News: the televised revolution ; [im Kontext der Ausstellung "Bild-gegen-Bild" im Haus der Kunst in München] 3777455814, 9783777455815

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News: the televised revolution ; [im Kontext der Ausstellung "Bild-gegen-Bild" im Haus der Kunst in München]
 3777455814, 9783777455815

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Das Anhalten der Nachrichten
Wirklichkeits- Chimären
Was geht hier vor sich?
Die semantische Verfügbarkeit von Bildern im Archiv Einsdreissig
Nicht die Augen verschließen!
Archiv des Cruor. Bild und Gewalt
Tableau – 294 Szenen von Protest, Widerstand, Gewalt und Krieg
Auszüge aus dem Archiv Einsdreissig 2011–2022
Datenbank – Suchbegriffe
Nachwort
Dank
Links
Impressum

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ARCHIV EINSDREISSIG Monika Huber

ARCHIV EINSDREISSIG

Monika Huber

Inhalt

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Vorwort

„Freiheit ist nichts, was man besitzt ...“ Bernhart Schwenk 10

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Das Anhalten der Nachrichten Mieke Bal Wirklichkeits-Chimären Ulrich Wilmes Was geht hier vor sich? Ein politikwissenschaftliches Verhör der Einsdreissig-Demonstranten James W. Davis Die semantische Verfügbarkeit von Bildern im Archiv Einsdreissig Ernst van Alphen Nicht die Augen verschließen! Ute Schaeffer Archiv des Cruor. Bild und Gewalt Antje Kapust Tableau – 294 Szenen von Protest, Widerstand, Gewalt und Krieg

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Auszüge aus dem Archiv Einsdreissig, 2011–2022

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Datenbank – Suchbegriffe Nachwort Dank Links Impressum

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Vorwort

„Freiheit ist nichts, was man besitzt ...“ Bernhart Schwenk

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Bernhart Schwenk ist Kurator für zeitgenössische Kunst an der Pinakothek der Moderne in München. Nach dem Studium der Kunstgeschichte in Mainz, Köln und Bonn, das er 1991 mit einer Promotion über den Maler Blinky Palermo abschloss, war er von 1991 bis 1993 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main sowie von 1993 bis 2001 als Ausstellungskurator am Haus der Kunst München tätig. Seit 2002 verantwortet er als Referent bei den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen den Sammlungsbereich Gegenwartskunst und nimmt Lehraufträge für Kunstgeschichte an verschiedenen Kunsthochschulen wahr. In zahlreichen Ausstellungen und Publikationen befasst er sich mit der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts.

Im Dezember 2010 begann die Künstlerin Monika Huber sich verstärkt mit Bildern aus Fernsehnachrichten auseinanderzusetzen und dazu ein umfangreiches Bildarchiv anzulegen. Ganz Nordafrika schien damals in Aufruhr. Die dortige Bevölkerung forderte die Absetzung ihrer korrupten, diktatorischen Regierungschefs, ging für mehr Gerechtigkeit und bessere Lebensbedingungen auf die Straße, egal ob in Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Syrien oder Bahrain. Es war die Zeit des sogenannten Arabischen Frühlings. Die Bürgerproteste verbreiteten sich in einer ganz neuen Geschwindigkeit und deren Bilder dominierten sämtliche Informationsmedien. Das Internet und die neue Möglichkeit, sich auf sozialen Plattformen auszutauschen und zu organisieren, machten spontane Absprachen für Proteste möglich. Bilder und Videos von Ereignissen konnten in Echtzeit geteilt werden, auch von Orten, aus denen keine internationale Berichterstattung mehr möglich war, da ausländische Journalistinnen und Journalisten nicht mehr ins Land gelassen wurden. Oft waren es unscharfe, vernebelte oder verwackelte Smartphone-Bilder, die mit dem Nachrichtenkommentar übermittelt wurden, sodass die Urheberschaft des Gezeigten nicht verifiziert werden könne. Genau diese verschwommenen Bilder interessierten Monika Huber, sie wurden Ausgangspunkt ihrer weiteren künstlerischen Arbeit. Über mehr als zehn Jahre hinweg entstand ein Bildarchiv, dem Monika Huber den Titel Einsdreissig gab. Dieser benennt die durchschnittliche Länge eines einzelnen Nachrichtenbeitrags innerhalb eines Nachrichtenblocks. Die Gesamtdokumentation umfasst Tausende von Nachrichtenbildern. Hunderte davon hat Monika Huber künstlerisch überarbeitet. Im vorliegenden Buch ist somit nur ein kleiner Ausschnitt des Archivmaterials publiziert. Es versteht sich von selbst, dass das Archiv Einsdreissig keinen Anspruch auf Vollständigkeit bei der Erfassung politischer Ereignisse erheben will und kann. Die Konfliktlage auf der Welt ist dazu schlicht zu komplex. Das Archiv Einsdreissig mit seinen von Monika Huber re-fotografierten und analog bearbeiteten medialen Nachrichtenbildern ist nun in einer Datenbank mit all den tagespolitischen Ereignissen erfasst und verschlagwortet. Das Archivmaterial in seiner Gesamtheit bildet ein künstlerisches „Work in Progress“, ist zugleich das Reservoir für weitere künstlerische Bearbeitungen in Fotografien, Installationen, Videos und SoundArbeiten. Die Gleichrangigkeit, die Monika Huber der analogen wie der digitalen Weiterbearbeitung des Archivmaterials zukommen lässt, ist Ausdruck ihres intermedialen Kunstverständnisses, in dem die Prozesse des Sehens, Auswählens und Neu-Arrangierens der Bilder als Bestandteile ein und desselben künstlerischen Handelns verstanden werden. Die in diesem Buch zusammengestellten Bildseiten sind Auszüge aus dem Archiv Einsdreissig. Sie zeigen jeweils ein bearbeitetes Nachrichtenbild, versehen mit der Länderangabe, Werknummer, kurzem Text zum Bildereignis, Sendedatum sowie im Anhang den jeweiligen Link zu der Fernsehnachrichtensendung, der Monika Huber das Bild oder Textinformation entnommen hat. Die Bildtexte betreffen allein die Berichterstattung zu den medial übermittelten Tagesereignissen und führen durch die letzten Jahre, ohne spätere Ereignisse und Informationen vorwegzunehmen. Von ausgewählten Bildern, die die Künstlerin besonders stark bewegt haben, gibt es oft mehrere Fassungen bzw. Bearbeitungen desselben Themas. Die Intention war dabei, sich dem Bild aus unterschiedlichen Perspektiven annähern zu können, um auf diese Weise mehreren Interpretationen Raum zu geben. Im Lauf der künstlerischen Beschäftigung mit Nachrichtenbildern wurde die Dynamik des weltpolitischen Geschehens zum festen Begleitmoment der Archivarbeit von Monika Huber. Die kurzzeitige internationale Aufmerksamkeit der Medien für ein Krisengebiet wurde und wird meist sehr schnell abgelöst von neuen spektakulären, oft gleichfalls nur diffus erkennbaren Bildern von neuen Orten, neuen Ereignissen. Zwar wurden seit 2010 Regierungschefs und Despoten teilweise abgewählt oder vertrieben – nur wenige verließen freiwillig das Land. Viele sind jedoch nach wie vor an der Macht und agieren autoritärer denn je. In den meisten Ländern ist die Situation miserabler als vor zehn Jahren. Meist wird der politische Widerstand gebrochen, so dass sich die Menschen kaum mehr auf die Straße wagen, ohne Gefahr zu laufen, verhaftet, gefoltert und ermordet zu werden. Für die betroffenen Menschen hat sich somit wenig verändert. Die Strukturen mit ihren Unterdrückungsmechanismen sind dieselben geblieben und verhindern bewusst Demokratisierungsprozesse. Kaum einer der Konflikte der letzten Dekade ist gelöst. Die Bürgerkriege in Syrien und Jemen dauern an, Libyen versinkt im Chaos, in Afghanistan sind die Menschen den radikal-islamistischen Taliban schutzlos ausgesetzt, die iranische Regierung geht rücksichtslos mit Tausenden von

„Freiheit ist nichts, was man besitzt ...“

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Verhaftungen und sogar vollstreckten Todesurteilen gegen die eigene Bevölkerung vor. Der russische Krieg gegen die Ukraine wird mehr und mehr zur Bewährungsprobe für den Zusammenhalt der Weltgemeinschaft. All diese Konflikte produzieren von Tag zu Tag neues Bild- und Textmaterial für das Archiv Einsdreissig. Parallel zu den globalen politischen Ereignissen ist die digitale Bild- und Informationssteuerung bei Konflikten zu einer immer wichtigeren und stärkeren politischen Strategie geworden, und Regierungen versuchen mit legalen und illegalen Mitteln die Bevölkerung zu beeinflussen, um die eigene Macht zu festigen. Wenn Pressefreiheit eingeschränkt wird, werden meist die sozialen Netzwerke stillgelegt, wird der Zugang zu Websites unterbunden oder das Internet komplett abgeschaltet. Wenn wir uns fragen, welche Bilder von den vielen revolutionären Ereignissen des vergangenen Jahrzehnts uns heute noch im Gedächtnis geblieben sind und welche Wirkung sie auf uns hatten, so werden wir uns wohl an nur wenige im Detail erinnern. Auch lässt sich die Frage kaum beantworten, ob die medialen Bilder und ihre weltweite Verbreitung politische Entscheidungen nachhaltig beeinflussen konnten oder können. Fülle und letztlich Austauschbarkeit dürften ihnen mittlerweile die aktuelle Wirkkraft nehmen. Monika Hubers Archiv Einsdreissig wirft damit auch die Frage auf, ob sich in der Gesamtheit der Tausenden von Archivbildern eine grundsätzliche, übergeordnete Ebene erkennen lässt. Einsdreissig findet in jedem Fall sein Analogon in der überreichen kunsthistorischen Ikonographie des Krieges und der Gewalt seit über 2000 Jahren: von den Kriegsszenen auf Tempelgiebeln und -friesen der griechischen Antike bis hin zu den Schlachtendarstellungen der frühen Neuzeit, etwa eines Albrecht Altdorfer, der in minuziöser Malweise die Heere Alexanders des Großen und des Perserkönigs Dareios mit Wimpeln und Standarten schildert; von den Gemälden des Barockzeitalters, die Gräueltaten der biblischen Überlieferung nacherzählen, die mit dem Bethlehemitischen Kindermord weder beginnen noch enden, bis hin zu Francisco de Goyas bis heute einzigartiger Serie von Radierungen, den Desastres de la Guerra (1810–14). Insbesondere die Desastres setzten mit ihren Darstellungen von Gewalt und Kriegsverbrechen, Aufständen und Protesten gegen erlittenes Unrecht geradezu archetypisch Maßstäbe für das Historienbild seit dem 19. Jahrhundert. Auch die moderne und zeitgenössische Kunst führt die Auseinandersetzung mit Bildern des Krieges fort. Verblüffende Verbindungen zu Einsdreissig lassen sich etwa mit der wenig bekannten Kriegsfibel von Bertolt Brecht herstellen, einem Anti-Kriegsbuch, für das der Dramatiker, Lyriker und Theatermacher im dänischen Exil 1944 Kriegsfotos aus Zeitungen zu sammeln begann und diese Bilddokumente mit Versen kommentierte. In diesem Zusammenhang sei auch der libanesische Multimedia-Künstler Rahib Mouré erwähnt, der mit Videomaterial arbeitet, das syrische Zivilisten während der Revolutionsereignisse seit 2011 unter oft dramatischen Umständen mit ihrem Smartphone aufgenommen haben und das zum Teil den eigenen Tod in den sozialen Medien dokumentiert. In dieser langen Bildtradition steht auch die künstlerische Auseinandersetzung von Monika Huber mit fotografischem Material aus den Mediennachrichten. Obwohl ihr Blick letztlich ein persönlicher ist und aus einer europäischen Erfahrungsperspektive erwächst, bildet ihr Archiv möglicherweise etwas allgemein Menschliches ab. Der sich wiederholende Habitus der Demonstrierenden, die fast ritualisierten, gleichsam choreografierten Reaktionen einer (legitimen oder illegitimen) Staatsmacht, die immer wieder gleichen Zeichen, Symbole und Gesten der Gewalt – all diese unzähligen Bilder, so scheint es, gehen in einer Zeitlosigkeit auf. Dies mag zum einen erschreckend sein, da es die individuelle Handlung relativiert und als eine letztlich vergebliche enthüllt. Zum anderen aber ist es mehr als verständlich, weil sich darin eine zutiefst menschliche Haltung manifestiert. Denn solange Menschen den Planeten bevölkern, wird um den Wunsch nach einer besseren Welt gerungen, um den Wunsch nach Veränderung, Freiheit, Souveränität und Unabhängigkeit. Und es geht gleichzeitig um Orientierung, Beständigkeit und Sicherheit. Zwischen diesen gleich starken, aber auch gegensätzlichen Bedürfnissen gilt es eine Balance herzustellen, immer wieder neu. Die Philosophin und Publizistin Carolin Emcke formulierte es in ihrer Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2016 so: „Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut.“ Und weiter sagte sie: „Demokratie ist keine statische Gewissheit, sondern eine dynamische Übung im Umgang mit Ungewissheiten und Kritik.“ ( * ) In diesem Sinne kann auch Frieden kein Zustand sein. Er wird ein fortwährender Prozess bleiben, der immer wieder neu reflektiert wird und ausgehandelt werden muss.

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Bernhart Schwenk

( * ) Carolin Emcke, 2016. Vgl. https://www.friedenspreis-des-deutschenbuchhandels.de/die-preistraeger/2010 -2019/carolin-emcke, abgerufen am 24.11.2022.

Das Anhalten der Nachrichten Mieke Bal

Die Kulturtheoretikerin, Kritikerin, Videokünstlerin und Kuratorin Mieke Bal, Autorin von 45 Büchern und Betreuerin von 81 abgeschlossenen Promotionen, schreibt aus einer interdisziplinären Perspektive über Kulturanalyse, Literatur und Kunst und konzentriert sich dabei auf Gender, Migrationskultur, Kapitalismuskritik und politische Kunst. Seit 2002 dreht sie auch Filme, die eine andere, tiefgründigere und zeitgemäßere Form der Kulturanalyse darstellen. Seitdem gehen Schreiben, Filmemachen und Kuratieren Hand in Hand. In ihrem 2022 erschienenen Buch Image-Thinking (Edinburgh UP) entwickelt sie ihre Ideen über die Integration von akademischem und künstlerischem Denken. Als Filmemacherin drehte sie eine Reihe von experimentellen Dokumentarfilmen, meist über Migrationssituationen, und „theoretische Fiktionen“, Filme und Installationen, in denen die Fiktion bei der Entwicklung schwieriger Ideen half. 10

Mehr Informationen zu Mieke Bal unter: www.miekebal.org.

( 1 ) Im Englischen markiere ich News durch großen Anfangsbuchstaben, um die Fernsehnachrichten, die Huber bearbeitet, begrifflich und formal klar von news i.S.v. ‚Neuigkeit‘ oder vorgeblich neuen Ereignissen abzusetzen.

Zur Terminologie der Inter( 2 ) media-Studien, auf die der Begriff media product, ‚Medienprodukt‘, zurückgeht, s. Bruhn & Schirrmacher (2022). Weiterführende theoretische Reflektionen und Ideen finden sich in den beiden von Elleström (2021) herausgegebenen Bänden.

( 3 )

Mouffe 2007, S. 16.

Die Nachrichten – jene Fernsehsendungen von, sagen wir, fünf bis sieben Minuten, mehrmals am Tag wiederholt, immer von gleicher Länge und immer mit fünf oder sechs Beiträgen, auch diese von immer gleicher Länge, vielfach wiederholt … Schnell sind sie vorbei. Wir sehen sie vor einem Film oder einer anderen Sendung, die uns länger fesseln wird. Im Sessel sitzend vielleicht, mit einem Glas Wein oder einer Tasse Kaffee in der Hand. Der Begriff „Nachrichten“ (news), häufig begleitet von der Ergänzung „neueste“, suggeriert mehr als Routine und zeitliche Nähe: Überraschung, Aufregung, Information, Meinungen, alles, was heute in der Welt wichtig ist und was wir eben noch nicht wussten. In diesem Genre dreht sich alles um Information. Eine Vorwärtsbewegung hin auf das Neue. Doch wie neu ist es wirklich? Die neuesten Nachrichten (the News) tun alles dafür, Neuheit (newness) zunichte zu machen.( 1 ) Die deutsche Künstlerin Monika Huber widmet ihr fortlaufendes Projekt dem Thema Zeit in bildlichen Darstellungen und untersucht dabei insbesondere die Spannung zwischen der Wiederholung im Nachrichtenformat und der Aktualität dessen, worüber es uns zu informieren vorgibt: jeden Tag das Gleiche, zur gleichen Stunde, in immer den gleichen Kurzbeiträgen, und jeden Tag geschehen diese Dinge aufs Neue. Ihr Ziel/Objekt sind die Fernsehnachrichten, in denen wir täglich Revolten, Gewalt und Unterdrückung sehen. Gefilmt werden sie heute häufig von Amateuren mit Handykameras, geschnitten von Redakteuren, die weniger auf Bildqualität achten als auf exakt anderthalb Minuten Länge. Huber reagiert darauf, in dem sie „zitiert“: Sie fotografiert Nachrichten ab und nimmt diese Aufnahmen (takes) für ihre Kunst in Besitz. Sie blickt kritisch auf Auswahl, Präsentation und Wahrnehmung der Bilder, die uns von den Nachrichtensendungen entgegengeworfen werden. Mit der Kamera auf einem Stativ vor ihrem Fernsehgerät fängt sie das Filmmaterial der Nachrichten in Form von Standbildern ein, bearbeitet diese auf vielfältige Weise und vergrößert das Ergebnis zu Drucken im Format 150 × 106 cm. Sie legt eine Sammlung solcher Standbilder aus den Nachrichten an, sie übermalt, überzeichnet sie oder taucht sie in Wasser, um die Farbe und mit ihr das Bild aufzulösen. Auf diese Weise transformiert sie die banalen Aufnahmen in halbabstrakte Kunstwerke. Sie fügt Farben hinzu, legt sie über die Szene. Sie zeigt die daraus hervorgehenden Drucke in Kunsträumen. Die Transformationen, die sie ausführt, stellen eine Intervention dar, über die es sich nachzudenken lohnt. Was interessiert sie an diesem minderwertigen, repetitiven Filmmaterial? Hubers Projekt wirft die Frage auf, was geschieht, wenn journalistische Bilder in Kunstwerke überführt werden. Beide „Medienprodukte“ – ein Begriff, den ich verwende, um spezifischere Bezeichnungen wie „Text“ oder „Bild“ zu umgehen(2 ) – stehen still, sind unbewegt. Doch wie unbewegt können sie sein, als Standbilder aus Filmen? Sie strahlen Aktion, Bewegung geradezu aus. Zeit spielt zweifellos eine Rolle. Es ist die Performanz der überarbeiteten und vergrößerten Einzelbilder, die mich besonders interessiert: Wie sie etwas tun und sich dadurch, in einem anderen, emotiven Sinne, bewegen. Solche Bilder stellt die Künstlerin in ihrem Archiv Einsdreissig zusammen, ein Titel, der auf die Bedeutung von Zeit, Geschwindigkeit und Formatstrenge ebenso verweist, wie auf das kulturelle Bedürfnis des Sammelns und Bewahrens von Bildern: Gesammelt wird in diesem Archiv etwas, das dazu gedacht war, in kürzester Zeit zu vergehen – ganz das Gegenteil des Bewahrungsgedankens einer Sammlung. In einem ersten Schritt unterbricht sie dieses rasche Vergehen, indem sie die flüchtigen Bilder in Standbildern festsetzt. Bereits dieser Eingriff ist scharf. Dann das Übermalen oder anderweitige Verändern der Bilder, es gleicht einem Protest gegen die Eile, mit der wir gehalten sind, „die Welt zu schauen“. Hubers künstlerische Polemik gegen die Nachrichten ist der Versuch, die Geschwindigkeit abzubremsen, die realistische Illusion zu revidieren und stattdessen ein ausdauerndes Sehen zu erzwingen, indem sie die konkrete, realistische Abbildung in ein halbabstraktes Bild verwandelt. So mischt sie sich ein in das, was „das Politische“ genannt worden ist. Gemeint ist damit die soziale Umgebung, in der wir leben und in der wir über das Weltgeschehen streiten, diskutieren, reflektieren können. In ihrem klaren, konzisen Band Über das Politische definiert die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe ihre beiden Schlüsselbegriffe folgendermaßen: Mit dem „Politischen“ meine ich die Dimension des Antagonismus, die ich als für menschliche Gesellschaften konstitutiv betrachte, während ich mit „Politik“ die Gesamtheit der Verfahrensweisen und Institutionen meine, durch die eine Ordnung geschaffen wird, die das Miteinander der Menschen im Kontext seiner ihm vom Politischen auferlegten Konflikthaftigkeit organisiert.( 3 )

Das Anhalten der Nachrichten

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Collage, 2022 Links oben: Rechts oben: Links unten: Rechts unten:

In dieser Definition ist Politik die Organisation, die Konflikte beilegt oder niederhält; das Politische ist der Ort, wo Konflikte stattfinden. Dank des Politischen ist gesellschaftliches Leben möglich. Die Politik dagegen versucht stets, das Politische zu ersticken, indem sie, zu ihren eigenen Bedingungen, Spannungen in Konsens verwandelt. Diese Unterscheidung ist von zentraler Bedeutung für unser Gefühl, in der Welt zu leben – sie vorbeirauschen zu sehen ist nicht dasselbe. Das Alltagsleben mit all seinen Gegensätzen und Zwängen, auch seiner Intimität, gehört Mouffe zufolge dem Politischen an. Dies ist die Sphäre, in der Konflikt, Spannung und Unfrieden gedeihen, aber auch Versöhnung und andere Formen des Wandels durch Annäherung. Gerade dort muss Intimität verstanden werden. In dieser Umgebung können wir mit anderen, mit Fremden, mit Opfern von Gewalt, Vertrautheit als eine Form der Heilung herstellen, denn es ist diese Sphäre der Begegnung, in der wir alle die Macht zum Handeln und die damit einhergehende Verantwortung haben. Eine der Handlungen, die wir ausführen können, ist der Protest: gegen die Entscheidungen jener in der Politik, die ihre Macht mit Gewalt ausüben; die Militär und Polizei aussenden, Mauern errichten, um „die Anderen“ auszusperren, und den Wunsch der Menschen unterdrücken, frei über ihr Leben zu bestimmen. Monika Huber wählt Bilder des Protests aus allen Weltgegenden. So setzt sie allein durch diese Auswahl ein Statement zum

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Mieke Bal

#560_270920, Belarus #581_150521, Israel #588_060514, Ukraine #600_260821, Afghanistan

( 4 ) Zu Kunst als „Heilung“ im Politischen, s. den von Ionescu & Margaroni (2020) herausgegebenen Sammelband.

( 5 )

Rajchman 1995, S. 16.

( 6 ) Siehe die beiden Bände von Deleuze zum Kino [1983, 1985] sowie sein Buch über das Werk von Francis Bacon [1969]. ( 7 )

Vgl. Marrati 2003.

( 8 )

Rajchman 1995, S. 16.

