegangen wird im folgenden auf EGKSV und EAV, deren Regelungsgehalt themenspezifisch beschränkt ist und daher für die vorliegende Frage keinen Aufschluß geben können. 40 So Hilf, in: EuR 1991, 19, 21. 41 So etwa H. P. lpsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 721, s. auch Bernhardt, Bull. EG- Beil. sn6, S. 16, 28 vertrat 1976 die Auffassung, tradierte Grundrechte wie die Berufsfreiheit seien durch die Gemeinschaftsgewalt nur zu einem kleinen Teil gefährdet. Bleckmann, Europarecht RN 99; vgl. auch Everling, in: DVBl 1993, 936, 937; Feger, Grundrechtliche

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D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht

auch dem Stil des Vertrags, der weitgehend unbestimmte und offene Formeln benutzt, was auf seine völkerrechtliche Herkunft zurückzuführen ist42 • Im übrigen sind entsprechende Diskussionen wohl eher bewußt unterblieben als Folge der zwischenzeitlichen Rückschläge bei den Bemühungen um eine über den rein wirtschaftlichen Bereich hinausgehende europäische lntegration43 • Auch die Ergänzungen und Änderungen des EGV durch den Vertrag von Maastricht haben keine Erweiterung des Textes in bezug auf explizite Grundrechtsgewährleistungen gebracht. Der Vertrag von Amsterdam44 hat zu einer Inkorporation sozialpolitischer Aspekte in den EGV geführt. Dazu gehört auch eine Zielvorgabe zur Förderung der Beschäftigung und die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials im Hinblick auf ein hohes Beschäftigungsniveau (Art. 136 EGV). Allerdings handelt es sich bei diesen Normen lediglich um Zielbeschreibungen, die programmatischen Charakter haben und keine klagbaren Verbürgungen im Sinne von Grundrechten beinhalten. Damit ändert sich an dem Befund, daß der EGV selbst keine Verbürgung der Berufsfreiheit enthält, auch nach den Vertragsänderungen nichts. 2. Präambeln von EEA und EUV

Grundrechte wurden in den Vertragsrevisionen nicht gänzlich übergangen. Erstmals in der Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte vom 28.2.1986 45 , und zwar im 3. Erwägungsgrund der Präambel erklären die Mitgliedsstaaten ihre Entschlossenheit, gemeinsam für die Demokratie einzutreten, die Grundrechte, insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, zu schützen46• Der GrundAspekte des Rechts der Europäischen Gemeinschaften auf dem Gebiet der abhängigen Arbeit, in: RdA 1987, 15. 42 Everling, in: RabelsZ 50 (1986), 193,207. 43 So wird vermutet, daß systematische Klarheit zugunsten nebulöser politischer Sprache bewußt unterlassen wurde, weil die Dogmatik Folgen verdeutlicht und damit Kompromisse erschwert hätte, vgl. Jarass, in: EuR 1995, 202, 203. Die Konzentration auf die wirtschaftlich technische Ebene war, so Pescatore, als Reaktion auf das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und der Europäischen politischen Gemeinschaft entstanden, s. EuGRZ 1978,441, ders. EuR 1979, 1,2; vgl. auch Beutler Grundrechtsschutz RN 5, 10; Chwolik-Lanfermann , Grundrechtsschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht" S.42. 44 Zum Inhalt vgl. Streinz, Der Vertrag von Amsterdam, in: EuZW 1998, 137; Vibert, How not to write aconstitution, in: Const.P. E. 10 (1999), 149ff; Flauss, Les droits de I'homme dans l'union europeenne, in: RDI 1999, 109, 121; Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Die Verträge von Maastricht und Amsterdam, 1998. 45Abl.l987Nr.Ll69,S.l. 46 Über die rechtliche Einordnung dieser Norm herrscht Uneinigkeit. Zum Teil wird sie als acqius communitaire, zumeist jedoch lediglich als Auslegungsstütze verstanden., vgl. zu den unterschiedlichen Auffassungen Grabitz, in: EEA RN 13; Hilf/Paehe RN8-ll; allgemein zur

II. Grundrechtliche Verbürgungen aus den Verträgen

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rechtsschutz wird aus dem Demokratieprinzip hergeleitet und konkretisiert mittels Bezugnahme auf die Verfassungen der Mitgliedsstaaten, die EMRK47 und die europäische Sozialcharta48 • Die Präambel des Unionsvertrages vom 7.2.1992 greift die Verpflichtung zum- Schutz der Grundrechte ebenfalls im dritten Erwägungsgrund auf, und zwar "in Bestätigung ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit". Beide Präambeln entfalten keine unmittelbare juristische Verbindlichkeit für den Grundrechtsschutz49 • Aus den Präambeln gehen jeweils die Ziele hervor, die die Vertragsparteien für die weitere Entwicklung der Gemeinschaft als wichtig erachten und dienen insofern dazu, die Rechtsfortbildung durch die Gemeinschaftsorgane zu lenken 5°. Die Hervorhebung des Grundrechtsschutzes in den Präambeln macht also deutlich, daß den Vertragsparteien an einer Durchsetzung und Einhaltung eines Grundrechtsschutzes gelegen ist. 3. Art. 6 II EUV

Der am 1.11.1993 in kraft getretene Vertrag über die Europäische Union beinhaltet in seinem Art. 6 II EUV, daß die Europäische Union die Grundrechte achtet, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den Verfassungen der Mitgliedsstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrecht ergeben. Damit wird die Grundrechtsprechung des EuGH bestätigt; ermöglicht die Norm mit ihrer entwicklungsoffenen Ausrichtung die Weiterfortbildung des Grundrechtsschutzes durch den EuGH 51• Die materielle Inkorporation des Grundrechtsschutzes wird zum Teil als Aufwertung des bereits bestehenden Grundrechtsschutzes verstanden 52• Art. 611 EUV garantiert einen einheitlichen Grundrechtsstandard in allen Bereichen, in denen die Gemeinschaft oder die Union Verpflichtete sind53 • Allerdings befindet sich die Vorschrift in dem Teil des Unionsvertrages, der gern. Art. 46 EUV der unmittelbaren Zuständigkeit des EuGH entzogen, d. h. nicht justitiabei ist. Für den BeBedeutung von Präambeln für eine Verfassung Häberle, Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, in: JZ 1992, l033, l037. 47 Eingehend Kapitel D III. 48 EuGH RS249/86- Wanderarbeitnehmer, Slg.1989, 1263, 1290. 49 S. Zuleeg, in: in Groeben(Thiesing/Ehlermann, Präambel RN3; Hilf!Pache, in: Groeben/ Thiesing/Ehlermann EEA Präambel RN 8 ff. 50 Der EuGH hat vor allem in den Anfangsjahren die Präambel des EWGV häufig herangezogen, vgl. RS 26/62- van Gend u. Loos, Slg. 1963, 1, 63; verb. RS 56, 58/64 - Consten, S1g.1966, 321, 380; RS32/65- Italien, Slg.1966, 457, 483; RS43ns Defrenne, Slg. 1976, 455, 473; RS 136n9 - National Panasonic, Slg. 1980, 2033, 2057. 5! Rachet, De Ia competence de !'Union europeenne en matiere de defense et de promotion des droits de 1'homme, in: RMC 1995, 256, 259; Ress, Die EU und die neue juristische Qualität der Beziehungen zur EG, in: JuS 1992, 985, 990 m. w. N., Beutler, in: Groeben(Thiesing/Ehlermann, Art. F RN 28. 52 So Ress, in: JuS 1992, 985, 990. 53 Vgl. Pechstein, in: EuR 1999, 1, 13.

