Symptom Design: Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge [1. Aufl.] 9783839422687

Architektur und Design sind heute mehr denn je Symptome der Gegenwartskultur. Es zeigt sich in ihnen die Gesellschaft, w

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Symptom Design: Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge [1. Aufl.]
 9783839422687

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Architektursemiotik: Ein- und Ausblicke
Zeichen und Dinge
Above the Trash. Momente eines objective turn in Architektur und Design
Ding, Halb-Ding, Nicht-Ding, In-Ding, Über-Ding. Über sichtbares und unsichtbares Design
Bedeutung und Interpretation
Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen
Gebaute Zeichen. Zu den Bedeutungsweisen von Bauwerken
Indexikalität und Performativität
Symbol, Symptom, Signal. Einige Überlegungen zur Konfiguration architektonischer Zeichen
Präsenz der Zeichen. Vorüberlegungen zu einer phänomenologischen Semiotik der Architektur
Text und Kontext
Hinter den Zeichen. Über Strategien der Verordnung und Verhandlung von Verhaltensregeln in der Tokioter U-Bahn
Zitieren in der Architektur
Personenregister
Bildnachweis
Autoren

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Jörg H. Gleiter (Hg.) Symptom Design

Architektur Denken 7



Architektur Denken

Architekturtheorie und Ästhetik

Herausgeber: Jörg H. Gleiter, Berlin Beirat: Gerd de Bruyn, Stuttgart

Kurt W. Forster, Como / New Haven Matthias Sauerbruch, Berlin Philip Ursprung, Zürich

Jörg H. Gleiter (Hg.) Symptom Design Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge

Unter Mitarbeit von Jonas Marx und Tom Steinert

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elek­ tronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Philipp Heinlein, München Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2268-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: www.transcript-verlag.de. Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected].

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Inhalt Einleitung

7 Jörg H. Gleiter Architektursemiotik: Ein- und Ausblicke

Zeichen und Dinge 21 Kurt W. Forster Above the Trash. Momente eines objective turn in Architektur und Design

39 Gert Selle Ding, Halb-Ding, Nicht-Ding, In-Ding, Über-Ding. Über sichtbares und unsichtbares Design

Bedeutung und Interpretation 69 Claus Dreyer Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen

93 Christoph Baumberger Gebaute Zeichen. Zu den Bedeutungsweisen von Bauwerken

Indexikalität und Performativität 115 Uwe Wirth Symbol, Symptom, Signal. Einige Überlegungen zur Konfiguration architektonischer Zeichen

148 Jörg H. Gleiter Präsenz der Zeichen. Vorüberlegungen zu einer phänomenologischen Semiotik der Architektur

Text und Kontext 183 Tatsuma Padoan Hinter den Zeichen. Über Strategien der Verordnung und Verhandlung von Verhaltensregeln in der Tokioter U-Bahn

210 Remei Capdevila-Werning Zitieren in der Architektur

231 Personenregister 235 Bildnachweis 237 Autoren

Einleitung

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Jörg H. Gleiter

Architektursemiotik: Ein- und Ausblicke Einblicke Die Architektur ist nicht nur eine materielle und

kon­struktive Praxis mit dem Ziel, für die verschiedenen gesellschaftlichen Sozialisierungsprozesse Räume zu schaffen. Sie kombiniert nicht nur materielle Elemente zu räumlichen Dingen, die benutzt werden können, sie kombiniert dieselben Elemente zu sichtbaren Dingen, die interpretiert werden können. Architektur ist immer auch Zeichen und das nicht nur nebenbei. So nehmen wir die meisten Dinge, die um uns sind, wie Fenster oder Türen, nur als Zeichen wahr. Wir gehen in der Regel nur durch eine Tür eines langen Hotelkorridors hindurch, wir öffnen nur die wenigsten Türen, die wir sehen, und benutzen sie oder nehmen sie in der Benutzung durch andere wahr. Die Architektur ist ebenso sehr eine Praxis der Zeichen wie eine Praxis der Funktionen. Es zeichnet die Architektur in besonderem Maße aus, dass in ihr Zeichen und Wirklichkeit oder Interpretation und Erfahrung aufs Engste aufeinander bezogen sind. Diese Tatsache bildet den Ausgangspunkt für den hier vorliegenden Band 7 der Reihe ArchitekturDenken, der die Frage nach der besonderen Zeichenpraxis der Architektur im Unterschied zu Sprache und Bild aufwirft. Nach Günter Abel ist eben jede spezifische Wirklichkeit immer schon „zeichenverfaßt und interpretations-bedingt“.1 Jedem Akt des Gebrauchs geht ein Akt der Interpretation der entsprechenden Zeichen voraus, so unbewusst und automatisch sich dies im Alltag auch vollziehen mag. Während sprachliche Zeichen und Bilder in der Regel auf

Jörg H. Gleiter Architektursemiotik

etwas verweisen, was sie selbst nicht sind, sind die architektonischen Zeichen selbst das Ding, dessen möglichen Gebrauch sie anzeigen. Mit Roland Posner kann man von der Anzeigefunktion der architektonischen Zeichen2 sprechen. Ohne die Anzeigefunktion ist die Erfahrung von Architektur nicht denkbar. Man stelle sich nur eine Tür vor, die nicht anzeigte, dass man sie öffnen und durch sie hindurch auf die andere Seite der Wand gehen kann. Man könnte nicht erkennen, dass es eine Tür ist, sie wäre nicht existent, man hielte sie vielleicht für etwas anderes, nur durch Zufall könnte man sie auffinden. Die architektonischen Zeichen zeigen also eine mögliche Verwendung ihrer selbst an, wobei es für die entsprechende Verwendungsweise eines vorausgehenden Aktes der Zeicheninterpretation bedarf. Für die Architektur bedeutet das, dass Entwerfen immer Entwerfen von Anzeichen ist. Entwerfen heißt, die architektonischen Zeichen in ihrer Materialität und situativen Bindung so zu kombinieren, dass die Funktion einerseits angezeigt wird und andererseits performativ vollzogen werden kann. Dabei ist die Interpretation keineswegs auf die kognitiv-intellektuelle Rezeption der Architektur beschränkt. Sie betrifft die ganze Bandbreite menschlicher Wirklichkeitserfahrung und damit alle „zeichen-verfaßte[n] und interpretations-bestimmte[n] Zustände, Prozesse und Phänomene“,3 auf der kognitiv-rationalen, der emotional-psychologischen und der phänomenal-performativen Erfahrungsebene der Architektur. Es tut sich mit der Frage nach den Zeichen in der Architektur ein komplexes, weit verzweigtes und zuweilen verwirrend unübersichtliches Feld auf. Wo mit der Frage nach den Zeichen in der Architektur nicht nur Fragen abstrakter Bezugnahme eines Zeichens auf anderes angesprochen sind, sondern auch Aspekte der Materialität, Phänomenalität und Performativität, verbindet sich mit der Semiotik mehr als die Lehre von Gebrauch und Wirkung der Zeichen. Insofern in umfassender Weise Aspekte unserer Welterfahrung erfasst werden, ist die Theorie der Zeichen so viel wie eine Philosophie der Zeichen, mithin zentraler Bestandteil der Philosophie der Archi-

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tektur. Damit verbindet sich mit der Architektursemiotik oder der Wissenschaft der architektonischen Zeichen ein weit über die Organisation des Alltags hinausgehender Anspruch. Daher auch ist die Herausgabe dieses Buches mit einigen Vorbehalten versehen, was den beschränkten Umfang und damit die beschränkte Breite der Explikation des Themas betrifft. Die Publikation muss sich auf einige Einblicke und mögliche Ausblicke auf die Architektursemiotik beschränken. Die Herausgabe geschieht aber auch mit einiger Überzeugung, einen Beitrag zum besseren Verständnis der Zeichen in der Architektur zu leisten, dies besonders vor dem Hintergrund, dass viele Versuche in der Architektursemiotik Applikationen von Semiotiken sind, die ursprünglich ohne direkten Bezug auf die Architektur entstanden. Dazu gehören die verschiedenen Zeichen-, Kommunikations- und ­Bildtheorien, die von der konkreten Materialität der Zeichen und ihrer Bindung an konkrete Situationen weitgehend abstrahieren. Wo diese die Grundlage für die Architektursemiotik sind, finden die Materialität, Phänomenalität und Performativität als wichtige Bestandteile architektonischer Zeichenerfahrung zu wenig oder zuweilen gar keine Berücksichtigung. Wie schon angesprochen gilt für sprachliche Zeichen, dass ihre Materialität keine oder nur eine untergeordnete Bedeutung für die Sache hat, auf die sie verweisen. Das Wort Hund ist eben kein Hund, sondern nimmt Bezug auf das entsprechende Tier, verweist auf dieses oder steht stellvertretend für dieses, es hat aber materiell nichts mit dem Tier zu tun, auf das es verweist. Auch bei der Betrachtung von Bildern, besonders bei Fotografien, nehmen wir normalerweise die Materialität und das Gemachtsein nicht wahr. Als ob das Bild oder die Fotografie keine Materialität hätte, schauen wir durch die Bildoberfläche hindurch in eine imaginäre Realität. Wir nehmen die Materia­lität eines Gemäldes nicht wahr; oder im Gegenteil, im Bild sehen wir Stein, Holz, Stoff oder Wasser, wo eigentlich nur Farbe ist. Das aber ist das Großartige, dass wir mithilfe der Sprache und der Bilder fähig sind, uns über Dinge auszutau-

Jörg H. Gleiter Architektursemiotik

schen, die gerade nicht anwesend sind. Mit Worten und Zeichnungen können wir Dinge miteinander in Beziehung setzen, die in der Realität räumlich oder zeitlich getrennt sind. Es kann etwas Vergangenes gegenwärtig werden, wir können uns in Abwesenheit der jeweiligen Person zum Beispiel über Julius Cäsar, den Alten Fritz oder Napoleon unterhalten. Mithilfe der Sprache kann man mitten im Schnee von einem blühenden Kirschbaum erzählen. Das ist anders in der Architektur. Mit Ausnahme jener Aspekte, die Merkmale von Bildern besitzen und damit einen Sonderfall darstellen – wenn auch einen sehr häufig kommentierten  –, sind die architektonischen Zeichen an das Material und an eine konkrete Situation gebunden. Die übliche Zeichendefinition aliquid stat pro aliquo, die aus der Linguistik kommt und bedeutet, dass ein Zeichen ein Etwas ist, das für ein anderes Etwas steht, liegt eigenartig quer zur Erfahrung der Architektur. Ein Fenster verweist nicht in derselben Weise auf andere Fenster, wie zum Beispiel ein Wort auf etwas Bezug nimmt, das nicht unbedingt anwesend sein muss. Das Fenster bezeichnet im wesentlichen sich selbst in der materiellen Präsenz. Ein Fenster zeigt an, dass man es öffnen kann, der Bezug zu anderen ähnlichen Fenstern ist in der Regel nachrangig. Die Tür ist selbst die konkrete Exemplifikation des Zeichens Tür, so wie das Haus das Zeichen für sich selbst ist. Es sei denn, es wird vom Architekten ein Bezug auf etwas Abwesendes intendiert, wie bei der Verwendung von besonderen Giebel- oder Fensterformen, etwa der Serliana, einem Fenster, das aufgrund seiner spezifischen Form nicht von der konkreten Bezugnahme auf Andrea Palladio oder die römische Antike getrennt werden kann. Oder ein Architekt kann mit einem schmalen, weit auskragenden Balkon mit einer bestimmten Art von Geländer sehr bewusst auf ähnliche, von Le Corbusier erstmals verwendete Architekturelemente Bezug nehmen. Dennoch, die grundlegende Zeichenfunktion bleibt in der Architektur an die materielle Präsenz des Zeichens gebunden, denn auch die Serliana ist ein Fenster, der Balkon im Stile Le Corbusiers ist ein Balkon, während das Wort

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Hund kein Hund ist und das Bild einer bestimmten Person nicht diese Person. Aufgrund der materiellen Präsenz der Zeichen sind Signifikant und Signifikat, Zeichen und Bezeichnetes in eine Einheit gebunden. Trotz ihres Selbstbezugs besitzen die architektonischen Zeichen aber das, was man als semiotische Differenz bezeichnen kann. Auch sie verweisen, wie die sprachlichen Zeichen, auf etwas Abwesendes. Es ist aber eine andere Art von Abwesenheit, insofern die architektonischen Zeichen einen möglichen Gebrauch anzeigen als eine in der Zukunft liegende Möglichkeit der performativen Realisierung der Zeichenbedeutung. Die Tür zeigt sich eben nicht nur in ihrer Präsenz, im Sinne von ‚ich bin eine Tür‘, sondern sie zeigt an, was man mit ihr machen und wie man sie gebrauchen kann. Angezeigt wird, dass man durch die Tür hindurch einen anderen Raum betreten kann, dass man mittels des Balkons in einer gewissen Höhe aus dem Haus heraus- und vor die Fassade treten kann. Architektonische Zeichen funktionieren anders. Man kann jetzt nicht mehr von der Sprache der Architektur oder von der Sprachähnlichkeit der architektonischen Zeichen sprechen, es sei denn, man tut dies in bewusst metaphorischer Absicht, wie dies zum Beispiel Charles Jencks in Die Sprache der postmodernen Architektur4 oder Oswald Mathias Ungers in Die Thematisierung der Architektur5 machten. Das soll aber nicht heißen, dass die Architektur etwa kein Medium der Kommunikation ist. Im Gegenteil, die Frage nach der Architektursemiotik impliziert die Aufgabe, das Spezifische der Architektur als Kommunikationsmittel zur Sichtbarkeit zu bringen, wohl wissend, dass es neben dem Sehen auch andere Sinne gibt, über die die Architektur kommuniziert. Gegen die einfache Applikation von Sprachmodellen und Bildtheorien gilt es, den spezifischen Zeichencharakter der Architektur zu bestimmten. Das verfolgt Symptom Design. Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge. Die hier versammelten Beiträge verstehen sich als Einblick in und Ausblick auf verschiedene Aspekte der Zeichenverwendung in der Archi-

Jörg H. Gleiter Architektursemiotik

tektur. Bis auf die Aufsätze von Remei Capdevila-Werning und Jörg H. Gleiter sind die Beiträge für die internationale Tagung Symptom Design: Dinge, Zeichen und ihre Wirkungen entstanden und für diese Publikation umfangreich überarbeitet worden. Die Tagung fand im Frühjahr 2012 in Südtirol in heiterer und fruchtbarer Atmosphäre an der Fakultät für Design und Künste der Freien Universität Bozen statt. Die für diese Publikation ausgewählten Beiträge können selbstverständlich nur eine Einführung in das weite Feld der architektonischen Zeichen sein. Das zeigt sich einerseits in der beschränkten thematischen Breite, wie auch in der punktuellen Vertiefung einzelner Themen. Mit Blick auf die Architektur führen die Beiträge von Christoph Baumberger und Claus Dreyer in die Terminologie und Taxonomie der Semiotik nach Nelson Goodman und Charles S. Peirce ein. Sie legen die theoretischen Grundlagen und erleichtern das Verständnis der anderen Beiträge. Die Aufsätze von Kurt W.  Forster, Tatsuma Padoan, Gert Selle und Remei Capdevila-Werning thematisieren dagegen verschiedene Aspekte der Phänomenalität der architektonischen Zeichen. Vor dem Hintergrund der Kopplung von Zeichen und Wirklichkeitserfahrung arbeiten sie anhand von konkreten Beispielen Aspekte der materiell-dinghaften und räumlich-kontextuellen Präsenz architektonischer Zeichen heraus. Forster stellt die Frage nach den Zeichen im Kontext des objective turn, Selle thematisiert die Verknüpfung von Zeichen und Ding. Padoan fragt nach der Kopplung von Zeichen und Wirklichkeitserfahrung im konkreten räumlichen Kontext, und Capdevila-Werning stellt die Frage nach dem Zitieren in der Architektur, das heißt nach den Möglichkeiten innerarchitektonischer Kontextualität. Daran knüpfen die Texte von Uwe Wirth und Jörg H. Gleiter an. In ihren Beiträgen tritt die indexikalische Zeichenbeziehung ins Zentrum der Architektursemiotik. Damit thematisieren sie einen Aspekt der Architektursemiotik, der bisher aufgrund der Ableitung aus der Sprach- und Bildtheorie hinter den ikonischen und symbolischen Zeichenbeziehungen zurückgetreten war.

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Ausblicke Nicht weniger als die Zeichentheorien im Kontext des linguistic turn der 1970er Jahre vermittelten die Bildtheorien im Kontext des pictorial turn der 1990er Jahre den Eindruck, als ob die Architektur eine untergeordnete Klasse von Zeichen wäre. Aufgrund ihrer Materialität und situativen Bindung schien die Architektur einerseits wesentlich durch funktionale Aspekte charakterisiert zu sein, die außerhalb der Zeichenfunktion standen, andererseits durch einen Zeichengebrauch, der sich in Wiederholungen konventioneller Schemata erschöpfte, wie zum Beispiel über viele Jahrhunderte hinweg – und verstärkt wieder im sozialistischen Realismus und der Postmoderne – in der Applikation klassizistischer Ornamente und vielfältig variierter Säulenordnungen. Die Zeichen- und Bildtheoretiker schienen damit fast wörtlich Arthur Schopenhau­ers klassizistischer Ästhetik und ihrer Klassifizierung der Künste zu folgen. Nach Schopenhauer steht die Architektur in der Hierarchie der Künste an unterster Stelle, da sie aufgrund ihrer Schwerfälligkeit, ihrer Bindung an Materialität, Konstruktion und Funktion die am wenigsten differenzierte Kunst zu sein scheint. Sie steht bei ihm noch unterhalb der sogenannten Wasserleitungskunst, den Springbrunnen, während jene Künste, deren Zeichencharakter wenig Bindung an das Material hat, weiter oben in der Hierarchie stehen, wie die Landschaftsmalerei, die Portraitmalerei und die Poesie, mit der Musik an der Spitze. Wie weiter oben schon im Kontext der Anzeigefunktion der Architektur sichtbar wurde, kann eine Architektursemiotik nur gelingen, wenn auch die architektonische Funktion in den Kanon der Zeichen aufgenommen wird. Jedoch beschränkt sich die Anzeigefunktion nicht auf die performative Realisierung der Zeichenbedeutung. Es gibt eine zweite Seite, so dass man von einer doppelten Anzeigefunktion der architektonischen Zeichen sprechen muss. Denn die architektonischen Zeichen zeigen in der Regel ebenso eine zukünftige Verwendungsweise an, wie sich in ihnen eine vergangene Verwendungsweise zeigt. Als konstruktives Artefakt zeigt sich in der Architektur, dass sie Resultat eines vergangenen performativen Prozesses

Jörg H. Gleiter Architektursemiotik

ist, nämlich des Bau- und Konstruktionsprozesses, sei er handwerklicher oder industrieller Art. Man muss daher von einer doppelten Form performativer Realisierung der Zeichenbedeutung sprechen: nämlich als zukünftiges Gebrauchtwerden wie auch als vergangenes Gemachtsein. Mit dem Zeigen oder Anzeigen des Gebrauchtwerdens und dem Sich-Zeigen des Gemachtseins, jeweils in der engen Verknüpfung von Zeichen und Wirklichkeit, rückt dann eine spezifische Zeichenfunktion in den Fokus der Architektur­ semiotik: Die Indexikalität. Nach Charles S. Peirce ist ein Index ein Zeichen, das in einer realen Beziehung zum Bezeichneten steht und nicht in einer imaginären, also ikonischen oder einer arbiträren, also symbolischen Beziehung. Indexikalische Zeichen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein Teil der Erfahrung sind, die sie anzeigen. Beispiele dafür sind der Fuß und sein Abdruck im Sand oder die Sonne und der im Laufe des Tages sich verändernde Schatten einer Säule. Auch der sichtbare Abdruck der Schalbretter einer Stahlbetondecke ist indexikalisch, insofern sich darin Aspekte des Fertigungsprozesses zeigen, ebenso wie sich in den Schrauben, Schweißnähten und Dehnfugen und selbst im Raster der Fliesen die konstruktive Logik eines Gebäudes zeigt. Der Arbeits- und Bauprozess ist Teil der Erfahrung des architektonischen Zeichens. So liegt eine indexikalische Zeichenbeziehung vor, wenn sich in einer aus Sichtmauerwerk errichteten Wand zeigt, wie sie regelmäßig im Verbund gemauert ist, Stein auf Stein und Stein neben Stein. Ähnliches gilt auch für die Anzeigefunktion einer Tür, denn die Tür in ihrer formalen Gestalt ist Teil der Erfahrung, die sie anzeigt, insofern man eben durch sie hindurchgehen kann. In seinen verschiedenen Erscheinungs- und Funktionsweisen wird das indexikalische Zeichen als diejenige Zeichenfunktion sichtbar, über die Zeichen und Wirklichkeit, Interpretation und Erfahrung am engsten gekoppelt sind. Wobei es naheliegt, dass sich die Indexikalität in je unterschiedlichen Abstraktionsgraden zeigt, wie zum Beispiel in Le Corbusiers System maison dom-ino, das mit seinen alternie-

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renden Schichten von Stützen (pilotis) und Deckenplatten die Kon­struktionsweise aus Stahlbeton exemplifiziert. Im maison dom-ino zeigt sich, wie das Haus in seinem konstruktiven Grundprinzip gemacht ist. Pilotis und Deckenplatten sind indexikalische Zeichen des Gemachtseins. Tatsache ist aber, dass in der Architektur oft durch vielfachen Gebrauch eine ästhetische Verselbständigung der architektonischen Motive stattfindet. Besonders die pilotis werden heute weniger als indexikalische, sondern vielmehr als ikonisch-symbolische Zeichen wahrgenommen, insofern eher bildhaft-formal ein Bezug zu Le Corbusier und seinen für die moderne Architektur exemplarischen Gebäuden, wie zum Beispiel der Villa Savoye, hergestellt wird. Es tritt der genuin indexikalische Zeichenbezug hinter den ikonischen Zeichenbezug und die symbolische Codierung zurück. Wie im Falle von Le Corbusiers maison dom-ino sichtbar wird, kann sich im Laufe der Zeit die Zeichenfunktion verschieben, von der ursprünglich dominant indexikalischen hin zur dominant ikonisch-symbolischen Zeichenfunktion. Das geschieht innerhalb der Geschichte der Architektur sehr häufig. Die verschiedenen architektonischen Stile wie Renaissance oder Barock gründen in einer solchen Zeichenverschiebung ihrer einzelnen Elemente. Viele der Zeichen, die in der Architektur als ikonische Zeichen klassifiziert werden, haben einen indexikalischen Ursprung. Ein Beispiel dafür ist der Eiffelturm. 1889 wurde das Gebäude hauptsächlich indexikalisch unter dem Aspekt des Gemachtseins betrachtet und als Ingenieursbauwerk gewürdigt, gleichzeitig als Architektur abgelehnt. Mit der damals ungewöhnlichen Form, der überwiegend technisch-konstruktive Erwägungen zugrunde lagen, stand das Gebäude außerhalb der Geschichte der Architektur und ihres ikonisch-symbolischen Bedeutungssystems. Ein Bauwerk von 300 Metern Höhe konnte in der damaligen Zeit nur so errichtet werden, wie es auch gerechnet werden konnte, mit relativ wenig gestalterischem Spielraum. Das Gebäude ist Resultat der konstruktiven Logik, in seiner Gestaltung zeigt sich

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sein Gemachtsein. Im Laufe der Zeit fand aber eine Verschiebung in der Wahrnehmung vom dominant indexikalischen zum dominant ikonisch-symbolischen Zeichenverständnis statt, was einer Verschiebung des Interesses vom Gemachtsein hin zur Form und der mit der Form konnotierten symbolischen Bedeutung entspricht. Wenn es bis dahin als außerhalb der Architektur stehend wahrgenommen wurde, fand das Gebäude so Aufnahme in den symbolischen Deutungsraum der Architektur, wo die Dinge nicht nur indexikalisch zu etwas, sondern ikonisch-symbolisch für etwas stehen. Etwas zugespitzt formuliert, wurde aus einem häßlichen oder zumindest als unästhetisch empfundenen, technischen Gebäude ein schönes, architektonisches Gebäude. Mit dem Übergang von einer dominant indexikalischen zu einer dominant ikonisch-symbolischen Zeichenbeziehung wie beim Eiffelturm und der Villa Savoye schloss die moderne Architektur nahtlos an die Tradition des Klassizismus an. Dieser zeichnet sich gerade dadurch aus, dass in ihm die Indexikalität des Gemachtseins der Architektur ins Ikonische und damit ins Bildhaft-Symbolische überführt wird. Das zeigt sich zum Beispiel in der formal-ästhetischen Überhöhung der Architektur in den klassischen Proportionsgesetzen. Mittels der Propor­ tionsgesetze wird das konstruktiv determinierte Verhältnis der einzelnen Bauteile zueinander in ein auf die Gesetze der Wahrnehmung abgestimmtes Verhältnis übertragen. Die indexikalische Zeichenbeziehung wird von einer ikonischen Zeichenbeziehung überlagert. So ist der Schaft einer Säule nicht nach den statischen Erfordernissen dimensioniert, sondern folgt mit dem Verhältnis von Umfang und Länge den Proportionsgesetzen und damit den Gesetzen der Wahrnehmung. Losgelöst von der strikten Bindung an die konstruktive Logik öffnet sich die Architektur damit der allgemeinen kulturellen Logik und ihrer symbolischen Codierung. Die Bedingungen des Gemachtseins werden ins Bildhaft-Ikonische übertragen, die abzuleitenden Kräfte werden zum Beispiel entweder in der Stauchung der Säule – ihrer Verdickung in der Mitte, was auch Entasis genannt

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wird – oder mit der konischen Vergrößerung des Säulenquerschnitts nach unten hin ins Bild übersetzt. So wird auch durch die Wülste der Säulenbasis das Gleichgewicht von Druck und Gegendruck bildhaft vermittelt, den Gesetzen der optischen Wahrnehmung und nicht mehr der konstruktiven Notwendigkeit entsprechend. Die Architektur vermittelt hier ein Bild ihrer konstruktiven Konzeption. Die Transformation von einem indexikalischen zu einem ikonischen und symbolischen Zeichenverständnis ist besonders charakteristisch für die Ornamente, gerade auch für die klassizistischen Ornamente. Wie in Ornament Today. Digital, Material, Structural6 dargestellt, haben auch die architektonischen Ornamente ihren Ausgangspunkt im Gemachtsein der Architektur. Sie sind genuin indexikalischer Art. Vitruv beschreibt in Bezug auf den Tempelbau, wie beim Übergang zur Konstruktion in Stein die Ornamente bildhaft die ehemalige oder die jetzt hinter der Steinfassade verborgene Holzkonstruktion zeigen. In dieser Hinsicht zeigt sich in den Ornamenten, was konstruktiv bedingt, aber nicht mehr sichtbar ist. So sind die klassischen Ornamente eines griechischen Tempels wie Metope, Triglyphe, Mutuli oder Zahnschnitt immer Verweise auf ehemalige oder dem Blick vorenthaltene Konstruktionsformen. Im alternierenden Rhythmus von Metope und Triglyphe zeigen sich indexikalisch die Sparren der Dachkonstruktion. Ebenso wie im Zahnschnitt sich die kleineren Profile der auf die Sparren aufgebrachten Lattung zeigen, weshalb der Zahnschnitt immer oberhalb des Metopen- und Triglyphenfrieses angebracht ist, nie unterhalb. Es würde dem im Ornament enthaltenen indexikalischen Bezug der Form auf die Konstruktion widersprechen. Der Metopen- und Triglyphenfries wird jedoch nicht nur an den Längsseiten des Tempels angebracht, an denen die Dachsparren enden und auf den Wänden aufliegen. Er wird als umlaufendes Band auch auf der Giebelseite des Tempels fortgeführt, wo sich die Dachkonstruktion, das heißt die Dachsparren, nur in der Dreiecksform des Giebels abzeichnet, aber nicht mit den Balkenköpfen. Hier zeigt sich, wie die Ornamente sich, von der

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konkreten indexikalischen Bindung an die Konstruktion befreit, der symbolischen Überhöhung ihrer Form öffnen. Mit der Führung des Metopen- und Triglyphenfrieses um den ganzen Tempel herum findet dann eine ästhetische Überhöhung der Ornamente statt. Es wird der indexikalische Zeichencharakter zugunsten des ikonischen Zeichencharakters zurückgedrängt. Es findet ein Prozess der Ästhetisierung und der Öffnung hin zur ikonisch-symbolischen Wirkungsweise statt. Die Zwischenräume, die Metopen, können jetzt mit symbolischen Darstellungen anderer Art besetzt werden, etwa mit Medaillons oder Szenen aus der Mythologie. Eine zweite Stufe der Ästhetisierung findet dann statt, wenn die Ornamente ganz aus ihrer latenten Indexikalität gelöst und nur noch als Bilder in freier Kombination appliziert werden. Die Ablehnung der klassischen Ornamente in der Moderne richtete sich gerade gegen diese Praxis. Die klassischen Ornamente hatten im Kontext des neuen Bauens mit neuen Materialien und neuen Konstruktionsverfahren ganz offensichtlich die letzten Reste ihrer genuinen Indexikalität verloren. Mit dem System maison dom-ino ist der indexikalische Bezug des Metopen- und Triglyphenfrieses aufgehoben. Abgelöst von den Aspekten des Gemachtseins wandeln sich die Ornamente zu dem, was in der Linguistik als frei flottierende Signifikanten oder free floating signifiers bezeichnet wird. Ohne indexikalischen Bezug wird das Ornament zur Floskel und zum Dekor. Die Architektursemiotik kann aber nicht bei der Analyse der Genese, der allgemeinen Verwendungs- und besonderen Wirkungsweise der Zeichen stehen bleiben. Über den doppelten Anzeigecharakter wird in der Architektursemiotik eine doppelte epistemologische Ebene sichtbar. Die Architektur ist immer sichtbares Resultat eines Wissens, einerseits eines Wissens des Gemachtseins und andererseits eines Wissens des Gebrauchtwerdens. Hier möchte der vorliegende Band ansetzen: an der Frage nach einer Epistemologie des Zeichens als Grundlage für eine Epistemologie oder Erkenntnistheorie der Architektur. Das spiegelt der Titel des Buches wider: Symptom Design. Vom

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Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge. Das Zeigen und Sich-Zeigen steht für die Wissenspraxis des Anzeichen-für-etwas-Seins und des Anzeichen-von-etwas-Seins. Es kann festgehalten werden, dass architektonische Zeichen ge­nuin indexikalische Zeichen sind, auch wenn dies aufgrund der vielfältigen Verschiebungen innerhalb der Hierarchie der ikonischen, indexikalischen und symbolischen Zeichen oft nur schwer sichtbar ist. Durch die Indexikalität wird die Architektur von einer Dimension der Zeitlichkeit berührt. Mit der genuinen Indexikalität des Gemachtseins und Gebrauchtwerdens ist der Architektur als der materiellsten und immobilsten aller Kulturtechniken ein eigener, doppelter Zeithorizont eingeschrieben. Ausgehend von der Präsenz des materiellen Objekts öffnet sich über das Sich-Zeigen des Gemachtseins ein Zeitvektor in die Vergangenheit, und es öffnet sich über das Anzeigen möglicher performativer Realisierung der Zeichenbedeutung ein Zeitvektor in die Zukunft. Es findet gleichsam ein Umschlag von der Theorie der Zeichen zur Philosophie der Zeichen statt. Durch die Indexikalität der architektonischen Zeichen hindurch tritt das große Thema der Architektur hervor: die Zeit. Berlin, im April 2014 Jörg H. Gleiter Anmerkungen 1

Günter Abel, Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 2004, S. 13.

2

Roland Posner, „Believing, Causing, Intending. The Basis for a Hier­ archy of Sign Concepts in the Reconstruction of Communication“, in: Signs, Search, and Communication. Semiotic Aspects of Artificial Intelligence, hrsg. v. René J. Jorna, Barend van Heusden und Roland Posner, Berlin u. New York 1993, S. 224 ff.

3

Günter Abel, Zeichen der Wirklichkeit (Anm. 1), S. 19.

4

Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur, Stutt­ gart 1978.

5

Oswald Mathias Ungers, Die Thematisierung der Architektur, Stutt­ gart 1983.

6

Jörg H. Gleiter (Hg.), Ornament Today. Digital, Material, Structural, Bozen 2012.

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Kurt W. Forster

Above the Trash. Momente eines objective turn in Architektur und Design Was macht einen Gegenstand zum Design-Objekt? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit er seinen Platz auf dem Feld des Designs und nicht nur in der Gegenstandswelt beanspruchen kann?1 Dabei interessieren mich die historischen, nicht nur die epistemologischen Voraussetzungen für das Entstehen solcher Objekte. Deshalb greife ich ein Paradebeispiel des 19. Jahrhunderts heraus, den Eiffelturm in Paris, der für die Weltausstellung von 1889 errichtet wurde. Man mag zwar seine Einordnung in die Kategorie des Designs zunächst bezweifeln, handelt es sich doch um das seinerzeit höchste Gebäude der Welt. Doch auch die Rubrik Gebäude, von Architektur gar nicht zu reden, erweist sich als ebenso fragwürdig. Obzwar als Ingenieurleistung unbestritten, hielt kaum jemand den Turm für ein Gebäude im herkömmlichen Sinne. Mit ähnlichen Vorbehalten wurde schon seinem spektakulärsten Vorgänger, dem Londoner Kristall-Palast von 1851, begegnet – Vorbehalten, die selbst seine Entwerfer, der Gartenarchitekt Joseph Paxton und dessen Berater Owen Jones, weitgehend geteilt hätten.2 Was aber den Eiffelturm von den meisten Ausstellungsbauten unterscheidet und seine spätere Umwertung bewirkte, geht auf seine Erhaltung bis auf den heutigen Tag zurück, wurden doch derlei überdimensionierte Sensationsbauten nach Schluss der Weltausstellungen stets entfernt und die Wellen des Protestes gegen ihre Errichtung wieder geglättet. Dank seines Überdauerns – das die polemische Verdammung,

Kurt W. Forster Above the Trash

die dem Turm vorausging, in den dauerhaften Nachruhm einer Ikone ummünzte – stieg der Eiffelturm aus den Niederungen technischer Sensationen in die Sphäre überragender Ingenieur­ leistungen auf. Nur so konnte eine ephemere Konstruktion zum nationalen Identitätsemblem, ja zum Kürzel einer ganzen Kultur aufrücken.3 Überall auf der Welt, auch wo man kein Wort französisch spricht, erkennt man im Profil des Eiffelturms das Französische tout court. Zum einen strapaziert der Turm den Maßstab des Objekts, zum anderen reduziert er es zum Zeichen, ohne jedoch die Verbindung zwischen Objekt und Zeichen zu lösen. Mit verhaltener Übertreibung kann man den Eiffelturm als gigantisches Design-Objekt klassifizieren, als Artefakt, das natürliche geophysische Bedingungen (Höhe und durch sie bedingte Wetterlage, Windstärke und Rundsicht etc.) technisch nachbildet, auch wenn solche in der umliegenden Natur weit und breit fehlen.4 Die Gestalt schließlich, die von Anfang an kontrovers aufgefasst und von Gustave Eiffel als Antwort auf die statischen Bedingungen unter dem Druck der Winde und aufgrund der Bodenbeschaffenheit gerechtfertigt wurde, diese singuläre Gestalt erforderte neue konstruktive Konzepte. Obwohl Eiffel sie an die letzte Stelle der Kriterien setzte, für die er Respekt einforderte, war sie dennoch eine besondere, ja einmalige Qualität seines Werks, auf der er beharrte, nämlich seine „Eleganz“.5 Nachdem er selbstverständlich den beiden elementaren Qualitäten von Bauwerken, der statischen Integrität und der Nützlichkeit seine Reverenz erwiesen hatte, wollte er auch noch der dritten vitruvianischen Anforderung, der Schönheit, genügen. Er fasste sie jedoch als eine besondere Art von Schönheit auf, eben als Eleganz. Gibt es etwas anderes, das die französische Kultur umfassender auszeichnet als sie? Vom Alltag bis zu den anspruchsvollsten Ausprägungen des gesellschaftlichen und intellektuellen Lebens versteht sich die französische Kultur als eine elegante, die ihre eigenen Voraussetzungen gleichsam spielend erfüllt und ihren Leistungen damit Bravour und Glanz verleiht. Der Turm, dem Eiffel den Namen des Dreihunderters

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(La tour de 300 mètres) gab – für eine Nation, die zum ersten Mal kraft des Gesetzes ein universelles Maßsystem in die Welt gesetzt hatte – und ihn damit als Rekordleistung anpries, erfüllt alle Voraussetzungen eines Design-Objekts, weil er präzise mimetische Qualitäten besitzt, die jedoch nicht den traditionellen Kunstkriterien entsprechen.6 Dem höchsten ästhetischen Anspruch der Schönheit entzieht sich der Turm durch Eleganz, das heisst als ingeniöse Lösung eines technischen Problems. Derart ‚verkürzte‘ Qualität lässt sich denn auch zeichenhaft vereinfachen und auf das Profil des Turmes reduzieren, um sie auf die sprichwörtlich einfachste Formel zu bringen: Gleichsam als Kürzel kommt dem Eiffelturm ein Nachleben wie keinem anderen Bauwerk zu, wenn auch der Anspruch auf ein ‚physiognomisches Profil‘ eher banal oder lächerlich wirken mag. Es feiert aber immer wieder Urstände im Tourismus und in den Pressefotos politischer Ereignisse. Es liegt also nahe, den Eiffelturm primär als Design-Objekt aufzufassen, steht er doch in jeder objektiven Hinsicht – in seinem Maßstab, als weitgehend zweckfreie Konstruktion, als Produkt von Fantasie und Kalkül – außerhalb der Konventio­nen, die bei der Einschätzung von Architektur den Ausschlag geben.7 Kaum eine namhafte Figur des kulturellen Lebens verpasste die Gelegenheit, Protest gegen den Turm einzulegen – selten formierte sich die ‚crème de la crème‘ Frankreichs in solcher Geschlossenheit – und ihn als Monstrosität zu brandmarken. Worin bestand das Monströse und was offenbart die Polemik darüber? Man kann nicht von der Hand weisen, dass der Eiffelturm in keine Kategorie passen wollte, dass seine Monstrosität in seiner Natur als Objekt gründete, mit dem widersprüchlichen Resultat, dass er im Laufe der Zeit vom Gegenstand der Kritik zum singulären Signet französischer Kultur mutierte. Weil er weder ein Bauwerk noch eine Maschine, technologisch aber beiden unter Missachtung ihrer jeweiligen Begriffskategorien verpflichtet ist, konnte er nur eines sein: ein Gegenstand jenseits aller Gegenstandsgrenzen. Hätte er sich aufs übliche Maß beschränkt, so wiegte man sich in der Illusion, man

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beherrsche ihn und könne über ihn verfügen. Es handelt sich aber um ein Objekt, das in seiner ungewöhnlichen Höhe einem Berg entspricht, dessen Gipfel man auf einer Kletterpartie oder einer sensationellen Aufzugsfahrt erreicht, während sich seine Struktur in Filigran auflöst, scheinbar um das private Laboratorium seines Designers in die Winde zu hieven, denen dieser seine späten Jahre widmete. Vom Ideal eines Bauwerks setzt sich der Turm durch seine mechanische Konstruktion ab, dem Schönheitsbegriff entwindet er sich durch die Eleganz seiner technischen Lösung. Mit einem Wort, alles an diesem Unding ist Design, das über uns bestimmt. Die Rückkehr der Dinge Heute sind wir überall von Design umgeben. Seine Allgegenwart droht noch den letzten Unterschied zwischen Design-Objekten und anderen x-beliebigen Produkten auszulöschen. Man hegt den Verdacht, das meiste sei seiner Natur gemäß aus Design hervorgegangen. Dinge ohne Design sind entweder Überbleibsel einer anonymen Fertigungspraxis oder verkapptes Design, das sich in der Kluft von provenzalischen Küchenschränken, indischen Baumwollhemden oder Schweizer Spanschachteln versteckt. Statt dieses Verschwimmen der Kategorien als Ausnahme oder Ausflucht einzuschätzen, werden wir es als kennzeichnendes Phänomen in unsere Betrachtung einbeziehen müssen. Schon seit geraumer Zeit sind alltägliche Gebrauchsgegenstände auf dem Wege des kulturellen Verschwindens, es sei denn, sie wandeln sich zu Design-Objekten. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts stand ihnen noch eine Gnadenfrist bevor, insofern sie als Träger von Zeichen und erst in zweiter Hinsicht als Objekte in Erscheinung traten. Unzweifelhaft hatte die Semiologie hier einen durchschlagenden Erfolg erzielt, indem sie alles und jedes in die Zwangsjacke einer Zeichenfunktion steckte.8 Ein Totalverlust der Objekte als Objekte und ein Erblinden ihrer Spiegelung in Körper und Gefühl waren die unausweichliche Folge dieses linguistic turn. Die gegenwärtigen Veränderungen, die wir den Objekten gegen-

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über beobachten – nämlich ein Abwenden von zwanghaften Verweisen – können dagegen als objective turn verstanden werden. Einerseits kehren mit ihm primitive, gestische Bedeutungen wieder in den Verkehr zurück – geht doch das Zeigen der Fähigkeit zu nennen voraus –, und andererseits finden sich Objekte insgesamt als solche aufgewertet. Diese Aufwertung zeichnet sie jedoch weniger als Tauschobjekte oder Zeichen aus denn als Dinge, die zuhanden sind und in vielfältiger Weise mit dem Befinden und Verlangen Einzelner ebenso kommunizieren, wie sie ihren Erwartungen entsprechen. Allmählich wird man es leid, immer nur die alte Leier über den Fetischcharakter der Design-Objekte zu hören, als wäre ihre einzige Funktion diejenige eines Slogans – eines Schlagworts – oder eines Unterpfands ökonomischer Relationen. Sofern ein Objekt lediglich diesen Tauschwert besitzt und dessen gesellschaftliche Darbietung ermöglicht, fällt der Wert des Objekts selbst zwischen Stuhl und Bank. Nichts ist aufschlussreicher als der Verkauf nachgeahmter Handtaschen vor den offiziellen Ladengeschäften mit den echten Stücken: die fliegenden Händler in Venedig und Mailand bringen ihre Nachahmungen im Dunstkreis der Echtheit unter die Leute, als handelte es sich lediglich um Fehlexemplare, ja, die Marken selber unterhalten Outlets, welche die begehrten Stücke zu stark herabgesetzten Preisen unter die Leute bringen. Der Verlust ist dabei nur einer des Tausches, nicht des Status und seiner symbolischen Bedeutung. Deshalb ist die Kampagne der Konfiskation von Nachahmungen bloße Augenwischerei, denn sie lässt die Markennamen nicht weniger auflodern als die teuerste Reklame. Eine ähnliche Wandlung in der Welt der Gegenstände beschäftigte bereits den Schriftsteller und Kritiker Massimo Bontempelli, als er 1926 in seiner Zeitschrift 900 das Konzept des realismo magico erläuterte.9 Unter dem Eindruck des Surrealismus versuchte er in seinen Erzählungen – zum Beispiel Das Schachbrett vor dem Spiegel (La scacchiera davanti allo specchio) – Gegenstände in ihrer Undurchdringlichkeit darzustellen, als wären sie behext von ihrer Aura. Die Malerei Giorgio

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de Chiricos hatte ihn tief beeindruckt, nicht zuletzt durch die banale Gegenständlichkeit von Dingen – Keksen, Puppen, Vorhängen, Gummihandschuhen –, die der anonymen Alltäglichkeit entstammen: „In ihrem präzisen Realismus, eingehüllt in eine Atmosphäre blanken Erstaunens, sind sie uns befremdlich nahe.“10 Als namenlose Dinge fordern sie eine Aufmerksamkeit ein, die ihnen üblicherweise versagt bleibt, denn ihr Sinn schien sich in ihrem Gebrauch zu erschöpfen. In den Bildern de Chiricos, den Theaterstücken Luigi Pirandellos und den Erzählungen Bontempellis wurden sie lebendig und ‚geisterten‘ fortan durch die vertraute Welt, als wären sie stumme Revenants der Gegenstände. Heute ‚wandern‘ Handtaschen der Marke Louis Vuitton aus den echten Ladengeschäften auf die Straße und mischen sich unter ihre Nachahmungen, so wie ein Keks in einem Bild de Chiricos eben ein bekanntes Backprodukt ist, das jeder auf Anhieb erkennt. Als namenloses Ding erschließt sich sein Sinn nicht durch Benennung, sondern nur durch sein gleichzeitiges Auftauchen in Bild und Wirklichkeit. De Chiricos Kekse stellen nicht ihr Design zur Schau, sondern werden erst durch die Malerei wieder zu rätselhaften Gegenständen. Ein Beispiel aus eben dieser Alltagswelt zeigt, dass sich heute ein anderes Verhältnis zwischen Gegenstand und Wort eingestellt hat als es, scheinbar uneingeschränkt, zu Zeiten der Semiotik herrschte. Der englische Radio- und Fernsehsender BBC weihte 2012 einen Fernsehkanal in den Vereinigten Staaten ein und machte zunächst entlang dem neuenglischen Eisenbahnkorridor zwischen Boston und Washington für seine Programme Reklame. Seit einigen Jahren stehen auf allen Bahnsteigen Abfallkästen zum Recycling. Diese bestehende Infrastruktur machte sich die Reklameagentur zunutze, indem sie die Ankündigung des neuen Fernsehkanals auf den Müllkästen anbringen ließ, die sich beim Publikum mit ihrer hausähnlichen Form und blauen Farbe eingeprägt hatten. Verbanden sich schon die Müllkästen mit der Vorstellung einer höheren Lebensqualität und Reinlichkeit, indem sie zur differenzierten Sammlung

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(Plastik, Papier, Kehricht) auffordern und damit der Verschleißund Wegwerfpraxis einen Riegel vorschieben, so war es ein leichtes, dem Slogan der BBC nun den beherrschenden Platz zu sichern. Überall wurden Tafeln auf den Müllkästen angebracht, die von oben herab erklärten, die BBC sei über allen Müll erhaben: „BBC America. We’re above the trash.“ Klingt der Anspruch als solcher hohl, so nimmt er, auf einer Tafel, die tatsächlich auf einem Müllkasten steht, eine Unmittelbarkeit an, die sich einzig dieser Anbringung verdankt. Die Schlagkraft der Mitteilung geht aus dem Umstand hervor, dass sie von einem Müllkasten herab behauptet, über allen Mist erhaben zu sein. Einmal mehr gewinnt das Wort seine Bedeutung durch seine Verbindung mit einem Ding. Man kann geradezu behaupten, dass der Gegenstand die Aussage stützt, nicht umgekehrt. Durch diese Umkehrung wertet sich der Gegenstandskontext nicht nur auf, er macht die Aussage erst handgreiflich, denn irgendwo auf einer beliebigen Plakatwand hätte der gleiche Satz weder den Zusammenhang, noch jenen leicht ironischen Anflug, der ihn nach angelsächsischer Gepflogenheit relativiert und für ein schlaues Publikum schmackhaft macht. All das fiele ohne die Anwesenheit der Müllkästen, die ihrerseits ein Design-Produkt sind, aus. Das Rätsel der Gegenstände Wenn das Beispiel der Reklame

von BBC an den ‚Wackelkontakt‘ zwischen Wort und Objekt rührt, so unterbricht das folgende ihre Verbindung gänzlich. Ich habe ein Instrument im Auge, das in rasender Schnelle als Design-Objekt weltweite Verbreitung gefunden hat und unser Verhalten zutiefst umformt, und zwar unser Verhalten gegenüber Gegenständen und Worten, in unserer Stummheit wie in unserer Beredtheit: Es ist von iPhones, iPads und Tablets die Rede (Abb.  2). Als Instrumente, die eine schier ununterbrochene, alle Zeit- und Raumzonen übergreifende Kommunikation ermöglichen, ja erzwingen, setzen die handlichen Mobiltelefone, Tablets und Pads den technischen Standard und fordern ein neues operatives Verhalten von ihren Nutzern. Was einst

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Richard Sapper u. Marco Zanuso, Fernseher für Brionvega, 1964

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Tabletcomputer der Firma Apple (iPad)

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Michelangelo Caravaggio, Narziss, 1594–96

das Wenden der Buchseiten, das Einfalten einer Ecke, das Zurückblättern war, wird jetzt mit einer pinselähnlichen Bewegung, mit Antippen und Wegwischen erledigt. Doch beginnen wir mit einer Einschätzung der Objektqualitäten, bevor wir uns den geheimnisvolleren Aspekten dieser neuen Instrumente zuwenden. Die Rechen- und Schreibmaschinen von einst sprachen auf direktes Agieren an: Man drückte auf eine Taste, schob eine Walze, zog einen Hebel und fühlte und hörte, ob das Kommando umgesetzt wurde. Die rotierende Scheibe und das Klingeln des Telefons hinterließen noch einen Rest mechanischer Operationen selbst bei elektrischer Stimmübertragung –

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heute antworten nur noch britische Apparate mit einem nostal­ gisch anmutenden, wenn auch simulierten ‚ring tone‘. Jeder kann sich heute irgendein Geräusch als Anruf- oder Ankündigungssignal einfallen lassen, von Charles Gounods Ave Maria bis zum Kläffen des eigenen Vierbeiners. Die altväterlichen Apparate machten den Eindruck mechanisch solider, oft etwas überdimensionierter Objekte, klangen, vibrierten oder schepperten entsprechend und waren mit harten, zum Teil neuartigen Materialien wie Bakelit verkleidet.11 Im Vergleich mit den für das 20. Jahrhundert typischen Apparaten fallen die neuen Tablets und Mobiltelefone durch ihre beinahe fugenlose Oberfläche, geschliffene Form und ihre optischen Eigenschaften

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auf. Nicht nur sind diese Instrumente von griffigem Format, ununterbrochen funktionstüchtig und in beliebiger Stellung benutzbar, sie vermitteln auch die Illusion müheloser Zugänglichkeit zu den Netzwerken der Kommunikation mit all ihren sich unendlich verzweigenden Subsystemen. Zudem dienen sie durch unzählige ‚Apps‘ als Uhr, Kompass, Stadtplan, Spielbrett, Archiv, Fotoapparat oder Notizheft. Ein leichtes Antippen oder Streifen genügt, um Bildstrecken, Listen und unzählige Portale zu öffnen. Mit einer Bewegung aus dem Handgelenk kürzt der gewiefte Benutzer die einst langen Wege und Umwege ab, gibt wie ein Dirigent einen Einsatz, blättert zurück oder überfliegt im Vorgriff das Kommende und betastet in jedem Augenblick nur eine scheinbar stets empfängliche und dennoch immune Oberfläche. Die Wirkung dieser Bewegungen, die große Ähnlichkeit mit archaischen Gesten des Hindeutens, Bestätigens, Wischens oder Wegwerfens verraten, liegt unter einer spiegelnden Oberfläche und vollzieht sich auf unsichtbare Weise.12 Diente der ausgestreckte Zeigefinger in mittelalterlichen Büchern als Hinweis auf eine Textstelle und in der Reklame jüngerer Zeit als Anzeige, so gerieren sich heute die Agenten digitaler Unternehmen als ‚Darsteller‘ ihrer Produkte, indem sie demonstrativ die Zeichensprache ihrer Handhabung praktizieren. Der Finger agiert in jedem Fall als höchste Instanz, während das heischende Wort und die physiognomische Steigerung des Ausdrucks vor der Glasoberfläche ergebnislos verhallen. Fingerabdrücke und Handbewegungen hinterlassen keine Spuren auf einer Oberfläche, die, je besser man mit ihr vertraut ist, desto weniger verrät, sondern sich als transparente Haut der Berührung darbietet, ohne sich je zu verändern. Sind die Geräte eingeschaltet, so ähnelt ihre Oberfläche dem Wasser. Was flüstert uns diese scheinbar widersprüchliche Fläche zu, die auf die geringste Berührung anspricht und doch stets ihre Unberührbarkeit bewahrt, sich nie verändert, sondern von allem, was auf ihr erscheint, unberührt bleibt? Seit Jahrhunderten hatte die westliche Kultur das Fenster als Rahmen inthronisiert, als Portal zur Wirklichkeit ebenso wie zum Bereich des Imaginären.13 Leon

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Battista Alberti machte das Fenster zur Voraussetzung für jene imaginäre Tiefe, die das Bild uns eröffnet, und Albrecht Dürer erklärte ihr Prinzip in seiner Unterweisung. Bis zu den jüngsten Versuchen, diese Tiefe ins Bild und in den Raum der Betrachter zu erweitern, nämlich durch 3D-Simulation, nimmt das Bild eine Fläche ein, die als Projektionsebene zwischen Auge und Gegenstand eine virtuelle Oberfläche bildet. Heute allerdings nicht mehr, denn die Oberfläche der Pads und Tablets spiegelt ihre Umgebung unfreiwillig wider und verrät nichts über allfällige Tiefen. Deshalb suggeriert sie eine Form der Magie, nicht im Sinne einer Täuschung, sondern als Bekräftigung einer Wirkung, die scheinbar weder Grenzen noch Distanzen kennt und keiner menschlichen Anstrengung bedarf. Auf der unbestimmbaren Oberfläche, die dazu einlädt, horizontal gehalten zu werden wie ein Teller, taucht der Augenschmaus eines Tischleindeckdich auf. Es sind optische Interferenzen und das unvermittelte Auf- und Untertauchen der Zeichen, Ikonen, Bilder und Videos, die den Eindruck entstehen lassen, die Oberfläche sei selber nur ein hauchdünner, flüssiger Film. Dieser Film hat keinerlei Tiefe, sondern nur Ferne, denn alles, was auf ihm erscheint, taucht von woanders her auf. Weil die Pads und Tablets auf das Schwanken der Horizontalen reagieren, verstärken sie den Eindruck, sie seien mit einer geheimnisvollen Flüssigkeit angefüllt, aus der die Inhalte auftauchen, sich mit gewissen Spiegelungen der Umgebung durchdringen, um dann ebenso magisch durch eine Handbewegung wieder zu verschwinden. Gesang der Sirenen Der dunkle Grund der Pads hat einiges

gemein mit undurchdringlichen Objekten, die in den späten 1960er Jahren auftauchten, etwa einem von Marco Zanuso und Richard Sapper für Brionvega gestalteten Fernseher, der sich den Anschein einer minimalistischen Skulptur gab (Abb.  1). Hier trat wohl zum ersten Mal der für die Gegenwart kennzeichnende Widerspruch zwischen Bildtiefe und opaker Oberfläche hervor. Auch der Maler Gerhard Richter experimentierte

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mit grauen Glasflächen, die je nach Aufstellung und Winkel das Licht ihrer Umgebung zugleich aufnehmen und zerstreuen, bis er im Jahre 2003 mit einer Installation in der Dia Foundation die Vorstufen und neuen Möglichkeiten der optischen Durchdringung, Mischung und Löschung des Lichts in einem hellen Raum mit dunklen Glasscheiben auslotete. In einem Interview drückte der Maler den Wunsch aus, „dass Bilder [sich] in ein Environment erstrecken oder sogar Architektur werden könnten“.14 Das könnten sie allerdings nur, wenn Architektur ihrerseits sich in Spiegelungen und Oberflächen einfangen ließe. Es lohnt sich, der Wunschvorstellung zu folgen und Eingang in die ‚unzugänglichen‘ Bilder zu suchen. Mir scheint, dass etwas sehr Eigentümliches die Ästhetik der Pads und Tablets auszeichnet, denn sie teilt ähnliche Vorbehalte gegenüber der Selbstgenügsamkeit von Bildern, wie Richter sie anmeldete. Beide teilen eine Unverbindlichkeit der Bildfläche gegenüber ihrer Bildwirkung. Was magisch auftaucht, verschwindet auch wieder auf gleiche Weise. Die Fläche verhält sich wie ein Netz, in welchem für einen Augenblick hängen bleibt, was heraufbeschworen wurde. Kein Zufall, dass die Designer des iPads als image of default eine Wasserfläche aufgezogen haben, inklusive Tröpfchen am Rande. Der Benutzer taucht in eine unbestimmbare Tiefe ein, aus der Fangund Strandgut jeder Art emporspült. Selbst ein Hersteller von Schwimmbecken hat sich die Vorstellung zu eigen gemacht und preist sie mit der Einfassung eines iPads an. Zweifellos liegt das Geheimnis der iPads in ihrer Oberfläche. Randlos gefasst, dunkel und unergründlich scheint ihre Oberfläche nur auf den Blick eines Narziss zu warten, der erst von sich weiß, indem er sich im Wasser spiegelt (Abb. 3). Er sucht sich in seinem eigenen Bild zu erkennen und kommt damit doch nie über sich selber hinaus. Seine Identität ist ihm ebenso verschlossen wie die Tiefe des Teiches, und doch haftet er an ihr, wenn man den klassischen Fassungen des Mythos Glauben schenkt, bis an seinen Tod. Der Spiegel trägt stets diesen Widerspruch in sich, dass er dem Betrachter mit seinem

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eigenen Bild begegnet, aber den Zugang verweigert, weil hinter ihm eine andere, eine virtuelle (parallele, fantastische) Welt liegt, die nur aus (Vor-)Spiegelungen besteht. Die kühn entwaffnende Alice aus Alice in Wonderland drang durch den Spiegel in eine verkehrte Welt wie der Tod in Jean Cocteaus Film Orphée. Von ihrem eigenen Wunsch überwältigt, kann allein die Figur des Todes, auch sie eine weibliche Gestalt, durch flüssige Spiegelflächen spurlos aus einer Welt in die andere wechseln. Die höchst beliebten Spiegelkabinette des 17. und 18. Jahrhunderts waren Orte von Vexierspielen, in denen die Anwesenden in sukzessiven Verschachtelungen und Überblendungen ihre eigene Identität als endlose Fragmentierung an einem Ort erleben konnten, der Innen- und Außenwelt optisch miteinander verschränkt.15 Im Gegensatz zum harten Glas der Spiegel und ihren optischen Splitterungen suggeriert das iPad einen flüssigen Zustand. Bei Cocteau war das Totenreich noch verschlossen wie von alters her, doch für uns hat die Membran zwischen Diesseits und Jenseits etwas Unstetes, ja, Unbestimmbares angenommen. Vielleicht trägt es mit zur narzisstischen Beschäftigung mit unseren Instrumenten bei, dass sie fließend und uferloser zu sein scheinen, dass sie uns mit ihrem Sirenengesang einlullen und uns umso härter an ihre Ketten legen. Als Sklaven der Kommunikation steuern wir über endlose Meere und durch Meinungsstürme in einem Gewitter von Spiegelungen, Phantomen und Echos. Die Magie der iPads gehört ihnen nicht allein, sie reflektiert vielmehr eine Welle von Verwandlungen, die sich bis in die Architektur hinein abzeichnen. In wachsendem Maße nehmen auch Fassaden Eigenschaften an, die sie zu neuartigen Oberflächen umdeuten.16 Sie ähneln Membranen und funktionieren zunehmend als solche. Gemäß ihrem Membrancharakter unterhalten sie den Austausch zwischen Innen und Außen, statt beide gegeneinander abzuschotten. Wenn auch Absicht und Metapher den physischen Gegebenheiten vorauseilen mögen, ist doch nicht an ihnen zu zweifeln. Der Wunsch nach einem Gebäude, das seine Umgebung widerspiegeln oder

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zumindest in einen optischen Dialog mit ihr treten möge, lag dem Projekt für das De Young Memorial Museum in San Francisco zugrunde. Die Architekten Herzog & de Meuron übertrugen das Muster hoher Bäume, die zu den Hauptattraktionen im Arboretum des Sunset Parks zählen, auf perforierte Kupferplatten.17 Das ganze Gebäude ist mit diesen Platten ummantelt, deren perforierte Oberfläche das Flattern und Fächeln der Blätter nachbildet (Abb. 4). Diese Simulation eines natürlichen Phänomens, zudem in einem Blech, das sich auch in Zukunft durch Oxydation weiter verändern wird, rückt das Gebäude in einen verwandtschaftlichen Zusammenhang zu seiner Umgebung, in der es seinen Platz durch Camouflage statt durch herrisches Hervortreten findet. Die Zahl der Bauwerke, die in ähnli-

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5 4

Herzog & de Meuron, M. H. de Young Memorial Museum, 1999–2005

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Sauerbruch Hutton, Museum Brandhorst, 2002– 08

cher Weise als Filter in ihrer Umgebung wirken, wächst überall, und das bedeutet auch, dass die Bauhülle sich von ihrer Rolle als Mantel oder Kruste entfernt und sich zu einer empfindlichen Membran wandelt. Bei einer Membran sind kennzeichnenderweise Spiegelungen und Durchsicht eine Sache optischer Verschränkungen und Brechungen, die einzig in den Eigenschaften der Membran selbst und nicht dies- oder jenseits von ihr liegen. Die Oberfläche bleibt ihnen gegenüber zugleich empfindlich und immun. Wir sind weder drinnen, noch draußen, sondern nur noch ‚drauf‘. Bunte Keramikstäbe sind auf den Fassaden montiert, mit denen die Berliner Architekten Sauerbruch Hutton das Brandhorst Museum in München verkleidet und in ein vibrierendes Objekt verwandelt haben18 (Abb. 5). Weder sein Volumen, noch

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seine Farbigkeit lassen sich eindeutig festlegen. Die unsteten Eigenschaften der Fassade dringen knisternd in unser optischhaptisches Sensorium ein. Weil sie sich aus lauter momentanen Eindrücken summiert, verweigert sich die Fassade allen festen Kategorien. Dennoch gelingt es diesem Gebäude, ein Ritual des Zugangs, ja der Einweihung auszulegen, indem es ein phantasmagorisches Element ins Spiel bringt, wie es die jüngste Generation im Umgang mit ihren iPhones, iPads und Spielkonsolen erlernt hat.