Zustand der heutigen Welt. Die Aktualität der Sammlung aus Nachrichten verstärkt den Moment des „Heute“. Wir neigen dazu, „Kunst“ in der Vergangenheit zu verorten, zumindest abseits alltäglicher Realität. Doch Huber besteht auf das Jetzt der Gewalt und, folglich, das ihrer Kunst, die auf sie reagiert.( 4 ) Diese Collage aus vier, zum Zeitpunkt meines Schreibens aktuellen, Bildern demonstriert die Ähnlichkeit von Geschehnissen an sehr unterschiedlichen Schauplätzen. In Farbe und Linie sind Hubers Bearbeitungen sehr verschieden. Doch die abgebildeten Handlungen sind sich erschreckend ähnlich. Was genau passiert also, wenn das flüchtige, vorbeiziehende Bild als „Zitat“ aus den Nachrichten durch Intervention der Künstlerin jäh zum Stillstand gebracht und der journalistische „Realismus“ in etwas überführt wird, das wir gern als „abstrakt“ bezeichnen? Die doppelte Frage nach der Bedeutungsschöpfung durch Abstraktion und der Intervention durch Verlangsamung birgt das Mysterium des gesellschaftlichen Beitrags des Ästhetischen. Doch diese Kunst ist das Gegenteil von Abstraktion im klassischen Sinne. Sie ist äußerst konkret. Abstrakt sind diese Werke in ihrer Ambivalenz und zeitlichen Verzögerung der Figuration, zugleich arbeiten sie mit Materialität und Zeit, mit Spezifität und Prozessen der Geschichte. Betrachten wir beispielsweise dieses Bild (S. 12, links oben) aus Belarus einmal etwas genauer. Die vorherrschende Farbe ist blau – sie ruft Assoziationen an Polizeiuniformen wach. Hinzugefügte Formen sind das Raster über dem Rücken des Polizisten, der den Demonstranten am Boden hält, sowie die Schraffur, die über den Körper des Opfers und seine Umgebung gelegt suggeriert, es sei bereits in Haft. Teils ausradiert, gehen die Streifen über die Kontur seines Körpers hinaus. Wir können uns vorstellen, dass er klassische Sträflingskleidung trägt, wie wir sie nur zu gut von Bildern aus Konzentrationslagern kennen – insbesondere, da diese Opfer-Uniformen meist auch blau-gestreift waren. Bei genauem Hinsehen erkennen wir, dass der Mann, der mit dem Gesicht nach unten liegend zu Boden gedrückt wird, sportlich leger gekleidet ist: Shorts, Sneaker. Auch die Shorts sind gestreift, ebenso in Blau. Noch befindet er sich also in der Schwebe zwischen dem Status, den ihm die Nachrichten zuschreiben, und der furchteinflößenden Prophezeiung der Künstlerin: zwischen Demonstrant und Häftling. Links steht ein zweiter Polizist oder Soldat, unscharf, kaum zu erkennen, das Gesicht abgeschnitten, um seine Identität zu schützen. Doch ein Detail, das schonungslos hervorsticht, ist der Stiefel dieses unkenntlich gemachten Soldaten. Die abstrakte Qualität des Bildes liegt genau in dieser Hervorhebung solch scheinbar abstrakter Aspekte und der Spannung zwischen ihnen und den übrigen Teilen dieses angehaltenen Nachrichtenbildes. Doch wie abstrakt ist das Bild? Das hängt von der Definition des Begriffs ab: als Gegensatz zum Figürlichen, als expressionistische Kraft? Keines dieser Konzepte scheint hier ganz geeignet. In seinem einflussreichen Artikel „Another View of Abstraction“ erklärt John Rajchman, „we need other, lighter, less morbid ways of thinking“, um „the vitality of abstraction today“ zu erkennen.( 5 ) Dieser potenziellen Bedeutung der Abstraktion geht er im Werk des französischen Philosophen Gilles Deleuze (1925–1995) nach. Deleuze verfasste innovative Schriften zur Abstraktion, sein philosophisches Werk ist dabei außerordentlich konkret, häufig in Auseinandersetzung mit dem Visuellen. Wie Rajchman verdeutlicht, zeichnet sich Deleuze als Philosoph durch eine in dieser Disziplin seltene Form der Konkretheit aus. Er schrieb umfassend über Kunst, wobei die Malerei ein wichtiges Thema, das Kino sein zentrales Interessengebiet war.( 6 ) Überdies kann man sagen – und es wurde gesagt –, dass er Philosophie als Kunst betrieb, als seine Sprache; mit anderen Worten, er schrieb keine Theorie über das Kino, er stellte seine Philosophie dem Kino gleich.( 7 ) Das hilft, eine weitere Dimension in Hubers Arbeit zu verstehen: In Analogie zu Deleuzes philosophischem Kino, zu seiner philosophischen Kunst findet ihre Malerei nicht auf einem, sondern als ein Nachrichtenfotogramm statt, verleiht ihm, während sie an ihm festhält, eindeutig neue (neuartige) Bedeutungen, polemisch, aber immer in dem Bewusstsein, als Künstlerin selbst und neben der Nachricht als solcher Teil in Mouffes Politischem zu sein. Etwas, das an sein Schreiben als Kunst erinnert, lässt sich nämlich über Deleuzes Verhältnis zur abstrakten Malerei sagen. In seiner bahnbrechenden Philosophie der Abstraktion könnte Konkretheit paradox erscheinen, aber das ist sie nicht. Sie macht uns unmittelbar darauf aufmerksam, dass diese Opposition überkommen und damit unhaltbar ist. Rajchman schreibt, Deleuze habe Philosophie als „this abstract mixing and rearranging, a great prodigious conceptual ‘And …’ in the midst of things and histories“ praktiziert.( 8 ) Nach flüchtiger Abhandlung anderer, älterer Auffassungen von

Das Anhalten der Nachrichten

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Abstraktion als „not figurative, not narrative, not illusionist, not literary“ – mit anderen Worten als eine große negative Unbestimmtheit –, beschreibt Rajchman Deleuzes „stuttering ‘and … and … and …’“( 9 ) als Zugang zu einer neuen, weniger abweisenden zeitgemäßen Konzeption und Praxis der Abstraktion.( 10 ) In diesem Sinne das Neue in die Nachricht einzubringen scheint Monika Hubers Anliegen zu sein. Über Deleuzes Stottern sagt Rajchman, es sei geknüpft an „a strange an-organic vitality able to see in ‘dead’ moments other new ways of proceeding“( 11 ) Ich habe diesen akkumulativen Begriff von Abstraktion „Undheit“ (andness) genannt (2013). Und diese „Undheit“ ist unendlich. Mit seiner quantitativen Fülle demonstriert Hubers Archiv die Macht dieser „Undheit“, wo es um Protest gegen die Unterdrückung von Protesten geht: Sehen sich Nachrichtenmacher genötigt, Repressionen dieser Art in täglicher Wiederholung zu bringen, sind das Sammeln dieser Bilder und die Intervention der Künstlerin leider wirklich unendlich. Ganz entschieden reagiert die Abstraktion hier auf eine „aufgelesene“, beiläufige Konkretheit. Gerade noch in den Nachrichten, wird sie von den künstlerisch„heilenden“ Händen Monika Hubers transformiert. Aus dem Neuen erwächst in ganz anderem Sinne als die Nachrichten der heilende Effekt. Für Deleuze und Guattari [1980] bedeutet Abstraktion die Erkundung einer unbekannten Welt möglicher, noch nicht erdachter Formen. Das führen Raster und Schraffur im oben betrachteten Bild vor: Im „Angesicht“ der Gewalt wird uns das Sehen durch diese Strukturen erschwert. Die wenigen schwarzen Linien im bearbeiteten Bild finden sich am Unterkörper des Opfers und als Kontur seines Armes. Die gewaltvolle Verletzung tritt in den Vordergrund, indem dieser Arm, gepackt und vermutlich schmerzhaft auf den Rücken gedreht, wie losgelöst von seinem Körper scheint, stattdessen wie angeheftet an das Bein des Täters: Eine Abbildung des Zustands der Entmachtung, zugleich eine (halb?) abstrakte neue Form, eine Figuration solch eines Zustands ist es, was Monika Huber hier prädiziert. Die qualvolle Polizeihandlung riskiert, den Arm vom Körper zu reißen. Um dieses Bild zu verstehen, müssen wir uns Zeit lassen und es konzentriert betrachten, denn es birgt so viele Elemente und Facetten, und ein kohärentes Ganzes daraus zu bilden ist leichter gesagt als getan. Andererseits ist Kohärenz nicht, was dieses Projekt anstrebt. Nicht Expression, sondern Intensität vermittelt solche Abstraktion laut Deleuze und Guattari. „Intensiv“ bedeutet, dass „die gesammelten Werke“ – jene flüchtigen Erscheinungen, die Huber ermöglicht hat – die Zukünftigkeit unbekannter und unentdeckter Möglichkeiten und Kräfte birgt, je nach dem, was das Publikum daraus „macht“. Das Kunstwerk offeriert oder ist eine Auseinandersetzung im Politischen. Diese Möglichkeiten gehen vom Werk zum Betrachter aus, zur Betrachterin und umgekehrt: Sie sind per Definition relational. Sie brauchen Zeit, sich zu offenbaren. Sie sind alle gleichermaßen gültig, keine Kunstkritik kann sie werten. Um sie sehen (erfahren) zu können, muss man blind sein gegenüber Gewohnheiten, muss sie aussetzen oder verwerfen. Lässt man die Routinen aber fallen, wird man belohnt mit dem Erstaunen, Formen sehen zu können, die – fern jeder Gegenständlichkeit – lediglich Fragmente von Licht und Schatten sind, schwarze Linien, Farbe. Schwebende Fragmente auf der Suche nach dem verlorenen Ganzen, aus dem sie herausgebrochen wurden. Das in die Zukunft gerichtete Streben, Teil eines anderen („heilenden“) Ganzen zu werden, ist der Wunsch nach Zugehörigkeit, nach Teilhabe am im Werden begriffenen Ganzen und seiner Deutung. Dies ist ein visueller „Protext“ gegen die Handlung, das Opfer aus dem Sozio-Politischen herauszuzerren, an dem es bis zu diesem Moment noch teilhatte. Im Bild etwa wird das Gesäß des brutalen Mannes durch das darübergelegte Raster in den Vordergrund gehoben, lädt uns fast zu der Vorstellung ein, ihm in den Hintern zu treten – vielleicht wird er wanken und gezwungen sein, den Arm freizugeben, den er so grob an sich gerissenen hat? Ich unterstelle nicht, dass die Künstlerin genau dies im Sinn hatte, aber nebenbei schafft ihre Intervention auch diese Möglichkeit. Genau in diesem Sinne ist die Deleuze’sche Abstraktion innovativ: Sie schafft neue Möglichkeiten. Hierin, möchte ich behaupten, liegt die potentielle politische Kraft solch akzidenteller Abstraktion. Sich selbst und andere der Wahrnehmungsroutine zu entledigen ist auch ein politischer Akt, der darin besteht, eine Welt zu eröffnen, die durch die Gleichförmigkeit des Sendeformats schlichtweg verschlossen war. Nur so kann man altbekannte Formen aussetzen. Dies ist der paradoxale Aspekt von Abstraktion. Er markiert die Grenzen des Visuellen, wendet sich in der Selbstbefragung, die aus solcher Gewahrwerdung erwächst, aus der Welt zurück an das Selbst. Der Fokus der Intensität aber pendelt mit dem, was vom Werk aus in das Erleben der Betrachterin, des Betrachters einströmt, stets vor – und zurück zum Werk, das seinerseits durch diese Begeg-

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Mieke Bal

( 9 )

Rajchman 1995, S. 17.

( 10 ) Einige meiner Gedanken hier gehen auf die Arbeit an meinem 2013 erschienenen Buch zurück, das, basierend auf dieser Idee des Stotterns („und … und“), eine Theorie der Abstraktion aus dem Werk der belgischen Bildhauerin Ann Veronica Janssens entwickelt. ( 11 )

Rajchman 1995, S. 18.

( 12 ) Mein Gebrauch des Begriffs „Affekt“ in diesem Beitrag beruht ganz auf dem grundlegenden Artikel zum Affekt in Kunst und Literatur von Ernst van Alphen (2008); s.a. den von Alphen & Jirsa (2019) herausgegebenen Sammelband.

( 13 ) Bergson 2013b, S. 20. Auszüge aus Schöpferische Evolution finden sich auch unter den von Gilles Deleuze ausgewählten Texten, die unter dem Titel Philosophie der Dauer vorliegen. (Anm. d. Übers.).

( 14 ) Bergson 2016, S. 81. Diese jüngste Ausgabe von Zeit und Freiheit in deutscher Übersetzung wird eingeleitet von Rémi Brague (Anm. d. Übers.). – Neben einer guten englischsprachigen Textauswahl bieten eine hervorragende Einleitung AnsellPearson & Mullarkey (2002).

( 15 ) „Raum-Zeit“ oder „ZeitRaum-Kontinuum“ sind Begriffe für die Einheit von Zeit und Raum, für die der Literaturtheoretiker Michail Bachtin (1895–1975) den Begriff „Chronotopos“ prägte [1975]. Zur Relevanz dieses Konzepts für die gegenwärtige (Pop-) Kultur, s. Peeren (2008). Eine eingehende Untersuchung des phänomenologischen Denkens im Zusammenhang mit Medialität, die frei ist von jedem trivialisierenden, sentimentalisierenden Subjektivismus, s. Alloa (2018).

nung bereichert wird. In diesem dialogischen Sinne bleiben die Bilder bewegte Bilder. Denn Begegnungen wie diese lassen sich nicht zum Stillstand bringen. Um dieses überaus schwierige Unternehmen – abstrakte Kunst als politisches Agens – mithilfe der zur Affekterzeugung nötigen Intensität zu meistern, intensiviert Monika Hubers Kunst den Affekt in der Konfrontation mit dem Ephemeren, dem Flüchtigen, dem Ungreifbaren; dem Unscharfen.( 12 ) Das erreicht die Künstlerin durch Verlangsamung, Verdichtung und, in manchen Arbeiten, das Fragmentieren von Dauer. Um die fortbestehende Zeithaftigkeit dieser Standbilder begreiflich zu machen, soll ein weiterer Philosoph hinzugezogen werden. Was Henri Bergson (1859–1941) in Schöpferische Evolution [1907] schrieb, kann uns zu einem tieferen Verständnis der Folgen einer solchen Verlangsamung verhelfen. Zeitlebens um eine Theorie von Leben, Zeit und Welt als Kontinuum bemüht, beschrieb Bergson, wodurch sich das von ihm sogenannte „reale Ganze“ auszeichne: „Die darin abgegrenzten Systeme wären dann keineswegs Teile im eigentlichen Sinne, sondern es wären partielle Anblicke des Ganzen.“( 13 ) Diese Formulierung erhellt den Sinn von Hubers Interventionen: „partiell” bewahrt die Beziehung „Teil von”, lässt aber auch „einseitig” anklingen, subjektiv, argumentativ; nicht neutral oder objektiv. Bekanntermaßen hat Bergsons Beharren auf Kontinuität spätere Vorstellungen von Zeit revolutioniert. Er ersetzte die mess- und teilbare Zeit durch kontinuierliche Dauer. Die Spannung zwischen Fragment (herausgelöst) und Detail (eingebunden) ähnelt der zwischen „Partialität“ und „Teil“ (partie) im oben zitierten Satz. Auf Zeit angewandt, wie Bergson es zu tun pflegte, liefert diese Spannung einen weiteren Schlüssel zu Hubers Werk. Denn genau diese Spannung steht hinter ihrer Kunst aus ephemerem, kontinuierlich sich transformierendem Material, die auch eine Kunst aus Zeit ist. Und so bewahren diese Standbilder Spuren jener Bewegung, die die Bilderschau im Fernsehen angetrieben hat. In Zeit und Freiheit [1888] erklärt Bergson die Notwendigkeit eines auf Kontinuität gründenden Begriffs der Dauer. Diese Idee erschließt sich mit Bergsons Auffassung von Vielheit, einem Aspekt, der auch für Hubers Archiv essentiell ist. Teils in Auseinandersetzung mit seinem britischen Kollegen und Freund Bertrand Russell, einem Verfechter der Möglichkeit, Dauer in separate Momente aufzubrechen, argumentierte Bergson für das Stetige der Dauer, und zwar durch Unterscheidung von zwei Betrachtungsweisen oder „Arten der Vielheit“: Jene der materiellen Gegenstände, die unmittelbar eine Zahl bildet; und jene der Bewußtseinstatsachen, die das Erscheinungsbild einer Zahl nicht ohne die Vermittlung irgendeiner symbolischen Vorstellung anzunehmen wüßte, wo notwendig der Raum hineinkommt.( 14 ) Anstelle einer numerischen Vorstellung von Dauer als Abfolge von Augenblicken schlägt Bergson vor, das Leben in der Dauer als eine Art Anhäufung zu verstehen: Jeder Moment wird begleitet von der Erinnerung an die vorherigen. Genau dies, eine solche Massierung, schafft Huber mit ihrem Archiv. Die in dieser Passage formulierte Unterscheidung zwischen zählbaren Gegenständen einerseits und Bewusstseinstatsachen andererseits scheint eine (phänomenologisch-) subjektivistische Erklärung nahezulegen. Doch ließe sich stattdessen sagen, dass diese beiden Arten der Vielheit im Ereignis der Wahrnehmung verschmelzen, die neben der Materialität der Gegenstände – hier sind es die vergrößerten Bilder in Form der ausgestellten Drucke – auch die des menschlichen Körpers einschließt. Dies ist insofern keine mentalistische, subjektivistische oder gar phänomenologische Auffassung, als dass Bergson den Körper als materiell betrachtet und Wahrnehmung damit als eine materielle Praxis. Folglich führen Bergsons Bemühen, den Raum (so nützlich er ist, die kumulative Dimension der Dauer zu begreifen) aus der Theorie der Zeit zu eliminieren, schließlich zu einem erneuerten Bewusstsein nicht allein von Zeit, sondern von RaumZeit, in der Dauer die übergeordnete Dimension oder, mit Bergson, das Medium ist.( 15 ) Untersucht werden sollte Hubers Projekt außerdem als Werk, wenn es ausgestellt ist. Rufen wir uns einen Ausstellungssaal vor Augen – real und zugleich fiktiv –, in dem diese eindeutig transformierten Bilder und ihr Publikum zusammenkommen. In kongenialer Weise entspricht er den Bildern Hubers, die ihrerseits das vorgeblich „Reale“ der Nachrichten mit fiktiver, erdachter und prophetischer Futuralität verknüpfen, gar verschmelzen, zu zunächst fingierten, neuen Anblicken. Der Ausstellungsraum, nunmehr kein neutraler Hintergrund, ist ein Ausschnitt der Welt, in dem sich Fiktion und

Das Anhalten der Nachrichten

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Realität nicht unterscheiden lassen. In diesem Sinne ist jede Ausstellung ein Stück Installationskunst. Jenseits der einzelnen Kunstwerke, die darin angebracht sind, hat auch der Raum selbst etwas mitzuteilen. Wie die Zeit nennt Bergson auch den Raum ein Medium, und das erweist sich als hilfreich: Wenn der Ausstellungssaal ein Raum ist, ein Ausschnitt oder räumliches Fragment der Welt, dann sind die Dinge darin Gefährten der durch diesen Raum gehenden Menschen und ihre Körper sind auf Augenhöhe der Körper dieser Menschen. Darin liegt die Bedeutung des großen Formats dieser Drucke. Sie teilen den Fantasieraum, in dem die Betrachterinnen und Betrachter vorübergehend mit den Kunstobjekten und den aus der Unschärfe hervortretenden Figuren zusammenleben. Ohnehin hat sich die westliche Kunst den menschlichen Körper als ihr immerwährendes Lieblingsthema erkoren. Dadurch ist er zum Maß aller Dinge geworden, zur Bezugsgröße jeder Proportion. Daher ist jedes Kunstwerk entweder Abbildung des menschlichen Körpers oder kann an seiner Norm gemessen werden. Was im Verhältnis kleiner ist, können wir handhaben: Das Kleinere bestätigt die Überlegenheit oder jedenfalls die Normalität des menschlichen Körpers. Die Vergrößerung, die kaum kleiner bleibt als eine erwachsene Person, bringt sowohl das Menschsein in den Vordergrund wie die Unterwerfung der geschlagenen, verhafteten und gar getöteten Menschen in den Nachrichtenbildern. Die Bilder niedrig in den Raum zu hängen verstärkt diesen affektiven Effekt noch. Hubers Projekt nimmt speziell Bilder von Protesten in den Blick, vom Arabischen Frühling bis Palästina/Israel, Afghanistan, Russland, Belarus, Nigeria und darüber hinaus. Die Allgegenwart von Protesten gibt Auskunft über den Zustand der Welt. Doch, so fragt die Künstlerin oder lässt vielmehr ihr Werk fragen, können wir das sehen? In 90 Sekunden und bei all der in Routine mündenden Gleichförmigkeit und Wiederholung? Die starken Bilder und ihre künstlerische Transformation stehen im Kontrast zur Taktung der Nachrichtensendungen, werden durch sie aber auch verstehbar. Viele der Bilder, die täglich an uns vorbeiziehen, sind grausam, verstörend und brutal. Auf dem Bildschirm sehen wir Menschen sterben – doch sehen wir sie – oder es, ihr Sterben – wirklich? Dass Routine die affektive Wirkung dessen abnutzt, was wir sehen, bewog die Künstlerin, einen anderen, länger anhaltenden und suchenden Modus des Sehens durchzusetzen. Ihre künstlerische Leistung besteht darin, das infolge hoher Geschwindigkeit Unsichtbare sichtbar zu machen – indem sie es anhält. Aus einem bekannten Kinderspiel stammt der Ausruf: „Ich sehe was, was du nicht siehst!“ Das Sehen zu lenken, nicht auf etwas Bestimmtes hin, sondern zum Sehen als solches: ein lohnendes Projekt des Kunstschaffens, das politisch relevant ist, ohne im Besonderen aktivistisch zu sein. Es spricht kein spezielles politisches Thema an, wie aktivistische Kunst es oft tut. Vielmehr ist es aktivierend. Es wirkt in einer Weise auf die Betrachterinnen und Betrachter ein, dass diese außerstande sind, passiv zu bleiben, geschweige denn desinteressiert. Um diesem Effekt Raum zu geben, versteht man die bearbeiteten Fotografien bewegter Bilder, ob im Museum oder in einem Buch präsentiert, indem man sie über längere Zeit betrachtet und am besten als eine Form des Theaters. Damit trägt sich uns als Publikum auf, zur Unternehmung des Sehens beizutragen. Warum Theater? Aus zwei Gründen, die für eine politische Sicht auf Intermedialität beide relevant sind. Die Theaterwissenschaftlerin Kati Röttger sieht Theatralität als “a specific mode of perception, a central figure of representation, and an analytic model of crises of representation that can be traced back to changes in the material basis of linguistic behaviour, cultures of perception, and modes of thinking.“( 16 ) Diese tentakelhaft ausgreifende Beschreibung spricht der Theatralität umfangreiche Funktionen zu und stellt ihre Beteiligung am Denken ebenso heraus wie die in ihr angelegte Intermedialität. Die nötige kritische Schärfe erhielt die Theatralität durch die Bezeichnung „critical vision machine“ der Theater- und Performanzforscherin Maaike Bleeker und deren eingehende Untersuchung ihrer Funktionsweise.( 17 ) Hubers Präsentation von Medienprodukten, die sich zeigen, verbergen, dann wieder zeigen, in veränderter Form, funktioniert wie eine solche „kritische Blickmaschine“. Das Wort „kritisch“ ist hier natürlich essentiell. Wie gelingt es Huber konkret, das schnelle Sehen zu bremsen? Kehren wir abschließend zur praktischen Arbeit zurück: Sie druckt die Bilder auf leicht porösem Zeichenpapier, bearbeitet sie auf verschiedenste Weise, dabei immer so, dass das Material weitere Bearbeitungen erlaubt. Sie löst verbleibende Konturen auf, zieht dann neue. Manchmal legt sie einen bereits bearbeiteten Druck in eine Badewanne, um die

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Mieke Bal

( 16 )

Röttger 2013, S. 107.

( 17 ) Bleeker (2008, 2009) zeigt durch gründliche Analysen, wie fruchtbar ein solches Konzept der Theatralität für eine politische Kunst sein kann, die keiner politischen Thematik verbunden ist. Für eine ausführlichere Diskussion dieser aktivierenden Theatralität s. Bal (2022).

Auflösung des Bildes voranzutreiben und die Kenntlichkeit zu mindern. Doch statt am Sehen zu hindern, ist der Effekt dieses Verfahrens, das Verlangen danach wachzurufen und die Bereitschaft, sich die Mühe dazu zu machen. Hinzu kommt Manipulation. Die Künstlerin manipuliert und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf jene andere Form der Manipulation, wie sie die Massenmedien betreiben. Die Auflösung de-individualisiert, zwingt aber auch – jetzt uns als Publikum-Mitwirkende-Theatergäste – zum Protest gegen die Auslöschung von Menschen, die nicht nur mit gewaltsamer Repression einhergeht, sondern bereits mit der Unterdrückung, gegen die sich die Proteste richten. Sie zitiert die Bilder; sie in ihrer 90-Sekunden-Existenz zu belassen erträgt sie nicht. Nennen wir Hubers überarbeitete Bilder daher Protexte. Der Weg vom Protest zum Protext verweist auf die Intervention der Künstlerin; auf das, was geschieht, wenn „neueste“ Nachrichten unter ihrem kritischen Auge wirklich zu neuen werden. Thematisch ist die Auswahl einheitlich, aber die Vielzahl solcher Ereignisse macht ihre historische wie geographische Verbreitung umso beunruhigender. Gesten und Interaktionen in Konfliktsituationen sind, kaum erfassbar, was von den Nachrichten des Tages bleibt – jeden Tag, wieder und wieder. Und wieder. Diese Sammlung (dieses „Archiv“) zielt nicht auf beliebige Einzelkonflikte, sondern auf die Allgegenwart von Konflikt, Protest und Repression sowie auf das Nachrichtenformat, das Routinen forciert und Abstraktion als Methode zur Erfindung von Neuheit nötig macht. Von Neuigkeit zu Neuheit: Das ist es, was dieses künstlerische Umlenken des Blicks erreichen will. Aus dem Englischen übersetzt von Inga Nevermann-Ballandis Literatur Alloa, Emmanuel, [2011] 2021. Looking Through Images: A Phenomenology of Visual Media. Übers. v. Nils F. Schott. New York: Columbia University Press.

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Das Anhalten der Nachrichten

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WirklichkeitsChimären Ulrich Wilmes

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Ulrich Wilmes war Mitorganisator der Skulptur Projekte Münster beim Westfälischen Landesmuseum, 1987. Ab 1988 war er am Portikus Frankfurt am Main als Kurator tätig, verantwortete ab 1991 die Sammlung der Gegenwartskunst der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München und wechselte 2000 als stellvertretender Direktor an das Museum Ludwig in Köln. Von 2008 bis 2018 war Ulrich Wilmes Hauptkurator im Haus der Kunst München. Seitdem arbeitet er als freier Kurator und Autor zur modernen und zeitgenössischen Kunst.

Der vorliegende Text ist die revidierte und ergänzte Neufassung des unter dem Titel Underground publizierten Artikels in dem von Monika Huber und Susanne Fischer herausgegebenen Buch news – the televised revolution (Hirmer Verlag, München, 2012). Die Ergänzungen sind im Text grau gekennzeichnet.

I

( 1 ) Jean Baudrillard, The Gulf War Did Not Take Place, übersetzt und mit einer Einleitung von Paul Patton, Bloomington: Indiana University Press, 1995. ( 2 )

Jean Baudrillard, op. cit., S. 46f.

( 3 )

Jean Baudrillard, op. cit., S. 10.

Spätestens seit dem Zweiten Golfkrieg, der 1990 vom Irak begonnen wurde, sind wir an Bilder gewöhnt worden, die den Eindruck eines rein strategisch „sauberen Krieges“ vermitteln sollen. Darin werden die militärischen Aktionen als zielgenaue Angriffe gezeigt, ohne ihre zerstörerische Wirkung und die sogenannten Kollateralschäden sowohl bei der Zivilbevölkerung als auch in den Reihen der Angreifer zu dokumentieren. Die tatsächlichen Folgewirkungen werden vielmehr von einer Propaganda kontrolliert, die diese ausblendet oder übertüncht, respektive vorführt und ausschlachtet. Heute wird der Betrachter tagtäglich mit einer Flut von neuen und schon bekannten Bildern konfrontiert, die aktuelle Ereignisse dokumentieren und belegen sollen. Das Verhältnis von Wort und Bild als Vermittler von sinnstiftender authentischer Information hat sich dabei in jüngster Vergangenheit in seinem Effekt immer stärker zugunsten der Bilder verschoben. Eine entscheidende Nebenwirkung dieses unbestreitbaren Prozesses ist die zunehmende Fragwürdigkeit der Feststellung des Wahrheitsgehalts dieser bildlich gestützten Darstellungen und deren Beweiskraft. Im Zentrum der kritischen Auseinandersetzung um die Objektivität der Berichterstattung aus Krisenregionen steht mit dem Zweiten Golfkrieg der sogenannte Embedded Journalism. Als Reaktion auf die negative Presse während des Vietnamkriegs gingen die militärischen Führungen dazu über, ausgewählte Journalisten bestimmten Truppenteilen zuzuordnen, um so eine Berichterstattung zwar zuzulassen, jedoch gleichzeitig kontrollieren zu können. Diese enge Einbindung führt nachweislich zu einer starken Identifikation mit den Aktionen der Soldaten vor Ort, die unbestreitbar eine objektive Darstellung des Geschehens beeinträchtigt. In dieser medientheoretischen Debatte bezog Jean Baudrillard radikal Stellung zu den Auswüchsen der Darstellung von gewaltsamen Konflikten. In einem Artikel für die französischen Zeitung Libération ( 1 ) bezeichnete er den Golfkrieg als ein Medienspektakel – „a virtual event which is less the representation of the real than a spectacle“( 2 ). Seiner Auffassung nach besteht eine „structural unreality of images and their profound indifference to truth“( 3 ), mit der sich die Darstellung der kriegerischen Auseinandersetzungen von den realen Ereignissen abkoppelt. Beinahe jeder Bericht, der von Krisenorten übertragen wird, bedient sich heute Aufnahmen, deren Herkunft ebenso wenig nachweisbar bleibt, wie der Ort, an dem die Bilder gemacht sind, und die Zeit, zu der sie entstanden sind. Der Hinweis, dass es sich um mutmaßliche Dokumente handelt, ist angesichts von Videos, die mit dem Mobiltelefon aufgezeichnet wurden, zum Stereotyp geworden. Trotzdem wird auf dieses zum Teil nicht verifizierbare Bildmaterial zurückgegriffen – dem Betrachter bleibt überlassen, inwieweit er den Quellen und dem Informationsgehalt traut. Die Berichterstatter entziehen sich nicht nur der Verantwortung für die von ihnen angebotenen Bilder, ungeachtet dessen, ob wahr oder unwahr, zielt ihr Kalkül allein auf deren Effekt für die eigene Sicht der Dinge.