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D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht

reich der Europäischen Gemeinschaft wird man aus Art. 6 II i. V. m. 46 EUV zwar nicht herleiten können, daß der EuGH seine Zuständigkeit für die Fortführung der Rechtsprechung zu den Grundrechten verliert, allerdings wird man aus Art. 6 II EUV auch keine stärkere formale Grundrechtsbindung herleiten können 54• So sieht es auch der EuGH, der in Art. 6 II EUV lediglich eine Bestätigung seiner Rechtsprechung sieht55• 111. Europäische Menschenrechtskonvention Der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4.11.1950 könnte bei der Gewährung von Grundrechtsschutz eine besondere Bedeutung zukommen. Schließlich sind alle Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft auch Unterzeichner der EMRK; die EMRK enthält einen umfangreichen Grundrechtskatalog, also genau das, was den Verträgen fehlt. Dennoch wird sie vom EuGH nur mittelbar als Erkenntnisquelle herangezogen, um den Inhalt der Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts festzustellen. Im Rahmen dieses Vorgehens ist eine stetige Bedeutungszunahme der EMRK festzustellen56. Verstärkt wird die Bedeutungszunahme durch die Erwähnung der EMRK in Art. 6 II EUV. Allerdings ist die EMRK hiermit nicht zum Bestandteil des Gemeinschaftsrechts geworden57• Gleichzeitig besteht eine lebhafte juristische Diskussion darüber, ob eine direkte Anwendung der EMRK, entweder gestützt auf Art. 6 II EUV oder durch Beitritt der EGIEU zur EMRK nicht über das Fehlen eines geschriebenen Grundrechtskataloges aus den Verträgen hinweghelfen könne 58• Die EMRK enthält in ihrem Bestand einen 54 Pauly, Strukturfragen des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes, in: EuR 1998, 242, 250, Heintzen, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht in der Europäischen Union, in: EuR 1997, I, 5; Kokott, in: AöR 121 (1996), 599,602, s.a. Edward, ls Art.Lofthe Maastricht Treaty workable?, in: EuR 1995, Beiheft 2, S. 23; Flauss!Lambert!Scotti, Les Droits de l'Homme dans l'Union Europeenne, in: RDI 1999, 109, 126f. 55 EuGHRS C-415/93 -Bosman, Slg.l995, 14921, 5065. 56 Wahrend es in der Entscheidung Nold lediglich hieß, daß "auch die internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte ... Hinweise geben können, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind ... (EuGH RS 4/73 Slg. 1974, 504, 507 RZ 13) lautet es in der Entscheidung X gegen Kommission von 1994: " ... stellt das in Art. 8 EMRK verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens ... ein von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschütztes Grundrecht dar" (EuGH RS404/92; Slg.l994, 4780,4798 RZ 17) -vgl. Kokott, in: AöR 121 (1996), S. 599, 603; s. a. Schlette, Europäischer Menschenrechtsschutz und die Reform der EMRK, in: JZ 1999, 219; Flauss, in: RDI 1999, 109, 137; Vibert, in: Const.P.E: 10 (1999), 149ff. 57 Zuleeg, in: in Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art.L RN21, vgl. auch die Hinweise im vorigen Kapitel. 58 Entsprechend einem Gutachten des EuGH (2/94 v. 28.3.1996 EuGRZ 96, 197) ist dieser Weg jedoch vorerst verschlossen- ein Beitritt ist hiernach aufgrund Art. 5 EGV- dem Prinzip

IV. Grundrechtserklärungen des Europäischen Parlaments

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umfangreichen Katalog klassischer Grund- und Menschenrechte mit besonderer Betonung auf verfahrensrechtliche Garantien59 • Die Berufsfreiheit wie sie im deutschen Verfassungsrecht oder dem anderer Mitgliedsstaaten bekannt ist, ist jedoch nicht Inhalt der EMRK. Lediglich das Verbot der Zwangsarbeit ist in Art. 4 II EMRK geschützt. Darüber hinaus wird die Gewährung des Rechts auf Bildung als einem Teilbereich der Berufsfreiheit wird in Art. 2 des ersten Zusatzabkommen zur EMRK erwähnt60 • Darin richtet sich die Schutzrichtung aber weniger auf die Bedeutung der (Aus-)Bildung als einer Vorbereitung auf das Erwerbsleben, sondern vielmehr der Schutz vor indoktrinärer Einflußnahme des Staates auf die Kinder gegen den Willen der Eltern 61 • Insgesamt wird man damit festhalten müssen, daß die EMRK derzeit nicht Teil des Gemeinschaftsrechts ist. Sollte sie es irgendwann einmal werden, die Berufsfreiheit darüber keinen Schutz erfahren würde.