Anmerkungen 1

Die Frage kann auch umgekehrt gestellt werden und dennoch das gleiche Phänomen im Auge behalten, etwa wenn Philip Urspung die jüngsten Veränderungen im Verhältnis der Künste zueinander folgendermaßen einschätzt: „Das, was zwischen den Gattungen liegt, ist nun nicht mehr das Volatile, sondern […] das Kristalline, also nicht mehr der Prozess, sondern die gebremste, gestauchte Zeit, die ewige Gegenwart im Sinne von Hardt und Negri. So gesehen lautet die Frage also nicht, ob Kunst, Architektur und Design miteinander verschmelzen, sondern ob der Trend dahin geht, dass Kunst und Architektur gleichsam im Design aufgehen.” (Philip Ursprung, Die Kunst der Gegenwart. 1960 bis heute, München 2012, S. 119).

2

Vgl. Kurt W. Forster, „‚L’abri du pauvre‘ im Kristallpalast“, in: Peter Schneemann u. Hubert Locher (Hg.), Grammatik der Kunstgeschichte. Oskar Baetschmann zum 65. Geburtstag, Zurich 2008, S. 178–194.

3

„Der Eiffelturm [ist] auf der ganzen Welt gegenwärtig, […] seine einfache […] Form verleiht ihm die Fähigkeit zur unendlichen Chiffre.” (Roland Barthes u. André Martin, Der Eiffelturm, München 1970, S. 27). Barthes hatte bereits zuvor in seiner Apologie des Automodells Citroën DS die kulturelle Vieldeutigkeit, aber auch Unentbehrlichkeit von Design für die moderne Welt erkannt.

4

Eiffel publizierte zur Jahrhundertwende auf eigene Kosten einen Folioband, der schon im Titel auf die quantitative ­Höchstleistung anspielt und nach einer knappen Übersicht über die bislang höchsten Bauten der Welt sein eigenes Werk in seinen techni­ schen Aspekten großformatig zur Darstellung bringt. Offensichtlich scheute Eiffel weder Kosten noch drucktechnischen Aufwand bei der Gestaltung dieses Privatdrucks: Gustave Eiffel, La Tour de 300 mètres [1900], Köln 2006.

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In der Pariser Tageszeitung Le Temps antwortete Eiffel persön­ lich auf die massiven Angriffe, die ihn der Verunstaltung der Stadt und der Geschmacklosigkeit anklagten. Der Kernsatz seiner Replik lautet: „[…] croit-on donc que la beauté ne nous préocupe pas dans nos constructions et qu’en meme temps que nous faisons solide et durable nous ne nous efforçons pas de faire élégant?“ (Le Temps, 14. Februar 1887, S. 2, unter: gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k231310n [22. Dezember 2013]).

6

Die Tatsache, dass Eiffel den Entwurf des Turmes patentieren konnte (Institut national de la propriété industrielle, Patent Nr. 164364, 18. September 1884), gibt einen weiteren Fingerzeig darauf, dass es sich im Grunde nicht um ein Werk der Architektur, sondern um ein Design-Produkt handelt.

7

Vgl. Ursula Muscheler, Die Nutzlosigkeit des Eiffelturms. Eine etwas andere Architekturgeschichte, München 2008.

8

Schlüsseltexte sind: Roland Barthes, L’Empire des signes, Paris 1970; Umberto Eco, La struttura assente, Milano 1968; Umberto Eco, Trattato di semiotica generale, Milano 1975.

9

Vgl. Massimo Bontempelli, Realismo magico e altri scritti sull’arte, Milano 2006.

10 Eine Textstelle Massimo Bontempellis von 1927: „[Die Maler des Quattrocento, die uns heute am meisten anziehen] per quel loro realismo preciso, avvolto in una atmosfera di stupore lucido, essi ci sono stranamente vicini.“ (wiederabgedruckt in: Massimo Bontem­ pelli, L’avventura novecentista [1938], Florenz 1974, S. 21). Ich habe hier stillschweigend die von Bontempelli mit der Malerei de Chiricos und anderer in Verbindung gebrachten Maler des Quattrocento durch ihre magische Gegenständlichkeit ersetzt, wie das Bontem­ pelli in den verschiedenen Fassungen dieses Textes und in seinen Kommentaren selbst getan hat. 11 Bakelit, 1909 in New York patentiert, gehört zu den ersten Poly­ meren, die industriell hergestellt und bald weltweit vermarktet wurden. Als äußerst dauerhaftes, völlig opakes Material eignet sich Bakelit hervorragend zur Verschalung. Nicht leitend und weit­ gehend bruchfest kapselt Bakelit das Innere eines Apparates von seiner äußeren Erscheinung ab und entspricht perfekt den Erfor­ dernissen des frühen 20. Jahrhunderts, als das technische Funktio­ nieren von Apparaten grundsätzlich uneinsichtig wurde. Je ‚unver­ ständlicher‘ ihr Funktionieren, desto stärker der Wunsch, sie völlig einzukapseln, wie das etwa bei Telefon- und Radioapparaten der Fall war.

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12 Das völlig geräuschlose Funktionieren digitaler Geräte wird gelegentlich von Klick- und Zischtönen begleitet, etwa um ein Ausbleiben der gewünschten Operation anzuzeigen oder das erfolgreiche Absenden einer Textmitteilung zu bestätigen. Noch sind wir als Kinder des Maschinenzeitalters so auf Signalgeräusche geeicht, dass ihr Ausbleiben uns zweifeln lässt, ob eine bestimmte Funktion auch ohne akustische Anzeige tatsächlich erfolgt sei. Bei elektrischen (und daher beinahe geräuschlosen) Automobilen muss die Gefahr der Nichtbeachtung durch den Einbau konventioneller Geräusche gebannt werden. 13 Vgl. Gerd Blum, „Fenestra Prospectiva. Das Fenster als symbolische Form bei Leon Battista Alberti und im Herzogspalast von Urbino”, in: Joachim Poeschke u. Candida Syndikus (Hg.), Leon Battista Alberti, Humanist – Architekt – Kunsttheoretiker, Münster 2008. 14 Hans-Ulrich Obrist (Hg.), Gerhard Richter: The Daily Practice of Painting. Writings and Interviews 1962–1993, Cambridge, Mass./London 1995; Benjamin H. D. Buchloh, „Gerhard Richter’s Eight Gray. Between Vorschein and Glanz“, in: Benjamin H. D. Buchloh (Hg.), Gerhard Richter: Eight Gray, Ausstellungskatalog Deutsche Guggen­ heim Berlin 2002, Berlin 2002, S. 13–28. 15 Vgl. Marie Theres Stauffer, „Reflektierende Oberflächen. Zum verspiegelten Saal der Amalienburg“, in: Hans-Georg von Arburg, Philipp Brunner et al. (Hg.), Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Literatur und Theater, Zürich/Berlin 2008, S. 169–186. 16 Vgl. Kurt W. Forster, „Oberflächenspannung in der Architektur“, in: von Arburg, Brunner et al., Mehr als Schein (Anm. 15), S. 131–150. 17 Vgl. Philip Ursprung (Hg.), Herzog & de Meuron. Natural History, Montreal/Baden 2002, S. 101. 18 „Die Außenhaut des Gebäudes besteht aus vertikal angeordneten Keramikstäben, die in jeweils sechs Farbtönen glasiert sind, sowie einer dahinter gelegenen, horizontal gefalteten zweifarbigen Blechfassade.“ (Matthias Sauerbruch u. Louisa Hutton, Sauerbruch Hutton Archive, Baden 2006, S. 306).

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Gert Selle

Ding, Halb-Ding, Nicht-Ding, In-Ding, Über-Ding. Über sichtbares und unsichtbares Design Die kulturelle Situierung Design ist schon da, ehe etwas Sicht-

bares entworfen wird. Es gibt ein Design des Designs hinter allen Produkt-Fassaden. Ein unsichtbares Primär-Design der Technologien, Zwecke und Gewohnheiten bestimmt unseren kulturellen Standort in der Produkt-Umwelt und den Hintergrund des Handelns professioneller Entwerfer. Das Design, das wir sehen, ist ein Sekundär-Design, eine Gesamt-Benutzeroberfläche, auf der wir uns als Gebraucher bewegen. Unsere kulturelle Situierung erleben wir aber durch das Sichtbare und das Unsichtbare. Die Techno-Kultur situiert uns in der Gegenwart des Heute, sobald wir zum Handy greifen. Hammer oder Schaufel sind Situierungswerkzeuge einer vergangenen Epoche. Wir benutzen sie zwar noch, erleben aber gerade, wie sich unsere Alltagserfahrung von der Handhabung greifbarer Werkzeuge zu einer nicht-gegenständlichen Kultur digitaler Kontakträume verschiebt. Wir sehen uns in einem Dazwischen situiert, mit einem Bein in der mechanischen, mit dem anderen in der digitalen Kultur Halt suchend. Das Design neuer Technologien greift massiv in unser Leben ein. Wie tief, wird kaum bewusst. So steckt digitale Medizin-Technologie unsichtbar einverleibt manchmal schon im Gehirn. Bei Neuro-Implantaten ist das Zusammenwachsen von Mensch und Apparat keine Utopie: „Mit ihnen dringt die Maschine in den Menschen ein […] und werden Hirnschrittma-

Gert Selle Ding, Halb-Ding, Nicht-Ding, In-Ding, Über-Ding

cher bereits bei Depressionen und Zwangsneurosen eingesetzt, sie greifen nicht mehr nur in die Mechanik des Körpers ein [siehe Herzschrittmacher, Anm. G. S.], sondern in das Seelenleben.“1 Erstaunlich früh entstehen neue Abhängigkeiten. Angeblich sollen schon Babys Wischbewegungen über den Touchscreen des iPad gezielt einsetzen, damit darauf etwas Bewegtes, Buntes erscheint.2 Und wer sein Smartphone verliert, „ist so hilflos wie ein Kind, das nicht nach Hause findet“.3 Unsichtbares Design am Menschen von frühauf – dieser begründete Verdacht müsste Anthropologen, Philosophen, Pädagogen aufhorchen lassen. Sichtbares Design am Produkt scheint kein Problem. Es zählt zum alltäglichen Ambiente und wird an jedem AppleGerät gelobt. Von der unsichtbaren Erziehung seiner Gebraucher liest man selten. Man weiß von der werbetechnisch generierten hypnotischen Stärke der Marke und dass Apple-User sich zur Gebraucher-Elite rechnen. Von den tieferen Beziehungen zum Objekt erfährt man wenig, obwohl es kein Geheimnis ist, dass Apple-Anhänger ihre Geräte „regelrecht lieben“ und „die Reaktionen auf das Vibrieren eines iPhone“ denen „angesichts eines geliebten Menschen“ fast gleichen, wie Kernspinaufnahmen gezeigt haben sollen.4 Zu dem, was man an Design zu sehen bekommt, also zu seinen Zeichen-Funktionen im semiotischen Raum des Alltags, tritt eine weitgehend unerforschte Reihe unsichtbarer Eigenschaften hinzu – womöglich ist das Vibrieren des iPhone als Anzeige des Lebendig-Seins vielsagender als seine Form im Gewand einer Retro-Sachlichkeit, die rein gar nichts von dem verrät, was dieses Handy, das man unter dem Herzen trägt, zum Liebesobjekt macht. Hightech-Produkte haben die Führungsrolle übernommen. Wir sind fasziniert von ihnen und nähern uns ihnen ehrerbietig in einem Akt vorauseilender Unterwerfung oder ÜberIdentifikaton, den der Philosoph Günther Anders schon früh beschrieben hat: „Da sie unseren Traum, dazusein wie die

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Dinge, Parvenüs der Produktenwelt zu werden, am triumphalsten verwirklicht haben, vergöttern wir sie.“5 Zu seiner Zeit gab es bereits eine Masse griffig-reizvoller Objekte, aber noch keine Parallelkultur des DigitalisiertAbstrakten. Doch gilt der Satz des Philosophen auch für das Heute. Innovative Serienprodukte treten als Träger unsichtbarer und sichtbarer Eigenschaften und zugleich als In-Bilder der Sehnsucht, ihnen zu gleichen, auf. Noch immer laufen wir ihnen hinterher und ‚vergucken‘ uns in Produkte, die in lockender Aufmachung kursieren, weshalb Anders bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts von einem „ikonomanischen Hochbetrieb“ gesprochen hat. Um Funktionsmechanismen hinter der Wand der Bilder oder dem Geraune der Zeichen und unser Beteiligtsein am Designbetrieb zu verstehen, müssen wir nach dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren fragen. Mit wir meine ich Gebraucher und Entwerfer. Alle am Designbetrieb Beteiligten werden funktionalisiert, das heißt Technologien und Nutzungsweisen verpflichtet. Die industriekulturelle Sozialisation erleben wir täglich an uns selbst, wobei Designer die Rolle professioneller Situierungshelfer übernommen haben. Sie waren und sind nicht nur Spezialisten für den Entwurf dekorativer Hüllen, die Haut der Zeichenträger, sondern auch für die Transparenz von Werkzeugfunktionen. Sie sollen uns helfen, sie zu verstehen. Dabei sind sie keineswegs frei, sondern an die Gesetze der Vermarktung gebunden. Und oft sind sie blind gegenüber ihrer eigenen Rolle als Vermittler zwischen Produkten und ihren Gebrauchern. Wir dürfen sie als funktionalisierte Spezialisten des Situierungsbetriebs bezeichnen. Im Augenblick sind sie vor allem als Benutzeroberflächengestalter neuer digitaler Massenprodukte gefragt. Es liegt auf der Hand, dass man ihnen empfehlen möchte, ihre Arbeit aus einem gewissen Abstand zu betrachten. Ebenso möchte man Gebrauchern nahelegen, sich ihrer TeilhabeErwartungen an Produkt-Innovationen und ihres Situiertwerdens innerhalb der Produktkultur bewusst zu werden, indem sie

Gert Selle Ding, Halb-Ding, Nicht-Ding, In-Ding, Über-Ding

auf Distanz zu sich selbst und zu der Szenerie gehen, in die sie eingebunden sind. Sie sind aufgefordert, designphilosophisch zu denken, das heißt Fragen zu stellen: Was macht das Zeug (ein Begriff Martin Heideggers für alle Dinge mit werkzeuglichen Funktionen) mit uns? Wie situiert es uns in der Gegenwart? Es ginge darum, auf Abstand zur Handhabung von Produkten zu gehen, indem wir dem Unvermeidlichen in der Rolle eines Beobachters begegnen, der Sachverhalte wahrnimmt und zum Sprechen bringt. Das würde einem Grundsatz der Phänomenologie gerecht, den Rüdiger Safranski in seiner Heidegger-Biographie so beschreibt: „Man darf nicht über das Phänomen reden, sondern muss eine Einstellung wählen, die es dem Phänomen erlaubt, sich zu zeigen.“6 Was machen wir mit unserem Zeug und was macht es mit uns? Das ist die Doppel-Grundfrage der Untersuchung. Heideg­ger konnte noch von Zeug als einem eindeutig Handfesten, das zu Gebrauch stand, sprechen: Es war immer ein Dingliches. Mit der Digitalisierung aber sind ungreifbare und unsichtbare Werkzeugfunktionen entstanden. Es gibt zunehmend nicht-dingliches Zeug, auf das sich ein Beobachter einstellen muss. Wobei manches neue Zeug sich als Ding zur Schau stellt wie das Smartphone, obwohl es mit dem Begriff Ding nicht mehr zu fassen ist. Man muss es vielmehr ein HalbDing nennen, das man zwar noch anfassen, aber nicht mehr in der Fülle seiner optionalen Funktionen begreifen kann. Um so aufmerksamer müssen wir uns dem Repertoire der NutzungsGesten zuwenden, um zu verstehen, was hier aktuell geschieht. Gesten Gesten haben ihre Geschichte wie alles Zeug, auf das

sie sich beziehen. So hat die Geste des Telefonierens ein kulturgeschichtliches Profil wie ihre Apparatur: Zunächst blieb das neue Ding wie etwas Fremdes in den Wohnungsflur verbannt, dort fest an die Wand installiert. In das Innere der Wohnung gelangte das Telefon mit seiner Kabelschnur erst nach einer Zeit der Gewöhnung an das schrille Klingeln, womit die Geschichte

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des Selbstverständlichwerdens von Apparatur und Geste des Telefonierens begann. Mit dem mobilen Handy tritt diese Geste in eine neue Ära. Sie löst sich aus dem Interieur, das sie noch in der Telefonzelle beansprucht hatte, und wird publik. Jeder telefoniert heute öffentlich. Die Gesten der Handhabung eines Smartphones sind teils sichtbar, teils kaum noch wahrnehmbar wie ein verschlüsseltes Fingerspiel, das die Klaviatur eines Computers, eines Telefons, eines Archivs, einer Spielkiste, einer Kamera etc. beherrscht. Je kleiner die Geräte, um so feiner die Gesten. In jedem Fall entsprechen sie der Kargheit oder dem Reichtum an Gerätefunktionen und deren Anspruch auf Bedienungsgeschicklichkeiten. Manche sind einsichtig einfach, andere verwirrend komplex. Welche Gesten fällig werden, bestimmt das Zeug, nicht der Gebraucher. Er muss sie üben. Bei den digitalisierten Fusions- oder Multifunktionsprodukten schrumpfen die Gesten, es spiegelt sich nur noch ein Teil der Bedienungsgeschicklichkeit in ihnen. Vieles von dem, was Nutzer dieser komplexen Geräte können müssen, erscheint daher kaum noch in Gesten visuell wahrnehmbar. Dennoch lassen sich auch hier im Zuge einer Selbst- und Fremdbeobachtung Rückschlüsse auf das Verhältnis eines Handelnden zu seinem Gerät und auf die kulturelle Situation ziehen, die sich in diesem stummen Handeln spiegelt. Wo man einst beide Hände brauchte, genügt heute eine Wischbewegung über das Halb-Ding. Wir müssen vom Schrumpfen des leiblichen Kontakts mit Zeug sprechen. Oder von der Notwendigkeit einer Mikroskopie der sich noch darstellenden Gesten. Die miniaturisierte Geste ist insoweit ein interessanter Beobachtungsfall, als sie für das Nähe-Verhältnis von Mensch und Apparat aufschlussreich sein kann. Wer sein Foto-Handy in einer dramatischen Geste über den Kopf hochreißt, agiert noch wie ein Fotograf der vor-digitalen Ära ganzkörperlich in großer Gestik, weil der sich strecken oder verrenken musste, um sein Motiv zu erhaschen. Heute ist die Miniaturisierung der Gesten angesagt, vielleicht auch ihr Verschwinden.

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Ob eines Tages ein Chip, hinter das Auge implantiert, jede Kamera und jede ausgreifende Geste überflüssig machen wird? Dann wären die Blicke, die man jemals auf einen Ausschnitt von Welt geworfen hat, jederzeit aus dem digitalen GedächtnisSpeicher abrufbar, und die Manie des Fotografierens wäre nicht nur als neuronaler Reflex im menschlichen Verhaltensrepertoire verankert, sondern komplett einverleibt. Das Auge fräße Bilder am laufenden Band, die alle aus dem Archiv der digitalisierten Erinnerung abrufbar wären. Man selber wäre Bildermaschine in Permanenz. Die einzige Geste wäre der Blick. Ein Stück des Weges ist mit dem Foto-Handy und seiner Speicher-Kapazität schon zurückgelegt. War doch der Sekundenbruchteil, in dem sich die Linse einer mechanischen Kamera öffnete und wieder schloss, bereits dem Aufschlagen und Wiederverschließen des menschlichen Auges vergleichbar. Der Augenblick war als Bild fixiert, falls ein Film eingelegt war. Die Geste des Fotografierens hat demnach einige Wandlungen durchlaufen. Bei anderen Geräten ist das ähnlich: Die Instrumente sind kleiner geworden, ihre Leistungsfähigkeit hat sich enorm vergrößert. Die Gesten der Ingebrauchnahme haben sich vereinfacht oder verkompliziert, je nach Standpunkt und Nachvollzugsfähigkeit des Beobachters. Seit ihren Anfängen hat die Technikgeschichte für eine fortwährend ausdifferenzierte Sammlung gestischer Reaktionen auf neue Funktionsangebote gesorgt. Gesten sind gebärdensprachliche Indikatoren sichtbarer und unsichtbarer Anverwandlungen des Menschen an die Instrumentarien seiner Umwelt. Instrument und Geste bilden das sichtbare Fundament einer Verortung unseres Selbst in der jeweils gegenwärtigen Zeug-Welt. Wo immer wir Gesten ausführend an uns selbst oder in der Beobachtung anderer wahrnehmen, erfahren wir etwas über unser Verhältnis zum Zeug und unseren Standort in der Industriekultur. Als Beobachter geraten wir auf die Spur des Kultiviertwerdens durch Gebrauch von Werkzeug. Manche Gesten sind uralt, etwa wenn wir jemandem mit erhobener Faust drohen. Dann

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ist das archaische Instrument des Totschlags, der Stein, symbolisch von der leeren Faust umschlossen. Manche sind neu, wie das Stillsitzen und Warten, bis das Gewünschte auf einem Bildschirm erscheint. Jede Werkzeugform differenziert eine Anzahl typischer Gesten aus. Wie Deutsche aus einem älteren FernsehRatespiel erinnern, identifiziert die Geste den sie Ausführenden als beruflichen Typus und scheint im kulturellen Gedächtnis gespeichert. Gesten reichen in Tiefendimensionen der Erfahrung und zeugen von einem engen Vertrautsein mit ZeugBeständen. Die Führung der Hand durch ein Werkzeug, das sie zu führen meint, ist ausschlaggebend. Führen wir das Multifunktions­ handy, oder führt es uns? Dass wir nicht die Herren, sondern Diener der Geräte und Funktionen sind, liegt auf der Hand: „Nicht wir hämmern mit dem Hammer, sondern der Hammer mit uns.“7 Dieser Umkehrschluss führt zur doppelten Grundfrage des involvierten Beobachters: Was machen wir mit dem Zeug? Und was macht das Zeug, teils sichtbar, teils unsichtbar, mit uns? Es bestimmt unausweichlich Sein und Habitus seiner Gebraucher im Sinne rückwirkender Erfahrung. Jede innovative Technologie verändert das kulturelle Erfahrungsspektrum. Das Subjekt der Erfahrung, ob mit Hammer oder Handy arbeitend, erfährt sich darin immer auch als Objekt. Mit diesem Standpunktwechsel wird das Ding oder HalbDing zum Subjekt. Man erklärt es dazu, beispielsweise im Zuge einer Beschimpfung, wenn es nicht tut, was es soll: Blödes Ding! oder Nun mach schon! als Ermunterung wie bei einer Person. Man kann daher gut nachvollziehen, dass der Wissenschafts- und Technikphilosoph Bruno Latour das Verhältnis zwischen Nutzer und Zeug für ausgeglichen erklärt, indem er von Agenten oder Aktanten spricht, die sich in eigener Aktivität begegnen. Latour habe eine „symmetrische Anthropologie“ entworfen; darin stünden „sich nicht mehr Menschen und Dinge als Subjekte und Objekte gegenüber“, sondern seien „als Akteure

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und Aktanten (bzw. Agenten) miteinander verknüpft, noch bevor sie Subjekte und Objekte werden“.8 So referiert es der Erziehungswissenschaftler Arnd-Michael Nohl in seiner Pädagogik der Dinge. Für Latour „beschreibt das Adjektiv modern keine zunehmende Distanz zwischen Gesellschaft und Technik oder gar ihre Entfremdung, sondern eine tiefere Intimität, ein engmaschigeres Netz zwischen beiden“.9 Wachsen wir immer enger mit Technik zusammen? Nimmt die Intimität des Verhältnisses zur Maschinenwelt zu? Wenn ja, bliebe noch die Frage nach den abstrakten digitalen Aktanten, die sich in irgendeiner black box verbergen. Hier wäre nur noch das Einschalten und Aktivieren verborgener Handlungspotenziale die Geste, dazu das Warten auf den Start der Maschine und das Eingeben der ‚Befehle‘ an das nicht immer gehorsame Halb-Ding, den PC, der im Übrigen personifiziert erscheint: Jetzt macht er das schon wieder nicht! Die digitale Welt zieht sich ihre eigenen ‚Arbeiter‘ heran. Nur dass man kein Räderwerk mehr wie in Modern Times (1936) vorgeführt bekommt, in das sie eingeflochten werden. Charlie Chaplin, Meister der Geste und gewitzter Anthropologe des mechanischen Zeitalters, hat die Verwandlung in einen hektisch zappelnden, mit Zeug (dem Schraubenschlüssel) gestikulierenden Halb-Irren wunderbar gespielt. Man bräuchte ihn heute in der Rolle eines vor dem Computer Sitzenden so dringend wie damals im Zeitalter der mechanischen Rationalisierung, um die Situation zu erkennen. Der Raum der Gesten ist der alltagskulturelle Raum, in dem wir als Akteure leben, ungeachtet des Verschwindens mancher Gesten im Unsichtbaren oder Unbewussten oder in ihrer unendlich erscheinenden Ausdifferenzierung bei Überlagerungen der Zwecke in einem Raum der Multifunktionalität, über den man die Übersicht verlieren kann. Wir stehen unter Gesten-Zwang, wo immer wir mit Zeug umgehen. Auch unserer hochent­ wickelten Apparatewelt nähern wir uns durch Gesten. Sie sind beobachtbar wie ihr Ausbleiben: Wer heute weder PC noch Handy hat, gilt als bedauernswerter Grenzfall kultu-

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reller Randständigkeit. Denn er nimmt nicht normgerecht am technikbestimmten Leben der anderen teil. Deren oft vorweg­ eilende Bereitschaft zur Identifikation mit dem Hochleistungspotenzial innovativer Geräte wirkt heute wie eine ‚natürliche‘ Reaktion, die keiner Begründung bedarf. Doch sollten wir fragen: Sind Gesten Ausdruck des freien Willens dessen, der sie ausführt, oder sind sie vom Werkzeug erzwungene Reflexe? Jedes neue Technologie-Angebot drängt auf seine Aneignung. Es ist ein geradezu automatisch ablaufender Prozess entdeckender Teilhabe an den Segnungen der technischen Innovation für den Alltag im Gange, mit einer nicht zu stillenden Neugier auf Ingebrauchnahme der Erweiterungen des Handhabungspotenzials. Oder es fühlt sich jeder Gebraucher gedrängt, neue Gesten, die vom Zeug gefordert werden, zu erlernen. Momentan findet eine Erneuerung des gestischen Repertoires im direkten Zugriff auf Dinge und Halb-Dinge statt; die Geste wird, als sei das ganz ‚natürlich‘, dem veränderten Gegenstand angepasst – siehe die Tipp-, Roll- und Streichbewegungen über das ‚Fenster‘ des iPad. Wir werden aus nächster Nähe Zeugen des Entstehens neuer gestischer Virtuositäten im Aktivieren sensibler Benutzeroberflächen. Man braucht nur Jugendlichen zuzuschauen, wie rasch und sicher sie ihr Smartphone zu handhaben wissen. Fingerfertigkeit ist angesagt, jeder ältere Nutzer kann nur noch die eigene Unbeholfenheit verbergen und muss lernen. Ein Beobachter schreibt: „Im Umgang mit den neuesten Smartphones scheinen die Finger aus der Hand gewissermaßen herauszuwachsen, sie haben sich zu autonomen Schnittstellen zwischen uns und unseren Geräten entwickelt. Mit immer geringfügigeren Bewegungen und immer schwächerer Druckausübung erzielen sie immer weiter reichende Effekte, und unsere Fingerkuppen beginnen mit den berührungs-empfindlichen Oberflächen eine ähnliche Einheit zu bilden wie die Greifhand mit dem Griff.“10 Man sieht: Gesten sind Schlüssel zu Funktionskomplexen und menschlichem Verhalten ihnen gegenüber. Ohne die Initial­ zündung einer Geste funktioniert keine App, kein Programm.

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Gesten sind Hinweise auf die Art einer Nutzung und auf das, was unsichtbar in die Handlung eingeschlossen sein könnte. Sie bedürfen wie Zeichen einer Interpretation, um verstanden zu werden. Als Beobachter findet man festen Halt nur an sichtbaren äußeren Merkmalen eines Tuns. Man kann nicht ins Innere eines mit Schaufel oder PC Hantierenden schauen. Aber dass die Handhabung welcher Werkzeuge auch immer ein Design am Menschen durchsetzt, ist eine nicht abzuweisende Vermutung. Wir sehen zwar nicht, wie ein Werkzeug oder Maschinenprogramm seine Nutzer in ihrem Inneren formt und deren Erfahrung modelliert. Aber wir sehen Anzeichen dafür, dass Formierungsprozesse stattgefunden haben müssen. Gesten sind Hinweise auf unsichtbare Kultivierungsakte. Das Problem bleibt die Interpretation dessen, was ein Beobachter sehen kann: Die Geste im Verhältnis zum Werkzeug, auf das sie sich bezieht. Gesten sind zeichenhafte Sprechakte im Gebrauch von Zeug. Sie öffnen den Blick für Unsichtbares, für den Komplex der Be-Dingung, heute auch der Ent-Dingung, des Menschen aus einer anthropologisch-historischen Sicht. Rituale Rituale setzen sich aus einer Abfolge von Gesten

zusammen wie das Aufbrühen von Kaffee am Morgen. Der Alltag ist nicht nur ein Ort von Gesten, sondern auch als Versammlungsraum von Ritualen beschreibbar, die alle ihre Zeit und Ordnung haben. Im Privatleben, aber auch im Beruf, sind wir an Rituale gebunden, die einerseits gesellschaftlich verbindliche, andererseits von jedem Einzelnen vorausgesetzte Schemata alltäglichen Handelns reproduzieren. Werkzeug spielt darin eine große Rolle, siehe PC oder Handy. Der vor seinem PC Sitzende ist rituell tätig: Die Suchbewegungen mit der Maus erfordern hohe Konzentration; der Blick bleibt starr auf das gerichtet, was auf dem Bildschirm erscheint, als handele es sich um die Versenkung in eine transzendentale Realität. Viele Rituale vollziehen sich öffentlich wie das Telefonieren per Handy, indem jemand im Gehen in seine Hand

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spricht und sich nicht mehr für seine Umgebung interessiert, während jener, mit dem er spricht, sich vielleicht in Rufweite auf der anderen Straßenseite bewegt. Man kann den Anteil des Rituellen am Alltagsleben gar nicht überschätzen. Nahezu alle regelhaft wiederholten Handlungen des Zubettgehens, der Griff nach dem Buch vor dem Einschlafen, das Ausknipsen der Nachttischlampe, das die Decke ans Kinn Ziehen und das sich auf die Schlafseite Drehen, sind Figurationen eines Rituals am Ende des Tages. Man könnte über die täglich vollzogenen Rituale Buch führen, um verwundert festzustellen, dass man sein Leben als gestört empfände, würde man daran gehindert, einzelne Rituale regelmäßig zu wiederholen. Wir dürfen uns als Ritualwesen bezeichnen, gesteuert von persönlichen, aber auch gesellschaftlich vordefinierten Verhaltens- und Handlungsmustern. Diese Ritualabhängigkeit bzw. die Bereitschaft, sie zu leben, ist das Einfallstor kultureller Steuerungsmuster von außen. Im Ritual setzen sie sich unbemerkt durch. Gewiss gibt es persönliche Marotten, eigenartige Gesten oder bizarre Rituale, die individualpsychologisch zu erklären wären. Aber kollektiv vollzogene Rituale finden ihre Begründung in kulturgeschichtlichen Zusammenhängen wie der Gliederung eines Tagesablaufs durch Arbeit und Freizeit oder die Ingebrauchnahme von Apparaten. Im Grunde bleiben wir in ein Netz ritueller Vollzüge und ungeschriebener Handlungsanweisungen eingesponnen, das wir Kultur nennen. Jedes neue Werkzeug generiert neue Gesten und kann neue Rituale zur Folge haben. Das Feueranmachen im Kamin oder Ofen war und ist eine umständliche rituelle Handlung, die mit dem Thermostat außer Kraft gesetzt wird, der den Zufluss von Fernwärme regelt. Dazu reicht eine knappe Geste, man dreht an einem Rädchen. Wer sich darin nicht auskennt, muss Feuer machen und verrät sich durch Unkenntnis der Animationsregeln von Technik, ja gilt gar als Ritualverweigerer, wenn er zum Beispiel immer offline lebt und nicht daran denkt, auf das alte Ritual handschriftlichen Briefverkehrs zu verzichten. Wer an

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bestimmten allgemein verbindlichen Ritualen nicht teilnimmt, gilt als gesellschaftlich ausgegliedert. Rituale sind wahrnehmbare szenische Handlungsmuster auf der Bühne des Alltags. Ihr Ablauf prägt sich bildlich ein. Wir wissen sofort, ob wir Zeugen einer rituellen Handlung sind, zum Beispiel, wenn jemand nicht gestört werden will beim Decken der Tafel für ein Abendessen mit Gästen, zu dem die Geladenen nicht zu früh erscheinen dürfen. Dinge haben als symbolische Requisiten ihren festen Platz in Ritualen. Das heilige Abendmahl setzt zumindest im Kirchenraum den Geistlichen im Ornat, Weihrauch, Monstranz, Pokal etc. und eine Fülle vorgeschriebener Gesten voraus. Im profanen Raum sind die Regeln eines Mahls nur etwas ziviler. Auch der Alltag wird mit bestimmten Dingen eher rituell formalisiert und nicht bloß sachlich ausgestattet. Selbst das Autowaschen gerät zur rituellen Handlung, bei der das teure Objekt argwöhnisch bewacht wird, sobald es unter den rotierenden Bürsten verschwindet. Der Lack wird sorgsamer nachbehandelt als die eigene Haut nach dem Bade, das Ritual der Pflege wird verlängert. Übt man sich in Wahrnehmung ritueller Vollzüge, kommt man aus dem Staunen kaum heraus: Der ganze Alltag der Woche erweist sich als Ansammlung ritueller Handlungen vom täglichen Aufstehen bis zum Ins-Bett-Gehen. Es gibt ein Ritualgerüst der Wiederholungen, das Beständigkeit des Lebens garantiert. Rituale bringen Ordnung und ‚Sinn‘ ins tägliche Leben. Sie haben ihre eigenen kulturhistorischen Quellen, die demjenigen, der sie übernimmt, nicht bewusst sein müssen. Unsere dinglich-werkzeugliche Ausstattung knüpft ein Netzwerk alltäglicher Rituale. Als Beteiligte sind wir Zeugen eines Geschehens, das in actu an anderen und an uns selbst beobachtet werden kann. Man wird dabei auf irritierende Phänomene stoßen. Bild und Idol Designobjekte konkurrieren miteinander als Bil­der. Ehe wir sie in der Hand halten, nehmen wir sie bildlich

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wahr. Diese Bilder kursieren sowohl in Gestalt der realen Dinge als auch in Form sekundärer Bilder, die Gegenstände identifizierend bezeichnen. Das geschieht in Gestalt massenhafter Spiegelungen der Artefakte in den Bildmedien und durch die Menge der Objekte als Zeichen- oder Bildträger selbst. Denn die Serienprodukte sind selbst bild-aktiv als Skulpturen im Raum. Und sie zirkulieren als flächig-abstrahierte Wiedergaben in einer Masse sekundärer Bilder, die das ermüdete Auge nur noch wie das grau-bunte Rauschen einer Welt voller Zeichen wahrnimmt. Serienprodukte übertrumpfen sich in einem Schönheitswett­ bewerb, den sie untereinander als Objekte und auf der Ebene bildlicher Wiedergaben austragen. Die Transformation an sich schon reizend gestalteter Produkte in die noch reizvoller erscheinende Welt vervielfachter Bilder von schönem Zeug sorgt für hohe Akzeptanz. Man bekommt makellose Produkt-Oberflächen zu sehen, die rosig gepflegte Haut der Dinge, und vergisst zu fragen, was sich unter ihr verbirgt. Die Geschichte ihres Gemachtseins bleibt unbekannt. Man erfährt nichts über ihre Herkunft aus Fabriken, nichts von scharf kalkulierter Lohnarbeit und vom Energie- und Materialverbrauch. Unterschlagen wird auch ihr Ende im Tod durch Entsorgung. Von alledem erzählen die bildhaft auftrumpfenden Objekte nichts, so dass man sich bedenkenlos jener „Ikonomanie“ anheimgeben kann, die Günther Anders diagnostizierte. Dass die Bild-Fassaden von den nichtsichtbaren Funktionen der maskierten Objekte nichts verraten, also von dem, was sie unsichtbar in ihrem Gebrauch mit uns machen, kommt hinzu. Auf der Bildebene müssen wir Produkten daher mit Vorbehalten begegnen. Dabei ist die sogenannte Design-Ikone ein Sonderfall der allgemein massenhaften Ikonisierung des Handfesten. Der Begriff Ikone lässt sein religiöses Unterfutter durchscheinen; er bezeichnet das besondere, mit historischer Bedeutung aufgeladene Objekt, das über der Masse des profan Ikonisierten

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schwebt, etwa wenn ein Museum (nach Odo Marquard die „Verehrungsdeponie“) ältere, schon aus dem Verkehr gezogene Massenprodukte als Ikonen inszeniert. So kann man unter Ikonisierung der Artefaktewelt einerseits die allgemein betriebene Verbildlichung von Sachen verstehen, das heißt die massenhafte Einführung von Produkten als Bilder in das aktuelle semiotische System des Alltags. Sie betrifft, wie angedeutet, alle sichtbaren Artefakte. Andererseits ist die Ikonisierung des Besonderen ein selektiver Vorgang, der für eine Hierarchie von Produktbildern im Nachhinein sorgt. Er findet vor allem im Museum als Raum des Sammelns und Bewertens statt. Das Museum ist eine Aura-Maschine im Nachgang zur Marktpräsenz von Designobjekten. Es behauptet, den Beweis kultureller Werthaltigkeit von Objekten zu führen, die aus dem unmittelbaren Verkehr gezogen sind. Design-Ikonen sind daher In-Bilder des Verehrungswürdigen aus historisierender Sicht. Mit dem Idol (Götzenbild) verhält es sich anders. Es ist als Vorbild gegenwärtig und doch in die Sphäre der Unerreichbarkeit entrückt. Idole übernehmen die Rolle von Spiegelobjekten der Sehnsucht, den Objekten ähnlich zu werden. Man könnte sie Idealportraits ihrer Erschaffer und Gebraucher nennen, die ihnen gleichen möchten: „Gegenstände sind unsere ins äußere Material gestellten Eigenschaften“,11 schreibt Herta Müller, und man könnte ergänzen: auch gewünschter Eigenschaften. Das Können und die Eleganz der Apparate kann man bewundern oder die Über-Dinge anbeten, in der Hoffnung, dass von ihnen etwas auf einen selber übergeht. Als Identifikationsobjekte stehen Idole wie höhere Wesen außerhalb jeder Kritik. Wer sich Idole konstruiert, die den Rest der Masse des flach Ikonisierten solitär überragen, schafft sich Altarobjekte der Sehnsucht, wie diese Über-Dinge zu sein. Die Verzauberung durch technische Hochleistungsartefakte ist ein psychologisch noch ungeklärter Vorgang, dem Zuweisungen an die Objekte vorangehen, die sie über den Status des Bildes oder der Ikone hinaus in das Reich des Göttlichen erheben.

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Idole sind die Über-Dinge unserer scheinbar antireligiösen Epoche. Aber es geht nicht nur um das technische Können eines Artefakts, sondern auch um dessen ästhetische Überzeugungsfähigkeit. Das Götzenbild soll überirdisch schön sein, einem Idealbild von Kraft, Leistungsfähigkeit und Ästhetik entsprechen. „Das Schöne fasziniert, verzaubert, weckt das Begehren […]. Das Schöne ist Schein und als Schein Spiegelung in sich selbst. Es bildet eine nicht auf anderes reduzierbare Welt, ist ohne Nutzen und spielt mit den erotischen Wünschen am Rande des Chaos in der Hoffnung auf temporäre Unvergänglichkeit.“12 Keine Frage, dass alles sichtbare Design zum Bestand des Schönen zählen und unvergänglich sein möchte. Obwohl an nüchterne Zwecke gebunden, repräsentiert es den schönen Schein am Rande des ökologischen Chaos in der Hoffnung auf temporäre Unvergänglichkeit, wie es heute die permanente öffentliche Ausstellung von Abermillionen Automobilen am Straßenrand oder in Bewegung anzeigt. Diese technischen Objekte werden mit geheimnisvoll erneuerbarer ästhetischer Energie einer periodischen Wiederverschönerung unterzogen, wobei sie als Zeug auf einem Entwicklungsstand verharren, der allen Schonungserfordernissen der Umwelt widerspricht. Die Automobil-Industrie sorgt für die größte öffentliche Bilder- bzw. Skulpturensammlung, aus der die gegenwärtig führenden Götzen oder Idole des Automobilismus herausragen, die auf Messen gezeigt und in Magazinen dem Publikum anempfohlen werden. Die Re-Idolisierung der Spitzenprodukte dieser Gattung erfolgt jährlich mit entsprechendem MedienEcho. An den Standorten der Produktion sind palastartige Tempelbauten zur Präsentation der periodisch erneuerten Mobilitäts-Idole entstanden. Deren Schönheit ist eine bildhaft-magische Macht, die unmittelbar überzeugt und alle ökologischen Einwände löscht. Wer widersteht schon einer elegant inszenierten Auto-Karosserie? Wie man sich keine abstoßende Ikone vorstellen kann, sind die neuen Götzenbilder erst recht nicht hässlich.

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So versammeln sich an der Spitze momentan gelebter Produktkulturen einige Idole als Leitfiguren, die alles Ikonisierte überstrahlen. Idole sind materialisierte Götzenbilder, denen nach Konrad Paul Liessmann „fanatische Verehrung“ gezollt wird, „indem sie nachgeahmt werden“.13 Für ihre Verehrer sind sie Leitobjekte. Der Philosoph erklärt sie zu „Stachel[n] im Fleisch einer modernen, säkularisierten, traditionslosen Gesellschaft. Sie befriedigen die illegitim gewordene Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen, Übermenschlichen, Heiligen auf profane Weise.“14 Jedenfalls sind wir mit der Existenz von Idolen auf der religiösen Ebene moderner und postmoderner Produktkulturen angelangt. Wir kennen die Kultobjekte massenhafter Anbetung vor allem als menschliche Figuren aus dem Medienpark. Elvis Presley war seinerzeit das personifizierte Idol jugendlicher Verehrerinnen und Verehrer. In der Antike gab es steinerne Idole in Gestalt von Skulpturen, die das eidolon verkörperten, wie die Kykladen-Idole aus Marmor, oder im Rom der frühen Kaiser den idolino, eine Knabenfigur aus Bronze. Heute treten lebende Idole in Fußball-Arenen auf. Sie sind heldenhafte Projektionsfiguren der Sehnsucht nach Anverwandlung ihrer Anhänger, die ihnen gleichen möchten. Sie werden nicht nur verehrt, sondern angebetet. Das kann auch Dingen widerfahren, selbst wenn sie nicht schon dem Namen nach göttlich sind, wie einst die Déesse von Citroën. Das gegenständliche Idol bindet Anverwandlungs-Süchtige an herausragende Produkte, die durch Leistungsfähigkeit, Schönheit und Eleganz zum Über-Ding erklärt werden können. Das leitende Aneignungsmotiv ist der Wunsch nach Eins-Werden mit dem Vorbild. Günther Anders führt als Beispiel die Filmstars der 1950er Jahre an, die er zu „Serienprodukten“ und zugleich zu „unseren beneideten Vorbildern“ (also Idolen) erklärt, weil es in deren Gestalt einigen Menschen gelinge, „in die von uns als ‚ontologisch höher‘ anerkannte Sphäre der Serienprodukte“15 einzubrechen, also die Sphäre, in der Dingen ein höheres Sein zugesprochen wird.

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Das perfekte Serienprodukt könnte demnach das Idol unserer Zeit schlechthin sein, weil es eine „ontologisch höher“ besetzte Zone der gegenständlichen Welt bezeichnet, in der die massenhaft gleichen Serienprodukte schlackenlos rein und fast schon jenseitig erscheinen. Die Produktion dinglicher Idole erfolgt heute ausschließlich industriell. Zugleich wird großer kultischer Aufwand getrieben, um dem Bedürfnis nach Idolisierung entgegenzukommen. In der Gläsernen Manufaktur von VW darf man der Endfertigung des Phaeton, benannt nach dem antiken Sonnengott, zuschauen. Aber nicht nur dieser Fahrzeugtyp erscheint vergöttlicht. Jeder Hersteller unterhält eigene Tempeldienste in kathedralähnlichen Architekturen: BMW-Welt München, Audi Forum Ingolstadt, Autostadt Wolfsburg, Mercedes-Benz-Welt Stuttgart. Es sind Kultstätten, in denen die Idole der Automobilität zur Verehrung freigegeben werden. Es geht hierbei nicht nur um künstliche Ikonen-Produktion, sondern um die höhere Seinsebene der Serien­produkte, an der Teilhabe versprochen wird, es geht um Idolisierung. Die fabrizierte schöne Welt der Serienprodukte zur „höheren ontologischen Sphäre“ zu erklären, wie es Günther Anders vorschlägt, ist kein abwegiger Gedanke: Wie ein PopStar als Serienprodukt der Medien-Industrie vom Band ihres Betriebs läuft, spuckt die Konsumgüter-Industrie massenhaft perfektionierte Gegenstände aus, die zu Idolen aufsteigen können, sobald sich entsprechende Anverwandlungswünsche ihrer Gebraucher auf sie richten. So werden Dinge göttlich, indem faszinierende Eigenschaften auf sie projiziert werden, ebenso wie menschliche Idolfiguren mit übermenschlichen Eigenschaften ausgestattet erscheinen. Es handelt sich um einen Mechanismus zwischen Geschäft und Sehnsucht nach Bindung, Bewunderung und Identität. Die Logik des Idols könnte in der Sehnsucht nach Partizipation an der von Anders so bezeichneten „höheren ontologischen Sphäre“ der Serienprodukte angelegt sein, dem Olymp sichtbarer Götzen der Techno-Moderne und Postmoderne. Die

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Abgötter haben skulpturale Gestalt wie einst. Eine Ikone wäre lediglich das verehrungswürdige Bild einer damit auratisierten Sache. Ein Idol aber ist das Über-Ding in Gestalt eines industri­ ellen Produkts, das man verehren und dem man sich in einem Akt der Identifikation anverwandeln möchte. Es kommt praktisch zu einem Tausch der Macht; vom Gebraucher als dem Herrn der Dinge ist keine Rede mehr. Anders geht so weit zu behaupten, der Mensch sei nicht „als Gerät neben den Geräten, sondern als Gerät für Geräte“,16 denen er unterlegen ist, zu betrachten. Herr einer Hochleistungsmaschine zu sein, ist ein Traum, den einige sich erfüllen, die das Verschmelzungserlebnis suchen. Man beobachte Lenker schwerer Motorräder, wie sie flach über der Maschine angeschmiegt liegend das röhrende Über-Ding mit den Beinen wie zur Begattung umklammern. Das Eins-werden-Wollen mit der Maschine könnte kein deutlicheres Bild finden. Es gibt eine unio mystica zwischen Mensch und Maschine, das Idol ist der leibhaftige Beweis oder das Versprechen. Götzenbilder der Gegenwart bestehen nicht mehr aus Marmor oder Bronze, sondern aus Stahl, Carbon und unsichtbarer Elektronik. Vielleicht ist das antike eidolon in Gestalt überdimensionierter Blechskulpturen in die Gegenwart zurückgekehrt. Eigenschaften und Funktionen des Idols müssen freilich neu bestimmt, auch die Rituale des Götzendienstes wollen identifiziert werden. Der Bildwissenschaftler William J. Thomas Mitchell empfiehlt, eine Beobachterposition einzunehmen, von der aus die neuen Götzen „ausgehorcht“ werden können.17 Die Götzen auszuhorchen, heißt aber nichts anderes, als uns selbst als deren Anbeter zu befragen, um unsere eigene Rolle als IdolErschaffer zu definieren. Am Ende zeichnet sich eine Hierarchie der Bindungszwänge an Artefakte ab – ausgehend von realen Produkten, die im Gebrauch und durch direkte Anschauung wirken, über deren multiplizierte Bilder bis zum Status von Ikonen, der vom Idol,

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dem Über-Ding und Götzenbild, das Unterwerfung fordert, übertroffen wird. Aber wo bleibt der Fetisch, dieses uns allen so vertraute In-Ding? Das im Fetisch rehabilitierte Ding Die Bezeichnung eines

Produkts als Fetisch wirkt abwertend. Niemand möchte als Fetischist verdächtigt werden. Leben wir in Schande, wenn wir uns als Fetischisten betätigen? Es gibt Fetische überall, natürlich auch in der eigenen Hand. Man übersieht sie, weil sie so alltäglich sind: „Fetische haben Konjunktur. Sie bestimmen weite Teile unserer Lebenswirklichkeit sowie deren mediale Multiplikation.“18 Der Fetisch ist beschreibbar als ein Gegenstand, „der von seinem Besitzer mit einer nicht näher bestimmten, irrationalen Macht begabt ist und deshalb als ein sinnlich-übersinnliches Ding verehrt wird“.19 Fetische sind unentbehrlich, und sie sind dinggebunden: „Zur Grundausstattung des Fetischismus gehören zunächst allein Dinge in einem spezifischen Gebrauch.“20 Fetischisierung ist ein legitimer, wenn auch oft verborgen gehaltener Akt tieferer Beziehungsaufnahme zu Dingen. Als Fetische stillen sie ein dringendes Bedürfnis nach Projektion erhoffter Wirkungen auf Artefakte, die weit über deren praktische Funktion hinausgehen. Jedes materielle Objekt kann als Fetisch Profil und Bedeutungstiefe gewinnen. Der Fetischist erarbeitet sich sein intimes Verhältnis zum Ding selber oder schließt sich kollektiven Fetischisierungen an, aus denen spezifische Aufgabenzuweisungen an die Artefakte folgen. Daran ist nichts Verächtliches oder Verwerfliches. Wer glaubt, in kein Fetisch-Verhältnis verwickelt zu sein, irrt. Sogar Sigmund Freud war mit seiner Sammlung antiker Statuetten ein Fetischist erster Ordnung. Besonders fetischverdächtig ist der Ramsch, der sich in jedem Haushalt findet. Die Journalistin Rebecca Casati hat in der Süddeutschen Zeitung über die Frankfurter Einrichtungsmesse Ambiente berichtet, auf der all die überflüssigen Gadgets

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als Top-Trend-Artikel dekorativer Nutzlosigkeit ohne Wert gehandelt werden. Man sollte den Schund nicht unterschätzen, denn „diese Dinge verwalten in Zukunft unsere Erinnerung“,21 wie Casati treffend bemerkt. Das heißt, man hängt an einigen von ihnen am Ende so, dass man sie nicht wegwerfen kann. Dann sind sie zu Erinnerungs-Fetischen geworden. Ein Fetisch ist immer unser eigenes Konstrukt, egal wie idiotisch es aussieht. Der Alltag wimmelt von Fetischen – solchen, die weithin sichtbar, und solchen, die den Blicken verborgen sind. Es gibt ein gesellschaftliches und ein privates Verhältnis zum Fetisch. Zwischen Idol (dem unerreichbaren Vorbild) und Fetisch (einer greifbaren Sache) muss unterschieden werden: Der Fetisch ist das Haustier, das Idol der Götze unter den Dingen. Fetischisierung von Artefakten ist weniger problematisch als nützlich: Man verlagert Erwartungen auf Sachen und macht sie zu In-Dingen, um mit ihnen insgeheim oder öffentlich zu korrespondieren. Das schadet weder einem selbst noch anderen. Produkt-Fetischisten sind harmlose Zeitgenossen, die greifbares Zeug mit übersinnlichen Eigenschaften ausstatten. Man kann den modernen Fetischismus auch als eine Therapie begreifen, in deren Verlauf der Abstand der Gebraucher zum Zeug verringert wird, der durch die Abstraktheit neuer Technologien des digitalen Zeitalters entsteht. Zum Fetisch besteht ein libidinös eingefärbtes, sinnliches Verhältnis. Man kann ihn anfassen, berühren, streicheln wie das iPad oder den Teddybär. In einer Epoche zu Oberflächen reduzierter, abstrakt hochleistungsfähiger Serienprodukte tut es gut, noch etwas sinnlich begreifen und ein Vertrauens- oder Liebesverhältnis zu Dingen aufbauen zu können. Die Rückkehr des Fetischs ist historisch überfällig, weil sie die Wiederentdeckung oder Rettung des handgreiflich Festen garantiert und Vereinigungswünsche mit Objekten zu erfüllen verspricht. Dass Dinge mit verborgenem Eigenleben aufgeladen sein kön­­nen, weiß man schon lange. Dieses Wissen war Bestandteil magischer Kulturen. Im scheinbar davon abgetrennten Zeitalter

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der Wissenschaften gibt es die grundlegenden Erörterungen zum Warenfetisch (Marx), zum sexuellen Fetisch (Freud) und die Winnicottschen Übergangsobjekte, die in der Kindheit eine Rolle spielen. Heute tritt die Fetischisierung des eigenen Körpers im Bodybuilding, beim Piercing und Tattoo öffentlich in Erscheinung: „Im Gegensatz zum Fetischismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der weitestgehend im Privaten ausgelebt wurde, wird der Fetischismus des beginnenden 21. Jahrhunderts in öffentlichen Arenen zur Schau gestellt“22 – siehe die Großveranstaltungen von Apple oder die Internet-Präsenz idealisierter Doppelgänger. In der Onlinewelt des Second Life gelingt die Selbst-Fetischisierung im Avatar, dem mit Schönheit und Extravaganz begabten virtuellen Ebenbild.23 Auch ist der Schamane, der von der Wunderkraft der Dinge weiß, in die Postmoderne zurückgekehrt: Man erinnert aus Fernsehberichten, wie Steve Jobs als hagere Mönchsgestalt mit glühenden Augen der erwartungsvoll harrenden Menge ein neues Erzeugnis seiner Firma entgegenstreckte, das nüchtern besehen ein banales, wenn auch hochtechnologiehaltiges Massenprodukt war. Die Geste des Zeigens löste frenetischen Jubel aus. Der Schamane operierte auf der Grenze von Idol und Fetisch und traf den Nerv latenter Verehrungsbereitschaft an empfindlicher Stelle in der Sehnsucht nach dem Über-Ding, dem Idol, das, wenn es endlich in die Hand genommen werden kann, zum praktikablen Fetisch mutiert. Der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme spricht generell von Dingen, welche die „Transzendenz einer Moderne darstellen“,24 die annahm, „Transzendenz entbehren zu können“.25 Der Fetisch streift das Übersinnliche, Transzendente, entspricht einer Sehnsucht, daran teilzuhaben. Aber irgendwie misstraut man ihm: Geht es noch mit rechten Dingen zu? Müssen wir befürchten, dass die ‚naive‘ alltägliche Geste, die auf funktionalen Gebrauch eines Werkzeugs eingestellt ist, nicht mehr ohne rituellen Hintersinn und wirklichkeitstranszendierende Zwecksetzung denkbar ist?

Gert Selle Ding, Halb-Ding, Nicht-Ding, In-Ding, Über-Ding

Dass die Dinge und Halb-Dinge der Gegenwart sich unter der Hand in Agenten des Übersinnlichen verwandeln? Ja dass die Arte­faktewelt sich als kompakte magisch aufgeladene Masse erweisen könnte und wir in einer Umgebung selbstgemachter bzw. industriell vorgefertigter Fetische und Idole leben? Schon einfache Dinge im täglichen Gebrauch begegnen uns nicht einfach als solche, sie sind bereits mit Sinn besetzt. Sie haben ein produktkulturelles Profil, einen ihnen anhaftenden gesellschaftlichen Bedeutungshintergrund und eine Biographie des Gebrauchs in unserer Hand. Begegnen sie uns als Bilder, zielen sie auf den Fernsinn des Sehens bzw. auf das Gesehen-Werden. Begegnen sie uns als Bild und als Körper, werden sie berührbar und prägen sich in das taktile Gedächtnis ein, nachdem man sie tastend identifiziert hat. Der Fetisch ist ein anfassbares Ding und bleibt es fiktiv auch dort, wo er nur in Gestalt eines Bildes zitiert wird. Oder wo man ein Bild als flaches Fetisch-Objekt wahrnimmt, um es zu küssen. Fetisch werden kann jedes Ding oder Halb-Ding. Sobald ein Objekt zum Fetisch geworden ist, blickt es seinen Schöpfer mit eigenen Augen an und korrespondiert mit ihm. Das ist kein animistischer Unfug, denn: „Dem Unbefangenen ist nämlich nichts plausibler, als dass er von den Dingen angeblickt wird“,26 so Günther Anders. Den Blick zu erwidern, heißt die Sache anzuerkennen, sei es als Gegenstand mit Gebrauchswert, als Objekt der Begierde oder als Fetisch. Mit ihm trifft man Abkommen über seine Bedeutung und seinen offenen oder verdeckten Gebrauch. Seit sich die virtuellen Erlebnisräume, in denen nur Bilder und keine handfesten Dinge mehr anzutreffen sind, ausgedehnt haben, neigt man dazu, von einem Sieg der Bilder über die dreidimensionalen Objekte zu sprechen. Statt mit festen Gegenständen haben sich unsere Alltagserfahrungsräume immer mehr mit Bildern gefüllt. Dieser Eindruck ist im Wortsinn oberflächlich. Denn gleichzeitig tritt der Fetisch als magisch aufgeladener, greifbar materialisierter Gegenstand in Erscheinung und füllt den leeren Raum hinter dem Getümmel der Bilder.