II

Das Jahr 2011 erlebte eine selten zuvor erlebte Eskalation von zivilen Erhebungen gegen politische und ökonomische Machtverhältnisse, die minoritäre Individualinteressen gegen die kollektiven Rechte der Bevölkerungsmehrheit durchsetzen. Die Massenproteste in Tunesien, die in der sogenannten Jasminrevolution mündeten, griffen in rascher Folge auf die Nachbarländer Algerien, Ägypten, Libyen über, erfassten den Jemen und Bahrain sowie Jordanien und zuletzt Syrien. Unter dem Begriff Arabischer Frühling – in Anlehnung an den Prager Frühling, in dem die Tschechoslowakei 1968 eine Demokratisierung des kommunistischen Systems umsetzen wollte, die von der Sowjetunion militärisch niedergeschlagen wurde – werden seither die Oppositionsbestrebungen zusammengefasst, die den Widerstand gegen die autoritär herrschenden Regime in Nordafrika und dem Nahen Osten organisierten. Sie führten in den verschiedenen Ländern zu unterschiedlich gelagerten gewaltsamen Auseinandersetzungen, die bis in die Gegenwart andauern. Gleichzeitig überzog die Occupy-Bewegung die westlichen Demokratien mit ihrer Anprangerung von sozialer Ungleichheit, ausgelöst

Wirklichkeits-Chimären

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durch die Skrupellosigkeit und Gier der Finanzwirtschaft bei der Durchsetzung ihrer Spekulationsgeschäfte. Vor dem Hintergrund dieser weltumspannenden Ereignisse entwickelt Monika Huber ihr Projekt Einsdreissig. Die nunmehr über ein Jahrzehnt zurückliegenden initialen Ereignisse des Arabischen Frühlings sind inzwischen längst aus den Nachrichten verschwunden. Obwohl sie in den besagten Regionen keine nachhaltigen Veränderungen bewirkt, als im Gegenteil neue Spannungen und Auseinandersetzungen provoziert haben. Doch zählen diese zu den vergessenen Konflikten. Es geht nach wie vor um die Aktualität des Ansatzes von Monika Hubers Werkkomplex Einsdreissig. Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der nicht einhellig, aber von großen Teilen der Weltgemeinschaft verurteilt wird. Der Konflikt erscheint dem Zuschauer bisher von gesteigertem Belang, weil seit 1945 keine bewaffnete Auseinandersetzung so nah an unsere Komfortzone herangerückt ist. Im Zuge dessen haben EU und NATO die am Krieg direkt beteiligten Parteien mit Sanktionen belegt, respektive mit Waffenlieferungen unterstützt, mittels deren auf eine Lösung durch Verhandlungen eingewirkt werden soll. Allein die Wirksamkeit der getroffenen Entscheidungen, die naturgemäß ebenfalls Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation in der europäischen Staatengemeinschaft hat, wird mittlerweile zunehmend kritisch hinterfragt. In diesem Wechselspiel von Aktion und Reaktion, ihrem Effekt und hinzunehmenden Konsequenzen scheint der dystopische Befund „Wir erleben eine Zeitenwende!“ ( 4 ) in der Tat kaum deplatziert, weil Europa die ökonomischen Abhängigkeiten, in die es sich in den vergangenen Jahrzehnten manövriert hat, gegenwärtig drastisch vor Augen geführt werden. Trotz der Abwendung des öffentlichen Interesses von den Konflikten, die Huber in den Fokus ihrer Arbeit der vergangenen Jahre gerückt hatte, erscheint angesichts einer dramatischen Verschiebung der geopolitischen Weltordnung, die sich an vielen Stellen gleichzeitig zu einer bedrohlichen Eskalation auswächst, die Relevanz des Werkkomplexes Einsdreissig mit seiner Hinterfragung der medialen Berichterstattung von ungebrochener Wichtigkeit. Es gilt festzustellen, dass sich zwar die aktuellen tagespolitischen Themen verlagert haben, die Form ihrer Be- und Aufarbeitung sich allerdings kaum verändert hat. Die gewohnte Tendenz, die dabei im Rahmen der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine in gesteigerter Form auftritt, betrifft die Propaganda, die von beiden Seiten als Mittel der Desinformation eingesetzt wird, und im Gegensatz zur Nachrichtenvermittlung immer fortgeschrittener entwickelt ist. Vor diesem Hintergrund einer verstärkten Instrumentalisierung der Informationsmedien zur Erlangung der Deutungshoheit über die kaum verifizierbaren Geschehnisse erscheint Monika Hubers dialektische Vorgehensweise bei der Bildfindung umso bemerkenswerter. Der flüchtige Eindruck, den die digitalen Bilder, jenseits der Frage nach ihrem Wahrheitsgehalt, hinterlassen, wird im analogen Modus der Malerei bleibend verortet.

III

Die abstrakte Malerei ist das maßgebliche Medium und Ausdrucksmittel von Monika Huber. Ihre Werkentwicklung seit Mitte der 1980er Jahre verläuft geradlinig. Sie untersucht in ihren Bildern die Bedingungen des Mediums in Bezug auf die sich verändernden Relationen von Form und Inhalt. Ihre Bildsprache ist reduziert auf wenige elementare Konstanten, die eine weitgehende Offenheit zur Ausformung ihrer Bildgegenstände und -ideen anbieten. Diese wiederkehrenden Parameter sind historisch verwurzelt in der jüngeren Geschichte der Moderne und der zeitgenössischen Bildtheorie. Das zentrale Anliegen von Monika Hubers Hinterfragung der Möglichkeiten von Malerei in der Gegenwart bewegt sich um den Begriff der Authentizität des Bildes und der malerischen Praxis, die sie dorthin führt. Ihre Intentionen wurden befördert durch die Tendenzen zu einer Konzeptualisierung der bildenden Kunst in den 1960er Jahren, deren Infragestellung der Gattungsgrenzen eine Erweiterung des medialen Spektrums zeitigte. Infolgedessen entwickelte die Malerei eine Reihe formal-inhaltlicher Ansätze, die dieser Aktualität Rechnung trug. Wie bereits im 19. Jahrhundert durch ihre Erfindung und rasche technische Weiterentwicklung, war auch hier die Fotografie ein entscheidender Impuls für die Selbstreflexion der Malerei am Rande ihrer Legitimation. Dabei beschäftigte sie die Frage, wie die Malerei auf die veränderte Wahrnehmungspraxis reagieren sollte, die von zwei entscheidenden Faktoren geprägt wird. Zum einen von weltumspannender Informationstechnik, die es ermöglicht die „Wirklichkeit” eines

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Ulrich Wilmes

( 4 ) Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag, 27. Februar 2022 in der Sondersitzung des Deutschen Bundestages aus Anlass des von Russland begonnenen Krieges gegen die Ukraine.

Ereignisses an jeden Ort der Erde zeitgleich zu übermitteln, zum anderen von dem Vermögen des Einzelnen sich mittels einfacher hochstehender Kameratechnik selbst ein Bild von der Welt zu machen. Für die Malerei ging es vor diesem Hintergrund darum, die Autonomie des Bildes zu wahren. Die Etablierung der Fotografie als unumstrittenes Medium der bildenden Kunst basierte auf einer anderen Sicht- und Denkweise, in deren Zentrum die Frage nach dem dokumentarischen Charakter des fotografischen Bildes stand. Die Fotografie kann – selbst wenn das Gegenteil behauptet wird – keinen Anspruch erheben, die Wirklichkeit objektiv wiederzugeben. Sie ist wie jede bildliche Darstellungsform eine Abstraktion von den Gegebenheiten des realen Raumes. Anders als vor einem Objekt ist der Betrachter vor einem Bild auf eine Perspektive festgelegt, weshalb es für den Fotografen von entscheidender Bedeutung ist, seinen eigenen Standort zu bestimmen. Mit ihm definiert er seine Sicht der Dinge, die er dem Betrachter vorgibt, als nicht objektivierbare Konstruktion der Wirklichkeit. Gleichwohl ist der Begriff des Dokumentarischen in den zurückliegenden Jahrzehnten im theoretischen Diskurs der Fotografie einer Revision unterzogen worden. Die Digitalisierung der fotografischen Praxis hat dazu verführt, dem fotografischen Bild jede faktische Authentizität abzusprechen. Dies führte dazu, die grundsätzliche Möglichkeit der Fotografie, eine Gegebenheit – wenn auch subjektiv gefiltert – abzubilden, als eine analoge Qualität neu zu betrachten. Die malerische Handschrift Monika Hubers zeigt einen durchdringenden Aufbau der Bildfläche und ihre Überführung in einen Bildraum, in dem die Künstlerin ihre Gegenstände ansiedelt. Diese Themen sind stets Ableitungen, die sich aus dem Arbeitsprozess herauskristallisieren, obgleich sie mit einer bestimmten anschaulichen Vorstellung an die Bilder herangeht. Sie setzt sich in ihrer Malerei mit dem Problem der ästhetischen inhaltlichen Bedeutung, die ein autonomes Bild zu beschreiben und zu vermitteln in der Lage ist, auseinander. Ihre Werkentwicklung wird von zwei formalen Merkmalen durchzogen. Die Auseinandersetzung mit dem elementaren Gegensatz von Schwarz und Weiß sowie die Arbeit in Werkreihen. Beide Wesenszüge prägen auch Einsdreissig.

IV

Die Werke des Archivs Einsdreissig können gleichzeitig als Bilddokumente und als Gemälde gelesen werden. Es sind Vexierbilder, die aus der Transformation der fotografischen Reproduktion eines TV-Bildes in Malerei gebildet werden. Ihre Wandlung folgt einem vielschichtigen Prozess, der die Betrachtung der Gegenstände wieder und wieder in Frage stellt. Huber vollzieht diese Transformation mit den Ansichten und Mitteln ihres bildnerischen Vokabulars, das sich in ihrer Werkentwicklung entfaltet hat. Ein anschauliches Beispiel für die formalen Analogien und die Auffassung inhaltlicher Aspekte zeigt sich in den Gemälden der Serie Schnee (2009/10), die der Arbeit an Einsdreissig zeitlich voranging. Sie umfasst circa zwanzig Bilder. Darunter sind vier annähernd gleichformatige Fassungen eines Sujets. Die relativ gleich angelegten Kompositionen erzeugen die vage Impression einer Landschaft, die aus abstrakten Merkmalen dekonstruiert erscheint. Diese Anmutung wird reduziert auf den Gegensatz von dem tief angelegten Horizont und dem vertikalen Bildfeld, das die aufrechte Orientierung des Betrachters anspricht. Auf die mit breitem Pinselstrich bildparallel angelegte stark farbige Basis „fällt“ ein weißer Farbnebel. Die hohe Transparenz der nuancierten Weiß-Schattierungen, die Spurenelemente einer farbigen Grundierung durchscheinen lassen, suggerieren das Bewegungsmoment des fallenden Schnees. Betrachten wir diese Gemälde exemplarisch im Vergleich mit den Bearbeitungen der Screenshots von Eindreissig, so sind die Übereinstimmungen in der Weise, wie die malerischen Mittel einerseits zur Bildfindung und andererseits zur formalen Verfremdung eingesetzt werden, nicht von der Hand zu weisen.

V

Die abfotografierten Bilder sind für Monika Huber die Veranlasser des bildnerischen Prozesses. Der Titel Einsdreissig bezieht sich auf die Zeit, die in der Regel für einen Bildbericht zu einem Thema in der ARD Tagesschau oder im ZDF Heute Journal zur Verfügung steht. Den allgemeinen Auslöser zu dem Projekt lieferte Monika Huber ihr eigenes Erleben von Protesten gegen die Politik der griechischen Regierung in der griechischen Hauptstadt Athen. Es verstärkte ihre Reaktionen auf die einleitend

Wirklichkeits-Chimären

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genannten politischen Ereignisse, die zu Beginn des Jahres 2011 die Medien beherrschten. Huber begann ein Archiv anzulegen. Aus diesem rasch angewachsenen Fundus wählte sie Fotografien aus, die ihr als Ausgangsmaterial dienen, das mehr oder minder stark verfremdet wird. Die rasante Beschleunigung der global vernetzten Berichterstattung macht Monika Hubers analog bildnerische Vorgehensweise bei der Bildfindung in besonderem Maße bemerkenswert. Die malerische Bearbeitung der fotografischen Abzüge richtet sich nach der Struktur der Sujets. Dabei legt Huber unterschiedliche Maßstäbe in Bezug auf die in dem Bericht vermittelten Inhalte an. Die formalen Eingriffe gliedern und akzentuieren die bildliche Information. Durch weitergestreute Informationen auch aus anderen Quellen wird die Berichterstattung kritisch beleuchtet. Das fertige Bild stellt eine subjektive Deutung des Geschehens, wie es im Bericht dargestellt wird, als Teil einer eigenen Wahrheitsfindung und Meinungsbildung dar. Die Weise der künstlerischen Auseinandersetzung mit tagesaktuellen Nachrichten ist aus sich heraus vom Anspruch einer Wahrheit entbunden und allein einer bildlichen Richtigkeit verpflichtet. Hubers Absicht ist es, gerade diese Unmöglichkeit der Überprüfung der bildlichen Informationen aufzuzeigen, indem sie in ihren Arbeiten diverse Realitätsschichten mit unterschiedlicher Aussagekraft überlagert – vom flüchtigen elektronischen Bild über ein fotografisches Abbild zum Gemälde. Dabei bestimmt sie zunächst einen Bildausschnitt, der wiederum mit einem Tintenstrahldrucker auf einem relativ offenen Zeichenpapier ausgedruckt wird. Diese Bilder werden mit wasserlöslichen schwarz-weißen Farben malerisch bearbeitet. Die oberflächliche Übermalung sowie die Druckertinte werden anschließend teilweise wieder ausgewaschen. Dabei behält Huber die Kontrolle über den Auflösungsprozess, der im geeigneten Moment gestoppt wird. Das verfremdete Bild wird abschließend erneut fotografisch reproduziert. Wie in ihrer Praxis als Malerin realisiert Huber auch die Sujets von Einsdreissig in diversen „Fassungen“ – eine Bezeichnung, die die Originalität eines fertig gestellten Bildes hervorhebt. Diesem Begriff unterliegt gleichzeitig die Vorstellung eines „Zustands“, der auf einen Verlauf in der Beschreibung eines Inhalts abzielt, der das vorläufige Resultat eines noch unvollendeten Prozesses anzeigt. Ein Bild vom 21. Februar 2011 (#005_210211) zeigt Demonstrierende in Bengasi. Die Internetbilder sollen belegen, dass Bengasi in der Hand der Rebellen ist. Eine erhöht stehende Figur reckt eine Fahne empor, zu ihren Füßen deutet eine zweite mit erhobenem Arm in ihre Richtung. Huber hat den Bildausschnitt einfach komponiert. Die agierenden Figuren sind den Bildrändern zugeordnet. Ihre Gesten sind auf einer Diagonalen gegenübergestellt. Eine Demonstration in Barcelona gegen die Sparpolitik der katalanischen Regierung und die damit einhergehende hohe Arbeitslosigkeit ist Gegenstand eines Bildes vom 27. Mai 2011 (#062_270511), das die Misshandlung einer am Boden liegenden Person durch Sicherheitskräfte zeigt. Während sich der eigentliche Vorgang im Mittelgrund abspielt, liegt der Akzent der Darstellung auf der im Vordergrund stehenden martialischen Figur, die von rechts die Szene beobachtet. Drei der verschiedenen Fassungen von #005_1-3 und #062_1-3 sind formal vergleichbar ausgeführt. Das Ursprungsbild wird a) in kontraststarkes Schwarz-Weiß wie eine Art Schattenriss dargestellt, das b) partiell mit transparenten Schlieren bedeckt und c) mit einem pastoseren Schleier verhüllt und die Vordergrundfigur mit einem grünlich-rosa betont. Die Fassung #062_4 kommt in seiner Übertragung dem Vorbild nahe. Die farbig wiedergegebene Szene bleibt weitgehend erkennbar, mit dem auf den am Boden liegenden Demonstranten einschlagenden Soldaten, den Beobachtern am Straßenrand und der in seinem Tun ambivalenten Figur im Vordergrund rechts. Die Fassungen dieser beispielhaften Bilder zeigen einen Verlauf, in dem sich das Geschehen durch die malerische Verfremdung zusehends verunklärt. Eines der abstoßendsten Beispiele der Werkreihe ist ein Bilddokument vom 20. Dezember 2011 (#310_201211), das von einer Demonstration im Verlauf der ägyptischen Parlamentswahl auf dem Tahrir-Platz in Kairo zeugt. Eine offenkundig wehrlose Frau wird von Sicherheitskräften misshandelt und weggezerrt, wobei ihre Kleidung verrutscht, so dass ihr Oberkörper entblößt wird. Die Aktion löst anschließend in einschlägigen Medien einen perfiden Shitstorm aus, in dem die Frau selbst für die Entblößung verantwortlich gemacht wird. Die beiden Fassungen überziehen die Bilder mit einem Schleier der Unschärfe, der Täter und Opfer gleichermaßen anonymisiert. Der Akzent liegt auf der Kleidung der Frau und ihre durch die Soldaten vollzogene Misshandlung

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Ulrich Wilmes

Von links nach rechts: #005_210211_1 #005_210211_2 #005_210211_3

#062_270511_1 #062_270511_2 #062_270511_3

#062_270511_4

#310_201211_1 #310_201211_2

Wirklichkeits-Chimären

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Links oben: Rechts oben: Links unten: Rechts unten:

und Entblößung. Obwohl es unklar bleibt, scheinen Hose und BH auf eine Form der Kleidung hinzudeuten, die muslimischen Vorschriften zuwiderläuft. Monika Huber hat dieses aufwühlende Dokument obrigkeitsstaatlicher und demokratiefeindlicher Willkür nicht ruhen lassen. Vier Jahre nach der ersten Bearbeitung hat sie vier weitere Fassungen der Bildvorlage [#497_201211] geschaffen, die das Geschehen aus der Totalen betrachten. Diese wird zunächst in einer in Magenta getönten Ansicht wiedergegeben, die den Vorgang deutlich werden lässt. Durch transparente Schlieren wird das Bild oben und unten eingefasst, so dass die voyeuristische Perspektive, aus der sich der Blick – der Augenzeugen vor Ort wie der Zuschauer – auf die Aktion richtet, entlarvt. Dieser voyeuristische Blick wird in den drei folgenden Fassungen fokussiert, indem ihn Monika Huber wie durch eine Kameralinse auf den Körper der Frau richtet. Sie stellt sie damit als das doppelte Opfer willkürlicher Gewalt dar, das nicht nur von ihren anonymen Häschern misshandelt wird, sondern dafür zugleich von einem viralen Mob gedemütigt wird. Zusammen betrachtet vermitteln die Fassungen von #310_201211 und #497_201211 ein „narratives“ Moment in Bezug auf ein erschütterndes Geschehen, das die Zustände von Entstehung und Entwicklung des Sujets nachvollziehbar machen. Die Fassungen einer Darstellung aus Einsdreissig entspringen einem Willen, den Hintergrund und Verlauf der Ereignisse eingehender zu betrachten, um sich einen differenzierten Eindruck verschaffen zu können. Die Unterscheidung einer Fassung vom Zustand eines Bildes erfordert einerseits eine analytische Annäherung, die die Schichten des Realitätsbezugs abtragen muss, und andererseits die synthetische Betrachtung einer immanenten Entwicklung. Die komplexen bildnerischen Prozesse bedingen dabei die anschauliche Sondierung der medialen Wiedergabe in Bezug zum Geschehen, das sich indes einer Überprüfbarkeit entzieht. Für die Zeitdauer von einer Minute und dreißig Sekunden richtet sich der Blick auf einen Vorgang von vielleicht historischer Bedeutung, der in Wort und Bild beschrieben wird. Dass die Wirkmacht der Bilder trotz der von ihnen ausgelösten Reizüberflutung den Effekt des gesprochenen Worts überragt, ist eine Gewissheit. Monika Hubers Werkreihe geht es darum, sich diesem Glauben an das flüchtige Bild zu entziehen und sich selbst ein eingehenderes zu machen, das versucht, den Dingen so gut wie möglich auf den Grund zu gehen. Es sind Bilder gegen die oberflächliche Betrachtung der Wirklichkeit, die sie in einem Nebelschleier des augenblicklichen Vergessens versinken lässt.

VI

Durch Kombination der mechanischen Bildreproduktion mit einer subtilen malerischen Bearbeitung erscheint das Bild aus dem Fluss der Bewegung herausgefiltert. Dabei

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Ulrich Wilmes

#497_201211_1 #497_201211_2 #497_201211_3 #497_201211_4

( 5 ) Monika Huber, Erika Wäcker-Babnik, unpubliziertes Exposé zum Projekt Einsdreissig, München 2011.

( 6 ) Monika Huber, Zitat der Künstlerin von ihrer Website, online: www.monikahuber.com/home/painted, abgerufen am 27. November 2022.

wird der Zugriff auf die abgebildeten Ereignisse zwar nicht vollständig aufgehoben, doch soweit verunklärt, dass sie nicht mehr eindeutig lokalisierbar sind. Die geografische Nähe der vielerorts ausbrechenden und eskalierenden Konflikte befördert Bilder, die aus sich selbst heraus unmittelbar Unterschiede kaum noch greifbar machen. Die wenigen anschaulichen Details, die aus Monika Hubers Bildern aufscheinen, verweisen vielmehr auf einen übergeordneten Themenkomplex, der die Ursache für gewaltsame Auseinandersetzungen ist. Monika Hubers Projekt ist das Resultat eines Reflexionsprozesses über unterschiedliche Darstellungsmedien als Träger einer inhaltlichen und ästhetischen Botschaft. Es gibt keine Antworten auf die vorgefundenen Problemfelder, vielmehr formuliert es Fragen, die sich auf das richten, was wir glauben zu erkennen: „Wie lassen sich die Bilder noch klar voneinander unterscheiden und Ereignissen zuordnen? Welchen Informationswert haben sie? Wieweit kann ich den Bildern trauen? Wie reagiere ich darauf? Was soll ich mit den Informationen eigentlich anfangen, wie verarbeite ich die gesehenen Bilder? Berühren mich die Ereignisse überhaupt noch, oder lässt mich die Masse der Bilder abstumpfen? Wie soll ich mit dem Leid, das täglich in mein Wohnzimmer gespült wird, umgehen?“ ( 5 ) Mit der Übermalung von fotografischen Vorlagen schafft Monika Huber eine Sedimentierung zweier in ihrem Wesen grundsätzlich verschiedener Bild-Modi. Ihr Verfahren beinhaltet die Synthese von bedingt kontrollierten malerischen Prozessen und deren bedingt geordneten Spuren, die sich überlagern und zum Teil gegenseitig auslöschen. Dadurch durchläuft die Bildgestalt verschiedene Zustände, die abschließend eine bestimmte bildnerische Absicht erfüllen sollen. In diesem Sinne stellt Einsdreissig eine Symbiose von Bildfindung und Bilderzeugung her, die einen hybriden Bildtypus hervorbringt. Monika Huber setzt darin ihre Gewissheit über die Malerei als „einer komplexen existentiellen Handlung“ in Beziehung zu den täglich anbrandenden Bildern, deren Bedeutung sich immer mehr im Abstrakten verliert: „Das Malen ist stets eine Balance zwischen Behauptung und Negation. Die Arbeit basiert dabei auf Regeln, die den ständigen Prozess des Veränderns anschaulich machen. Das Malen ist ein konstanter Fluss von Sichtbarmachen und Unsichtbarwerden.“ ( 6)

Wirklichkeits-Chimären

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Was geht hier vor sich?

Ein politikwissenschaftliches Verhör der EinsdreissigDemonstranten

James W. Davis

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James W. Davis ist Professor für Politikwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Politik und Direktor des Institutes für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Sicherheitspolitik, transatlantischen Beziehungen und der politischen Psychologie.

Mit den Augen eines empirisch orientierten Politikwissenschaftlers betrachtet – womit ich nichts anderes meine als jemanden, der versucht, die Kräfte zu erklären und zu verstehen, die zu politischen Ergebnissen führen – wirft Monika Hubers Sammlung Einsdreissig zahlreiche Fragen auf und liefert vielleicht ein paar Antworten. Ich sage „Sammlung“, weil es sich um ein Archiv handelt, das aus Tausenden von digitalen Einzelbildern besteht, die künstlerisch überarbeitet worden sind. Aber für mich ist das relevante „Bild“ etwas, das sich erst durch die Sammlung als Ganzes ergibt. Die einzelnen künstlerischen Darstellungen von Augenblicksereignissen sind verstörend, auch wenn sie auf seltsame Weise ästhetisch sind. Isoliert betrachtet, lenken sie unsere Aufmerksamkeit auf Einzelheiten. Wir stellen uns Fragen zu den dargestellten Personen und dem spezifischen Umfeld, in dem sie sich befinden. Wer ist der junge Mann, der einen Stein wirft? Warum tut er das? Wir nehmen sowohl die Perspektive des Fotografen als auch die der Künstlerin zur Kenntnis. Vielleicht fragen wir uns, warum Huber einige Elemente der Szene des Fotografen zu Gunsten anderer verdeckt hat. Will sie uns anleiten oder manipulieren? Betrachtet man die Sammlung jedoch als Ganzes, so ändert sich der Blickwinkel des Betrachters. Ob zufällig oder gewollt, Huber verbirgt nicht mehr, sondern offenbart, was ein allgemeines politisches Phänomen zu sein scheint. Wir sind nicht mehr auf Einzelpersonen, sondern auf Gruppen fokussiert. Die Einzelnen scheinen nicht mehr isoliert zu handeln, sondern werden als Teilnehmer an etwas Größerem erkannt. Sie sind Teil einer kollektiven Handlung. Mit dem Wechsel der Perspektive ändern sich auch unsere Fragen. Im Folgenden werde ich nicht so tun, als ob ich ein eigenes kohärentes Argument entwickeln oder gar eine These verteidigen würde. Vielmehr möchte ich eine Reihe von Fragen aufwerfen, die sich aus meiner Betrachtung von Einsdreissig ergeben. In der Tat wirft das Archiv für mich zahlreiche Fragen auf, von denen jede eine weitere Überlegung und Analyse verdient. In diesem Sinne ist mein Beitrag so etwas wie eine politische, oder genauer gesagt, eine politikwissenschaftliche Befragung, sogar Verhör der von Monika Huber „eingefangenen“ Bilder von Protesten und Demonstranten.