IV. Grundrechtserklärungen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission Das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission haben sich am 10.2., 2.3. und 8.3.1977 dazu verpflichtet, bei der Wahrnehmung ihrer Befugnisse und der Verfolgung der Ziele der EG die Grundrechte in dem vom EuGH entwickelten Umfang zu beachten. Bei dieser gemeinsamen Erklärung 62 handelt es sich jedoch um eine politische Erklärung. Sie erreicht den Grad einer rechtlichen Selbstbindung im Rahmen der bestehenden Beteiligungsformen bei Erlaß von Gemeinschaftsrechtsakten und stellt insoweit eine eigene Ebene juristischer Verbindlichkeit im Sinne eines "soft law" dar63 • llir Wert für die Grundrechtsentwicklung besteht dementsprechend weniger darin, daß die Erklärung selbst Grundrechte gewährt, sondern vielmehr darin, daß der EuGH sie zur Bestätigung seiner Urteile zitiert64 • Ebenfalls politisch-proder begrenzten Einzelermächtigung - nur mittels einer Änderung der Gründungsverträge möglich. Aus der unüberschaubaren Literatur vgl. Bleckmann, Die Bindung der EG an die EMRK 1986, Krogsgaard, Fundamental Right in the European Community after Maastricht, Legal lssues ofEuropean Integration 1993,99, 108; Ehlermann/Noel, Der Beitritt zur EMRK- Schwierigkeiten, Rechtfertigung, in: GS Sasse, 685; Hilf, EU und die EMRK, in: FS Bernhardt S.1193. 59 Vgl. insgesamt Ehlermann/Noel, in: GS Sasse S. 685, 693 ff, 696. 60 ,,Das Recht auf Bildung darf niemandem verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen", vgl. Ehlermann/Noel, in: GS Sasse S. 685, 696. 6t Vgl. Ehlermann/Noel, in: GS Sasse S.685, 693. 62 Abi 1977, Nr. C 103, S. 1. 63 Vgl hierzu BVerjGE 73, 339, 383f, Bleckmann, Europarecht, RN 100, Schweitzer/Hummer, Europarecht, RN807f; Pernice, in: NJW 1990,2413. 64 Das ist z.B. geschehen inEuGH RS44n9-Hauer, Slg.1979, 3727, RN15; RS222/84 Johnston, Slg. 1986, l651RN 18; umfassender Gersdorf, Funktionen der Gemeinschaftsgrund-

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D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht

grammatischen Charakter haben die Grundrechtserklärungen des Europäischen Rates, hier seien die Erklärung zur Demokratie vom 8.4.1978 65 sowie die Gemeinschaftschartader sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 8./9.12.198966 genannt. Besondere Erwähnung verdient weiterhin die Erklärung des Europäischen Parlaments über Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12.4.1989 67 • Das Europäische Parlament ist mit dieser Erklärung der Forderung nach einem ausformulierten Grundrechtekatalog nachgekommen. Allerdings besitzt er mangels Zuständigkeit des Europäischen Parlaments keine rechtliche Verbindlichkeit68 • Am 10.2.1994 wurde vom Europäischen Parlament in einem Entschließungsantrag ein Verfassungsentwurf, der sogenannte Herman-Entwurf, verabschiedet 69 • Dieser baut im wesentlichen auf der Grundrechteerklärung von 1989 auf, zum Teil ergänzt wie z. B. durch das Recht auf Arbeit (Nr. 11 lit. a). Auch dieser Entwurf hat bislang keine rechtliche Verbindlichkeit erlangt, also die Grundrechtssituation materiell nicht verbessern können. Bei dem Treffen des Europäischen Rats am 3.6.1999 in Köln beschlossen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten mit Kommissionspräsident Prodi, daß eine Grundrechtscharta erarbeitet werden soll, Diese Charta soll nach Auffassung des Europäischen Rats die Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie die Verfahrensgrundrechte enthalten, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben 70 • Bei dieser Charta, die im Dezember 2000 im Entwurf vorliegen soll, wird es sich ebenso wie bei den vorhergehenden Grundrechtserklärungen um ein politisches Grundsatzdokument handeln. Juristische Verbindlichkeit soll ihr demnach nicht zukommen. Es zeigt sich also, daß weder die Verträge aus sich heraus, noch die Organe Rat, Kommission oder Europäisches Parlament in der Lage sind, einen effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Diese Aufgabe obliegt mithin dem EuGH.

rechte im Lichte des Solange II-Beschlusses desBVery'G, in: AöR 119 (1994),400, 401 m. w.N., Schwarze, in: EuGRZ 1986, 294 spricht daher von einer faktischen Wirkung. 6s BuiiEG 3/1978, S. 5. 66 Abgedruckt in: Soziales Europa l/90, S. 52ff, vgl. zum Inhalt Konzen, Die Entwicklung des europäischen Arbeitsrechts, S. 65 ff. 67 ABI1989, Nr. C 120, S. 52ff. 68 S. Gersdorf, in: AöR 119 (1994), 400,418 m. w.N., vgl. auch Beutler, Die Erklärung des EP über Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12.4.1989, in: EuGRZ 1989, 185, Hilf, Ein Grundrechtskatalog für die EG, in: EuR 1991, 29. 69 Vgl. hierzu Hofmann , Der Grundrechtekatalog der EU im Spiegel nationaler Verfassungen, in: EuBI1995, Nr.1, 12ff. 70 Bulletin BReg Nr.49 vom 16.8.1999/S: 535.