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Man möchte von einer Tendenz zur Rückvergegenständlichung des schon in Bilder Aufgelösten, von der Wiederkehr des Handfesten in Gestalt des Fetischs sprechen. Entgegen allem Anschein geht es heute nicht nur um Bilder, Ikonen und Idole, sondern um eine Menge materialisierter Objekte, die sich als Fetische in die Abteilung der handfesten Produkte einordnen lassen: Man sieht es einem Serienprodukt oder auch einem handgemachten Ding nicht an, ob es als Fetisch fungiert. Als Objekt wirkt es unverfänglich neutral, als beziehe es sich auf nichts als sich selbst. Übersinnliches kommt erst ins Spiel, sobald ein Gebrauch darauf hinweist: „Die Wirkungsweise des fetischisierten Objekts […] zeichnet sich dadurch aus, dass es gerade nicht als Zeichen in Gebrauch genommen wird, das auf etwas anderes als es selbst verweist. Vielmehr entfaltet der Fetisch seine Macht unmittelbar und dezidiert als Ding in seiner Materialität.“27 Einst war der Fetisch ein selbstgefertigtes, oft hässliches Ding. Heute kann er ein schönes industrielles Serienprodukt sein, dem besondere Wirkung zugeschrieben wird, obwohl am Fließband hergestellt und als käufliche Sache ausgeliefert. Das iPhone 4 war schon vorfetischisiert, das heißt mit Erwartungen an seine übersinnlichen Fähigkeiten unterfüttert, bevor es als reales Halb-Ding auf den Markt kam. Inzwischen liegt es in der warmen Hand und möchte durch sanfte Berührung animiert werden. Als Hybrid von Apparat und Lebewesen vibriert es, gibt Töne von sich, es spricht und lässt Bilder in seinem Fenster erscheinen. Man erfährt das kleine Halb-Ding als erotisches Objekt, das sich in die Hand schmiegt oder unter dem Herzen getragen sein will. Das Zeitalter der Hochtechnologien wirkt wie ein Treibhaus für Fetisch-Kulturen. Wir müssen bei der Verwandlung von banalem Zeug in Fetische von einem Vitalisierungszauber sprechen, in dessen Folge Dinge und Halb-Dinge ein geheimes Leben zu führen beginnen, um zu In-Dingen aufzusteigen. Im Zuge seiner Ikonisierung wird ein Serienprodukt als Bild in der Masse des Ähnlichen ‚bezeichnet‘. Idolisierung würde es

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in die Ferne der Unerreichbarkeit rücken. Seine Fetischisierung aber holt es nahe heran, verleiht ihm greifbare Präsenz in der Gegenwart eines spezifischen Gebrauchs. Der Fetisch behauptet sich stets als ein sinnlich-gegenständlich Anwesendes, ausgestattet mit magischen Eigenschaften. So ist der Fetisch das In-Ding schlechthin. Die Palette reicht vom handgefertigten Einzelobjekt zum Serienprodukt unterschiedlicher Größenordnungen. Auch Halb-Dinge (siehe Handy) lassen sich fetischisieren. Fetische sind reale Beziehungsobjekte, die in den Alltag ihrer Besitzer und Nutzer einwachsen. Mit ihnen kehrt das Dinglich-Geheimnisvolle in die abstrakte Welt der Funktionen zurück. Heute ist der Fetisch ein in der Regel industriell gefertigtes Ding oder Halb-Ding. Man begegnet ihm angstfrei, weil man weiß, dass die ihm zugewiesene Macht auf Einbildung beruht. Den Fetisch als etwas Gemachtes und Mächtiges gibt es nur für diejenigen, die Gegenstände wissentlich oder unbewusst dazu machen. Diese Gegenstände müssen einen tastbaren Körper haben. Einen digital-abstrakten Fetisch, eingesperrt in einen Daten-Speicher, kann man sich nicht vorstellen. Mit den kleinen und großen Fetischen der Gegenwart kehrt das Gegenständlich-Greifbare in die Welt gepixelter Bilder und glatter Benutzer-Oberflächen zurück, angereichert mit dem Charme des Unerklärlichen, der die stummen, in sich gekehrt erscheinenden Dinge seit je ausgezeichnet hat. Zugleich unterläuft der Fetisch die Rationalität der Techno-Kultur, um Dinge und Halb-Dinge in einem tieferen Sinne brauchbar zu machen, ja sie zu verlebendigen. Fetischisierung ist eine Projektionsleistung derer, die sich ein Objekt zum Fetisch machen, was letztlich ein Autonomiebeweis des Gebrauchers und keine Unterwerfungsgeste ist. Denn Zeug an sich ist kein Fetisch; der ist immer erst das dazu Gemachte, und die Macher sind wir. Noch einmal: Man muss die Begriffe Idol und Fetisch auseinanderhalten. Idol ist das unerreichbare Vorbild, ein ferner Götze. Der Fetisch ist nah, man kann ihn als Ding in die Hand nehmen.

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Und dieser Produktfetisch ist nicht identisch mit dem Warenfetisch, der Käufer nicht bloß ein Tölpel, der darauf hereinfällt. Im Akt der Aneignung realisiert sich nicht nur irgendein Ausbeutungsinteresse von Anbietern, sondern die persönliche Einverleibung einer Sache. Die Mensch-Ding-Beziehung transzendiert den Warencharakter eines Produkts: Man kauft sich zwar ein Gerät und lässt sich das Geld aus der Tasche ziehen. Aber in seiner Gebrauchsanleitung steht kein Wort über den Fetisch. Den macht man sich allein oder im Kollektiv selber als ein Designer des Übersinnlichen. Wir sind heute unablässig mit Aneignung und Sinn-Aufladung neuer Technologien beschäftigt. Im Techno-Fetisch treten unsichtbare Eigenschaften in Kraft, die auf die Artefakte projiziert werden. Sie werden eben in dieser Form von Verdinglichung konkret erfahrbar: Man vertraut dem Fetisch, dass er einlöst, was er verspricht bzw. was man auf ihn in der Erwartung projiziert, dass er das in ihn gesetzte Vertrauen nicht enttäuscht. So kehrt die schwindende Dinglichkeit, die vom Raum abstrakter Dienstleistungen im digitalen Zeitalter aufgesogen zu werden scheint, in einem sinnstiftenden Akt der Verdinglichung des Begehrens in Gestalt des Fetischs in den Alltag zurück und behauptet sich gegen alle Ängste vor drohendem Verlust. Heute ist der Fetisch ein Garant des Überlebens der Dinge. Er bewahrt sie vor dem Verschwinden unter OberflächenBildern oder im Nichts digitaler Wolken. Der Fetisch festigt und vertieft unser Verhältnis zum Handfesten, so zweifelhaft das erscheinen mag. Ich fasse zusammen: Zeug funktioniert nie nur als solches auf einer einzigen Ebene seines Gebrauchs. Unser Verhältnis zu seinem Wert ist dehnbar, gewinnen viele Artefakte doch erst unter der Hand Eigenschaften, die wir auf sie projizieren. Sie können jede zweckrationale Bindung übersteigen. So mag ein Serienprodukt als übermächtiges, wirklichkeitstranszendierendes Gebilde (Götzenbild bzw. Idol) oder als magisch aufgeladenes Objekt im Alltag (Fetisch) wahrgenommen werden, ohne dass sich in seinem Erscheinungsbild etwas verändert.

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Idolisierung und Fetischisierung bezeichnen verschiedene Stadien oder Strategien der Ent-Rationalisierung von Zeug, das nach der einen Version noch als diesseitig, nach der anderen schon als jenseitig betrachtet werden muss. Idolisierung meint die Divination einer ursprünglich profanen Sache, ihre Erhebung in den Stand des Göttlichen. Fetischisierung ist ein Vorgang, durch den Serienprodukte in der Hand ihrer Gebraucher als mit geheimen Kräften begabt auftreten. Auf dem Olymp der Idole versammelt sich das Heiliggesprochene: Idolisierung zielt auf vorbehaltlose Bewunderung von Serienprodukten, die tatsächlich den Sprung auf eine höhere Ebene des Seins (vgl. Günther Anders) geschafft zu haben scheinen und damit unangreifbar geworden sind. Fetischisierung bleibt ein Akt diesseitiger Verankerung von Objekten im Sinne magischer Funktionen im Alltag. Ein Idol steht jenseits aller Kritik und fordert bedingungslose Gefolgschaft, es ist das Über-Ding schlechthin. Mit einem Fetisch darf man persönlichen Umgang pflegen, er bleibt ein In-Ding in der Hand seines Gebrauchers. Aber was machen wir mit den Götzen, den In-Bildern der Verehrung? „Die Götzen aushorchen“ (Mitchell) kann nur zum Ziel haben, sich selbst als den Zuweisenden von Eigenschaften an Produkte erkennbar zu machen bzw. sich zu fragen, weshalb man an die Wirksamkeit eines Fetischs oder die Über-Macht eines Idols glaubt. Das „Aushorchen“ kann nur in Gestalt einer Darlegung des eigenen Verhältnisses zu Dingen, In-Dingen und Über-Dingen funktionieren; die Artefakte selbst schweigen dazu.

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Anmerkungen 1

Markus Dettmer, Hilmar Schmundt u. Janko Tietz, „Hertz ist Trumpf“, in: Der Spiegel, Nr. 10, 5. 3. 2012, S. 60–64.

2

Vgl. Katrin Blawat, „Wisch-Technik. Die Nutzung ist kinderleicht: Wie Touchscreens die Gehirnstrukturen des Menschen verändern“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 54, 5. 3. 2012, S. 19.

3

Dirk Kurbjuweit, „Mein Herz hüpft“, in: Der Spiegel, Nr. 15/2012, S. 67.

4

Andrian Kreye, „Die Liebe zum iGerät“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 57, 8. 3. 2012, S. 4.

5

Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [1956], München 2002, S. 57.

6

Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt/M. 2001, S. 178.

7

Jan Füchtjohann, „Der Hammer hämmert mit uns. Medien-Eupho­ riker haben einen religiösen Überschuß – ihr Schutzheiliger ist der 100-jährige Marshall McLuhan“ In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 33, 10. 2. 2011, S. 11.

8

Arnd-Michael Nohl, Pädagogik der Dinge, Bad Heilbrunn 2011, S. 38.

9

Bruno Latour, „Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft: Pragmatogonie oder gibt es eine Alternative zum Fortschritts-Mythos“, in: Roland Borgards (Hg.), Texte zur Kulturtheorie und Kulturwissenschaft, Stuttgart 2010, S. 286.

10 Lothar Müller, „Und wie er winkt mit dem Finger. Dieser Erfinder war ein Meister des Berührungszaubers: Steve Jobs und die Geschichte der Mechanisierung“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 197, 27. 8. 2011, S. 13. 11 Herta Müller, Lebensangst und Worthunger, München 2010, S. 25–26. 12 Dietmar Kamper u. Christoph Wulf (Hg.), Der Schein des Schönen, Göttingen 1989, S. 9. 13 Konrad Paul Liessmann, Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen, Wien 2010, S. 174. 14 Liessmann, Das Universum der Dinge (Anm. 13), S. 173. 15 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen (Anm. 5), S. 57.

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16 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen (Anm. 5), S. 32. 17 Vgl. William J. Thomas Mitchell, Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008, S. 44–45. 18 Hartmut Böhme u. Johannes Endres (Hg.), Der Code der Leidenschaften. Fetischismus in den Künsten, München 2010, S. 12. 19 Michael Diers, „Der Fetisch und sein (Kunst-)Charakter in Michel­ angelo Antonionis ,Blow-up‘“, in: Böhme/Endres (Hg.), Der Code der Leidenschaften (Anm. 18), S. 270. 20 Andrea Polaschegg, „Moses in Wonderland oder warum Literatur (nicht) fetischierbar ist“, in: Böhme/Endres (Hg.), Der Code der Leidenschaften (Anm. 18), S. 73. 21 Rebecca Casati, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 41/2010, S. 20. 22 Mark Butler, „Das Rauschen der Fetische. Populäre Stilisierung des Selbst“, in: Böhme/Endres (Hg.), Der Code der Leidenschaften (Anm. 18), S. 179. 23 Vgl. Butler, Das Rauschen der Fetische (Anm. 22), S. 185 ff. 24 Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006, S. 370. 25 Böhme, Fetischismus und Kultur (Anm. 24), S. 487. 26 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen (Anm. 5), S. 79. 27 Polaschegg, Moses in Wonderland (Anm. 20), S. 73.



Bedeutung und Interpretation

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Claus Dreyer

Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen Auch wenn immer wieder die Rede davon ist, dass Architekten, Bauherren oder Institutionen sich mit Gebäuden ein Zeichen setzen wollen, kann man im engeren Sinne nicht sagen, dass es architektonische Zeichen gibt, von denen man beliebigen Gebrauch machen könnte, sondern nur, dass es möglich ist, Architektur auf theoretischer Basis als Zeichen zu konzipieren, zu beschreiben, zu analysieren und zu interpretieren. Architektonische Zeichen werden in theoretischer Absicht gemacht: konstituiert, konstruiert, gesetzt oder eingeführt. „Zeichen ist alles, was zum Zeichen erklärt wird, und nur, was zum Zeichen erklärt wird“,1 und damit wird vorausgesetzt, dass es eine theoretisch fundierte Absicht gibt, ein Etwas als ein Zeichen zu konzipieren, zu betrachten oder zu untersuchen. Architektonische Etwasse, die zum Zeichen erklärt werden können, sind vielfältiger Art: Gebäude, Bauelemente, Ornamente und Dekorationen, Farben und Materialien, technische und konstruktive Elemente, Gebäude- und Raumkonfigurationen, Straßen, Plätze, Parks und Gärten, Denkmale, Stadtgestalten.2 Die Liste wird immer unvollständig sein, weil sie von der jeweiligen Betrachtungs- und Untersuchungsperspektive abhängig ist und in theoretischer Absicht jederzeit erweitert oder verengt werden kann. Auch bei den Zeichentheorien steht eine Vielfalt von Methoden zur Verfügung,3 die entweder in reiner oder vermischter Form zur Anwendung kommen können; meistens wird von einem mehr oder minder reflektierten Methodenmix Gebrauch ge-

Claus Dreyer Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen

macht. Dass architektonische Zeichen auch in praktischer Absicht konstituiert und realisiert werden können, etwa im architektonischen Entwurfsprozess, steht außer Frage und wird im Folgenden ausführlicher erörtert. Nach unserer Auffassung ist das allerdings nur auf der angedeuteten theoretischen Basis zu verstehen und zu rekonstruieren. In der folgenden Darstellung wird von einer auf Charles S. Peirce beruhenden, aber durch die Modifikationen von Max Bense und Umberto Eco beeinflussten semiotischen Basistheorie ausgegangen.4 Danach wird angenommen, dass unsere Wahrnehmung und Erkenntnis von Welt und Wirklichkeit als ein zeichenvermittelter Prozess zu beschreiben und zu verstehen ist und dass das Denken größtenteils darin besteht, Zeichen, Zeichenverknüpfungen und -prozesse zu identifizieren, zu analysieren und zu interpretieren. Wahrnehmen, Denken und Erkennen finden in einem kommunikativen Raum statt, der sozial, kulturell und historisch vielfältig geprägt und durch die neueren Kommunikationsmedien komplex strukturiert ist. Jede Zeichenkonstitution und Zeicheninterpretation wird durch die Gefüge und Vernetzungen dieses Kommunikationsraums vorbestimmt und präfiguriert, und in der semiotischen Arbeit ist es eine der Hauptaufgaben, diese Voraussetzungen und deren Implikationen aufzuzeigen und zu analysieren. Der hier so genannte kommunikative Raum ist keineswegs statisch, sondern in ständiger Veränderung und Entwicklung begriffen, und der Zeichenproduzent, der Betrachter und der Interpret sind nicht unabhängig davon, sondern Teile dieses Gefüges, so dass ihre Aktionen, Analysen und Interpretationen selbst in diesem Raum interagieren. Architektonische Kommunikation Auf der Basis informationsund nachrichtentheoretischer Ansätze wird davon ausgegangen, dass sich Kommunikation idealerweise in folgendem vereinfachten Schema darstellen lässt:5

Sender –› Kanal (Medien/Zeichen) –› Empfänger

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Demnach beruht Kommunikation darauf, dass ein Sender (Individuum, Gruppe, Institution) über einen Kanal (optische oder akustische Medien wie Texte, Bilder, Töne, Gesten, architektonische Gebilde) einem Empfänger (Individuum, Gruppe, Institution) eine in entsprechenden Zeichen geformte und eventuell verschlüsselte (codierte) Botschaft (Nachricht, Information) übermittelt und darüber im idealen Falle eine Rückmeldung erhält, die den Prozess erneut in Gang setzt und optimiert. In der Übertragung auf die Architektur nimmt das Schema folgende Form an: Architekt –› Architektur –› Nutzer/Interpret Wenn hier der Architekt als Sender der architektonischen Botschaft angenommen wird, entspricht das einer konventionellen Sichtweise, die aber tatsächlich selten zutrifft. Die meisten architektonischen Gebilde entstehen auf Initiative von individuellen, kommerziellen oder institutionellen Auftraggebern, deren explizite oder implizite Botschaften der Architekt in seinem Entwurf in architektonische Zeichen übersetzt oder codiert, wobei selbstverständlich vielfältige außersemiotische Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen (Konstruktion, Technik, Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit, Vorschriften und Gesetze etc.). Immerhin ist an dieser Stelle des architektonischen Prozesses der Spielraum für den gestalterischen Eingriff des Architekten am größten. Bei der Übersetzung der Botschaft des Auftraggebers6 in architektonische Zeichen kann die persönliche Sprache des Architekten (oft als seine Handschrift bezeichnet) zum Zuge kommen, die aus dem von ihm präferierten Zeichensystem besteht oder sogar neuartige experimentelle Zeichengestalten präsentiert. Oft werden von anspruchsvollen Auftraggebern oder bei besonders anspruchsvollen Bauaufgaben gerade solche Architekten gesucht und beauftragt, die über eine ausgeprägt eigene Sprache und Sprachkompetenz verfügen, um die vom Auftraggeber beabsichtigte Botschaft prägnant auszudrücken oder überhaupt erst in eine präzise und artikulierbare Form zu bringen.7 Dabei ist die dem Architekten

Claus Dreyer Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen

zur Verfügung stehende Zeichensprache selten völlig autonom und originär. Sie entsteht im Prozess der Bildung und Ausbildung, wird durch die berufliche Praxis entscheidend geprägt und findet im ständigen wechselseitigen Austausch mit dem beruflichen Umfeld eine kulturelle und soziale Prägung, die sie in ein dynamisches Gefüge von sich entwickelnder Welt und Wirklichkeit einbettet oder sich dem gerade zu entziehen versucht. Man kann diese Dynamik als einen autonomen Prozess verstehen, der sich in einem unabhängigen Architektursystem abspielt,8 oder als einen in den sozialen Wandel und die kulturelle Evolution integrierten Prozess, der dazu führt, dass sich in der jeweiligen Architektur über die Vermittlung der Architekten und ihrer Sprachen die Gesellschaft eine jeweilige gebaute Gestalt und Struktur gibt.9 Der Interpret architektonischer Zeichen wird zunächst primär der Nutzer von Architektur sein, der sich durch Wahrnehmung, Gebrauch und Reflexion die architektonische Umwelt aneignet, die für sein privates oder öffentliches Leben den erforderlichen räumlichen Rahmen bietet. Dabei sind Wahrnehmung ‹––› Gebrauch ‹––› Reflexion drei Stufen der Aneignung, die aufeinander aufbauen und idealerweise zu einem umfassenden Verständnis von Architektur führen. Tatsächlich bleibt die Aneignung von Architektur oft auf eine der Stufen beschränkt, und es haben sich Differenzierungen und Spezialisierungen für jede Aneignungsform herausgebildet. Die Wahrnehmung von Architektur findet vielleicht am weitesten im sozialen Umfeld von Öffentlichkeit statt. Sie betrifft alle, die einen Grund zum Umgang mit Architektur haben – Bewohner, Benutzer, Besucher, Touristen, Investoren; aber auch das „interesselose Wohlgefallen“ des Flaneurs10 ist hier involviert. Jeder Akteur verfügt über eigene Perspektiven, Muster und Formen der Wahrnehmung, die so stark voneinander abweichen können, dass dasselbe Gebäude aus verschiedenen Akteursperspektiven als etwas völlig anderes erscheint.11 Der Gebrauch von Architektur betrifft bereits einen begrenz-

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teren Kreis von Akteuren, da er eine direkte Beziehung zum architektonischen Objekt voraussetzt und eine praktische oder habituelle Komponente beinhaltet: Bewohner, Bewirtschafter, Dienstleister, Erlebnishungrige, Verkäufer usw. (den ‚geistigen Gebrauch‘ reservieren wir für die nächste Aneignungsform). Auch hier gibt es erhebliche Unterschiede in den Arten des Gebrauchs, die zwischen instrumentellen, technischen, ökonomischen, emotionalen und anderen Zugängen changieren, oft von Nutzungsänderungen und -wandlungen überlagert werden und zu entsprechend unterschiedlichen Deutungen führen. Die Reflexion stellt in dieser Darstellung die Ebene der geistigen Aneignung dar, die zwar im Prinzip auf jeder Stufe möglich ist, aber tatsächlich eher fachlich interessierten und vorgebildeten Personen vorbehalten bleibt: Journalisten, Wissenschaftlern, Denkmalschützern und natürlich den Architekten selbst, soweit sie einen gewissen Grad der Professionalisierung erreicht haben.12 Auf dieser Ebene wird die Botschaft von Architektur so analysiert und interpretiert, dass sie prägnant formuliert und über entsprechende Medien in den Prozess architektonischer Kommunikation eingeführt und rückgekoppelt werden kann. Über Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, audiovisuelle und Onlinemedien finden diese Reflexionen ihren Weg zum breiteren Publikum und vor allem auch in den fachlichen Bereich von Bildung, Lehre und Forschung, von wo aus der Prozess architektonischer Kommunikation erneut in Gang gesetzt und in Bewegung gehalten werden kann.13 Architektonische Zeichen Die architektonische Kommunika-

tion wird, so wurde oben gesagt, über architektonische Zeichen vermittelt, die über einen geeigneten Kanal und entsprechende Medien zwischen Sendern und Empfängern die architektonischen Botschaften übertragen und vermitteln. Dabei wird hier als Kanal hauptsächlich das physisch-materielle Substrat der Architektur selbst angesehen, das als Zeichenträger fungiert und über alle Formen der Wahrnehmung, des Gebrauchs und der Reflexion perzipiert und begriffen werden kann.14 Wie eingangs

Claus Dreyer Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen

›––‹

‹––›

erwähnt, setzt die Identifikation von Zeichen am architektonischen Zeichenträger eine theoretische Einstellung voraus, die aus der Vielfalt der wahrnehmbaren Phänomene eine Auswahl trifft und sie als Zeichen analysiert und interpretiert. In Anlehnung an die Zeichentheorie von Peirce und Bense15 gehen wir von einem allgemeinen Zeichenkonzept aus, das triadisch konfiguriert ist:16 Mittel Objekt ‹––› Interpretant Diese Konfiguration soll besagen, dass ein Zeichen dadurch entsteht, dass über geeignete Mittel Bezug auf ein bezeichnetes Objekt genommen wird und dadurch ein „Angebot zur Interpretation“ durch einen Interpretanten erzeugt wird. Jedes Zeichen besteht in solchen triadischen Relationen, die im Umgang mit Zeichen analysiert oder konstituiert werden müssen. Für die Architektur lässt sich mit Hilfe von Christian Norberg-Schulz und Eco17 dieses Zeichenkonzept so konkretisieren, dass es auf architektonische Phänomene vielfältiger Art anwendbar ist.18 Die Mittel, mit denen architektonische Zeichen realisiert werden, finden sich in der Gesamtheit dessen, was als architektonische Form bezeichnet werden kann: Material, Konstruktion, Gestalt, Pattern, Farbe, Ornament etc. Dabei können die formalen Mittel einfach oder zusammengesetzt sein und vom kleinsten Detail bis zur Großform und zu urbanistischen Komplexen gehen.19 Die Mittel verändern und erweitern sich stetig und müssen deshalb immer neu bestimmt und charakterisiert werden. Die Objekte, die mit den formalen Mitteln bezeichnet werden können, sind vor allem die vielfältigen Funktionen, die Architektur erfüllen kann – und durch die sie von der bildenden Kunst unterschieden wird  –, und die praktische, emotionale, politische, ökonomische, geistige und spirituelle Komponenten beinhalten. Monofunktionalität ist dabei die Ausnahme, in den meisten Fällen liegt ein polyfunktionaler Objektbezug

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vor, der in der Analyse oder Konstituierung zu klären ist. Eine eindeutige Beziehung zwischen den formalen Mitteln und den bezeichneten Objekten ist selten und kommt nur in geschlossenen Bedeutungssystemen vor, zum Beispiel im historischen Sakralbau. Meistens ist die Beziehung mehrdeutig und betrifft verschiedene funktionale Komponenten. Eine besondere Rolle spielt der Bezeichnungswandel,20 der im historischen Prozess oder in der sozio-kulturellen Dynamik begründet sein kann, zum Beispiel im Stilwechsel. Darauf wird weiter unten bei den architektonischen Codes näher eingegangen. Als Interpretanten werden die Angebote zur Interpretation verstanden, welche die mit formalen Mitteln bezeichneten Objekte beim Rezipienten durch Wahrnehmung, Gebrauch oder Reflexion erzeugen und die in der Regel neue Zeichen sein werden: Bilder, Begriffe, Narrative, Konzepte, Handlungen, Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Rituale. In theoretischer Hinsicht gebührt der begrifflichen und argumentativen Interpretation ein gewisser Vorrang, weil sie dem klassischen Konzept von Bedeutung und seiner semiotischen Fassung am ehesten entspricht.21 Damit erhält das abstrakte semiotische Zeichenkonzept in architektonischer Formulierung die folgende Form:

›––‹



‹––›

Form Architektur

Funktion ‹––› Interpretation

Bedeutung

Dieses Schema kann so gelesen werden, dass mit architektonischen Formen die vielfältigen Funktionen der Architektur so bezeichnet werden, dass sie in Interpretationsprozessen Bedeutungen generieren, die ihrerseits immer wieder erneuten semiotischen Operationen unterzogen werden können und neue Bedeutungen generieren. Der Prozess der Interpretation ist im Prinzip unendlich.22 Von besonderem Interesse sind die Fälle des Bedeutungswandels, die durch Re- oder Neuinterpretationen von signifikanter Architektur im historischen Prozess oder im kulturellen Umbruch entstehen und die zu komplexen

Claus Dreyer Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen

Bedeutungsschichten führen können, die einer eingehenden Analyse bedürfen.23 In dem von uns zugrunde gelegten semiotischen Ansatz betrifft die triadische Konfiguration des abstrakten Zeichens24 auch die drei Pole des architektonisch konkretisierten Zeichens. Die formalen Mittel können in drei grundsätzlich kategorial verschiedene Arten gegliedert werden, mit denen die Funktio­nen auf drei verschiedene Weisen bezeichnet und die Bedeutungen/Interpretationen auf drei unterschiedliche Arten generiert werden können. Die schon von Peirce entwickelte und von Bense und teilweise von Eco weitergeführte Terminologie25 wird auch von uns verwendet und beispielhaft architektonisch interpretiert. Die formalen Mittel werden folgendermaßen gegliedert: Qualitäten (Qualizeichen): Material, Textur, Farbe, Grundformen, Gestalten Singularitäten (Sinzeichen): spezielle Erscheinungen und Ausbildungen der Qualitäten Regelhafte Gebilde (Legizeichen): Strukturen, Typologien, Patterns, Ornamente, Stile, Codes, Programme Die Arten, wie die formalen Mittel die Funktionen (Objekte) bezeichnen können, werden so gegliedert: Ähnlichkeit, Abbildung (Icon): Diese Beziehung ist in der Architektur eher selten, lässt sich aber in der architecture parlante, der radikalen Postmoderne und der gegenwärtigen Konsum- und Eventarchitektur nachweisen Verweis, Hinweis, direkte Verbindung, Kausalität (Index): Funktionalismus, Dekonstruktivismus, Parametrizismus Konvention, Vereinbarung, kulturelle Kontextualität (symbol): klassische Architektur, Postmoderne, kulturelles Welterbe Auch die Weisen, wie die Bedeutungen (Interpretanten) der bezeichneten Objekte generiert werden können, werden triadisch gegliedert:26

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Emotionaler Interpretant (Rhema): Wahrnehmung, Gefühl, Stimmung, Atmosphäre Energetischer Interpretant (Dicent): Gebrauch, Verhalten, Nutzung Logischer Interpretant (Argument): Gedanken, Reflexion, Bewertung, Kritik Um die Bedeutung eines architektonischen Zeichens zu ermitteln, müssten idealerweise von jedem der drei Zeichenpole die dominierenden Aspekte ermittelt und in einem Argument synthetisiert werden. In der praktischen Anwendung zeigen sich immer vielfältige Verbindungen, Überlagerungen und Zusammensetzungen zwischen den einzelnen Zeichenaspekten, die der Interpretation weite Spielräume geben und die deshalb immer wieder neu überprüft, korrigiert und verbessert werden müssen. Eine endgültige Interpretation gibt es nur als Ideal in the long run der konkurrierenden Versionen, aber als regulatives Prinzip kann sie das Bemühen um die richtige Deutung leiten.27 Wie oben gesagt, können architektonische Zeichen vom winzigen Detail bis zu komplexen Großformen und urbanistischen Gebilden bestimmt, analysiert und interpretiert werden. Für eine umfassende Interpretation ist es daher nötig, die einzelnen Bedeutungsaspekte zusammenzuführen und zu einer Synthese zu bringen. Dabei können die Einzelinterpretationen noch einmal geprüft und korrigiert werden; manchmal erscheinen sie im größeren Zusammenhang in einem neuen Licht. Man wird dabei auch versuchen, Anschluss an größere kunst-, kultur- und sozialtheoretische Diskurse28 zu finden, denn Architektur steht mit allen diesen Bereichen in einem so engen Zusammenhang, dass ihre Bedeutung davon erheblich mitbestimmt wird. Das Ergebnis eines solchen synthetischen Interpretierens,29 das zu übergreifenden theoretischen Konzeptionen führt, würde dem entsprechen, was man den Sinn von Architektur nennen kann: eine auf Einzelinterpretationen im fachübergreifenden Zusammenhang beruhende Gesamtwürdigung eines architektonischen Gebildes.

Claus Dreyer Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen

Eine besondere Rolle unter den architektonischen Zeichen spielen die Symbole, die in der Terminologie von Peirce eine besondere Art des Objektbezugs bezeichnen. Symbole sind demnach Zeichen, die von ihrem Objekt – das wir als die vielfältigen Funktionen von Architektur bestimmt hatten – zunächst völlig unabhängig sind und es erst aufgrund von Konventionen, Gewohnheiten oder Traditionen bezeichnen und die damit eine besonders enge Verbindung mit ihrem Objekt eingehen. Sie erzeugen beim Rezipienten vorwiegend logische Interpretanten, also Gedanken, Ideen, Erkenntnisse und Urteile. Aber auch ritua­lisiertes oder kultisches Verhalten sowie besonders herausgehobene Stimmungen und Gefühle werden durch sie ausgelöst und befördert. Architektonische Symbole sind sichtbare, nutzbare und interpretierbare räumliche Gebilde, die durch ihre Form solche Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen stimulieren, die in sozialen und kulturellen Zusammenhängen fest verankert und teilweise für sie konstitutiv sind: Werte, Erfahrungen, Wissensbestände, Erinnerungen, politische und religiöse Überzeugungen, Utopien.30 Symbole können nicht gemacht oder entworfen werden, sondern sie entstehen im historischen Verlauf und der kulturellen Entwicklung und Selbstverständigung einer Gesellschaft. Es ist aber durchaus möglich, dass ein spezielles Gebäude für einen bestimmten und begrenzten Zweck im Prozess der sozialen und kulturellen Aneignung zu einem Symbol wird, welches das Lebensgefühl einer Epoche oder den genius loci eines Ortes zum Ausdruck bringt.31 Aber ebenso ist es möglich, dass Konventionen und Traditionen vergessen werden oder ihre Bindungskraft verlieren und damit der symbolischen Architektur ihre Bedeutung abhanden kommt und sie entweder umgenutzt, umgebaut oder vernichtet wird.32 Die Identifikation, Beschreibung und Interpretation von architektonischen Symbolen sind daher wichtige Aufgaben der Architekturtheorie, weil sie zur Erhaltung und zur Förderung unserer Kultur wesentlich beitragen.

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Architektonische Codes Als Codes werden in der Semio­ tik

spezielle und im Prinzip geschlossene Zeichensysteme bezeichnet, die für ein begrenztes Zeichenrepertoire eine feste Korrelation zwischen einzelnen Zeichen und bestimmten Bedeutungen aufweisen und die auf strikten Regeln oder etablierten Konventionen beruhen. Ursprünglich für nachrichtentechnisch optimierte künstliche Sprachen33 eingeführt, hat der Begriff eine immense Ausweitung erfahren. Er erstreckt sich auf nahezu alle Vorkommen von Zeichen und wird gelegentlich so weit verstanden, dass Zeichen überhaupt nur in Beziehung zu den Codes, zu denen sie aufgrund ihrer Beschaffenheit gehören, und denjenigen, mit denen sie wahrgenommen und interpretiert werden, verstanden werden können.34 Von verschiedenen Semiotikern werden Codes unterschiedlich definiert und bewertet. Die Abgrenzung zwischen verschiedenen Codes erweist sich als schwierig, und die Übergänge sind fließend.35 Aus unserer Sicht, die auch von vielen Architekturtheoretikern geteilt wird,36 ist es nicht nötig, für architektonische Codes eine universelle Gültigkeit zu beanspruchen, sondern es genügt, sie für einen bestimmten Untersuchungsgegenstand wie Einzelobjekt, Ensemble, ‚Schule‘, Epoche, Region oder Persönlichkeit zu bestimmen oder zu definieren und möglichst viele Übereinstimmungen im zugehörigen Untersuchungsfeld zu finden und aufzuzeigen. Dabei wird man übergreifende Zusammenhänge und dauerhafte Bedeutungsrelationen finden,37 aber auch viele nur vorübergehende Korrelationen, die sich verschieben, manchmal auflösen und neu formieren. Die Zugehörigkeit der Zeichen zu einem bestimmten Code wird per se als bedeutungshaltig angesehen, und die Codekonstitution und der Codewandel sind ein zentrales Thema in der semiotischen Beschäftigung innerhalb der Architekturtheorie.38 Neben den grundlegenden Unterscheidungen zwischen Entwurfs- und Lesecodes39 lassen sich in der Architektur formale, funktionale, typologische, technologische, soziale, kulturelle, historische, regionale, mediale, programmatische, personale und weitere Codes differenzieren und analysieren, die auf verschiedenen Ebenen angesie-

Claus Dreyer Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen

delt sind40 und vielfach miteinander vermischt auftauchen. Im Folgenden sollen einige Codes genauer betrachtet und beispielhaft verdeutlicht werden. Formale Codes werden dadurch konstituiert, dass die formalen Elemente eines bestimmten architektonischen Gebildes als zugehörig zu einer möglichst großen Menge von ähnlichen Elementen bei möglichst vielen anderen architektonischen Gebilden derselben Art, Gattung, Periode, Region oder ‚Schule‘ usw. bestimmt werden können. Das Kriterium der Zugehörigkeit ist die formale Ähnlichkeit der Elemente untereinander, die von kleinen Details bis zu Großformen gehen kann und an Deutlichkeit gewinnt, wenn sie sich von anderen kontrastierenden Formen absetzen lässt. Neben der Ähnlichkeit spielen Regeln zur Kombination und Komposition der Elemente miteinander eine große Rolle, die mehr oder minder prägnant ausgeprägt sein können, aber den Produkten der Codierungsprozesse erst ihre signifikante Gestalt geben.41 Aus der Fülle der formalen Codes, die gegenwärtig beobachtet werden können, seien beispielhaft die folgenden genannt: historistisch, traditionalistisch, regionalistisch, modernistisch, avantgardistisch, populistisch, kommerziell (branding), naturalistisch-organizistisch, technologisch (high-tech) oder individualistisch. Diese Codes bestehen gleichzeitig nebeneinander, in der Anwendung konkurrieren sie untereinander, aber sie können auch vermischt und miteinander kombiniert werden.42 Funktionale Codes ergeben sich aus Nutzungstypologien und entstehen durch die feste Zuordnung von Formen zu bestimmten Funktionen, die vor allem im praktischen Gebrauch der Architektur liegen. Im idealen Fall wäre das Kriterium hier die Übereinstimmung von Form und Funktion, wie sie im Funktionalismus der klassischen Moderne angestrebt oder zumindest propagiert wurde.43 Als Maxime für die gelungene architektonische Gestaltung hat dieses Kriterium bis ins späte zwanzigste Jahrhundert Gültigkeit behalten und taucht auch in der Gegenwart immer wieder auf. Aber mit der Veränderung der klassischen Gebrauchsfunktionen, nicht zuletzt durch die „digitale

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Revolution“, haben sich die Möglichkeiten zur Verwendung oder Etablierung funktionaler Codes abgeschwächt und werden sich weiterhin verändern. Es erscheint allerdings durchaus möglich, für folgende Funktionsbereiche architektonische Codes zu identifizieren: Büro/Verwaltung, Wohnen, Industrie/ Produktion, Verkauf/Konsum, Sport/Verkehr, Kultur/Unterhaltung.44 Doch die Tendenz zur völligen Ablösung der ehemals funktionalen Codes von ihren Funktionen und ihre Beschränkung auf ‚reine‘ Zweckbauten ist ebenso unübersehbar wie die Zunahme der Verwendung ‚rein‘ formaler Codes für beliebige Zwecke. Um so wichtiger erscheint mir die Analyse und Beschreibung der jeweiligen Codierungen bei herausragenden Gebäuden und Ensembles.45 Soziale Codes werden so verstanden, dass sich in bestimmten architektonischen Formen bestimmte soziale Gruppen, Hierarchien, Milieus oder auch Prozesse ausdrücken oder repräsentieren lassen.46 Das Kriterium wäre die Entsprechung von Formen und sozialen Elementen, die bei einer gewissen Konstanz als Code erscheinen. Mit dem Wandel der gesellschaftlichen Strukturen wandeln sich auch die sozialen Codes und die Beziehungen zu den repräsentierten Gruppen, und durch die Globalisierung und die damit zusammenhängenden Migrations- und Pluralisierungsprozesse wird dieser Vorgang noch verstärkt.47 Obwohl die Beschäftigung mit den sozialen Codes der Architektur eher eine analytischkritische Funktion hat, ist ihr Einfluss auf die Verkörperung von Distinktion, Prestige, Macht und Utopien nicht zu unterschätzen.48 Während in früheren Epochen die Herrschaftsoder sogar ‚Revolutionsarchitektur‘49 über etablierte oder auch erst im Nachhinein rekonstruierte Codes verfügte, stellen sich heutige politische und ökonomische Machtfaktoren entweder viel subtiler oder auch umgekehrt durchaus plakativer dar.50 Beispiele für soziale Codes lassen sich eher in Polaritäten formulieren: elitär – populistisch, homogen – multikulturell, urban – regionalistisch, Hochkultur – Kommerzkultur, Luxus – Alltag. Eine präzise Beschreibung kann nur im konkreten Fall

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gegeben werden, da in unserer egalitären Gesellschaft soziale Codes eigentlich verpönt sind und nur im Bereich ökonomischer Machtdarstellung unbefragt hingenommen werden.51 Wie bereits gesagt, treten die architektonischen Codes nur in der Analyse in ‚reiner‘ Form auf. In der Realität sind sie vielfältig miteinander vermischt und aufeinander bezogen. Formale Codes interferieren mit funktionalen Codes und generieren soziale Codes. Die gleichen Formen können in den verschiedenen Codes unterschiedliche Bedeutungen haben, die erst in einer genaueren Analyse geklärt und in einer anschließenden Interpretation synthetisiert werden können. In jüngerer Zeit sind dabei folgende Codierungsstrategien entwickelt worden, die sowohl analytisch als auch praktisch verwendet werden können. Charles Jencks hat im Zusammenhang mit seinem Buch Die Sprache der postmodernen Architektur52 als Kriterium für postmoderne Architektur das Vorhandensein einer doppelten Codierung53 bestimmt. Dabei geht es ihm vor allem darum, dass in der postmodernen pluralisierten und multikulturellen Gesellschaft solche Architekturen erfolgreich sind und verstanden werden können, die aus einer Mischung von elitären Codes der Hoch- und Expertenkultur sowie populären und konventio­ nellen Codes der Massenkultur bestehen und damit ein breites Publikum ansprechen. Die kreative Synthese solcher Codierungen führt zu komplexen Gebilden, die unterschiedliche Lesarten für unterschiedliche Rezipienten anbieten und damit in verschiedene soziale Diskurse eingebettet werden können. Eine ähnliche, aber etwas anders pointierte Codierungsstrategie beschreibt Wolfgang Welsch in seinem Buch Unsere postmoderne Moderne,54 worin er das Konzept einer pluralen oder Mehrfachcodierung entwickelt, das stark in Analogie zur Mehrsprachigkeit der Kommunikation in einer multikulturellen Gesellschaft steht. Damit reagiert Welsch auf den sozialen und kulturellen Wandel, der infolge der Globalisierung weite Teile der Welt erfasst hat und neue Formen der Kommunikation erfordert, auch von der Architektur. Gegen die Tendenz zur Vereinheitlichung55 stellt er die Forderung nach komplexer

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Mehrsprachigkeit der Architektur, in der sich verschiedene kulturelle Zugehörigkeiten, Lebensweisen, Weltansichten und Wertvorstellungen ausdrücken können.56 Dabei geht es nicht mehr nur um die Mischung von elitären und populären Codes, sondern um die Überlagerung von möglichst vielen heterogenen Codes und Subcodes, die der gesellschaftlichen Vielschichtigkeit gerecht werden können.57 Die entscheidende Aufgabe für den Architekten ist es, die verschiedenen Codes so zu synthetisieren und zu harmonisieren, dass aus dem formensprachlichen Durcheinander ein gestaltetes Miteinander wird, das zur Kommunikation und Verständigung befähigt. In Patrik Schumachers Buch The Autopoiesis of Architecture wird der Prozess der Codierung zu einem zentralen Thema für das architektonische Entwerfen gemacht.58 Dabei sieht Schumacher in den Fundamentalcodes von Schönheit und Nützlichkeit die wesentlichen Prinzipien für die architektonische Gestaltung.59 Diese Codes werden operationalisiert von den Stilen der Architektur, die er durchaus in der Abfolge der historischen Stile begründet sieht und deren Fortsetzung er in Gegenwart und Zukunft als notwendig für die Evolution der Architektur ansieht.60 Als Stil versteht er nicht nur eine bestimmte Menge von formalen Elementen und Mustern, sondern auch bestimmte Praktiken, Regeln und Programme, mit denen eine besondere Beziehung zwischen Formen und Funktionen der architektonischen Produkte erzeugt wird. Stile sind aktiv, wenn sie in der aktuellen architektonischen Produktion und Kommunikation eine Rolle spielen und zu Innovationen führen, und sie sind passiv, wenn sie nur eine historische oder konventionelle Bedeutung haben.61 Aktuelle Stile, insbesondere ‚Avantgardestile‘, werden als ‚Forschungsprogramme‘ für die architektonische Entwurfs- und Gestaltungsforschung betrachtet, mit denen aus vorgegebenen Repertoires, Regeln und Praktiken neue Form-Funktion-Beziehungen gesucht und experimentell oder praktisch erprobt werden können.62 In seiner Arbeit plädiert Schumacher für einen neuen universalen Architekturstil, den er als ein Ergebnis der digitalen Wende in der Architektur ansieht

Claus Dreyer Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen

und der von den aus seiner Sicht progressiven Architekten weltweit praktiziert wird: den Parametrizismus.63 Hierunter versteht er einen computergenerierten Stil, in dem mit Hilfe geeigneter Programme alle Elementarformen weich, adaptiv, fließend und verformbar gehalten und alle Elementarfunktionen dynamisch, interaktiv und vernetzt definiert werden, um dann nach entsprechender Parametrisierung im digitalen Entwurfs- und Gestaltungsprozess durch Variation, Modulation, Figuration usw. optimal miteinander verbunden zu werden.64 Durch die innige Korrelation von formalen und funktionalen Parametern führt der digitale Entwurfsprozess zu Ergebnissen, die wie Blasen, Schalen, Skelette oder andere organische Gebilde aussehen und komplexe Bedeutungen transportieren. Schumacher sieht es als zentrales Ziel des Parametrizismus an, „die zunehmende Unterschiedlichkeit und Komplexität der sozialen Institutionen und Lebensprozesse in den fortschrittlichsten Bereichen der postfordistischen Netzwerkgesellschaft zu organisieren und zu artikulieren“.65 Die gegenwärtig weltweite Akzeptanz der parametrizistischen Architektur könnte darauf hindeuten, dass diese Botschaft verstanden und geschätzt wird. Eine wichtige Aufgabe hat Schumacher der Semiotik im weiter zu entwickelnden parametrizistischen Entwurfs­ programm zugedacht. Sie soll die stilistisch relevante Formensprache so parametrisieren, dass sie in den digitalen Entwurfsprozess einbezogen und zusammen mit den Funktionsparametern zu „Patterns kommunikativer Interaktion“ verknüpft werden kann, die dann einer kumulativen Variation und Optimierung unterzogen werden.66 „Die Bedeutung von Architektur, der zu erwartende Lebensprozess, den sie umrahmt und unterstützt, kann im Entwurfsprozess modelliert und bewertet und so zu einem direkten Gegenstand kreativer Spekulation werden.“67 Wie weit die Semiotik den Prozess der Parametrisierung der Zeichen leisten kann, bleibt abzuwarten, aber als spekulatives Programm scheint er durchaus attraktiv.68

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Unter Berücksichtigung auch der oben angeführten Codierungsstrategien kann man den Prozess des architektonischen Entwerfens als einen Vorgang der Zeichengenerierung, als Semiose verstehen, der in vereinfachter Weise schematisch folgendermaßen dargestellt werden kann: Programm / Funktion Codierung / Stil

Form / Zeichen

Rezeption / Interpretation 2

Bedeutung / Interpretation 1

Architektonisches Entwerfen ist demnach ein Prozess, bei dem ein vorgegebenes Programm, das die vielfältigen Funktionen des zu entwerfenden Bauwerks definiert, einer eingehenden Bedeutungsanalyse und Interpretation (1) durch den Entwerfer unterzogen wird, der daraufhin einen geeigneten architektonischen Code oder Stil wählt, um dem Entwurf eine angemessene Form zu geben, die vom Rezipienten als Zeichen gedeutet und mit einer eigenen Interpretation (2) versehen werden kann. Dabei würden durch ständige kreative Variation, Selektion und Innovation der Codes, aber auch durch immer wieder neue connotative symbolische EXPRESSION CONTENT level konnotative Bedeutung Interpretationen von alten und neuen Funktionen, ganz neue formale Gebilde entstehen, die zu neuen Zeichen und Stilen führen können und neu interpretiert werden müssten.69 Die denotative funktionale expression content Digitalisierung des Entwerfens hat diesen Prozess längst angelevel denotative Bedeutung stoßen und könnte ihn in Zukunft erheblich beschleunigen. Semiotik und Baukultur Die hier vorgestellten Überlegungen

zur Bedeutung von Architektur auf semiotischer Grundlage können in einem größeren Zusammenhang mit dem Thema der Baukultur betrachtet werden.70 Wie dargestellt, spielen architektonische Symbole dabei eine besondere Rolle: Sie bezeichnen mit konventionalisierten oder fest codifizierten Formen solche Funktionen, die für eine Gesellschaft im Laufe ihrer kulturellen

Claus Dreyer Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen

Entwicklung eine prägende Kraft entwickelt haben und die bei den Interpreten solche Wissensbestände und Wertvorstellungen aktivieren, die einer sozialen Kultur ihr Gepräge geben.71 Die Kenntnis und das Verständnis von Architektur als kulturellem Symbol ist eine wichtige Aufgabe für das Bildungswesen im Allgemeinen und die Architekturvermittlung im Besonderen. Neben der Bewahrung des kulturellen Erbes geht es hier aber auch darum, die Entstehung neuer architektonischer Symbole zu unterstützen, die nicht willkürlich erfunden werden können, sondern sich erst aus einem kulturellen Kommunikations- und Verständigungsprozess herausbilden. Dieser Aspekt steht in engem Zusammenhang mit der Bedeutung von Architektur als „Medium des Sozialen“.72 Aufgrund der komplexen Einbindung von Architektur in vielfältige soziale Prozesse, die ökonomische, technologische, juristische, politische und kulturelle Bereiche umfassen, fließen sowohl in die Produktion wie auch in die Rezeption von Architektur so viele soziale Faktoren ein, dass man sie sowohl unter dem Aspekt des Ausdrucks gesellschaftlicher Kräfte und Mächte, als auch unter dem Aspekt des Formens von und Wirkens auf Gesellschaft betrachten kann. Als Medium der gesellschaftlichen Selbstdarstellung, kulturellen Vermittlung und Verständigung, aber auch der Einräumung und Ermöglichung von Lebensprozessen vielfältigster Art leistet Architektur einen wesentlichen Beitrag zum Zustandekommen und Gelingen von Gesellschaft überhaupt. Damit steht wiederum eine weitere Sichtweise in Beziehung, welche die Baukultur mit dem soziokulturellen Fortschritt verknüpft und in ihr eine treibende Kraft für die soziale und kulturelle Evolution sieht. In der Geschichte der Baukunst spielt dieses Motiv spätestens seit der Renaissance eine zentrale Rolle und gewinnt mit dem Aufbruch in die Moderne am Anfang des 20. Jahrhunderts eine dominierende Funktion, wobei auch die gegenwärtige Avantgarde davon durchgehend motiviert ist.73 Die Erfindung und Entwicklung von immer neuen Formen für die Bezeichnung und Erfüllung von immer neuen Funktionen,

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die in ihrem jeweiligen gebauten Ergebnis ‚gelesen‘, genutzt, kommuniziert und verstanden werden sollen, ist eine notwendige Aufgabe der Architektur, die nur geleistet werden kann, wenn sie in einen lebendigen Zusammenhang sozialer und kultureller Kommunikation eingebunden ist. Einige der semio­ tisch relevanten Aspekte dieses Prozesses zu zeigen, war die Intention dieses Beitrags. Anmerkungen 1

Max Bense, Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 10.

2

Vgl. die Liste der Elemente bei Umberto Eco, La struttura assente, Milano 1968, übers. v. Jürgen Trabant, Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 329–330.

3

Vgl. ausführlich Roland Posner u. a. (Hg.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Berlin/New York 1997ff, oder die einführende Darstellung von Daniel Chandler, Semiotics. The Basics, London 2002.

4

Vgl. meinen Überblick: Claus Dreyer, „Semiotische Aspekte der Architekturwissenschaft. Architektursemiotik“, in: Posner u. a., Semiotik (Anm. 3), 3. Teilband, 2003, S. 3234–3278. Zu Peirce siehe vor allem die Textsammlung Charles S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 1–3, hrsg. v. Christian J. Kloesel u. Helmut Pape, Frankfurt/M. 2000, sowie die Einführung von Helmut Pape, Charles S. Peirce. Zur Einführung, Hamburg 2004.

5

Vgl. etwa Siegfried Maser, Grundlagen der allgemeinen Kommunikationstheorie, Stuttgart 1971, S. 11, der sich auf Claude Shannon u. Warren Weaver, The Mathematical Theory of Communication, Urbana/Ill. 1949 bezieht.

6

Die Botschaft des Auftraggebers wird in der Regel in seinem beson­ deren Verständnis der Bauaufgabe zu finden sein; vgl. dazu Chris­ tian Norberg-Schulz, Intentions in Architecture, Oslo 1963, übers. v. Joachim Neugröschel, Logik der Baukunst, Gütersloh 1968, S. 109 ff.

7

Vgl. meine Untersuchung des Bundeskanzleramts von Schultes und Frank in Berlin, in: Claus Dreyer, „Politische Architektur als Bedeu­ tungsträger. Ästhetik und Repräsentation“, in: Wolkenkuckucksheim 1/2001, unter: www.cloud-cuckoo.net.

8

Vgl. Patrik Schumacher, The Autopoiesis of Architecture, Bd. 1, Chichester 2011; Bd. 2, Chichester 2012.

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9

Vgl. Heike Delitz, Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, Frankfurt/M. 2010.

10 Für Walter Benjamin ein Prototyp der Stadtwahrnehmung, z. B. in: Walter Benjamin, „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, in: Walter Benjamin, Illuminationen, ausgewählt v. Siegfried Unseld, Frankfurt/M. 1977, S. 170-184, hier: S. 179–180. 11 Vgl. den Streit um den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs, der von der einen Seite als hochwertiges kultur- und stadtgeschichtli­ ches Symbol, von der anderen Seite als reines Verkehrs- und Zweck­ bauwerk angesehen wird; siehe hierzu Wolfgang Schorlau (Hg.), Stuttgart 21. Die Argumente, Köln 2010. 12 Vgl. Schumacher, The Autopoiesis of Architecture (Anm. 8), der für die Entwicklung neuer Architektur allein die Reflexion der Archi­ tekten und der Architekturexperten (des „Architektursystems“) gelten lassen will, was zur Autopoiesis der Architektur führt. 13 Ob dieser Prozess ein eigenes System im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie hervorbringen kann, bleibt fraglich; Schumacher ist davon überzeugt. Vgl. Schumacher, The Autopoiesis of Architecture (Anm. 8). 14 Auf die im engeren Sinne ,medienvermittelte‘ Architektur kann hier nicht eingegangen werden; siehe dazu z. B. Andreas K. Vetter, „Das wirkliche Bild. Über die Möglichkeit des Konkreten in der Architek­ turfotografie“, in: Wolkenkuckucksheim 1/2009, unter: www.cloudcuckoo.net. 15 Eine kompakte Darstellung gibt Elisabeth Walther, Allgemeine Zeichenlehre. Einführung in die Grundlagen der Semiotik, Stuttgart 1974. 16 Die triadische Konfiguration ist eine Folge der peirceschen Katego­ rienlehre, die alle geistigen Phänomene auf drei Grundkategorien zurückführt (Erstheit, Zweitheit, Drittheit), die von Peirce logisch, ontologisch und metaphysisch begründet werden und die mit den traditionellen Modalitäten Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwen­ digkeit beispielhaft verdeutlicht werden können. Sie sind viel­ fältig iterierbar, tauchen auf allen Ebenen der Zeichentheorie auf und durchziehen das gesamte Werk von Peirce. Auf das komplexe Thema kann hier nicht weiter eingegangen werden. Einblicke geben Charles Sanders Peirce, Über Zeichen, übers. v. E. Walther, Stuttgart 1965, und Charles Sanders Peirce, Vorlesungen über Pragmatismus, übers. v. E. Walther, Hamburg 1973 (Neuausg. Hamburg 1991) sowie Pape, Charles S. Peirce (Anm. 4). 17 Vgl. Norberg-Schulz, Intentions in Architecture (Anm. 6), und Eco, La struttura assente (Anm. 2).

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18 Grundlegend dazu Claus Dreyer, Semiotische Grundlagen der Architekturästhetik, Phil. Diss., Stuttgart 1979, und Claus Dreyer, „Semi­ otische Aspekte der Architekturwissenschaft“ (Anm. 4); hier wird eine Modifizierung der dort entwickelten Konzepte vorgenommen. 19 Abweichend von Norberg-Schulz’ Intentions in Architecture (Anm. 6) und unseren früheren Darstellungen, wird die Konstruktion nur so weit als zeichentheoretisch relevant angesehen, wie sie zur Ausbildung der Form beiträgt. 20 Nicht zu verwechseln mit dem Bedeutungswandel, der Verände­ rungen in der Interpretation betrifft. 21 Vgl. Charles K. Odgen u. Ivor A. Richards, The Meaning of Meaning, London 1923, übers. v. Gert H. Müller, Die Bedeutung der Bedeutung, Frankfurt/M. 1974; Claus Dreyer, „Über das Interpretieren von Architektur“, in: Eduard Führ, Hans Friesen u. Anette Sommer (Hg.), Architektur-Sprache. Buchstäblichkeit, Versprachlichung, Interpretation, Münster 1998, S. 33 – 48; und immer noch grundlegend HansGeorg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960. 22 Vgl. Umberto Eco, I limiti dell’interpretazione, Milano 1990, übers. v. Günter Memmert, Die Grenzen der Interpretation, München 1992 u. 1995. 23 Vgl. z. B. Gert Kähler, Architektur als Symbolverfall, Braunschweig 1981, und sehr originell Edward Hollis, The Secret Lives of Buildings, London 2009, übers. v. Stephan Gebauer, Eine kurze Geschichte des Abendlandes in 12 Bauwerken, Berlin 2010. 24 Vgl. Anm. 16. 25 Vgl. dazu grundlegend Walther, Allgemeine Zeichenlehre (Anm. 15) und in Bezug auf die Architektur Dreyer, Semiotische Grundlagen der Architekturästhetik (Anm. 18). 26 Ich verwende hier eine von vielen Einteilungen der „Interpre­ tanten“, die Peirce in Bezug auf die Wirkung, die ein Zeichen auf den Interpreten ausübt, gegeben hat, und die mir für die Archi­ tekturinterpretation besonders geeignet erscheint; ich folge der Darstellung von Walther, Allgemeine Zeichenlehre (Anm. 15), S. 76. 27 Das korrespondiert mit dem Wahrheitskriterium der „pragmati­ schen Maxime“ von Peirce, nach der Wahrheit als ein Prozess der Meinungsbildung unter Forschern verstanden wird, der erst „in the long run“ zu einem Endergebnis kommen kann; vgl. Charles Sanders Peirce, Wie unsere Ideen zu klären sind [1878], übers. v. G. Wartemberg, in: Charles S. Peirce, Schriften, Bd. I, hrsg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. 1967, S. 326 ff., hier: S. 349.