Was halten diese Bilder fest? Indem Monika Huber ihr künstlerisches Archiv aufbaut, lädt sie uns ein, die einzelnen Bilder als zusammengehörig zu betrachten, als irgendwie verwandt. Die Vermutung liegt nahe, dass sie spezifische Ausprägungen eines allgemeineren Phänomens darstellen. Aber welches? Kategorisierung ist einer der ersten Schritte zur Analyse, und das orthodoxe Verständnis der wissenschaftlichen Klassifizierung geht davon aus, dass begriffliche Kategorien durch eine Reihe von Eigenschaften definiert sind, die alle Mitglieder der Kategorie teilen. Dies würde bedeuten, dass wir die beobachtbaren Merkmale jedes Bildes auflisten und dann feststellen, welche davon allen gemeinsam sind. Ein solcher Ansatz wird jedoch durch die Tatsache vereitelt, dass die Künstlerin absichtlich Teile der Originalfotografien unkenntlich gemacht hat. Wir können einfach nicht alles „sehen“. Vielleicht können wir die Dinge andersherum angehen? Das heißt, anstatt von den „Fakten“, wie sie in den einzelnen Bildern erscheinen, auszugehen und zum allgemeinen Konzept überzugehen, könnten wir die Bilder selbst „ausfüllen“, wo relevante Fakten zu fehlen scheinen. Zu diesem Zweck könnten wir über das einzelne Bild hinausgehen und die Sammlung als Ganzes nutzen. Wenn wir also mit einer Szene konfrontiert werden, die nur aus Polizisten besteht, stellen wir uns vor, dass sie mit einer wütenden Menge konfrontiert sind, wie sie auf anderen Bildern zu sehen ist. Wenn wir eine weinende Frau sehen (Afghanistan, Libyen), vervollständigen wir das Bild in unserem Kopf mit einem jungen, verwundeten Mann oder vielleicht mit einem, der durch die Kugel eines Polizisten getötet wurde. Schließlich kommen solche Bilder auch in Einsdreissig vor. Indem wir uns von Bild zu Bild bewegen – jedes für sich, jedes unvollständig – liefern wir die fehlenden Glieder, die notwendig sind, um ein kohärentes Ganzes zu schaffen. Tatsächlich bin ich von der These überzeugt, dass wir uns der Welt und Fragen der Sinnstiftung oft auf ähnliche Weise nähern. Die Bedeutung eines bestimmten Bildes ergibt sich für uns nicht nur aus den spezifischen Merkmalen der Beobachtung, sondern vielmehr aus dem Kontext, in dem wir sie machen. Oftmals fehlen wichtige Informationen – vielleicht wurden sie absichtlich verschleiert – und so sind wir gezwungen zu extrapolieren und dabei die Zusammenhänge zu ergänzen.

Was geht hier vor sich?

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Ein schönes Beispiel aus meinem eigenen Bereich der internationalen Politik sind die Herausforderungen, mit denen Geheimdienstanalysten konfrontiert sind. Nachrichtendienste haben die Aufgabe, aus verschiedenen Daten mit unsicherem Wahrheitsgehalt ein Gesamtbild zu erstellen. Man weiß nie, ob die gesammelten Informationen in dem Sinne „natürlich“ sind, dass sie von Personen stammen, die nicht glauben, dass sie beobachtet werden. Denn wenn dies der Fall ist, neigen sie dazu, Eindrucksmanagement mit dem Ziel des Täuschens zu betreiben. Da Entscheidungsträger wissen, dass andere sie häufig täuschen wollen, besteht die natürliche Tendenz, beobachtbares Verhalten und von den Beobachteten selbst gelieferte Erklärungen für ihr Verhalten zu ignorieren oder zumindest mit Skepsis zu begegnen. Stattdessen neigen Beobachter dazu, isolierte und zweideutige Informationen mit bereits bestehenden Überzeugungen in Einklang zu bringen. Auf diese Weise füllen sie die fehlenden Glieder. Obwohl der Skeptiker oft behauptet: „Ich glaube es erst, wenn ich es sehe!“, ist es hier andersherum. Denn wir können einfach keine Dinge sehen, für die wir nicht bereits ein Bild im Kopf haben.( 1 ) Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden die Nachrichtendienste kritisiert, weil sie es versäumt hätten, einen Zusammenhang zwischen diversen Datenpunkten herzustellen. Es hieß, die Tatsache, dass saudische Staatsangehörige in den Vereinigten Staaten Pilotenunterricht nahmen, hätte sie auf die Möglichkeit eines Plans aufmerksam machen müssen, kommerzielle Fluggesellschaften als Terrorwaffen zu nutzen. Das Problem ist jedoch, dass es viele Datenpunkte gibt, die auf verschiedene Weise miteinander in Verbindung gebracht werden können. Welche Informationen Aufmerksamkeit verdienen und welche irrelevant sind oder keinen Bezug zu den Fragen haben, die uns beschäftigen, ist eine Entscheidung, die nur getroffen werden kann, wenn man sich fragt, ob sie in ein Bild passen oder nicht. Aber das Bild muss erst einmal in den Sinn kommen – entweder durch die Erinnerung an frühere Erfahrungen oder durch einen kreativen Gedankensprung. Wie sehr der Kontext eine Rolle spielt, zeigt sich an den Fehlschlüssen, welche die Geheimdienste im Vorfeld der amerikanischen Invasion des Irak im Jahr 2003 machten. Als es darum ging, festzustellen, ob Saddam Hussein sein Programm zum Bau von Massenvernichtungswaffen wiederaufgenommen hatte, lösten Berichte, wonach der Irak eine große Anzahl von Aluminiumrohren gekauft habe, große Besorgnis aus. Die Rohre, so wurde argumentiert, könnten zum Bau leistungsfähiger Zentrifugen verwendet werden und so die für den Bau einer Atomwaffe erforderliche Urananreicherung ermöglichen. In Anbetracht der Tatsache, dass Saddam Hussein in der Vergangenheit bereits Massenvernichtungswaffen entwickelt hatte, und vor dem Hintergrund der verschärften Spannungen mit den Vereinigten Staaten lag die Schlussfolgerung nahe, dass die Rohre ein Beweis für ein erneutes Massenvernichtungswaffenprogramm waren. Nach dem Krieg stellte die Iraq Survey Group fest, dass die Rohre zum Bau konventioneller 81-mm-Raketen gekauft worden waren. In einem anderen politischen Kontext hätten die Analysten vielleicht die richtigen Schlüsse gezogen, aber der Konflikt mit den Vereinigten Staaten und die Befürchtungen der Bush-Regierung nach dem 11. September, dass es zu einem Terroranschlag mit Atomwaffen kommen könnte, führten dazu, dass andere Bilder verwendet wurden, um die fehlenden Glieder zu ergänzen und Schlüsse zu ziehen.( 2)

Zeitlos oder Zeichen der Zeit? Selbst wenn wir Monika Hubers Projekt offen gegenüberstehen, ist es unwahrscheinlich, dass jemand von uns die Bilder ohne jegliche vorgefertigte Vorstellung betrachtet. Ob einzeln oder gemeinsam betrachtet – die Bilder werden durch die Brille der Erfahrung gesehen. Und durch die Linse der Erfahrung erhalten die Bilder eine Bedeutung. Wir vergleichen das, was wir sehen, mit dem, was wir bereits wissen und glauben, und mittels Analogien verleihen wir Bedeutung. Die einzelnen Bilder des Archivs Einsdreissig scheinen Momente oder sogar Episoden eines Volksaufstandes einzufangen. Auch ohne die Bildunterschriften als Orientierungshilfe erkennen wir, dass die Episoden in gewisser Weise eindeutig sind. Ihre Standorte, die Kleidung der Zivilisten, Soldaten oder der Polizisten, die Fahnen, die Waffen: Es gibt viele Unterscheidungsmerkmale. Und doch präsentiert Monika Huber sie uns gemeinsam. Wie sind diese Bilder miteinander verbunden? Sind sie spezifische Beispiele für ein zeitloses und wiederkehrendes Thema des gesellschaftlichen

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James W. Davis

( 1 ) Siehe James W. Davis, Terms of Inquiry: On the Theory and Practice of Political Science, Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2005, Kapitel 2.

( 2 ) Für die beste Analyse des nachrichtendienstlichen Versagens im Zusammenhang mit der Frage der Massenvernichtungswaffen im Irak, siehe Robert Jervis, Why Intelligence Fails: Lessons from the Iranian Revolution and the Iraq War, Ithaca: Cornell University Press, 2010, Kapitel 3.

( 3 ) Yuen Foong Khong, Analogies at War: Korea, Munich, Dien Bien Phu, and the Vietnam Decisions of 1965, Princeton: Princeton University Press, 1992; Ernest R. May, Lessons of the Past: The Use and Misuse of History in American Foreign Policy, New York: Oxford University Press, 1973; und Richard E. Neustadt und Ernest R. May, Thinking in Time: The Uses of History for Decision-Makers, New York: Free Press, 1986.

Lebens? Oder sind sie vielmehr durch ihren spezifischen historischen Kontext miteinander verbunden? Eines der allgegenwärtigen Merkmale internationaler Politik ist die Mehrdeutigkeit, die viele außenpolitische Verhaltensweisen kennzeichnet. Ein einfaches Beispiel dafür ist die Krise in der Ukraine, die sich gerade abspielt, während ich diese Zeilen schreibe. Sind die russischen Truppenbewegungen entlang der ukrainischen Grenze das Zeichen eines aggressiven und expansionistischen Staates, der sein früheres Imperium zurückgewinnen will? Oder sind die russischen Truppenbewegungen nach den aufeinanderfolgenden Erweiterungswellen der NATO und der EU durch tiefsitzende Sicherheitsbedenken motiviert? Das Problem, mit dem sich diejenigen konfrontiert sehen, die versuchen, sich einen Reim auf das russische Verhalten zu machen, ist die Tatsache, dass dieselben Schritte mehrere Interpretationen zulassen würden. Die Älteren unter uns verfügen über einen breiteren Erfahrungsschatz und Erinnerungen, die aus mehr und anderen Bildern bestehen, auf die sie zurückgreifen können, wenn sie sich mit etwas Neuem auseinandersetzen. Daher könnte man meinen, dass sie die Gegenwart mit jedem ähnlichen Ereignis der Vergangenheit vergleichen – oder zumindest mit denen, an die sie sich erinnern können. Die Gegenwart dient dann nur als ein Datenpunkt unter vielen, und die Aufgabe der Bedeutungsgebung gleicht der Berechnung des Durchschnitts oder des statistischen Mittels, welches sich über die Zeit ergibt. Aber so funktionieren die Dinge selten. Wir haben einfach nicht zu jeder Zeit einen direkten Zugang zu allen unseren Erinnerungen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Vielmehr erscheinen einige Erinnerungen klarer und verdrängen andere. Napoleon soll einst gesagt haben, dass man, um einen Menschen zu verstehen, wissen muss, was in der Welt geschah, als er zwanzig war. Diese Vermutung wurde später von der politikwissenschaftlichen Forschung bestätigt. Wenn man mit mehrdeutigem Verhalten konfrontiert wird, bieten die prägenden Erfahrungen von Entscheidungsträgern zusammen mit bedeutenden Ereignissen im kollektiven Gedächtnis eines Landes ein Repertoire an Analogien, die – oft auf allzu vereinfachte Weise – auf der Suche nach Lehren für die Gegenwart angewendet werden.( 3 ) Die Erklärung für dieses weit verbreitete Phänomen ist wahrscheinlich in der Rolle zu finden, die Emotionen beim Abrufen von Erinnerungen spielen. Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio postuliert, dass unsere Erfahrungen physisch in Form von emotionalen Assoziationen verankert sind, die das Gedächtnis und künftige Entscheidungen beeinflussen, indem sie ein Gefühl dafür vermitteln, was gut und was schlecht ist oder was wahrscheinlich Freude oder Schmerz erzeugt. Wenn eine Person auf eine Situation trifft, die einer früheren Situation ähnelt, liefern diese „somatischen Marker“ eine schnelle Informationsquelle darüber, auf welche Personen oder Ergebnisse man zugehen und welche man vermeiden sollte. Diese Erkenntnis, die sich aus neuer Forschung mit Patienten, die ein Hirntrauma erlitten haben, entwickelt hat, liefert eine interessante Erklärung für die starke Anziehungskraft historischer Analogien. Der Grund, warum sich Menschen zu Analogien hingezogen fühlen, die auf markanten Ereignissen aus ihrer politischen Jugend basieren, liegt nicht nur darin, dass es sich um neuartige, erstmalige Erfahrungen handelte, sondern auch darin, dass diese Neuartigkeit eine besondere emotionale und intellektuelle Erregung hervorrief. Der somatische Marker verstärkt nicht nur das prägende Ereignis. Vielmehr weckt die Erinnerung daran positive Gefühle, selbst wenn das spezifische Ereignis negativ war, weil sie breiter gefächerte positive Erinnerungen an die Jugend selbst hervorruft. Vor diesem Hintergrund vermute ich, dass die Reaktionen des Einzelnen auf die Bilder von Einsdreissig stark von der jeweiligen Altersgruppe abhängen werden. Ein Amerikaner mit starken Erinnerungen an die US-Bürgerrechtsbewegung und die Proteste gegen den Vietnamkrieg in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren wird den wahrscheinlichen Erfolg oder Misserfolg der in Hubers Bildern festgehaltenen Proteste anders einschätzen als ein Deutscher, der in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist und den Volksaufstand vom 16. und 17. Juli 1953 miterlebt hat, auch wenn er wahrscheinlich einige Gefühle mit Amerikanern teilen würde. Und der ältere Deutsche würde wahrscheinlich anders urteilen als jemand, der an den Protesten teilgenommen hat, die zum Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 führten. Im Gegensatz dazu werden meine Studierenden, von denen keiner alt genug ist, um sich an den Zusammenbruch der DDR zu erinnern, die Proteste zweifellos als Zeichen einer aktuellen Entwicklung des Weltgeschehens, als ein Zeichen der Zeit betrachten. Schließlich sind sie gerade erst politisch erwachsen geworden und konzentrieren sich demnach auf das Hier und Jetzt.

Was geht hier vor sich?

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Warum jetzt? Betrachtet man eine Reihe ähnlicher Ereignisse in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts, stellt sich die Frage: Warum gerade jetzt? Auch wenn die Künstlerin die Bilder gesammelt hat, ist sie für die Antwort nicht mehr relevant. Angesichts der Allgegenwärtigkeit des Phänomens – schließlich zeigen die Bilder Proteste in Ägypten, Libyen, Syrien, Bahrain, Jemen, der Ukraine, Belarus, Myanmar, aber auch in den Vereinigten Staaten – muss es etwas Grundlegendes für den aktuellen Zustand der Welt geben, einige zugrunde liegende Strömungen oder übergreifende Strukturen, die die relevanten Verbindungen herstellen. Aus der sozialwissenschaftlichen Forschung wissen wir, dass es nach Kriegen häufig zu Volksaufständen kommt, insbesondere in den Staaten der Verliererseite.( 4 ) Sie scheinen auch häufiger in Ländern aufzutreten, die eine rasche wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen (manchmal gefolgt von einem drastischen, kurzfristigen wirtschaftlichen Niedergang),(5) die ein schnelles Bevölkerungswachstum verzeichnen,( 6 ) in denen der Staat einen Verlust an politischer Autorität erleidet ( 7 ) und in denen charismatische Persönlichkeiten – ob nun Mao oder Gandhi – an die Spitze sozialer Bewegungen treten.( 8 ) Dennoch ist die Sozialwissenschaft besonders schlecht bei der Vorhersage von Ereignissen wie Massenprotesten und Revolutionen. Im Nachhinein können wir immer auf eine Ungerechtigkeit, strukturelle Veränderungen oder das Auftreten eines charismatischen Führers als Erklärung für Volksaufstände verweisen. Das Problem ist jedoch, dass Ungerechtigkeiten weit verbreitet sind und oft schon lange bestehen, dass sich Gesellschaften oft friedlich an strukturelle Veränderungen anpassen und dass viele charismatische Führer auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Nichtsdestoweniger fielen die Bilder und Bewegungen, die sie festhalten, in eine Zeit dramatischer struktureller Veränderungen in der Welt. Das Ende der Bipolarität und der Spaltung der Welt in rivalisierende ideologische Lager während des Kalten Krieges veranlasste nicht nur viele Analysten, den Triumph der liberalen Demokratie zu verkünden, sondern inspirierte auch viele Menschen auf der ganzen Welt, diese für sich selbst zu fordern.( 9 ) Andere verweisen auf die oft widersprüchlichen Impulse, die durch die Globalisierung ausgelöst wurden und zu dem beitragen, was als Welle von Volksprotesten in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts wahrgenommen wird. Einerseits hat die wirtschaftliche Globalisierung eine noch nie dagewesene Zahl von Menschen aus bitterer Armut befreit, aber oft erst, nachdem traditionelle wirtschaftliche Beziehungen zerstört wurden.( 10 ) Auf der anderen Seite verspricht die globale Verbreitung der westlichen Kultur den Zugang zu attraktiven Erfahrungen, Ideen und Praktiken, aber häufig auf Kosten der eigenen Identität. Während beispielsweise Frauen in patriarchalischen Gesellschaften die in Hollywood-Filmen dargestellten Freiheiten begrüßen mögen, kann die Gleichstellung der Geschlechter nicht ohne ein grundlegendes Umdenken darüber erfolgen, was es in solchen Gesellschaften bedeutet, sowohl eine Frau als auch ein Mann zu sein.( 11 ) Viele der in Einsdreissig aufgenommenen Szenen zeigen die Anwendung von Gewalt durch Vertreter des Staates. Gewalt existiert jedoch auch in Abwesenheit von Soldaten und Polizisten, die an bestimmten Einschüchterungs- oder Gewaltaktionen beteiligt sind. Man muss nicht über das dystopische Potenzial von Chinas entstehendem Panoptikum nachdenken, um den Punkt zu verstehen. Selbst in etablierten Demokratien ist die Macht des Staates, abweichendes Verhalten zu bestrafen, fast immer vorhanden. Es sollte uns daher nicht überraschen, dass in Ländern, in denen die Rechtsstaatlichkeit schwach ist und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, Einzelpersonen zögern, ihre Freiheit oder ihr Leben für eine Sache zu riskieren, für die sie wenig Aussicht auf Erfolg sehen. Dies erschwert die Vorhersage großer Proteste, da Einzelpersonen nur dann bereit sind, sich zu beteiligen, wenn sie es für wahrscheinlich halten, dass sich eine beträchtliche Anzahl anderer Menschen daran beteiligen wird. Die Unzufriedenheit in der Gesellschaft mag weit verbreitet und tiefgreifend sein, aber was jeder Einzelne tut, hängt davon ab, was er glaubt, dass andere denken und wahrscheinlich tun werden. Wenn ich denke, dass Sie denken, dass ich zu Hause bleibe, werde ich wahrscheinlich nicht auf die Straße gehen. Wenn ich jedoch denke, dass Sie denken, dass ich mich der Bewegung anschließen werde, werde ich wahrscheinlich denken, dass Sie mit mir auf die Straße gehen werden. Im Großen und Ganzen zeigt die daraus resultierende Dynamik die Merkmale von „Tipping Points“ (Kipppunkten), Wendepunkten. Während die ersten Tage eines Protests durch ein geringes und schrittweises zahlenmäßiges Wachstum gekennzeichnet sein mögen, erlebt

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James W. Davis

( 4 ) Theta Skocpol, States and Social Revolutions, New York: Cambridge University Press, 1979. ( 5 ) Samuel P. Huntington, Political Order in Changing Society, New Haven: Yale University Press, 1968; James C. Davies, „Toward a Theory of Revolution“, American Sociological Review Vol. 27, Nr. 1 (Februar 1962), S. 5–19. ( 6 ) Jack A. Goldstone, „The Comparative and Historical Study of Revolutions“, in: J.A. Goldston (Hrsg.), Revolutions, New York: Harcourt Brace College Publishers, 1994. ( 7 ) Hannah Arendt, On Revolution, New York: Penguin, 1977. ( 8 ) Jan Willem Stutje (Hrsg.), Charismatic Leadership and Social Movements: The Revolutionary Power of Ordinary Men and Women, New York: Berghahn, 2012.

( 9 ) Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York: Free Press, 1992.

( 10 ) Obwohl mein eigenes Verständnis der zugrunde liegenden Prozesse konventioneller ist, finden Sie eine gute marxistisch inspirierte Analyse bei Gilbert Achcar, The People Want: A Radical Exploration of the Arab Spring, Berkeley: University of California Press, 2013. ( 11 ) Die Literatur zu diesem Thema ist umfangreich. Zwei Beispiele finden Sie bei Manuel Castells, The Power of Identity 2d edition, Hoboken, NJ: Wiley Blackwell, 2009; Yosef Lapid und Friedrich Kratochwil (Hrsg.), The Return of Culture and Identity in IR Theory, Boulder, CO: Lynne Rienner, 1996.

( 12 ) Eine bahnbrechende Analyse stammt von Thomas C. Schelling, Micromotives and Macro Behavior, New York: W.W. Norton, 1978, Kapitel 4. Zu den weiteren Beiträgen zählen Malcolm Gladwell, The Tipping Point: How Little Things Can Make a Big Difference, Boston: Little, Brown & Co, 2002; und Robert Jervis, Systems Effects: Complexity in Political and Social Life, Princeton, NJ: Princeton University Press, 1997, S. 150–153.

Die Ideen in diesem Ab( 13 ) schnitt sind inspiriert von Robert Jervis, „Causation and Responsibility in a Complex World“, in: Martha Finnemore und Judith Goldstein (Hrsg.), Back to Basics: State Power in a Contemporary World, Oxford: Oxford University Press, 2013, S. 313–338.

( 14 ) CBS News, „Protests break out around the world against Charlie Hebdo“, 16 Januar 2015. https://www.cbsnews.com/ pictures/protests-break-out-around-the -world-against-charlie-hebdo/12, abgerufen am 03.11.2022.

Für weitere Ideen dazu, ( 15 ) siehe James W. Davis, „The (Good) Person and the (Bad) Situation: Recovering Innocence at the Expense of Responsibility“, in: James W. Davis (Hrsg.) Psychology, Strategy and Conflict: Perceptions of Insecurity in International Relations, Oxon: Routledge, 2013, S. 199-219.

der Aufstand ein explosives Wachstum, sobald ein Wendepunkt erreicht ist. Der Einzelne scheint nicht mehr strategisch auf seine Situation zu reagieren, sondern von einer größeren Gruppendynamik „mitgerissen“ zu werden und die Gefahren angesichts des staatlichen Zwangsapparats zu vergessen oder zu akzeptieren. Auch wenn es in allen Fällen gewisse Regelmäßigkeiten zu geben scheint, ist es äußerst schwierig, den Zeitpunkt der Wende vorherzusagen.( 12 )

Wer hat angefangen? Die Frage, warum es zu Volksaufständen kommt, führt schnell zur Suche nach den Verantwortlichen. Warum haben Menschen das Bedürfnis, auf die Straße zu gehen? Wenn friedliche Demonstrationen in Gewalt umschlagen, fragen wir uns: „Wer hat angefangen?“ ( 13 ) Auch wenn die Bilder in Einsdreissig zu solchen Fragen führen, können sie allein keine Antworten geben. Angesichts der Tatsache, dass sich Volksaufstände im Fluss der Geschichte abspielen, sind Fragen nach Verantwortung in der Tat sehr schwer zu beantworten. Obwohl die Bilder von Soldaten und Polizisten vermuten lassen, dass die Demonstranten ihren Unmut gegen den Staat richten, ist dies nicht immer der Fall. Manchmal ist der Staat der Schlichter zwischen rivalisierenden ethnischen oder politischen Gruppen. Manchmal ist das Ziel ein anderes Land oder eine internationale Organisation. So gingen im Jahr 2019 Menschen in so unterschiedlichen Ländern wie Argentinien, Ecuador und Tunesien auf die Straße, um gegen die vom Internationalen Währungsfonds auferlegten Sparmaßnahmen zu protestieren. Im Januar 2015 kam es in Afrika, dem Nahen Osten und Asien zu Protesten gegen die Veröffentlichung von Karikaturen des Propheten Mohammed in der französischen Zeitschrift Charlie Hebdo. In Niger wurden die Menschenmengen gewalttätig, so dass die Polizei Tränengas einsetzte, um sie zu vertreiben. Als die Polizei in Pakistan mit einer ähnlichen Dynamik konfrontiert wurde, schoss sie mit scharfer Munition.( 14 ) Die obigen Beispiele legen nahe, dass Schuldzuweisungen in hohem Maße davon abhängen, wo wir unsere Geschichte beginnen. Die Polizei in Pakistan und Niger wäre nicht in eine Situation geraten, in der die Anwendung offener Gewalt notwendig erschienen wäre, wenn sich die Redaktion in Paris entschieden hätte, die Karikatur nicht zu veröffentlichen. Die Tatsache, dass sie sich dazu veranlasst sahen, war jedoch eine Reaktion auf die Ermordung von neun Journalisten in den Pariser Büros von Charlie Hebdo durch islamistische Fundamentalisten (ebenfalls in Einsdreissig dokumentiert), die ihrerseits durch die vorherige Veröffentlichung von Karikaturen motiviert waren, die sie als beleidigend empfanden. Natürlich hängt die Entscheidung, wo wir mit unserer Analyse beginnen, möglicherweise davon ab, wen wir für verantwortlich halten. Mir geht es nicht darum, mich auf die Seite der Verfechter der Meinungsfreiheit oder des Respekts vor dem, was anderen heilig ist, zu stellen, sondern vielmehr darum, darauf hinzuweisen, dass wir oft gezwungen sind, in Situationen, die wir nicht selbst geschaffen haben, Entscheidungen zu treffen. Ich vermute, dass wir eine ähnliche Diskussion über die in Einsdreissig dargestellten Ereignisse führen könnten, sogar über die gewalttätigsten. In der Tat ist die Frage „Wer hat angefangen?“ vielleicht der falsche Ansatzpunkt. Vielleicht sollten wir stattdessen über die relative Bedeutung der Person und der Situation zur Erklärung der dargestellten Ereignisse nachdenken? Dies birgt jedoch die Gefahr, dass wir zu beunruhigenden Schlussfolgerungen gelangen. Denn in dem Maße, in dem wir argumentieren, dass bestimmte Situationen Menschen dazu zwingen, sich auf bestimmte Weise zu verhalten, verringern wir ihren Entscheidungsspielraum. Wo es keine Wahl zwischen Verhaltensweisen gibt, kann es auch keine Verantwortung geben. Bis zu einem gewissen Grad sind wir alle Gefangene der historischen Umstände, in denen wir uns befinden. Aber wann und in welchem Ausmaß schränkt diese Tatsache unseren Entscheidungsspielraum so ein, dass wir von der Verantwortung für unser Handeln befreit sind? ( 15 )

Form Follows Function oder Function Follows Form? Louis H. Sullivan, „The ( 16 ) Tall Building Artistically Considered“, Lippincott’s Magazine (March 1896), S. 403–409.