V. Entwicklung eines Grundrechtsschutzes aus allgemeinen Rechtsprinzipien

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V. Entwicklung eines Grundrechtsschutzes aus allgemeinen Rechtsprinzipien Wie sich aus dem bisher dargestellten ergibt, wird dem EuGH bei der Ermittlung und Wahrung von fundamentalen Rechtspositionen eine herausragende Bedeutung zugemessen. Der EuGH hat sich dieser Aufgabe, wenn auch nach anfänglichem Zögern, schließlich angenommen. Während er sich zunächst für die Auslegung von Grundrechtsfragen für unzuständig und sie als eine Sache der Mitgliedsstaaten erklärte 71 , lehnte er später seine Kompetenz in diesem Bereich mit dem Hinweis ab, die Berufung auf Verletzung von Grundrechten könnte nicht zu einer Erweiterung der Klagemöglichkeiten gern. Art. 230 II EGV führen 72 • Den Anstoß zur Grundrechtsprechung gab schließlich das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1967, das sich trotz grundsätzlicher Anerkennung des Gemeinschaftsrechtsordnung als autonomer Rechtsordnung die Prüfung dessen am Maßstab der nationalen Grundrechte vorbehielt73 • Unterstützung erhielt das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1973 durch das italienische Verfassungsgericht, welches sich auch für das italienische Recht im Zuge der Anerkennung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts aufgrund von Art. 11 der italienischen Verfassung im Rahmen eines allgemeinen Vorbehalts der Verfassungsmäßigkeitskontrolle auch die Prüfung der Grundrechte vorbehielt14 • Um ein Auseinanderfallen der Gemeinschaftsrechtsordnung wegen der Grundrechte zu verhindern 75 , schaffte der EuGH schließlich eine Rechtsgrundlage für einen gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz. Der grundlegende Wandel in der 71 Everling, in: Stern, 40 Jahre GG, S.167, 168; Sasse, Der Schutz der Grundrechte in der EG und seine Lücken, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, S. 51, 61; Rengeling, in: DVBI 1982, 140, 142, Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 49, Schwarze, in: EuGRZ 1986, 294m. w. N., vgl. zur Rolle des EuGH Pescatore, in: EuGRZ 1978, 441; Ress/Ukrow, in: EuZW 1990, 499, 500. 72 Vgl. EuGHRS 1/58-Stork, Slg. 1958,59, 43; RS40/59 - Ruhrkohlenverkaufsgesellschaft, Slg. 1960, 885; RS 40/64- Sgarlata, Slg. 1965, 295 Gleichwohl war die erste Epoche der EG nicht gänzlich unerheblich für den Grundrechtsschutz: Es wurde die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH in Richtung auf autonome, unmittelbar geltende und vorrangige Rechtsordnung gerade in Hinblick auf Rechtspositionen des einzelnen Marktbürgers begründet. Durch die Autonomie des Gemeinschaftsrechtes sowie durch dessen zunehmende Regelungsintensität ist die Gefährdung der Rechtspositionen Einzelner durch das Gemeinschaftsrecht wahrscheinlicher. Die Frage nach einem entsprechenden Grundrechtsschutz ist daher letztlich durch die Entwicklung der Gemeinschaftsrechtsordnung selbst provoziert worden. Vgl. Weiler, Fundamental rights and fundamental boundaries, S. 51, 56; Hilf, Der Gerichtshof der EG als Integrationsfaktor, in: Frowein, Die Grundrechte der EG, S. 23, 27; Lenz, in: EuGRZ 93, 585. 73 BVerfGE 22, 293, vgl. zur Beschäftigung des BVerfG mit dem Grundrechtsschutz durch den EuGH die Solange- Rspr.- BVerfGE 37, 271; 58, 1; 59, 63; 73, 339; schließlich E 89, 155- Maastricht- aus der Literatur vgl. Lenz EuGRZ 93, 585.; Kokott, in: AöR 119 (1994), 207ff; dies. EPL 96, 237. 74 Urteil vom 27.12.1973, Nr. 183, Giurisprudenza Cost. 1973, S. 2406f; ausf. Matilde Cami, Die Entstehung einer europäischen Grundrechtsgemeinschaft aus italienischer Sicht, in: Stern, 40 Jahre Grundgesetz, 1990, S. 205. 75 EuGH RS 11/70-Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125.

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D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht

Rechtsprechung des EuGH wurde eingeleitet durch die Stauder-Entscheidung76 • Dort wurde - noch als obiter dieturn - die Zuständigkeit des EuGH zur Wahrung von Grundrechten angenommen77 • Gleichzeitig wurden diese hiermit als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkanne8• In den folgenden Entscheidungen, insbesondere "Internationale Handelsgesellschaft"79 , wurde diese Rechtsprechung weiter vertieft und ausgebaut80• 1. Zuständigkeit des EuGH

Die Entscheidungen zum gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz aus allgemeinen Rechtsprinzipien gelten als die bisher wichtigste rechtsschöpferische Leistung des EuGH 81 • Seine Kompetenz hierzu schöpft er aus der Aufgabenzuweisung in Art. 220 EGV. Aus seiner Aufgabe, das Recht zu wahren, leitet er auch die Kompetenz ab, Lücken im geschriebenen Recht durch allgemeine Rechtsgrundsätze zu schließen. Dabei handelt es sich um eine Methode, die zur Ergänzung in jeder nationalen und überstaatlichen Rechtsordnung bekannt ist82 • 2. Methode

a) Ursprung der Rechtsfigur der Allgemeinen Rechtsprinzipien Der EuGH, der die Rechtsfigur der Allgemeinen Rechtsprinzipien nicht nur, aber auch für die Entwicklung von Grundrechten im Gemeinschaftsrecht verwendet, hat über die Herleitung oder dogmatische Fundierung nie viele Worte verloren. Vorbilder waren wohl zum einen das Völkerrecht, welches in Art. 38 Ic IGH-Statut allgemeine Rechtsgrundsätze als Rechtsquelle anerkennt 83 , sowie das französische EuGH RS 29/69- Stauder, Slg. l969, 419. "Die Grundrechte der Person gehören zu den allgemeinen Grundsätzen, die der EuGH zu wahren hat" vgl. EuGH RS 29/69 - Stauder, Slg. 1969, 419. 78 Zu dem gesamten Komplex Grundrechte aus allgemeinen Rechtsprinzipien vgl. u. a. Feger, in: DÖV 1987, 328;Pescatore, in: FS WiardaS.441,442; Schwarze, in: EuGRZ 1986,293. 19 EuGH RS 11{70- Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125. so Eine übersichtliche Darstellung der Grundrechtsentwicklung der Allgemeinen Rechtsprinzipien ist bei Schweitzer!Hummer, Europarecht, RN792ff zu finden. 81 Everling, in: RabelsZ 50 (1986) 193,223 m. w.N.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 93, 46ff m. w. N.; Stuart, Die Rolle des Gerichtshofes in der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft in ZfRVgl. 1988, 202, 205; Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG, 1993, m. w.N., Everling, in: ZfschwR 1993 337,346 bezeichnet die Herleitung der allgemeinen Rechtsprinzipien als die "wichtigste Leistung zugunsten des Bfugers". 82 Vgl. Krück, in: Groeben{l'hiesing/Ehlermann:, Art.l64 RN 4; Hirsch, Die Grundrechte in der Europäischen Union, in: RdA 1998, 194, 195; Stad/er, Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, S. l38 m. w.N. 83 Ausführlich Bleckmann, Europarecht RN 151, ders. Die Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts, in: NVwZ 1993,824, 825; ders. Grundprobleme des Völkerrechts 1982, 152ff; Oppermann, Europarecht, RN 489; lpsen, Völkerrecht, S. 94 ff. 76

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V. Entwicklung eines Grundrechtsschutzes aus allgemeinen Rechtsprinzipien