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28 Eco hatte in diesem Zusammenhang etwas missverständlich von Ideologien gesprochen; vgl. Eco, Einführung in die Semiotik (Anm. 2), S. 307 u. S. 310–311. 29 Vgl. Jost Hermand, Synthetisches Interpretieren, München 1968. 30 Vgl. hierzu ausführlich Norberg-Schulz, Logik der Baukunst (Anm. 6), S. 172ff und aus kulturpsychologischer Sicht Alfred Lorenzer, „Städtebau und Sozialmontage? Zur sozialpsychologischen Funk­ tion von Architektur“, in: Heide Berndt, Alfred Lorenzer u. Klaus Horn (Hg.), Architektur als Ideologie, Frankfurt/M. 1968, S. 51ff, sowie Claus Dreyer, „Architektur als Alltags- oder Hochkultur“, in: Wolkenkuckucksheim 2/2004, unter: www.cloud-cuckoo.net. 31 Wie der Eiffelturm in Paris, der ursprünglich nur für die Weltausstel­ lung 1889 gedacht war. 32 Ein krasses aktuelles Beispiel sind der Teilabriss und die bauliche Verstümmelung des historischen Stuttgarter Hauptbahnhofs von Paul Bonatz aus den zwanziger Jahren. 33 Z. B. der Morsecode. 34 Eco unterscheidet zwischen syntaktischen und semantischen Codes, die ihrerseits vielfältige Untergliederungen aufweisen; vgl. Eco, Einführung in die Semiotik (Anm. 2), S. 325 ff., hier: S. 329. 35 Vgl. Andrea Gleiniger u. Georg Vrachliotis (Hg.), Code. Zwischen Operation und Narration, Basel 2010, darin meinen Beitrag: Claus Dreyer, „Architektonische Codes aus semiotischer Sicht“, S. 55–74. 36 Vgl. unten die Ausführungen zu Jencks, Welsch und Schumacher. 37 Diese werden von manchen Architekturtheoretikern gerne als „Sprache“ bezeichnet; vgl. z. B. John Summerson, The Classical Language of Architecture, London 1980, übers. v. Wolf Koenigs, Die klassische Sprache der Architektur, Braunschweig 1983, und Niels Luning Prak, The Language of Architecture, Paris 1968. 38 Vgl. meinen Überblick in: Dreyer, „Semiotische Aspekte der Archi­ tekturwissenschaft“ (Anm. 4). 39 Siehe Eco, Einführung in die Semiotik (Anm. 2), hier: S. 325 ff. 40 Auf die Unterscheidung zwischen syntaktischen, semantischen und pragmatischen Codes wird hier nicht weiter eingegangen; vgl. aber Eco (wie Anm. 34). 41 In dieser Betrachtung gibt es eine Nähe zum Begriff des Stils, der semiotisch als Code rekonstruiert werden kann (vgl. Martin Siefkes, Stil als Zeichenprozess, Würzburg 2012) und z. B. von Schumacher, The Autopoiesis of Architecture (Anm. 8), anstelle des Code-Begriffs verwendet wird.

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42 Vgl. unten die Ausführungen zu den „Codierungsstrategien“. 43 Form follows function wurde als Motto des Funktionalismus propa­ giert, aber nur bedingt konsequent befolgt; vgl. Heide Berndt, „Ist der Funktionalismus eine funktionale Architektur? Soziologische Betrachtung einer architektonischen Kategorie“, in: Berndt u. a. (Hg.), Architektur als Ideologie (Anm. 30), S. 9–50. 44 Wie fließend die Grenzen inzwischen sind, kann man beim neuen Berliner Großflughafen sehen, der anscheinend eine „shopping mall mit Fluganschluss“ werden soll und auch so aussieht. 45 Wie ich es z. B. für das Berliner Bundeskanzleramt von Schultes und Frank versucht habe; vgl. Dreyer, „Politische Architektur als Bedeu­ tungsträger“ (Anm. 7). 46 Dieser Ansatz wird sehr überzeugend von Delitz, Gebaute Gesellschaft (Anm. 9), verfolgt, allerdings ohne den Code-Begriff und andere semiotische Instrumente zu benutzen. 47 Vgl. Doug Saunders, Arrival City. The Final Migration and Our Next World, Toronto 2011, übers. v. Werner Roller, Arrival City, München 2011. 48 Vgl. Deyan Sudjic, The Edifice Complex. How the Rich and Powerful Shape the World, London 2005, übers. v. Karin Schreiner, Der Architekturkomplex. Monumente der Macht, Düsseldorf 2006. 49 Vgl. Adolf Max Vogt, Russische und französische Revolutionsarchitektur 1917, 1789, Ostfildern 1982, und Dieter Bartetzko, Illusionen in Stein. Stimmungsarchitektur im deutschen Faschismus, Reinbek 1985. 50 Vgl. den neuen Monumentalismus der Hochhausarchitekturen in den Metropolen der aufstrebenden Mächte in Vorder- und Südost­ asien. 51 So wie die Bankentürme in der Frankfurter Innenstadt, insbeson­ dere der neue EZB-Komplex. 52 Charles Jencks, The Language of Post-Modern Architecture, London 1977, übers. v. Nora von Mühlendahl-Krehl, Die Sprache der postmodernen Architektur, Stuttgart 1978. 53 Charles Jencks, „Post-Modern History“, in: Architectural Design 1/1978. 54 Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987. 55 Diese ist allerdings inzwischen weltweit sehr erfolgreich. 56 Welsch, Unsere postmoderne Moderne (Anm. 54), S. 117 ff.

Claus Dreyer Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen

57 Sein Beispiel ist die Stuttgarter Neue Staatsgalerie von James Stir­ ling, in der er sein Konzept vorzüglich verwirklicht sieht; vgl. Anm. 56. 58 Schumacher, The Autopoiesis of Architecture (Anm. 8). 59 Schumacher, The Autopoiesis of Architecture (Anm. 8), Bd. 1, S. 219 ff. 60 Ebenda, S. 241 ff. Dieser evolutionäre Prozess soll die architektoni­ sche ‚Autopoiesis‘ begründen. 61 Ebenda, S. 241. Auf die weiteren Differenzierungen und Erläute­ rungen wird hier nicht eingegangen. 62 Ebenda, S. 277 ff. 63 Ebenda, S. 286–287, und Schumacher, The Autopoiesis of Architecture (Anm. 8), Bd. 2, S. 617 ff. 64 Ebenda, S. 654 ff. 65 Ebenda, S. 655 (Übers. d. Autors). 66 Ebenda, S. 673. 67 Ebenda, S. 674 (Übers. d. Autors). 68 Wobei ein Rückgriff auf Peirce und seine Philosophie der Kreativität vielversprechend sein könnte. Vgl. Helmut Pape (Hg.), Kreativität und Logik. Charles S. Peirce und das philosophische Problem des Neuen, Frankfurt/M. 1994. 69 Dass bei der Innovation der Codes auch neue Materialien und Tech­ nologien eine erhebliche Rolle spielen, steht außer Frage, aber da dies kein genuin semiotischer Aspekt ist, wird er hier vernachlässigt. Zu semiotischen Aspekten der Technik vgl. Norberg-Schulz, Logik der Baukunst (Anm. 6), S. 165 ff. 70 Zum Thema ‚Baukultur‘ vgl. die Beiträge in Wolkenkuckucksheim 2/2003 u. 1/2004, unter: www.cloud-cuckoo.net. Vgl. auch Anm. 30. 71 Die Sakralbauten erfüllen in vielen Kulturen diese Funktion. 72 Vgl. Joachim Fischer u. Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2009, und Delitz, Gebaute Gesellschaft (Anm. 9). 73 So insbesondere Schumacher mit seiner Theorie von der „Auto­ poiesis“ der Architektur. Zum Aufbruch in die Moderne am Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. z. B. aber auch Le Corbusier, Vers une Architecture, Paris 1923, übers. v. Hans Hildebrandt, Ausblick auf eine Architektur, Gütersloh 1969.

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Christoph Baumberger

Gebaute Zeichen. Zu den Bedeutungsweisen von Bauwerken Architekturkritiker und -historiker verwenden eine Vielzahl von Ausdrücken, um anzugeben, was Bauwerke bedeuten. Es ist beispielsweise die Rede davon, dass sie etwas ausdrücken, repräsentieren, zitieren, manifestieren, darstellen oder aussagen; man kann von Gebäuden lesen, die mehrdeutig sind, als Metaphern fungieren oder auf etwas anspielen. In diesem Aufsatz untersuche ich, wie Bauwerke bedeuten können, um die Grundzüge einer Theorie der Bedeutungsweisen von Bauwerken und ihren Teilen vorzustellen, die als Rahmen für Einzelanalysen und historische Untersuchungen verwendet werden kann. Anstatt die meist unklaren und oft einander widersprechenden Verwendungsweisen der erwähnten Ausdrücke in der Architekturtheorie vergleichend zu analysieren, präsentiere ich zumindest für einige von ihnen Vorschläge, sie für theoretische Zwecke durch technische Termini zu ersetzen, die in den relevanten Anwendungsfällen anstelle der fraglichen Ausdrücke verwendet werden können. Die Vorschläge beruhen auf der allgemeinen Symboltheorie, die Nelson Goodman in Sprachen der Kunst entwickelt hat,1 und interpretieren die Bedeutungsweisen von Bauwerken damit als Symbolisierungsweisen. Die resultierende Symboltheorie der Architektur, die ich in meinem Buch Gebaute Zeichen ausgearbeitet habe, ist im Gegensatz zu typischen Ansätzen in der Architekturtheorie allgemein und systematisch. Sie ist allgemein, da sie nicht einzelne Bauwerke darauf befragt, was sie symbolisieren, sondern gene-

Christoph Baumberger Gebaute Zeichen

rell die Symbolisierungsweisen von Bauwerken untersucht. Sie ist systematisch, da sie nicht historisch vorgeht, sondern ein Begriffssystem vorschlägt, das auf Bauwerke aller Epochen anwendbar ist. Das ist möglich, weil sich die Symbolisierungsweisen von Bauwerken nicht ändern; es ändert sich nur, was Bauwerke symbolisieren und welche Symbolisierungsweisen im Vordergrund stehen. Nach einigen vorbereitenden Bemerkungen zum relevanten Symbolbegriff und zu Bauwerken als Symbolen gehe ich anhand von Beispielen auf die wichtigsten Symbolisierungsweisen von Bauwerken ein. Bauwerke als Symbole In Goodmans Symboltheorie ist

‚Bezugnahme‘ der zentrale symboltheoretische Begriff, der für alle Weisen des Stehens-für verwendet wird. ‚Symbol‘ heißt alles, was von jemandem verwendet wird, um sich – zumindest vorgeblich – auf etwas zu beziehen. Im Gegensatz zu anderen Verwendungsweisen dieses Ausdrucks sind Symbole damit weder spezielle Zeichen, noch spezielle Objekte; vielmehr ist jedes Zeichen ein Symbol, und es können alle Objekte – auch Bauwerke – als Symbole verwendet werden. Wir verwenden Bauwerke als Symbole, wenn wir anhand von Ausdrücken wie den eingangs erwähnten angeben, was sie bedeuten. Zudem ist nichts für sich selbst genommen ein Symbol, sondern nur als Teil eines Symbolsystems, das bestimmt, worauf es Bezug nimmt. Eine Symboltheorie der Architektur muss deshalb auch die Struktur architektonischer Symbolsysteme untersuchen, was ich in diesem Beitrag jedoch nicht leisten kann.2 Zudem sehe ich im Folgenden vom pragmatischen Aspekt der Symbolverwendung ab und fokussiere auf die semantischen Beziehungen zwischen Symbolen und ihren Bezugsgegenständen. Bauwerke, die als Symbole fungieren, unterscheiden sich von paradigmatischen Symbolen wie Wörtern, Bildern und Diagrammen. In der Regel beschreiben sie weder etwas, noch bilden sie etwas ab oder stellen etwas dar. Typischerweise sind sie an einen Ort gebunden und aufgrund ihrer Verortung in

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einer physischen Umgebung auch fest in ein kulturelles Umfeld eingebettet. Sie sind in dem Sinn wesentlich öffentlich, dass sie sich uns aufdrängen, ob wir wollen oder nicht. Sie sind nicht nur größer als die meisten anderen Symbole, sondern auch als wir selbst und haben meist ein betretbares Inneres, das Raum bietet für verschiedene Tätigkeiten. Zudem haben sie neben symbolischen beispielsweise auch konstruktive, praktische, städtebauliche und soziale Funktionen. Diese Charakteristika haben Konsequenzen für eine Symboltheorie der Architektur. Dass Bauwerke in der Regel weder etwas beschreiben, noch etwas abbilden oder darstellen, hat zur Folge, dass die meisten Bauwerke nur dann als Symbole verstanden werden können, wenn es neben der Beschreibung und der Abbildung oder Darstellung weitere Symbolisierungsweisen gibt. Die restlichen Charakteristika haben Implikationen dafür, was die Interpretation von Bauwerken zu berücksichtigen hat. Ihre Ortsbindung erfordert den Einbezug der physischen Umgebung und des kulturellen Umfelds, ihr öffentlicher Charakter die Berücksichtigung unterschiedlicher semiotischer Gruppen, ihre Größe und Betretbarkeit verlangen, dass man sie von verschiedenen Seiten und auch von innen betrachtet, ihre Multifunktionalität erfordert den Einbezug nicht-symbolischer Funktionen. Denotation Zwei Formen der Bezugnahme sind in Good-

mans Symboltheorie grundlegend: Denotation und Exemplifikation. Denotation ist die Bezugnahme eines Symbols auf das, worauf es zutrifft. Symbole, die –  zumindest vorgeblich – denotieren, heißen Etiketten. Ein Name denotiert seinen Träger, eine Textpassage, was sie beschreibt. Aber Etiketten brauchen nicht sprachliche Symbole zu sein. Ein Bild denotiert, was es darstellt, ein Diagramm die Börsenwerte, deren Verlauf es verzeichnet, ein Plan das Bauwerk, dessen Gestalt er festlegt. Denotieren umfasst zumindest Benennen, Beschreiben, Abbilden und Darstellen. Die Denotation muss in einer Symboltheorie der Architektur diskutiert werden, auch wenn Bauwerke in der Regel

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nicht denotieren. Einerseits denotieren sehr oft Bestandteile von Bauwerken wie Bauplastiken, Fresken und Schriftzüge. Andererseits gibt es manche triviale und einige interessante Fälle, in denen ganze Gebäude denotieren. Typischerweise haben wir es mit einem architektonischen Analogon zur skulpturalen Darstellung zu tun. Triviale Beispiele sind der Imbissstand in Gestalt eines Hotdogs und ähnliche Gebilde von zweifelhaftem Geschmack. Architektonisch bedeutender sind Saarinens TWATerminal des Kennedy Airports, das einen Adler denotiert, und Ledoux’ Entwurf für das Haus der Freude, ein Bordell mit phallischem Grundriss. Mittelalterliche Kirchen, die das himmlische Jerusalem darstellen, funktionieren dagegen eher wie Diagramme oder Schemata spätantiker Städte, wobei die Fassade den Stadttoren, das Langschiff der Arkadenstraße, das Querschiff dem cardo und das Heiligtum dem Hauptgebäude der Stadt entsprechen.3 Schließlich gibt es sogar Entwürfe für Bauwerke, die auch als Etiketten in sprachlichen Systemen funktionieren. So haben Anton Glonner und Franz Roppelt im 18. Jahrhundert Jesuitenkollegien entworfen, deren Architektur über dem ‚IHS‘-Signum aufgebaut ist.4 Die Denotation kann fiktional, mehrdeutig oder metaphorisch sein. Fiktionale Etiketten geben bloß vor, etwas zu denotieren, das sie aber nicht denotieren können, da es nicht existiert. Bei ihnen geht es deshalb nicht darum, was sie denotieren, nämlich nichts, sondern darum, wie sie zu charakterisieren sind.5 Auch wenn eine Darstellung von Don Quixote nichts denotiert, ist sie eine Don-Quixote-Darstellung, und als solche unterscheidet sie sich von einer Don-Juan-Darstellung, die ebenfalls nichts denotiert. Ein architektonisches Beispiel ist Antoni Gaudís Casa Batlló in Barcelona, die nach Charles Jencks vorgibt, den Triumph des heiligen Georg über den Drachen darzustellen. Der lanzenförmige Turm gibt vor, den heiligen Georg zu denotieren, indem er eines seiner Attribute, die Lanze, darstellt; das geschwungene Dach und die Fassade mit ihren skelettartigen Gebilden geben vor, einen Drachen darzustellen.6 Da es keinen solchen Triumph gab, ist das Haus

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eine fiktionale Darstellung des Triumphs des heiligen Georg über den Drachen. Ein Bauwerk ist denotational mehrdeutig, wenn es mehrere denotationale Interpretationen zulässt. Für Le Corbusiers Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp hat Charles Jencks eine Reihe von Interpretationen vorgeschlagen, die im Sinn der Denotation aufgefasst werden können: betende Hände, ein Schiff, eine Ente, zwei sich umarmende Brüder und eine Kopfbedeckung eines Geistlichen (Abb. 1–4).7 Sind mehrere dieser Interpretationen zugleich möglich, liegt mehrfache Bedeutung vor. Wer in diesem Fall nur eine Bedeutung erfasst, hat so wenig die ganze Bedeutung des Bauwerks erfasst, wie jemand, der bei der berühmten Hase-Ente-Zeichnung nur den Hasenkopf sieht, die ganze Bedeutung der Zeichnung erfasst hat. Dass die Interpretationen ihre Überzeugungskraft erst durch die Zeichnungen von Hillel Schocken erhalten, spielt keine Rolle. Was ein Bauwerk symbolisiert, muss nicht offensichtlich sein, und Zeichnungen können uns so gut wie Beschreibungen zu sehen helfen, was es symbolisiert. Die Metapher ist ebenfalls eine Form der Mehrdeutigkeit. Aber während bei der einfachen Mehrdeutigkeit die Interpretationen unabhängig voneinander sind, erfolgt bei der Metapher die metaphorische Interpretation vor dem Hintergrund der buchstäblichen Interpretation. Die Metapher bewirkt damit einen impliziten Vergleich zwischen den buchstäblichen und den metaphorischen Denotaten. Auch wenn Bauwerke sehr häufig metaphorisch beschrieben werden, funktionieren nur wenige Bauwerke selbst als Metaphern, weil sie dafür sowohl eine buchstäbliche wie eine metaphorische Interpretation haben müssen. Gaudís Casa Batlló erfüllt diese Bedingung, da sie zugleich vorgibt, metaphorisch den Triumph der Katalanen, deren Schutzheiliger Georg ist, über Madrid darzustellen. Auch in dieser Interpretation ist die Darstellung fiktional, da die Hoffnung der katalanischen Separatisten unerfüllt geblieben ist. Ein einfacheres Beispiel ist der wagenförmige Sonnentempel von Konarak in Indien der buchstäblich einen Wagen und metapho-

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1– 4 Le Corbusier, Wallfahrtskapelle Notre-Dame-du-Haut, Ronchamp, 1950–55, und zwei mögliche Interpreta­ tionen

risch die Sonne denotiert. Dass die metaphorische Interpretation vor dem Hintergrund der buchstäblichen erfolgt, heißt dann zum Beispiel, dass die Sonne als Wagen dargestellt und damit der Sonnenlauf als Wagenfahrt verstanden wird. Auch wenn Bauwerke, die denotieren, meist in einer mit darstellenden Skulpturen vergleichbaren Weise funktionieren, unterscheiden sie sich von typischen Beispielen darstellender Skulpturen. Erstens haben in der Regel nur wenige ihrer Aspekte oder Teile Darstellungsfunktionen. Gaudís Casa Batlló gibt nicht vor, den Drachen als befenstert und mit Balkonen bestückt darzustellen. Der Grund für dieses Merkmal ist, dass Bauwerke primär praktische und konstruktive Funktionen haben, deren Erfüllung es für viele Gebäudeteile unmöglich macht, sie so

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auszubilden, dass sie zur Darstellungsfunktion des Ganzen beitragen. Zweitens gilt selbst für jene Aspekte oder Teile, die zur Darstellungsfunktion beitragen, dass sie dies in recht schematischer Weise tun. Das geschwungene Dach der Casa Batlló ist eine sehr schematische Darstellung eines Drachenrückens, verglichen beispielsweise mit der entsprechenden Partie auf Peter Paul Rubens’ Gemälde „Der heilige Georg und der Drachen“. Bauwerke, die denotieren, sind deshalb drittens meist wenig realistische Darstellungen, so dass häufig schwierig zu erkennen ist, was dargestellt wird. Bauten, die keines dieser drei Merkmale aufweisen, werden oft als zu skulptural und wenig architektonisch kritisiert. Exemplifikation Die Beispiele zur Denotation betreffen

entweder nur Bestandteile von Bauwerken oder sie bilden Ausnahmefälle. Zudem ist die Interpretation von Bauwerken, die als Ganzes denotieren, durch die Angabe, was sie denotieren, unvollständig. Das TWA-Terminal beispielsweise denotiert nicht nur einen Adler, sondern symbolisiert auch Modernität, Dynamik, Fliegen und Freiheit. Da es diese Eigenschaften aber weder beschreibt noch abbildet, muss eine Symboltheorie der Architektur über die Denotation hinaus weitere Symbolisierungsweisen anerkennen. In Goodmans Symboltheorie sind dies Exemplifikation, Ausdruck und Anspielung. Das Terminal exemplifiziert Modernität, drückt Dynamik aus und spielt auf Fliegen und Freiheit an. Die Exemplifikation ist neben der Denotation die zweite grundlegende Form der Bezugnahme, auf der Ausdruck und Anspielung basieren. Betrachten wir ein Stoffstück im Musterbuch eines Händlers. Es fungiert für einige seiner Eigenschaften als Muster, nicht aber für andere. In der üblichen Verwendung ist es ein Muster für die Farbe, das Material und die Textur, nicht aber für die Größe und die Ausgestaltung des Randes. Wer Stoff bestellt ,genau wie das Muster‘, will keine 10 × 10 cm großen Stücke mit Zickzackrand. Um ein Muster für eine bestimmte Eigenschaft zu sein, muss das Stoffstück deshalb die Eigen-

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schaft nicht nur besitzen, sondern auch auf sie Bezug nehmen. Erst dadurch lässt sich das Muster als Symbol verstehen. Die Symbolisierungsweise der Exemplifikation ist die Bezugnahme eines Objekts auf eine seiner Eigenschaften, respektive auf ein Etikett, von dem es denotiert wird.8 Die Formulierung über Etiketten zeigt, dass sich Denotation und Exemplifikation in der Richtung unterscheiden: Während die Denotation von einem Etikett zu den Objekten verläuft, auf die das Etikett zutrifft, verläuft die Exemplifikation von einem Objekt zu den Etiketten, die auf das Objekt zutreffen. Welche Eigenschaften ein Objekt exemplifiziert, hängt vom Kontext ab. Verwenden wir das Stoffstück nicht als Muster für den Stoff, sondern als Muster für ein Stoffmuster, so exemplifiziert es gerade diejenigen Eigenschaften, die es in der ersten Verwendung nicht exemplifiziert. Als Muster für ein Stoffmuster exemplifiziert das Stoffstück seine Größe und die Ausgestaltung seines Randes, nicht aber seine Farbe und seine Textur. Bauwerke werden in der Regel nicht als Muster für die Wahl eines Produkts verwendet, aber sie können auf einige ihrer Eigenschaften Bezug nehmen und sie damit exemplifizieren. Oft, wenn davon die Rede ist, dass ein Bauwerk etwas betont, manifestiert, verkörpert, veranschaulicht oder ausdrückt, kann die Feststellung so rekonstruiert werden, dass es die fragliche Eigenschaft exemplifiziert. Diese kann beispielsweise sein funktionaler Gebäudetyp sein. Pietro Belluschis Zionskirche in Portland mit ihren spitz zulaufenden Holzverbundträgern, die gotischen Kirchenkonstruktionen nachempfunden sind, weist einige der konventionellen Merkmale einer Kirche auf und ist damit nicht nur eine Kirche, sondern zeigt dies auch und exemplifiziert deshalb Kirche. Aber das gilt nicht für alle Kirchen oder Kapellen. Die Kapelle, die Ludwig Mies van der Rohe zwei Jahre später auf dem Gelände des Illinois Institute of Technology in Chicago baute, gibt zumindest von außen keinerlei Hinweise darauf, dass es sich um eine Kapelle handelt. Manche Bauwerke dagegen exemplifizieren ihre Konstruktionsweise. Auguste Perrets Wohnhaus in der Rue Franklin in Paris ist nach

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Kenneth Frampton „eine polemische Verherrlichung des Stahlbetonrahmens“,9 da er die Struktur des Skeletts entgegen der damals üblichen Praxis zeigt. Adolf Loos’ Haus am Michaelerplatz in Wien hat ebenfalls ein Stahlbetonskelett als Tragwerk, exemplifiziert dieses aber nicht, da es hinter Marmor und Verputz verborgen bleibt. Viele Bauwerke exemplifizieren Eigenschaften ihrer Form. Der Dom von Speyer exemplifiziert seinen Kreuzgrundriss aufgrund der langen Geschichte kreuzförmiger Kirchen, in der er eine wichtige Rolle spielt, und der dadurch ermöglichten Anspielung auf das Kreuz Christi. Die Gestalt von Frank Lloyd Wrights Isabel Roberts House weicht zwar nur wenig mehr von einem regelmäßigen Kreuz ab als der Dom von Speyer. Dennoch exemplifiziert es seine Kreuzform nicht, da es vielmehr die Abweichungen vom Kreuz und die damit einhergehende Asymmetrie betont. Bauwerke können eine Vielzahl weiterer Eigenschaften exemplifizieren, von Material-, Gestalt- und Geschmackseigenschaften über atmosphärische Aspekte bis zu technischen, sozialen oder politischen Bedingungen ihrer Existenz. Oftmals sind die exemplifizierten Eigenschaften so spezifisch, dass wir keine oder bloß demonstrative sprachliche Ausdrücke für sie haben.10 Eine gegliederte Fassade mag beispielsweise eine Struktur exemplifizieren, auf die wir uns zwar mit ,diese Struktur‘ beziehen, die wir aber nicht spezifisch genug beschreiben können. Bauwerke exemplifizieren oft eine Vielzahl von Eigenschaften, wobei die verschiedenen Exemplifikationen in interes­ santen Beziehungen zueinander stehen können, die eine Interpretation zu berücksichtigen hat. Einzelne von ihnen können beispielsweise andere stützen, zu ihnen in Spannung stehen oder mit ihnen im Gleichgewicht sein. Die Exemplifikationen von Kreuzgrundriss und Kirche stützen einander, da Kirchen in der Regel ihren Kreuzgrundriss exemplifizieren und dies dazu beiträgt, dass sie auch ihren Gebäudetyp betonen. Bei gotischen Kathedralen steht die Exemplifikation der vertikalen Ausrichtung in Spannung zur ebenfalls betonten horizontalen Bewegung zum Altar hin. Bei Renaissance-Palazzi sind die Exem-

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plifikationen vertikaler und horizontaler Elemente dagegen im Gleichgewicht, was zur Harmonie solcher Gebäude beiträgt. Wie die Denotation kann auch die Exemplifikation fiktional, mehrdeutig und metaphorisch sein. Bei der fiktionalen Exemplifikation gibt ein Bauwerk vor, eine Eigenschaft zu exemplifizieren, die es nicht besitzt. Wie bei der Denotation geht es auch in solchen Fällen nicht darum, was das Bauwerk exemplifiziert, nämlich nichts, sondern darum, wie es zu charakterisieren ist.11 Hans Kollhoffs Hochhaus am Potsdamer Platz in Berlin ist ein Betonskelettbau, der aufgrund seiner Verkleidung mit vorfabrizierten Backsteinelementen vorgibt, ein Backsteinbau zu sein. Als gebautes Manifest der Vertreter einer steinernen Stadt gibt er gar vor, Backsteinbau zu exemplifizieren. Damit ist er ein fiktionales Backsteinbau-Symbol, das Backsteinbau nur fiktional exemplifiziert, weil es ein Betonskelettbau ist. Solche ‚Suggestionen‘ von Konstruktionen haben in der Architektur eine lange Tradition. Während Kollhoff eine traditionellere Bauweise zur Schau stellt, als für die Erfüllung der Bauaufgabe möglich und angemessen ist, wird in anderen Fällen eine avancierte Bauweise vorgeführt, die zum Zeitpunkt des Baus noch nicht ausführbar oder unbezahlbar war. Erich Mendelsohns Einsteinturm in Potsdam sollte die fließenden Eigenschaften des Betons demonstrieren; weil eine Ausführung in Beton aber noch zu aufwendig gewesen wäre, wurde der Turm gemauert. Nicht jedes Bauwerk, das mehrere Eigenschaften exemplifiziert, ist mehrdeutig. Man muss deshalb zwischen mehrdeutiger und bloß multipler Exemplifikation unterscheiden, was nur mit Bezug auf Symbolsysteme möglich ist. Wenn ein Bauwerk multipel exemplifiziert, hat es mehrere exemplifikatorische Interpretationen in demselben Symbolsystem; wenn es mehrdeutig ist, gehören die unterschiedlichen Interpretationen entweder zu verschiedenen Symbolsystemen oder zu demselben minimalen Subsystem.12 Sind mehrere Interpretationen korrekt, liegt mehrfache Bedeutung vor. Im Fall exemplifikatorischer Mehrdeutigkeit verwenden unterschiedliche soziale Gruppen verschiedene Symbolsysteme. So mögen die Flach-

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dachbauten von Le Corbusiers Siedlung Pessac bei Bordeaux für moderne Architekten Eigenschaften wie fortschrittlich und benutzerfreundlich exemplifiziert haben, während sie für die Bewohner Eigenschaften wie unwohnlich und unfertig exemplifizierten – weshalb letztere sie veränderten, damit sie Schutz, Heim und Besitztum exemplifizierten.13 Im anderen Fall gehören die verschiedenen Interpretationen zu demselben minimalen Subsystem. Die Fassade, die Michelangelo für San Lorenzo in Florenz konzipierte, schwankt, wie Colin Rowe und Robert Slutzky herausgearbeitet haben, in einer mit der Hase-EnteZeichnung vergleichbaren Weise zwischen mehreren Gliederungen (Abb. 5), die abwechselnd die Oberhand gewinnen und die sie alle zugleich exemplifiziert.14 Ausdruck Der Begriff der metaphorischen Exemplifikation

ermöglicht eine Explikation des in Texten zur Architektur oft verwendeten Begriffs des Ausdrucks. So ist beispielsweise gesagt worden, William Chambers’ Casino in Marino bei Dublin drücke Fröhlichkeit aus, Richard Norman Shaws Haus am Queen’s Gate in London bringe die Tugenden eines Gentleman wie Aufrichtigkeit, Zurückhaltung und Bescheidenheit zum Ausdruck, Michelangelos Biblioteca Laurenziana in Florenz drücke Ringen ohne Hoffnung auf Erlösung aus, die Fassade von Francesco Borrominis San Carlo alle Quattro Fontane in Rom bringe schwingende Bewegung zum Ausdruck und Gunnar Asplunds Stockholmer Krematorium tröstlichen Frieden.15 Selbst wenn Emotionen ausgedrückt werden, können diese weder mit solchen der Architekten, noch mit solchen der Betrachter oder Benutzer identifiziert werden. Ein Gebäude kann Fröhlichkeit ausdrücken, auch wenn der Architekt während seines Entwurfs unter Depressionen litt; und ein Gebäude, das Aggressivität ausdrückt, kann in uns das Gefühl der Einschüchterung oder des Abscheus auslösen. Die Eingangsbeispiele zeigen zudem, dass Bauwerke über Emotionen hinaus auch Tugenden, handlungsbezogene und dynamische Eigenschaften

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5 5 Michelangelo, Fassadenentwurf für San Lorenzo, Florenz, 1516–34

sowie Ideen und Werte ausdrücken können. Diese weiteren Eigenschaften müssen weder dem Architekten zukommen, noch werden sie im Betrachter oder Benutzer ausgelöst. Die ausgedrückten Eigenschaften sind vielmehr solche der Bauwerke selbst. Sie kommen diesen zwar nicht buchstäblich zu; Chambers’ Casino ist nicht buchstäblich fröhlich, da es kein Lebewesen ist. Aber die Bauwerke besitzen die ausgedrückten Eigenschaften metaphorisch. Um sie auszudrücken, müssen sie darauf Bezug nehmen. Da die Bezugnahme eines Symbols

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auf eine seiner Eigenschaften Exemplifikation ist, ist Ausdruck eine Form der metaphorischen Exemplifikation. Aber nicht jede metaphorische Exemplifikation konstituiert Ausdruck. Ein Gebäude, das als Investition metaphorisch eine Goldgrube ist und diese Eigenschaft auch exemplifiziert, drückt sie dennoch nicht aus. Ein Bauwerk drückt vielmehr diejenigen metaphorischen Eigenschaften aus, die es als ästhetisches Symbol metaphorisch exemplifiziert.16 Ausdruck lässt damit dieselbe semantische Unterscheidung zu wie Exemplifikation – mit einer offensichtlichen Ausnahme: er kann nicht buchstäblich sein. Anspielung Die einfachen Symbolisierungsweisen Denota-

tion, Exemplifikation und Ausdruck können zu komplexen Bezugsketten verbunden werden. Anspielungen sind indirekte Bezugnahmen über solche Ketten. Auch von Anspielungen ist in Texten zur Architektur häufig die Rede. Frampton beispielsweise erkennt in Le Corbusiers Villa Schwob eine „erotische Anspielung auf einen Serail“, und Mies van der Rohes Crown Hall mutet ihm „wie eine entfernte Anspielung auf Schinkels Altes Museum“ an.17 Im einfachsten Fall verlaufen Anspielungen über Ketten, die eine denotationale und eine exemplifikatorische Bezugnahme kombinieren. Ein Bauwerk spielt dann auf eine Eigenschaft an, indem es einen Gegenstand denotiert, der diese Eigenschaft exemplifiziert. Das TWA-Terminal spielt auf Fliegen und Freiheit an, indem es einen Adler denotiert, der Fliegen und Freiheit exemplifiziert. Oder ein Bauwerk spielt auf einen Gegenstand an, indem es eine gemeinsame Eigenschaft respektive ein Etikett exemplifiziert, das beide denotiert. Die Hörsäle von James Stirlings Universitätsgebäude in Leicester (Abb. 6) beispielsweise spielen über die Exemplifikation ihrer keilförmig auskragenden Gestalt, die die ansteigenden Sitzreihen außen ablesbar macht, auf die Auditorien von Konstan­tin Melnikows Arbeiterklubhaus Rusakow in Moskau (Abb. 7) an, die dieselbe keilförmig auskragende Gestalt aufweisen. In solchen Fällen wird typischerweise gesagt, dass Stirlings Hörsäle Melnikows Auditorien zitieren. Wenn in Texten zur

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6 6

James Stirling, Engineering Building, University of Leicester, 1959–63

7 7

Konstantin Melnikow, Arbeiterklubhaus Rusakow, Moskau, 1927

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Architektur von Zitaten die Rede ist, liegen häufig Anspielungen im explizierten Sinn vor.18 Solche verlaufen oft über komplexere Ketten. Auch Stirlings Hörsäle spielen über die Anspielung auf Melnikows Auditorien auf weitere Bauten und Projekte an, die für den russischen Konstruktivismus beispielhaft sind, und darüber auf den Glauben an die moderne Technik und die Gestaltung nach technischen Prinzipien, die von dieser Tradition moderner Architektur exemplifiziert werden. Um die Vielfalt von Anspielungen in der Architektur anzudeuten, betrachte ich einige Beispiele zu stilistischen, typologischen, lokalen und kulturellen Anspielungen. Stilistische Anspielungen liegen vor, wenn ein Bauwerk auf die Werke eines Individual-, Kollektiv-, Lokal- oder Zeitstils anspielt, indem es Merkmale exemplifiziert, die typisch sind für Bauwerke dieses Stils. Richard Meiers Douglas House in Harbor Springs spielt auf Le Corbusiers Villen der zwanziger Jahre an, indem es stilistische Merkmale dieser Villen exemplifiziert. Dazu gehören klar abgegrenzte Kuben, die durch weiße, dünn erscheinende Flächen begrenzt sind, asymmetrische Anordnungen, schlanke Stützen, Langfenster und kommandobrückenartige Balkons. In einer typologischen Anspielung spielt ein Bauwerk auf die Werke eines funktionalen, formalen oder konstruktiven Typs an, indem es Merkmale exemplifiziert, die typisch sind für Bauwerke dieses Typs. Manchmal ist die Anspielung auf die Bauwerke eines Typs vermittelt über die Anspielung auf ein Bauwerk, das für diesen Typ beispielhaft ist. Herzog & de Meurons Elbphilharmonie in Hamburg spielt über die Exemplifikation ihrer geschwungenen Dachform auf Hans Scharouns Berliner Philharmonie an, die inzwischen als Paradigma eines modernen Konzerthauses gilt und daher ihren funktionalen Gebäudetyp exemplifiziert. Damit spielt die Elbphilharmonie über die indirekte Bezugnahme auf Scharouns Philharmonie zugleich auf den Typ des Konzerthauses und weitere Einzelfälle an, die ihn exemplifizieren. Diese Anspielung führt dazu, dass die Elbphilharmonie selbst ihren funktionalen Gebäudetyp exemplifiziert.

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Mit einer lokalen Anspielung haben wir es zu tun, wenn ein Bauwerk über exemplifizierte Merkmale, die es mit Aspekten seiner Umgebung oder Region teilt, auf diese Aspekte anspielt. Bei Herzog & de Meurons Ricola-Lagerhaus in Laufen interagieren lokale Anspielungen mit funktionalen. Seine Gebäudehülle aus Eternitplatten, die auf auskragenden Tragelementen ‚lagern‘, exemplifiziert Eigenschaften wie gelagert, gestapelt und geschichtet. Darüber spielt die Gebäudehülle erstens auf den geschichteten Kalkstein an, der im ehemaligen Steinbruch, in dem die Lagerhalle steht, einst abgebaut wurde, zweitens auf die traditionellen Holzstapel und Bretterbeigen der örtlichen Sägewerke und drittens auf die Lagerregale und die Stapelung von Produkten im Gebäudeinneren.19 Die ersten beiden Anspielungen schaffen eine Verbindung mit dem Ort: Über die Anspielung auf den Kalkstein wird das Gebäude zu seiner unmittelbaren Umgebung und über die Anspielung auf die Holzstapel und Bretterbeigen zu seiner weiteren Umgebung in Beziehung gesetzt. Die Anspielung auf die Lagerung von Produkten bezieht die Gebäudehülle auf das Gebäudeinnere mit den Lagergestellen und auf die praktische Funktion des Gebäudes. Zudem erfolgt diese Anspielung über die konstruktiven Aspekte des Fassadenaufbaus. In einer kulturellen Anspielung spielt ein Bauwerk über exemplifizierte Merkmale, die es mit nicht-architektonischen Aspekten seines kulturellen Umfelds teilt, auf diese Aspekte an. Solche Anspielungen setzen ein Bauwerk in Beziehung zu Kultur und Gesellschaft mit ihren Institutionen, Idealen und Werten. Kulturelle Anspielungen liegen oft vor, wenn davon die Rede ist, dass ein Bauwerk politische Systeme, Institutionen oder Werte ausdrückt oder repräsentiert. Winfried Nerdinger beschreibt die Münchner Olympiabauten als „Ausdruck eines neuen demokratischen Deutschland nach dem Krieg“.20 Da die Bauten weder buchstäblich, noch metaphorisch das neue demokratische Deutschland sind, können sie das, worauf sie Bezug nehmen, weder exemplifizieren, noch im explizierten Sinn ausdrücken. Sie spielen vielmehr auf das neue demokratische

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Deutschland an, indem sie Merkmale wie Offenheit und Zurückhaltung exemplifizieren, die auch von diesem exemplifiziert oder zumindest instanziiert werden. Werke des französischen Klassizismus wie Charles Perciers und Pierre François Léonard Fontaines Rue de Rivoli in Paris dienen nach Frampton dazu, „die neuen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft zu beherbergen und den werdenden neuen Staat der Republik zu repräsentieren“.21 ‚Repräsentieren‘ wird oft für bildliches Darstellen verwendet. Die klassizistischen Bauten bilden den Staat jedoch nicht ab; sie spielen vielmehr auf ihn an, indem sie Merkmale und Werte exemplifizieren, für die auch dieser Staat steht oder stehen soll. Wird eine solche Anspielung stark konventionalisiert, können die Bauten direkt auf den Staat Bezug nehmen; sie funktionieren dann ähnlich wie Flaggen und denotieren den werdenden neuen Staat der Republik. Schlussbetrachtung Die Symboltheorie der Architektur, deren

Grundzüge ich skizziert habe, hat eine Reihe von Vorteilen gegenüber konkurrierenden Theorien. Erstens stellt sie ein viel reicheres Instrumentarium zur Interpretation von Bauwerken bereit als Architektursemiotiken, die bloß zwischen Denotation und Konnotation unterscheiden. Zweitens entgeht sie dem Standardeinwand gegen Theorien, die die Architektur als Sprache verstehen. Nach diesem Einwand erfüllt die Architektur keine der beiden Bedingungen für eine Sprache. Weder bilden die Bestandteile von Bauwerken ein Vokabular, das durch lexikalische Regeln mit bestimmten Bedeutungen verbunden ist, noch gibt es syntaktische Regeln, die festlegen, wie sich die Bedeutungen ganzer Bauwerke aus den Bedeutungen ihrer Bestandteile ergeben.22 Dieser Einwand trifft die hier skizzierte Symboltheorie nicht, da sie architektonische Symbolsysteme nicht als Sprachen versteht; Bauwerke und ihre Teile können deshalb als Symbole in solchen Systemen funktionieren, auch wenn diese keine der beiden Bedingungen für eine Sprache erfüllen.23 Drittens ermöglicht es die skizzierte Theorie, selbst Positionen semiotisch zu rekonstruieren, die, im Zug einer Abwen-

Christoph Baumberger Gebaute Zeichen

dung von bestimmten Strömungen postmoderner Architektur, eine Abkehr von den Zeichen konstatieren oder propagieren. So spricht Martin Steinmann in Bezug auf die jüngere Schweizer Architektur von der „Suche nach einer Form diesseits des Zeichens: diesseits eines anderen“,24 und nach Peter Zumthor soll ein Gebäude „nicht etwas darstellen, sondern etwas sein“.25 Einer solchen Auffassung zufolge scheint es für die Interpretation zumindest bestimmter Bauwerke nur darauf anzukommen, was diese sind; worauf sie Bezug nehmen, falls sie überhaupt Bezug nehmen, lenkt davon nur ab. Weil aber nicht alle Eigenschaften eines Bauwerks für seine Interpretation relevant sind, muss man die relevanten von den irrelevanten unterscheiden; nach meinem Vorschlag sind gerade diejenigen Eigenschaften relevant, auf die das Bauwerk Bezug nimmt. Vielleicht will Steinmann aber auch bloß behaupten, dass die fraglichen Bauwerke auf nichts außerhalb von sich Bezug nehmen oder es zumindest auf solche Bezugnahmen nicht ankommt. So schreibt er von der jüngeren Schweizer Architektur, dass „sie von sich spricht, von ihrem (technischen) Wesen;“26 und über die Fassade eines ihrer typischen Beispiele, dem KirchnerMuseum von Gigon & Guyer in Davos, heißt es: „Sie verweist nicht auf etwas anderes […] Sie verweist auf sich, wenn schon, auf ihre Konstruktion. Mit anderen Worten: die Fassade repräsentiert nicht, sie präsentiert, und zwar präsentiert sie die Materialien und die Art, wie die Materialien verwendet sind als Platten, Profile, Matten…“27 Im Rahmen der hier skizzierten Theorie besagt dies, dass die fraglichen Bauwerke und Gebäudeteile einige ihrer Eigenschaften exemplifizieren oder ausdrücken, aber weder etwas darstellen, noch auf etwas anspielen; oder dass es für ihre Interpretation nur darauf ankommt, was sie exemplifizieren und ausdrücken. Da ein Bauwerk nur Eigenschaften exemplifizieren kann, die es besitzt, nimmt ein solches Bauwerk auf sich selbst Bezug. Die Exemplifikationen eines Bauwerks lenken also nicht davon ab, was es ist. Sie zeigen vielmehr, auf welche seiner Eigenschaften es ankommt. Da ein Bauwerk in der Regel manche dieser Eigenschaften mit anderen

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Bauten oder sonstigen Dingen teilt, kann es über ihre Exemplifikation auf diese anspielen. Um auch dies auszuschließen, könnte Steinmann behaupten, dass die fraglichen Bauwerke nur individuelle Eigenschaften exemplifizieren, die ihnen allein zukommen, oder es zumindest für ihre Interpretation nur auf solche ankommt. Ob er damit Recht hätte, muss hier nicht beurteilt werden, da es mir nur um den Nachweis geht, dass die skizzierte Symboltheorie die begrifflichen Ressourcen hat, selbst eine solche Positionen semiotisch zu rekonstruieren.

Anmerkungen 1

Einen Überblick gibt Nelson Goodman, „Wege der Bezug­ nahme“, in: Nelson Goodman, Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt/M. 1987, S. 86–107. Die Anwendung seiner Symbolthe­ orie auf die Architektur ist skizziert in: Nelson Goodman, „Wie Bauwerke bedeuten“, in: Nelson Goodman u. Catherine Z. Elgin, Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt/M. 1989, S. 49–70; im Detail ausgearbeitet in: Christoph Baumberger, Gebaute Zeichen. Eine Symboltheorie der Architektur, Frankfurt/M. 2010.

2

Vgl. dafür Baumberger, Gebaute Zeichen (Anm. 1), Kap. I.3, II.5 u. III.6.

3

Hans Sedlmayr, Architektur als abbildende Kunst, Wien 1948, S. 6–11.

4

Werner Oechslin, „Architektur und Alphabet“, in: Carlpeter Braegger (Hg.), Architektur und Sprache, München 1982, S. 216–254, hier: S. 234–235.

5

Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/M. 1997, S. 31–33.

6

Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur, 5. Aufl., Stuttgart 1987, S. 117.

7

Ebenda, Seite 48.

8 Goodman, Sprachen der Kunst (Anm. 5), S. 59. 9

Kenneth Frampton, Grundlagen der Architektur. Studien zur Kultur des Tektonischen, hrsg. v. John M. Cava, München 1993, S. 133.

10 In diesem Fall liegt das exemplifizierte Etikett im Symbol selbst; vgl. Baumberger, Gebaute Zeichen (Anm. 1), S. 214–221.

Christoph Baumberger Gebaute Zeichen

11 Goodman hat diese Möglichkeit übersehen und ist deshalb der Auffassung, dass die Exemplifikation im Gegensatz zur Denotation nicht fiktional sein kann; vgl. Goodman, „Wege der Bezugnahme“ (Anm. 1), S. 93. 12 Interpretationen gehören zu demselben minimalen Subsystem, wenn die exemplifizierten Etiketten konträr oder koextensiv, aber von verschiedener Art sind. Konträr sind Etiketten, wenn es keinen Gegenstand gibt, auf den sie beide zutreffen. Koextensiv, aber von verschiedener Art sind Etiketten, wenn sie dasselbe denotieren, aber das eine es als etwas anderes denotiert als das andere; vgl. Baumberger, Gebaute Zeichen (Anm. 1), S. 228–232. Beim nachfol­ genden Michelangelo-Beispiel ist das zweite der Fall: Die verschie­ denen Schemata von Rowe und Slutzky denotieren alle die Fassade von San Lorenzo, aber jede von ihnen als anders gegliedert. 13 Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur (Anm. 6), S. 54–55. 14 Colin Rowe u. Robert Slutzky, Transparency. Literal and Phenomenal (Part 2) [1971], in: Joan Ockman (Hg.), Architecture Culture 1943– 1968, New York 1993, S. 206–225, hier: S. 212–218. 15 Die Beispiele stammen, der Reihe nach, aus: Richard Hill, Designs and Their Consequences. Architecture and Aesthetics, New Haven 1999, S. 157–158; Colin Rowe, Die Mathematik der idealen Villa und andere Essays, Basel 1998, S. 86; Nikolaus Pevsner, Europäische Architektur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Mit einem Beitrag zur Architektur seit 1960 von Winfried Nerdinger, 8. Aufl., München 1997, S. 185; Günter Fischer, Architektur und Sprache. Grundlagen des architektonischen Ausdruckssystems, Stuttgart 1991, S. 112; Pevsner, Europäische Architektur (s. o.), S. 376. 16 Eine genauere Explikation des Ausdrucksbegriffs verlangt eine Metapherntheorie, die angibt, unter welchen Bedingungen die Zuschreibung einer Eigenschaft metaphorisch ist, und eine Theorie ästhetischer Symbole, die angibt, unter welchen Bedingungen ein Objekt als ästhetisches Symbol funktioniert; vgl. dafür Baumberger, Gebaute Zeichen (Anm. 1), Kap. 6. 17 Kenneth Frampton, Die Architektur der Moderne. Eine kritische Baugeschichte, Stuttgart 2001, S. 132; Frampton, Grundlagen der Architektur (Anm. 9), S. 221. 18 Zur Frage, ob Bauwerke zitieren können, vgl. Baumberger, Gebaute Zeichen (Anm. 1), S. 430–447, sowie Remei Capdevila-Werning, „Zitieren in der Architektur“, im vorliegenden Band, S. 210–228. 19 Wilfrid Wang, Herzog & de Meuron, 3. Aufl., Basel 1998, S. 15. 20 Pevsner, Europäische Architektur (Anm. 15), S. 407.

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21 Frampton, Die Architektur der Moderne (Anm. 17), S. 16. 22 Vgl. Roger Scruton, The Aesthetics of Architecture, Princeton 1979, S. 163–167. 23 Die Theorie zeigt gerade, dass in architektonischen Symbolsys­ temen keine der beiden Bedingungen erfüllt sein kann, weil solche Systeme als syntaktisch dichte und nicht-disjunkte Systeme kein Alphabet haben; vgl. Baumberger, Gebaute Zeichen (Anm. 1), S. 133–144 u. 249–252. 24 Martin Steinmann, Forme Forte. Ecrits/Schriften 1972–2002, Basel 2003, S. 130. 25 Peter Zumthor, Architektur Denken, 2. Aufl., Basel 2006, S. 34. 26 Steinmann, Forme Forte (Anm. 24), S. 107. 27 Ebenda, S. 220.