Die Moderne des 20. Jahrhunderts war von dem Grundsatz geprägt, dass sich die Form von Objekten aus ihrer Funktion ergeben sollte.( 16 ) Die funktionalistische Bewegung war vor allem in der Architektur und im Industriedesign einflussreich, drang aber

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auch in die Politikwissenschaft ein, insbesondere in das Studium der politischen Institutionen und der europäischen Integration.( 17 ) Betrachtet man beispielsweise die in Einsdreissig festgehaltenen Szenen, so erkennt man eine gewisse Homogenität der Formen. Ob in Afghanistan, im Jemen oder in den Vereinigten Staaten, die Demonstranten sind oft auf ähnliche Weise maskiert. Auf einigen Bildern, z. B. in der Ukraine, tragen die vermeintlichen Demonstranten jedoch Helme und Gesichtsverhüllungen, die denen der Sicherheitskräfte ähneln. Was sollen wir von solchen Ausreißern halten? Historisch gesehen war die Funktion der Maskierung in solchen Situationen klar. Für Demonstranten bot die Maske Anonymität und damit ein gewisses Maß an Sicherheit gegenüber der Zwangsüberwachung durch den Staat. Auch die Polizei hat das Bedürfnis, ihre Identität zu schützen, um Vergeltungsmaßnahmen für ihre Zusammenarbeit mit dem Staat durch Mitglieder der Zivilgesellschaft zu vermeiden. Doch die Allgegenwart der Maske in den von Einsdreissig aufgenommenen Bildern verschleiert nicht nur die Identität der einzelnen Demonstranten, sondern in vielen Fällen auch den spezifischen Kontext der Aufstände. So ist der maskierte Demonstrant (Mann oder Frau?) aus der Ukraine mehr oder weniger nicht von den maskierten Personen im Jemen und in Palästina zu unterscheiden. In Ermangelung zusätzlicher Kontextinforma-

Siehe zum Beispiel, David ( 17 ) Mitrany, A Working Peace System, London: Royal Institute of International Affairs, 1943; Ernst B. Haas, The Uniting of Europe: Political, Social, and Economical Forces, 1950-1957, Stanford: Stanford University Press, 1958; und Robert O. Keohane, After Hegemony, Princeton: Princeton University Press, 1984.

Bildauswahl Datenbanksuche Schlagwort: Maske Links oben: Rechts oben: Links unten: Rechts unten:

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James W. Davis

#390_240612, Israel #487_110522, Russland #549_070221, Myanmar #445_080715, Tunesien

( 18 ) Das Phänomen der „Funktionsverschiebung“ findet sich auch in der Natur. Siehe Stephen Jay Gould, „Not Necessarily a Wing“, Natural History Vol. 94, Nr. 10 (Oktober 1985), S. 12–25.

tionen erscheinen die Personen aus der Sicht des Betrachters austauschbar. Lenkt dieses Merkmal der Sammlung – das „große Ganze“ – unsere Aufmerksamkeit auf etwas Wichtiges und Gemeinsames der Proteste oder lenkt es von den Besonderheiten der einzelnen Demonstrationen und Demonstranten ab? Ohne zusätzliche kontextuelle Informationen könnte sich der Betrachter auch fragen, warum sich die Form der Maskierung um das Jahr 2020 herum geändert zu haben scheint. Ob bei Black Lives Matter Protesten in den Vereinigten Staaten oder bei Protesten gegen Wahlbetrug in Belarus, wir sehen Menschen, die medizinische Masken tragen. Zeitgenossen werden natürlich wissen, dass die Masken als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie getragen wurden. Nichtsdestotrotz sehen wir, wie ein Mittel, das für eine Funktion – in diesem Fall die Kontrolle der Ausbreitung eines Virus – entwickelt wurde, einer anderen ebenso gut diente. Eine ähnliche Dynamik scheint bei einem Bild eines Demonstranten in Hongkong im Spiel zu sein, der einen Regenschirm als Schutzschild benutzt. In solchen Fällen scheint die Funktion der Form zu folgen, und die Kategorisierung eines Mittels ergibt sich weniger aus der Beschreibung seiner Eigenschaften als aus dem Zweck, für den es eingesetzt wird. In der Tat bietet die medizinische Maske dem Demonstranten gewisse Vorteile gegenüber anderen Formen der Vermummung. Wird eine Person, die eine medizinische Maske trägt, von der Polizei festgenommen, kann sie behaupten, sie sei aus Versehen in die Menge geraten – ein Argument, das bei einer Person, die eine andere Form der Verkleidung trägt, weniger glaubwürdig erscheint. Die Notwendigkeit, sich selbst und die Gemeinschaft vor dem Virus zu schützen, verschafft den Trägern medizinischer Masken eine plausible Bestreitbarkeit und damit ein zusätzliches Maß an Sicherheit. Dies wiederum ist ein strategischer Vorteil für die soziale Bewegung, denn wenn genügend Personen anonym bleiben, können sie sich an einem anderen Tag wieder versammeln.( 18 )

Soziale Medien – eine notwendige Gefahr?

Die klassische Studie dazu ( 19 ) ist Mancur Olson, The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1965.

( 20 ) Für eine zugängliche Besprechung siehe Gadi Wolfsfeld, Elad Segev, und Tamir Sheafer, „Social Media and the Arab Spring: Politics Comes First“, International Journal of Press / Politics Vol. 18, Nr. 2 (2013), S. 115–137.

Eine der Herausforderungen, mit denen die Organisatoren von Volksaufständen konfrontiert sind, besteht in der Überwindung der Schwierigkeiten effektiver kollektiver Aktionen. Wie bereits angedeutet, selbst wenn eine Gruppe die Motivation teilt auf die Straße zu gehen, um gegen bestimmte Ungerechtigkeiten zu demonstrieren, steht jede Einzelne vor der Frage, ob sie dies als eine der Ersten tun sollte und wird wahrscheinlich keine Verhaftung oder Schlimmeres riskieren, wenn sie befürchtet, dass andere zu Hause bleiben werden. Klassische Studien über Probleme kollektiven Handelns dieser Art weisen auf die Möglichkeit hin, sie durch verstärkte Kommunikation und Transparenz in Bezug auf das Verhalten der anderen in der Gruppe zu überwinden. Wenn unser Vertrauen in die Bereitschaft der anderen, sich dem Protest anzuschließen, steigt, werden wir selbst eher bereit sein, dies zu tun.( 19 ) Zahlreiche Bilder in Einsdreissig lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Allgegenwärtigkeit der mobilen Kommunikation im 21. Jahrhundert. Mobiltelefone sind omnipräsent und ermöglichen es dem Einzelnen, seine Aktivitäten zu koordinieren und über die Aktivitäten anderer zu berichten. Mit dem Aufkommen von Smartphones, die mit dem Internet verbunden sind, beschränkt sich die mobile Kommunikation nicht mehr nur auf Anrufe zwischen Einzelpersonen, sondern umfasst auch schriftliche Texte, Diskussionen zwischen Mitgliedern einer Gruppe sowie das Veröffentlichen von Fotos und Videobildern auf webbasierten Plattformen, die von jedem mit Internetzugang angesehen werden können. Das Potenzial dieser neuen Kommunikationsformen für die Dokumentation von Gräueltaten, die Lösung von Problemen kollektiver Aktionen und die Umgehung traditioneller staatlicher Überwachungsmechanismen wurde schnell erkannt. Die neuen Technologien schienen sozialen Bewegungen leistungsfähige Werkzeuge für die schnelle und relativ kostengünstige Rekrutierung, Mittelbeschaffung, kollektive Diskussionen und Mobilisierung für gewisse Aktionen zu bieten. Viele argumentieren, dass die Proteste des sogenannten Arabischen Frühlings ohne diese neuen Kommunikationsmittel weniger wahrscheinlich gewesen wären.( 20 ) Und es war die Videoaufnahme eines Beobachters der Ermordung von George Floyd am 25. Mai 2020 durch aggressive Polizeitaktiken, die der Black Lives Matter Bewegung in den Vereinigten Staaten Auftrieb gab. Die Macht der sozialen Medien, eine große Zahl unzufriedener Bürger zu organisieren, ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Denn inzwischen haben autoritäre

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Regime gelernt, soziale Medien zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Einige Wissenschaftler sprechen bereits von einem Zeitalter der „intelligenten Repression“, in dem autoritäre Regime soziale Medien zur Überwachung und Unterdrückung der Opposition nutzen.( 21 ) Die Überwachung sozialer Medien und ihre Nutzung, um auf bestimmte Personen abzuzielen, ist attraktiv, da sie den Regimen eine Möglichkeit zur Unterdrückung bietet, ohne auf rohe Gewalt zurückzugreifen. Während des Arabischen Frühlings beispielsweise erstellten Sicherheitskräfte, die dem autoritären sudanesischen Führer Omar al-Bashir treu ergeben waren, eine Facebook-Ankündigung, die wie ein von jungen Aktivisten organisierter Protestaufruf aussehen sollte. Diejenigen, die sich daran beteiligten, wurden von den Sicherheitskräften zusammengetrieben und verhört. Die Verhöre und der Zugriff der Behörden auf die Kontakte der Demonstranten in den sozialen Medien führten zu noch mehr Verhaftungen.( 22 ) Weil sie wissen, wie wichtig soziale Medien und das Internet für die Bewältigung der Herausforderungen kollektiven Handelns sind, unterbrechen autoritäre Regime in Zeiten erhöhter sozialer Spannungen routinemäßig den Internetzugang. Dies hat nicht nur den Effekt, dass die organisatorischen Aktivitäten von Regimegegnern behindert werden, sondern kann auch zu einer größeren Bereitschaft autoritärer Regime führen, Gewalt gegen Zivilisten anzuwenden, die nicht in der Lage sind, Beweise für gewaltsames Vorgehen zu dokumentieren und zu verbreiten.( 23 ) Dies war das Muster in Myanmar. Nach dem Staatsstreich vom Februar 2021 begann das Militär mit dem strategischen Einsatz von Internetunterbrechungen. Sie unterbrachen routinemäßig den Internetzugang und mobilen Telefonservice für eine gewisse Zeit, um die Koordination und Planung unter den Regimekritikern zu verhindern, ließen sie dann aber wieder zu, um ihre eigene Propaganda zu verbreiten und die Öffentlichkeit in Angst zu versetzen. Obwohl soziale Medien eindeutig nützlich sind, um die Hindernisse für kollektives Handeln zu überwinden, stellen sie auch eine Gefahr für diejenigen dar, die versuchen, autoritäre Regime zu stürzen. Wie die Harvard-Politologin Erica Chenoweth feststellt: „Bewegungen, die verstehen, wie das Informationsumfeld gegen sie manipuliert wird, und alternative Kommunikationsmethoden finden, sind möglicherweise besser in der Lage, ihre Dynamik trotz Abschaltungen aufrechtzuerhalten.“ ( 24 )

Was oder wer fehlt? In Einsdreissig verschleiert Monika Huber absichtlich vieles von dem, was in den Videos der Journalisten festgehalten ist. Sie scheint unseren Blick auf Elemente der Bilder zu lenken, die sie für wichtig hält oder die zumindest einer weiteren Betrachtung wert sind. Doch je länger man die Bilder betrachtet, sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit, desto mehr stellt sich die Frage, was oder wer fehlt, entweder durch den Entwurf der Künstlerin, den Fokus der Reporter oder vielleicht durch Zufall. Lassen Sie mich nur ein Beispiel anführen, das ich aber für wichtig halte. Mit Ausnahme einiger Frauen, bei denen man annehmen kann, dass es sich um Mütter handelt, fehlen auf diesen Bildern auffallend viele Personen mittleren oder höheren Alters. Die Proteste, so scheint es, werden von jüngeren Männern dominiert. Wo sind die reiferen Mitglieder der abgebildeten Gesellschaften? Es scheint verständlich, dass die wirklich Gebrechlichen sich nicht an öffentlichen Aufständen beteiligen, aber es ist keineswegs selbsterklärend, dass die Väter der jungen Männer und Frauen, die sich entschieden haben, auf die Straße zu gehen, nur selten zu sehen sind. Missbilligen sie die Aktionen ihrer Nachkommen, entweder weil sie deren Anliegen nicht teilen oder weil sie die wahrscheinlichen Ergebnisse der Proteste weniger optimistisch einschätzen? Warum scheinen die Proteste – mit der interessanten Ausnahme von Belarus – von jüngeren Männern dominiert zu werden, vor allem wenn es zu Gewalt kommt? Ja, in Einsdreissig sind auch Frauen zu sehen. Aber sie scheinen häufiger vor den Protesten zu fliehen oder sich im Gewahrsam der Sicherheitskräfte zu befinden, als Steine und Molotowcocktails zu werfen, Reifen zu verbrennen oder sich an anderen gewalttätigen Widerstandshandlungen zu beteiligen. Natürlich gibt es keine einheitliche Vorgehensweise für solche Fragen. Man könnte zunächst versuchen, die Motivationen der einzelnen Personen zu ergründen, die auf den verschiedenen Bildern zu sehen sind. Aber ich denke, das würde uns von dem wichtigeren Gesamtbild ablenken. Anstatt zu fragen, warum sich einzelne Männer oder Frauen einem Protest anschließen, sollten wir eher fragen, warum sich Männer und Frauen als identifizierbare Gruppen zu verhalten scheinen.

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( 21 ) Lester R. Kurtz und Lee A. Smithey, „Smart Repression“, in L.R. Kurtz und L.A: Smithey (Hrsg.), The Paradox of Repression and Nonviolent Movements, Syracuse, NY: Syracuse University Press, 2018, S. 185.

Die beste Arbeit dazu ( 22 ) stammt von Erica Chenoweth. Siehe Chenoweth, Civil Resistance: What Everyone Needs to Know, Oxford: Oxford University Press, 2021. Das Beispiel stammt aus ihrer Arbeit.

Anita R. Ghodes, „Pulling ( 23 ) the Plug: Network Disruptions and Violence in Civil Conflict“, Journal of Peace Research Vol. 52, Nr. 3 (Februar 2015), S. 352–357.

( 24 ) Brian Lau, „Histories of Violence: Does Civil Resistance Still Work?“ Los Angeles Review of Books (16 September 2021). Aufrufbar online unter: https://lareviewofbooks.org/article/histories -of-violence-does-civil-resistance-still-work, (Link nicht mehr aufrufbar).

( 25 ) Vera Taylor, „Gender and Social Movements: Gender Processes in Women’s Self Help Movements“, Gender and Society Vol. 13, Nr. 1 (Februar 1999), S. 8–33. ( 26 ) Paromita Sen, Catalina Vallejo und Denise Walsh, Opposition to Women’s Participation in Politics and Society. Report for the Poverty, Violence and Inequality Lab. University of Virginia, Charlottesville, VA, März 2019. Für eine Analyse der ( 27 ) Politisierung von Frauenkörpern, die durch diese Episode inspiriert wurde, siehe Sherine Hafez, „Bodies That Protest: The Girl in the Blue Bra, Sexuality, and State Violence in Revolutionary Egypt“, Signs Vol. 40, Nr. 1 (Herbst 2014), S. 20–28. ( 28 ) Kenneth Tardiff und Attia Sweillam, „Assault, Suicide, and Mental Illness“, Archives of General Psychiatry Vol. 37, Nr. 2 (Februar 1980), S. 164–169. ( 29 ) Margo Wilson und Martin Daly, „Competitiveness, Risk Taking, and Violence — The Young Male Syndrome“, Ethnology and Sociobiology Vol. 6, Nr. 1 (1985), S. 59–73. ( 30 ) Siehe zum Beispiel Ian W. Craig und Kelly E. Halton, „Genetics of Human Aggressive Behaviour“, Human Genetics Vol. 126, Nr. 1 (Juni 2009), S. 101–113; und Rose McDermott et al., „The `Warrior Gene´(MAOA) Predicts Behavioral Aggression Following Provocation“, Proceedings of the National Academy of Science Vol. 106, Nr. 7 (17 Februar 2009), S. 2118–2123.

Aus der Geschlechterforschung wissen wir, dass Geschlechterhierarchien so allgegenwärtig sind, dass selbst in sozialen Bewegungen, die den Anspruch erheben, inklusiv zu sein, die Mobilisierungs- und Führungsmuster sowie die Ergebnisse geschlechtsspezifische Verzerrungen aufweisen.( 25 ) Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dokumentieren weit verbreiteten Widerstand und Rückschläge gegen die politische Beteiligung von Frauen, gerade weil sie Frauen sind.( 26 ) Einsdreissig dokumentiert mindestens einen Fall, der mit solchen Argumenten übereinstimmt. Als im Dezember 2011 der blaue BH einer jungen Frau, die von Sicherheitskräften vom Kairoer Tahrir-Platz geprügelt, getreten und geschleift wurde, auf den Videoübertragungen des Protests zu sehen war, machten viele in den sozialen Medien die Frau dafür verantwortlich, dass sie sich in eine Situation begeben hatte, die zu einer solchen Unbescheidenheit führte.( 27 ) Solche Diskussionen scheinen nicht durch ähnliche Bilder von jungen Männern ausgelöst worden zu sein (Belarus, Türkei, Myanmar). Andere verweisen auf den Einfluss von Genetik und Evolution auf die in Einsdreissig dargestellten Verhaltensweisen. Ältere Studien legen nahe, dass Männer im Allgemeinen zehnmal häufiger gewalttätig werden als Frauen.( 28 ) Aus Sicht der Evolutionstheorie ist dies wahrscheinlich ein Erbe der unterschiedlichen Strategien, die Männer und Frauen zum Überleben und zur Fortpflanzung anwenden. Obwohl die Ergebnisse oft nicht so eindeutig sind, wie wir es uns wünschen, und die Daten manchmal widersprüchlich sind, beziehen sich viele Wissenschaftler auf das „Young Male Syndrome“, ein Konzept, das die Tatsache erfasst, dass Männer im Alter zwischen 12 und 25 Jahren sowohl die Haupttäter als auch die Opfer von Gewaltverbrechen sind.( 29 ) In jüngerer Zeit hat die Wissenschaft damit begonnen, individuelle und gruppenspezifische Unterschiede in der Gewaltbereitschaft sowohl im Hinblick auf evolutionsgenetische als auch auf epigenetische Einflüsse zu untersuchen.( 30 ) Das Verständnis der Geschlechter- und Altersdynamik, die die in Einsdreissig gezeigten Bilder zu durchdringen scheint, ist nicht nur für die Erklärung der Ursprünge der verschiedenen Volksaufstände wichtig, sondern vielleicht auch für die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu einem dauerhaften politischen Wandel führen werden.

Antworten finden Wie sollte ein Politikwissenschaftler an eine Sammlung wie Einsdreissig herangehen? Es gibt sicherlich viele Möglichkeiten, dies zu tun. Ich habe mich dafür entschieden, meine Überlegungen zu Einsdreissig um den Begriff des Verhörs herum zu strukturieren, da die Bilder bestimmte Personen „einfangen“, die an öffentlichen Aufständen beteiligt sind – entweder als Demonstranten, Sicherheitskräfte oder Schaulustige. Aber in welchem Sinne kann man diese Personen wirklich verhören? Schließlich können sie meine Fragen nicht beantworten. Vielleicht ist die Metapher der Gefangennahme falsch? Vielleicht befreit Monika Huber durch ihre Gestaltung und Umgestaltung der verschiedenen Bilder, aus denen sich die Sammlung zusammensetzt, die porträtierten Personen, indem sie sie aus dem „Dort und Damals“ ins „Hier und Jetzt“ holt? Damit provoziert sie uns, Fragen zu stellen, auf die nur wir Antworten geben können. Befragen wir uns eigentlich selbst? Könnte es sein, dass wir diejenigen sind, die sie gefangen genommen hat? Aus dem Englischen übersetzt von Konstantin Schendzielorz

Was geht hier vor sich?

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Die semantische Verfügbarkeit von Bildern im Archiv Einsdreissig Ernst van Alphen

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Ernst van Alphen ist Kulturanalytiker und lebt in Amsterdam und Paris. Er hat zahlreiche Publikationen über Archivorganisationen veröffentlicht, zum Beispiel in seinem Buch Staging the Archive, Art and Photography in Times of New Media (Reaktion Books 2014) und Productive Archiving (Valiz 2023). Weitere Publikationen: Failed Images, Photography and its Counter-Practices (Valiz 2018), Shame! and Masculinity (Valiz 2020), Seven Logics of Sculpture (Valiz 2022).

Ein Archiv ist nicht nur ein nützliches Instrument, mit dem Historiker:innen und auch andere Wissenschaftler:innen arbeiten. Die Organisation eines Archivs beinhaltet auch Probleme und es kann für unlautere Absichten missbraucht werden. Einige Archivierungspraktiken können als Schubladendenken gesehen werden, durch das Einzigartigkeit und Individualität verloren gehen. Und Völkermorde wie der Holocaust wurden als große archivarische Unternehmungen organisiert, die die Identitäten von Jüdinnen und Juden sowie weiteren Menschen in Schubladen steckten. In den Konzentrationslagern erstellten die Nazis fanatisch Listen all jener Menschen, die in die Lager kamen, egal ob sie nun in die Arbeitslager oder direkt in die Gaskammern geschickt wurden. Diese Listen sind den Katalogen nicht unähnlich, die es Besucherinnen und Besuchern eines Archivs oder eines Museums ermöglichen, sich über die Bestände der Sammlung zu informieren. Dank dieser Listen war es nach der Befreiung in vielen Fällen möglich herauszufinden, ob die Häftlinge den Holocaust überlebt hatten, und wenn nicht, in welchem Lager und an welchem Tag sie getötet worden waren. Bei ihrer Ankunft bekamen die neuen Häftlinge eine Nummer auf den Arm tätowiert. Sie wurden somit in archivierte Objekte verwandelt. Sie waren nun nicht mehr Individuen mit einem Namen, sondern Objekte mit einer Eingangsnummer. Wie Objekte in einem Archiv oder Museum wurden sie durch die Tätowierung als überprüfbare Elemente einer Sammlung klassifiziert. Beim Eintritt in die Lager wurden sie ebenfalls in Gruppen eingeteilt: Männer zu Männern, Frauen zu Frauen; Kinder, alte Menschen und schwangere Frauen kamen direkt in die Gaskammern. Ebenfalls internierte politische Häftlinge und Widerstandskämpfer:innen wurden nicht mit Juden und Jüdinnen gemischt. Künstler:innen, Musiker:innen, Architektinnen und Architekten wurden in der Regel in Lager wie Theresienstadt geschickt. Das Auswählen und Sortieren auf der Grundlage festgelegter Kategorien zählt zu den elementaren archivarischen Tätigkeiten. Vor allem Künstler:innen sind es, die sich in den letzten Jahren mit dem Problem der Organisation von Archiven auseinandersetzen. Obwohl die frühesten Beispiele solcher Archivkunstwerke auf die 1930er-Jahre zurückgehen, als Marcel Duchamp sein eigenes Werk archivierte, werden archivarische Prinzipien seit den 1960er-Jahren zunehmend von bildenden Künstler:innen benutzt, um ihre Arbeit zu untermauern, zu strukturieren oder zu gestalten. Ihre künstlerischen Praktiken bestehen darin, Archive zu untersuchen oder zu konstruieren, und ihre Werke gehen ebenfalls aus Archivmaterialien hervor. Ein Archiv für künstlerische Arbeiten zu verwenden, bedeutet jedoch keine unreflektierte Instrumentalisierung des Archivs als künstlerisches Medium. Im Gegenteil, diese künstlerischen Arbeiten hinterfragen die Prinzipien, Behauptungen, Potenziale und Effekte eines Archivs. In der Praxis ergründen Künstler:innen die Aussagekraft des Archivs, indem sie es gegen den Strich lesen. Die Befragung durch Künstler:innen kann auf strukturelle und funktionale Merkmale gerichtet sein, die der Nutzung eines Archivs zugrunde liegen; sie kann jedoch auch zur Einführung einer anderen Archivstruktur führen, um eine archäologische Beziehung zu Geschichte, Beweisen, Informationen und Daten herzustellen – zu einer Struktur, die ihre eigenen Interpretationskategorien erzeugt. Die Arbeit der deutschen Künstlerin Monika Huber kann als Befragung der restriktiven Folgen der Archivorganisation gelesen werden. Der Titel des von ihr aufgebauten Bildarchivs, Archiv Einsdreissig, bezieht sich auf die journalistische Bezeichnung für die durchschnittliche Zeit, die ein Beitrag in einem Nachrichtenblock zur Verfügung hat, um alle wesentlichen Informationen über ein Ereignis zu vermitteln: eine Minute und dreißig Sekunden. Monika Huber fotografiert Nachrichtenbilder von weltweiten öffentlichen Protesten, den damit verbundenen Reaktionen und deren Konsequenzen. Doch sie macht mehr, als diese Bilder nur in ihrem Archiv zu sammeln. Sie übermalt Teile der Bilder, um die Aufmerksamkeit auf die Schlüsselszenen zu lenken. Da das fotografische Bild – wie auch das Archiv – „alles“ erfassen soll, sind gerade Fotografien aufgrund dieser Nicht-Selektivität oft schwer zu lesen. Monika Hubers Bearbeitungen helfen uns, unseren Blick zu fokussieren und uns auf das zu konzentrieren, was wir tatsächlich sehen. Aber es ist noch mehr als das. Nachrichtenbilder bestehen wie fotografische Schnappschüsse von der Welt aus flüchtigen Bildern. Sie fangen Momentaufnahmen von Ereignissen ein, und sie sind schon wieder vorbei, bevor wir realisieren können, was wir gesehen haben. Indem Monika Huber diese ephemeren Bilder mit deutlich sichtbaren malerischen Gesten überlagert, hält sie diese fest, denn malerische Zeit und fotografische Zeit sind grundsätzlich voneinander verschieden. Ihre Malerei ist keine Momentaufnahme der Welt, sondern die Geste einer Künstlerin in der Gegenwart, die