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Recht. Der Conseil d'Etat entwickelt aus den Grundrechten der alten Verfassungsdokumente und aus allgemeinen rechtsstaatliehen Erwägungen im Wege der Rechtsfortbildung libertes publiques und erhebt sie zu allgemeinen Rechtsprinzipien (principes genereaux du droit) 84• Ihnen wird kein eigener Rechtsquellencharakter zuerkannt. Es wird allerdings zugestanden, daß sie, ohne Rechtsquelle zu sein, das Recht beeinflussen85 • Eine Verankerung im europäischen Gemeinschaftsrecht fand sich bis zum Vertrag von Maastricht lediglich für den Bereich der außervertraglichen Haftung (Art. 288 II EGV). Für die Herleitung von Grundrechten aus allgemeinen Rechtsprinzipien stellte sich die Frage, ob sie als originärer Teil des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen seien oder ob ihre Geltung aus den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten abgeleitet werde 86• Für die originäre Geltung aus dem Gemeinschaftsrecht sprach deren Funktion, die Einheitlichkeit der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsordnung zu sichern87 • Spätestens seit Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht dürften sich die Zweifel hinsichtlich des Geltungsgrundes der Rechtsquelle zerstreut haben. Die ausdrückliche Einbeziehung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts über den Grundrechtsschutz in Art. 6 II EUV bestätigt die bisherige Rechtsprechung des EuGH zu den Gemeinschaftsgrundrechten im Primärrecht und schafft ihnen damit eine gemeinschaftsrechtliche Fundierung88•

b) Ermittlungsmethode Ausdrückliche Ausführungen des EuGH zur Herleitung seiner Lösungen sind in seinen Entscheidungen selten zu finden 89• Der EuGH hat erklärt, daß er bei der Gewährleistung von Grundrechten aus allgemeinen Rechtsprinzipien von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten auszugehen habe90 • In der Entscheidung Rutili wird erstmals ausgeführt, daß auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluß die Mitgliedsstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, Hinweise geben können, die im Rahmen Vgl. oben Kapitel CII 1 d). Guimezanes, Introduction au droit fran~ais, S.29. 86 Ausführliche Darstellung m. w.N. bei Stadler, Berufsfreiheit in der EG, S.138ff. 87 EuGH RS 11no- Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 70, 1125, vgl. aus der Literatur insb. Meessen, Allgemeine Rechtsgrundsätze im EG-Recht, in: JIR 17 (1974), S. 283 sowie Rengeling, Rechtsgrundsätze bei Verwaltungsvollzug des EG-Rechts, 1977, 206f. 88 Vgl. Streinz, Europarecht, RN358. 89 Ihm wird deswegen ein Begründungsdefizit oder mangelnde Methodentransparenz vorgeworfen vgl. Streinz, Europarecht, RN359. 90 ,,Die grundlegenden Prinzipien der nationalen Rechtsordnungen "tragen zur Bildung des den Mitgliedsstaaten gemeinsamen philosophischen, politischen und rechtlichen Substrats bei, auf dem sich im Wege richterlicher Fortbildung ein ungeschriebenes Gemeinschaftsrecht entwickelt, zu dessen wesentlichen Zwecken gerade die Wahrung der individuellen Grundrechte gehört." vgl. Schlußanträge des Generalanwalts Outheillet de Lamonthe, RS. 11no - Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1142, 1150, ferner EuGH RS 4n3- Nold, Slg. 1974, 491, RN 13. 84

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D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht

des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen seien91 . Ebenso wird dem "soft law" der Gemeinschaft, namentlich der gemeinsamen Erklärung von 1977, eine entsprechende Bedeutung zuerkannt92• Alle diese Quellen dienen dem EuGH als Rechtserkenntnisquellen, aus denen er im Wege wertender Rechtsvergleichung allgemeine Rechtsgrundsätze bildet. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz ist danach nicht notwendig das, was die Mehrheit der Rechtsordnungen übereinstimmend anordnet93 . Der EuGH kann auch Rechtsgrundsätze entwickeln, wenn nur ein Teil der Mitgliedsstaaten einen entsprechenden Rechtsgrundsatz kennt. Umgekehrt konstituiert sich ein Grundrecht nicht allein deswegen, weil der betreffende Schutz in der Verfassung eines Mitgliedsstaates enthalten ist. Das gleiche gilt für den Umfang der betreffenden Schutzgehalte94 • Maßgeblich ist, was sich aus kritischer Analyse der Lösungen, die sich nach rechtsvergleichender Umschau ergeben, als die "beste Lösung" darstellt95. Als beste Lösung kann sich eine nationale Lösung im Gemeinschaftsrecht nur durchsetzen, wenn sie in die Struktur und Ziele der Verträge paßt und zu sachgerechter Ausbalancierung der Interessen der EG und des Einzelnen führt96. Das folgt aus dem normativen Element der Ermittlungsmethode97. Bleckmann vergleicht die Entwicklung allgemeiner Rechtsprinzipien im Gemeinschaftsrecht in Anlehnung an das Völkerrecht mit einer Analogie. Bei Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke, die hier im Fehlen von Grundrechten besteht, bedarf es zusätzlich einer gemeinsamen .Jnteressenlage. Diese liege dann vor, wenn der jeweilige Schutzgehalt sich in das Gemeinschaftsrecht einfüge98 • Der EuGH entwickelt allgemeine Rechtsgrundsätze in einer Kette von Entscheidungen durch Präzisierung, Nuancierung und Abgrenzung99, stark geprägt durch die 91 EuGH RS 36n5-Rutili, Slg. 1975, 1219. 92

EuGH RS44n9 -Hauer, Slg. 1979, 3727 RN 15.

93 Grundlegend EuGH RS 44n9 - Hauer, Slg. 1979, 3727; verb. RSen 201,

202/85- Kleusch, Slg. 1986, 3477; RS C-5/88 Wachauf, Slg. 1989, 2609; RS C-260/89- ERT, Slg. 1991, I 2925; RS C-159/90- Society for the protection of unborn children, Slg. 1991, I- 4685, s. a. Seidl-Hohenveldern, Die Rolle der Rechtsvergleichung im Völkerrecht, S. 253; Verdross, Völkerrecht, 1955, S. 124; ders.: Les Principes du droit international Public, 1938, 49; Bleckmann, in: NVwZ 1993, 824, 825; ders., in: Grundgesetz und Völkerrecht, S. 63 m. w.N.; Everling, in: ZfschwR 1993 l.Hb., 337, 347; Bleckmann, Teleologie und dynamische Auslegung, in: EuR 1979,239. 94 Ausführlich zum Standard des jeweiligen Rechtsschutzes Weiler, Fundamental rights and fundamental boundaries, S. 51, 57ff. 95 Zweigert, in: FS Dolle Bd.2, S.401 , 417f; ders., in: RabelsZ 1964, 601, 611; vgl. auchAbromeit!Hitzel-Cassagnes, Constitutional Change and Contractual Revision, in: E.L.Rev. 5 (1999), 23, 26. % Vgl. EuGH RS 11/70-. Internationale Handelsgesellschaft, Slg.1970, 1125, 1135. 97 S. Pauly, Strukturfragen des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes, in: EuR 1998, 242, 254; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 113, 122; Krück, in: Groeben/ Thiesing/Ehlermann, Art.164 RN29. 98 Vgl. Bleckmann, Die Bindung der EG an die EMRK, S.20ff. 99 Auch weil sie erst in einer Folge von Entscheidung in das allgemeine Bewußtsein einfließt, so daß von einer "allgemeinen Geltung" gesprochen werden kann- vgl. Everling, in: RabelsZ 50 (1986), 193,212.