Indexikalität und Performativität

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Uwe Wirth

Symbol, Symptom, Signal. Einige Überlegungen zur Konfiguration architektonischer Zeichen Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive heraus er­scheint die Architektur als „eine der stabilsten Kulturtechni­ken“, in der sich „menschliche Intentionen und Bedürfnisse verkörpern“ können, weil die Architektur „die sozialen Skripte und Choreographien des Handelns“ codiert und zugleich jenen „Umgebungsraum“ bildet, „durch den eine bedrohliche Umwelt erst zur menschlichen Mitwelt wird“.1 Dergestalt erweist sich Architektur einerseits rückblickend als „Expression und Repräsentation“ elementarer „Objektivierungs-Gesten“ von sesshaft gewordenen Kulturen; andererseits erscheint Architektur als „die stärkste Formel, in der sich der Gestaltungswille einer Gegenwart sedimentiert“.2 Die Codierung sozialer Skripte im Rahmen architektonischen Handelns kann als eine Art existenziellen Designs verstanden werden, das aus der Konfiguration von Funktionen, Formen, Materialien und Bearbeitungstechniken entsteht. Dabei lässt sich zwischen einer konzeptionellen Ebene der Konfiguration – also dem Planen und Entwerfen von architektonischen Projekten – und einer materiellen Ebene der Verkörperung respektive der Umsetzung unterscheiden. Die Differenz zwischen beiden Ebenen wird immer dann deutlich, wenn es zu Störungen kommt, wenn es Risse in den Wänden gibt, weil der Untergrund nachgibt, oder wenn sich das Konzept, Stahlbeton und Edelrost zu kombinieren, als unzweckmäßig erweist, weil der Edelrost nicht an der Oberfläche verbleibt, sondern auch die

Uwe Wirth Symbol, Symptom, Signal

tragenden Stahlteile angreift. Mit anderen Worten: Die Ebene verkörperter Konfigurationen ist immer auch ein Prüfstein dafür, ob auf der Ebene konzeptioneller Konfigurationen die Material­ eigenschaften, die Umweltbedingungen, aber auch die Funktionen des künftigen Bauwerks richtig vorausgesehen wurden und entsprechend Eingang in das Design gefunden haben. Die Codierung sozialer Skripte kann freilich auch als semio­tischer Code gefasst werden, insbesondere dann, wenn man Architektur nicht nur als Bündel funktionaler Möglichkeiten ansieht, etwa die Wohnung als Schutz vor Wetter und Feinden, sondern als Bündel kommunikativer Möglichkeiten, etwa die Wohnung als Sphäre privater Zusammenkünfte oder als Ausdruck eines persönlichen Lebensstils: Hier setzt die Semio­tik der Architektur als Analyse von Ausdrucksmöglichkeiten ein. Dabei bezeichnet der Begriff des Codes eine Regel – sei es im Sinne eines vertraglich-konventionellen, sozialen Skripts oder im Sinne einer sozialen Gewohnheit respektive einer Tradition –, welche die Ausdruckselemente, also die Zeichen­ vehikel, mit Inhaltselementen, der kodifizierten Zeichenbedeutung, korreliert.3 Wie Umberto Eco in seinen Überlegungen zur Architektursemiotik ausgeführt hat, entstehen architektonische Zeichen, sobald im Rekurs auf einen Code auf eine Funktion des architektonischen Objekts Bezug genommen wird, wodurch die architektonischen Objekte als signifikative Formen mit einer denotativen Bedeutung in Erscheinung treten. Anders gesagt: Die denotative Bedeutung eines architektonischen Zeichens ist seine Funktion. Die denotative Bedeutung eines Fensters ist mithin die funktionale Möglichkeit hinauszusehen, während die denotative Bedeutung eines Stuhls die funktionale Möglichkeit ist, sich hinzusetzen. Im Anschluss an Roland Barthes führt Eco nun aber noch eine zweite Bedeutungsebene architektonischer Zeichen ein, nämlich die Ebene der Konnotation. Konnotation bezeichnet hier ein zweites, auf der denotativen Ebene aufbauendes Bedeutungssystem, das eine ideologische und historische Codierung sozialer Skripte impliziert, das

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also nicht mehr einfach nur eine abstrakte Form der vertraglichen oder habituellen Codierung repräsentiert, sondern eine Überlagerung und Anreicherung mit zusätzlichen Bedeutungsnuancen. Dabei wird die denotative Kopplung Ausdruck/Inhalt respektive Signifikant/Signifikat auf der konnotativen Ebene in spezifischer Weise wiederholt, nämlich so, dass das denotative Zeichen zum Ausdruckmittel respektive zum Signifikant für eine konnotative Bedeutung wird. Im Rahmen architektonischer Zeichen heißt dies, dass die denotative Bedeutung als primäre architektonische Funktion durch eine zweite, symbolisch geprägte, womöglich auch ideologisch imprägnierte Bedeutungsebene überlagert wird. So kann ein Fenster aufgrund seines prächtigen Rahmens die konnotative Bedeutung haben, auf den Wohlstand ihres Bewohners und seinen sozialen Status als Bewohner der Beletage hinzuweisen. Desgleichen hat ein Thron nicht nur eine Funktion als Sitzgelegenheit, sondern auch eine symbolische Programm / kommunikative Funktion, insofern er eine hierarchische soziale Funktion Codierung In / beiden FormFällen / Rezeption /die architektoOrdnung verkörpert. verlieren Stil Zeichen Interpretation 2 nischen Zeichen nicht ihre denotativ-funktionale Bedeutung, Bedeutung / sondern sie gewinnen – durch bestimmte Verwendungsweisen Interpretation 1 in bestimmten sozialen und historischen Kontexten – eine zusätzliche, konnotativ-symbolische Bedeutung. In eben diesem Sinne haben architektonische Zeichen sowohl eine denotative als auch eine konnotative kommunikative Funktion.

connotative level denotative level

EXPRESSION

expression

content

CONTENT

symbolische konnotative Bedeutung funktionale denotative Bedeutung

Uwe Wirth Symbol, Symptom, Signal

Demenentsprechend lässt sich das von Charles Jencks in seinem einflussreichen Aufsatz „The Architectural Sign“ entworfene Schema,4 in dem zwischen konnotativer und denotativer Ebene unterschieden wird (linke Seite), durch zwei Bedeutungshinsichten (rechte Seite) ergänzen. Die Frage ist indes, ob man dieses Gefüge kommunikativer Funktionen als ‚Sprache der Architektur‘ bezeichnen muss; ob, wie Jencks im Anschluss an Eco behauptet hat, das System architektonischer Zeichen als paradigmatisch sprachlich organisiertes Zeichensystem zu verstehen ist.5 Allerdings stellt Jencks im Vergleich zur gesprochenen Sprache fest: „The architectural language is more ‚motivated‘ and less ‚arbitrary‘, which is to say that it has a higher ratio of indexical and iconic signs“.6 Hier wird deutlich, dass die architectural language eine ‚Sprache‘ ist, die für ein Konzept von ‚Zeichensystem‘ steht. Aber um was für ein Zeichensystem handelt es sich? Sowohl aus einer kulturwissenschaftlichen, als auch aus einer kultursemiotischen Perspektive heraus läge es nahe zu antworten: Es handelt sich um ein Symbolsystem. Doch auch diese Option, die Architektur als Symbolsystem zu beschreiben, birgt immense Schwierigkeiten, denn der Symbolbegriff ist selbst innerhalb der Semiotik keineswegs klar definiert. Wenn Eco in seinen Überlegungen zur Architektur in den ‚saussurelastigen‘ 1970er Jahren von symbolischen Konnotationen oder symbolischen Funktionen spricht, dann legt er einen Symbolbegriff zugrunde, von dem fraglich ist, ob und inwieweit er mit dem peirceschen oder dem cassirerschen Symbolbegriff kompatibel ist. Für Peirce sind symbolische Zeichen konventionale Zeichen, ähnlich dem saussureschen signe, allerdings nicht begrenzt auf die denotative Ebene der Bedeutung, sondern alle Formen der Bedeutung, auch die konnotativen Bedeutungen umfassend,7 weshalb Peirce auch davon spricht, dass die Bedeutung von symbolischen Zeichen ‚wachsen‘ kann: „Symbols grow. They come into being by development out of other signs.“8 Cassirers Symbolbegriff ist hieran durchaus anschließbar,9 insofern er davon ausgeht, dass im Symbol „ein

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geistiger Gehalt“ erscheint, „der an und für sich über alles Sinnliche hinausweist“, zugleich aber „in die Form des Sinnlichen […] umgesetzt“10 ist. Dies schließt – hier zeigt sich eine Differenz zum peirceschen Symbolbegriff – neben sprachlichen symbolischen Formen auch bildliche symbolische Formen mit ein. Der Symbolbegriff von Nelson Goodman greift, freilich in einer ganz unterminologischen Weise, Aspekte von Peirce’ und Cassirers Bestimmungen des Symbols auf, wenn er im Vorwort zu seinem Buch Languages of Art schreibt: „‚Symbol‘ is used here as a very general and colorless term. It covers letters, words, texts, pictures, diagrams, maps, models, and more, but carries no implication of the oblique or the occult. […] ‚Languages’ in my title should, strictly, be replaced by ‚symbol systems’“.11 Möglicherweise hat die hier behauptete, wechselseitige Ersetzbarkeit von Sprache und Symbolsystem ihre eigene Bedeutsamkeit: Vielleicht ist sie ein Anzeichen für die Schwierigkeit, unterschiedliche Zeichenaspekte in einem Verbundsystem von Zeichen, Verwendungsweisen und kulturellen respektive sozia­len Codierungen als Konfiguration12 zusammen zu denken. Im Folgenden möchte ich daher einem Aspekt, der in der Architektursemiotik bislang keine zentrale Rolle gespielt hat, meine besondere Aufmerksamkeit widmen, nämlich dem indexikalischen Zeichenaspekt. Der erste Schwerpunkt meines Beitrages wird darin bestehen, zwischen zwei Formen von Indizes zu unterscheiden: den Symptomen und den Signalen. In einem trivialen Sinne ist die Relevanz des Indexikalischen evident: Bis heute stellen architektonische Strukturen eine der wichtigsten Quellen dar, aus denen Soziologen Rückschlüsse auf das Zusammenleben gegenwärtiger Gesellschaften und Archäologen Rückschlüsse auf das Zusammenleben untergegangener Zivilisationen ziehen. Insofern hat Architektur als verkörpertes existenzielles Design sozialer Skripte immer schon einen symptomatischen kulturwissenschaftlichen Charakter. Doch auch als Werk, das in einer Tradition des Bauens steht

Uwe Wirth Symbol, Symptom, Signal

und nun offen zur Schau stellt, von welchen Stilrichtungen es beeinflusst wurde, kann ein Bauwerk symptomatischen Charakter haben – und natürlich auch im Hinblick auf sogenannte Bausünden, seien diese nun auf der konzeptionellen Ebene des Entwurfs oder auf der materiell-performativen Ebene der Umsetzung zu erkennen. Um neben diesen unabsichtlichen Möglichkeiten der Architektur im weitesten Sinne, das heisst nicht nur als Kunstwerk, eine symptomatische Bedeutung zuzuschreiben, gibt es auch absichtliche Formen der indexikalischen Aufladung architektonischer Zeichen: Etwa indem Formen oder Materialen als Signale verwendet werden, um auf eine Traditionslinie in der Architekturgeschichte zu verweisen, um also das architektonische Design zum Signal für die Zugehörigkeit zu einer Stiltradition zu machen. In eben dieser Weise könnte man versuchen, die Zitathaftigkeit architektonischer Zeichen nicht im Rekurs auf Sprache, sondern im Rekurs auf Indizes zu bestimmen. Ein zweiter Schwerpunkt meines Beitrags soll darin bestehen, architektonische Zeichen vor dem Hintergrund der Zeichenaspekte Symbol, Index und Ikon im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Schrift, wie sie von Jacques Derrida vorgeschlagen wurde, zu beleuchten. Auch hier steht die Frage nach den indexikalischen Aspekten der Schrift im Vordergrund; auch hier ist der Anlass die Beobachtung, dass Indexikalität für Derridas Schrift- und Spurbegriff offenbar keine Rolle spielt. Ich beginne mit diesem zweiten Schwerpunkt und werde von dort aus auf den ersten Schwerpunkt – die Differenzierung zwischen Symptom und Signal – zu sprechen kommen. In einem dritten Teil werde ich dann versuchen, einige Überlegungen zu einer Re-Konfiguration des Konzepts architektonischer Zeichen im Rekurs auf das Modell der Pfropfung anzustellen. Spur ohne Index. Derridas Schriftbegriff – mit Peirce gelesen

Die „Spur, von der wir sprechen“, so Derrida in seiner Gramma­ tologie, ist „so wenig natürlich (sie ist nicht das Merkmal, das

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natürliche Zeichen oder das Indiz im husserlschen Sinne) wie kulturell, so wenig physisch wie psychisch, so wenig biologisch wie geistig“.13 Wie ist aber dann die Spur, von der Derrida hier spricht, zu denken? Und warum soll die Spur nicht an die Begriffe des Merkmals, des natürlichen Zeichens oder des Indizes anschließbar sein? Wenn ich es recht sehe, liegt der Grund darin, dass Derrida die Spur als dynamische Metapher für einen allgemeinen Schriftbegriff ins Spiel bringen möchte. Danach ist Schrift nicht mehr nur als ein Instrument zu begreifen, das dazu dient, gesprochene Sprache aufzuzeichnen.14 Vielmehr soll Schrift zum Modell für Sprache überhaupt, ja für jede Zeichenpraxis werden, und zwar als trace instituée, als vereinbarte Spur, die „indefinit ihr eigenes Unmotiviert-Werden“15 darstellt. Derrida fasst dieses UnmotiviertWerden der Spur im Anschluss an Peirce als infinite Bezeichnungsbewegung, die das vermeintlich transzendentale Signifikat der saussureschen Semiologie zu einem differenziellen „Spiel der Schrift“ werden lässt.16 Dies wird deutlich, wenn Derrida feststellt: „ In seinem Entwurf einer Semiotik scheint Peirce diesem irreduziblen Unmotiviert-Werden mehr Aufmerksamkeit gewidmet zu haben als Saussure. Peirces Terminologie zufolge muß man von einem Unmotiviert-Werden des Symbols sprechen.“17 Was heißt das? In der peirceschen Zeichentheorie steht das Symbol, wie erwähnt, in funktionaler Analogie zum saussureschen signe. Es ist ein „allgemeines Zeichen“,18 das von einer Konvention (convention), einer Gewohnheit (habit) oder einer natürlichen Regularität (natural disposition) abhängt.19 Als Beispiele für symbolische Zeichen nennt Peirce ein Wort, einen Satz, ein Buch oder ein Argument.20 Im Gegensatz zum Symbol stellt der Index eine Verbindung zwischen zwei individuellen Ereignissen her. Der Index „marks the junction between two portions of experience“21 und gewährleistet dadurch einen Wirklichkeitsbezug, wie es beispielsweise beim Krankheits-

Uwe Wirth Symbol, Symptom, Signal

symptom der Fall ist.22 Das Index-Zeichen hat in irgendeiner Form eine „real connection with its object“.23 An anderer Stelle wird diese Verbindung als referenziell ausgezeichnet. Indizes „refer to individuals“ und richten dabei die Aufmerksamkeit auf den Referenten aus, „they direct the attention to their objects“.24 Im Unterschied zum Index muss das Objekt, auf das sich ein Ikon bezieht, nicht tatsächlich vorhanden sein. Ein Ikon kann ein Abbild oder ein Diagramm sein, es kann mit seinem Gegenstand aber auch nur über eine Ähnlichkeit verbunden sein.25 Angesichts der gerade gegebenen Definitionen stellt sich die Frage, warum Derrida vom „Unmotiviert-Werden des Symbols“ spricht, wo dieses doch bereits als konventionales und insofern als arbiträres, nicht-motiviertes Zeichen definiert ist. Vermutlich weil Peirce das Symbol als ein Zeichen auffasst, das nicht statisch feststeht, sondern dynamisch ist, sich also entwickelt. So zitiert Derrida in der Grammatologie eine Passage der Col­lected Papers, in der Peirce die symbolischen und ikonischen Zeichen in ein prozessuales Verhältnis setzt: „ Symbols grow. They come into being by development out of other signs, particularly from icons, or from mixed signs partaking of the nature of icons and symbols. We think only in signs. These mental signs are of mixed nature; the symbol-parts of them are called concepts. If a man makes a new symbol, it is by thoughts involving concepts. Omne symbolum de symbolo.“26 Dieses Zitat hat zwei entscheidende Konsequenzen für Derridas Spur- respektive Schriftbegriff. Zum einen legt es nahe, Schrift befinde sich als Prozess des Unmotiviert-Werdens im Übergang von ikonischen zu symbolisch-arbiträren Zeichen. Zum anderen scheint diese Stelle den von Derrida vorgenommenen Ausschluss des Anzeichens zu rechtfertigen, da hier von IndexZeichen nicht die Rede ist. Es ist müßig, über die Gründe zu spekulieren, die zu Derridas Widerstand gegen den Index im peirceschen wie im husserlschen Sinne geführt haben. Dennoch seien zwei Punkte

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erwähnt, die mir merkwürdig erscheinen. Während Derrida in der Grammatologie versucht, den Spurbegriff ohne Rekurs auf das Anzeichen zu denken, betont er in Die Stimme und das Phänomen die Unhintergehbarkeit des Anzeichens, wenn er – als Kritik an Husserl – schreibt, „daß die Totalität des Diskurses nur vom Wesen der Anzeige her verständlich ist“.27 Auf die Frage „Was ist ein anzeigendes Zeichen?“ antwortet Derrida – scheinbar Husserl paraphrasierend: „Es kann ebensowohl natürlicher Art [sein] (so zeigen die Marskanäle die mögliche Präsenz intelligenter Wesen an) wie künstlicher Art (das Ankreiden, das Einbrennen des Stigma […]).“28 Indes sucht man diese Differenzierung zwischen natürlichen und künstlichen Anzeichen bei Husserl vergeblich. Sie stammt offenbar von Derrida, denn Husserl unterscheidet lediglich zwischen bedeutungslosen, unwillkürlichen Anzeichen sowie „willkürlich und in anzeigender Absicht gebildeten Zeichen“.29 Was die Husserl-Lektüre betrifft, bin ich mir über die Konsequenzen der von Derrida vorgenommenen ‚Umschrift‘ von unwillkürlichen in natürliche Anzeichen nicht ganz im Klaren. Handelt es sich vielleicht nur um eine Zuspitzung? Anders steht es mit Derridas Rekurs auf die peircesche Semiotik. Hier scheint es mir eine semiotische Unmöglichkeit zu sein, Ikon und Symbol in Dienst zu nehmen und gleichzeitig das Index-Zeichen auszuschließen. Folglich stellt sich die Frage, ob es einen Weg gibt, Derridas Konzept der Spur als Unmotiviert-Werden mit dem peirceschen Begriff des IndexZeichens zusammen zu denken. Symbols grow Symbols grow – dieser Gedanke von Peirce wird

von Derrida angeführt, um das Unmotiviert-Werden der Spur als Unmotiviert-Werden des Symbols zu reformulieren, nämlich als Bewegung von ikonischen zu symbolischen Zeichen. Bemerkenswerterweise beendet Derrida sein Peircezitat kurz bevor Peirce die Art und Weise erläutert, wie das Symbol wächst: „A symbol, once in being, spreads among the peoples. In use and in experience, its meaning grows.“30 Der Umstand, dass

Uwe Wirth Symbol, Symptom, Signal

die Bedeutung eines Symbols durch Gebrauch und Erfahrung wächst, impliziert jedoch, dass das Wachstum der Bedeutung des Symbols nicht durch das ikonische Zeichen allein erfolgen kann, sondern nur in Verbindung mit Index-Zeichen. Es ist das Index-Zeichen, durch das Erfahrungen Eingang in den Zeichenprozess finden, denn das Index-Zeichen markiert die Verknüpfung zwischen zwei „portions of experience“.31 Man sollte nicht vergessen, dass im Rahmen der peirceschen Zeichentheorie alle Zeichen als „mixed signs“ aufzufassen sind.32 Statt von ikonischen, indexikalischen und symbolischen Zeichenklassen wäre es meines Erachtens angemessener, von interferierenden respektive interagierenden Zeichenaspekten zu sprechen, die sich zu Zeichenverbundsystemen zusammenschließen. Diese Interferenz von Zeichenaspekten wird etwa dann deutlich, wenn Peirce den Fußabdruck analysiert, den Robinsoe Crusoe im Sand findet. Der Abdruck im Sand ist für Robinson ein Index-Zeichen dafür, dass „some creature was on his island“. Zugleich („at the same time“) evozierte der Abdruck jedoch „as a symbol […] the idea of a man“.33 Mit anderen Worten: Der Fußabdruck im Sand muss zugleich als Symbol und als Index gedeutet werden. Er muss als Index gedeutet werden, insofern der Fußabdruck anzeigt, dass jemand da war; und er muss als Symbol gedeutet werden, insofern der Abdruck – vermittelt durch die Ikonizität seiner Form – einen menschlichen Verursacher vermuten lässt und mithin ‚Mensch‘ bedeutet respektive denotiert. Peirce zufolge wäre es schwierig, wenn nicht unmöglich, einen „absolutely pure index“ zu finden, ebenso wie es unmöglich wäre, irgendein Zeichen „absolutely devoid of the indexical quality“ zu finden.34 Zu den „mixed signs“ gehört auch das Diagramm. Es ist „in the main an icon of the forms of relations“, das aber dennoch auch symbolische Aspekte aufweist, „as well as features approaching the nature of indices“.35 Denken wir an eine Landkarte, einen Stadtplan, den Grundriss eines Gebäudes oder einen Bauplan: In all diesen Fällen handelt es sich um diagrammatische Repräsentationen. Die Maßstabsangabe und die Projektionsme-

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thode sind symbolisch, die Relationen zwischen den einzelnen Straßen oder den einzelnen Wänden ikonisch. Die namentliche Kennzeichnung der Straßen ist teils symbolisch, insofern es sich um ein sprachliches Phänomen handelt, teils indexikalisch, insofern die benannten Straßen eine Raum-Position im Plan anzeigen, die es ermöglicht, die Straße auch in der realen Welt in ihrer Relation zu anderen Straßen zu identifizieren. Insofern etablieren Benennungen von Raum-Positionen in einem Plan eine real connection, nämlich eine Kontiguitätsrelation. Auch bei einem Diagramm kommt es also zu einer Interferenz von Zeichenaspekten, wobei ein Zeichenaspekt, nämlich der ikonische, dominant ist. Dieser Aspekt kann sich indes in use and experience verschieben. Etwa dann, wenn man den Stadtplan dazu benutzt, um sich auf einem Spaziergang zu orientieren, oder wenn der Handwerker anhand des Bauplans respektive des Grundrisses herausfinden will, wo er eine Wand einziehen soll. In diesen Fällen muss man sich als Zeichendeuter zu der Karte und zur Realität in ein indexikalisches Verhältnis setzen, um den eigenen Standpunkt zu lokalisieren. Die Interpretation der Karte wiederum findet in einem sozial codierten, symbolischen Deutungsrahmen, im Vollzug abduktiver, deduktiver und induktiver Inferenzen statt, die Voraussetzungen und Konsequenzen für Handlungen in der Lebenswelt miteinander in ein Folgerungsverhältnis setzen. Mit anderen Worten: Die Interferenz von Zeichenaspekten ist ihrerseits Teil inferenzieller Prozesse, die das Wachstum unseres Wissens und damit auch das Wachstum der Bedeutung von Symbolen bewirken. Denn alles Wissen wird in symbolischen Formen gespeichert bzw. zwischengespeichert, um bei Gelegenheit inferenziell mit neuen portions of experience verknüpft zu werden. Hieraus folgt meines Erachtens, dass die Bedeutung von Symbolen nur im Wechselspiel mit ikonischen und indexikalischen Zeichenaspekten wachsen kann; ein Umstand, den Derrida ebenso wie Cassirer und Goodman offensichtlich unberücksichtigt lässt.

Uwe Wirth Symbol, Symptom, Signal

Das Unmotiviert-Werden der Spur Es gibt noch ein zweites Problem bei Derridas Ausschluss des Index-Zeichens, ein Problem, das in der Formulierung „Unmotiviert-Werden“ selbst liegt. Wenn der Übergang vom Ikon zum Symbol als Prozess des Unmotiviert-Werdens gefasst werden soll, dann setzt dies voraus, dass das Ikon ein motiviertes Zeichen ist. Aber ist es das? Wofür steht Motiviertheit? Motiviertheit steht für eine unwillkürliche Beziehung, Peirce spricht von „existential relation“.36 Existenzielle Relationen sind Peirce zufolge Relationen der Kausalität oder der Kontiguität.37 So wird das Symptom als Wirkung einer unsichtbaren Ursache interpretiert, die jedoch inferentiell, durch einen abduktiven Rückschluss, rekonstruiert werden kann. Motiviertheit im Sinne existenzieller Relationalität kommt nur indexikalischen Zeichen, nicht aber ikonischen Zeichen zu. Anders gesagt: Ein ikonisches Zeichen kann nur dann als motiviertes Zeichen gedeutet werden, wenn es seinerseits in Verbindung mit einem Index auftritt. Hieraus folgt, dass man nur dann sinnvollerweise von einem „Prozess des Unmotiviert-Werdens“ sprechen kann, wenn man motivierte Zeichen – also Indizes – in diesen Prozess mit einbezieht. So gesehen setzt Derridas Spurbegriff das peircesche Index-Zeichen zwingend voraus. Doch wie verhält sich das Index-Zeichen zu Derridas dynamischem Spurbegriff? Wie kann, mit anderen Worten, das peircesche Index-Zeichen indefinit sein eigenes „UnmotiviertWerden“ darstellen? Symptome und Signale An dieser Stelle möchte ich eine

Binnendifferenzierung zwischen zwei Modi von Indexikalität ins Spiel bringen. In seinen 1903 gehaltenen Lectures on Pragmatism betont Peirce den „dual character“ des Index-Zeichens.38 Zwar ist jedes Index-Zeichen durch eine „real connection with its object“39 bestimmt, doch ist diese real connection im Falle eines kausal motivierten, unwillkürlichen Symptoms anders geartet als im Fall einer hinweisenden Geste. Und eben hierin besteht der Unterschied zwischen genuiner und degenerierter

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Indexikalität. Genuine Indizes sind Teil einer motivierten „existential relation“,40 die durch Kausalität oder „natürliche Kontiguität“ bestimmt ist.41 Insofern sind Symptome kausal motiviert.42 Von Symptomen wird nämlich angenommen, dass sie eine unwillkürliche, motivierte Verbindung zu dem haben, worauf sie verweisen. Die epistemische Pointe eines genuinen Indexes besteht mithin in der doppelten Unterstellung, dass er Bestandteil einer kausal motivierten, aber nicht-intentionalen Relation ist. Diese existenzielle Relation zu einem Objekt ist die Voraussetzung dafür, dass man das Symptom als natürliches Anzeichen deutet. Diese Bestimmung genuiner Indizes koinzidiert mit der von Husserl in den Logischen Untersuchungen gegebenen Definition des „Anzeichens“ als einem Zeichen ohne konventionale Bedeutung. So sind die „fossilen Knochen“, die Husserl als Beispiel für Anzeichen erwähnt,43 genuine Indizes.44 Im Gegensatz zum genuinen Index ist der degenerierte Index nicht kausal motiviert. Ein degenerierter Index ist ein referenzieller Zeiger, „a proper name without signification, a pointing finger“,45 ein nicht-propositionaler Hinweis also, der nichts anderes sagt als „dort“,46 wie etwa ein Hinweisschild, das mit der Intention aufgestellt wurde, den ‚dort‘ befindlichen Gegenstand oder Ort zu denotieren. Der Ausdruck degenerate verweist darauf, dass sich bei deiktischen Referenzhinweisen die Verweisstruktur genuiner Indexikalität durch den Einfluss einer Bezug nehmenden Intentionalität umkehrt. Ein degenerierter Index ist nicht mehr die motivierte Wirkung einer abwesenden Ursache, sondern der Ausgangspunkt einer hinweisenden Bezugnahme, eines intentional motivierten referenziellen Aktes der „Indikation“.47 Damit hat sich gewissermaßen die Richtung der Motiviertheit gedreht. Nicht nur alle deiktischen Gesten, auch alle deiktischen Aus-drücke sind als degenerierte Indizes aufzufassen; desgleichen alle Arten von Signalen, etwa die Leuchtfeuer der Küstenseefahrt, welche eine Untiefe anzeigen, oder aber ein Verkehrsschild, auf dem die Richtung angezeigt wird, wie man zum Beispiel von Bozen nach Berlin kommt. Hier wird deutlich,

Uwe Wirth Symbol, Symptom, Signal

dass sich degenerierte Indizes bereits auf halbem Wege zu konventionalen symbolischen Zeichen befinden. Das heißt zugleich: Degenerierte Indizes stehen für eine bestimmte Form des Unmotiviert-Werdens, für eine Bewegung vom genuin indexikalischen Symptom zum Symbol. Halten wir fest: Der Unterschied zwischen genuinen und degenerierten Indizes offenbart den dual character der Indexikalität. Dieser Doppelcharakter gründet in einer Differenz der Motiviertheit respektive in einer Differenz der Ausrichtung der Motiviertheit. Genuine Indizes sind in einem starken, kausalen Sinne motiviert, degenerierte Indizes dagegen allenfalls in einem schwachen Sinne. Ihre indexikalische Kraft verdankt sich einer Übereinkunft; sie sind konventionale, vereinbarte Spuren. Damit ergibt sich ein Motivations-Gefälle zwischen genuinen und degenerierten Indizes, das ebenso als Unmotiviert-Werden gedeutet werden kann wie der Übergang zwischen degenerierten Indizes und symbolischen Zeichen. Mein Vorschlag ist daher, das Unmotiviert-Werden der Spur, also das, was Derrida als trace instituée bezeichnet hat, als doppelte Interferenz zwischen genuinen und degenerierten Indizes einerseits sowie zwischen degenerierten Indizes und symbolischen Zeichen andererseits zu fassen. Dabei legt der Begriff der Interferenz nahe, dass es sich nicht um eine einsinnige, gleichsam genealogische Entwicklung handelt, sondern um reversible Übergänge bzw. um Übersetzungen, durch die ‚Umschriften‘ vorgenommen werden, die einen Wechsel des Deutungsrahmens implizieren. Dies lässt sich am Beispiel des Wetterhahns erläutern. Ein Wetterhahn ist nach Peirce „an index of the direction of the wind“, denn es besteht „a real connection“ zwischen ihm und der Kraft des Windes, die ihn in eine bestimmte Richtung bewegt.48 So gesehen ist der Wetterhahn ein genuiner Index. Zugleich hat der Wetterhahn auch einen ikonischen Zeichenaspekt, da er dem Wind „in Bezug auf die Richtung, die dieser nimmt„, ähnlich ist.49 Zu einem Werkzeug der Orientierung über die vorherrschende Windrichtung wird der Wetterhahn

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indes erst dadurch, dass es einen symbolischen Rahmen gibt, der anzeigt, wo Norden ist. In dem Moment, in dem die Windrichtung innerhalb dieses symbolischen Rahmens angezeigt wird, kommt es zu einer Interferenz von genuiner und degenerierter Indexikalität, also von Symptom und Signal. Dies wird an der von Peirce gewählten Formulierung „just as a weather-cock indicates the direction of the wind“50 deutlich. Indication steht hier für eine Interferenz von genuiner und degenerierter Indexikalität. Der Wetterhahn als degeneriert indexikalischer Zeiger verdankt sich seinerseits wiederum einer Bezugnahme auf symbolisch vermitteltes Wissen, nämlich auf ein komplexes System symbolischer Formen und Überlieferungen, das dem Konstrukteur des Wetterhahns zur Verfügung stand, um das ‚Gestell‘ des Wetterhahns nach Norden auszurichten. Dergestalt wird das Zeichenverbundsystem ‚Wetterhahn‘ durch eine Interferenz verschiedener ikonischer, indexikalischer und symbolischer Relationen konfiguriert; eine Interferenz, die sowohl als UnmotiviertWerden der Spur gedeutet werden kann, aber auch als Exemplifikation dessen, was ich eingangs als Konfiguration von Zeichenaspekten bezeichnet habe. Schließlich könnte man an dieser Stelle auch noch einen Bezug zu der Unterscheidung denotativ und konnotativ herstellen, indem man zum Beispiel zwischen einer primären, das heisst denotativen Orientierungsfunktion des Wetterhahns, der die Windrichtung anzeigt, und einer sekundären, das heisst konnotativen Kommunikationsfunktion des Wetterhahns unterscheidet: „Schau mal, der Wind kommt aus Süden.“ – „Wie schön, dann können wir ja ein romantisches Picknick am See machen …“ Natürlich betrifft die konnotative Bedeutung des denotativen Zeichenverbundsystems ‚Wetterhahn‘ nicht nur die möglichen Handlungsoptionen, die man bei bestimmten Windrichtungen und den damit implizierten Wetterlagen hat. Auch die Tatsache, dass der Wetterhahn auf einem Kirchturm installiert ist, hat eine konnotative Bedeutung. Wer vom Wetterhahn

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spricht, evoziert die Vorstellung einer kleineren Kirche.51 Umgekehrt schließt die konnotative Korona die Verknüpfung von Wetterhahn und gotischer Dom oder Moschee aus.52 Wenn man nun aus genau diesem Grund – gewissermaßen als provokante architektonische Geste – auf einer Moschee einen Wetterhahn installierte, könnte man dies als eine Art konnotatives Signal betrachten, das seinerseits auf das konnotative Symptom einer kulturell (respektive ideologisch) codierten Nicht-Verknüpfung von Wetterhahn und Moschee verweist. Dass es zu impliziten Überblendungen zwischen den peirce­ schen Zeichenaspekten Ikon, Index, Symbol und den Bedeutungsebenen Denotation und Konnotation kommt, lässt sich anhand der Ausführungen von Geoffrey Broadbent und Charles Jencks zeigen. Wenn Broadbent den peirceschen Symbolbegriff einführt, indem er schreibt, „The gothic cathedral obviously is a symbol of the Christian faith“, da man in der westlichen Kultur die „essential relationship between a building of that form and the religion which it symbolizes“ kennengelernt habe,53 dann läuft bei dieser Erläuterung des Zeichenaspekts Symbol zugleich eine konnotative Bedeutungszuschreibung mit. Und wenn Charles Jencks betont, in der Architektur hätte jedes Zeichen „an indicative component: a glass door indicates itself and what is behind, arrows indicate circulation, a weathercock indicates the direction of the wind, a window indicates view“,54 dann betrifft dies die denotative, nämlich die funktio­ nale Bedeutungsebene. Allerdings ist auch hier die Möglichkeit einer konnotativen Überformung angelegt, so wenn Broadbent feststellt, die meisten functional buildings wären nicht nur Indizes ihrer eigenen Funktionalität, „indicating by its form the functions which it houses“, sondern zugleich auch „symbols of modernity“.55 Hier ist die symbolische Rahmung der denotativen Funktionen gleichbedeutend mit einer konnotativen Aufladung. Ähnliches lässt sich für die ikonische Dimension von Gebäuden sagen, die Broadbent zufolge ganz allgemein darin besteht, uns an etwas anderes zu erinnern, wie bei einer Kirche etwa, deren Dach uns an die Form einer Nonnenhaube erinnert, oder ein Bürohaus, das die Form einer Revolverkugel hat.

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Mit Jencks zu sprechen: „iconic relations can concern all formal articulae“.56 Sie können sowohl auf der materialen Ebene der Farben und Formen, auf der funktional-denotativen Ebene und auf der symbolisch-konnotativen Ebene gefunden werden. So hat zum Beispiel der Umstand, dass der eingangs erwähnte Thron ein goldener Thron ist und in einem ebenfalls goldenen Thronsaal steht, eine ikonisch-konnotative Bedeutsamkeit, denn das Material Gold konnotiert Reichtum und Macht. Doch auch ex negativo lassen sich konnotative Bedeutungen erzeugen, etwa wenn man ein Urinal aus seinem funktional-denotativen Kontext herauslöst und in einen neuen Kontext, etwa eine Ausstellung für moderne Kunst, manövriert, um es dort als Exponat zu präsentieren. In diesem Fall hat die denotative Entfunktionalisierung im Zusammenspiel mit der provokanten Ortsveränderung (und der damit einhergehenden Neukonfiguration des in seiner ursprünglichen Funktion noch erkennbaren und erinnerbaren, nun aber zur Kunst erklärten Urinals) und der ebenso provokativen Umbenennung (Fountain) eine konnotative Aufladung bewirkt: Die provokative Geste ist das Kunstwerk. Noch einmal Derrida: Zitieren als Pfropfen An dieser Stelle

möchte ich noch einmal auf Derrida zurückkommen. Während Derrida in der Grammatologie das Unmotiviert-Werden der Spur zum Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung mit der Schrift wählt, ist es in dem 1972 erschienenen Aufsatz Signatur Ereignis Kontext die Wiederholbarkeit, die Iterabilité. Wie beim Unmotiviert-Werden der Spur handelt es sich hier um eine Dynamik, die an der Schrift exemplarisch vorgeführt wird, zugleich aber allen Zeichen, sowohl den geschriebenen, gesprochenen und bildlichen, unterstellt wird. Die Iterabilität des Zeichens wird daran sichtbar, dass jedes Zeichen „zitiert – in Anführungszeichen gesetzt – werden“57 kann. Nach Derrida gehört es zur „Struktur des Geschriebenen selbst“, dass jedes geschriebene Zeichen „eine Kraft zum Bruch mit seinem

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Kontext“58 besitzt. Diese Kraft zum Bruch macht die „wesensmäßige Iterabilität“ des schriftlichen Zeichens aus. „ Aufgrund seiner wesensmäßigen Iterabilität kann man ein schriftliches Syntagma immer aus der Verkettung, in der es gefaßt oder gegeben ist, herausnehmen, ohne daß es dabei alle Möglichkeiten des Funktionierens und genau genommen alle Möglichkeiten der ‚Kommunikation‘ verliert. Man kann ihm eventuell andere zuerkennen, indem man es in andere Ketten einschreibt oder es ihnen aufpfropft. Kein Kontext kann es abschließen. Noch irgendein Code […].“59 Die Pfropfung steht hier für die Möglichkeit einer ubiquitären „Kraft zum Bruch“ mit externen, das heißt historischen, räumlichen und sozialen, aber auch internen, sprachlich-syntagmatischen Kontexten. Während John Austins Sprechakttheorie, mit der sich Derrida in Signatur Ereignis Kontext unter schrifttheoretischen Vorzeichen kritisch auseinandersetzt, davon ausgeht, dass der Vorgang des Zitierens zu einem illokutionären Kraftverlust von Äußerungen führt, dass das Zitieren eine parasitäre Form der Zeichenverwendung ist,60 wird die Pfropfung bei Derrida als greffe citationelle zu einer Bewegungsfigur, die gerade durch die rekontextualisierenden Akte des Herausnehmens und Einfügens von Zeichenkörpern die Zirkulation kommunikativer Kräfte in Gang hält. Und das heißt, dass die Pfropfung für Derrida zu einer zentralen Metapher wird, welche die Grundidee seiner Argumentation in Signatur Ereignis Kontext illustriert, nämlich, wie er gleich zu Beginn feststellt, die Mehrdeutigkeit des Begriffs Kommunikation auszureizen, den Kommunikationsbegriff nicht mehr nur ausschließlich für Prozesse der Übermittlung von Bedeutungen zu verwenden, sondern zu betonen, dass das Wort Kommunikation „auch nicht-semantische Bewegungen bezeichnet“.61 Die beiden nicht-semantischen Bewegungen, welche die Pfropfung impliziert, sind das Herausnehmen und Wiedereinfügen – sei es in Form der Insertion, sei es in Form der Inscription.

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Natürlich stellt sich die Frage, welche Konsequenzen solch ein Kommunikationsbegriff hat – zum Beispiel für eine Theorie architektonischer Zeichen: ein Kommunikationsbegriff, bei dem nicht mehr die Analyse der Übermittlung denotativer und konnotativer Bedeutungen allein im Zentrum steht, sondern zugleich die Bewegungen, mit denen Zeichenvehikel, also materielle Token, absichtlich oder unabsichtlich in andere Kontexte manövriert werden, um dort neue Verbindungen mit anderen materiellen Token einzugehen und dadurch neue, bislang noch nicht codierte, kommunikative Möglichkeiten zu eröffnen. Folgt man Derrida, so gehört die „Möglichkeit des Herausnehmens und des zitathaften Aufpfropfens“ – die greffe citationelle, wie es auf französisch heißt – „zur Struktur jedes gesprochenen oder geschriebenen Zeichens [marque]“.62 Das heißt, jedes Zeichen ist sowohl durch seine Bedeutungsmöglichkeiten als auch durch seine Bewegungsmöglichkeiten definiert. In diesem Zusammenhang macht der Aufpfropfungsbegriff explizit, was mit der Kraft zum Bruch gemeint sein könnte. Das ‚Herausnehmen‘ eines schriftlichen Syntagmas ist nämlich in Analogie zum Herausbrechen eines Zweiges aus einem Baum zu verstehen, der auf einen anderen Stamm gepfropft und damit in einen anderen botanischen Kontext bewegt wird. Um die technische und praktische Seite dieses Vorgangs verständlich zu machen, sei hier aus dem Garten-Ratgeber Pfropfen und Beschneiden zitiert. Dort lesen wir: „ Im Grunde besteht jeder Pfropfvorgang darin, dass man Teile von zwei Pflanzen verletzt und dann so zusammenfügt, dass sie miteinander verheilen. Der eine Teil wird als Unterlage bezeichnet. Er ist eine Art Gastgeber, der im Boden wurzelt und den anderen Teil, den Reis, mit Nährstoffen versorgt.“63 Anders gesagt: Im Rahmen von Pfropfprozeduren werden verschiedene Pflanzen miteinander verbunden, wobei an die Stelle der natürlichen Kausalität (der sexuellen Fortpflanzung)

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die dispositive Intentionalität eines Konzepts der künstlichen Reproduktion tritt. Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts, in der Encyclopédie, wird die Aufpfropfung als „triomphe de l’art sur la nature“ bezeichnet, da sie es ermöglicht, eine Frucht zu verbessern oder die Gattung zu wechseln (changer l’espèce).64 Dies impliziert, dass es im Rahmen der Aufpfropfung zu einer eigentümlichen Interferenz von Natur und Kultur kommt, die sich als Unmotiviert-Werden der Spur deuten lässt. Die Kausalität der geschlechtlichen Zeugung wird durch die Kulturtechnik der greffe insofern entkräftet, als man willkürlich jeden Reis auf jede ‚Unterlage‘ pfropfen kann – zumindest theoretisch. Bemerkenswerterweise erlaubt der französische Ausdruck ‚greffe‘ darüber hinaus eine semantische Verknüpfung zwischen der Aufpfropfung im botanischen Sinne und dem Schreiben, die im deutschen nicht möglich ist, denn greffe ist auch die Bezeichnung für eine Schreibkanzlei: Der greffier ist, wie in der Encyclopédie ausgeführt wird, ein Notariatsschreiber, der Schriftstücke kopiert, registriert und archiviert.65 Wenn Derrida also behauptet: „Écrire veut dire greffer. C’est le même mot“,66 dann ist die Behauptung: „Schreiben heißt Pfropfen. Das ist das gleiche Wort“, nicht nur metaphorisch, sondern durchaus auch wörtlich zu nehmen. Der Greffier ist ein Abschreiber, ein Kopist, der zunächst einmal einen Akt des Inskribierens vollzieht, mit dem er ein ikonisches Zeichen-Token herstellt, sei es in Form einer kalligraphischen Kopie, wie die mittelalterlichen Kopisten, die zum Teil gar nicht lesen konnten, was sie kopierend abmalten; sei es in Form von Replika-Token, bei denen es nicht darauf ankommt, dass sich die Form der Token ähnelt, sondern dass die Buchstaben Replikas des gleichen Buchstaben-Typs sind.67 Sowohl im ersten als auch im zweiten Fall könnte man behaupten, dass der Greffier nicht nur eine Kopie anfertigt, sondern in gewisser Hinsicht mit dem Akt des Kopierens auch eine Umschrift vornimmt. Insofern impliziert jeder Akt des Kopierens und Zitierens eine, wie man im Anschluss an Ludwig Jäger sagen

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könnte, „transkriptive Bearbeitung“68 des Materials. Die greffe citationelle ist also immer auch eine greffe transcriptive, da das Ausgangsmaterial bearbeitet und umgearbeitet wird und dadurch ein neues Design erhält. Bei diesen Akten des zitierenden Abschreibens und Umschreibens kommt den Anführungszeichen eine besondere Bedeutung zu. Sie stehen in funktionaler Analogie zu jenen „Veredelungsstellen“,69 die nach jedem Akt der Pfropfung zurückbleiben und indexikalisch darauf verweisen, wo die Pfropfung stattgefunden hat. Dabei sind die Veredelungsstellen als genuiner Index dafür zu deuten, dass eine Pfropfung stattgefunden hat. In gleicher Weise hat auch das Anführungszeichen als Spur der greffe citationelle den Status eines genuinen Indexes. Allerdings interferiert dieses genuin indexikalische Symptom-Sein mit dem degeneriert indexikalischen SignalSein des Anführungszeichens. Tatsächlich werden Anführungszeichen auch in der Sprachphilosophie, etwa im Kontext der von John Searle vertretenen Gebrauchstheorie des Zitierens, als Signale bezeichnet. Sie werden als Signale dafür verstanden, dass das, was zwischen den Anführungszeichen steht, „nicht in seinem normalen Sinne verwendet wird“, dass also die illokutionäre Funktion der Äußerung zwischen den Anführungszeichen außer Kraft gesetzt wurde.70 Mehr noch als für Searle spielt die degenerierte Indexikalität für Donald Davidsons ‚Zeigetheorie des Zitierens‘ eine zentrale Rolle. In Abgrenzung zu Alfred Tarskis und Goodmans Eigennamentheorie des Zitierens einerseits, der zufolge der Anführungskomplex ein Denotat des Angeführten ist, und andererseits Willard Van Orman Quines Bildtheorie des Zitierens,71 wonach das, was zitiert wird, überhaupt nicht mehr sprachlich-symbolischer, sondern ikonischer Natur ist, weil es den angeführten Ausdruck abbildet, hebt Davidson die Rolle der Anführungszeichen hervor. Diese referieren als deiktische, singuläre Termini degeneriert indexikalisch auf das Ausdrucksvorkommnis – Davidson nennt es „inscription inside“ – und zugleich – ebenfalls degeneriert indexikalisch –

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auf ihre eigene Funktion als Anführungszeichen.72 Das heißt, dass die Anführungszeichen als autoreferenzielle Rahmungshinweise fungieren. Als solche sind sie – und hier kommt es nun zu einer Interferenz von degenerierter mit genuiner Indexikalität – Spuren einer Bewegung, der Bewegung des Anführungskomplexes – sprich des Zitierten – in seinen neuen Kontext. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Beschreibung von Zitaten im Spannungsfeld von Bedeutung und Bewegung, wie es Derridas Pfropfungsmodell nahelegt, aber auch im Spannungsfeld von genuiner und degenerierter Indexikalität, wie ich es im Anschluss an Peirce versucht habe, für die Analyse architektonischer Zeichen – insbesondere auch mit Blick auf ihre kommunikativen Möglichkeiten – in Dienst genommen werden kann. Die Rede von der Zitathaftigkeit von Architektur wird seit einiger Zeit in der Architekturtheorie hinterfragt.73 Die Frage ist, ob es im Kontext der Architektur überhaupt so etwas wie wörtliche Zitate geben kann, wenn man eine sprachphilosophisch abgesicherte Theorie des Zitierens zugrunde legt. So hat Christoph Baumberger in seinem Buch Gebaute Zeichen zu Recht darauf hingewiesen, dass die meisten typischen Fälle, die in der Architekturtheorie als Zitate beschrieben werden, „viel eher sprachlichen Anspielungen als sprachlichen Zitaten“ gleichen.74 Der entscheidende Punkt ist dabei die Frage, ob sich architektonische Bauwerke wie sprachliche Äußerungen verhalten und mithin dem Replika-Paradigma unterliegen. Könnte man nicht auch argumentieren, dass Architektur, vor allem wenn sie als Kunstwerk aufgefasst wird, eher ein Werk der bildenden Kunst ist, mithin ein singuläres Token darstellt, das nicht repliziert, sondern allenfalls dupliziert werden kann und insofern dem Kopien-Paradigma gehorcht? In diesem Falle stünden Zitate architektonischer Zeichen in Analogie zu den Zitaten bildlicher Zeichen.75

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Überlegungen zu einem Pfropfungsmodell architektonischer Zeichen Eine andere Option ist die Indienstnahme von Derridas

Pfropfungsmodell, um das architektonische Zitieren und Implizieren – ebenso wie das Konnotieren – als spezifische Bedeutungsbewegung zu fassen. Insbesondere könnte man überlegen, ob das Aufpfropfungsmodell dazu geeignet ist, die Bewegungen zwischen Design als Symptom, Design als Signal und Design als Symbol zu beschreiben, nämlich als eine Re-Kontextualisierungsbewegung von Re-Inskriptionen und Re-Konfigurationen. Viele architektonische Phänomene, die sich als Pfropfung beschreiben lassen, sind gar nicht mit der Absicht entstanden, einen anderen Stil zu zitieren, sondern sind zunächst einmal Symptome dessen, was man als eine bricolagehafte Bauweise bezeichnen könnte.76 Hierzu zählen alle Formen des nachträglichen Umbauens von Gebäuden, des späteren Zuende-Bauens oder des Überbauens, aber auch die Verwendung von Baumaterialien, die von anderen Gebäuden stammen. Im Extremfall entstünde ein ‚zusammengepfropftes‘ Gebäude, das ganz aus den Materialien anderer Gebäude errichtet wurde. Zwei in der Architekturgeschichte tatsächlich sehr häufig anzutreffende Phänomene sind das Umbauen und das Überbauen. In Victor Hugos Roman Notre Dame de Paris aus dem Jahre 1832 finden wir einige Betrachtungen über die an Kirchen zu beobachtende Vielfalt an Baustilen, die in Übergangsperioden, etwa der zwischen dem Romanischen und dem Gotischen, entstanden sind: „Es ist das Pfropfreis des Spitzbogens auf dem Rundbogen“,77 heißt es dort, und kurz darauf folgt eine Passage, die sich wie das Manifest einer architektur- und kulturtheoretischen Indienstnahme des Pfropfungsmodells liest: „ Die neue Kunst bemächtigt sich des Denkmals, wo sie es findet, versenkt sich in dasselbe, assimilirt sich mit ihm, entwickelt es nach seinem Geschmacke und beendigt es, wenn sie kann. Das geht ohne Störung, ohne Anstrengung, ohne Rückschritt vor sich, zufolge eines ruhigen Naturgesetzes. Ein Pfropfreis kommt dazu, die Säfte circuliren,

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wieder beginnt eine Vegetation. Wahrlich, es ist Stoff für sehr große Bücher und oft Weltgeschichte der Menschheit in diesen allmählichen Verbindungen mehrerer Kunstgattungen zu verschiedenen Höhen an ein und demselben Baudenkmale. Der Mensch, der Künstler, das Individuum verschwinden bei diesen großen Massen ohne Namen des Urhebers; es ist der Geist der Menschheit, der sich hier zusammenfaßt und als Ganzes erscheint. Die Zeit ist der Baumeister, ein Volk macht den Maurer.“78 Dass diese Passage architekturtheoretisch relevant ist, belegt der Umstand, dass sie von Jencks in seinem Buch Architecture of the Jumping Universe angeführt wird, um damit auf neue Konzepte nicht nur des Bauens und Planens, sondern auch der Bedeutungsstiftung durch Architektur zu verweisen: „The longer a house, cathedral or city takes in its design and building, the greater its complexity can be – the architect and client are creatively binding new meanings together.“79 Hier findet nun der Übergang von einer symptomhaften zu einer signalhaften Form architektonischer Pfropfung statt – ein Übergang, der architekturgeschichtlich durch Stilüberlagerungen, wie sie die Neugotik hervorgebracht hat, markiert wird. Dabei haben wir es nun tatsächlich mit absichtlichen Stilzitaten zu tun, bei denen das Konzept Gotik unter Verwendung einer anderen Bauweise und anderer Materialien auf einen neuen Gebäudetyp gepfropft wurde, was wiederum eine transkriptive Bearbeitung des Konzepts Gotik impliziert. Tatsächlich wird die Pfropfung als Modell architektonischer Prozesse in der Architekturtheorie seit einigen Jahren von Peter Eisenman ins Feld geführt, aber auch von dem Berliner Architekturbüro Graftworld, das sich das Prinzip Pfropfung aufs Firmenschild geschrieben hat. Sein Credo ist das „Fusionieren von Dingen, von vermeintlichen Gegensätzen“,80 und zwar nicht nur als Pfropfung von Elementen eines Baukontextes in einen anderen Baukontext, sondern gleichsam im genuinen Feld der Pfropfung selbst, als Re-Design der Schnittstelle zwischen Natur und Kultur.

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Dieses Re-Design beschäftigt auch Eisenman. Für ihn ist die Pfropfung das Paradebeispiel eines nicht-natürlichen „artificial origin“, der als „generic insertion of an alien body into a host“81 neue Resultate hervorbringt. Entscheidend für Eisenman ist, dass die Pfropfung einen konzeptuellen Bewegungsraum neuer Kombinationen eröffnet.82 Dabei liegt sein Hauptinteresse in der Frage, wie der „process of consciously making grafts“ als „process of modification“83 beschrieben werden kann. Hierfür sind Eisenman zufolge drei Aspekte von Relevanz, nämlich erstens, dass der Prozess der Pfropfung mit einer „arbitrary and artificial conjunction“ beginnt und damit zweitens zwei „distinct characteristics which are in their initial form unstable“ miteinander in Verbindung bringt: „It is this instability which provides the motivation (the attempt to return to stability) and also allows modification to take place.“84 Der dritte Aspekt betrifft das, was Victor Hugo metaphorisch als „circuliren„ bezeichnet hat und was man im Anschluss an Derrida als eine durch Rekontextualisierung initialisierte Re-Funktionalisierung respektive Re-Konfiguration fassen könnte: „In the incision there must be something which allows for an energy to be cut off by the coming together of the two characteristics.“85 Was bedeutet das? Die von Derrida ins Spiel gebrachte Kraft zum Bruch impliziert mit der Unterbrechung der Verbindung zwischen dem Pfropfreis und seinem ursprünglichen Kontext die Möglichkeit, dass ein Pfropfreis als Fremdkörper in einen neuen Kontext eingefügt werden kann, mit diesem eine neue Verbindung herstellt und so neue funktionale Möglichkeiten des Wachstums eröffnet. Die Zirkulation von Säften wird zum metaphorischen Hof für all jene Zirkulationen semantischer Codierungen und kommunikativer Kräfte, die durch die Bewegung der Rekontextualisierung ausgelöst werden. Es handelt sich um Bewegungen, die in funktionaler Analogie zu eben jenen Prozessen stehen, die sich bei konnotativen Bedeutungsüberlagerungen und Bedeutungsanreichungen vollziehen.

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Auch der zweite Aspekt von Eisenmans Indienstnahme des Pfropfungsmodells für architektonische Prozesse ist in meinen Augen bemerkenswert, denn er verknüpft das Prinzip Pfropfung als Modell architektonischer Prozesse mit Derridas Schriftmodell und dessen Rekurs auf die peircesche Semiosis. In einer Anmerkung schreibt Eisenman mit Bezug auf die Motivation als Versuch einer Stabilisierung der durch die Pfropfung instabil gewordenen Verhältnisse: „ Like Derrida’s ‚instituted trace‘, motivation describes a system which is internally consistent, but arbitrary in that it has no beginning or end and no necessary or valued direction“.86 Die trace instituée, verstanden als Spur respektive als erweiterter Schriftbegriff, die „indefinit ihr eigenes UnmotiviertWerden“87 darstellt, wird hier als Interferenz von Motiviertheit und Arbitrarität gefasst. Es ist arbiträr, insofern es keiner vorgeschriebenen Richtung folgt, und es ist motiviert, insofern es auf der Suche nach einer Ausrichtung ist. Ich denke, man kann dies auch als eine Beschreibung der Interferenz des dual character von genuiner und degenerierter Indexikalität auffassen. Beide Formen der Indexikalität sind ja, wie ihre Analyse gezeigt hat, nicht nur Ausdruck unterschiedlicher Ausrichtungen der Motiviertheit, sondern zeichnen sich als interferierende Momente des Indexikalischen durch eine Instabilität des Deutungsrahmens aus, indem sie – denken wir noch einmal an den Wetterhahn – ein Zugleich von symptomatischen, signalhaften und symbolischen Zeichenaspekten implizieren. Schluss Abschließend möchte ich auf einen Punkt hinweisen,

der sowohl für eine architektonische Theorie denotativer und konnotativer Zeichenprozesse, als auch für die ‚Architektur‘ des peirceschen Zeichenmodells relevant sein könnte. Wie eingangs angedeutet, lässt sich die Überlagerung denotativer Bedeutungen durch konnotative Bedeutungen als dynamischer semantischer Wachstumsprozess verstehen, der sich im

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Programm / Funktion Codierung / Stil

Form / Zeichen

Rezeption / Interpretation 2

Rahmen Bedeutung / dessen vollzieht, was Peirce als Semiose bezeichnet. Interpretation 1 Das Diktum „symbols grow“ kann dabei entweder als unkon­ trollierte Wucherung an konnotativen Bedeutungsmöglichkeiten begriffen werden, oder aber – insbesondere was das making neuer Symbole betrifft, die aus anderen Symbolen erwachsen – als konzeptionelle Aufpfropfung verschiedener Symbolsysteme. Dies hat zwei Konsequenzen: Erstens verweisen die Schnitt- respektive Veredelungsstellen zwischen den verschiedenen Symbolsystemen indexikalisch auf die bewussten connotative symbolische CONTENT EXPRESSION level konnotative Bedeutung und unbewussten Prozesse der Verbindung unterschiedlicher Konzepteexpression (Stichwort: binding new meanings together). Je denotative funktionale content level Bedeutung nachdem, ob diesen Prozessen kausale denotative oder intentionale Motivationen zugrunde liegen, erscheinen die Veredelungsstellen als symptomatische oder als signalhafte Indizes. Zweitens wird das Verhältnis zwischen denotativer und konnotativer Bedeutungsebene nun als ein Verhältnis der Aufpfropfung interpretierbar. Hieraus ergibt sich eine grundlegende Rekonfiguration des eingangs vorgestellten Konnota­ tionsmodells, das sich nun wie folgt darstellt:

connotative level

EXPRESSION

Überlagerung von Bedeutungsebenen denotative level

expression

CONTENT

Pfropfreis (symbolische konnotative Bedeutung) Veredelungsstellen (symptomatisch oder signalhaft)

content

Unterlage (funktionale denotative Bedeutung)

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Anmerkungen 1

Hartmut Böhme, „Einleitung. Raum – Bewegung – Topographie“, in: Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart 2005, S. 9–23, hier: S. 14.

2 Ebenda. 3

Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt/M. 1977, S. 170.

4

Vgl. Charles Jencks, „The Architectural Sign“, in: Geoffrey Broad­ bent, Richard Bunt u. Charles Jencks (Hg.), Signs, Symbols, and Architecture, Chichester, London, New York 1980, S. 71–118, hier: S. 82

5

Vgl. Jencks, „The Architectural Sign“ (Anm. 4), wo er schreibt: „language dominates all sign systems“, S. 74.

6

Ebenda, S. 81.

7

Vgl. Uwe Wirth, „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Von der Sprachphilosophie zu den Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2002, S. 9–60.

8

Charles Sanders Peirce, Collected Papers of Peirce, Bd. I–VI, hg. v. Charles Harsthorne u. Paul Weiss; Bd. VII–VIII, hg. v. Arthur W. Burks, Cambridge/Mass. 1931–1958. Zitiert wird in Dezimalnotation: 2.302.

9

Vgl. Uwe Wirth, „Vorüberlegungen zu einer Logik der Kulturfor­ schung“, in: Uwe Wirth, Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte, Frankfurt/M. 2008, S. 9–67, hier: S. 42.

10 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, in: Ernst Cassirer, Gesammelte Werke, Bd. 11–13, Hamburg 2003, hier: Bd. 11, S. 40. 11 Nelson Goodman, Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis/New York/Kansas City 1968, S. xi–xii 12 Vgl. Uwe Wirth, „Intermedialität“, in: Thomas Anz (Hg.), Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1., Stuttgart 2007, S. 254–264. 13 Jacques Derrida, Grammatologie [1967], Frankfurt/M. 1983, S. 83. 14 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, S. 28. 15 Derrida, Grammatologie (Anm. 13), S. 83.

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16 Ebenda, S. 87. 17 Ebenda, S. 83. 18 Charles Sanders Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/M. 1983, S. 66. 19 Peirce, Collected Papers of Peirce (Anm. 8), 8.335. 20 Ebenda, 5.73. 21 Ebenda, 2.285. 22 Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (Anm. 18), S. 65. 23 Peirce, Collected Papers of Peirce (Anm. 8), 5.75. 24 Ebenda, 2.306. 25 Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (Anm. 18), S. 64. 26 Peirce, Collected Papers of Peirce (Anm. 8), 2.302. 27 Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen [1967], Frankfurt/M. 1979, S. 83. 28 Ebenda, S. 79. 29 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. 2, Tübingen 1968, S. 23–24. 30 Peirce, Collected Papers of Peirce (Anm. 8), 2.302. 31 Ebenda, 2.285. 32 Ebenda, 2.302. 33 Ebenda, 4.531. 34 Ebenda, 2.306. 35 Ebenda, 4.531. 36 Ebenda, 2.283. 37 Ebenda, 2.306. 38 Ebenda, 5.75. 39 Ebenda. 40 Ebenda, 2.283. 41 Ebenda, 2.306. 42 Ebenda, 8.335.

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43 Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen (Anm. 29), S. 24. 44 In einer Hinsicht geht der Begriff genuine Indexikalität dann aber doch über Husserls Bestimmung des natürlichen Anzeichens hinaus: Für Peirce sind auch unsere Wahrnehmungsprozesse durch symp­ tomatische Relationen determiniert. Die Wahrnehmungsurteile (perceptual judgements) repräsentieren das Wahrgenommene (percept) als „true symptom, just as a weather-cock indicates the direction of the wind or a thermometer the temperature“; Peirce, Collected Papers of Peirce (Anm. 8), 7.635. 45 Ebenda, 5.75. 46 Ebenda, 3.361. 47 Vgl. hierzu Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge [1966], Frankfurt/M. 1974, S. 99. 48 Peirce, Collected Papers of Peirce (Anm. 8), 2.286. 49 Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (Anm. 18), S. 65. 50 Peirce, Collected Papers of Peirce (Anm. 8), 7.635. 51 Ein besonderer Aspekt dieser konnotativen Codierung, auf den mich Jörg Gleiter hingewiesen hat, betrifft den Umstand, dass es sich zudem meist um evangelische Kirchen handelt. Dies schließt natürlich keineswegs aus, dass es auch große evangelische Kirchen gibt, wie etwa das Ulmer Münster, das im Zuge der Reformation zu einer protestantischen Kirchen gemacht geworden ist. Wichtiger als der konfessionelle Aspekt scheint mir in diesem Fall jedoch der triviale Umstand zu sein, dass man Wetterhähne, die man auf den Türmen von Kathedralen anbringt, nicht mehr sehen kann und dass sie mithin dort ihre indexikalische Funktion des Anzeigens der Windrichtung verlieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie es mit dem Kreuz als Krone des Kirchturms steht, denn hier scheint das Argument der Sichtbarkeit nicht zu greifen. Das Kirchturmkreuz, das sich auch auf Kathedralen findet, ist offenbar von jeder weltlich-pragmatischen Aufgabe des Anzeigens entlastet und verweist vielmehr als eine Art transzendentaler Index auf die religiöse symbolische Rahmung des Kirchengebäudes als Ort der Kommunikation mit Gott. 52 Das Konnotationsmodell erweist sich dabei als ein Modell, das wissenschaftlich oder historisch nicht immer zu verifizierende Verallgemeinerungen vornimmt, und insofern ein ideologisches Modell der symbolischen Organisation von konnotativen Symp­ tomen ist. 53 Geoffrey Broadbent, „Architectural Objects and Their Design as a Subject for Semiotic Studies“, in: Design Studies 1/4, 1980, S. 207–216, hier: S. 215.

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54 Jencks, „The Architectural Sign“ (Anm. 4), S. 103. 55 Broadbent, „Architectural Objects and Their Design as a Subject for Semiotic Studies“ (Anm. 53), S. 215. 56 Jencks, „The Architectural Sign“ (Anm. 4), S.104. 57 Jacques Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“, in: Jacques Derrida, Limited Inc, Wien 2001, S. 15–45, hier: S. 32. 58 Ebenda, S. 27. 59 Ebenda. 60 John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979, S. 21. 61 Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“ (Anm. 57), S. 15. 62 Ebenda, S. 32. 63 Oliver E. Allen, Pfropfen und Beschneiden. Time-Life Handbuch der Gartenkunde, Amsterdam 1980, S. 62. 64 Vgl. Jean Le Rond d’Alembert und Denis Diderot, Encyclopédie, Paris 1751-1780, Bd, 7 (1757) S. 920-921., Stichwort Greffe. 65 Ebenda, S. 924, Stichworte Greffe u. Greffier. 66 Jacques Derrida, La Dissémination, Paris 1972, S. 431. 67 Der Begriff der Replica wird von Peirce eingeführt, um die Type-Token-Relation insbesondere sprachlicher Zeichen zu beschreiben und von der Kopie als einer Token-Token-Relation zu unterscheiden. Dabei ergibt sich hier eine interessante Parallele zu Derridas Konzept der Iterabilität, die ja ebenfalls auf die Wieder­ holbarkeit des Zeichens rekurriert. „The mode of being“ jedes Zeichens, schreibt Peirce, „is such that it is capable of repetition“; Peirce, Collected Papers of Peirce (Anm. 8), 5.138. Anders als eine Kopie ist eine Replica als „Instance of Application“ (ebenda, 2.246), die wiederholbare Verkörperung eines Typs. Jedes Vorkommen des Wortes ,Mann‘ ist, so Peirce, ein Replica-Token des allgemeinen Wort-Typs ,Mann‘, das nur dadurch zu einem bedeutungsfähigen Zeichen wird, dass seine Replikas im Anwendungsfall als auf die Vorstellung ,Mann‘ verweisend interpretiert werden. Goodman greift den Begriff der ,Replika‘ zunächst in Languages of Art im Rekurs auf Peirce auf, wo er schreibt: “I prefer to dismiss the type altogether and treat the so-called tokens of a type as replicas of one another. An inscription needs not be an exact duplicate of another to be a replica, or true copy, of it; indeed, there is in general no degree of similarity that is necessary or sufficient for replicahood.“ (Goodman, Languages of Art (Anm.11), S. 131, Anm. 3). In Ways of Worldmaking spitzt er das Replika-Sein auf das

Uwe Wirth Symbol, Symptom, Signal

Prinzip der Selbigkeit der Buchstabenfolge zu: „Repliken können sich drastisch unterscheiden, solange sie nur genauso buchstabiert werden.“ (Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung [1978], Frankfurt/M. 1998, S. 66). Eben hierin besteht der Unterschied zwischen sprachlichem und bildlichem Zitat. Während nämlich ein sprachliches Zitat immer nur die Replik des Zitierten enthält, gibt es „keine Repliken von Bildern, so wie es Repliken von Wörtern gibt“ (ebenda), weil der Malerei ein Notationssystem im Sinne eines Buchstabenalphabets fehlt. 68 Ludwig Jäger, „Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen“, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004, S. 35–74, hier: S. 41. 69 Vgl. Allen, Pfropfen und Beschneiden (Anm. 63), S. 64. 70 John Searle, Sprechakte [1969], Frankfurt/M. 1983, S. 118 f. 71 Vgl. Arnold Günther, „Der logische Status des Anführungszei­ chens“, in: Zeitschrift für Semiotik 14, 1992, S. 123–140, hier: S. 133. 72 Donald Davidson, „Quotation“, in: Theory and Decision 11, 1979, S. 27–40, hier: S. 37. 73 Siehe hierzu auch Remei Capdevila-Werning, „Zitieren in der Archi­ tektur“, in diesem Band, S. 210–228. 74 Christoph Baumberger, Gebaute Zeichen. Eine Symboltheorie der Architektur, Frankfurt/M. und Zürich 2010, S. 434. Dieser Argumen­ tation liegt Goodmans Auffassung des Zitats zugrunde. In Weisen der Welterzeugung (Anm. 67) formuliert Goodman als notwendige Bedingungen für das direkte oder indirekte Zitat, dieses müsse a) eine Paraphrase dessen enthalten, was zitiert wird, und b) auf das, was zitiert wird, denotierend Bezug nehmen (S. 61). Da aber, wie Baumberger feststellt, „Bauwerke und architektonische Gebäude­ teile, die als Zitate beschrieben werden, in der Regel […] weder denotieren noch erwähnungsselektionieren, können sie auch nicht paraphrasiert werden. Damit können sie auch die Enthaltensbedin­ gung für das indirekte Zitat nicht erfüllen.“ (Baumberger, Gebaute Zeichen, S. 434). Dies ist zweifellos eine konsequente Folgerung, die aber nur so lange Bestand hat, wie man Goodmans Theorie des Zitierens teilt. Dass es alternative Zitiertheorien gibt, haben die Hinweise auf Derrida und Davidson gezeigt. 75 Goodman, Weisen der Welterzeugung (Anm. 67), S. 66. 76 Zum Begriff der bricolage vgl. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt/M. 1973, S. 29-30. 77 Victor Hugo, Der Glöckner von Notre Dame, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 128.