Die semantische Verfügbarkeit von Bildern im Archiv Einsdreissig

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sich mit den Bildern der weltweiten Proteste auseinandersetzt. Monika Hubers malerische Bearbeitung der Bilder in ihrem Archiv legt nahe, dass das Betrachten dieser Bilder nicht flüchtig sein sollte, wie die Bilder selbst, sondern langsam und konzentriert. Wir sollten uns dessen bewusst sein, was wir sehen, und wenn möglich sogar darauf reagieren. Das Betrachten eines Bildes ist nicht dasselbe wie das Sehen eines Bildes; mit ihren übermalten Fotografien versetzt Monika Huber uns in die Lage zu sehen. Aleida Assmann hat eine nützliche Unterscheidung zwischen Funktionsarchiven und Erinnerungsarchiven getroffen. Funktionsarchive speichern, was in der Gegenwart gebraucht wird. Medizinische Dossiers, Akten der Polizei, des Finanzamts oder von Versicherungen sind gute Beispiele für funktionale Archive. Auch die Art und Weise, wie die Nutzer:innen neuer Medien, zum Beispiel Facebook, archiviert werden, ist Teil eines funktionalen Archivs: Die daraus resultierenden Daten werden an Unternehmen verkauft, um Nutzer:innen gezielt zu Kaufentscheidungen zu bewegen. Mit Assmanns Worten: „Funktionale Archive sind die Infrastruktur und die Kontrollinstrumente, die die Gegenwart steuern und aufrechterhalten.“( 1 ) Diese Gegenwart ist nicht die Gegenwart, in der sich Erinnerungsprozesse abspielen, sondern die Gegenwart, in der der Staat seine Bürger:innen kontrolliert oder kapitalistische Unternehmen ihre potenziellen Kundinnen und Kunden umwerben. Im Zusammenhang von Michel Foucaults Unterscheidung zwischen dem klassischen und dem modernen Archiv könnte man sagen, dass das moderne Archiv ausschließlich funktional ist. Das Speicherarchiv wäre dann das Äquivalent zu dem, was Foucault das klassische Archiv nennt. Assmann definiert die Speicherarchive nach einer anderen Logik: Sie entstehen, wenn das, was für die Gegenwart nicht mehr von Interesse oder relevant ist, aussortiert, aber nicht gleich weggeworfen wird: Es wird dann in einem Archiv, einem Museum, einer Bibliothek aufbewahrt. Die Funktion der Speicherarchive liegt zunächst in der Historisierung beziehungsweise in der Wiederherstellung und Aktivierung des Erinnerns. Es liegt auf der Hand, dass Monika Hubers Archiv Einsdreissig ein Speicherarchiv ist, weil es auf ganz spezifische Weise Erinnerungen ermöglicht und aktiviert. Wie funktioniert das? Monika Hubers Archiv enthält etwa 40.000 ausgestrahlte Nachrichtenbilder, von denen sie mehr als 700 für das Archiv Einsdreissig ausgewählt hat. Dieses Archiv enthält überarbeitete Nachrichtenbilder in verschiedenen Bearbeitungsversionen. Alle Personen werden durch dieselbe künstlerische Bearbeitung der Fotografien gleichbehandelt: Sie sind nicht nach Motiven geordnet, sondern nach Wiederholungen und Unschärfen. Man könnte sagen, dass die Ordnung der Bilder in diesem Archiv nach einer bestimmten Bildgrammatik erfolgt. Alle Bilder sind mit einem Datum und einer Nummer versehen, außerdem mit dem Datum der Aufnahme, dem Datum der Bearbeitung, dem Land, in dem sie fotografiert wurden, und wichtigen Informationen über das auf dem Bild dargestellte Ereignis. Die Bilder können im Archiv mit Suchbegriffen wie Menschen, Frau, Mann, Land, Protest, Krieg, Waffen, Kopf, Fuß, Arme hoch, Rauch, Unschärfe, Straße, Gesten, Bewegung, Text usw. miteinander verknüpft werden. Diese Suchbegriffe sind nicht historisch spezifisch, sondern beziehen sich auf bestimmte Elemente oder Motive, die auf den Bildern zu sehen sind. Und sie beziehen sich auf die Bilder, nicht auf die dargestellten historischen Ereignisse. Andere Suchbegriffe beschreiben den Winkel, aus dem die Kamera das Bild aufgenommen hat, so beispielsweise „von oben“ oder „von hinten“. Obwohl es sich bei den Suchbegriffen ausschließlich um formale Angaben zu Bildelementen handelt, eröffnen diese auch Querverbindungen zu anderen Bildern aus verschiedenen Ländern und Aufnahmezeiten. Dies wiederum ermöglicht die Entdeckung neuer Perspektiven auf historische oder politische Ereignisse, basierend auf einer Kombination von künstlerischen, ästhetischen und formalen Kriterien. Es ist vor allem die Frage nach der Homogenisierung und der Klassifizierung, die diese Form der künstlerischer Archivierungspraxis herausfordert. Eine archivarische Organisation, um alternative historische Narrative und Wissen zu untersuchen. Monika Huber interessiert sich für das, was Allan Sekula die semantische „Verfügbarkeit von Bildern“ ( 2 ) genannt hat, was bedeutet, dass sich die Bedeutung eines Archivs im Lauf der Zeit ändern und die Geschichte neu geschrieben werden kann. Monika Hubers künstlerisches Archiv ist kein objektives System, das die Vergangenheit oder die Welt inventarisiert und ordnet. Vielmehr schafft es neue mögliche Erzählungen über Ereignisse, die sowohl vergangen als auch noch aktuell sind. Um das kritische und kreative Potenzial von Hubers Archiv Einsdreissig besser zu verstehen, werde ich es mit einer anderen Praxis einer künstlerischen Archivierung vergleichen, nämlich mit dem archivierten Künstlerbuch: Nr. 235 / Encyclopedia

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Ernst van Alphen

( 1 ) Aleida Assmann, „Das Archiv als Labor für Neues”, in: Ernst van Alphen (Hrsg.), Productive Archiving, Amsterdam: Valiz, 2023.

( 2 ) Allan Sekula, „Ein Archiv lesen: Fotografie zwischen Arbeit und Kapitalismus“, in: Liz Wells (Hrsg.), The Photography Reader, New York: Routledge, 2003, S. 443–452.

( 3 ) Siehe Ernst van Alphen, „Introduction“, in: ders., Staging the Archive, Art and Photography in the Age of New Media, London: Reaktion Books, 2014, S. 7–20 (Kap. „Das fotografische Bild als Archiv betrachten“). ( 4 ) Annet Dekker, „Archivarische Identität, oder ein Spaziergang im Park“, in: van Alphen 2023 (wie Anm. 1).

of an Allotment (2010) der niederländischen Künstlerin Anne Geene. Dieses Buch sieht aus wie ein taxonomisches Werk, doch es konzentriert sich nicht auf die herkömmlichen Kategorien der Pflanzen- und Tierwelt – Kategorien wie Insekten, Säugetiere oder Gartenpflanzen werden nicht verwendet. Das Buch ist in drei Teile gegliedert; der dritte Teil enthält zum Beispiel alle möglichen Messungen, wie das Gruppenverhalten von Schnecken, die Geschwindigkeit von Enten, die Tarnung von Fröschen und die Auswirkungen von Sonnenlicht auf Blätter. Geenes Ansatz erinnert an den einer Wissenschaftlerin oder Biologin. Da sie aber vor allem Künstlerin ist, basiert ihr taxonomischer Blick ausschließlich auf dem, was man sehen kann, auf visuellen Ähnlichkeiten, Kontrasten und Mustern. Wichtig ist, dass nicht nur das Buch selbst ein Archiv ist, sondern dass sie auch die Fotografien in ihrer taxonomischen Sammlung als Archive behandelt. Sie selbst sagt: „Ich sehe die Fotografie als einen Träger von Informationen, mit denen man verschiedene Geschichten erzählen kann.“ Dasselbe lässt sich auch generell über Archive konstatieren.( 3 ) Die Unterschiede zwischen dieser künstlerischen Taxonomie und wissenschaftlichen Taxonomien bieten ganz neue, überraschende Einsichten, zum Beispiel, dass man „Schnecken nicht als ekelhafte Feinde betrachten muss, die es auf meinen kostbaren Salat abgesehen haben, sondern als interessante Mitglieder einer Gemeinschaft, die sich vielleicht nach bestimmten Regeln bewegen, die ich nicht kenne.“ ( 4 ) Monika Hubers Archiv Einsdreissig hat mit dem Künstlerbuch von Anne Geene gemeinsam, dass Fotografien als potenzielle Erzähler einer Vielzahl von Geschichten verstanden werden können, anstatt nur ein einziges Ereignis festzuhalten. Indem Monika Huber die Bilder jedoch mit malerischen Gesten bearbeitet, lenkt sie bereits die Art und Weise des Betrachtens und deutet neue Erzählungen an, die sich in ihrer gesamten Bildersammlung wiederfinden. Ihr wichtigster Eingriff ist allerdings die formale, ästhetische Organisation des Archivs Einsdreissig, da es die semantische Verfügbarkeit dieser Bilder am produktivsten freisetzt. Der Vergleich zwischen Anne Geenes No. 235 / Encyclopedia of an Allotment und Monika Hubers Archiv Einsdreissig scheint auf den ersten Blick ein wenig absurd zu sein, denn Monika Hubers Projekt befasst sich mit wichtigen menschlichen Belangen und Politik, während sich Anne Geenes Archivprojekt unbeschwert auf ihren kleinen Garten und ihre idiosynkratischen Beobachtungen darin konzentriert. Jedoch liegt die Bedeutung beider Projekte nicht darin, WAS sie in ihren Archiven sammeln, sondern WIE sie dies tun. Die engen Vorgaben der Archivorganisation werden in beiden Projekten dekonstruiert, indem die Ordnung auf Grundlage unerwarteter und manchmal sogar trivialer Kriterien erfolgt. Und es sind diese ungewohnten Kriterien, aufgrund derer die Betrachter:innen respektive Leser:innen beginnen, neue Erkenntnisse zu gewinnen, statt das zu erkennen, was wir bereits wissen. Aus dem Englischen übersetzt von Monika Huber

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Nicht die Augen verschließen! Ute Schaeffer

Ute Schaeffer ist Journalistin und Publizistin mit dem Schwerpunkt Internationale Politik und Zusammenarbeit. Sie leitete beim deutschen Auslandssender Deutsche Welle die Afrika-Programme und war dort Chefredakteurin, bevor sie in die Entwicklungszusammenarbeit wechselte. Als stellvertretende Leiterin der DW-Akademie setzte sie sich international für das Recht auf den freien Zugang zu Information und journalistische Professionalisierung ein. In ihrem Buch Fake statt Fakt, wie Bots, Populisten und Trolle unsere Demokratie angreifen beschreibt sie die destruktiven Effekte von Desinformation auf Demokratien. Ute Schaeffer leitet die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). 40

Mehr Information, unter: www.uteschaeffer.de.

Eine Minute und dreißig Sekunden. Eine große Meldung im Strom der Nachrichten! Die dafür sorgt, dass ein Thema wahrgenommen wird. Einsdreissig ist lang! Einsdreissig ist aber auch kurz. Weshalb sich Korrespondentinnen, Korrespondenten, Reporterinnen und Reporter klare Fragen beantworten müssen, wenn sie einen solchen Filmbeitrag für eine Nachrichtensendung produzieren: „Was wissen meine Zuschauer:innen  über das, was ich berichten will? Wie wird meine Meldung relevant für sie? Welches Bild steht für meinen Nachrichtenkern?“

Bilder sind der Schlüssel Gibt es starke Bilder, dann wird sich die Nachricht schnell verbreiten: Die Bilder der protestierenden Menschen auf dem großen Tahrir Platz in Kairo 2012. Das Bild der ägyptischen Demonstrantin Hend Nafea, die dort von bewaffneten Sicherheitskräften zu Boden geprügelt wird. Und dann mit entblößtem, nur mit einem blauen BH bekleideten Oberkörper von ihnen davongetragen wird. Das Bild schaffte es bis auf den Titel der New York Times. Die brennenden Autoreifen auf dem Kiewer Maidan, aufgebaut von Demonstrierenden waren 2014 über Tage der Aufmacher während der Proteste gegen das ukrainische Janukowitsch-Regime. Das Selfie des damals 18-jährigen syrischen Flüchtlings Anas Modamani mit der Bundeskanzlerin in Berlin steht bis heute für die ankommenden Flüchtlingsströme 2015. Der leblose Körper des kleinen syrischen Jungen Alan Kurdi, der vor sechs Jahren tot am Strand von Bodrum gefunden wurde, für die menschlichen Katastrophen dahinter. Die belarussischen Demonstrierenden mit ihren weißen Blusen oder Kleidern, welche die Protestzüge 2020 anführten und Blumen und die weiß-rot-weiße Flagge hochhielten, für eine mutige Zivilgesellschaft, die sich gegen die Diktatur auflehnt. Diese Bilder vergessen wir so schnell nicht. Sie werden zu Schlüsselbildern für einen großen und komplexen Zusammenhang. Und fügen sich zu einer regelrechten Ikonographie nachrichtlicher Ereignisse zusammen. Diese Bilder prägen das kollektive Gedächtnis auch über Jahrzehnte: Die einstürzenden Wolkenkratzer 9/11. Der einzelne Widerstandskämpfer, der sich mutig gleich mehreren Panzern auf dem TiananmenPlatz 1989 entgegenstellt. Sogar das Bild der Panzer, die 1968 im Prager Frühling die Demokratiebewegung niederwalzten, erinnern wir noch, weil es zum zeitgeschichtlichen Dokument wurde. Ereignisse, für die es keine Bilder gibt, werden hingegen kaum wahrgenommen. Und leicht vergessen. Wie das Massaker von Hama in Syrien, als am 2. Februar 1982 Truppen der syrischen Armee im Auftrag des syrischen Präsidenten Hafis alAssad die Stadt angriffen. In den folgenden Wochen wurden in der Stadt und Region, die als Rückzugort der Muslimbrüderschaft galt, unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 10.000 und 40.000 Menschen getötet. Es gibt keine Bilder zur Folter durch Elektroschocks und brutale Schläge, die Hend Nafea durchleiden musste, nachdem die Sicherheitskräfte sie mit Gewalt aus den Protesten auf dem Tahrir-Platz gezogen hatten. Keine Bilder zu ihrer späteren Verurteilung zu einer Haftstrafe als Dissidentin. Solche Ereignisse werden in trockenen und kurzen Meldungen berichtet – und meist nur in Textform. Doch Nachrichten ohne Bilder verbreiten sich kaum. Mangels Visualisierung werden sie nicht genutzt, nicht geteilt und erreichen die meisten Menschen nicht. Der Krieg in der Ukraine zeigt: Bilder sind ein entscheidendes Mittel der Kriegsführung – sie entscheiden über Geschlossenheit, Unterstützung, taktische, politische und letztlich sogar militärische Fort- und Rückschritte. Unermüdlich, mutig und entschieden auf ihre Zielgruppen zugeschnitten wendet sich die Ukraine an die internationale Gemeinschaft. Sie appelliert an deren Verantwortung, an die gemeinsame Verpflichtung, das Völkerrecht und die Menschenrechte zu achten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky, seine Minister und der Bürgermeister von Kiew und berühmte Ex-Boxer Vitali Klitschko, nutzen alle Arten der digitalen Kommunikation. Sie übermitteln Nachrichten in Echtzeit über Twitter und wenden sich per Videoschaltung an Parlamente in Europa, den USA und der UNO – eine Kommunikation, die sowohl nach innen als auch nach außen signalisiert, dass die Ukraine nicht aufgibt. Diese Bilder und diese Kommunikation sorgen dafür, dass der Krieg in der Ukraine nicht von den Bildschirmen und aus den Schlagzeilen der europäischen Öffentlichkeit – und von deren politischer Agenda – verschwindet. So wie es in Georgien und Abchasien passierte und auch mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland 2014 – oder mit den grausamen Kriegsverbrechen in Syrien oder dem Irak.

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Alle diese Konflikte blieben für die Menschen im westlichen Europa fern, schwammig, unkonkret und wurden alsbald vergessen – weil es keine Bilder gab. Deshalb ist es nur logisch, dass Russland alles daran setzt, dass diese Bilder nicht verbreitet werden. Es hat in der Folge des Kriegsbeginns am 24.2.2022 alle unabhängigen Medien gestoppt: Facebook ist für die Nutzer:innen in der Russischen Föderation nicht mehr zugänglich, die wenigen unabhängigen Fernsehsender sind gesperrt, die Verbreitung internationaler Medien nicht mehr möglich. 140 Millionen Russinnen und Russen können keine unabhängigen Nachrichten empfangen und haben keinen Zugang zu freien Informationen. Nur die Propaganda des eigenen Regimes erreicht sie. Dort werden die Kriegsverbrechen von Butcha und Mariupol als „Inszenierungen“ seitens der Ukraine deklariert. Dort wird aus dem Angriffskrieg auf ein unabhängiges Nachbarland eine Abwehrschlacht gegen ein nationalsozialistisches Regime. Dort werden vor allem Bilder von Arbeiten an Infrastruktur, an Versorgung und Wiederaufbau – also von einem scheinbar „normalen“ zivilen Alltag in den annektierten Gebieten in der Ostukraine gezeigt, nicht aber die zerbombten Städte und die Skelette ausgebombter Wohnhäuser. In den verbliebenen staatlich kontrollierten russischen Medien werden prorussische Demonstrationen zum Tag des Sieges gezeigt werden, nicht aber traumatisierte ukrainische Menschen, die wochenlang in Kellern oder der Metro ausharren müssen, weil über ihnen russische Raketen einschlagen.

Bilder als Waffe im Krieg Die Unterstützung des Krieges durch die Mehrheit der russischen Bevölkerung zeigt, dass diese Strategie aufgeht. Der Kreml hat verstanden, dass es wesentlich darauf ankommt, ob Bilder verbreitet oder unterschlagen werden. Doch neben den Wirkungen innerhalb Russlands zielt diese Kommunikationsstrategie auch auf die westlichen Öffentlichkeiten. Wenn der russische Außenminister Lawrow behauptet, dass es „Neonazis in der ukrainischen Regierung“ gebe und „Juden die größten Antisemiten“ seien, dann ist sein Ziel, ohnehin bestehende Ressentiments gegen die USA oder gegen Jüdinnen und Juden zu schüren und die Glaubwürdigkeit der ukrainischen Führung zu untergraben. Der russische Informationskrieg verfolgt das Ziel, Zweifel zu säen und einen entsprechenden internationalen Resonanzraum zu schaffen. Mit der Unterschlagung und Instrumentalisierung von Bildern geht es also einerseits um Propaganda zur Stärkung der eigenen Position und andererseits um Schwächung, Zersetzung und Verzerrung der Fakten. Ein wirkungsvolles Mittel im Krieg. Denn es lenkt die Gegner von den eigentlich entscheidenden Fragen ab: Sanktionen? Waffenlieferungen? Umgang mit Russland? Und liefert stattdessen Futter für abseitige Debatten wie zum Beispiel die um „grüne Männchen auf der Krim“ 2014.

Nachrichtenwert wächst durch starke Bilder Weil der Wert einer Nachricht durch ein starkes Bild steigt, ist es Korrespondentinnen, Korrespondenten, Reporterinnen und Reportern ein Anliegen, ihr Thema mit aktuellen und authentischen Bildern zu transportieren. Sie setzen sich dafür ein, dass größere Themen aus ihrem Berichtsgebiet einen der wenigen „Einsdreissig“-Sendeplätze in den Nachrichtensendungen erhalten. Das aber müssen sie oft hart verhandeln mit den Redaktionen. Sie sind zwar als Berichterstatter:innen vor Ort – somit nah dran am Ereignis, an den Fakten und Hintergründen. Sie wissen, worum es geht und welche Bedeutung das Thema hat. Und haben dennoch mit harten Gegenargumenten zu tun: „Dein Thema interessiert die Zuschauer:innen in Deutschland nicht. Wo ist denn der Bezug zu Deutschland?“; „Davon habe ich noch nie gehört. Die Agenturen – dpa, reuters, ap – berichten das nicht“. „Wenn wir keine Bilder haben, dann können wir das nicht als größere Geschichte bringen.“ Wer als Korrespondent:in eine Redaktion überzeugen will, muss starke Bilder mitbringen – und wissen, welche Bilder funktionieren.

News is what is different ... Um zur „Einsdreissig“ zu werden, muss die Geschichte – und das Bild, das für sie steht – einen klaren „News Value“ haben. An den Kriterien dafür hat sich seit Beginn der Nach-

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richten-Berichterstattung nichts geändert: Ist die Nachricht aktuell? Ist sie relevant für die Zielgruppen? Passiert das Ereignis in der (gefühlten) Nähe zu den Nutzerinnen und Nutzern? Und – ganz entscheidend für das Ranking von Nachrichten als Top-Nachricht: Handelt es sich um eine Sensation? Denn „News is what is different!“ Zur Nachricht wird nur, was sich abhebt vom bereits Bekannten und Wiederkehrenden: Sensationen, Überraschendes und Skurriles, vor allem aber Katastrophen, Krieg und Gewalt. Ereignisse, die plötzlich auftreten, die schockieren oder erschrecken. Genau wegen dieses sensationellen Charakters wurden die weiter oben genannten Fotos zu ikonographischen Bildern. Das ist eine große professionelle Verantwortung – und es birgt auch Risiken. Mit den Bildern für diese Beiträge entscheidet sich, wie wir die Ereignisse betrachten. Es entscheidet sich, welche Fakten von wie vielen Menschen wahrgenommen werden. Es entscheidet sich, wie wir auf die Nachricht sehen, was wir für wichtig halten und was nicht. Bilder prägen unsere Wahrnehmung der Ereignisse und schaffen so einen Deutungsrahmen.

Die Rolle der Gatekeeper im Geschäft mit den Nachrichten Doch wer entscheidet, ob eine Nachricht eine Nachricht wird? Was eine Topmeldung wird? Welches Aufmacher-Bild die Medien dominiert? Gatekeeper in der Produktion von Nachrichten sind neben den Korrespondentinnen und Korrespondenten vor allem die Nachrichtenagenturen. Und die sind nicht frei von politischem Einfluss. Weltweit arbeiten rund 140 Nachrichtenagenturen und nur 20 von ihnen sind nicht staatlich abhängig. Für Europa gilt: die Mehrzahl internationaler Nachrichten wird durch die drei global agierenden Nachrichtenagenturen Associated Press (AP) und Thomson Reuter aus New York sowie AFP (Agence France Press) aus Paris generiert – und in Deutschland ist die deutsche Presse-Agentur (dpa) der Marktführer. Diese Nachrichtenagenturen wissen: Fakten sind ihre Währung, um sich im Nachrichtenmarkt zu behaupten. Falsche Informationen und fehlerhafte Recherchen würden nicht nur ihre Glaubwürdigkeit, sondern unmittelbar auch ihr Geschäftsmodell zerstören. Deshalb leisten sich diese professionellen Nachrichtenagenturen etablierte Korrespondentinnen- und Korrespondentennetze. Sie halten sich an klare redaktionelle Standards, um ihr Material zu prüfen, Bilder und Aussagen zu verifizieren durch eine weitere Quelle, bevor publiziert wird. Und sie nennen die Herkunft, wenn sie sich aus anderen Bildquellen bedienen. Eine solche Verifizierung ist allerdings für viele Bilder, die uns digital erreichen, nicht mehr gegeben. Denn schon seit den 1980er-Jahren veränderte sich der Markt rapide: Kostendruck, Leserschwund, ein gnadenloser Preiswettbewerb und digitale Vermarktung ließen multinationale Konzerne entstehen und eine Vielzahl von Online-Anbietern und Stockagenturen, welche mit ihren Millionen digital bereit gestellter Bilder eine harte Konkurrenz zu den redaktionell arbeitenden klassischen Nachrichtenagenturen sind. Und oft zum Einsatz kommen, weil sie wenig kosten.

Den Strom der Bilder anhalten Für TV-Bilder – auch die, mit denen Monika Huber arbeitet – gilt: starke Bilder sind dynamisch, handlungsorientiert. Nur solche Bilder werden vielleicht eines Tages als „ikonographische“ Bilder für ein historisches Ereignis stehen. Oft geben sie den Ereignissen ein Gesicht, zeigen vorzugsweise Menschen in Aktion. Das Bild muss auch ohne Text funktionieren und den Kern der Nachricht transportieren. Und während Zuschauer:innen die 1:30-Filmsequenz vielleicht in Eile oder abgelenkt auf ihrem Handy wahrnehmen, während sie Bus fahren, auf die U-Bahn warten oder kochen, geht Monika Huber in eine intensive Auseinandersetzung mit dem Bild: Sie fotografiert aus den kurzen Filmbeiträgen einzelne Nachrichtenbilder. Und hält so den Nachrichtenfilm an, hält inne und wählt ein Bild – als Grundlage für ihre weitere Überarbeitung. Dieser Schritt des Innehaltens und Auswählens ist wesentlich. Denn es ist auch eine Entscheidung für ein signifikantes Bild aus dem Strom der vielen. Während sich im 1:30-Nachrichtenfilm das einzelne Bild mit anderen mischt und sich möglicherweise verliert, entscheidet sich Monika Huber bewusst für ein Bild, einen Filmausschnitt, für einen ganz spezifischen Moment. Wie die kaltblütigen Erschießungen friedlicher Demonstrierender in Myanmar. Oder die Straßenkriegsszenen zwischen brennenden Barrikaden, in denen schwer

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bewaffnete Spezialkräfte mit ihren Schlagstöcken auf Demonstrierende einprügeln, ihre schweren Waffen auf sie richten oder sie mit Wasserwerfern beschießen. Sie wählt Bilder aus Belarus, die zeigen wie Demonstrierende von den Spezialkräften in Busse verfrachtet werden. Oder ein Bild aus Libyen, wo Rebellen, ihr Maschinengewehr hoch in die Luft haltend, sich als Sieger auf einem Pick-up zeigen. Es gibt eine Reihe von Bildern, die zeigen, wie Soldaten und Soldatinnen, Rebellinnen und Rebellen, Militärs oder Söldner:innen ihre Gewehre gezielt ausrichten, um Menschen zu erschießen – ob in Libyen, Venezuela oder dem Jemen. Die Motive sind sich ähnlich, der jeweilige politische und Länderkontext jedoch ist ganz unterschiedlich. Gewählt ist oft ein Moment von hoher Dynamik und Aktion. Ein dramatischer Augenblick, in dem Gewalt über das Bild gefriert. Bilder, die im übrigen auch in Europa zu finden sind. So zeigen einige Arbeiten, wie in Barcelona 2011 oder während der Gelbwesten-Demos in Paris Demonstrierende mit Gewalt auseinandergetrieben oder verhaftet werden. Diese Bilder wählt Monika Huber aus den 1:30-Nachrichtenfilmen aus. Seit 2011 sind sie Grundlage ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. Huber druckt die Bilder aus und verändert, überschreibt, übermalt sie. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem Ausgangsbild, bei der sich Monika Huber das Bild aneignet, es durchdringt, reflektiert und interpretiert.