V. Entwicklung eines Grundrechtsschutzes aus allgemeinen Rechtsprinzipien

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induktive Methode 100• Dennoch bauen die Entscheidungen nur zum Teil aufeinander auf. Es erfolgt nicht, wie anzunehmen wäre, die Erarbeitung eines festumrissenen Gemeinschaftsgrundrechts auf Grundlage der oben genannten Quellen. Vielmehr begibt sich der EuGH in jedem einzelnen Fall im Wege wertender Rechtsvergleichung auf die Suche nach der "besten Lösung". Daraus folgt, daß der Inhalt eines jeweiligen Grundrechts nicht erfaßt wird. 3. Verpflichtete aus den allgemeinen Grundsätzen

Die Gemeinschaftsgrundrechte aus allgemeinen Rechtsprinzipien binden die Gemeinschaften und ihre Organe 101 • Darüber hinaus sind die Mitgliedsstaaten an die Grundrechte gebunden, insofern deren Handlungen in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen. Insbesondere bei der Ausführung von Gemeinschaftsrechtsakten müssen sie die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung beachten und diese deshalb - soweit möglich - in Übereinstimmung mit diesen Erfordernissen anwenden 102• Der EuGH hat zudem zu einer Ausstrahlungswirkung von Gemeinschaftsgrundrechten auf das Privatrecht wie folgt formuliert: "Die Vorschriften des Gemeinschaftsrechtes einschließlich der Bestimmungen der Gründungsverträge sind im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen" 103 • Hieraus folgt, daß die Grundwertungen sich auch bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts wiederfinden müssen. Eine weitergehende Bindung Privater an die Grundrechte aus allgemeinen Rechtsprinzipien kann jedoch nicht angenommen werden. Gegen die Annahme einer darüber hinausgehenden Bindungswirkung spricht, daß die Gemeinschaftsgrundrechte in Ermangelung eines klar umrissenen Schutzbereichs nicht als abgeschlossenes Grundrechtssystem erdacht und konzipiert sind. Ein sachgerechter und die schutzwürdigen Belange der im Privatrechtsverkehr Beteiligten wahrender Ausgleich zwischen den entgegengesetzten Interessen ist nicht möglich 104•

100 Vgl. EuGH verb. RSen 46/87 und 227/88- Hoechst/K.ommission, Slg. 1989, 2859, 2923- zit. nach Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 115 f. 101 In EuGH RS 149/77 - Defrenne, Slg. 1978, 1365, 1379f wurden noch die Gemeinschaften als ausschließlicher Adressat der Allgemeinen Rechtsprinzipien benannt, vgl. Bleckmann, in: NVwZ 1993, 824, 826; Schweitzer!Hummer, Europarecht S.198 m. w.N. 102 EuGH RS C-2/92- The Queen gegen Ministery of Agriculture, Fisheries and Food ex parte Bostock, Slg.1994I, 955, 983; vgl auchKokott, in: AöR 121 (1996), 599, 605; Gersdorf, in: AöR 119 (1994), 400, 407; Nicolaysen, in: EuR 1989, 215, 223; Pernice, in: NJW 1990, 2409, 2417; Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG, S. 117. 103 EuGH RS C-62/90 - Deutsches Arzneimitte1recht, Slg. 1992 I, 2575, 2609 RN 23. 104 Vgl. Gersdorf, in: AöR 119 (1994), 400, 419f, Huber, Recht der europäischen Integration, S. 110.

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D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht

4. Rang der Rechtsquelle

Hinsichtlich des Stellenwertes der Grundrechte aus allgemeinen Rechtsprinzipien ergibt sich aus Funktion und Herleitung, daß sie primärem Gemeinschaftsrecht gegenüber gleichgeordnet sind 105 • Aus der Anwendung von grundrechtskonformem Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedsstaaten, kann sich sogar ein indirekter Vorrang der vom EuGH entwickelten Grundrechte gegenüber den mitgliedsstaatliehen Grundrechten ergeben. 5. Herleitung der Berufsfreiheit aus allgemeinen Rechtsprinzipien Der Berufsfreiheit kommt bei der Herleitung und Entwicklung von Grundrechten aus allgemeinen Rechtsprinzipien insofern eine besondere Bedeutung zu, als daß sich gerade die Anfangsentscheidungen, in denen die Methode entwickelt wurde, die Berufsfreiheit zum Thema hatten.

a) Inhalt eines Grundrechtes der Berufsfreiheit aus allgemeinen Rechtsprinzipien - Schutzbereich In dem "Klassiker der Grundrechtssprechung" 106 - der Rechtssache Nold- hat der EuGH das "Grundrecht auf Freiheit der Arbeit, des Handels und anderer Berufstätigkeiten"107 als allgemeinen Rechtsgrundsatz hergeleitet, ohne allerdings genauer auszuführen, was darunter zu verstehen sei. Insbesondere wird keine Abgrenzung zum Eigentumsgrundrecht vorgenommen, welches im gleichen Satz erwähnt wird. Ausführungen zum Umfang des Schutzbereiches lassen sich ansatzweise aus späteren Entscheidungen herauslesen. Sowohl die Wahl als auch die Ausübung eines Berufs werden geschützt 108, wenn auch die Berufsausübung einen geringeren Schutz zu erhalten scheint. Ob es sich dabei um ein einheitliches Grundrecht handelt, oder um zwei unterschiedliche, inhaltlich zusammenhängende Rechte, ist nicht zweifelsfrei geklärt. Während der EuGH in einigen Entscheidungen eine Unterscheidung zwischen Berufszugang und Ausübung nicht vornahm 109, läßt er insbesondere in der Entscheidung Qualitätswein aus dem Jahr 1986 durchaus anklingen, daß er zwischen der Wahl und der Ausübung eines Berufs unterscheidet: ,,Zunächst ist zu bemerken, daß die in Rede stehende Bestimmung die ... freie Berufswahl nicht beeinEuGH 11no- Internationale Handelsgesellschaft Slg.l970, 1137. Lenz, in: EuGRZ 1993,585,587. 107 EuGH RS4n3- Nold, Slg.l974, 491, 501, RN 14, abgedruckt undjeweils mit Anmerkungen in AWD/RIW 1974,487, s. auchGoose, in: DVB11974, 614;Meier, in: JuS 1975,181. 108 EuGH RS44n9- Hauer, Slg.l979, 3727ff. 109 EuGH RS 107/83- Klopp, Slg.l984, 2971; RS C-340/89 - Vlassopoulou, Slg.1991 I, 2357; Everling, in: FS Mestmäcker S. 365, 370f stellt aufgrunddieser Entscheidungen fest, der EuGH habe sich auf die Unterscheidung zwischen Berufszugang und -ausübung nicht eingelassen. 105