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78 Ebenda, S. 129. 79 Charles Jencks, Architecture of the Jumping Universe, a Polemic. How Complexity Science is Changing Architecture and Culture, Chichester 1997, S. 74. 80 Vgl. www.graftlab.org [6. Januar 2013] sowie das Interview mit Wolfgang Pütz (einem der Architekten des Büros Graftworld): „Die alte Republik ist noch nicht tot“, in: TAZ, Berlin, 24. Januar 2005, S. 28. 81 Peter Eisenman, The End of the Classical. The End of the Beginning, the End of the End [1984], in: K. Michael Hays, Architecture Theory Since 1968, Cambridge 1998, S. 524–538, hier: S. 531. 82 Ebenda, S. 532. 83 Ebenda, S. 536 (Anm. 19). 84 Ebenda. 85 Ebenda, S. 536. 86 Ebenda, S. 537. 87 Derrida, Grammatologie (Anm. 13), S. 83.

Jörg H. Gleiter

Präsenz der Zeichen. Vorüberlegungen zu einer phänomenologischen Semiotik der Architektur Die Architektursemiotik ist mit einer Schwierigkeit konfrontiert: Mit der Materialität architektonischer Zeichen. Es ist charakteristisch für die Zeichen in der Architektur, dass sie im Gegensatz zu linguistischen Zeichen keine arbiträren oder unmotivierten Zeichen sind, dass sie also nicht nur auf Dinge verweisen, die sie selbst nicht sind, wie dies sprachliche Zeichen tun, sondern dass sie immer zugleich auch eine räumlich-materielle Variante des Dings sind, auf das sie verweisen. So ist eine Tür nicht nur das Zeichen und somit ein Stellvertreter für eine Tür, sondern ist die Tür selbst in der konkreten Situation. Wegen ihrer zumeist linguistischen oder bildtheoretischen Konzeption tun sich jedoch die verschiedenen Zeichentheorien von Ferdinand de Saussure und Charles S. Peirce bis Nelson Goodman und Umberto Eco schwer, diesem Tatbestand gerecht zu werden und ihn schlüssig in ihren Theorien abzubilden. Im Folgenden soll daher das Spezifische einer Architektursemiotik herausgearbeitet und die Grundlagen für ein erkenntnistheoretisch fundiertes triadisches Zeichenmodell erarbeitet werden. Die These ist, dass es in der Architektur drei Konstituenten des Zeichenverstehens gibt: Material, Figur und Situation. Da architektonische Zeichen nicht nur bedeuten, sondern sich in besonderer Weise durch konkrete Verwendungsweisen auszeichnen, kann eine Theorie architektonischer Zeichen nur in phänomenologischer Erweiterung der bestehenden Modelle der Semiotik gelingen.

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Dreifache erkenntnistheoretische Ambivalenz Viel Unklarheit besteht über den Zeichencharakter der Architektur. Das zeigt sich daran, dass sich die großen Theorieentwürfe von Saussure, Peirce, Goodman und Eco in Bezug auf die Architektur zurückhalten und dort, wo sie zur Architektur Stellung nehmen, wenig überzeugend sind. Eine der Schwierigkeiten ist, dass das, was aus der Ferne ein eindeutiges architektonisches Zeichen ist, wie zum Beispiel Brücken oder Türme, sich mit der Annäherung in vielfältige einzelne Elemente, Zeichenverweise und Interpretationsmöglichkeiten auflöst. Die aus der Entfernung eindeutigen Zeichen gewinnen mit der Nähe an Komplexität, die ihrer anfänglichen Klarheit zuwiderlaufen kann. Darin unterscheiden sich Gebäude von linguistischen Zeichen. Wörter können größer oder kleiner geschrieben werden, ohne dass sich die Bedeutung der Wörter, des Satzes, des Kapitels oder des Buchs ändert. Für die architektonischen Zeichen gilt dagegen anderes, sie verändern sich durch die räumliche Position des Betrachters. Mit Edmund Husserl kann man feststellen, dass ein Gebäude in der Wahrnehmung immer in „Abschattungen“ gegeben ist. Wir sehen immer nur eine Ansicht, während aufgrund der Dreidimensionalität ein Teil des Gebäudes nicht sichtbar ist, was in der Regel der größere Teil ist. Jedes Wahrgenommene ist in seiner Erscheinungsweise, wie Husserl sagt, in jedem Moment ein „System von Verweisen“, das aus einem Erscheinungskern und verschiedenen Verweisen auf das im Moment nicht Wahrnehmbare besteht. Architektur besitzt eine Rück- und Innenseite, welche in der Regel nicht einsichtig sind. Husserl spricht hier vom Leerhorizont der Wahrnehmung, der in einer „bestimmbaren Unbestimmbarkeit“1 besteht und vom Wahrnehmenden durch seine Erinnerungen und Erfahrungen mit dem Gebäude oder ähnlichen Gebäuden und Situationen aufgefüllt werden muss. Die Architektur in ihrer Raumdinglichkeit ist daher immer Gegenstand von Interpretationen, Protentionen und Retentionen,

Jörg H. Gleiter Präsenz der Zeichen

also der imaginativen Vorwegnahme des Noch-nicht-Gesehenen anhand anderweitig gemachter Erfahrungen. In der Bewegung vor dem Gebäude, um das Gebäude und im Gebäude verändert sich der Leerhorizont, er wird laufend mit real Wahrgenommenem gefüllt, während das zuvor Wahrgenommene aus dem Blickfeld schwindet und nur noch als Erinnerung oder Retention gedanklich weiterexistiert. Architekturerfahrung besteht daher aus einer Kombination sinnlicher Perzeption und gedanklicher Apperzeption. Das heißt, dass Architektur immer Gegenstand einer Vorstellungs- und Bewusstseinsbildung ist, die über das aktuell sinnlich Wahrnehmbare hinausgeht. In diesem Sinne tritt uns die Architektur als Sichtbares und Unsichtbares, als Konkretes und Imaginiertes entgegen und damit als etwas, das sich entsprechend der räumlichen Bewegung des Betrachters stetig verändert. Insofern ist die Architektur ein komplex zusammengesetztes Zeichensystem. Komplex ist sie aber nicht nur in ihrer räumlichen Gestalt, sondern weil sie mit verschiedenen Sinnen wahrgenommen wird, nicht nur mit dem Auge. Im Zusammenspiel nehmen Seh-, Gehör-, Geruchs-, Tast-, Gleichgewichts- und Muskelsinn an der Bedeutungsstiftung der Architektur teil. Für die folgenden Überlegungen zu einer Architektursemiotik sind daher zwei methodische Einschränkungen zu machen. Der analytischen Klarheit wegen ist es einerseits sinnvoll, zu Beginn das Interesse auf das einzelne architektonische Zeichen zu beschränken, also das Analyseobjekt so klein zu halten, dass sich sein erkenntnistheoretischer Status bei der Analyse nicht ändert und sich so die Formen der Bezugnahme und Wirkungsweisen bestimmen lassen. Gleichzeitig ist es notwendig, das multisensorische Zeichenverstehen einzuschränken und auf die visuelle Wahrnehmung als den in unserer Alltagswelt dominanten Sinn zu beschränken. Gelingt die Analyse, kann zu einem späteren Zeitpunkt die Architektursemiotik um die anderen Zeichenerfahrungen ergänzt und zu einem komplexen Modell des architektonischen Zeichenverstehens erweitert werden.

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Voraussetzung für jede Architektursemiotik ist die Erkenntnis, dass architektonische Zeichen erkenntnistheoretisch ambivalente Zeichen sind. Sie sind gekennzeichnet durch einen dreifachen Zeichencharakter. Auslöser für die erkenntnistheoretische Ambivalenz ist die Tatsache, dass die Zeichenbedeutung in der Architektur eine Funktion der räumlichen Position des Betrachters ist. Am Beispiel von Goethes Gartenhaus im Ilmpark in Weimar lässt sich das anschaulich zeigen. Von Oberweimar kommend öffnet sich dem Spaziergänger an einem bestimmten Punkt der Park und gibt den Blick frei auf ein Haus in der Ferne, das aufgrund des charakteristischen Dachs, der besonderen Kubatur und der sechs Fenster in der Hauptfassade für Kundige leicht als Goethes Gartenhaus identifizierbar ist. Bei der weiteren Annäherung macht der Spaziergänger dann eine interessante Entdeckung. Denn es wandeln sich fünf der sechs Fenster zu realen Fenstern, also zu Öffnungen in der Fassade, während eines, oben links, diese Wandlung nicht mitmacht. Es wird als ein gemaltes Fenster erkennbar. Es ist nur das Zeichen eines Fensters, während die anderen Fenster sich zu realen Fenstern wandeln, die nicht nur zeichenhaft auf Fenster verweisen, sondern die Sache selbst, also Fenster sind. Es kommt hier die dreifache erkenntnistheoretische Ambivalenz der architektonischen Zeichen zum Vorschein. Architektonische Zeichen setzen sich aus bildhaften, phänomenologischen und performativen Zeichenaspekten zusammen und sind charakterisiert durch eine doppelte Transformation ihres Zeichencharakters. Einerseits gibt es in Abhängigkeit vom Beobachterstandpunkt einen Punkt, an dem das bildhafte Zeichen in ein Zeichen realer Präsenz in seiner je eigenen Materialität umschlägt. Das ist der Punkt, an dem aus dem Bild eines Fensters ein reales Fenster im Raum wird. Was darüber hinaus die architektonischen Zeichen von linguistischen Zeichen unterscheidet ist, dass sie in ihrer materiellen, räumlichen Präsenz auf eine konkrete Zeichenverwendung hin ausgerichtet sind. Dass den architektonischen Zeichen ein Potenzial zur Realisie-

Jörg H. Gleiter Präsenz der Zeichen

rung der Zeichenbedeutung in der konkreten Verwendungsweise eigen ist, ist neben der Materialität einer der entscheidenden Unterschiede zu den linguistischen Zeichen. Das Fenster ist also nicht nur bildhaftes Zeichen eines Fensters, sondern es kann geöffnet werden, man kann hindurchschauen, es schafft eine räumliche Kontinuität zwischen den zwei Seiten der Mauer, es kann benutzt werden. Die Zeichenintention kann realisiert werden, indem man das Fenster öffnet, indem man durch es hindurchschaut oder es zum Lüften des Zimmers verwendet. Architektonische Zeichen sind demnach auf doppelte Weise dynamische Zeichen, charakterisiert durch die Verschiebung des Zeichencharakters von der bildsemiotischen Ebene zur phänomenologischen Präsenz mit ihrem Verwendungshinweis und weiter zur performativen Realisierung. Es ist diese erkenntnistheoretische Triplizität der architektonischen Zeichen, die alle Versuche scheitern lassen, den Zeichencharakter der Architektur am dualen linguistischen Modell, also am Modell der Sprache zu orientieren. Form, Prägnanz, Performanz Hier wird nun ein neuralgi-

scher Punkt des Verständnisses der Architektur berührt. Denn entgegen der konventionellen Definition muss festgestellt werden, dass die Funktion der Architektur, also ihr Verwendungszusammenhang – oben als performativer Akt beschrieben – selbst eine Funktion des Zeichens ist. Die konkrete Funktion der Architektur steht nicht außerhalb der Semiotik und dieser entgegen, sondern ist ein Teil der Zeichencharakters der Architektur und damit semiotisch. Bevor wir durch eine Tür hindurchgehen, müssen wir das Zeichen für die Tür, die Zeichenintention und den Hinweis auf die Möglichkeit zu ihrer Realisierung erkannt haben. Für die Funktion als ein Aspekt des Zeichens spricht auch, dass wir im Alltag die Mehrheit der architektonischen Zeichen auf der bildsemiotischen und phänomenalen Ebene und weniger auf der performativen Seite wahrnehmen. In vielen Fällen der Wahrnehmung von Architektur kommt es gerade nicht zur Realisierung der Zeichen im perfor-

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mativen Akt. Wenn wir zum Beispiel den Kurfürstendamm in Berlin entlanggehen, dann sehen wir in der Regel die Zeichen von Fenstern, Türen, Häuser etc., aber wir öffnen die Eingangstüren nicht und betreten die Treppenhäuser, Hinterhöfe oder Wohnungen nicht. Wir erkennen in der Ferne auf bildsemiotischer Ebene Zeichen von Fenstern, wir erkennen aus mittlerer Distanz die Zeichen in ihrer räumlich-phänomenalen Erscheinung, aber beim Spaziergang auf dem Kurfürstendamm realisieren wir die Zeichenintention nur in seltenen Fällen. Wir können nun in Erweiterung der von Ernst Cassirer geprägten Begriffe von symbolischer Form und symbolischer Prägnanz die bildsemiotische Ebene des architektonischen Zeichens mit der symbolischen Form gleichsetzen, die räumlich-phänomenale Ebene mit Cassirers Begriff der symbolischen Prägnanz und die performative Ebene mit dem, was man ergänzend als symbolische Performanz bezeichnen kann. Unter symbolischer Form verstand Cassirer jede Energie des Geistes, „durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird“.2 Alle sechs Fenster in Goethes Gartenhaus gehören demnach zu den symbolischen Formen im Sinne Cassirers. Aber fünf davon zeichnen sich darüber hinaus dadurch aus, dass sie ein phänomenales und performatives Potenzial besitzen, das in „ihrer Grammatik schlummert“.3 Für sie wandelt sich in der nächsten Stufe der Zeichenwahrnehmung die symbolische Form zur symbolischen Prägnanz. Das unterscheidet sie vom sechsten Fenster, das allein bei der symbolischen Form stehen bleibt. Die symbolische Prägnanz bezeichnet dann soviel wie die konkrete Prägung oder Formung einer Erfahrung, materiell und situativ. Im Sinne von Cassirer legt die symbolische Form den Grund für die semantische Relationalität der Dinge im kulturellen Ganzen, während die symbolische Prägnanz auf die phänomenale Relationalität zielt als „gewissermaßen die phänomenologisch beschreibbare Facette der symbolischen Aktivität“.4 In Erweiterung der zwei Cassirerschen Grundbegriffe schreibt dann auf der dritten Ebene die symbolische

Jörg H. Gleiter Präsenz der Zeichen

Performanz die soziale Relationalität des architektonischen Zeichens. Wobei unter der sozialen Relationalität eine performative Handlung und soziale Interaktion im konkreten architektonischen Kontext zu verstehen ist. Mit Heinz Paetzold kann man feststellen, dass Zeichen und umso mehr architektonische Zeichen nicht irgendwie und irgendeinen Sinn produzieren, sondern stets einen spezifischen Sinn, der auf menschliche Handlung ausgerichtet ist. Im Unterschied zu linguistischen Zeichen, die für ein abwesendes Anderes stehen, setzen architektonische Zeichen nicht nur Sinn, sondern formulieren gleichsam ein Versprechen auf Realisierung in der konkreten Situation. Mit James Gibson kann man vom Aufforderungscharakter oder der Affordanz der architektonischen Zeichen sprechen. Sie drängen auf performative Realisierung in der konkreten Handlung: Dass man die Tür nicht nur als bedeutungsvolles und darüber hinaus räumlich-phänomenales Zeichen wahrnimmt, sondern dass man sie aufmacht und durch sie hindurchgeht, dass man die Treppe nicht nur sieht, sondern sie tatsächlich beschreitet und so den Raum im Sinne seines sozialen Potenzials aktiviert. Damit lassen sich die architektonischen Zeichen näher definieren. Architektonische Zeichen sind dadurch unterschieden, dass sie über den eigentlichen semantischen Sinn hinaus mit einem phänomenalen und einem performativen Potenzial aufgeladen sind. Sie verausgaben sich nicht allein durch Sinnsetzung und semantische Relationalität. Ihnen ist ein doppeltes Moment des Umschlags eingeschrieben vom semantischen zum phänomenalen und weiter zum performativen Zeichen. Dem symbolischen Sinn innewohnend ist eine Intentionalität, die auf lebensweltliche Realisierung des Sinngehalts in der konkreten Situation und der konkreten Handlung ausgerichtet ist. Man kann hier von einer im architektonischen Zeichen angelegten symbolischen Reihe sprechen, von symbolischer Form, symbolischer Prägnanz und symbolischer Performanz. Wobei jede Stufe als Versprechen und damit semantisch in der vorhergehenden Zeichenebene angelegt ist. Während das geschriebene

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Wort ‚Vogel‘ in Hinblick auf Prägnanz und Performanz weitgehend neutral bleibt, enthält dagegen die aus bildsemiotischer Distanz wahrgenommene Tür ein phänomenales und performatives Versprechen. Als architektonische Zeichen qualifizieren sich neben den schon angeführten Beispielen auch Wände, Decken, Stützen, Balken, Dächer, Treppen, Korridore, Eingänge, Türgriffe und Lichtschalter. Über die symbolische Form hinaus verbindet sich jedes dieser Elemente mit einer Einladung zum phänomenalen und performativen Vollzug. Es lassen sich selbst Ornamente wie Gesimse, Friese, Säulenbasen, Säulenkapitelle und selbst die Kanneluren von klassischen Säulen den architektonischen Zeichen zuordnen, obwohl sie im ersten Moment von rein bildsemiotischer Qualität zu sein scheinen. Dennoch, obwohl Ornamente kein phänomenales oder performatives Versprechen formulieren, ist in ihnen dennoch der performative Vollzug der Zeichenbedeutung eingeschrieben, nicht prospektiv als Versprechen für die Zukunft, sondern retrospektiv als Resultat eines performativen Aktes in der Vergangenheit. Entsprechend der Kritischen Theorie des Ornaments5 zeigt sich im Ornament immer das Gemachtsein der Architektur, als Spur und damit als Resultat eines zurückliegenden Zeichenvollzugs, der in einem performativen Prozess zur Gestalt des Ornaments führte. Im Ornament kann man von einem umgekehrten, weil schon realisierten Zeichenversprechen sprechen, im Sinne einer umgekehrten, retroaktiven Affordanz oder einer umgekehrten, retroaktiven symbolischen Reihe. Hypothetisch, thetisch, performativ Die architektonischen

Zeichen lassen sich nun je nach ihrem Versprechen auf Zeichenvollzug in drei Zeichenkategorien unterscheiden. Der ersten Zeichenkategorie gehören jene Zeichen an, deren phänomenales und performatives Versprechen nur hypothetisch formuliert ist. Darunter fallen die architektonischen Zeichen, die aus großer Ferne wahrgenommen werden. Deren Status als architektonische Zeichen ist unsicher, da aus der Distanz nicht bestimmt

Jörg H. Gleiter Präsenz der Zeichen

werden kann, ob sie tatsächlich das Versprechen auf phänomenale oder performative Realisierung ihres Zeichensinns halten können. Solche hypothetischen architektonischen Zeichen sind zum Beispiel die aus großer Distanz betrachteten sechs Fenster in Goethes Gartenhaus. Eine ähnliche Unsicherheit über ihren Status besteht bei der Betrachtung einer Stadt aus der Ferne oder von Gebäuden am Ende einer langen Straße. Davon lässt sich eine zweite Kategorie von architektonischen Zeichen unterscheiden, die als thetische architektonische Zeichen bezeichnet werden sollen. Damit sind alle in ihrer konkreten räumlich-phänomenalen Erscheinung wahrgenommenen architektonischen Zeichen bezeichnet, also jene Zeichen, in denen der Selbstbezug auf die reale materielle und situative Existenz den Fremdbezug auf ein anderes und Abwesendes dominiert. Es sind zum Beispiel die Türen im Korridor eines Hotels, die man, nach dem Heraustreten aus dem Aufzug, wahrnimmt. Jede besitzt ein eigenes Möglichkeitspotenzial zur performativen Realisierung, das nicht mehr bildsemiotisch und damit nur hypothetisch, sondern als These eingeschrieben ist: Nämlich ein architektonisches Element zu sein, durch das man hindurchgehen kann und das zwei getrennte Räume verbindet. Die Möglichkeit zum Zeichenvollzug ist dann nicht mehr nur Hypothese, sondern in der dreidimensionalen Erscheinung der Tür konkrete These. Voraussetzung für die thetischen architektonischen Zeichen ist, dass auf einer untergeordneten Ebene bei der Wahrnehmung der Tür weitere Zeichen erkennbar sind, die auf die räumlichphänomenale Präsenz des Zeichens Tür hinweisen. Das können zum Beispiel die Türlaibung in der perspektivischen Verkürzung oder auch der Schattenwurf sein, den die Türlaibung durch die Korridorbeleuchtung auf den Boden oder die Tür wirft. Beide Zeichen sind Anzeichen, die die Tür in ihrer materiellphänomenalen Präsenz anzeigen. Sie zeigen an, dass die Tür in ihrer materiellen Präsenz sich von einem bloßen Zeichen einer Tür unterscheidet. Sie zeigen an, dass es sich nicht nur um die auf die Wand gemalte Umrisslinie einer Tür handelt. Andere sekundäre Zeichen, die in diesem Beispiel das performative

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Realisierungspotenzial thetisch anzeigen, können die Türklinke, die Türangeln, der Schlitz für die Chipkarte oder die Zimmernummer sein. Die dritte Kategorie architektonischer Zeichen ist die der performativen Realisierung der Zeichenbedeutung. Damit ist diejenige Zimmertür gemeint, die der Betrachter tatsächlich öffnet, durch die er physisch hindurchgeht, wodurch das Zeichen der Tür in seinem Verwendungsversprechen als Tür realisiert wird. Hier findet dann eine Weitung der sinnlichen Perzeption statt, die nicht mehr nur visuell ist. Andere Sinne sind mit beteiligt wie zum Beispiel das Spüren der Enge der Tür und der anschließenden Weitung des Raums, das Hören der Geräusche der Tür oder die Aufnahme der veränderten Atmosphäre auf der anderen Seite der Tür. Beim Durchschreiten verschwindet nach und nach die Tür aus dem Blickfeld, es wandelt sich die sinnliche Wahrnehmung. So dass man feststellen kann, dass auf der Ebene der performativen Zeichenkategorie keineswegs die semiotische und die phänomenologische Seite unserer Alltagserfahrung im Widerspruch stehen. Im Gegenteil, es werden Semiotik und Phänomenologie füreinander offen, im performativen Vollzug des Zeichens schlägt das eine ins andere um. Das Zeichen der Tür wandelt sich durch seine performative Realisierung in ein leibphänomenologisches Ereignis. Wenn wir nun von den drei Zeichenkategorien der hypothetischen, thetischen und performativen architektonischen Zeichen sprechen, dann wird zu berücksichtigen sein, dass in der Regel bei der Erfahrung von Architektur alle drei Kategorien gleichzeitig beteiligt sind. Es ist der simultanen Erscheinung der Architektur in verschiedenen Maßstäben geschuldet, dass die Wahrnehmung ständig zwischen den Kategorien hinund herspringt. Nur idealerweise sieht man erst ein hypothetisches Zeichen, dass sich dann in ein thetisches und später in ein performatives Zeichen wandelt. Bei den drei Zeichenkategorien handelt es sich um analytische Kategorien, die im Alltag nicht wahrgenommen werden, die uns aber analytisch zu verstehen helfen, wie die Architektur in ihrer Zeichenhaftigkeit und damit als Medium der Kommunikation funktioniert.

Jörg H. Gleiter Präsenz der Zeichen

Dreifache Zeichenfunktion: Sich-zeigen, Zeigen und Anzeigen Im Folgenden soll nun die zweite Zeichenkategorie, sollen

die thetischen architektonischen Zeichen näher betrachtet werden. Die hypothetischen Zeichen müssen nicht weiter kommentiert werden, denn sie gehören in der überwiegenden Zahl der Fälle zum Bereich der Bildsemiotik und damit zu einer Wissenschaft, die sich in den vergangenen Jahren als eigenständiges Wissensgebiet etabliert hat und ausgiebig beschrieben ist.6 Anders ist dies bei den thetischen architektonischen Zeichen, da sie in einem Übergangsbereich existieren. Ihre Zeichenverwendung ist noch These. Sie sind einerseits keine bildhaften Zeichen mehr, andererseits findet noch keine performative Realisierung ihrer Zeichenbedeutung statt. Im Zentrum steht die Frage nach dem Unterschied zwischen architektonischen Zeichen und Schriftzeichen. Allgemein kann gelten, dass die thetischen architektonischen Zeichen unter dem Einfluss von Material und Situation stehen. Das unterscheidet sie von den durch Konvention festgelegten Schriftzeichen, die weitgehend frei von materiellen Bindungen sind, so dass zum Beispiel das Wort Vogel in Schreibschrift, Sütterlinschrift oder Druckbuchstaben, in Tusche oder Bleistift geschrieben oder in Univers, Helvetica oder Times ausgedruckt werden kann, ohne dass sich seine Bedeutung ändert. Wo die architektonischen Zeichen immer materielle Zeichen sind und ihre Bedeutung sich durch den Kontext ihres Erscheinens bestimmt, kann man nicht von der Architektur als Sprache im eigentlichen Sinn sprechen. Dass Architektur und Sprache keine Beziehung hätten, folgt daraus aber nicht. Denn für die Schrift kann gezeigt werden, dass in ihren Anfängen durchaus eine enge Kopplung zwischen Zeichensinn, Material und konkreter Situation bestand. Im Rückschluss heißt das dann, dass sich umgekehrt, wo dieses gerade den Zeichencharakter der Architektur bestimmt, in diesem ältesten Massenmedium Reste einer archaischen Form der Schrift erhalten haben. Dass Architektur selbst eine der ältesten Formen der Kommunikation ist. Das würde die Probleme, die die modernen Semiotiken mit der Architektur

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haben, aber auch einige Eigenheiten der Architektursemiotik erklären helfen. Dass die Zeichen ursprünglich nicht beliebig, also entgegen der Überzeugung der strukturalistischen Linguistik keineswegs unmotiviert waren, hat Christoph Türcke in seinem Buch Vom Kainszeichen zum genetischen Code überzeugend dargestellt. Anhand von sumerischen Buchungstäfelchen aus der Stadt Uruk aus dem Jahr 3100 v. Chr. zeigt Türcke, dass sich die ersten Schriften gerade durch eine sehr enge Beziehung zwischen Zeichen und Material oder zwischen Bedeutung (Signifikat) und Bedeutungsträger (Signifikant) auszeichneten. Für die ersten Schriftsysteme stellt Türcke fest: „Der Signifikant ist alles andere als unmotiviert. Er ist das Motivierte schlechthin.“7 In der Anfangszeit der Schrift sind Zeichen und Zeichenträger noch „ungeschieden“.8 Das Zeichen entstand aus einer engen Kopplung von Material und seiner Bearbeitungsweise, als vertiefender Eindruck in den noch weichen Ton, als Abdruck des Fingers oder anderer Hilfsmitteln wie Holzstäbchen oder Griffeln. Schrift war die Spur, die die Bearbeitungsweise im Trägermaterial hinterließ. Türcke zieht dann eine Parallele zu den Tattoos und zu dem aus seiner Sicht ältesten Tattoo, dem Kainszeichen. Im Unterschied zu den Tontäfelchen sind Tattoos keine Einritzungen in ein beliebiges Material. Sie sind Einschnitte ins Fleisch und in ihrer ursprünglich rituellen Bedeutung nichts weniger als Einritzungen ins Unterbewusstsein. Zeichen und Zeichensinn verkörpern sich mittels des Rituals der Tätowierung. Zeichensinn, Material und Situation sind auf engste miteinander gekoppelt. Man kann daher sagen, dass architektonische Zeichen wohl wenig mit konventionellen Schriftzeichen gemein haben, dass sie aber aufgrund einer ähnlich engen Kopplung der drei Zeichenaspekte den Tätowierungen und den ersten Schriften nahe stehen. In allen drei Fällen, den Tontäfelchen, den Tätowierungen und der Architektur, ist das Zeichen die Spur seiner Herstellung. Wohl verweisen architektonische Zeichen, wie die meisten Zeichen, auf etwas abwesendes anderes, sie sagen aber

Jörg H. Gleiter Präsenz der Zeichen

gleichzeitig auch etwas über den Vorgang ihres Gemachtseins aus. Das heißt, dass sie einerseits auf etwas abwesendes NichtSichtbares verweisen, indem sie etwas assoziieren lassen, was sie selbst nicht sind, wie sie andererseits auf ihr Hergestelltoder Gemachtsein verweisen, was zeitlich zurückliegt und sich als Spur zeigt. So verweisen zum Beispiel die Löcher in einer Betonwand auf die Schalungsanker und damit auf den Herstellungsprozess, so wie der Verbund der Steine einer Wand auf den Herstellungsprozess der Mauer – Stein auf Sein – verweist. Nägel und Schrauben geben Hinweise auf die Kon­struktion. Eine bestimmte Art von Löchern im unteren Bereich einer Fassade gibt einen Hinweis auf eine hinterlüftete Fassade und damit einen Hinweis auf die Wandkonstruktion. Selbst die Fenster in einem mehrgeschossigen Gebäude geben in den meisten Fällen einen Hinweis auf die Geschoßhöhen und damit auf das Gebäude als Geschoßbau. Architektonische Zeichen geben immer auch Hinweise auf das Gemachtsein der Architektur. Sie verweisen auf etwas, das in ihrem Inneren verborgen ist, was auf eine eigene Art und Weise präsent und doch abwesend ist. In den architektonischen Zeichen zeigt sich die Prozessualität des Gemachtseins der Architektur. Wobei das Gemachtsein sich nicht allein auf das konstruktive Verfahren reduzieren lässt, sondern auf die allgemein kulturellen, ökonomischen oder politischen Kräfte, die im Hintergrund wirken. Architektonische Zeichen existieren in der Regel als Spur ihres Herstellungsverfahrens. Es ist jetzt die dreifache Konstitution der Funktion architektonischer Zeichen sichtbar. Einerseits zeigen architektonische Zeichen in einer Art assoziativen Kopplung auf anderes, in der Regel Abwesendes, was sie selbst nicht sind. Das zeichnet sie aber nicht vor den sprachlichen Zeichen aus, denn diese tun gerade immer dies: auf anderes verweisen, was sie selbst nicht sind. Andererseits zeigen architektonische Zeichen immer auch auf sich selbst, sie stehen exemplarisch für das, auf das sie verweisen. Sie sind also das Ding selbst in seiner materiellen Präsenz, auf das sie unter anderem Bezug nehmen, das

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sie anzeigen. Architektonische Zeichen sind also immer Anzeichen ihrer selbst und ihrer Verwendungsweise. Und drittens zeigt sich in architektonischen Zeichen immer etwas von ihrem Gemachtsein, von der Prozessualität und vom Verfahren der Herstellung. Dies kann man als ein Sich-zeigen des Gemachtseins benennen. Demnach lässt sich die dreifache Zeichenfunktion der architektonischen Zeichen als Sich-zeigen, Zeigen und Anzeigen benennen. Index: Symptom, Position, Signal Nach Dieter Mersch ist das

Problem der an der Linguistik orientierten Zeichenmodelle wie die strukturale Semiologie nach Saussure und die Grammatologie nach Jacques Derrida, dass sie die materielle Basis der Zeichen nicht gebührend ernst nehmen. Dies könne aber nur unter Missachtung der Tatsache geschehen, dass auch die schriftlichen Zeichen, die wir gebrauchen oder deuten, immer schon „ihre eigene Gegenwart [behaupten], ohne die sie selbst nicht wahrzunehmen oder zu erfahren wären“,9 so hauchdünn die materielle Spur auch sein mag. Man denke nur an eine Bleistiftlinie, mit der wir einzelne Worte schreiben. Sie wird zumeist als immaterielle Linie erfahren, aber besteht dennoch unzweifelhaft in ganz konkreter Materialität. Sonst würde sich der Bleistift beim Schreiben nicht verbrauchen. Dennoch, in der linguistischen Semiotik, die in der Differenz zwischen Signifikat und Signifikant, zwischen Bedeutung und Bedeutungsträger, zwischen parole und langue, zwischen Diachronie und Synchronie organisiert ist, dominiert die Bedeutung den Bedeutungsträger, dominiert der Sinn die Materialität des Zeichens. Für die Architektursemiotik muss aber das Gegenteil angenommen werden. In der Transformation des linguistischen Modells der Duplizität von Signifikat und Signifikant zum triadischen Modell von symbolischer Form, symbolischer Prägnanz und symbolischer Performanz rückt die symbolische Prägnanz und damit die Materialität des Zeichens in eine zentrale Position. Mit Bezug auf das triadische Zeichenmodell von Charles S. Peirce hat Uwe Wirth in seinem Aufsatz Symbol, Symptom,

Jörg H. Gleiter Präsenz der Zeichen

Signal auf die Bedeutung der Materialität des Zeichens in der Architektur in Form des indexikalischen Zeichens hingewiesen und auf die Defizite aufmerksam gemacht, die durch die Verengung der Semiotik durch die strukturalistische Semiotik seit dem linguistic turn in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstanden sind. Zurecht stellte er fest, dass die Indexikalität – und damit der Aspekt der Materialität – „in der Architektursemiotik bislang keine zentrale Rolle gespielt“10 hat. Das sei umso verwunderlicher, als die Architektur schon immer eine wichtige Quelle gewesen sei, aus der „Soziologen Rückschlüsse auf das Zusammenleben gegenwärtiger Gesellschaften und Archäologen Rückschlüsse auf das Zusammenleben längst untergegangener Zivilisationen“11 gezogen hätten. Architektur als „verkörpertes existenzielles Design sozialer Skripte“12 habe schon immer symptomatischen, kulturwissenschaftlichen Charakter gehabt. Die Gebäude, Ruinen und Fundamente ehemaliger Siedlungen in Verbindung mit den materiellen Fragmenten der Alltagskultur erlaubten in ihrer physisch-materiellen Präsenz Rückschlüsse auf längst vergangene Gesellschaften, ihre Lebens- und Umgangsformen. Architektur sei die materielle Spur und damit Index vergangenen, gesellschaftlichen Lebens. In Verbindung von Peirce’ triadischem Zeichensystem und Derridas Denken der Spur stellt Wirth zurecht das indexikalische Zeichen ins Zentrum einer Architektursemiotik und mit ihr die Aspekte von Materialität und körperlicher Präsenz. Im Sinne von Peirce sind indexikalische Zeichen jene Zeichen, die eine reale Verbindung zu dem Objekt haben, auf das sie Bezug nehmen und das in der Regel abwesend ist. Peirce sagt: “An index stands for its object by virtue of a real connection with it, or because it forces the mind to attend to that object.”13 Oder wie er an anderer Stelle schreibt: “[An index] marks the junction between two portions of experience.”14 Indices nehmen Bezug auf eine Sache, mit der sie eine unmittelbare, in vielen Fällen eine materielle Beziehung haben. Man kann sich einen Fußabdruck im Sand vorstellen, der auf einen Menschen verweist,

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der das Muster im Sand hinterlassen hat, jetzt aber abwesend ist. Der Fußabdruck ist ein Teil eines Ereignisses, das in einer realen Beziehung zu diesem Ereignis steht. Oder der Schatten, der den Stand der Sonne anzeigt und damit die Uhrzeit. Sonne und Schatten sind dann die zwei Elemente der Erfahrung, die das indexikalische Zeichen formieren. Oder eine weggeworfene Zigarettenkippe, die den Täter in einem Kriminalfall überführt. Peirce unterscheidet neben den indexikalischen Zeichen zwei weitere Zeichenformen, die ikonischen und symbolischen Zeichen, wobei der Index eine mittlere Position zwischen Ikon und Symbol einnimmt. Peirce definiert die ikonischen Zeichen als diejenigen Zeichen, die aufgrund von Ähnlichkeit auf eine Sache Bezug nehmen. Eine bestimmte Umrisslinie kann auf einen Löwen Bezug nehmen, das Bild eines Hauses auf ein Haus, das Bild eines Automobils auf die verschiedensten Automobile, auf jedes einzelne oder als Typ auf alle zusammen. Peirce klassifiziert die ikonischen Zeichen als ‚Erstheit‘, die indexikalischen Zeichen als ‚Zweitheit‘ und das Symbol als ‚Drittheit‘. Symbolische Zeichen sind dagegen Zeichen, denen ihre Bedeutung per Konvention zuteilwird, was man wissen muss, was sich nicht durch Ähnlichkeit oder durch physische, reale Verbindung erschließen lässt. Das rote Kreuz ist ein solches Symbol, das per Konvention auf die Hilfsorganisation verweist. Auch sind viele Verkehrszeichen Symbole, wie zum Beispiel ein rundes, weißes Schild mit rotem Rand. Die Bedeutung ‚Durchfahrt verboten‘ ist arbiträr, sie ist willkürlich und durch Konvention festgelegt. Dieses Zeichen besitzt weder Ähnlichkeit noch eine reale Verbindung mit der Sache, die sie bezeichnet. Dazu kommt, dass die Bedeutung weitgehend ortsunabhängig ist. Das Zeichen behält seine Bedeutung auch dann, wenn es an der Wand in einem Wohnzimmer hängt, allerdings mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dass es, losgelöst vom konkreten Verwendungszusammenhang, neue symbolische Bedeutungen annehmen kann. Man bezeichnet diese zusätzlichen Bedeutungen, die sich der ursprünglichen überlagern, als Konnotationen, während die erste, primäre Bedeutung als Deno-

Jörg H. Gleiter Präsenz der Zeichen

tation bezeichnet wird. Da durch die kontextuelle Verschiebung oder Verfremdung die performative Realisierung der Denotation unterbunden wird, kann man im Falle des Verkehrsschildes im Wohnzimmer von einem abgebrochenen und uneingelösten Verwendungsversprechen sprechen. Für die Architektursemiotik ist nicht unbedeutend, dass bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein die architektonischen Zeichen im Kontext der klassischen Rhetorik erörtert wurden, also im Kontext der Nachahmungs- und Metapherntheorien. Selbst in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts griffen die Debatten um die architektonische Postmoderne, mit wenigen Ausnahmen, wieder auf die Rhetorik zurück. Die Resemiotisierung der Architektur, die mit dem linguistic turn einsetzte, zeigt sich heute, aus der Distanz, weitestgehend als eine Rehabilitierung der klassischen Rhetorik. So greift das für die architektonische Postmoderne so bedeutende Buch von Charles Jencks Die Sprache der postmodernen Architektur auf die Rhetorik und einen klassischen Begriff der Metapher zurück. Ebenso auch Robert Venturis, Denise Scott Browns und Steven Izenours nicht minder wichtiges Buch Lernen von Las Vegas. In den Worten der Autoren geht es um die Wiedergewinnung der „ikonographischen Tradition“15 und um die „Qualitäten der bildhaften Architektur“16. Mit dem Ziel der Rückgewinnung „allgemein verständlicher Symbole“ reduziert das Buch die Architektursemiotik auf ikonische und symbolische Zeichen. Das zeigt sich in der Einführung zweier neuer Begriffe, der Architektur als Ente oder als dekorierter Schuppen, wobei die Architektur als Ente ikonischen und die Architektur als dekorierter Schuppen symbolischen Charakter besitzt. Indexikalische Zeichen werden in dem Buch nicht weiter diskutiert. Die postmoderne Architektursemiotik gründete weitgehend in der klassischen Rhetorik. Sie fokussierte auf den Bild- und Symbolgehalt der Architektur und die formalen Aspekte der Zeichen, bei Unterdrückung der materiellen und damit indexikalischen Eigenschaften.

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Man kann sagen, dass die in der Architektur latente Indexikalität der Zeichen fast wörtlich übersprungen wurde, insofern Peirce die indexikalischen Zeichen, aus gutem Grunde, zwischen Ikon und Symbol platziert und damit suggeriert hatte, dass es eine Affinität der indexikalischen Zeichen auf beide Seiten hin gibt, sowohl auf die Seite des ikonischen wie auch symbolischen Zeichens. Was dies bedeutet, lässt sich an den schon eingeführten Beispielen zeigen. Ein Fußabdruck im Sand ist zweifellos ein Index, aber, wie festgestellt werden muss, mit starkem ikonischem Gehalt. Aufgrund der bildhaften Ähnlichkeit erkennt man im ersten Moment das Abbild eines Fußes, also ein ikonisches Zeichen. Erst in einem zweiten Moment, wenn man über das Bild eines Fußes den Bezug zu einer Person, die hier vor einiger Zeit vorbeigegangen sein muss, hergestellt hat, schlägt das ikonische in ein indexikalisches Zeichen um. Wir haben es also mit einem Index von stark ikonischer Vorprägung zu tun. Einen anderen Fall stellt der Fußabdruck von Neil Armstrong auf dem Mond dar. Es ist der Fußabdruck des ersten Menschen auf dem Mond. Mit ihm verbindet sich die Konnotation von technologischer Überlegenheit der USA im Zeitalter des Kalten Krieges. Hier ist also das indexikalische Zeichen wesentlich symbolisch geprägt. Das hat auch damit zu tun, dass dieser Fußabdruck den meisten Menschen nur als Bild bekannt ist, in seinen materiellen und situativen Eigenschaften haben ihn nur wenige Menschen erfahren. Nach Peirce sind indexikalische Zeichen die einzigen, die in einer realen Beziehung zu dem stehen, was sie bezeichnen. Es wirkt in ihnen eine Kausalität, die eine Frage nach dem Wie aufwirft. Beim ikonischen Zeichen der Umrisslinie eines Löwen, die auf Papier gezeichnet ist, fragt dagegen niemand, wie diese entstanden ist, denn dies hat in der Regel keinen oder sehr wenig Einfluss auf die Bedeutung des Zeichens. Ähnliches gilt für die symbolischen Zeichen, auch hier hat die Art und Weise, wie sie als Zeichen entstanden sind, keinen Einfluss auf deren Bedeutung. So dass man feststellen kann, das sich beide,

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ikonische wie symbolische Zeichen durch relative Indifferenz gegenüber ihrer Entstehungsgeschichte auszeichnen – relativ deswegen, weil natürlich auch diese Zeichen eine Entstehungsgeschichte haben. Sie hat aber für die aktuelle Bedeutung keine oder nur sehr wenig Relevanz. Anders ist das bei den indexikalischen Zeichen, da sie immer ein Teil einer Erfahrung sind – „the junction between two portions of experience“ –, ist ihnen der Prozess der Herstellung eingeschrieben. Die besondere Bedeutung der Indexikalität für die Architektur offenbart sich dann in dem Moment, in dem man feststellen muss, dass alle architektonischen Zeichen in der Regel gemachte Zeichen sind, in deren Gestalt eine Kausalität wirkt, und in die auf irgendeine Art und Weise zumindest Aspekte ihres Gemachtseins sichtbar eingeschrieben sind. Man sieht den Verbund des Mauerwerks, die Türangeln, die Schrauben und die Nägel, die Elementierung der Fertigteile und die Fugen. Das gilt selbst für Gebäude mit stark ikonischer Qualität, wie zum Beispiel der Tokyo Tower, der in Verkleinerung ikonisch, das heißt bildhaft dem Eiffelturm in Paris nachgeahmt ist. Trotz seiner dominant mimetisch-ikonischen Erscheinung besteht er dennoch immer auch als Index, in Bezug auf den materiellen Herstellungsprozess, der sich in den Details zeigt. Wie das indexikalische Zeichen in Peirce’ triadischem Zeichensystem zeichnet sich auch das architektonische Zeichen durch eine dreifache Form der indexikalischen Bezugnahme aus. Im Stadium der symbolischen Prägnanz besitzt das architektonische Zeichen eine dreifache gepolte Indexikalität: Es ist Index eines vergangenen Ereignisses wie auch Index eines noch zu vollziehenden, zukünftigen Ereignisses. Wobei als indexikalische Nullposition die Situation selbst, das heißt die kontextuelle Position des architektonischen Zeichens als eine weitere indexikalische Beziehung bezeichnet werden kann. Die erste indexikalische Beziehung betrifft die Spuren des Gemachtseins, sowohl in baukonstruktiver wie auch kulturgeschichtlicher Hinsicht. Die zweite indexikalische Beziehung betrifft die indexikalische Nullposition, während die dritte indexikalische

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Beziehung die Möglichkeit zum performativen Zeichenvollzug in der realen Aktion betrifft. Im ersten Fall führt eine Linie von einer vergangenen Aktion zum Zeichen, im dritten Fall führt sie vom Zeichen zu einer zukünftigen Aktion. Das architektonische Zeichen ist demnach Teil einer Erfahrung, deren erster Teil im Prozess des Gemachtwerdens des Zeichens, deren zweiter Teil in der phänomenalen Präsenz des Zeichens selbst und deren dritter Teil in der performativen Aneignung des Zeichens liegt. Im ersten Fall betrifft die Indexikalität eine zurückliegende Aktion in ihrer Kausalität für den Status Quo, also den aktuellen Zustand des Zeichens in seiner indexikalischen Nullposition. So ist zum Beispiel der gemauerte Sturz über einem Fenster die baukonstruktive Voraussetzung für das Fenster als Zeichen, damit also überhaupt in der Mauer eine Öffnung als Zeichen entstehen kann. Es besteht also eine Kausalität zwischen dem Gemachtsein, der konkreten Zeichenbedeutung und der Möglichkeit des zukünftigen Zeichenvollzugs. Als ein Gewordenes, das sein Gewordensein zeigt, ist das architektonische Zeichen ein symptomatisches Zeichen, insofern es rückblickend Symptom seines Gemachtseins ist. Umgekehrt besitzt das architektonische Zeichen auch eine Indexikalität, die in die Zukunft gerichtet ist, nämlich in Hinblick auf die Zeichenverwendung. Wie schon weiter oben dargestellt, zeichnet sich ein architektonisches Zeichen dadurch aus, dass es ein Versprechen auf performativen Zeichenvollzug besitzt. Das heißt, das Zeichen der Tür enthält das Versprechen auf Realisierung der Tür in ihrem Gebrauch, dass man durch sie hindurchgehen kann. Wir haben es hier mit einer in die Zukunft gerichteten Kausalität und damit mit einer in die Zukunft gerichteten Indexikalität zu tun. Diese Art des Zeichengebrauchs hat Signalcharakter im Sinne einer projektiven Kausalität. Im Gegensatz zu Symptomen, die Rückschluss auf etwas geben, was schon in einer realen kausalen Beziehung steht, nehmen Signale eine Kausalität vorweg, die in ihrem Zeichencharakter angelegt ist, auf die ihr Zeichencharakter hin ausgerichtet ist, die aber noch realisiert werden muss. Wie zum

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Beispiel Verkehrsschilder, die die Richtung in die nächste Stadt anzeigen, oder Signaltöne, die eine Gefahr vorwegnehmend anzeigen, oder ein elektronisches Geräusch, das anzeigt, dass der Akku im Handy bald zu Ende gehen wird. So ist eine Treppe ein Signal, das heißt ein auf eine zukünftige Handlung ausgerichtetes indexikalisches Zeichen, ebenso wie eine Türklinke, ein Stuhl, ein Fenster, ein Eingang, eine Straße, ein Haus. Die Indexikalität von architektonischen Zeichen zeigt sich also als Symptom, Situation und Signal, als symptomatisches Sichzeigen, situatives Zeigen und signalhaftes Anzeigen. Autonomie der Zeichen Nach der Einführung der zentralen

Grundbegriffe einer phänomenologischen Semiotik der Architektur soll im weiteren gezeigt werden, was dies konkret für die Praxis der Architektur bedeutet. Denn die Architektursemiotik ist keineswegs nur ein Instrument zur Analyse, sondern besitzt die Kraft zur Synthese. Sie ist bald eine Schöpfung, bald eine Initiative und wirkliche Entdeckung. Wie die Semiotik zur Grundlage des entwerferisch-künstlerischen Verfahrens und architektonischen Verstehensprozesses werden kann, das hat wie kein anderer James Stirling gezeigt. Von den ersten Projekten an ist Stirlings Werk charakterisiert von einem wachsenden Bewusstsein für die kreativen Potenziale der Architekturse­ miotik. Stirlings Arbeit als Architekt lässt sich in zwei Phasen gliedern: In der ersten Phase galt sein Interesse der Stärkung der Autonomie der architektonischen Zeichen durch Stärkung ihrer materiellen Präsenz. In der zweiten Phase interessierte ihn der Übergang von der Autonomie zur Souveränität der architektonischen Zeichen. Während der Fokus erst auf dem Zeichenträger in seiner materiellen Präsenz lag, wurde in der zweiten Phase die Zeichenbedeutung zum Gegenstand der Gestaltung. In den frühen Projekten, wie in den Häusern in Ham Common (Abb. 1) oder dem Haus auf der Isle of Wight (Abb. 2), zeigt sich Stirlings Fähigkeit zur zeichenhaften Zuspitzung der Architektur, wie an den visuell stark hervortretenden Geschossdecken, den überdimensionierten Wasserspeiern, den

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James Stirling u. James Gowan, Flats at Ham Commons, 1955–58

grob profilierten Brüstungselementen oder den vielfältigen Fensterformaten. Zum Beispiel stärkt die geschosshohe Ausführung der Fenster deren Zeichencharakter, so dass, entgegen der klassischen Hierarchie, Wandelemente und Fensterelemente als ebenbürtig starke Zeichen nebeneinander stehen. Man schaut auf die Fassade von Ham Commons oder die des Hauses auf der Isle of Wight wie durch ein Vergrößerungsglas. Der Vergrößerungseffekt entsteht durch die Verstärkung der materiellen Präsenz jedes einzelnen architektonischen Zeichens. So sind die Profile der Fensterrahmen nicht einfach grob, die Brüstungselemente nicht einfach überdimensioniert, genauso wenig wie die Wasserspeier einfach unproportioniert sind. Im Gegenteil, durch die Vergrößerung der materiellen Präsenz sind die Fenster als Zeichen präsenter, ebenso die Wasserspeier, Brüstungs-

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James Stirling u. James Gowan, Haus auf der Isle of Wight, 1956–58

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John Rauch, Robert Venturi u. Denise Scott Brown, Säule des Allen Memorial Art Museums, 1977

elemente, Wände und Türen. Mit Bezug auf Friedrich Nietzsches Aphorismus zur Architektur „Der Stein ist mehr Stein als früher“17 kann man für die Architektur Stirlings feststellen, dass die Geschoßdecke mehr Geschoßdecke, der Wasserspeier mehr Wasserspeier, die Brüstung mehr Brüstung und das Fenster mehr Fenster als früher sind. Stirling besitzt also nicht einfach eine Vorliebe für grobe Profile und überdimensionierte Details. Dahinter steht ein semio­tisches Anliegen. Auf paradoxe Weise stärkt er mit der Materialität gerade den Zeichencharakter der einzelnen architektonischen Elemente, so dass einige überhaupt erst als Zeichen wahrgenommen werden können. Der stirlingsche Wasserspeier nimmt erst in seiner besonderen Ausformung durch Stirling Bezug auf andere Wasserspeier, zum Beispiel auf historische Vorbilder wie die Wasserspeier von gotischen Kathedralen. Üblicherweise sind die Wasserabläufe von Balkonen einfache, unscheinbare Abflussrohr, die durch ihre Funktion definiert

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sind, aber nicht durch ihre semantische Bedeutung und schon überhaupt nicht durch Bezug in die Geschichte. Voraussetzung für die Stärkung des Zeichencharakters ist jedoch, dass Funktion und Bedeutung streng gekoppelt bleiben. In dieser Phase seiner architektonischen Praxis lässt Stirling diese Beziehung unangetastet. Über die Verstärkung der Präsenz der Zeichen hinaus gibt es keine Bedeutungsverschiebung oder Bedeutungsrelativierung. Dagegen gibt es einen Gewinn an Autonomie jedes einzelnen Zeichens, insofern jedes Zeichen, durch die Aufwertung seiner materiellen Präsenz, gleichwertig neben jedes andere tritt, wobei das Fenster weiterhin Fenster, die Wand weiterhin Wand bleibt. Das Fenster ist aber, das macht den Unterschied aus, nicht mehr der Wand untergeordnet, sondern behauptet sich gleichwertig neben der Wandfläche, der Wasserspeier behauptet sich gleichwertig neben der Deckenplatte, auf der er sitzt, und die Brüstungselemente behaupten sich als eigenes, starkes Zeichen gegenüber den Loggien, die sie abschließen.

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John Rauch, Robert Venturi u. Denise Scott Brown, Skizze des Flint House, 1981

Stirlings Architekturpraxis zeigt, wie der Zugang zum architektonischen Zeichen allein über die materielle Präsenz des Zeichens führt. Das unterscheidet sie von den Versuchen, durch Abstraktion vom Material die architektonischen Zeichen den linguistischen Zeichen anzugleichen und sie dadurch zum beliebig verwendbaren semiotischen Material zu machen, wie zum Beispiel in der ionischen Säule des Allen Memorial Art Museums in Oberlin von Rauch, Venturi und Scott Brown (Abb. 3). Es ist das Kapitell nur noch ein Zeichen eines Kapitells, wo die ionische Volute auf ein zweidimensionales, flächiges Element reduziert ist, das nur tangential die Zylinderform des Säulenschafts berührt und damit weder eine materielle noch eine statische Verbindung mit der Säule besitzt. Das Kapitell besteht darüber hinaus aus Holzlatten mit sehr dünnem Profil. Doch selbst wo die Fugen zwischen der Holzlattung einen Bezug zu den Kaneluren einer ionischen Säule suggerieren, besteht kein Zweifel, dass diese nur Verkleidung, nur Oberfläche sind und die Säule keine tragenden Eigenschaften besitzt. Durch eine Fuge abgesetzt, wird suggeriert, dass sie keine Verbindung mit

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dem Boden hat, ähnlich wie am oberen Ende die Volute nur tangential die Decke darüber berührt. Rauch, Venturi und Scott Browns Säule ist bewusst als Zeichen einer Säule ausgebildet. Abgelöst von ihrer materiellen und konstruktiven Bestimmung stellt sie nur das Bild einer Säule dar. Sie ist reine Repräsentation. Möglich ist das, weil die Tragfunktion der Säule in die Konstruktion der auskragenden Deckenplatte ausgelagert und die Säule so von ihrer tragenden Funktion entlastet ist. Die Lasten sind umgelenkt, die Säule wird nicht benötigt. Damit ist sie von dem befreit, was das architektonische Zeichen als solches ausmacht: nämlich die Kopplung von Material, Form und Figur in ihrer dreifachen Indexikalität als symptomatisches Sich-zeigen, als situatives Zeigen und performatives Anzeigen. Reduziert auf die reine Zeichenfunktion ist die Säule frei verfügbar und ortsungebunden, sie kann in Verbindung mit jedem anderen architektonischen Zeichen gebracht werden. Das zeigt eine Skizze für das Flint House (Abb. 4). Hier besitzen die Säulen keine architektonische Bindung. In ihrer bildhaften Zeichenhaftigkeit – wo sie keine indexikalische Beziehung zum Gebäude haben – können sie beliebige Positionen einnehmen, auf der Mittelachse des Giebels, auf der geometrischen Verlängerung des halbkreisförmigen Triumphbogenmotivs oder an einer der Gebäudeecken, wobei der Entwurf schon suggeriert, dass an den Ecken nicht notwendigerweise eine Säule platziert werden muss. Den Säulen kommt keine indexikalische, sondern eine bildhafte Zeichenfunktion zu. Souveränität der Zeichen In seiner mittleren Werkphase

verschob sich Stirlings Interesse dann von der Autonomie zur Souveränität der Zeichen, mit der vorausgegangenen Autonomisierung der Zeichen als Voraussetzung. Ins Zentrum trat die immanente Hierarchie der Zeichenebenen: Material, Form, Figur und die dreifache Indexikalität. Ziel war die Sprengung ihrer zeichenhaften Codierung und semantischen Hermetik. Stirlings Interesse war es, die architektonischen Zeichen

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einer vielbezüglichen, ambivalenten Zeicheninterpretation zu öffnen oder dem, was in der poststrukturalistischen Linguistik als floating signifier oder flottierender Signifikant bezeichnet wird, ohne jedoch ihren Zeichencharakter als architektonische Zeichen aufzugeben. Hintergrund dafür ist, dass architektonische Zeichen in der Regel Teil eines geschlossenen semantischen Bezugssystems sind, das man auch als Code bezeichnet. Nach Claus Dreyer werden als Code „spezielle und im Prinzip geschlossene Zeichensysteme bezeichnet, die für ein begrenztes Zeichenrepertoire eine feste Korrelation zwischen einzelnen Zeichen und bestimmten Bedeutungen aufweisen und die auf strikten Regeln oder etablierten Konventionen beruhen“.18 Sprachen sind zum Beispiel solche geschlossene codierte Bedeutungssysteme. In der Architektur spricht man dagegen von Stilen, in denen alle Zeichenaspekte einem übergeordneten Code untergeordnet sind wie Barock, Renaissance, Klassizismus oder Sachlichkeit. So verlangt der Klassizismus die Verwendung von bestimmten Materialien wie Stein oder Putz, aber nicht Stahl und Glas; auf formaler Ebene verlangt er die Befolgung formaler Kriterien wie zum Beispiel die Ausbildung der Säulen entsprechend der fünf Säulenordnungen. Auf figurativer Ebene verlangt er die Kombination der formalen Elemente in einer festgelegten Art und Weise, das heißt entsprechend einer bestimmten Grammatik. Dabei sind die Codes in der Architektur nicht nur universell, sondern können lokaler Art, zeitgebunden, von Schulen oder von einzelnen Individuen geprägt sein. Im letzten Fall spricht man vom Individualstil eines Architekten, wie bei Frank Lloyd Wright oder Ludwig Mies van der Rohe, deren Autorenschaft am spezifischen Code ihrer Gebäude, das heißt an ihrem Stil erkennbar ist. Die Codes verfolgen das Ziel eines verbindlichen und verständlichen Interpretationsrahmens, so dass die semantische Kodierung durch den Architekten und die semantische Dekodierung durch den Benutzer gekoppelt sind, als Möglichkeitsbedingung für die Vermittlung von Sinn und konkreter Identitätsbildung größerer Gemeinschaften.