Bilder aneignen, reflektieren und verwandeln Sie verwandelt den Prozess des Betrachtens, Wahrnehmens und der Reflexion der Bilder in einen künstlerischen Prozess. Dabei erscheint mir wichtig, wie Monika Huber die Bildauswahl selbst beschreibt: „Um den Hintergrund eines Bildes und dem dazugehörenden Tagesereignis nachzuforschen, sitze ich oft stundenlang und recherchiere in den online Tagesnachrichtenarchiven. Ich versuche den gesprochenen Kommentar mit dem Bild abzugleichen. Nicht immer kann ich die Szene tatsächlich entschlüsseln.“ Genauso ergeht es ja auch all jenen Nutzerinnen und Nutzern, die sich dem hochfrequenten Nachrichtenbilderstrom jeden Tag stellen. Mit ihren 1:30-Arbeiten löst Monika Huber neben der Frage nach dem Kontext des Bildes und seiner Authentizität und Lokalisierung auch sehr grundsätzliche und darüber hinausweisende Fragen aus: Welche Bilder werden von den Bildagenturen ausgewählt? Warum werden diese ausgewählt, andere nicht? Wie werden diese Bilder wahrgenommen? Wie verhält sich das Bild zu dem was passiert (ist)? Wann und nach welchen Kriterien wiederholen sich Bilder in so hoher Frequenz, dass sie – im negativen Fall – zum Klischee werden oder zu einem ikonographischen Bild für den nachrichtlichen Sachverhalt, das Ereignis? Monika Hubers künstlerische Arbeit setzt dem schnellen Nachrichtenkonsum die reflektierende künstlerische Reflexion und Überarbeitung entgegen. Und sie stellt uns damit als Betrachtenden die Frage, wie wir die Welt wahrnehmen und deuten.

Automatismen stören Monika Hubers Auseinandersetzung mit den Nachrichtenbildern stört die Automatismen und Gesetzmäßigkeiten, welche die schnelle Nutzung von Nachrichten kennzeichnen. Sie rückt eine Szene, einen Moment in den Fokus. Reduziert die Komplexität und Dynamik des Nachrichtenfilms auf ein Bild. Mit allen Konsequenzen, die das für die Betrachter:innen ihrer Arbeit hat: Das Bild nicht mehr im Kontext zu sehen. Es nicht übersehen, schnell vergessen oder verdrängen zu können. Zu versuchen, es wieder zuzuordnen – einem Ort oder einem Ereignis, das ich kenne. Und sie eröffnet dadurch die Chance, es völlig neu zu sehen. Damit lenkt sie den Blick darauf, dass eine Nachricht nur dann zur echten Information wird, wenn wir selbst genau das leisten: wir müssen sie verknüpfen, ihr Sinn und Bedeutung zuweisen. Ich muss mir die Nachricht als Information aneignen, mein Wissen damit ausbauen, sie vertiefen oder weiterentwickeln, indem ich an dem Thema dranbleibe.

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Bildauswahl Datenbanksuche Schlagwort: Schießen Von links nach rechts: #114_250711, Libyen #576_080521, Israel #527_191120, Syrien #590_141216, Syrien

#130_210811, Libyen #555_050719, Venezuela #377_160612, Syrien #276_201011, Libyen

#179_230911, Jemen #163_200811, Libyen #569_080119, Syrien #089_050311, Libyen

#635_021116, Irak #633_140813, Ägypten #645_090717, Deutschland #169_200911, Jemen

#088_290516, Syrien #156_200811, Libyen #400_090115, Frankreich #247_170911, Libyen

Zensur nimmt weltweit zu Wahr ist: Ein Ereignis wird nur zur Nachricht, wenn der Journalismus es durch Auswahl, Thematisierung, Verbreitung dazu macht. Und was passiert, wenn Journalismus das nicht tut? Weil keine Berichterstatter:innen vor Ort sind? Oder weil Krieg den Zugang verhindert? Oder weil journalistische Berichterstattung – wie in vielen Ländern auf der Welt so auch zum Beispiel in China oder Russland – verhindert wird?

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Einschränkungen der freien Berichterstattung, unabhängigen Journalismus, des Zugangs zu Informationen nehmen zu – und das weltweit. Auch das verleiht der intensiven Auseinandersetzung von Monika Huber mit den Nachrichtenbildern eine besondere Aktualität und für mich auch politische Relevanz. Wenn ein Journalist oder eine Journalistin in Hongkong von einer Demonstration berichtet, macht er sich strafbar und kann auf Grundlage des neuen sogenannten Sicherheitsgesetzes mit langen Haftstrafen belangt werden. Ähnliches geschah mit dem Militärputsch in Myanmar 2020: der gerade erst seit ein paar Jahren überhaupt existierende Journalismus wurde im Keim erstickt, mutige Journalistinnen und Journalisten verhaftet, terrorisiert, ermordet. In Russland werden seit Jahren unabhängige Medien staatlicherseits drangsaliert. Es wird ihnen die Lizenz entzogen. Ein Element in der Kampagne des Kreml gegen die Zivilgesellschaft, die mundtot gemacht werden soll. In diese reiht sich auch ein, dass die von Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow vor drei Jahrzehnten begründete Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich für die Aufarbeitung von stalinistischen Verbrechen und für den Respekt der Bürgerrechte einsetzt, zur Auflösung gezwungen wurde. Ebenfalls auf Grundlage eines neuen Gesetzes, das vorgibt, die Tätigkeit ausländischer Agenten zu unterbinden. Unabhängigen Journalismus gibt es in Russland ohnehin nicht mehr; der letzte noch unabhängige TV-Sender Doschd wurde 2021 auf Grundlage desselben Gesetzes geschlossen. Es ist eine bittere Bilanz, welche Reporter ohne Grenzen für 2021 zieht: Journalistinnen und Journalisten stehen in vielen Teilen der Welt so stark unter Druck wie selten zuvor. Staatliche Desinformation, willkürliche Festnahmen und Gewalt gegen Medienschaffende schränkten die Pressefreiheit auf allen Kontinenten ein. Und die Rangliste der Pressefreiheit 2021 ( 1 ) dokumentiert, wie repressive Staaten die CoronaPandemie missbrauchten, um freie Berichterstattung weiter einzuschränken. In China sitzen aktuell mehr als 100 Medienschaffende im Gefängnis, mehr als in jedem anderen Land der Welt. In Belarus wurden im Laufe des Jahres mehr als 400 Medienschaffende festgenommen, die meisten von ihnen vorübergehend. Sie hatten über die Massenproteste nach der umstrittenen Präsidentenwahl berichtet.

Vergessene Nachrichten, verdrängte Fakten Hier und da füllen Bilder und Filme von mutigen Bürgerjournalistinnen und Bürgerjournalisten diese Lücke. Sie drehen mit ihren Smartphones Videos, die dann auch westliche Medien erreichen – wie in Syrien, wie während der Proteste ab 2011 während des Arabischen Frühlings, wie in Hongkong. Dennoch: Wo es über längere Zeit keine journalistischen Berichterstatter:innen gibt, da verbreiten sich die Informationen nur sehr eingeschränkt und meist kaum über die Landesgrenzen. Da wird es still – um eine Region, ein Land, um die Menschen. Da werden Gesellschaften durch Zensur mundtot gemacht. Fakten dringen nicht mehr durch. Und schon gar nicht nach draußen. Sie erreichen uns nicht. Machthaber in aller Welt nutzen diesen Mechanismus für ihre Zwecke – und lassen erst gar keine Berichterstatter:innen zu: Keine Bilder aus den afghanischen Provinzen nach der Machtübernahme der Taliban, welche über die Schikanen, Einschüchterungen, gezielten Tötungen an Taliban-Gegner:innen berichten. Die dokumentieren wie Richter:innen, Lehrer:innen, Schauspieler:innen – kurz: Frauen und Mädchen – gejagt und verprügelt werden. Keine Berichte über den Krieg in Äthiopien, der mit verheerenden Menschenrechtsverletzungen verbunden ist. Ein Krieg, der durch die von Regierungschef Abiy Ahmed (Friedensnobelpreisträger!) im November 2019 gestartete Militäroffensive gegen die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) ausgelöst wurde. Keine Nachrichten und Bilder über den grausamen Kampf, den der philippinische Präsident Duterte während seiner Amtszeit seit 2016 gegen das eigene Volk geführt und der zur drastischen Verschlechterung der Menschenrechtslage geführt hat. Duterte ließ tausende Menschen, die als drogenabhängig galten, von irregulären Banden auf offener Straße erschießen oder erstechen. Keine Bilder aus den Gefängnissen in Myanmar, in die tausende Menschen gesteckt wurden, die gegen den Militärputsch protestiert hatten. Keine Berichte über das Leben im gescheiterten Staat Libyen, das nach dem Sturz des Langzeitherrschers Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 in einem Krieg zwischen Milizen versank, die mit Hilfe ausländischer Mächte um die Macht im eigenen Land ringen. Die Liste der nicht erzählten Geschichten hinter der kurzen Nachricht ließe sich noch deutlich verlängern.

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( 1 ) Rangliste Pressefreiheit 2021, Reporter ohne Grenzen (https:// www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/ rangliste-2021), abgerufen am 16.12.2022.

( 2 ) Syrien: Die Geschichten hinter den Fotos getöteter Gefangener, Human Rights Watch (hrw.org). Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch erhielt alle Bilder von der Syrischen Nationalbewegung, einer regierungskritischen, politischen Gruppe, die die Fotos direkt von „Caesar“ bekommen hatte. Sie konnte einen Teil verifizieren und legte einen Bericht dazu vor, der sich auf knapp 29.000 Fotos bezieht, die allen verfügbaren Informationen zufolge mindestens 6.786 Gefangene zeigen, die in Haft oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus verstorben sind.

Und sie hat in den hier genannten Fällen zumeist den gleichen Grund: Stoppt ein Regime journalistische Berichterstattung, indem es keine Akkreditierung mehr für Korrespondentinnen und Korrespondenten ausländischer Medien gibt, indem inländische Journalistinnen und Journalisten niedergeknüppelt oder weggesperrt werden, indem offener Krieg herrscht, dann versiegt die Geschichte. Dann verkümmert die Nachricht zu einer nichtssagenden Notiz. Und dann werden diese Themen in der deutschen Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Und dann gibt es manchmal Überraschungscoups und investigative Recherchen – und auf einmal wird ein nicht erzähltes Thema sichtbar. So geschehen zum Beispiel mit den sogenannten Caesar-Files, die berichteten, was mit den mehr als 100.000 seit 2011 inhaftierten Kämpferinnen und Kämpfern in syrischer Gefangenschaft geschah. Im August 2013 schmuggelte ein Überläufer mit dem Decknamen „Caesar“ 53.275 Fotos aus Syrien heraus.( 2 ) Die meisten der 6.786 Opfer auf den Caesar-Fotos waren in fünf Zweigstellen des Geheimdienstes in Damaskus inhaftiert. Die Caesar-Fotos deckten auf einen Schlag die systematische und unermesslich grausame Dimension des syrischen Krieges auf. Fotos, die dokumentierten, was andere ehemalige Gefangenen aus den gleichen Hafteinrichtungen berichteten: dass sie in stark überbelegten Zellen einsaßen, kaum Luft bekamen, wenig Nahrung erhielten, dass sie sich nicht waschen durften und auftretende ansteckende Krankheiten kaum behandelt wurden. Die Caesar-Fotos zeigten nur einen Bruchteil der Menschen, die in syrischen Regierungsgefängnissen verstarben, weil sie dort systematisch ausgehungert, geschlagen und gefoltert wurden.

Propagandabilder Es gibt andere Wege der einseitigen Instrumentalisierung wie die Kriegsberichterstattung durch Journalistinnen und Journalisten, welche „embedded“, d.h. im Rahmen einer militärischen Intervention mit in ein Krisengebiet genommen werden und dementsprechend von einer Seite aus berichten – wie im Irak, in Syrien. Oder Staatspropaganda-Bilder. Ereignisse, zu denen es nur offizielle, vom Regime zugelassene und von staatlichen Agenturen und Staatsmedien produzierte Bilder gibt: Dazu zählen die eingangs erwähnten Bilder zum Ukraine-Krieg, welche die russische Öffentlichkeit erreichen. Die Bilder aus dem belarussischen Fernsehen zu überdachten Hallen, in denen die Flüchtlinge untergebracht seien, welche Lukaschenko ins Land geholt hatte, um die EU unter Druck zu setzen. Die Propagandabilder von der Niederschlagung des Putsches in der Türkei 2016 oder von Erdoğans Großveranstaltungen mit vielen Fähnchen schwenkenden Anhängern. Während die Öffentlichkeiten in den jeweiligen Ländern nur diese zensierten Beiträge im TV sehen, machen deutsche Medien sie zumindest kenntlich, wenn sie in Nachrichtenbeiträgen eingesetzt werden, weil es andere Bilder nicht gibt. Doch natürlich arbeiten nicht nur Staaten mit Propagandabildern. In besonderer Weise tat und tut das auch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ in ihren Propagandavideos. Einige von ihnen selbst gedreht durch IS-Kämpfer, die sich als „Gotteskrieger“ inszenieren, als uniformierte und schwer bewaffnete Helden. Die Terrormiliz nutzt die Bilder als Mittel der Verführung und zur Rekrutierung junger europäischer Mitkämpfer:innen. Sie nutzen die Bilder allerdings auch zur Abschreckung, wenn sie die Erschießung westlicher Geiseln zeigen und diese Bilder im Netz verbreiten.

Die lange Liste der nicht erzählten Geschichten Nicht selten reißen Geschichten einfach ab, wenn der Nachrichtenwert nicht mehr gegeben ist. Auch dafür gibt es viele Beispiele: Solange die Bundeswehr in Afghanistan war und solange sie in Mali weiter in einem UN-Einsatz engagiert ist – solange wird berichtet. Kriterium: Es gibt ja den deutschen Bezug. Solange „etwas los“ ist – beispielsweise beim Einmarsch der Russen auf der Krim oder bei den Euromaidan-Protesten 2013 in der Ukraine, solange werden auch ausländische Berichterstatter:innen drehen und berichten. Kriterium: es ist Action, sensationell! Vorausgesetzt das Land befindet sich in gefühlter Nachbarschaft zu uns oder dem von uns identifizierten „Westen“. Weshalb es Nachrichten aus Europa und den USA stets leichter haben, platziert zu werden. Die Liste der nicht weiter erzählten

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Geschichten ist lang: Was machen die Memorial-Aktivisten und -Aktivistinnen in Russland nach der Auflösung ihrer Organisation? Welche Einschränkungen ihres Lebens, politischen und wirtschaftlichen Schikanen müssen die Oppositionellen in der belarussischen Diktatur erleiden? Was tun eigentlich Journalistinnen und Journalisten in Myanmar – in einem Land, das doch gerade erst in Richtung Demokratie aufgebrochen war und wo Journalismus als Beruf erst entstand? Die Corona-Pandemie hatte nicht nur zur Folge, dass weltweit die Medienfreiheit und der Zugang zur Information litt oder beschnitten wurde. Sie hatte auch ganz praktisch zur Folge, dass weniger Nachrichtenbilder produziert wurden, weil Korrespondentinnen und Korrespondenten im Lockdown saßen, nicht reisen konnten. Die Auslandsberichterstattung hat in dieser Zeit – vom März 2020 bis Ende des Jahres 2021 – stark nachgelassen.

Digital: Mehr, aber nur vom selben? Über Phasen gab es gefühlt fast ausschließlich deutsche und europäische Nachrichten. Wir waren – auch nachrichtlich – ganz mit uns beschäftigt. Die Welt um uns herum erreichte uns nur wie durch Watte, in Ausschnitten und manche Nachrichten erreichten uns gar nicht. Unsere „Welt“ wurde kleiner. Und das, obwohl die Zahl von Nachrichten und deren Verfügbarkeit stetig zunimmt durch digitale Verbreitung. Das klingt nach einem positiven Trend: Es gibt heute weit mehr Nachrichten als noch vor zwanzig Jahren. Nachrichten sind in Echtzeit bei uns. Informationen sind weit besser zugänglich. Begann die Tagesschau in den Fünfzigern mit nur wenigen Sendungen pro Woche, so ist sie heute nicht nur über ihre linearen Sendungen, sondern vor allem durch ihren Internetauftritt sehr präsent. Zwar erreicht das 20:00 Uhr-Angebot der Tagesschau immer noch knapp 10 Millionen Menschen in Deutschland – mitunter jedoch auch zeitversetzt über die digitale Nutzung. Das ist die Währung, denn über die Verbreitung im Internet multiplizieren sich die Reichweiten. Weit wichtiger als die Ausstrahlung über lineares TV ist also die digitale Verbreitung der Bilder. Die Wirkung, die Relevanz und die Verbreitung von Nachrichtenbildern hat sich durch die digitalen Verbreitungswege vervielfacht. Und der Wettbewerb natürlich auch. Denn gerade im Netz gilt: nur wer Bild und Nachricht zuerst, das heißt am besten in Echtzeit bringt, hat die Nase vorn. Das Schlüsselbild, das einen Einsdreissig-Beitrag trägt, ist also nicht nur die größtmögliche Reduzierung eines komplexen Geschehens, es ist der entscheidende Faktor, ob eine Nachricht geteilt, gelikt wird, Interaktionen auslöst und „viral“ geht, das heißt hervorragende digitale Reichweiten erzeugt. Gerade weil es heute mehr Nachrichten gibt, weil uns mehr Informationen über das Web, unsere Handys und mobilen Endgeräte zur Verfügung stehen, sind die Anforderungen an unsere kognitive Verarbeitung von Bildern stark gewachsen. Im Durchschnitt konsumieren die Menschen jeden Tag etwa eine Milliarde Stunden YouTube-Videos. Was in 60 Sekunden im Internet passiert, dafür gibt es statistische Angaben: Es werden bei Instagram rund 700.000 neue Stories veröffentlicht, über Messenger-Dienste werden 69 Millionen Nachrichten verschickt, rund 197,6 Mio. E-Mails versendet.( 3 ) Eine unvorstellbare Menge Bilder, die täglich auf uns einströmt. In der es unmöglich ist, den Überblick zu behalten, den Bezug zur Realität wirklich herzustellen – oder herauszubekommen, ob das Bild manipuliert wurde. Durch die Anwendung künstlicher Intelligenz, die Ton und Bild automatisiert so „realistisch“ verändert, wird die Zahl dieser „Deep fakes“ schnell zunehmen. Um die Komplexität und Frequenz von Informationen im Netz zu reduzieren, setzen Menschen auf digitale Gatekeeper: manchmal auf Suchmaschinen, oft auf ihre sozialen Netze. So entstehen individuelle Informationsblasen, in denen Inhalte entsprechend meiner bisherigen Käufe, Suchen und Kommunikation im Netz algorithmisch zusammengestellt werden. Der Newsfeed bei Facebook, der sich öffnet, oder die personalisierte Werbung, die ich beim Öffnen von Internetseiten erhalte, basiert auf dem, was ich bisher tat, suchte, teilte, gelikt habe. Es erreicht mich also immer mehr vom immer selben – und in der Regel sind es Content-Elemente, von denen es in Agenturen, die sie produzieren, gerne heißt, dass sie „snackable“ sein sollten – schnell, bildstark, bewegt, eingängig. Denn die Aufmerksamkeitsspanne für Inhalte im Netz ist kürzer als beim Zeitunglesen, beim TV-Schauen. Und sie beschleunigt sich weiter, wie sich wissenschaftlich messen lässt. Die Zeitspanne, die ein Begriff besonders oft gesucht, ein Hashtag bei Twitter bleibt oder ein Post stark diskutiert wird, wird immer kürzer. Daten zeigen, dass die Dauer, in

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( 3 ) Das passiert im Internet innerhalb einer Minute, https://www.stern. de/digital/online/das-passiert-im-internet -innerhalb-einer-minute-30658778.html, abgerufen am 12.12.2022.

( 4 ) Mit der Informationsflut sinkt die Aufmerksamkeitsspanne der Gesellschaft, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (https://www.mpib-berlin. mpg.de/pressemeldungen/informationsflut -senkt-aufmerksamkeitsspanne), (Link nicht mehr aufrufbar).

der die Öffentlichkeit Interesse an einzelnen Themen und Inhalten zeigt, immer kürzer wird und das Interesse immer schneller von einem Thema zum nächsten springt.( 4 ) Aus dem „Mehr“ an Informationen durch deren digitale Verbreitung lässt sich also nicht schlussfolgern, dass wir heute die Fakten oder gar die Hintergründe besser kennen. Ein wichtiger Treiber für digitale Reichweiten sind soziale Medien. Im Internet sind es vor allem die sensationellen Bilder, die sich viral verbreiten. Und geteilt wird im Regelfall das Bild – nicht der Text! Einmal in der „digitalen Umlaufbahn“ werden gerade Bilder in immer neue Kontexte gestellt. Und so vom konkreten Ereignis zeitlich oder inhaltlich getrennt.

Digitale Desinformation als Angriff auf Demokratie und Verständigung Gerade über soziale Medien verbreitet sich Desinformation auf diese Weise: hier werden alte Bilder in neue Bedeutungszusammenhänge gestellt. Bilder werden einem anderen Ereignis, einer politischen Botschaft, auch Hass- und Gewaltbotschaften zugeordnet, um Empörung und Wut zu erzeugen. Bilder werden tendenziös genutzt, politisch vereinnahmt oder instrumentalisiert. Akteurinnen und Akteure der neuen Rechten und eine Vielzahl von Konspirationsplattformen im Netz machen sich das zunutze. Um dann in hoher Frequenz in regelrechten Kampagnen (mitunter auch durch Bots, also technisch automatisierten Accounts) Hetze und Desinformation, Fake und Konspiration zu verbreiten. Das alles passiert in so hoher Frequenz in den sozialen Medien oder auch auf den vielen Plattformen im Netz, die gezielt Desinformation oder Konspirationstheorien verbreiten, dass allein die Verifizierung von Inhalten und die Überprüfung ihrer Wahrhaftigkeit eine immens aufwändige Recherche bedeutet – und von kaum jemandem geleistet wird. Auch der ursprüngliche nachrichtliche Kontext ist erst wieder zu ermitteln. Das alles hat weitreichende und sehr erkennbare Folgen für unsere Gesellschaften: Denn es sorgt dafür, dass wir uns als Gesellschaft in diesen voneinander getrennten Echokammern isolieren. Dass wir nur noch von unserer Meinung umgeben sind und sekündlich verstärkende Botschaften empfangen. Dass wir uns hineinsteigern in Wut und Empörung, in Geschichten und Bilder von Opfer und Tätern. Dass das Aushandeln von Kompromissen schwieriger wird. Dass einige wenige Themen über Angst und Hass relevant werden. Emotionale Geschichten, Wut und Empörung die Fakten übertrumpfen. Dass wir uns radikalisieren. Der Trend des immer mehr von immer dem Selben birgt zudem das große Risiko, dass wir an der Bilderflut erschöpfen, dass wir sie teilnahmslos an uns vorbeirauschen lassen, dass wir uns vereinnahmen lassen und Desinformation nicht als eine solche erkennen. Die Arbeiten im Archiv Einsdreissig von Monika Huber setzen sich all dem mit Ruhe, Klarheit und sehr entschieden entgegen. Sie sind das ganze Gegenteil: eine lange Auseinandersetzung mit dem einzelnen Bild und dessen Aussage. Denn nicht immer ist ja ganz klar, aus welchem Zusammenhang das Bild stammt und die Szene ist nicht ganz zu entschlüsseln – auch für die Künstlerin selbst nicht. „Betrachte ich den Kopf eines offensichtlich verletzen Menschen mit Kopfverband, der von einer Hand umfasst wird, so kann ich nicht eindeutig erkennen, ob die Person tot oder verletzt ist oder ob ihr soeben geholfen wird. Täter, Opfer und Helfende sind schwer zu unterscheiden.“ Wer ist gut, wer ist böse. Wer Opfer und wer Täter. Weder die Ursprungsbilder noch die Überarbeitungen Hubers geben darauf eine Antwort, sondern sie überlassen die Befassung damit den Betrachtenden. Denn gerade die massenhafte und hochfrequente digitale Verbreitung von Bildern birgt das große Risiko, dass wir den eigentlichen großen Schritt nicht tun, damit aus einer Information oder einem Bild eigenes Wissen wird: es uns aneignen, durchdringen, mit Erfahrungen oder Kontexten in Verbindung bringen. Das erlebt auch Monika Huber so: „Die eigene Bildarbeit, dem tatsächlich inhaltlich nachzugehen, was man sieht, ist nicht immer einfach.“ Dem Bild und unserem Umgang damit kommt gerade in dieser hochfrequenten Flut der Nachrichten eine besondere Bedeutung zu. Die Arbeiten von Monika Huber konfrontieren mich mit der Frage, mit welcher Haltung ich die Bilder betrachte. Es ist wesentlich und wichtig – und es macht einen Unterschied –, wie wir Bilder betrachten und reflektieren. Nur eines wird kaum gehen, angesichts der Wirkmacht und der Relevanz der uns umgebenden Nachrichtenbilder: dass ich meine Augen davor verschließe.

Nicht die Augen verschließen!

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Archiv des Cruor. Bild und Gewalt Antje Kapust

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Antje Kapust ist Professorin der Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum; Studium der Rechtswissenschaft, Germanistik, Linguistik, Politik (MA 1987), Philosophie, Romanistik und Komparatistik (MA 1991) in Bochum, Paris, Tours; Promotionsstipendien an den Universitäten Memphis/USA (1994) und Stony Brook/New York/USA (1995); 1995 Promotion in Philosophie, Habilitation 2002 zum Thema Krieg. Gastprofessuren an der Vanderbilt University in Nashville/USA, Temple University in Philadelphia/USA; Universität Wien; Vertretungen und Fellowships in Hannover, Heidelberg, Paderborn und Mainz; Dozentin Bild und Kunst, Gutachterin Psychologie; Publikationen: Krieg und der Ausfall der Sprache, Wörterbuch der Würde, zu Levinas, Merleau-Ponty und Bildtheorie.