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V. Entwicklung eines Grundrechtsschutzes aus allgemeinen Rechtsprinzipien

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trächtigt. Sie berührt ... mittelbar ein damit zusammenhängendes Recht, denn die Einschränkungen ... wirken sich ... auf die Ausübung ihres Berufs aus." 110• Dieser Eindruck wird späteren Entscheidungen bestätigt. In der Entscheidung Heylens aus dem Jahr 1987 und in der Entscheidung Bosman aus dem Jahr 1995 benennt der EuGH explizit den Zugang zu einem Beruf als geschütztes Grundrecht 111 , in der Entscheidung zur Bananenmarktordnung hingegen prüft er eine Verletzung des Rechts der freien Berufsausübung 112• Auch in der Entscheidung Winzersekt aus dem Jahr 1994 nimmt er eine Differenzierung zwischen dem Bestand der Berufsfreiheit und den Modalitäten der Ausübung vor 113 • Es spricht also einiges dafür anzunehmen, daß der EuGH grundsätzlich doch eine Unterscheidung zwischen dem Zugang und der Ausübung einer Beschäftigung vomimmt 114• In den Entscheidungen des EuGH finden sich keine Ausführungen darüber, was unter den Begriff des Berufs fällt. Es läßt sich aber entnehmen, daß sowohl selbständige als auch unselbständige Betätigung geschützt werden soll 115• Änderungen der Wettbewerbsstellung der Marktteilnehmer werden ebenfalls am Maßstab des Rechts der freien Berufsausübung geprüft 116• Dieser Teil der Berufsfreiheit kann sich allerdings im Spannungsfeld zur wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit der anderen Marktteilnehmer befinden. Deren Recht wird selbstverständlich ebenfalls geschützt 117• Dementsprechend unterfällt der Berufsfreiheit gerade nicht der Schutz "rein kaufmännischer Interessen oder Aussichten, deren Ungewißheiten zum Wesen wirtschaftlicher Tätigkeit gehören" 118• Auch kann kein Unternehmen ein "wohlerworbenes Recht auf Beibehaltung eines Vorteils geltend machen, der 110 EuGHRS 116/83 -Qualitätswein, Slg.1986, 2519,2545 RN27: ,,Zunächst ist zu bemerken, daß die in Rede stehende Bestimmung die ... freie Berufswahl nicht beeinträchtigt. Sieberührt ... mittelbar ein damit zusammenhängendes Recht, denn die Einschränkungen ... wirken sich ... auf die Ausübung ihres Berufs aus." Günther, Berufsfreiheit und Eigentum, S. 17, liest aus dieser Passage, m. E. zu Unrecht ein Mittelbarkeitsverhältnis zwischen Berufswahl und Ausübung. 111 EuGH RS 222/86 - Heylens, Slg. 1987, 4097 RN 14; RS C-415/93, Slg. 1995 I, 4921 RN129. 112 Die meisten Entscheidungen betrafen selbständige Betätigung. Das mag aber wohl eher an der vorgelegten Fällen gelegen haben, vgl. zum Schutz unselbständiger Beschäftigung z. B. EuGHRS 132/91-Katsikas, Slg.19921, 6577. 11 3 EuGH RS- Winzersekt, Slg.19941, 5555, 5581 RN22, 24. 114 So auch BleckmannlPieper, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts B I RN 86 m. w. N .. ; s. a. die Tendenz bei Tettinger, Gewerbeordnung, Einl. RN 106. 115 Die meisten Entscheidungen betrafen selbständige Betätigung. Das mag aber wohl eher an der vorgelegten Fällen gelegen haben, vgl. zum Schutz unselbständiger Beschäftigung z. B. EuGH RS 132/91- Katsikas, Slg. 19921, 6577. 116 EuGH RS C-280/93- Bananenordnung, Slg. 1994 I, 4973. 117 EuGHRS230/78-Erindani, Slg.19792749, 2768 RN20; verb. RS63, 147/84-Finsider, Slg. 1985, 2857, 2882; verb. RS C-143/88 und C-92/89- Zuckerfabrik Dithmarschen und Zukkerfabrik Soest, Slg. 1991 I, 415, 552 RN72; verb. RS 90, 91/90- Secretaire d'Etat a I' Agriculture, Slg. 1991 I. 3633, 3632, RN 13. 118 EuGHRS4/73 -Nold, Slg.1974, 491, 507f.

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D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht

ihm aus einer Marktorganisation in ihrer zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehen• den Form erwächst" 119•

b) Einschränkbarkeif der Berufsfreiheit aus allgemeinen Rechtsprinzipien Die Grundrechte aus allgemeinen Rechtsprinzipien werden im Hinblick auf die soziale Funktion der geschützten Rechtsgüter und T1Uigkeiten gesehen. Daraus folgt, daß sie nur dann vor Einschränkungen schützen, soweit die Einschränkungen nicht ihrerseits im öffentlichen Interesse liegen 120• Neben den aus den mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen entlehnten Einschränkungsvorbehalten, die auf das Gemeinwohl abstellen, kennt das Gemeinschaftsrecht noch einen originär gemeinschaftsrechtlichen Vorbehalt, nämlich das Erfordernis, daß Rechtspositionen sich "in die Struktur und in die Ziele der Gemeinschaft einfügen" müssen 121 • Die Zweiteilung der Einschränkungsmöglichkeiten ist eine Konsequenz der Adaptionsmethode: zum einen können die Rechte aus den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten nur vollständig, d. h. mit Inhalt und Schranken Gegenstand der Übernahme in das Gemeinschaftsrecht sein. Gleichzeitig verlangt das normative Element, daß die Rechte nur in einer Form in das Gemeinschaftsrecht übernommen werden, daß sie sich einfügen, also Teil einer eigenständigen Rechtsordnung bilden können 122• Der EuGH stellt zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen in letzter Zeit vermehrt auf den zweitgenannten Aspekt ab. Die starke Betonung der gemeinschaftsrechtlichen Einschränkungsmöglichkeiten erklärt sich dadurch, daß auf diese Weise die Eigenständigkeil des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtschutzes unterstrichen wird 123• Das Ergebnis nährt jedoch den Zweifel: bislang ist noch nicht eine Entscheidung ergangen, in der der Gerichtshof den Vorrang der Berufsfreiheit vor den Gemeinwohlzwecken der Gemeinschaft anerkannt hat124• Dies ist insbesondere deswegen bedenklich, weil eine kritische Hinterfragung dessen, was sich im einzelnen Fall hinter den Gemeinwohlzwecken verbirgt, nicht erfolgt.