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Stirling geht es in der zweiten Werkphase um die Souveränität architektonischer Zeichen im Sinne eines freien, offenen und pluralistischen Spiels der Zeichenbedeutungen. Die Technik dafür ist die der Verfremdung der Zeichen mit dem Ziel, die Zeichen mehrdeutiger, ambivalenter Bezugnahme zu öffnen. Verfremdung heißt, den Zeichencharakter der Architekturelemente auf einigen Zeichenebenen zu stärken, auf anderen dagegen zu schwächen, das heißt bestimmte Zeichenebenen in einem Code auszuführen, andere dagegen in einem anderen, mit dem Effekt, dass die Zeichen nicht nur in einem, sondern in mehreren Bezugssystemen interpretiert werden können. Sie werden vielbezüglich und mehrdeutig. Beispielhaft für die Souveränität der Zeichen kann der Eingangspavillon der Stuttgarter Staatsgalerie stehen (Abb. 5). Auf quadratischem Grundriss und vier Stützen steht dieser an der Stelle, an der der Zugang von der Straße erfolgt, wobei die vorderen Stützen auf der Straßenebene stehen, die hinteren auf dem höher gelegenen Plateau. Der Pavillon ist von allen vier Seiten zugänglich, in der Längsachse von der Straße und von der Tiefgarage, in der Querachse einerseits über eine Treppe und andererseits über eine Rampe, die beide auf das höher gelegene Plateau führen. Der Pavillon ist aus Stahl und Glas, die Stützen sind blau, die horizontalen Träger rot. Auf ihnen sitzt als oberer Abschluss ein gefaltetes Dach aus Glas. Die Möglichkeiten zur zeichenhaften Bezugnahme sind vielfältig. Wie sich zeigen lässt, ist der Pavillon auf widersprüchliche Art und Weise mehrfach codiert. Entsprechend lässt er sich auf den drei Zeichenebenen – Material, Form und Figur – und den drei Ebenen der Indexikalität in unterschiedlicher Bezugnahme interpretieren. Aufgrund der dominanten Erscheinung des Materials Stahl, des Glasdaches und der farblichen Kodierung mit blau und rot erscheint der Eingangspavillon im ersten Moment im Code der Industriearchitektur. Das wird dadurch verstärkt, dass die Vordächer über den Eingängen zum Museum und zum angegliederten Kammertheater nicht nur demselben Code der Industriearchitektur des Eingangspavil-

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lons folgen – farbig lackierter Stahl und Glas –, sondern dass in diesen Fällen die aufgesetzten Glasdächer vervielfältigt sind, so dass das Bild von Sheddächern entsteht, das man in der Regel von Fabrikhallen kennt. Aufgrund der materiellen und formalen Ähnlichkeit dieser Vordächer lässt sich auch der Eingangspavillon, obwohl er nur ein Dachelement besitzt, mit Sheddächern in Verbindung bringen, was die Assoziation mit Industriearchitektur, die sich schon über das Material Stahl, Glas und die Farbigkeit eingestellt hatte, unterstützt. Weil die Reihung der Dachelemente zu einem konkreten Sheddachmotiv fehlt, ist beim Eingangspavillon die Sheddachassoziation schwach, was aber kein Nachteil ist. Im Gegenteil, dies ermöglicht andere Assoziationen. So kann sich für Kenner der Architekturgeschichte eine Assoziation mit Abbé Laugiers Urhütte (1750) einstellen. Diese Assoziation ist jedoch – entgegen der Materialität in Stahl und Glas – auf der formalen Zeichenebene möglich. Denn Laugier stellte sich die Urhütte aus vier Bäumen bestehend vor, die die Eckpunkte einer quadratischen Grundfigur markieren. Die vier Bäume sind am oberen Ende der Stämme mit vier kleineren Balken, die in die Astgabeln gelegt sind, horizontal miteinander verbunden. Sie bilden einen Rahmen, ähnlich wie die vier blauen Stahlstützen im oberen Bereich mit vier horizontal liegenden, roten Doppel-T-Trägern. Bei Laugier sind dann auf den horizontalen Rahmen weitere Balken im Dreiecksverband aufgesetzt, die die Form eines Giebels nachzeichnen, gerade wie das Glasdach auf dem Eingangspavillon. Damit scheint auf formaler Ebene, über die Assoziation der Industriearchitektur hinaus, Stirlings Eingangspavillon auch auf Laugiers Urhütte Bezug zu nehmen. Wobei die Urhüttenassoziation auf der materiellen Ebene, durch die Ausführung in Stahl und Glas, eine Relativierung erfährt, ebenso wie sie auf der figuralen Ebene eine Erweiterung erfahren kann. Denn es lässt sich auf figuraler Ebene ein Tempelmotiv erkennen und zum Beispiel ein Bezug zum Niketempel auf der Akropolis herstellen. Es ist die einfache Grundfigur mit einem einfachen Dachelement auf vier Stützen, die

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dies auf figuraler Ebene nahelegt. Diese Assoziation ist dabei so stark, dass selbst die Reduktion von vier auf zwei ‚Säulen‘ in der Frontansicht die Assoziation mit einem Tempel nicht nachhaltig stören kann. Es lassen sich demnach mindestens drei codierte Zeichensysteme erkennen: Industriearchitektur, Urhütte und Tempel, die auf den ihnen jeweils untergeordneten Zeichenebenen verfremdet sind. Das heißt, dass aufgrund der jeweiligen Verstöße gegen den Code in keinem der Fälle der Zeichenprozess abgeschlossen werden kann. Immer bleibt etwas offen, immer steht eine Verfremdung auf mindestens einer Zeichen­ ebene dem eindeutigen Abschluss des jeweiligen Interpretationsprozesses entgegen. Aber jede verfremdende Zeichen­ ebene stört nicht nur die eindeutige Bedeutungssetzung auf der dominanten Ebene, sondern kann zum Ausgangspunkt für neue Bezugnahmen und neue Signifikanten werden, sobald man die Möglichkeit erkennt, dass die untergeordnete Zeichen­ ebene auch als dominante Zeichenebene interpretiert werden kann. Wie zum Beispiel im Übergang von der Materialebene zur formalen Ebene, was den Umschlag vom Code der Industrie­ architektur zum Code der Urhütte nach sich zieht, oder im Übergang von der formalen zur figuralen Ebene, was den Umschlag vom Code der Urhütte zum Code eines klassischen Tempels bewirkt.19 Aber auch in Bezug auf die Indexikalität, in Bezug auf Symptom, Position und Signal, schafft Stirling mithilfe von Verfremdungseffekten Möglichkeiten zu vielbezüglicher Bezugnahme. Während der Eingangspavillon selbst aufgrund seiner Position den Eingang zum Museum bezeichnet, suggeriert auf der zentralen Achse eine trapezförmige, markante Öffnung in der hinteren Wand signalhaft den Eingang ins Museum. Der Versuch der performativen Realisierung der Zeichenbedeutung führt jedoch direkt in die Tiefgarage. Das Zeichen ‚Eingang‘ lässt sich nicht performativ realisieren, es kann nicht zum Abschluss gebracht werden. Aber selbst nach dem Erkennen des Irrtums bleibt die Verunsicherung, ob in

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James Stirling, Eingang zur Neuen Staatsgalerie Stuttgart, 1984

der Querachse, links oder rechts, die Rampe oder die Treppe zum Eingang des Museums führen, wobei nur der Weg über die Rampe von weiteren Signalen begleitet wird, die zum Eingang des Museums leiten und damit den performativen Abschluss des Zeichens ‚Eingang‘ ermöglichen. Man kann feststellen, dass Stirling den Eingangspavillon auf jeder Zeichenebene einer eigenen, starken Codierung unterzog: einerseits auf der Ebene des Materials (Stahl, Glas), auf der Ebene der Form (Stützen, Balken und Dach) und auf der Ebene der Situation (Eingang), wie andererseits in Bezug auf die Indexikalität von Symptom, Position und Signal. Auf jeder

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Zeichenebene erfolgt eine dominante Codierung, die mithilfe von Verfremdung auf einer anderen Zeichenebene geschwächt wird. Stirling unterzog auch alle anderen architektonischen Elemente der Stuttgarter Staatsgalerie dieser auf ambivalente Mehrdeutigkeit angelegten Zeichentechnik. Das gilt für die zentrale Rotunde mit den großen Wanddurchbrüchen und den hängenden Gärten, das gilt aber auch für das Kreuzgangmotiv und das Säulenfragment in der Rotunde ebenso wie für die Pilzstützen im Wechselausstellungsraum, für die Beleuchtungselemente in den Ausstellungsräumen, für den grünen Industriefußboden im Foyer und die Handläufe der Rampen, Treppen und Terrassen. Der Weg zur Souveränität der Zeichen mit ihrem Potenzial zur Mehrdeutigkeit führt jedoch immer über die vorausgehende Stärkung ihrer Autonomie, das heißt über die Stärkung ihrer Präsenz auf materieller, figurativer und situativer Ebene.

Anmerkungen In leicht veränderter Fassung erschien eine erste Veröffentlichung dieses Aufsatzes in Architektur, Zeichen, Bedeutung: Neue Arbeiten zur Architektursemiotik, Zeitschrift für Semiotik, Heft 1–2 / 2014. 1

Edmund Husserl, „Analyse der Wahrnehmung“, in: Thomas Fried­ rich u. Jörg H. Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Münster 2007, S. 58.

2

Heinz Paetzold, Ernst Cassirer zur Einführung, Hamburg 1993, S. 45.

3 Paetzold, Ernst Cassirer zur Einführung (Anm. 2), S. 46. 4 Paetzold, Ernst Cassirer zur Einführung (Anm. 2), S. 46. 5

Vgl. dazu Jörg H. Gleiter (Hg.), Ornament Today. Digital, Structural, Material, Bozen 2012 und Jörg H. Gleiter, Rückkehr des Verdrängten. Zur Kritischen Theorie des Ornaments in der architektonischen Moderne, Weimar 2002.

6

Zu verweisen ist hier auf die umfangreiche Literatur mit Schlüs­ selwerken wie W.J.T. Mitchell, Picture Theory, Chicago u. London 1994; Gottfried Boehm, Was ist ein Bild?, München 1995; Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes, Reinbek bei Hamburg 1997;

Jörg H. Gleiter Präsenz der Zeichen

Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Wege zur Bildwissenschaft, Köln 2004, Christa Maar u. Hubert Burda (Hg.), Iconic turn, Köln 2004; Oliver R. Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen, Frankfurt/M. 2004 etc. 7

Christoph Türcke, Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift, München 2005, S. 43.

8 Türcke, Vom Kainszeichen zum genetischen Code (Anm. 7), S. 53. 9

Dieter Mersch, „Semiotik und Rationalitätskritik. Umberto Ecos negative Aufklärungskonzeption“, unter: www.dieter-mersch.de/ download/mersch.semiotik.und.rationalitaetskritik.pdf, S. 8. [26. November 2013].

10 Uwe Wirth, „Symbol, Symptom, Signal. Einige Überlegungen zur Konfiguration architektonischer Zeichen“, in diesem Band, S. 115–147. 11 Wirth, Symbol, Symptom, Signal (Anm. 10), S. 119. 12 Wirth, Symbol, Symptom, Signal (Anm. 10), S. 119. 13 Charles Sanders Peirce, „Of Reasoning in General“, in: Ders., The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, Bd. 2, hrsg v. Peirce Edition Project, Bloomington IN 1998, S. 14. 14 Charles Sanders Peirce, Collected Papers of Peirce, Bd. I-VI, hrsg. v. Charles Harsthorne und Paul Weiss, Bd. VII und VIII, hrsg. v. Arthur W. Burks, Cambridge, Mass. 1931-1958, zitiert wird in Dezimalnota­ tion, hier: 8.335. 15 Robert Venturi, Denise Scott Brown u. Steven Izenour, Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt, Braunschweig u. Wiesbaden 1979, S. 17. 16 Venturi, Scott Brown, Izenour, Lernen von Las Vegas (Anm. 15), S. 17. 17 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, „Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller“, Aph. 218. 18 Claus Dreyer, „Architektonische Zeichen und ihre Bedeutungen“, in diesem Band, S. 79. 19 Es lassen sich noch andere Bezüge herstellen, zum Beispiel ein lokaler Bezug zu den blauen Stahlstützen aus Doppel-T-Trägern des Doppelhauses von Le Corbusier auf der Weissenhofsiedlung in Stuttgart (1929). Andere Anspielungen auf das Doppelhaus in der Staatsgalerie suggerieren auch diesen Bezug.

Text und Kontext

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Tatsuma Padoan

Hinter den Zeichen. Über Strategien der Verordnung und Verhandlung von Verhaltensregeln in der Tokioter U-Bahn „ Das Panopticon, das so sorgfältig geplant worden ist, damit ein Aufseher mit einem Blick so viele verschiedene Individuen beobachten kann, erlaubt es jedermann, den kleinsten Wächter zu überwachen. Die Sehmaschine, die eine Art Dunkelkammer zur Ausspähung der Individuen war, wird ein Glaspalast, in dem die Ausübung der Macht von der gesamten Gesellschaft durchschaut und kontrolliert werden kann.“ (Michel Foucault, Überwachen und Strafen1) „ Bitte unterlassen Sie das Auftragen von Make-Up im Zug.“ (Manner poster, August 2009) Einführung In seiner bewundernswerten Arbeit über die Überwachung als eine universelle Disziplin, die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts das Bestrafungs-, Erziehungs- und medizinische System der westlichen Gesellschaften veränderte, hat Michel Foucault gezeigt, wie ein bestimmter Apparat zur Kon­trolle des Körpers – das Panoptikum von Jeremy Bentham – auf den gesamten sozialen Körper ausgeweitet werden kann.2 Aus dem Verhältnis zwischen einem Beobachter, der von einem zentralen Punkt aus den Häftling überwacht, und einem Beobachteten, der um seine praktisch ununterbrochene Observierung weiß, kann so etwas wie eine allgemeine politische Strategie werden. Diese Strategie einer politischen Technologie über den

Tatsuma Padoan Hinter den Zeichen

Körper beschreibt Foucault als einen expansiven Mechanismus der Macht, bei dem jeder jeden überwacht – indem jeder sowohl den verdeckten Platz des Wächters im Zentralturm des Panoptikums einnimmt, als auch in ständiger Beobachtung durch die anderen steht. Diese Überlegungen scheinen nicht nur in Bezug auf die neuen Medien und deren Verflechtungen mit dem politischen und alltäglichen Leben (Soziale Netzwerke, Videoplattformen, Reality Shows, Internet-Blogs) besonders vorausschauend gewesen zu sein, sondern auch in Bezug auf das Feld des Designs. Der vorliegende Aufsatz untersucht, wie erstens visuelles Design effektiv zur Etablierung kontrollierender Macht eingesetzt werden kann, aber zweitens auch die Unterwanderung und Auseinandersetzung mit dieser Macht ermöglicht, indem es eine Bühne schafft, auf der Bilder aktiv mit Menschen interagieren. Dies soll am Beispiel des visuellen Diskurses – das heißt den Wechselwirkungen von Produktion und Rezeption – einer Reihe von Plakaten untersucht werden, die in den Jahren 2008 bis 2010 in der Tokioter Metro angebracht waren. Eine gründliche Untersuchung dieser Beispiele wird uns die Funktions- und Wirkungsweise von Bildern und deren aktive Rolle als nichtmenschliche Akteure in den Verhandlungsprozessen des heutigen städtischen Lebens vorführen. Das Untersuchungsmaterial Als Fallbeispiel möchte ich mich

mit den Manner Posters beschäftigen, einer Serie von Plakaten, die seit Mitte der 1970er Jahre in den Zügen und Stationen der Tokioter Metro angebracht werden. Diese Bilder fordern zu ‚gutem Benehmen‘ in der U-Bahn und einem respektvollen Umgang miteinander auf. Entwickelt wurden sie von den Tokioter Metro-Betrieben, um in einer humoristischen Bildsprache zu einem gesitteten Verhalten gegenüber den anderen Fahrgästen aufzufordern. Seit Beginn der Serie starteten die Metro-Betriebe jedes Jahr eine neue Kampagne mit monatlich wechselnden Motiven und Botschaften.

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Aus der breiten Spanne von Bildern aus fast vier Jahrzehnten sind in Bezug auf Ironie und Komplexität der Bildsprache einige Plakate aus den Serien von 2008/09, 2009/10 und 2010/11 besonders interessant.3 Die Plakate, für deren Gestaltung der Grafik-Designer Yorifuji Bunpei verantwortlich war, zeigen einzelne Situationen in der Metro und den Metro­statio­nen, in denen eine oder mehrere Personen unter den missbilligenden Augen anderer Passagiere ‚unhöfliche‘ Dinge tun. Auch diese Bilder wechselten jeden Monat und zeigten ein breites Spektrum von Situationen, immer in einem Comic-Stil in den Farben Weiß, Schwarz und Gelb gehalten. Die gezeigten ‚unhöflichen‘ Situationen variierten dabei: vom Besetzen von Sitzplätzen für verletzte Personen oder schwangere Frauen bis zum In-denZug-Springen bei schließenden Türen, vom Abfall-auf-denBoden-Werfen bis zum Blockieren der Eingänge mit Taschen und Rucksäcken. Doch das Spektrum ‚unhöflichen‘ Verhaltens reicht noch weiter. Dazu gehören auch das Essen im Zug, das Auftragen von Make-Up, das Sprechen am Mobiltelefon, das Bespritzen anderer Passagiere beim Schütteln des Regenschirms, das Betrunken-auf-den-Boden-Fallen, das Ausüben von Gymnastik-Übungen im Zug usw. Die Bilder zeigen paradoxe narrative Sequenzen, in denen ‚unhöfliche‘ Tätigkeiten übertrieben dargestellt werden, um die negativen Auswirkungen auf die anderen Mitfahrer zu verdeutlichen. Über jeder Illustration steht dabei eine klare Botschaft, geschrieben auf Japanisch und Englisch: „Bitte zu Hause machen“, sagt der Spruch über dem Ramen-Esser (eine japanische Nudelsuppe), „bitte im Büro machen“, titelt die Botschaft über dem Geschäftsmann, der in seinen Notizzetteln wühlt und laut am Telefon spricht. Demnach sind die Manner Posters zuerst verordnend (sie verordnen Tätigkeiten) und dann implizit verbannend (sie sind eine Form von Verbot oder Verbannung). Sie sagen einem, was er zu tun hat („bitte zu Hause machen“), um ihm klar zu machen, was er nicht zu tun hat, wenn er die U-Bahn benutzt (das implizite „nicht hier Machen“).

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Es gibt eine Reihe bekannter Referenzen, wenn es um Cartoons als Kommunikationsmittel in der U-Bahn geht, zum Beispiel den anthropomorphen rosafarbenen Hasen der RATP (Pariser Transportverwaltung). Seit den achtziger Jahren wird dieser auf Plakaten gezeigt, mit einer Hand zwischen den sich schließenden Türen des Zuges, um die Passagiere auf den automatischen Schließmechanismus der Türen aufmerksam zu machen. Bei den japanischen Manner Posters handelt es sich jedoch um einen anderen Fall, sowohl in Bezug auf die Fülle der gezeigten Szenen, als auch in Bezug auf ihre Botschaft. In ihnen geht es nicht um die Sicherheit der Passagiere, sie wollen nicht vor der Gefahr der unachtsamen Nutzung einer technischen Apparatur warnen. Stattdessen fokussieren sie auf die Beziehung zwischen einzelnen Passagieren und auf die Befindlichkeit der anderen Reisenden, die sich durch rücksichtsloses und selbstbezogenes Verhalten gestört fühlen könnten. Dementsprechend geht es hier nicht um ein Thema der Autonomie (Subjekt-Objekt-Relation), sondern der Heteronomie (Subjekt–Objekt–Dritter). Neben mir und der Welt wird eine dritte Rolle etabliert – der andere. Wir betreten das Feld der Moral. Methodische Überlegungen Unter den vielen Strömungen der

gegenwärtigen Wissenschaften der visuellen und materiellen Kommunikation ist die so genannte Akteur-Netzwerk-Theorie eine der interessantesten.4 Sie fordert uns auf, die Rolle der materiellen Kultur neu zu überdenken, sie nicht einfach als eine Form festgelegter Einschreibungen kultureller Kategorien in Objekte zu sehen,5 sondern in einer komplett neuen Perspektive: Bilder, architektonische Elemente, Artefakte oder Dinge treten selbst als Akteure im alltäglichen Leben auf. Sie sind mit spezifischen Funktionen und Bedeutungen belegt. Sie werden von uns in Bewegung versetzt und zugleich setzen sie uns in Bewegung, in dem Sinne, dass ihr Design uns zu bestimmten Handlungen animiert und bestimmte Emotionen in uns auslöst. Sie sind Vermittler, mit denen wir uns auseinandersetzen als Teil kontinuierlicher Verhandlungsprozesse von Bedeutungen.

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Sie sind, mit anderen Worten, nichtmenschliche Akteure, die aus Netzwerken von Wechselwirkungen mit menschlichen Akteuren hervorgehen, aus einem gemeinsamen Bezugssystem der Partizipation und Vergegenwärtigung. Des Weiteren liegt eine der wichtigsten Erkenntnisse der Ethnologie in der Einsicht, dass das, was uns als Menschen definiert, in der Tat unsere spezifische Verbindung zur materiellen Kultur ist.6 Wir erschaffen Objekte, damit diese uns als kulturelle Wesen erschaffen.7 Menschen und Artefakte haben sich immer gegenseitig in wechselseitigen und symmetrischen Beziehungen geformt. Das ist der Grund, warum nach der Akteur-Netzwerk-Theorie menschliche und nichtmenschliche Akteure sich konstant miteinander beschäftigen und jeweils nur als definierte Einheiten in Netzwerken von reziproken Beziehungen auftreten können: Beziehungen, die sich im Machen gründen, im Interagieren, im Aus- und Einwirken, das heißt Beziehungen der Produktion, Übertragung und Interpretation von Bedeutung. Dies ist der Punkt, an dem sich die Akteur-NetzwerkTheorie mit der Semiotik verbinden lässt. Tatsächlich wurde die Akteur-Netzwerk-Theorie als materielle Semiotik definiert,8 eine Semiotik, die Materialität theoretisch greifbar macht, da sie in der Lage ist, Symbole und Material zusammen zu denken, Semantik und Pragmatik, Bedeutung und Wirkkraft. Dies ist der Beitrag der analytischen Philosophie: Etwas zu sagen, heißt gleichzeitig, etwas zu tun, denn es beinhaltet unsere aktive Partizipation an Bedeutungskategorien, ein Vorgang der Neuorganisation von Welt.9 Wie François Cooren in seinem Buch über die Sprechakt-Theorie schreibt, sind Sprache und Zeichen Tätigkeiten, denn sie müssen in Bezug auf die Handlungen, die ihnen innewohnen und die sie auslösen, betrachtet werden.10 Um es in phänomenologischem Vokabular zu sagen: Materialität ist immer auch schon in einer zeichenhaften Form gegeben und semiotisch vorkonfiguriert, denn die Welt selbst wird konstant von Subjekten rekonfiguriert und entwickelt sich mit Subjekten, die sie wahrnehmen, erkennen und fühlen. Die Art und Weise,

Tatsuma Padoan Hinter den Zeichen

in der wir uns bedeutungsvoll mit der Welt verbinden, definiert sowohl uns als auch die Welt.11 Es ist genau diese Beziehung, die die verbundenen Begriffe definiert,12 das heißt die die aufein­ander bezogenen Akteure ‚zur Existenz‘ bringt. Mit der Etablierung eines Beziehungsgefüges sind die Interaktionen bereits arrangiert und die Bedeutungsmuster verhandelt. Und umgekehrt etablieren Handlungen semiotische Beziehungen, denn Bedeutung selbst ist nur zu denken als eine Beziehung von Dingen und als eine Form des Handelns. Um genau zu sein, basiert die Akteur-Netzwerk-Theorie auf einer bestimmten Strömung der Semiotik,13 die üblicherweise als Pariser Schule bezeichnet wird und die von der narrativen Analyse Algirdas J. Greimas’ aus den 1960er Jahren14 bis zur gegenwärtigen, weit verzweigten Semiotik15 reicht. Einer der Hauptunterschiede zur amerikanischen Schule von Charles S. Peirce liegt darin, dass sich die kontinentale greimassche Schule vom reinen Zeichen ab- und intersubjektiven Strategien zuwendet. Nach der greimasschen Schule sind Zeichen nur die sichtbaren Einheiten hinter der Oberfläche liegender Prozesse der Bedeutungsbildung und Kommunikation. Zeichen sind demnach mit verdeckten Strategien verbunden. Entsprechend verschiebt sich – wie im Titel dieses Beitrags bereits erkennbar – der Fokus der Untersuchung auf das, was hinter der Oberfläche liegt. Im Folgenden will ich diesen Ansatz weiter entwickeln, indem ich die Funktions- und Wirkungsweisen der Bilder auf den Plakaten in der Tokioter U-Bahn beschreibe, unter Anwendung der Methoden der zeitgenössischen kontinentalen Semiotik.16 Die Spuren des Handelns und Fühlens Wenn wir die Manner

Posters genau anschauen, sehen wir, dass auf ihnen die ungesitteten Personen grafisch in sehr spezifischer Weise von den anderen Passagieren und der umgebenden Kulisse unterschieden werden. Schauen wir uns das erste Beispiel an (Abb.  1): Ein kurzhaariger Mann sitzt auf einer Bank in der U-Bahn, neben sich eine Einkaufstüte, zwischen den Beinen

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eine Flasche und in der linken Hand einen Becher mit FertigNudelsuppe. Mit dem Kopf dicht über dem Becher, schlürft er die Suppe. Suppenspritzer sind über die ganze Szene verteilt, und in der rechten Hand schwingt unser Protagonist bereits die Gabel zu einem neuerlichen Schlag in die Suppe. Das Problem liegt im Ort der Handlung, der alles andere als angemessen erscheint. Unmittelbar daneben schaut ein Mann mittleren Alters mit großen Augen auf den aufdringlichen Mitrei-

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senden, augenscheinlich durch dessen Ellbogen schmerzhaft im Gesicht getroffen. Unser Suppenesser scheint dies nicht weiter zu bemerken und verspeist unbekümmert seine Suppe, während der belästigte Mann und eine Frau neben der Tür mit grimmigem, ernstem Gesicht auf ihn schauen. Ihre Gesichter scheinen zwar ausdruckslos, rahmen aber zwei übergroße runde, grellweiße Augen. Der unhöfliche Akteur ist hier durch die Farbe (chromatische Eigenschaft), die Position (topologische Eigenschaft) und die zeichnerische Linienführung (eidetische Eigenschaft) von den anderen Passagieren unterschieden. Während diese über denselben Farbton mit der Umgebung verbunden sind – sie sind im stimmigen Farbton, weil ihr Verhalten stimmig, der spezifischen Situation angemessen ist –, ist der Nudelesser ganz weiß und damit vom Rest des Bildes unterschieden. In anderen Worten, Kontraste von Farbe, Position und Linie sind hier eingesetzt, um den unangemessenen Charakter des Verhaltens zu zeigen. Wir wollen nun die narrative und diskursive Dimension der Manner Posters untersuchen. Alle Illustrationen – sowohl die Comicstrips aus mehreren Sequenzen als auch einzelne Bilder, die eine Szene zeigen – vermitteln so etwas wie eine Mikrogeschichte, etwas, das chronologisch vor und nach ihnen abläuft.17 Sie sind immer Teil einer visuellen Geschichte oder Dramaturgie, in der ein einzelner Akteur die Rolle des Täters spielt – die Person, die eine unhöfliche Tätigkeit ausübt – und ein anderer die beeinträchtigte, verletzte Seite darstellt. Letzterer nimmt mindestens zwei unterschiedliche Positionen ein. Die beeinträchtigte Person übernimmt die narrative Rolle des festlegenden Senders, das heißt desjenigen, der die Aktionen des unhöflichen Akteurs beurteilt und bewertet. In unserem Beispiel sanktioniert der belästigte Mann mit seinem Blick die störenden Aktionen des Suppenessers. Der festlegende Sender ist immer Repräsentant eines bestimmten Wertesystems, das in diesem Fall mit Begriffen wie Respekt und sozialer Harmonie beschrieben werden kann. Seine Urteile bauen auf diesem

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Wertesystem auf. Der belästigte Mann verkörpert hier ein Wertesystem, das unerlässlich für ein gutes Funktionieren des sozialen Gefüges ist. Dies ist die narrative Rolle, die das Opfer der Unhöflichkeiten spielt, dies ist seine Funktion. Es gibt aber noch eine zweite Rolle, die das Opfer in diesen Illustrationen spielt, eine diskursive Rolle, die die Art und Weise betrifft, wie das Bild selbst zu uns, die wir außerhalb des narrativen Rahmens stehen, spricht. Hier ist das Opfer ein Beobachter. Beobachter sind Vermittler zwischen Bild und Betrachter, die den Informationsfluss zwischen beiden regulieren und lenken. In diesem Fall nutzt der Beobachter seinen Blick nicht nur, um ein negatives Urteil über eine Person zu fällen. Mit seinem Blick prägt er auch unsere eigene Vorstellung von der Szene und zeigt, wie wir sie sehen sollen.18 Aber in den Manner Posters ist das Opfer/der Beobachter keine abstrakte oder passive Person. Er ist selbst als aktiver Teil in den visuel­len Text eingebettet, als ein Teilnehmer, der etwas sieht (und weiß, was passiert: die kognitive Dimension), der etwas tut (er sitzt neben dem Nudelesser und ist physisch beeinträchtigt: die pragmatische Dimension) und der etwas fühlt (die emotionale Dimension): Bitte zu Hause machen! In einem Interview in der Japan Times erklärt der Autor Yorifuji, dass diese Botschaft tatsächlich „die unterdrückte Frustration des typischen Pendlers“ vermitteln will.19 Nach Greimas – der Vorreiter in der narrativen Analyse von Emotionen war, das heißt Affekte in narrativen Begriffen analysierte  – kann Frustration als der erste Schritt eines Transformationsprozesses betrachtet werden, der Wut charakterisiert.20 In der kontinentalen Semiotik werden Emotionen als sozio-kulturelle, dynamische Phänomene betrachtet, die immer untrennbar verbunden sind mit Handlungen. Das Gefühlsleben wird nicht in Opposition zur Rationalität gedacht und nicht auf die dunkle Seite des Unbewussten beschränkt. Schon in der klassischen Philosophie von Aristoteles bis Baruch de Spinoza lässt sich die Idee verfolgen, dass Emotionen immer mit Handlungen gepaart und Emotionen und Affekte immer Effekte von körperlichen Hand-

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lungen sind. Emotionen können so als doppelseitige kulturelle Instrumente beschrieben werden: In der Art einer dynamischen Kette intersubjektiver Verhandlungsprozesse werden sie durch bestimmte Formen von Handlungen verursacht und verursachen selbst wiederum neue Handlungen. Wenn Frustration eine der emotionalen Figuren in diesen Bildern ist, muss sie deshalb aus einer Handlung resultieren, nach Greimas genauer aus einer Handlung, die bestimmte Erwartungen verletzt hat. Im visuellen Narrativ der Manner Posters wäre diese Erwartung, wie erwähnt, die Verpflichtung auf Werte wie soziale Harmonie und Respekt. Wenn die Erwartung, von anderen respektiert zu werden, oft verletzt wird, dann würde diese kontinuierliche Missachtung des Wertesystems des ‚typischen Pendlers‘ das gegenseitige Vertrauen untergraben und Frustration erzeugen. Aber Frustration ist wie gesagt nur der erste Schritt in einer komplexen emotionalen Konfiguration, die wir Wut nennen. Die weiteren Schritte werden von Greimas wie folgt benannt: Frustration – Missfallen – Aggression.21 Können wir also die Vorschrift „bitte zu Hause machen“ als den verbalen Ausdruck einer aggressiven Empfindung bezeichnen? Als eine aus der emotionalen Konfiguration Wut resultierende verbale Aktion? Wenn wir den Worten Yorifujis folgten, könnten wir dem zustimmen, denn der Satz übersetzt ein Gefühl von „unterdrückter Frustration des typischen Pendlers“ (im selben Interview spricht er auch von „Unbehagen“) in eine verbale Geste. Tatsächlich aber ist dies, wie wir sehen werden, nur die halbe Wahrheit. Die Dinge sind um einiges vielschichtiger. Im Blick des Mitfahrers Die Augen des belästigten Fahrgastes

– seine großen, geweiteten, weißen Augen – sind der Schlüssel zur Bedeutung der Plakate. Gehen wir zum zweiten Bild. In Abb. 2 ist eine Gruppe von Menschen zu sehen, die unter dem Blick eines entgeisterten Mitfahrers eine Party feiert. Darüber steht die Botschaft: „Bitte in der Kneipe machen.“

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Das Plakat ist als mise en abyme verschiedener, ineinander verschachtelter Bilder angelegt. Diese fungieren als eine Reihe von Rahmen der Enunziation – Referenzrahmen, anhand derer verschiedene Akteure, Zeiten und Räume zueinander in Beziehung gesetzt und übersetzt werden.22 Jeder dieser Rahmen

Tatsuma Padoan Hinter den Zeichen

enunziert seinen eigenen Akteur, seine Zeit und seinen Raum, das heißt durch den Rahmen werden diese erst als existent formuliert. Bewegungen entlang dieser Kette von Rahmen können entweder projizierend sein (Entkopplung, débrayage), als Distanzierung von einer ursprünglichen Instanz der Enunziation, einem impliziten ‚Ich‘; oder sie können identifizierend sein (Verkopplung, embrayage), als Rückkehr zur ursprünglichen Instanz. Wenn wir so das Plakat betrachten, dann werden wir zuerst einen externen Referenzrahmen erkennen, das heißt die Ebene der Enunziation, die um unseren eigenen Blick herum konstruiert ist und die unseren eigenen Stand- und Blickpunkt verortet. Dieser Rahmen ist offen und bezieht uns gewissermaßen als Zuschauer mit in die Handlung ein.23 Hier stoßen wir sofort mit den institutionellen Figuren zusammen, die den visuellen Text autorisieren und am unteren Rand des Bildes mit den Logos von Tokyo Metro und Metro Culture Foundation (Metro Bunka Zaidan) vertreten sind. Dies sind die Figuren der Enunziation, die Produzenten des Manner-Poster-Diskurses. Danach werden wir von dem „eingefangen“ oder „geschlagen“ – um Ausdrücke aus dem Interview in der Japan Times zu verwenden –, was wir als die emotionale Leistung des Mitfahrers bezeichnet haben, die verbale Vorschrift: „Bitte in der Kneipe machen.“ Wie von Jacques Fontanille in seiner Studie der Pariser affichages hervorgehoben wurde, erzeugen solche direkten Vorschriften eine emotionale Bindung (embrayage) zu dem, was die Botschaft sagt. Allerdings braucht diese starke Bindung oft eine Gegenbalance durch einen etwas losgelösten, zusätzlichen Kommentar, eine Abkopplung (débrayage), die die direkte Vorschrift mit einer allgemeinen ethischen Argumentation begründet. Auch das lässt sich in den Plakaten finden, in dem gelben Rahmen, der sich unter dem Piktogramm befindet. In diesem Fall enunziert der Rahmen die abgeklärtere und elegantere Aufforderung: „Bitte erzeugen Sie keine Unruhe im Zug“, was im Japanischen noch einmal deutlich formaler klingt: „Shanai de no sawagisugi ni goch¯ui kudasai.“ Semio-

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tisch betrachtet ist dieser Rahmen so etwas wie ein fiktionaler Charakter: Er ist ein Aktant, zuständig dafür, uns zu vermitteln, welche Werte mit dem Plakat transportiert werden sollen. Er vermittelt uns also das korrekte Verhalten als Beobachter. Fontanille folgend nennen wir diesen Aktanten den Informanten.24 Danach, im nächsten Rahmen, finden wir den Beobachter/ Mitfahrer außerhalb der Fahrgastkabine, wie er durch das Fenster auf die Hauptszene starrt. So werden wir schnell zum letzten Rahmen gelenkt, hinter das Fenster in die Fahrgastkabine. Hier sehen wir eine Gruppe von angeregt trinkenden und sich unterhaltenden Menschen, die den öffentlichen Nahverkehr mit einer lauten Gaststätte verwechseln. Im Zuge der weiteren Analyse wird allerdings schnell eine Tatsache klar: Die Botschaft „bitte in der Kneipe machen“ ist an uns gerichtet. Der Mitfahrer außerhalb des Zuges schaut gar nicht mehr auf die Gruppe ungesitteter Personen. Er blickt direkt auf uns. Wir sind die ungesitteten Personen, aber wir sehen uns selbst durch seine Augen, reflexiv, wie in einem Spiegel. Wir sehen unser falsches Verhalten durch seinen Blickpunkt, den Punkt des Beobachtens. Und wir schämen uns für uns selbst. Yuri Lotman hat gezeigt, welche Rolle Scham für die internen Regulationsmechanismen von Gruppen spielt. Darüber hinaus hat er ausführlich die Figur des Spiegels untersucht, als ein enantiomorphes Instrument zur Übersetzung zwischen einer gegebenen Semiosphäre und Texten von anderen semiotischen Systemen; als eine Grenze, die neue Bedeutung aus ihrer konsti­tutiv asymmetrischen Disposition generiert.25 Wir können in den Augen des Beobachters/Mitfahrers einen ähnlichen Mechanismus feststellen. Diese erzeugen eine Identifikation zwischen den unhöflichen Subjekten und uns, durch eine spiegelgleiche Reflexion. Aber sie vermitteln gleichzeitig zwischen zwei verschiedenen semiotischen Systemen: dem angemessenen, gelb markiert, und dem unangemessenen, weiß markiert. Es ist kein Zufall, dass die weiße Farbe auch den externen Rahmen des Posters unterlegt, den offenen Rahmen, der uns als Zuschauer einbezieht – das heißt die Enunziationsebene, an

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der wir teilhaben – und damit unsere eigene Position markiert. Die Augen des Mitfahrers werden zu Kommunikationskanälen zwischen den beiden Systemen. Ich vermute, dies ist der eigentliche Grund, warum sie das einzige weiße Element in der Sphäre der gelb gehaltenen Passagiere sind. Denn durch sie enthält die eine Position die andere, ist verschmolzen mit dem anderen. Die runden, reflektierenden Augen sind somit die Übersetzungsgrenze zwischen den beiden verschiedenen Verhaltensweisen: der sozialen und der antisozialen oder präziser der normativen und der anti-normativen. Die Manner Posters versuchen zwar zu vermitteln und Konflikte zu schlichten, wichtiger ist aber, dass sie dabei selbst die Saat für neue Konflikte in sich tragen. Dies lässt sich am folgenden Plakat mit der Überschrift „bitte im Büro machen“ zeigen (Abb. 3). Hier belästigt ein Geschäftsmann seine Mitfahrer, indem er telefonierend seinen Terminplan im Zug organisiert. Neben der Verwendung von plastischen, semiotischen Kategorien (Linie, Position, Farbe), die bereits untersucht wurden, scheint die serielle Anordnung der sitzenden Personen besonders interessant. Es fällt die Wiederholung desselben Musters von Linien und Formen auf, das heißt die Verwendung desselben plastischen Motivs sowohl für die unhöfliche Person als auch für die anderen Fahrgäste, wodurch eine starke Parallelität entsteht. Mit anderen Worten, wenn wir gesehen haben, wie die chromatische Differenzierung auf semantischer Ebene mit einem Gegensatz von Werten in Verbindung gebracht werden kann (gelb – weiß = normativ – anti-normativ), dann relativiert die Parallelität der Charaktere diese Gegenüberstellung in einer Weise. Tatsächlich scheinen sie in dieselbe Kategorie eingeordnet zu werden, besser gesagt, es werden einige Prinzipien der Reziprozität zwischen guten und störenden Fahrgästen eingeführt, und wir sehen uns der beunruhigenden Möglichkeit der Inversion und Identifikation gegenüber, wie wir später sehen werden. Tatsächlich ist Parallelität (serielle Wiederholung) zusammen mit der Hyperbel

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(Übertreibung) nur eine von vielen visuellen Tropen, die diese ironischen Plakate nutzen und wodurch sie eine starke kreative Dynamik entfalten.

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Das mobile Panoptikum Interessanterweise ist auf dem gerade

betrachteten Plakat (Abb. 3) die Bezeichnung Lautlos-Modus im Japanischen als Benimm-Modus übersetzt. Dies hat den Hintergrund, dass in Japan das Ausschalten des Klingeltons am Mobiltelefon über eine Option erfolgt, die nicht als technische Funktion klassifiziert ist (Lautlos-Modus). Stattdessen wird diese Option durch die Benutzung von Vokabular aus dem Bereich sozialer Normen, intersubjektiver Beziehungen und Verpflichtungen definiert: Benimm-Modus. Damit sind wir beim nächsten Thema. In seinem Buch Kunst des Handelns spricht Michel de Certeau über die Eisenbahnzüge als Einrichtungen der Kon­trol­le, als Panoptikum.26 Er beschreibt die Sitzreihen als abgezählte Zellen, Eisenbahnwaggons als Ablagefächer – Zellen der Immobilität, die eine Ordnung und Macht der Kon­trolle produzieren. Alles ist Teil eines Rasters. Und so sind Kontrolle und Essen die einzigen Elemente, die sich zwischen den Zellen bewegen, in Gestalt des Fahrkartenkontrolleurs und des Snackverkäufers – „Die Fahrkarten bitte“ … „Sandwiches? Bier? Kaffee?“ Innerhalb des Zuges ist Immobilität die Vorgabe, jeder hat auf seinem Platz zu bleiben, und so werden die Züge zu mobilen Gefängnissen, einer Form fahrender Einkerkerung. In der Metro hingegen gibt es keine Fahrkartenkontrolleure oder Snackverkäufer, keine Abteile oder Zellen. Deswegen muss mit den Manner Posters ein System gegenseitiger Kon­trolle eingeführt werden, das auf gutem Benehmen fußt. Und Benimmregeln sind letztlich ein Teil der Ethik. In Totalität und Unendlichkeit hat Emmanuel Levinas wiederholt den intersubjektiven Charakter der Ethik betont. Er beschreibt dies als ein Ineinandergreifen verschiedener Blickpunkte. „Schon durch sich selbst ist die Ethik eine ‚Optik‘ [Hervorhebungen im Original].“27 Ethik wird hier als Optik verhandelbar. Und so kommen wir direkt zurück zum Panoptikum. Während die U-Bahn per se ein Ort dynamischer Transformationen ist,28 geprägt von kultureller Offenheit und relativer Freiheit, versuchen die regulierenden Institutionen – wie in diesem Falle die

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Metro-Gesellschaft –, dem eine Wiederherstellung von Ordnung und Normierung entgegenzusetzen. Die U-Bahn-Benimmregeln der Manner Posters werden so betrachtet ein flächig verteiltes Panoptikum, ein Mechanismus gegenseitiger Kontrolle, bei dem jeder jeden kontrolliert und jeder kontinuierlich von den anderen beobachtet wird. Politische Enunziation Die politischen Implikationen eines

visuellen Diskurses über normative Aspekte des Alltags sind so groß wie komplex. Darüber hinaus werden durch die kommunikativen Wirkungsweisen der Plakate auch Identitätsfragen erzeugt. Genauer geht es dabei um die linguistischen Formen, die in den visuellen Texten benutzt werden. Tatsächlich können wir sehen, dass die japanischen und englischen Versionen der Überschriften nicht exakt dieselbe Bedeutung haben. So ist die englische Botschaft „bitte zu Hause machen“ die Übersetzung des japanischen Satzes „ie de yar¯o“, was exakt übersetzt allerdings „lasst es uns zu Hause machen“ bedeutet. Es zeigen sich wichtige Unterschiede in den kommunikativen Strategien, die die Plakate gegenüber den englischsprachigen und japanischen Adressaten verfolgen. Denn während der japanische Satz die Angesprochenen für eine kooperative und einschließende Strategie zu gewinnen versucht (das implizite Wir in „lasst es uns zu Hause machen“), erzeugt der englische Satz eine Trennung und Distanz zwischen einem Du und dem ausschließenden Wir: Bitte (in Ihrem) Zuhause machen, (in Ihrer) Kneipe, in (Ihrem) Büro etc. Bruno Latour nennt diese politische Enunziation einen Vorgang der ‚Gruppenbildung‘, bei dem ein Kollektiv durch die performative Verwendung des Wir als einer Trennung zwischen ‚uns‘ und ‚denen‘ mobilisiert wird.29 Mit anderen Worten: Der sprachliche Unterschied markiert zwei unterschiedliche Weisen der Identitätserzeugung, eine inklusive und eine exklusive, entsprechend der sprachlich-sozialen Kompetenz, die den jeweiligen Adressatengruppen unterstellt wird, das heisst der japanischen und der nicht-japanischen.30 Wie auch immer, die Unterscheidung einer japanischen und einer ausländischen Form der

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Identitätsbildung ist nur eine der Strategien, die in den Plakaten vorgeführt wird.31 Wie wir bei der Analyse bereits in Teilen feststellen konnten, enthält der visuelle Diskurs der Plakate ein breites und heterogenes Spektrum rhetorischer Strategien – und einige davon scheinen gegen die politische Enunziation zu wirken, die wir auf der sprachlichen Ebene sehen konnten. Parodie und Verhandlung von Werten Bald nach dem Start

dieser Kampagne im Jahre 2008 begannen Parodien der Manner Posters sich in beträchtlicher Zahl in Zeitschriften und auf Internet-Blogs zu verbreiten. Das Magazin Metropolis, das bei den in Japan lebenden Ausländern viel gelesen wird, veröffentlichte regelmäßig einige dieser Parodien, wie auch die InternetBlogs von Nichtjapanern (wie z. B. 3yen.com, Politicomix oder Harvey James Cartoons), so dass Yorifuji im Interview mit der Japan Times auf dieses Phänomen der Subkultur angesprochen wurde. Auch wenn einige dieser Parodien von japanischen Bloggern gestaltet wurden, so blieben sie doch ganz wesentlich ein gaijin-Phänomen, also ein Phänomen der in Japan lebenden Ausländer.32 Manche dieser Parodien spielten mit graphischen Elementen und änderten den visuellen Aufbau oder Stil der Bilder, andere spielten mit den geschriebenen Botschaften und Sprechblasen. Dabei war das Anliegen der parodistischen Umgestaltung, sich über das detaillierte System von Verhaltensvorschriften lustig zu machen und es ins Lächerliche zu ziehen. So wurden in Bezug auf den Stil als auch auf die kritisierten Verhaltensweisen die Originale auf spöttische Art und Weise zitiert. Mit der parodistischen Übersetzung unterwanderten sie die ursprüngliche Absicht der Bilder. Wir können versuchen, eine dieser Parodien zu beschreiben (Abb. 4). Augenscheinlich wird hier das bereits analysierte Plakat von Abb. 2 verhöhnt. Dabei wird graphisch nichts verändert. Verändert wird hingegen die verbale Botschaft sowohl in der Überschrift als auch in der ergänzenden Kommentarzeile (der Rahmen des Informanten, wie wir weiter oben gesehen

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haben). Der zentrale Satz lautet: „TERRORISMUS – Wenn Du einen Verdacht hast, melde ihn.“ Und die Erklärung darunter lautet: „Wenn Du zum Feiern aus bist und einen alten gruseligen Typen siehst, der Dich beobachtet, rufe die Polizei.“ Mit diesem simplen Satz hat der Autor dieser Parodie die Bedeutung des Bildes komplett verändert. Er hat eine syntaktische Umkehrung vorgenommen, das heißt eine Inversion der narrativen Positionen und Rollen (der transformativen Aktanten). Die Person am Fenster mit dem starrenden Blick ist nicht mehr der bestimmende Sender. Sie ist nicht mehr die Repräsentation eines unhinterfragbaren Wertesystems, und sie urteilt nicht mehr, positiv oder negativ, über die Handlungen der Leute im U-Bahnabteil, denn sie spielt nicht mehr die Rolle des narrativen Senders/Urteilers. Diese Rolle wird nun von den Akteuren im Zug übernommen. Sie sind diejenigen, die das Wertesystem regulieren, und der Mitfahrer am Fenster ist nun der „alte gruselige Typ“, der Akteur, der die negative Handlung ausführt. So erzeugt eine syntaktische Umkehrung der narrativen Rollen zwischen Sender und handelndem Subjekt auch eine Veränderung der semantischen Bezüge und erzeugt eine signifikante Bedeutungsinversion. Was zuvor mit negativen Werten behaftet war, ist nun mit positiven belegt, und umgekehrt, so dass die antisoziale Rolle nun demjenigen zufällt, der zuvor als der ‚normale Zugpendler‘ galt. Eine semantische Umkehrung durch eine syntaktische Umkehrung: Dies kann wahrscheinlich als einer der klassischen Mechanismen der Parodie betrachtet werden, gleichgültig ob als Bild, Text oder Theater. In parodistischen Aktionen wie dieser kann eine mächtige Gegenreaktion der oft anonymen Blogger gesehen werden, um dem System von Vorschriften und der panoptischen Strategie gegenseitiger Kontrolle etwas entgegenzusetzen. Und die Tatsache, dass die meisten dieser Autoren in Japan lebende Ausländer sind, lässt darin auch eine Form der Reaktion auf die politische Enunziation (die Unterteilung in Japaner und Nicht-Japaner) durch die Manner Posters erkennen.33 Entsprechend ist das Design dieser visuellen Paro-

Tatsuma Padoan Hinter den Zeichen

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dien in dem Maße in der Lage, Wertesysteme umzukehren und zu verhandeln, in dem es ihm gelingt, das alltägliche Leben als ein Gefüge semiotischer Handlungen zu beschreiben und zu rekonfigurieren. Doch bereits davor ist es möglich, dass die rhetorischen Tropen, die die ursprünglichen Manner Posters nutzen – wie Ironie, Hyperbel, Wiederholung und Parallelität –, selbst entgegen den vermittelten normativen Werten parodistische Übersetzungen evozieren und antizipieren. Bilder selbst

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können zu unberechenbaren Akteuren werden, wenn sie einen eigenen Diskurs führen und dabei neue Richtungen und Formen der Interaktion in die Welt bringen. Übersetzung und kulturelle Verschmelzung Die folgenden Überlegungen widmen sich den Bildern aus der Saison 2010/11, der dritten und letzten Kampagne aus meinem Manner-PosterFundus. Diese Plakate unterscheiden sich von ihren Vorgängern. Sie zeigen Situationen, in denen Ausländer deutlich als solche dargestellt sind und unerwartet positiv handeln, was mit der Überschrift „bitte tu es wieder“ honoriert wird. Die meisten Bilder zeigen Sequenzen, in denen diese Person sich kurz unhöflich verhält, nur um sofort die Beeinträchtigung der anderen Fahrgäste zu realisieren und so schließlich die angemessene Verhaltensweise zu praktizieren. Wir können Abb. 5 als Beispiel für diese Narration nehmen. Ein großer und breiter Mann, offensichtlich dem japanischen visuellen Stereotyp des Ausländers entsprechend, welches in der Massenkultur normalerweise durch US-Amerikaner definiert wird, steht in der Mitte der Szene und versperrt die Zugtür. Im zweiten Bild bewegt er sich schnell zur Seite und lässt ein Paar die Tür passieren. In der letzten Szene strecken er und das Paar ihre Daumen nach oben, um sich so gegenseitig ihre Anerkennung zu zeigen und das befriedigende Ergebnis ihrer Interaktion zu bestätigen. Während die Botschaft darüber „bitte tu es wieder“ sagt, ergänzt der Kommentar: „Bitte wirken Sie mit, dass andere reibungslos ein- und aussteigen können.“ Ein wunderbares Beispiel für Kooperation und interkulturelle Verständigung! Offensichtlich möchte das Plakat in einer positiven Weise zu einer aktiven Teilnahme an den ‚Benimm­ regeln‘ in der Metro auffordern. Aber die Art und Weise, dieses kommunikative Ziel zu erreichen, sind hier nicht die Trennung und Unterscheidung zwischen Ausländern und anderen Passagieren. Stattdessen basiert die visuelle Strategie darauf, dass die Differenzmarkierungen, die wir aus den älteren Manner Posters kennen, sich durchdringen und reziprok beeinflussen.

Tatsuma Padoan Hinter den Zeichen

Die gelben und weißen Figuren sind hier vermischt und werden in wechselnden Kombinationen für alle Charaktere verwendet. Auch die Farben der Metro und des äußeren Enunziationsrahmens sind invertiert: Die Innenwände des Zuges sind nun weiß, und unsere Zuschauerposition ist mehr oder weniger eingebettet in einen gelben Umgebungsrahmen. Bei der Kleidung ist

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festzustellen, dass der Ausländer und einer der beiden anderen Passagiere – die Frau – in derselben Weise gekleidet sind, mit einem gelben Schal und einem schwarzen Oberteil. Aber am interessantesten ist die Geste, die sie miteinander austauschen. Der nach oben zeigende Daumen ist eine typisch ausländische oder gar amerikanische Geste, die hier auch vom ‚typischen japanischen Pendler‘ verwendet wird, so etwas wie ein kleines Gegengeschenk, um zu sagen: ,Du respektierst meine Sitten, und so respektiere ich auch Deine.‘ Es scheint, als wären die Hybridisierungszeichen, die wir in den vorhergehenden Kampagnen sahen – die Augen des Mitfahrers, die Parallelität, die Tropen – nun buchstäblich explodiert, so dass neue Situationen kultureller Durchmischung entstehen. Es ist, als würden die Bilder (die figurative Ebene34) in einer Art von visueller Reflexion und Rhetorik einen neuen eigenen Diskurs entwickeln, der nach und nach die Grenzen der Kampagne verschiebt und neue Formen des Verhandelns, der parodistischen Umkehrung und Verschmelzung aufzeigt.35 Abschließende Betrachtungen Nachdem wir die Entwick-

lung von drei Folgen der Manner Posters des Designers Yorifuji Bunpei gesehen haben, ihre Strategien und die Gegenaktionen, die sie erzeugten, nachvollzogen haben und zuletzt deren Transformation erleben konnten, bleiben wir mit einem Gefühl der Ungewissheit zurück. Wir wissen um die Akteure, die viele neue Bilder produziert, verbreitet und neuinterpretiert haben – Desig­ner, Institutionen, Blogger, Pendler, Ausländer, Journalisten und, schließlich, ich selbst – aber wir sind nicht sicher, ob all diese Akteure allein verantwortlich waren für die verschiedenen Entwicklungspfade, die die Plakate durchwandert haben. Natürlich waren sie das Werk von kreativen GrafikdesignStudios, des Metropersonals, das sie verteilt und aufgehängt hat, und der ehrfurchtslosen Fantasie von aktiven Websurfern und Bloggern – von denen viele wiederum als freischaffende Designer arbeiteten.

Tatsuma Padoan Hinter den Zeichen

Aber das reicht nicht. Wenn wir den Entwicklungsspuren der Manner Posters folgen, erkennen wir, dass sie vom Moment ihrer Entstehung an ein eigenes Leben entwickelten. Sie erlangten eine unabhängige Existenz von ihren Produzenten und begannen ihrerseits unmittelbar, menschliche Akteure in Bewegung zu bringen und zu bestimmten Handlungen zu bewegen. Dies geschah in einem Maße, dass wir nicht sicher sein können, ob es die Autoren waren, die die Bilder zeichneten, oder ob diese Grafikkünstler in einer Weise selbst von den Bildern gezeichnet wurden, animiert von der Wirkmacht eines visuellen Diskurses, der die verschiedenen Bedeutungsebenen in Bewegung brachte und neu ordnete. Am Ende stellt sich mir die Frage, ob der ganze Ablauf dieser Strategien, Handlungen und Übersetzungen, der die Geschichte der Manner Posters –  von der panoptischen Strategie intersubjektiver Kontrolle über die parodistischen Aktionen und Verhandlungsprozesse bis hin zu den reziproken Verschmelzungen und Übersetzungen verschiedener Werte – beschreibt, nicht eher von einer eigenen semiotischen Dynamik angetrieben wurde – einer kreativen Kraft, die hinter der Zeichen liegt.

Anmerkungen 1

Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1977, S. 266.

2 Foucault, Überwachen und Strafen (Anm. 1). 3

Jede einzelne Kampagne startete im April und endete im März des darauf folgenden Jahres. Die Daten für meine Fallstudie wurden 2009 und 2010 in Tokio gesammelt, dank eines Stipendiums der Canon Stiftung.

4

Die Akteur-Netzwerk-Theorie war ursprünglich ein Trend der Sozio­ logie, Semiotik mit Methoden der Ethnologie zu kombinieren, und wurde u. a. von Bruno Latour, John Law und Michel Callon seit den 1980er Jahren in ihren Arbeiten entwickelt. In den letzten Jahren wurde die Akteur-Netzwerk-Theorie dann auch in verschiedenen anderen Bereichen der Sozial- und Geisteswissenschaften beson­ ders einflussreich mit der von ihr angebotenen Möglichkeit einer Neubetrachtung dessen, was als ‚sozial‘ und ‚natürlich‘ gelten kann.

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Für einen allgemeinen Überblick siehe: Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, Frankfurt/M. 2007. 5

Vgl. Ian Woodward, Understanding Material Culture, Thousand Oaks/California 2007.

6

Vgl. Tim Ingold, The Perception of Environment. Essays on Livelihood, Dwelling and Skill, London/New York 2000.

7

Vgl. André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M. 1980.

8

Vgl. John Law, „Actor-Network.Theory and Material Semiotics“, in: Bryan Turner (Hg.), The New Blackwell Companion to Social Theory, Oxford 2007.

9

Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen [1953], Frankfurt/M. 2001; John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972.

10 Vgl. François Cooren, Action and Agency in Dialogue, Amsterdam 2010. 11 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. 12 Vgl. Louis Hjelmslev, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München 1974. 13 Vgl. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (Anm. 4), S. 54. 14 Vgl. Algirdas Julien Greimas, Maupassant. The Semiotics of Text, New York 1988. 15 Vgl. Jacques Fontanille, Semiotics of Discourse, New York 2006; Paolo Fabbri, Le tournant sémiotique, Paris 2007; Eric Landowski, Passions sans nom, Paris 2004; Gianfranco Marrone, The Ludovico Cure, New York 2009. 16 Für einen ähnlichen Ansatz siehe: Alfred Gell, Art and Agency, Oxford 1998. 17 Zu diesem Thema vgl. das Piktogramm-Konzept in: Leroi-Gourhan, Hand und Wort (Anm. 7). 18 Vgl. Fontanille, Semiotics of Discourse (Anm. 15), S. 103–113. 19 Brett Bull, „Punchy Posters Urge Tokyoites to Mind Their Manners“, in: Japan Times, 21. 6. 2009. 20 Vgl. Algirdas Julien Greimas, On Meaning, London 1987.