119 EuGH verb. RS 133 - 136/85 - Rau/Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung, Slg.l987, 2289, 2338f. 120 EuGH RS - 4173 -Nold, Slg.1974, 491, 507fRN 14. 121 EuGH RS 11/70- Internationale Handelsgesellschaft, Slg.1970, 1125, RN 4 , vgl. zur Ermittlung bereits oben Kapitel DV2b). 122 Dies geht zurück auf Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG, S.42 f. 123 S. Goose, AWD 1974, 489, 491 ; Beutler, in: Groeben{Thiesing/Ehlermann, Art. F RN 77. 124 Vgl. z.B. EuGHverb. RS 143/88 und 92/89 Zuckerfabrik Slg.19911, 534,552 RZ74; restriktiv auch RS C-84/95- Bosphorus Hava Yollari Turizm, Slg. 1996 I, 6065.

V. Entwicklung eines Grundrechtsschutzes aus allgemeinen Rechtsprinzipien

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c) Wesensgehalt und Verhältnismäßigkeilsgrundsatz als Schranken-Schranken Der EuGH zieht bei seinen Grundrechtsprüfungen zur Untersuchung der Statthaftigkeit eines Eingriffes regelmäßig sowohl den Verhältnismäßigkeilsgrundsatz als auch die Prüfung des Wesensgehaltes heran. Die Prüfung des Wesensgehaltes erfolgt zuerst. Dabei verlangt der EuGH, daß "die Rechte nicht in ihrem Wesen angetastet werden" 125 • War auch in der Entscheidung Hauer aus dem Jahr 1979 noch unklar, ob darunter zu verstehen sei, daß jedes Grundrecht einen unantastbaren Kern habe oder ob der Wesensgehalt immer dann betroffen sei, wenn das Grundrecht in unverhältnismäßiger Weise beschränkt werde 126, hat der EuGH später ausgeführt, der Wesensgehalt beinhalte den "Bestand des Rechts selbst" 127• Für die Berufsausübungsfreiheit führt er aus, maßgeblich sei, ob die Tätigkeit als solche noch ausgeübt werden könne 128• Der Wesensgehaltsgrundsatz ist aufgrunddieser Rechtsprechung gegenüber einen gegenüber dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz klar abgrenzbar geworden. Seine Gewährleistung stellt eine eigenständige objektiv-rechtliche Garantie gegenüber Eingriffen in das jeweilige Grundrecht dar. Gleichwohl muß bemerkt werden, daß der EuGH bislang noch in keinem Fall einen unzulässigen Eingriff in den Wesensgehalt eines Grundrechts erkannt hat 129• Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stellt ebenfalls einen höherrangigen allgemeinen Rechtsgrundsatz des primären Gemeinschaftsrechts 130 da und setzt sich aus den im deutschen Recht entwickelten Elementen der Geeignetheit, Erforderlichkeil und Allgemessenheit zusammen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besteht als zu prüfender allgemeiner Rechtsgrundsatz und zwar eigenständig, d. h. nicht unmittelbar gekoppelt als Teil einer speziellen Grundrechtsprüfung 131 • Er ist derweil in Art. 5 III EGV auch vertraglich normiert. Der gemeinschaftsvertragliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfüllt hierbei eine doppelte Funktion: neben der grundrechtlim EuGHRS4n3 - No1d, Slg.1974, 491,508 RN 14. Vgl. zum Streit z. B. Pernice, in: NJW 1990, 2409, 2416f; Rengeling, in: Grundrechtsschutz in der EG S. 26; Stad/er, Berufsfreiheit in der EG, 362ff. 127 EuGHRS234/86-Keller, Slg.1986, 2897, 2912RN9; RS C-177/90-Kühn, Slg.19921, 35, 63 f RN 15 ff. 12s EuGH RS C-306/93- Winzersekt, Slg.l9941, 5555,5582 RN24. 129 So Starr, Zur Bonität des Grundrechtsschutzes in der EU, in: Der Staat 1997, 547, 563 m.w.N. 130 Zapka, Verhältnismäßigkeitsprinzip im Gemeinschaftsrecht, in: RuP 1996, 95, 96, Schiller, Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach der Rechtsprechung des EuGH, in: RIW 1983, 928f m. N. der Rspr. des EuGH; Schweitzer!Hummer, Europarecht, S. 49f; Beutler!Bieber! Piepkorn!Streil, Die Europäische Gemeinschaft, 1987, S. 206, 284. 13 1 Vgl. EuGH RS 265/87- Schräger, Slg. 1989, 2237, 2269 RN21; ausführlich Pollack, Verhältnismäßigkeitsprinzip und Grundrechtsschutz in der Judikatur des EuGH und des Österreichischen VfGH, insb. S. 121 ff; Zapka, in: RuP 1996, 95, 97; Huber, Recht der europäischen Integration, § 6 RN 44; Schiller, Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Rechtsprechung des EuGH, in: RIW 1983,928, 929f. 126

II Bomnann

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D. Schutz der Berufsfreiheit im Gemeinschaftsrecht

chen Eingriffssicherung wird ihm ohne ausdrücklichen Grundrechtsbezug der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung entnommen 132• In der konkreten Prüfung wird die Verhältnismäßigkeilsprüfung allerdings selten unter dieser Begrifflichkeil und mit der sauberen Trennung der Prüfungsschritte "geeignet, erforderlich und angemessen" vorgenommen 133• Damit geht einher, daß der Verhältnismäßigkeilsprüfung nicht die dem deutschen Recht bekannte Korrekturfunktion zukommt. Bislang hat es keinen Fall gegeben, in dem ein Eingriff in die Berufsfreiheit unter Hinweis auf den Verhältnismäßigkeilsgrundsatz für rechtswidrig erklärt wurde. Dazu kommt, daß der EuGH insbesondere bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen bei der Frage nach der Erforderlichkeil und Angemessenheil eine große Einschätzungsprärogative einräumt: ,,Der Gerichtshof kann ... nicht die Beurteilung des Rates in der Frage, ob die vom Gemeinschaftsgesetzgeber gewählten Maßnahmen mehr oder weniger angemessen sind, durch seine eigene Beurteilung ersetzen, wenn der Beweis nicht erbracht ist, daß diese Maßnahmen zur Verwirklichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet waren.'