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21 Vgl. Greimas, On Meaning (Anm. 20). 22 Vgl. Bruno Latour, „A Relativistic Account of Einstein’s Relativity“, in: Social Studies of Science 18/1, 1988, S. 3–44. 23 Vgl. Francesco Casetti, Inside the Gaze, Bloomington 1998. 24 Vgl. Fontanille, Semiotics of Discourse (Anm. 15). 25 Vgl. Yuri Lotman, Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture, London 1990; Yuri Lotman, Culture and Explosion, Berlin 2009. 26 Vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988. 27 Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg u. München 1987, S. 32. 28 Vgl. Marc Augé, In the Metro, Minneapolis 2002. 29 Vgl. Bruno Latour, „What if We Talked Politics a Little?“, in: Contemporary Political Theory 2/2, 2003, S. 143–164. 30 Auch wenn Japan mitnichten ein einsprachiges oder monokultu­ relles Land genannt werden kann, gibt es doch eine Identitäts­ politik aus der nationalistischen Periode der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die auch noch in die Kulturindustrie seit dem Zweiten Weltkrieg hineinreicht, wonach die japanische Sprache und Kultur etwas Einmaliges sei (nihonjinron). Dies ist Teil der öffentli­ chen Rhetorik – insbesondere wenn es um die Auseinandersetzung mit anderen Nationalitäten geht –, auch wenn es im alltäglichen Umgang nicht immer befolgt werden mag. 31 Jörg Gleiter hat mich darauf hingewiesen, dass auch eine andere Lesart der oben erwähnten Strategie der politischen Enunziation möglich ist, in der die Wahl der Farbe Gelb für die gewöhnlichen Metrofahrer und Weiß für die verhaltensauffälligen Personen steht. So wie die Unterscheidung weiß/gelb der rassistischen Repräsen­ tation Ostasiens in Europa und Nordamerika diente, könnte die chromatische Kategorie hier auch dies verkehrend genutzt sein, um eine allgemeinere Unterscheidung zwischen Kultur und Unkultur zu markieren. 32 Die japanischen Imitate der Manner Posters unterschieden sich auch inhaltlich von den ausländischen. In diesen ging es mehr um Themen aus dem politischen Betrieb oder dem Show-Busi­ ness – zum Beispiel einen Skandal, der u. a. Kusanagi Tsuyoshi betraf, den Sänger der Pop-Band SMAP –, und daher kann man sie eher dem Genre der Satire zuordnen. Die ausländischen Kopien hingegen behandelten weit öfter alltägliche Verhaltensweisen und Vorschriften.

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33 Eine solche Perspektive wird auch durch Feldinterviews bestätigt, die 2009 in Tokio mit verschiedenen Autoren von parodistischen Plakaten geführt wurden. Ihnen missfiel der stark vorschreibende Charakter der Manner Posters und sie empfanden sie sehr oft direkt an Ausländer gerichtet. 34 Vgl. Jean-Marie Floch, Visual Identities, London 2000. 35 Ich möchte Kurt W. Forster für seine klärenden Beobachtungen in diesem Punkt danken.

Remei Capdevila-Werning



Zitieren in der Architektur Können Gebäude überhaupt andere Gebäude oder Teile anderer Gebäude zitieren? Die erste Antwort auf diese Frage scheint nein zu sein. Gebäude können nicht zitieren, weil sie an keiner verbalen Sprache teilnehmen und keine Mittel haben, die den Anführungszeichen entsprächen oder die indirekte Zitate ermöglichten, wie bei verbalen Sprachen. Dennoch ist der Ausdruck ‚architektonisches Zitat‘ in der Literatur nicht selten: I. M. Peis Pyramide im Louvre wäre dann ein ‚architektonisches Zitat Ägyptens‘; Charles Jencks beschreibt Arata Isozakis Tsukuba Civic Center in Japan als eine „zitierende Maschine“; und ‚architektonisches Zitat‘ wird häufig in Studien zur mittelalterlichen Architektur benutzt, um die Beziehung zwischen vorgotischen Architekturformen und gotischen Kathedralen darzustellen.1 Gebäude können auch Fragmente anderer Gebäude zitieren, wie zum Beispiel einige Gebäude Aldo Rossis Filaretes Säule in der Ca’ del Duca in Venedig zitieren. Gebäude können auch literarische Beschreibungen von Bauten zitieren, wie gotische Kathedralen, die nach solchen Texten gebaut wurden, oder Renaissancepaläste, die sich auf Texte der Antike beziehen. Gebäude können auch Bilder zitieren: Philip Johnsons Houston College zitiert Claude Nicolas Ledoux’ Zeichnung der Maison de l’Education.2 Außerdem können architektonische Zitate sich auf die Vergangenheit beziehen. Durch das Zitierte können sie etwas rechtfertigen, ironisch sein, die ursprüngliche Bedeutung verändern, und sie können positive oder negative Konnotationen haben.

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Alle diese Beispiele zeigen, dass Gebäude doch zitieren können. Aber wie? Anhand von Nelson Goodmans Symboltheorie soll hier dargelegt werden, wie architektonische Zitate und ihre verschiedenen Funktionen verstanden werden können. In seiner Untersuchung Probleme des Zitierens3 diskutiert Goodman sprachliche und nicht-sprachliche Zitate, dazu musikalische und bildliche Zitate. Das ist ein guter Ansatz, um Zitate in der Architektur zu diskutieren. Goodmans Konzeption der Anspielung hilft auch, die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen von Zitaten in der Architektur zu verstehen. Dieser Aufsatz beginnt mit einer Erörterung von Goodmans Konzeption der sprachlichen, bildlichen und musikalischen Zitate. Der zweite Teil vergleicht diese Zitate mit architektonischen Zitaten und untersucht die Besonderheiten der Zitate in der Architektur. Der dritte und letzte Teil befasst sich mit den verschiedenen Bedeutungen und Funktionen von Zitaten.4 Das Zitat als eine besondere Art der Denotation Goodman

beschreibt Zitate als Denotation, die ‚Beziehung‘ und ‚Enthaltensein‘ verlangt. Im Allgemeinen ist Denotation die Beziehung zwischen einem Symbol und dem, worauf es zutrifft. Zusammen mit Exemplifikation ist Denotation eine der zwei elementarsten Arten von Symbolisierung, was Goodman ganz allgemein als Bezugnahme oder Referenz definiert. Was Zitate von anderen Arten der Denotation wie Beschreibung, Abbildung und Notation unterscheidet ist, dass das, „was zitiert wird, im zitierenden Symbol enthalten sein muss“.5 Goodman unterscheidet drei Arten von Zitaten: sprachliche, bildliche und musikalische. Dem soll hier das architektonische Zitat hinzugefügt werden. ­Sprachliche Zitate Sprachliche Zitate können direkt oder indi-

rekt sein. Wenn man einen sprachlichen Ausdruck in Anführungszeichen setzt, entsteht ein direktes Zitat. Nehmen wir Satz S: Gaudís Casa Milà ist in Barcelona. Dieser Satz bezieht sich auf Antoni Gaudí, die Casa Milà und Barcelona. Wenn der Satz

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S: Gaudís Casa Milà ist in Barcelona in Anführungszeichen gesetzt wird, wird der Satz genannt oder erwähnt, und dann gibt es keine Beziehung zu dem, was der Satz denotiert. Das heisst, Satz S1: „Gaudís Casa Milà ist in Barcelona“ erwähnt und zitiert S, aber er denotiert weder Gaudí, noch Casa Milà oder Barcelona. Während Satz S sich auf das bezieht, was der Ausdruck bedeutet, bezieht sich der Ausdruck S1 auf den Satz selbst. Man kann sich aber auf andere Weise direkt auf den Satz S beziehen: S2: S Der Unterschied zwischen S1 und S2 ist folgender. S1: „Gaudís Casa Milà ist in Barcelona“ nennt und enthält S: Gaudís Casa Milà ist in Barcelona. S2 dagegen nennt den Satz S, aber er enthält ihn nicht; S2 zitiert also nicht. Direkte Zitate verlangen syntaktische Repliken. Der Ausdruck muss mit dem zitierten Satz identisch sein. Daher können sinnlose Ausdrücke wie wqdc nur direkt, aber nicht indirekt, zitiert werden. Auch wenn wqdc bedeutungslos ist, erwähnt „wqdc“ wqdc und bezieht sich auf diese sinnlose Folge von Buchstaben. Man kann indirekt zitieren, indem man Ausdrücke der Art ‚sagt, dass‘ vor den zu zitierenden Satz stellt. In diesen Fällen braucht der Satz keine genaue syntaktische Replik zu sein. Er muss aber die gleiche semantische Bedeutung haben. Er kann die Form einer semantischen Paraphrase annehmen. Folgende Sätze sind indirekte Zitate von S: S3: X sagt, dass Gaudís Casa Milà in Barcelona sei. S4: X sagt, dass Gaudís La Pedrera in der Hauptstadt Kataloniens sei. Eine semantische Paraphrase hat normalerweise dieselbe Denotation und Bedeutung wie das, was paraphrasiert wird. Casa Milà und La Pedrera haben die gleiche Bedeutung nur, wenn

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sie dasselbe Gebäude denotieren. Auch ein Gemälde, ein Photo oder andere Darstellungen der Casa Milà haben die gleiche Bedeutung, wenn sie sich auf dasselbe beziehen. Semantische Paraphrasen kommen in sprachlichen und nicht-sprachlichen Symbolen vor, was für Zitate in nicht-sprachlichen Symbolsystemen wichtig ist. Eine semantische Paraphrase ist dann „eine Äquivalenz der Bezugnahme oder der Bedeutung“6 zwischen Symbolsystemen im Allgemeinen. Dementsprechend können sich Symbole untereinander paraphrasieren, auch wenn sie sich nicht aufeinander beziehen, da sie dasselbe bedeuten. Wenn aber eine Paraphrase Teil eines indirekten Zitats ist, dann nimmt das paraphrasierende Symbol Bezug auf das von ihm paraphrasierte Symbol. So ist ‚die Hauptstadt Kataloniens‘ eine Paraphrase von ‚Barcelona‘. Die erste Bedingung für ein zitierendes Symbol ist daher „das Enthalten(sein) des Zitierten oder einer Replik oder Paraphrase des Zitierten“.7 Das Zitat muss entweder eine syntaktische Replik, wie im Falle von direkten Zitaten, oder eine semantische Paraphrase, wie im Falle von indirekten Zitaten, enthalten. Die zweite Bedingung ist, dass sich „die Bezugnahme auf das Zitierte “8 ergibt. Direkte wie indirekte Zitate müssen das, was sie zitieren, denotieren. Enthaltensein ist nicht genug. Und drittens verlangt das Zitieren eine weitere Bedingung, nämlich das „generality requirement“, denn „die Ersetzung des denotierten und enthaltenen Ausdrucks durch irgendeinen anderen Ausdruck der Sprache ergibt einen Ausdruck, der den ersetzenden Ausdruck denotiert“.9 Ohne diese letzte Bedingung würde „der erste Buchstabe des Alphabets“ den Buchstabe a zitieren (weil a enthalten und denotiert wird). Bildliche Zitate Ähnlich wie sprachliche Zitate, gibt es direkte Bildzitate nur, wenn ein Bild ein anderes enthält und sich darauf bezieht. Das Analogon zu sprachlichen Anführungszeichen wäre ein Rahmen, eine Staffelei oder irgendetwas, das das zitierte vom zitierenden Bild trennt. Auf diese Weise zitiert Las Meninas ein Bild von Juan del Mazo, und Thomas Struths Foto-

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grafien von Leuten, die Bilder in einer Ausstellung ansehen, zitieren auch die in der Fotografie gezeigten Bilder. Dieser Parallelismus ist aber nicht so offensichtlich, wie es scheint. Ein Bild, das ein anderes Bild darstellt, denotiert zweifellos dieses Bild. Aber es ist nicht klar, ob ein Bild in derselben Weise wie sprachliche Zitate ein anderes Bild enthält und direkt zitiert. Denn sprachliche Zitate enthalten Repliken, das heisst syntaktische Duplikate, was bei Bildern nicht möglich ist, weil sie nicht an einem sprachlichen, sondern an einem bildlichen Symbolsystem teilnehmen. Syntaktische Äquivalenz ist bei bildlichen Symbolsystemen ausgeschlossen, und daher wird die Bedingung des Enthaltenseins des Zitats nicht erfüllt. Auch wenn wir ein Originalbild in das zitierende Bild einfügten, würde es sich nicht notwendigerweise um ein Zitat handeln, weil dazu direkte Bezugnahme nötig ist. Manchmal ist das enthaltene Bild ein wesentlicher Teil des Werkes, wie zum Beispiel bei Robert Rauschenbergs Erased de Kooning, aber dennoch kein Zitat. Die Gleichsetzung von Anführungszeichen und bildlichen Mitteln ist ebenfalls problematisch, da Rahmen und Ähnliches nicht unbedingt Zitate voraussetzen. Bilder können dann nicht direkt zitieren: Man kann nicht festlegen, was die syntaktische Replik eines Bildes ist, und die Einführung eines Originalbildes gewährleistet kein Zitat. Dennoch können Bilder sehr wohl indirekt zitieren. Indirektes bildliches Zitieren sollte wie indirektes sprachliches Zitieren funktionieren und das paraphrasieren, was zitiert wird, ohne es wortwörtlich zu enthalten. Das bildliche Analogon zu sprachlichen Paraphrasen ist dann eine Darstellung, die einige Merkmale mit dem zitierten Bild teilt, so dass es eine Äquivalenz der Bezugnahme oder der Bedeutung gibt. Diese Art von Paraphrase muss aber keine exakte Kopie sein. Die Beziehung zu dem, was zitiert wird, muss nicht auf völliger Ähnlichkeit beruhen. Im Gemälde Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Galerie in Brüssel von David Teniers unterscheiden sich all die dargestellten Gemälde in der Größe von den Origi-

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nalen, sie beziehen sich jedoch auf diese. Bildliche Paraphrase muss demnach nicht auf Denotation basieren. Ein in einem anderen Bild dargestelltes Bild kann exemplifizieren, das heisst sich auf einige, aber nicht alle Eigenschaften wie Farbe oder Form beziehen, die es mit dem zitierten Bild teilt. Wenn hinreichend viele Aspekte so symbolisiert sind, dass eine Referenz zu dem zitierten Bild eintritt, reicht eine solche Bezugnahme aus, um ein indirektes bildliches Zitat zu etablieren. Indirekte Bildzitate funktionieren nicht exakt wie indirekte sprachliche Zitate, weil semantische Paraphrasen in Bildern nicht hinreichend spezifiziert werden können. Es ist auch nicht klar, ob es bildliche Mittel gibt, die direkte und indirekte Zitate kenntlich machen können, entsprechend dem Anführungszeichen oder dem ‚sagt, dass‘. Daher zitieren Bilder nur, wenn erstens eine Art Paraphrase oder die gleiche Bezugnahme oder Bedeutung existiert; und wenn zweitens, im Falle, dass es keine klare Trennung zwischen direktem und indirektem Zitat gibt, die Bezugnahme auf die enthaltenen Elemente eindeutig ist. Bildliches Zitieren kann dann freier als bildliche Paraphrase plus Bezugnahme darauf durch bildliche Mittel definiert werden. Musikalische Zitate Ein musikalisches Zitat ist das Ausleihen

eines Fragments aus einem anderen Werk, indem die zitierte Passage exakt reproduziert oder transponiert, aber nicht als Teil des Werkes verwendet wird, wie es bei Thema und Variationen geschieht.10 So wird Martin Luthers Lied Ein’ feste Burg ist unser Gott in mehreren Werken zitiert, etwa in Johann Sebastian Bachs Kantate Ein’ feste Burg ist unser Gott, Felix Mendelssohns Reformations-Sinfonie oder Richard Wagners Kaisermarsch. Goodmans Charakterisierung des musikalischen Zitats ist jedoch zu streng, um das, was normalerweise als musikalisches Zitat verstanden wird, einzuschließen.11 Für Goodman unterscheidet sich das musikalische Zitat von den sprachlichen und bildlichen Zitaten, weil Musik in der Regel nicht denotiert. Dennoch kann die Analogie aufrechterhalten werden. Ein

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direktes musikalisches Zitat entsteht, wenn in einer etablierten Notation, wie in der westlichen klassischen Musik üblich, eine bestimmte Passage genau die gleichen Noten in der gleichen Tonart und im gleichen Tempo enthält, und wenn diese Noten sich auf die zitierte Passage beziehen. Da es keine musikalischen Analoga zu den sprachlichen Anführungszeichen gibt, können direkte musikalische Zitate nicht angezeigt werden, obwohl Pausen und Betonungen hilfreich sein können, um Anfang und Ende zu unterscheiden. In musikalischen Zitaten ist das Enthaltensein unproblematisch, während die Bezugnahme problematisch ist, denn man kann nicht immer bestimmen, ob die Noten eines Werks sich auf die eines anderen Werks beziehen. Die ersten vier Noten des Chorals Ehre, Ehre sei Gott in der Höhe aus Franz Schuberts Deutscher Messe sind die gleichen wie die ersten vier Noten der spanischen Nationalhymne oder einer ihrer Transpositionen. Da sich keine auf die andere bezieht, handelt es sich nicht um Zitate. Diese Darstellung der direkten musikalischen Zitate entspricht nicht der üblichen Vorstellung von musikalischen Zitaten, weil diese Transpositionen ausschließt. Man könnte denken, dass Transpositionen die musikalischen Analoga sprachlicher Paraphrasen sind, aber Goodman bestreitet dies, weil Transpositionen syntaktische, keine semantischen Beziehungen sind.12 Musikalische Zitate unterscheiden sich von indirekten sprachlichen Zitaten dadurch, dass das musikalische Analogon zu sprachlichen Paraphrasen nicht eindeutig festgestellt werden kann. Trotz Goodmans strenger Charakterisierung des musikalischen Zitats, die die Praxis nicht berücksichtigt, kann man eine Goodmansche Interpretation bieten, die das allgemeine Verständnis von musikalischen Zitaten in der Praxis einbezieht.13 Vernon Howard schlägt vor, das musikalische Zitat als „Teil musikalischer Anspielung und als abweichendes Analogon des sprachlichen Zitats“ zu untersuchen und Bezugnahme durch eher vage kontextuelle Kriterien festzustellen, nicht durch syntaktische Repliken und Paraphrasen, die in der Musik

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ohnehin nicht möglich sind. Catherine Z. Elgin schlägt vor, dass indirekte musikalische Zitate möglich sind, wenn Paraphrasen mit Ähnlichkeit in der Referenz zu tun haben, so dass Passagen, die hinreichend gleichartige Charakteristika exemplifizieren, Paraphrasen sind. Ein musikalisches Zitat exemplifiziert einige Eigenschaften der Etiketten der zitierten Passage. Elgin erklärt musikalische Zitate auch dadurch, dass man Klangnachahmung als eine Art Zitat versteht. Eine musikalische Passage würde dann eine Tonfolge denotieren und bestimmte Eigenschaften der zitierten Passage exemplifizieren. Zitate müssen, wie bildliche und musikalische Zitate, durch Erweiterung der Bedingungen des Enthaltenseins und der Bezugnahme des sprachlichen Zitats verstanden werden. Die zwei Bedingungen sind in der Architektur getrennt zu finden: Es gibt Gebäude, die andere Gebäude enthalten, wie zum Beispiel das Pergamonmuseum in Berlin den Pergamonaltar und das Stalinmuseum in Gori Josef Stalins Geburtshaus enthalten. Es gibt aber auch ganze Gebäude, die sich auf andere Gebäude beziehen, wie die Kopie des Pantheons in Nashville oder etliche Reproduktionen des Eiffelturms beispielsweise in Las Vegas und Tokyo. Es gibt auch Gebäude, die Teile anderer Gebäude enthalten. The Cloisters Museum in New York enthält mehrere Originale, meist Kreuzgänge, Säulen und Arkaden. Es gibt auch Kopien von Gebäudeteilen; so sind etliche Nachbildungen von Elementen historisch bedeutender Bauwerke in der Cité de l’Architecture et du Patrimoine ausgestellt, dem französischen Architekturmuseum in Paris. Da in den genannten Beispielen entweder das Enthaltensein oder die Bezugnahme fehlt, handelt es sich nicht um Zitate. Ein Vergleich des architektonischen Zitats mit sprachlichen, bildlichen und musikalischen Zitaten wird klären, wie Gebäude zitieren.

Architektonische

Zitate Architektonische

Architektonisches Zitat und sprachliches Zitat Gebäude können Inschriften enthalten, die eine Passage aus einem Text

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zitieren. Hierzu gehören Bibelzitate in Kirchen, die Texte an den Wänden der Library of Congress oder die Inschriften in der Alhambra in Granada. Diese Inschriften sind entweder Teil des Gebäudes oder ein überlagerndes Element. Wenn die Inschrift nicht enthalten ist, dann zitiert das Gebäude nicht, es beherbergt dann nur eine zitierende Inschrift. Wenn die Inschrift Teil des Gebäudes ist, muss bestimmt werden, ob diese Inschriften von dem Gebäude zitiert werden. Gebäude haben keine den Anführungszeichen ähnlichen Mittel, um direkt zu zitieren, ebenso wenig eine Möglichkeit, indirekt zu zitieren. Daher ist nicht klar, wie ein Gebäude Bezug auf die enthaltenen Inschriften nehmen kann. Diese Schwierigkeiten haben zur Folge, dass diese Fälle von Inschriften in Gebäuden keine architektonischen Zitate sind. Vielmehr sind sie sprachliche Zitate, die in der Architektur vorkommen. Die bisherigen Beispiele scheinen zu implizieren, dass sprachliche Ausdrücke nur sprachliche Ausdrücke, Bilder nur Bilder, Gebäude nur Gebäude oder einige ihrer Teile zitieren können. Das sind die üblichen Fälle, aber nicht die einzigen. Sprachliche Zitate in der Architektur sind ein Fall dessen, was Goodman Zitate aus anderen Systemen nennt, das heisst ein Zitat, das im gleichen Modus unterschiedliche Systeme umgreift. Bei Gebäuden kann die sprachliche Inschrift gemalt oder gemeißelt sein, womit sich eine Kombination aus sprachlichen und bildlichen Systemen ergibt.14 Zitate aus anderen Systemen unterscheiden sich aber auch von Zitaten aus anderen Medien, wie es der Fall ist, wenn man eine Melodie zitiert, indem man sagt, ‚Ich habe dies gehört‘, und gleich danach die Melodie singt.15 Zitate aus anderen Medien in der Architektur finden sich oft in mittelalterlichen Kathedralen, die nach einer verbalen Beschreibung eines anderen Gebäudes gebaut sind; der Text wird in einem architektonischen Medium zitiert, wie es zum Beispiel der Fall der Salomonischen Säulen ist, die nach der Beschreibung solcher spiralförmig gedrehten Säulen im Tempel Salomons in Jerusalem gebaut wurden. Zitate aus anderen Systemen würden sich ergeben, wenn ein Gebäude

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Töne zitieren könnte. Da einige Gebäude Töne nachhallen lassen, könnte man argumentieren, dass diese Töne enthalten sind, aber es keine Bezugnahme gibt, so dass diese Töne nicht zitiert werden. Gebäude können also nicht sprachlich zitieren, aber sprachliche Zitate enthalten, nämlich Zitate aus anderen Systemen. In besonderen Fällen können Gebäude aus anderen Medien zitieren. Architektonisches Zitat und bildliches Zitat Ähnlichkeiten

zwischen architektonischen und bildlichen Zitaten können durch mögliche Gegensätze zwischen direkten und indirekten Zitaten gezeigt werden. Direkte architektonische Zitate funktionierten ähnlich wie direkte bildliche Zitate, wenn ein Gebäude ein anderes Gebäude oder einen Teil davon enthält und sich darauf bezieht. Es ist jedoch nicht klar, was das architektonische Analogon etwa von Bilderrahmen ist. Wenn architektonische Zitate ähnlich wie bildliche Zitate funktionieren, bedeutet dies, dass sie innerhalb eines repräsentativen Symbolsystems wirken. Wie bei Bildern kommt dann Bezugnahme vor. Aber das Enthaltensein ist problematisch, weil Gebäude keine syntaktischen Repliken enthalten können, das heisst Gebäude können keine Elemente enthalten, die identisch mit dem Zitierten sind. Das Enthaltensein eines Originalteils löst nicht unbedingt das Problem, weil dieses Element ein konstitutiver Teil des Gebäudes sein kann, wie es bei einigen Säulen aus dem Portikus der Octavia in Rom der Fall ist, die heute in den Wänden von Nebenhäusern eingebaut sind. Eines der oben genannten Beispiele kann hier helfen. Rossis Säule an der Ecke seines Gebäudes in der Berliner Wilhelmstrasse ist das Zitat der Säule von Filaretes Ca’ del Duca in Venedig. Die Säule an der Ecke von Bernard Tschumis Lerner Hall an der Columbia University kann auch als ein Zitat von Filaretes Säule interpretiert werden. Hier gibt es allerdings kein architektonisches Analogon zu den sprachlichen Anführungszeichen, und Rossis Säule ist keine Replik von Filaretes Säule. Die strengen Goodmanschen Bedingungen für Zitate sind nicht

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erfüllt; Rossis Säule denotiert, aber zitiert nicht direkt Filaretes Säule. Doch vielleicht zitiert sie indirekt die Säule Filaretes. Wenn Gebäude wie Bilder zitieren, dann sollte das Enthaltensein einer bildlichen Paraphrase ähneln. Eine architektonische Paraphrase sollte dann ein Bauelement sein, das mit dem Zitierten einige Eigenschaften teilt. Aber wie bei Bildzitaten ist nicht klar, welche Eigenschaften ein architektonisches Element haben muss, um eine semantische Paraphrase zu sein. Die Säule von Rossi unterscheidet sich von Filaretes Säule in Größe und Material, aber sie befindet sich an der Ecke des Gebäudes, wie Filaretes Säule. Wäre dies hinreichend, zitierten alle Säulen an Ecken von Gebäuden Filaretes Säule. Das kann aber nicht der Fall sein. Nur Rossis und Tschumis Gebäude zitieren Filaretes Säule. Die architektonische Paraphrase von Filaretes Säule bedingt mehr als nur die Eigenschaft ‚an der Ecke sein‘, denn die Säule darf darüber hinaus, wie bei Filaretes Säule, nur einen Schaft, aber weder Basis noch Kapitell haben. Somit entsteht Gleichheit in Bedeutung und Bezugnahme zwischen Rossis und Filaretes Säulen nicht nur, weil sie auf das Gleiche Bezug nehmen, also eine Säule ohne Basis und Kapitell, die an der Gebäudeecke steht, sondern auch, weil Rossis Säulen diese Eigenschaften in derselben Weise wie Filaretes Säule exemplifizieren. So interpretiert, wird die Bedingung des Enthaltenseins erfüllt. Gebäude haben keine Anführungszeichen oder bildlichen Mittel, um Bezugnahme zu schaffen. Es gibt keine eindeutigen Elemente, um direkte oder indirekte Zitate zu markieren oder um zwischen beiden zu unterscheiden. Ein architektonisches Mittel, das bei der Etablierung von Bezugnahme hilfreich sein kann, ist Artikulation, das heisst derjenige Prozess, der bestimmte Elemente eines Gebäudes auffällig macht. Durch Artikulation hebt sich die Säule an der Lerner Hall materiell deutlich vom Rest des Gebäudes ab. Sie hat einen leeren Raum hinter sich, und sie ist aus braunem Backstein, was mit der weißen Wand kontrastiert. Artikulation ist nicht immer ein

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Mittel der Bezugnahme, da viele Elemente eines Gebäudes artikuliert sind, obwohl sie keine Zitate sind, wie die Struktur des Hancock Tower in Chicago, die an der Fassade des Gebäudes durch eine metallische Umhüllung artikuliert ist. Hier handelt es sich um dieselbe Schwierigkeit, die Bilderrahmen oder musikalische Pausen und Betonungen bereiten. Akzeptiert man aber, dass durch diese Elemente manchmal Bezugnahme auf Zitate ermöglicht wird, kann Artikulation demselben Zweck dienen. Wie Bilder können Gebäude andere Gebäude oder Gebäudeteile zitieren, aber es gibt keine klare Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Zitat. Artikulationselemente können Bezugnahme etablieren, und Ähnlichkeiten in der Bedeutung von zitierenden und zitierten Elementen können die Bedingung des Enthaltenseins erfüllen. Interpretiert man die Bedingungen für Zitate in einer weniger strengen, aber dennoch Goodmanschen Weise, zeigt sich, dass Rossis Werk Filaretes Säule zitiert. Ähnlich wie sprachliche Zitate in Gebäuden, gibt es auch bildliche Zitate in der Architektur, wie zum Beispiel Fresken, Wandmalereien oder Mosaiken, die ein anderes Bild zitieren. Hier kann man nicht eindeutig feststellen, ob es sich um ein Zitat aus anderen Systemen handelt, da beide – Gebäude und Bild – in demselben repräsentativen Symbolsystem funktionieren können. Ein klares Beispiel eines Zitats aus anderen Systemen ist das erwähnte Houston College, das Ledoux’ Zeichnung zitiert: Die Maison de l’Education ist eine zweidimensionale Darstellung, zitiert in einem dreidimensionalen System, einem architektonischen System. Architektonisches Zitat und musikalisches Zitat Partituren

und Pläne sollen hier für den Vergleich von musikalischem und architektonischem Zitat herangezogen werden. Dies geschieht, indem man die entsprechenden Notationen, also Partituren und Zeichnungen, als Grundlage nimmt, nicht die Musik und die Architektur selbst. Die Analogie ist aber nur dann gewährleistet, wenn die Musikstücke und Gebäude, die den Partituren und

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Plänen entsprechen, tatsächlich zitieren, also wenn Partituren und Pläne sich auf ein Zitat beziehen. Ein Musikstück zitiert eine Passage aus einem anderen Werk nur direkt, wenn seine Partitur genau dieselben Noten hat und diese Noten sich auf die zitierte Passage beziehen. Es zitiert indirekt, wenn die in der Partitur enthaltenen Noten als musikalische Paraphrasen im Sinne Howards und Elgins verstanden werden können und sie als solche Bezug nehmen. Das Enthaltensein ist also unproblematisch, die Bezugnahme dagegen nicht, da es in der Partitur kein Analogon zu Anführungszeichen gibt. Ein direktes architektonisches Zitat könnte in einem Plan identifiziert werden, falls der Plan genau die gleichen Details des zitierten Gebäudes enthält und diese Details sich auf ein anderes Gebäude beziehen. Ein indirektes Zitat würde ähnlich funktionieren, aber das enthaltene Element bezöge sich auf eine architektonische Paraphrase. Durch Untersuchung der Pläne könnte das Enthaltensein erkannt werden, aber es ist nicht klar, wie man angeben kann, dass diese Details sich tatsächlich auf die eines anderen Gebäudes beziehen. Es ist durchaus möglich, dass zwei Gebäude die gleichen Türen oder Fenster haben und als solche im Plan erscheinen, ohne dass sie sich gegenseitig oder ein drittes Gebäude zitieren. Dennoch könnte Bezugnahme durch andere Mittel im Plan angegeben sein, zum Beispiel durch einen Vermerk auf dem Plan. Der Plan von Rossis Berliner Gebäude könnte festlegen, dass die Säule an der Ecke Filaretes Säule zitiert. Ein Vergleich zwischen musikalischen und architektonischen Zitaten ohne Rückgriff auf die entsprechenden Notationen zeigt eine weitere Ähnlichkeit. Während in der Musik gelegentlich eine zitierte Passage durch Pausen und Betonungen unterschieden wird, wird das zitierte architektonische Element durch Artikulation vom Gebäude unterschieden, wie es bei den Zitaten von Filaretes Säule geschieht. Wie gesagt, weder Pausen noch Artikulation sind ausreichend, denn es gibt betonte und artikulierte Elemente, die nicht zitiert werden, die jedoch Bezugnahme und daher auch Zitate ermöglichen können. In

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Bezug auf das Enthaltensein sind musikalische und architektonische Zitate einander ähnlich; sie gestatten keine syntaktischen Repliken, und daher bedingt das Zitat eine Ähnlichkeit in der Bedeutung, die durch gemeinsame Symbolisierung – meistens Exemplifikation – der gleichen Elemente erreicht wird. Besonderheiten des architektonischen Zitats Die bisherigen Beispiele scheinen darauf hinzudeuten, dass architektonische Zitate nur zwischen architektonischen Elementen auftreten und nur in jenen Fällen, in welchen Gebäude denotieren. Dem ist nicht so. Ein Gebäude kann ein Detail, ein Material oder die Form eines anderen Gebäudes zitieren, womit diese Eigenschaften nicht nur denotiert, sondern auch exemplifiziert werden. Wenn ein Gebäude eine bestimmte Eigenschaft eines anderen Gebäudes zitiert, dann enthält und exemplifiziert es diese Eigenschaft. Dadurch kann ein Gebäude die Eigenschaften eines anderen Gebäudes denotieren und auch zitieren. Bezugnahme ergibt sich durch Exemplifikation. Gian Lorenzo Bernini entwarf den Petersplatz in Rom so, dass das Kolosseum perfekt in den Platz passen würde. Größe und Form des Petersplatzes stimmen mit denen des Kolosseums überein, und daher exemplifiziert der Petersplatz die Dimensionen des Kolosseums. Da der Petersplatz das Kolosseum enthält und sich darauf bezieht, zitiert er es auch. Hier sind Goodmans Bedingungen für Zitate – Enthaltensein und Bezugnahme – erfüllt. Wenn man Zitate auf Exemplifikation statt auf Denotation basiert, das heisst auf einer erweiterten Vorstellung der Ähnlichkeit in der Bedeutung, sind die Schwierigkeiten bezüglich syntaktischer Repliken und semantischer Paraphrasen überwunden. Dennoch ergeben sich weitere Probleme. Es gibt Gebäude, die Eigenschaften eines anderen Gebäudes sowohl enthalten als auch exemplifizieren und trotzdem nicht zitieren. Nicht alle Gebäude, die die Form des Kolosseums enthalten, zitieren das Kolosseum oder den Petersplatz. Enthaltensein und Exemplifikation einiger Eigenschaften sind für die Charakterisierung von Zitaten nicht hinreichend.

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Die exemplifizierte Eigenschaft, wie zum Beispiel die Form des Peterplatzes, muss sich auf eine Eigenschaft eines anderen Gebäudes beziehen, eben die Form des Kolosseums, um sie zitieren zu können. Durch die Erweiterung von Goodmans Bedingungen für Zitate erklärt sich, wie architektonische und andere nichtsprachliche Zitate möglich sind. Erstens kann das Enthaltensein nicht auf syntaktische Repliken oder semantische Paraphrasen beschränkt werden, sondern es muss eine Ähnlichkeit in der Bedeutung dazukommen, die durch andere Arten der Bezugnahme gegeben sein kann. Zweitens kann die Bedingung der Bezugnahme nicht auf Anführungszeichen oder sprachliche Strukturen wie ‚sagt, dass‘ beschränkt werden, sondern sie muss durch andere Mittel wie zum Beispiel Artikulationselemente erweitert werden, so dass Bezugnahme ohne die Anwesenheit sprachlicher Mittel etabliert werden kann. Interpretation spielt eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung, ob, wann und wie Zitate entstehen. Bedeutungen und Funktionen architektonischer Zitate Zitate

haben verschiedene Bedeutungen und Funktionen. Sie können einen Zusammenhang mit der Vergangenheit und der Tradition etablieren, wie es bei Kirchen passiert, die die Größe oder die Proportionen des Tempels in Jerusalem zitieren. Zitate können auch ein Mittel der Rechtfertigung sein. Einige Renaissancepaläste zitieren deshalb Fragmente der römischen Antike. Es gibt auch ironische Zitate, wie die Zitate von Elementen aus der italienischen Renaissance und der römischen Antike in Charles Moores Piazza d’Italia in New Orleans. Und wie es beim Potsdamer Platz in Berlin der Fall ist, können Zitate die ursprüngliche Bedeutung von dem, was zitiert wird, verändern, deformieren und sogar verfälschen, wie es weiter unten gezeigt wird.16 Mit Goodmans Konzeption der Anspielung kann man all diese unterschiedlichen Funktionen und Bedeutungen erklären.17

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Anspielung ist eine indirekte Form der Bezugnahme zweier Elemente, die über Referenzketten etabliert wird. Diese Referenzketten enthalten normalerweise Denotation und Exemplifikation und können mehr oder weniger lang und komplex sein. Anspielung geschieht durch gemeinsame Symbolisierung der Elemente, welche die Referenzkette bilden, und unterscheidet sich vom Zitat dadurch, dass Anspielung eine komplexe und indirekte Art der Bezugnahme ist und nicht direkt denotiert, was enthalten ist. Durch Anspielung können die Bedeutungen der Zitate verstanden werden. Kirchen, welche die Proportionen oder die Form des Tempels in Jerusalem zitieren, verweisen durch eine Referenzkette auf eine Tradition, die die Gegenwart mit der Vergangenheit durch eine gemeinsame Form in Verbindung setzt. Diese Referenzkette kann wie folgt verlaufen: Der Tempel symbolisiert die Geburt einer Kultur, was durch seine Form exemplifiziert wird; dieselbe Form in einer mittelalterlichen Kirche bezieht sich indirekt auf die Merkmale des Tempels. Ebenso zitieren Renaissancepaläste Elemente der römischen Vergangenheit, um auf die Macht und Autorität der ehemaligen Herrscher durch eine architektonische Form anzuspielen. Das von Alfonso I. in der Mitte des 15. Jahrhunderts gebaute Castel Nuovo in Neapel zitiert den Trajansbogen von Benevent. Dieser Bogen bezieht sich auf Trajans Leben und Verdienste, und durch das Zitat im Castel Nuovo wird auf Trajans Macht angespielt. Mehrere Bezugsketten sind möglich. Die Beziehung zwischen Trajan und Alfonso kann durch das Merkmal, dass beide von der iberischen Halbinsel stammen, aufgebaut werden. Darüber hinaus bezieht sich der zitierte Bogen auf andere Elemente, auf die angespielt wird. Trajan war als gerechter Herrscher bekannt, so dass der Bogen auf Alfonsos Gerechtigkeit oder Anspruch auf Gerechtigkeit anspielt.18 Bei ironischen Anspielungen ist die Bezugskette viel komplexer und umfasst in der Regel Stufen, die andere Anspielungen und metaphorische Beziehungen enthalten. Die mehrfachen Zitate in Isozakis Tsukuba Civic Center können als

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Elemente einer Bezugskette interpretiert werden, die die zentralen Elemente des westlichen architektonischen Kanons zusammenbringen. Da sie deformiert und ohne Kontext in einer Collage auftreten, ist ironische Anspielung erreicht. Schließlich wird durch Anspielung auch erklärt, wie Zitate die ursprüngliche Bedeutung des zitierten Elements verdrehen. Am Potsdamer Platz wurden Reste des zerstörten Grand Hotel Esplanade an eine andere Stelle gebracht, wo sie heute Teil eines anderen Gebäudes sind. Teile des Frühstücksraums des Hotels wurden mit neuen Elementen in der Bar des Café Josty, das früher ein Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle war, zusammengefügt.19 Das führt dazu, dass andere Teile des Hotels angeblich das Café zitieren, und dadurch entsteht die Gefahr, dass die Bedeutungen von Hotel und Café miteinander vertauscht und damit verfälscht werden. Dieses Beispiel zeigt auch, dass Zitate Beziehungen zwischen verschiedenen Kontexten herstellen und dass Anspielungen weiter entwickelt werden können. Zitate erwähnen eine bestimmte Ausdrucksform, aber sie benutzen sie nicht. Ihre Bedeutungen ändern sich jedoch abhängig von der Bezugskette, in welche die Zitate eingebettet sind. Schlussbetrachtung Gebäude können dann zitieren, wenn man

den Begriff des Zitats nicht einfach von sprachlichen Systemen übernimmt, sondern im Rahmen von Goodmans Symboltheorie ergänzt. Die Bedingung des Enthaltenseins wird durch eine allgemeine Vorstellung von Ähnlichkeit in der Bedeutung, nicht durch syntaktische Repliken oder semantische Paraphrasen erfüllt. Die Bedingung der Bezugnahme wird durch ein allgemeines Mittel erfüllt, das Bezugnahme auf das zitierte Element erzeugt, etwa durch Artikulation. Der Vergleich von architektonischen Zitaten mit sprachlichen, bildlichen und musikalischen Zitaten ermöglicht es zu spezifizieren, wie Gebäude zitieren. Er erlaubt es auch, einige Besonderheiten der Zitate in der Architektur zu zeigen. Gebäude zitieren durch Denotation und Exemplifikation der zitierten Elemente. Architektonische Zitate können andere Gebäude oder Gebäudeteile, auch Texte und

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Bilder zitieren, die Zitate aus anderen Systemen und Medien sind. Die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen von Zitaten werden durch Anspielung erklärt. Durch Referenzketten werden die Bedeutungsveränderungen des gleichen Zitats in verschiedenen Kontexten verständlich. Zitate und ihre Bedeutungen sind nicht vorgegeben, sondern hängen von offenen Interpretationsprozessen ab. Die Unterscheidung des Zitats von anderen Weisen der Bezugnahme bei Gebäuden sowie die Erörterung seiner Besonderheiten machen unsere Interpretationen genauer und unser Verständnis von Gebäuden präziser.20 Anmerkungen 1

Vgl. Chantal Cinquin u. Mark Aumann, „From Kheops’ Pyramid to the Pyramid of François Mitterrand“, in: Substance 16, 1987, S. 69–77, hier: S. 72; Charles Jencks, The New Paradigm in Architecture. The Language of Post-Modernism, New Haven 2002, S. 131; Hans-Joachim Kunst, „Freiheit und Zitat in der Architektur des 13. Jahrhunderts. Die Kathedrale von Reims“, in: Karl Claus­ berg, Dieter Kimpel, Hans-Joachim Kunst u. Robert Suckale (Hg.), Bauwerk und Bildwerk im Hochmittelalter. Anschauliche Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte, Giessen 1981, S. 87–102; Wolfgang Schenkluhn, „Bemerkungen zum Begriff des Architekturzitats“, in: Ars 41, 2008, S. 3–13; Roland Recht, Believing and Seeing. The Art of Gothic Cathedrals, Chicago 2008, S. 139–140.

2

Vgl. Michael Hesse, „Moderne und Klassik. Kunstzitat und Kunstbe­ wusstsein bei Philip Johnson“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63, 2000, S. 372–386.

3

Nelson Goodman, „Probleme des Zitierens“, in: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1990, S. 59–75.

4

Zur Einführung in Goodmans Symboltheorie siehe Christoph Baum­ berger, „Gebaute Zeichen“, in diesem Band, S. 93–113.

5

Nelson Goodman, Of Mind and Other Matters, Cambridge/MA 1984, S. 58.

6

Goodman, „Probleme des Zitierens“ (Anm. 3), S. 62.

7

Ebenda, S. 64.

8

Ebenda, S. 64.

9

Ebenda, S. 64–65; Catherine Z. Elgin, With Reference to Reference, Indianapolis 1983, S. 128.

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10 J. Peter Burkholder, „Quotation“, in: Grove Music Online. Oxford Music Online, Oxford 2007, unter: www.oxfordmusiconline.com/ subscriber/article/grove/music/52854 [10. April 2013]. 11 Vgl. Goodman, „Probleme des Zitierens“ (Anm. 3), S. 69–71. 12 Vgl. ebenda, S. 70–71. 13 Vgl. Vernon A. Howard, „On Musical Quotation“, in: Monist 58, 1974, S. 307–318; Elgin, With Reference to Reference (Anm. 9), S. 134–139. 14 Vgl. Goodman, „Probleme des Zitierens“ (Anm. 3), S. 71–74. 15 Vgl. ebenda, S. 74–75. 16 Vgl. Hans-Peter Glimme, „Zum ,Zitieren‘ in der mittelalterlichen Architektur“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 19, 1996, S. 51–61; Georgia Clarke, Roman House – Renaissance Palaces. Inventing Antiquity in Fifteenth-Century Italy, Cambridge/UK 2003, S. 73–84; Donlyn Lyndon (Hg.), „Place Debate. Piazza d’Italia“, in: Places 1, 1983, S. 7–31; Rolf J. Goebel, „Berlin’s Architectural Cita­ tions. Reconstruction, Simulation, and the Problem of Historical Authenticity“, in: Publications of the Modern Language Association of America 118, 2003, S. 1268–1289. 17 Vgl. Goodman, Of Mind and Other Matters (Anm. 5), S. 65–66; Nelson Goodman u. C. Z. Elgin, Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences, Indianapolis 1988, S. 42–43 u. S. 70; Elgin, With Reference to Reference (Anm. 9), S. 142–146. 18 Vgl. Clarke, Roman House – Renaissance Palaces (Anm. 16), S. 75–80. 19 Vgl. Goebel, „Berlin’s Architectural Citations“ (Anm. 16), S. 1276. 20 Dieser Aufsatz ist eine gekürzte und überarbeitete Version von: Remei Capdevila-Werning, „Can Buildings Quote?“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 69/1, 2011, S. 115–124. Ich danke Sigrid Werning für ihre Hilfe und die kritische Lektüre. Die Forschungsarbeit für diesen Artikel wurde durch das Sekreta­ riat für Universitäten und Forschung der katalanischen Regierung unterstützt und ist Teil des durch das spanische Ministerium für Ökonomie und Innovation finanzierten Forschungsprojekts FFI2012-32614.

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Personenregister Abel, Günter 7 Alberti, Leon Battista 31 Alfonso I. 225 Anders, Günther 40, 41, 51, 54, 55, 56, 60, 64 Aristoteles 191 Asplund, Gunnar 103 Austin, John 132 Bach, Johann Sebastian 215 Belluschi, Pietro 100 Bense, Max 70, 74, 76 Bentham, Jeremy 183 Bernini, Gian Lorenzo 223 Böhme, Hartmut 59 Bonaparte, Napoleon 10 Bontempelli, Massimo 25, 26 Borromini, Francesco 103 Broadbent, Geoffrey 130 Cäsar, Julius 10 Casati, Rebecca 57, 58 Cassirer, Ernst 118, 119, 125, 153 Certeau, Michel de 198 Chambers, William 103, 104 Chaplin, Charlie 46

Chirico, Giorgio de 26 Cocteau, Jean 33 Cooren, François 187 Davidson, Donald 135 Derrida, Jacques 120, 121, 122, 123, 125, 126, 128, 131, 132, 133, 134, 136, 137, 139, 140, 161, 162 Dürer, Albrecht 31 Eco, Umberto 70, 74, 76, 116, 118, 148, 149 Eiffel, Gustave 15, 16, 21, 22, 23, 166, 217 Eisenman, Peter 138, 139, 140 Elgin, Catherine Z. 216, 217, 222 Filarete 210, 219, 220, 221, 222 Fontaine, Pierre François Léonard 109 Fontanille, Jacques 194, 195 Foucault, Michel 183, 184 Frampton, Kenneth 101, 105, 109 Freud, Sigmund 57, 59

Friedrich II. 10 Gaudí, Antoni 96, 97, 98, 211, 212 Georg, heiliger 96, 97, 99 Gibson, James 154 Gigon & Guyer 110 Glonner, Anton 96 Goodman, Nelson 12, 93, 94, 95, 99, 119, 125, 135, 148, 149, 211, 215, 216, 218, 221, 223, 224, 226 Gounod, Charles 29 Graftworld 138 Greimas, Algirdas J. 188, 191, 192 Heidegger, Martin 42 Herzog & de Meuron 34, 107, 108 Howard, Vernon 216 Hugo, Victor 137, 139 Husserl, Edmund 120, 122, 123, 127, 179 Isozaki, Arata 210, 225 Izenour, Steven 164 Jäger, Ludwig 134 Jencks, Charles 82, 96, 97, 111, 118, 130, 131, 138, 164, 210 Jobs, Steve 59 Johnson, Philip 210 Jones, Owen 21 Kollhoff, Hans 102 Latour, Bruno 45, 46, 199 Le Corbusier 10, 14, 15, 97, 103, 105, 107

Ledoux, Claude Nicolas 96, 210, 221 Levinas, Emmanuel 198 Liessmann, Konrad Paul 54 Loos, Adolf 101 Lotman, Yuri 195 Luther, Martin 215 Marquard, Odo 52 Marx, Karl 59 Mazo, Juan del 213 Meier, Richard 107 Melnikow, Konstantin 105, 107 Mendelsohn, Erich 102 Mendelssohn Bartholdy, Felix 215 Mersch, Dieter 161 Michelangelo 103 Mies van der Rohe, Ludwig 100, 105, 174 Mitchell, William J. Thomas 56, 64 Moore, Charles 224 Müller, Herta 52 Nerdinger, Winfried 108 Nohl, Arnd-Michael 46 Norberg-Schulz, Christian 74 Paetzold, Heinz 154 Paxton, Joseph 21 Pei, I. M. 210 Peirce, Charles S. 12, 14, 70, 74, 76, 78, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 126, 128, 129, 130, 136, 140, 141, 148, 149, 161, 162, 163, 165, 166, 188 Percier, Charles 109

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Perret, Auguste 100 Pirandello, Luigi 26 Posner, Roland 8 Presley, Elvis 54 Quine, Willard Van Orman 135 Quixote, Don 96 Rauschenberg, Robert 214 Richter, Gerhard 31, 32 Roppelt, Franz 96 Rossi, Aldo 210, 219, 220, 221, 222 Rowe, Colin 103 Rubens, Peter Paul 99 Safranski, Rüdiger 47 Salomon 218 Sapper, Richard 31 Sauerbruch Hutton 35 Saussure, Ferdinand de 118, 121, 148, 149, 161 Scharoun, Hans 107 Schinkel, Karl Friedrich 105 Schocken, Hillel 97 Schubert, Franz 216 Schumacher, Patrik 83, 84

Searle, John 135 Shaw, Richard Norman 103 Slutzky, Robert 103 Spinoza, Baruch de 191 Stalin, Josef 217 Steinmann, Martin 110, 111 Stirling, James 105, 107, 168, 170, 171, 173, 174, 176, 177, 178, 179 Struth, Thomas 213 Tarski, Alfred 135 Teniers, David 214 Trajan 225 Tschumi, Bernard 219, 220 Ungers, Oswald Mathias 11 Vitruv 17, 22 Wagner, Richard 215 Welsch, Wolfgang 82 Winnicott, Donald 59 Wright, Frank Lloyd 101, 174 Yorifuji Bunpei 185, 191, 192, 200, 205 Zanuso, Marco 31 Zumthor, Peter 110

Bildnachweis Kurt W. Forster, Above the Trash

1 Richard Sapper u. Marco Zanuso, Fernseher für Brionvega, 1964, unter: www.stardustmoderndesign.com/2012/06/ artemide-tizio-lamps.html [21. Januar 2014]. 2 Tabletcomputer der Firma Apple (iPad), unter: apfelelements.wordpress.com/2012/11/07/das-ipad-mini-scheinoder-sein [21. Januar 2014]. 3 Michelangelo Caravaggio, Narziss, 1594-96, unter: commons.wikimedia.org/wiki/File:Michelangelo_Caravaggio_065.jpg [21. Januar 2014]. 4 Herzog & de Meuron, M.H. de Young Memorial Museum, 1999–2005, in: El Croquis, Nr. 129/130, 2006, S. 181. 5 Sauerbruch & Hutton, Museum Brandhorst, 2002-2008, Foto: Jörg Gleiter. Jörg H. Gleiter, Präsenz der Zeichen

1 James Stirling u. James Gowan, Flats at Ham Commons, 1955-58, in: James Stirling, Bauten und Projekte 19501983, Stuttgart 1984, S. 54. 2 Stirling u. Gowan, Haus auf der Isle of Wright, 1956-58, in: James Stirling, Bauten und Projekte 1950-1983, Stuttgart 1984, S. 55. 3 John Rauch, Robert Venturi u. Denise Scott Brown, Säule des Allen Memorial Art Museums, 1977, in:

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Heinrich Klotz, The History of Postmodern Architecture, Cambridge, Mass. 1988, S. 175. 4 Venturi u. Scott Brown, Skizze des Flint House, 1981, in: Heinrich Klotz (Hg.), Die Revision der Moderne. Postmoderne Architektur 1960-80, München 1984, S. 341. 5 James Stirling, Eingang zur Neuen Staatsgalerie Stuttgart, 1984, in: James Stirling, Bauten und Projekte 1950-1983, Stuttgart 1984, S. 256. Tatsuma Padoan, Hinter den Zeichen

1–3 Unter: www.tokyometro.jp/corporate/csr/society/manner [14. Juli 2011]. 4 Unter: www.politicomix.net [14. Juli 2011]. 5 Siehe 1–3. Christoph Baumberger, Gebaute Zeichen

1–4 Le Corbusier, Wallfahrtskapelle Notre-Dame-du-Haut, Ronchamp, 1950–55, und zwei mögliche Interpretationen. Fotos: Richard P. Anderson; Interpretationszeichnungen: Christoph Baumberger, nach: Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur, 5. Aufl., Stuttgart 1987, S. 49. 5 Michelangelo, Fassadenentwurf für San Lorenzo, Florenz, 1516–34. Interpretationszeichnungen: Christoph Baumberger, nach: Colin Rowe u. Robert Slutzky, Transparency. Literal and Phenomenal (Part 2) [1971], in: Joan Ockman (Hg.), Architecture Culture 1943–1968, New York 1993, S. 216–217. 6 James Stirling, Engineering Departments, Universität Leicester, 1959–63. Foto: Iqbal Alaam. 7 Konstantin Melnikow, Arbeiterklubhaus Rusakow, Moskau, 1927. Foto: Richard P. Anderson.

Autoren Christoph Baumberger (*1971, Dr. phil.) ist Senior Research

Fellow am Institut für Umweltentscheidungen der ETH Zürich. Er lehrte an der Hochschule für Gestaltung Zürich und der Universität Zürich. Publikationen: Gebaute Zeichen. Eine Symboltheorie der Architektur (Frankfurt/M. und Lancaster 2010), Architekturphilosophie. Grundlagentexte (Hg., Münster 2013). Remei Capdevila-Werning (PhD) ist Adjunct Professor für

Philosophie an der Fairfield University. 2009–11 Postdoctoral Visiting Scholar an der Columbia University und 2011–13 Beatriu de Pinós Postdoctoral Researcher an der Universitat Autònoma de Barcelona. Publikationen: Goodman for Architects (London 2013); From Buildings to Architecture, in: Ritu Bhatt (Hg.), Re-thinking Aesthetics. The Role of Body in Design (London 2013). Claus Dreyer (*1943, Prof. Dr. phil. em.) ist Professor em. für

Grundlagen des Gestaltens, räumliches Gestalten und Gestaltungstheorie an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Seine Forschungsgebiete sind Semiotik und Ästhetik der Architektur. Publikationen: „Semiotische Aspekte der Architekturwissenschaft. Architektursemiotik“, in: Roland Posner et al. (Hg.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, 3. Teilband (Berlin 2003); „Archi-

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tektonische Codes aus semiotischer Sicht“, in: Andrea Gleiniger u. Georg Vrachliotis (Hg.), Code. Zwischen Operation und Narration (Basel 2010). Kurt W. Forster (*1935, Prof. Dr.) ist Direktor des PhD

Programms der School of Architecture der Yale University, New Haven. 1984–92 Gründungsdirektor des Getty Center for the History of Art and the Humanities in Santa Monica; 1992–99 Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich und ab 1999 Leiter des Canadian Centre for Architecture in Montreal; 2004 Direktor der 9. Architekturbiennale Venedig; 2007 Prix Meret Oppenheim. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kunst- und Architekturgeschichte, u. a. über Jacopo Pontormo, Andrea Palladio, Karl Friedrich Schinkel, Giuseppe Terragni, Aby Warburg, Carlo Scarpa sowie zur zeitgenössischen Architekturpraxis. Jörg H. Gleiter (*1960, Prof. Dr.-Ing. habil. M. S.) ist Architekt

und Inhaber des Lehrstuhls für Architekturtheorie am Institut für Architektur (IfA) der Technischen Universität Berlin; Publikationen: Ornament Today. Digital, Material, Structural (Bozen 2012); Der philosophische Flaneur. Nietzsche und die Architektur (Würzburg 2009); Architekturtheorie heute (Bielefeld 2008). Tatsuma Padoan (*1979, Dott.) ist Lehrbeauftragter für Kultur-

anthropologie an der Freien Universität Bozen und Lehrbeauftragter für japanische Religionen an der Universität Ca’ Foscari in Venedig. Er war Visiting Research Student an der SOAS London für Religionswissenschaften und Research Student für Kulturanthropologie an der Keio Universität in Tokyo. Publikationen: „Dei treni e dei riti. Politiche ferroviarie e memoria estetico-rituale nella Tokyo contemporanea“, in: Dario Mangano und Alvise Mattozzi (Hg.), La ricerca semiotica (Rom 2012).

Gert Selle (*1933, Prof. em.) 1980–98 Ordinarius für Theorie, Didaktik und Praxis ästhetischer Erziehung an der Universität Oldenburg. Er lebt in München. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Kunstpädagogik, Kulturgeschichte und Designtheorie, u. a. Geschichte des Design in Deutschland (Frankfurt/M. und New York 2007); Die eigenen Vier Wände. Wohnen als Erinnern (Berlin 2011), Design im Alltag. Vom Thonetstuhl zum Mikrochip (Frankfurt/M. und New York 2007). Uwe Wirth (*1963, Prof. Dr. habil.) ist Professor für Neuere

Deutsche Literatur und Kulturwissenschaft an der Justus-LiebigUniversität Gießen. 2005–07 wissenschaftlicher Geschäftsführer des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Publikationen: Impfen, Pfropfen, Transplantieren (Hg., Berlin 2011); Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte (Hg., Frankfurt/M. 2008); Performanz. Von der Sprachphilosophie zu den Kulturwissenschaften (Hg., Frankfurt/M. 2002).

Architektur Denken 1

Architekturtheorie heute. Jörg H. Gleiter, 2008 ISBN 978-3-89942-879-7

2

Die enzyklopädische Architektur. Gerd de Bruyn, 2008 ISBN 978-3-89942-984-8

3

Welten und Gegenwelten. Arata Isozaki, 2011 Übersetzt und herausgegeben von Yoco Fukuda, Jörg H. Gleiter und Jörg R. Noennig ISBN 978-3-8376-1116-8

4

Urgeschichte der Moderne. Jörg H. Gleiter, 2010 ISBN 978-3-8376-1534-0

5

Das Wissen der Architektur. Gerd de Bruyn, Wolf Reuter, 2011 ISBN 978-3-8376-1553-1

6

Alphabet und Algorithmus. Mario Carpo, 2012 Herausgegeben von Jörg H. Gleiter, aus dem Englischen übersetzt von Jan Bovelet und Jörg H. Gleiter ISBN 978-3-8376-1355-1

7

Symptom Design. Herausgegeben von Jörg H. Gleiter, 2014 ISBN 978-3-8376-2268-3

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