Monika Huber hat sich bereits seit Beginn des Arabischen Frühlings 2010 in beinahe chronistischer Hingabe mit dem Aufbau des Archivs Einsdreissig befasst. Dieses Archiv ist ein analoges Bildarchiv mit überarbeiteten TV-Nachrichtenbildern, das weltweite Protestszenen, Gewalt und Machtmissbrauch dokumentiert. Die Bilder werden mit entsprechenden Inhalten und Schlagwörtern in eine digitale Datenbank eingepflegt. Die KI der Datenbank kann über Suchbegriffe Bilder neu kontextualisieren und anzeigen. So entsteht durch die Algorithmen der KI eine komplexe und neuartige BildGrammatik von Gewalt und Widerstand. Menschliche Gesten und Szenen von Protest können piktorial aufgerufen werden. In Kunst und Kunstgeschichte ist das Thema Gewalt im Bild immer schon präsent. Man denke nur an die Aktualität von Goyas Caprichos Los Desastres de la Guerra von 1799, frühe Zeugnisse von Widerstand, die Goya teils unter Lebensgefahr und mit Textzusätzen angefertigt hat. Im Begriffsfeld realer Gewalt wird unterschieden zwischen bias (nackter, roher, brachialer Gewalt), vis (gestaltete Gewalt, z.B. durch Werkzeuggebrauch), potentia (Mächtigkeit haben) und potestas (Amtsgewalt). Fragen von Legitimität und Legalität, die z.B. Probleme des Widerstandsrechts oder des zivilen Ungehorsams betreffen, gehören hierher. Physische Gewalt mithilfe von Zwangs- und Kontrollmitteln wird als politisches Machtmittel eingesetzt. Psychische Gewalt dient als indirekte Beeinflussung über verbale Mittel wie Androhung von Folter oder Strafmaßnahmen, Manipulationen, Belohnungsmechanismen, Symbole, semiologische Zeichen, Instrumentalisierung von Affekten und Lebensbefindlichkeiten (Angst), Steuerung von Lebensmöglichkeiten (z.B. Entzug von Existenzsicherung), Versperrung von Exit-Möglichkeiten (wie Flucht, Vermeidung, Abwehr, Widerstand). Institutionelle Gewalt dient der Regulierung sozialer Verhältnisse mit dem Ziel permanenter Abhängigkeit oder Unterwerfung. Sie tritt als Verfügungsmacht mit Gehorsams- und Hoheitsanspruch auf, z.B. gegenüber Bürgern durch Behörden, Ämter und Sicherheitsorgane. Strukturelle Gewalt anvisiert die systematischen Strukturen, die Ungleichgewicht bewirken und zur Benachteiligung spezifisch vulnerabler Gruppen führen. Eine ungleiche Verteilung von Macht, Ressourcen und Wissen führt zu sozialer Ungerechtigkeit, Verelendung, Armut, Unterdrückung und Defiziten bei der Realisierung von Lebensmöglichkeiten. Die kürzeste Definition von Gewalt bringt eine „Macht“ des Antuns und Verletzens ins Spiel. Ein geschlagenes Opfer stürzt zu Boden, kann verbluten und stirbt. Auf welche Weise kommen solche Erfahrungen ins Bild?

I: Das Archiv des Cruor

( 1 ) Übers. von Antje Kapust. Jean-Luc Nancy zitiert aus dem Dreiakter von Guillaume Apollinaire ohne patriotische und bellizistische Komponenten, aber mit Blick auf die Grausamkeit vergossenen Blutes, in: Jean-Luc Nancy, Cruor, Zürich: diaphanes, 2022.

( 2 ) Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Fink, 1986, S. 175. „Rot“ ist ein Topos in der Philosophiegeschichte. Georges Didi-Huberman greift ihn auf in „Abdruck und Staub“, Antje Kapust und Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Kunst, Bild, Wahrnehmung, Blick. Merleau-Ponty zum Hundertsten, München: Fink, 2010, S. 53-70.

In seinem posthum als testamentarisches Vermächtnis entworfenen Buch Cruor greift der 2021 verstorbene französische Philosoph Jean-Luc Nancy einen Vers des Dichters Guillaume Apollinaire aus Couleurs du temps auf. Hier hatte Apollinaire 1917 die Blutlachen der Urkatastrophe des Ersten Weltkrieges beschrieben: „Und diese Epoche verlangt als Beinamen/dieses furchtbare lateinische Wort cruor/welches das vergossene Blut bedeutet.“( 1 ) Während der Terminus sanguis das Blut in der inneren Infrastruktur eines Körpers bezeichnet, meint cruor das vergossene Blut, das aus dem Körper bei Gewalteinwirkung austritt. Sanguis ist notwendig zum Erhalt der menschlichen Existenz. Cruor schneidet auf gewaltsame Weise das Leben eines Menschen ab. Dieses gewaltsame Eingreifen torpediert gleichzeitig die Möglichkeit einer humanen Gemeinschaft. Nancy verknüpft die Innerlichkeit eines Menschen (z.B. seine individuelle Meinungsfreiheit) mit den pluralen Sozialformen der Menschen. Zu diesen Verflechtungen der „Zwischenleiblichkeiten“ ist das „aus-sich-heraustreten“ aus der Innerlichkeit notwendig. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen sind Menschen teilweise bis zu einem Punkt verflochten, dass Blut fließt (hier dann cruor). Blut verkörpert die Signalfarbe rot. Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty hatte in einer berühmten Passage zur „Empfindungsqualität“ des „Roten“ Verkörperungen in den Feldern des Sichtbaren wie (roten) Revolutionen, Uniformen, Fahnen von Grenzwärtern, Roben von Gerichtsdienern als dimensionales Netz im Sein thematisiert. ( 2 ) Künstler scheinen ein besonderes Gespür für solche Dimensionen zu haben. In einem ihrer stärksten Bilder (#441_200114, S. 105) bringt Monika Huber dieses cruor auf geradezu erschütternde Weise zum Ausdruck. Der „Machtkampf in der Ukraine“ deutet sich bereits am 20.1.2014 als kommendes Desaster an. Es fließt Blut bei

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den gewaltsamen Repressionen der Proteste auf dem Maidan. Mehr als 100 Menschen werden getötet. Rot steht als Signalfarbe für Schmerz, Gefahr und Alarmzustand. Das Werk ist jedoch nicht nur durch die inhärente Bildsprache eindrücklich, sondern auch durch die Intuition, die hier bereits die heraufkommende Gefahr für die internationale Gemeinschaft zu erahnen scheint. Neben vielen anderen Verletzungen von Menschenrechten in der Welt (Syrien, Jemen usw.) wird dies wie ein Seismograph ins Bild gebracht. Zuletzt im Krieg gegen die Ukraine die Tötung und Verstümmelung von Menschen, die Erschießung von Fliehenden, die Tötung und Verletzung durch Luftangriffe und Folter usw. – kurzum: die Auslöschung von Menschen (cruor) durch Gewalt, von der die „zivilisierte Welt“ angenommen hatte, dass sie aus dem Handlungsrepertoire von Politiken verbannt worden sei.( 3 ) Monika Hubers Transposition dieser Brutalitäten wirkt beinahe gespenstisch unheimlich in ein Absolutum des Roten gesteigert. Die klassische Figur-Grund Orientierung ist beinahe vollständig aufgelöst, so dass es den Anschein hat, als würden die Verfolger durch ganze Blutwasser waten und die Opfer zu zerstückelter Materie totschlagen. Das Medium des Roten übt eine unglaublich affizierende Suggestion aus. Schwerkraft wird aufgehoben. Dingliches verliert alle Grenzen. In dieser „atmosphärischen Farbigkeit“ herrscht eine Dynamik, welche die Intensität und Energie des Bildes beinahe bis zur Atemlosigkeit steigert. Stakkato, Rhythmus und Takt der Schlagstöcke bewegen sich an der Grenze zum Performativen und bleiben hängen.

( 3 ) Seit meiner Professur in Philadelphia/USA 2002-2003 verfolge ich das Projekt zu „Körperpolitiken“. Politiken des Widerstandes, Verletzungen von Menschenrechten und von Körpern habe ich am Beispiel der Kunst von Ai Weiwei untersucht in einem Vortrag auf der Phänomenologischen Tagung „Kraft der Dinge“ in Berlin am 30.9.2011. S. auch Rudolf Gröschner, Antje Kapust, Oliver Lembcke, Wörterbuch der Würde, München: Fink, 2013.

II: Das Archiv des Diabolos und der Spaltung Bereits ab Februar 2015 greift die Künstlerin im Bild #429_270215 (S. 118) die Vorläufer dieses Krieges auf, die nun zu einer weltumspannenden Zeitenwende eskaliert sind. Der russische Außenminister Lawrow kündigt die Möglichkeiten einer Spaltung der Ukraine an. Ein Riss geht vertikal, sehr markant und dramatisch nicht nur durch das Bild, sondern durch das gesamte Gesicht der vermummten Person. Er ist weiß, aber der Riss scheint wie eine rote Blutspur hinabzuströmen. In ihrem Werk bringt die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum die Gewalt solcher Risse im Meisterwerk Things fall apart des afrikanischen Erzählers Chinua Achebe zur Sprache.( 4 ) Hier wird unter Verhöhnung, Peinigung und auswegloser Drangsalierung ein Vater gezwungen, seinen geliebten Pflegesohn „abzuschlachten“, um nicht als schwächliches Weib im Kriege gelten zu müssen. Kernstück ist die Spaltung als Diabolisches, die häufig in Kriegskontexten als Grundlage von Gewalt gilt. Der Begriff der Diabolik ist dem Werk von Vladimir Jankélévitch entlehnt, der in Anlehnung an den „genius malignus“ (bösen Geist) die Phänomene des Malum (des Bösen) zu klären versucht.( 5 ) Die Diabolik spiegelt einen Riss: Etymologisch veranschaulicht das „dia“ die Idee der Trennung und der Teilung im destruktiven Sinne der Zerspaltung. Das griechische „ballo“ bringt die Aktivität des Werfens oder Setzens zum Ausdruck. Der Diabolos ist folglich jene Instanz, die nicht nur die Gemeinschaften auseinanderbricht, sondern diese Zerstörung durch eine gewaltsam eingefügte Kraft zur Wirksamkeit bringt, z.B. durch Grausamkeit, Verfolgung, Zerstörung kultureller Identitäten, Zersetzung von Lebenswelten mit ihren tragenden Sinn-Annahmen, welche die impliziten und sozial geteilten Grundlagen eines Miteinanders meinen. So wird in der Kultur der „Unversehrtheit des Körpers“ einem Dieb nicht zur Strafe „die Hand abgehackt“. Zumeist tragen Diktatoren Gesichter dieses Diabolos. Der unter der Diabolik zerbrochene Mensch wird als Mensch negiert, aber gleichzeitig auch als Mensch anvisiert. Die Tatsache, dass die vielen Phänomene von Unmenschlichkeit, Grausamkeit oder Demütigung Gewalt begleiten und prägen, verweist auf das Diabolische. Häufig wird in Gewaltakten das sprachliche Bitten und das Flehen um Verschonung wahrgenommen, aber gleichzeitig umso rücksichtsloser ausgeblendet. Damit soll der Mensch, der Ansprüche hätte, umso härter in die Verneinung zurückgestoßen werden. Diese „negative Metaphysik“ impliziert nicht die Vernichtung eines „bloßen Objektes“, sondern zielt auf die Zersetzung eines Subjektes, das sprechen könnte und dem ein Platz in der Gemeinschaft der Menschlichkeit gebührt.( 6 ) Eine Spaltung folgt häufig in Form einer unberechtigten Selbstermächtigung. Diese wird interessanterweise in einem der größten Romane der Weltliteratur bildhaft in Szene gesetzt. In Verbrechen und Strafe (bzw. Schuld und Sühne) von 1866 entfaltet Fjodor Dostojewski das Tableau zweier Sphären: Der Macht des Kratos (rohe Gewalt) steht die Ohnmacht des Ethos entgegen. Im Zentrum steht nicht der Mord an

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Antje Kapust

( 4 ) Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das Gute Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999, S. 131, 288. S. auch Antje Kapust, Der Krieg und der Ausfall der Sprache, München: Fink, 2004, S. 310f.

( 5 ) Vladimir Jankélévitch, Le pardon, Paris: Aubier Montaigne, 1967, S. 17. S. Kapust, ebd. 2004, S. 310-326.

( 6 ) Aus diesem Grunde betonen so unterschiedliche Philosophen und Philosophinnen wie Judith N. Shklar, Richard Rorty, Avishai Margalit oder Emmanuel Levinas, dass Grausamkeit in all ihren Formen vermieden werden muss, s. z.B. Judith N. Shklar, Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch, 1997.

( 7 ) F. M. Dostojewski, Rodion Raskolnikoff. Schuld und Sühne, Sämtliche Werke in Zehn Bänden, übers. von E. K. Rahsin, München: Piper, 1977/1980, S. 346f. Vortrag Antje Kapust auf Einladung von David Wood auf der SPEP Oregon/USA 9.10.1999, Manuskript noch nicht veröffentlicht, Teil des Buches „Ein menschliches Alphabet“.

der Pfandleiherin, welche die Hauptfigur Rodion Raskolnikoff auf hinterhältige Weise begeht. Im Mittelpunkt steht vielmehr die ungeheure „Rechtfertigung“: Der Täter gibt sich als „außergewöhnlicher“ Mensch das (inoffizielle) Recht, seinem Gewissen die Übertretung legitimer Schranken zu gestatten. Diese Transgression gilt für den Fall, dass die Ausführung seiner Idee, die „für die ganze Menschheit heilbringend“ sein soll, eine solche Übertretung verlangt.“ ( 7 ) Angelehnt ist diese Denkfigur an die Praktiken hemmungsloser Übertretung bei Napoleon, aber man könnte auch an die Exzesse späterer Diktatoren (z.B. Stalin) denken. Die Romanfigur beruft sich ausdrücklich auf Gesetzgeber wie Lykurg, Solon, Mohammed, Napoleon Bonaparte u.a., die als „Wohltäter und Ordner der Menschheit“ besonders „große Blutvergießer“ waren.“ Wie lässt sich Gewalt durch Protest, Widerstand und Subversion unterbrechen? Wie kommen solche Formen ins Bild?

III: Das Archiv des Widerstandes

Jan Philipp Reemtsma, ( 8 ) Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition, 2008, Piper, S. 104-124.

( 9 ) Simone Weil, Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen, Zürich: diaphanes, 2011, S. 161.

Horst Bredekamp, Theorie ( 10 ) des Bildaktes. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin: Wagenbach, 2010. Im Hintergrund steht das ( 11 ) in der Phänomenologie wichtige Konzept des Körperschemas („Ich kann“) sowie die Theorien der Befähigung.

Ziviler Ungehorsam und ein Widerstandsrecht, die auf Werte wie Würde und Rechtsstaatlichkeit in Frieden abzielen, gehören zu den wesentlichen Errungenschaften moderner Gesellschaften im Anschluss an die Aufklärung. Die ehedem friedlich angelegten Versuche des Arabischen Frühlings sind bereits im Archiv festgehalten. Die 2014 einsetzenden Proteste auf dem Maidan sind ebenso im Archiv dokumentiert. Das Bild #572_200820 (S. 154) zeigt die Festnahme von Alexej Nawalny durch russische Sicherheitskräfte. Zu sehen ist die Szene, wie der Kreml-Kritiker und der 2018 verhinderte Kandidat für die Präsidentschaft gegen Putin ergriffen und abgeführt wird. Es ist ein Bild enormer Ausdrucksdichte und bildaktiver Kraft. Visuell korrespondiert diese Bildsprache mit allen drei Gewaltformen, die der Hamburger Professor für Literaturwissenschaft, Jan Philipp Reemtsma, formuliert hatte. Reemtsma wurde am 25.3.1996 Opfer einer Entführung und Verschleppung und wurde einen Monat später gegen Zahlung eines Lösegeldes „frei gegeben“. Er unterscheidet zwischen lozierender, raptiver und autotelischer Gewalt. Lozierende Gewalt meint die Verschiebung bzw. Verschleppung an einen anderen Ort (ein Foltergefängnis, ein Straflager usw.). Raptive Gewalt meint den Zugriff auf den Anderen (z.B. in einer Vergewaltigung). Autotelische Gewalt meint wie in griechisch auto (selbst/ von selbst) und telos (Ziel), dass die Gewalt ihren Zweck in sich selbst findet, indem sie den fremden Körper verletzt, beschädigt oder zerstört.( 8 ) Wie die Welt als medialer Zeuge mittlerweile erfahren musste, wurde Nawalny verfolgt und beinahe in einem Giftmord-Anschlag zu Tode gebracht, folglich autotelisch extrem verletzt. Mit raptiver Gewalt wird er ergriffen, gegen seinen eigenen Willen und seine Zustimmung, was nicht nur gegen Persönlichkeitsrechte verstößt, sondern auch gegen die Wahrung seiner Menschenwürde. Bei jeder Festnahme wird er mit fadenscheinigen „Begründungen“ ergriffen, festgehalten und abtransportiert, zuletzt interniert in einem Straflager. Im Bild ist sofort die Notlage der Person wie auch die Maßlosigkeit dieser Gewalt erkennbar. Es handelt sich gleichsam um eine „negative Pathosformel“, welche die sofortige Zuordnung der Handlungsweise zu Kontexten der Gewalt ermöglicht. Für Zwecke der Diktatur wird der Kritiker instrumentalisiert, verdinglicht und beinahe wie ein Sack amorphe Materie weggeschafft. Die französische Philosophin Simone Weil hatte in den Kriegsjahren 1940/41 solche Prozesse gewaltsamer Verdinglichung zum Ausdruck gebracht: „Die Gewalt macht jeden, der sie erleidet, zum Ding. Wird sie bis zur letzten Konsequenz ausgeübt, macht sie den Menschen zum Ding im wortwörtlichsten Sinne, sie macht ihn zum Leichnam.“ ( 9 ) Hubers Bild bewegt sich hier in ungleichgewichtigen und relativ unscharfen Anteilen von Blau, Weiß und Dunkelheit. Die raptive Gewalt ist dunkel. Nawalny taucht daraus wie eine aufleuchtende Figur auf. Zahlreiche Brüche und Paradoxien steigern die Intensität. Die Brüche ergeben sich aus der Verschiebung zweier Dimensionen. Auf der einen Seite sind die Dynamik und Semantik des Bildes (Mitteilungen) extrem gesteigert, gleichzeitig werden die formalen Mittel dazu (Aufbau, Konfiguration) massiv reduziert. Dieses Ungleichgewicht bewirkt eine enorme Steigerung der bildaktiven Kräfte. Nawalny steht nicht mehr wie der „aufrechte Mensch“, dem Inbegriff des freien Menschen ab der Renaissance. Er wurde mit Gewalt zu Boden geworfen und bewegungsunfähig gemacht. Seine Beine sind eigentümlich disfragmentiert, seine Arme erscheinen gar amputiert. Den morphologischen Schemata Bredekamps zufolge ist er zwar eindeutig zu rekonstruieren.( 10 ) Aber das in der Phänomenologie so betonte wichtige Körperschema des „Ich kann“ ist ausgesetzt.( 11 ) Damit ist seine Handlungsmacht zersetzt, er kann nicht mehr mit „agency“ und „empowerment“ auftreten. Nawalny ist eine Ikone. Quer

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durch alle Jahrhunderte kam und kommt daher einem Gesicht als Ikone eine besondere Rolle zu.( 12 ) Gleichwohl erkennt man ihn hier nicht mimetisch an seinem Gesicht, sondern eher an seiner Performanz: Er gibt nicht auf. Er kämpft bis zum Äußersten. Widerstand und ziviler Ungehorsam stehen in Diktaturen unter Gefahr der Auslöschung des Lebens, also erneut unter dem cruor. Gleichwohl wirft er die gesamte Wucht und Kraft des verbleibenden Körpers gegen die äußere zugreifende Macht ins Gewicht. Er ist Inbegriff von Weigerung und Nicht-Aufgabe bis zum Letzten.

( 12 ) Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München: C.H. Beck, 2013.

IV: Das Archiv der Blumen des Protestes Swetlana Tichanowskaja trat am 2020 in Belarus als demokratische Kandidatin und Oppositionsführerin für das Präsidentschaftsamt an, wurde aber durch massive Wahlfälschungen und Bedrohungen zur Flucht nach Litauen gezwungen. Die Gewalt des Cruor droht auch hier massiv, insbesondere durch die Zerstörung des Rechts auf Meinungsfreiheit. Dieses Recht wurde erstmals in Art. 11 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 statuiert und 1791 in der amerikanischen Verfassung. Auch hier taucht die Verwebung von Innerlichkeit (inneres Denken) und Äußerlichkeit (soziale Zwischenleiblichkeit) von Menschen auf, denn seit der Entstehung des Konzeptes ab dem 17. Jahrhundert (Spinoza, Locke, später Kant) ist hauptsächlich die Äußerungsfreiheit der eigenen Meinungen und Gedanken gemeint. Die Pointe besteht darin, dass hier ein Recht frei von staatlicher Kontrolle geschützt sein soll. Es handelt sich somit um ein Recht auf „zwischenmenschliche Kommunikationsfreiheit“, das nicht nur das Recht auf eine eigene Meinung beinhaltet, sondern auch das Recht zu freier Meinungsbildung und Informationsfreiheit. Es ist daher nicht nur an den Begriff der Menschenwürde gebunden. Vielmehr ist ein Leben in Menschenwürde als selbstbestimmte Existenz in Freiheit ohne diese Meinungsfreiheit nicht möglich. Dieser wichtige Status wird daher in zahlreichen Dokumenten unterstrichen, z.B. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 19), dem Art. 10 der EMRK (Europäischen Menschenrechtskonvention), dem Art. 19 des UNO-Paktes II wie auch in Art. 5 des Deutschen Grundgesetzes. Aus diesem Raum hat sich Russland ausgekoppelt. Den pathischen Zwischenraum zwischen Schmerz und Hoffnung greift Monika Huber auch hier in „Proteste in Belarus“ (#524_150820, S. 153) auf. Es zeigt den Protest und das Gedenken an den während einer Demonstration erschossenen Studenten Aleksandr Taraikovsky in Minsk. Das Bild ist in Rot-Weiß gehalten, den Nationalfarben des Landes. Schemenhaft, elliptisch, verschwommen und ineinander verwoben tauchen Gesichter auf, zwischen denen sich Arme erheben, die rote Blumen auf weißem Untergrund hochhalten. In seiner Dichte evoziert das Bild ganze Topoi der Kulturgeschichte, von denen einige nur kurz angedeutet seien. Blumen veranschaulichen die Fragilität und die Vulnerabilität eines Lebens. Der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal hatte auf diese Besonderheit hingewiesen, als er betonte, dass das sich im Wind wiegende Schilfrohr unter der Übermacht der Kräfte knicken und zerbrechen kann. Im Endstadium totaler Gewalt bleibt nichts mehr übrig als verbrannte Erde und zertrümmerte Stein-Wüste. Auch hieran erinnert die Künstlerin bildgewaltig, wenn sie die zerschossenen und abgrundtief zerbombten Häuser und Einrichtungen der zivilen Infrastruktur ins Bild bringt. Das Vanitas-Motiv im Sinne des „vergeblich“ und des „umsonst“ taucht kurz im Horizont auf.( 13 ) Dieses „umsonst“ kontrastiert eigenartig mit einem hartnäckigen Wiedergänger der Geschichte von Protest und Kultur. Rote Blumen als Symbol gehen zurück bis in die Jahre der Französischen Revolution, in der protestierende Adelige, die zur Hinrichtung verurteilt worden waren, rote Blumen als Zeichen für ihre Unerschrockenheit auf dem Weg zum Schafott trugen. So gesehen bringen die Demonstranten in Minsk nicht nur ihren Widerstand gegen das repressive System zum Ausdruck. Sie teilen auf visuelle Weise implizit ihre Unterstützung für ein freies Denken und Recht auf Selbstbestimmung gegen ungerechte Verhältnisse mit. Die Blumen erinnern aber auch an die berühmte „Nelkenrevolution“, die sich am 25.4.1974 in Portugal gegen das autoritäre Regime an der Macht durchsetzen konnte und nach der Verfassungsgebung 1976 zu den ersten freien und demokratischen Wahlen im Lande führte.( 14 ) Der Name der Revolution geht auf ein sinnträchtiges Bildzeichen zurück, und zwar auf die roten Nelken, welche sich die aufständischen Soldaten in ihre Gewehrläufe steckten. Dabei ist nicht nur bemerkenswert, dass es sich teilweise um Angehörige des Militärs handelte, welche den Widerstand in Gang

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Antje Kapust

S. das Motiv vom „Leben als ( 13 ) Windhauch“, in Kohelet/Prediger 1,2.

S. https://de.wikipedia.org/ ( 14 ) wiki/Nelkenrevolution, abgerufen am 17.9.2022. S. auch das Buch des Philosophen Peter Bieri unter dem Pseudonym Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon, München: Carl Hanser, 2004.

( 15 ) Georges Didi-Huberman, Borken, Paderborn: Konstanz University Press, 2012, S. 30f., 72 u.a. Da es sich beim hiesigen Text um die gekürzte Fassung eines längeren Manuskriptes handelt, können manche Pointen nicht länger ausgeführt werden. ( 16 )

Didi-Huberman, ebd., S. 69.

setzten. Bemerkenswert ist auch die Transformation von Gewalt in Frieden durch das symbolträchtige Bild. Wenn Gebäude zerstört und verwüstet werden können, Menschen verbrecherisch erschossen werden, als würde man auf fliehende Kaninchen im Feld zielen, so meint man, dieses große und klagende “Umsonst“ der Blumen vernehmen zu müssen. So bitter und schmerzhaft diese Grausamkeiten sinnloser Gewalt sind, so bleibt doch eine unzerstörbare Spur dieses Archivs der Blumen. Der berühmte Kulturarchäologe Georges Didi-Huberman erkennt es bei seinem Besuch in Auschwitz: „Die Zerstörung des Lebens dieser Wesen bedeutet nicht, dass sie fort wären. Sie sind da, sie sind sehr wohl da: dort in den Blumen der Felder, dort im Saft der Bäume, dort in dem kleinen See, in dem die Asche Tausender von Toten ruht.“ ( 15 ) Ihm fällt bei seinem Besuch im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau auf, dass in der Nähe des Zauns, wo die Leichen der vergasten Opfer zur Verbrennung abgelegt wurden, viele Blumen wuchsen. Es stellt sich heraus, dass diese auf „einem Boden der Geschichte“ wachsen, welcher nach einem „menschlichen Blutbad“ die Asche eines der größten Friedhöfe der Menschheitsgeschichte bildet: Auschwitz.( 16 )

V: Das Archiv stroboskopischen Unvergessens Bernhard Waldenfels, „Das ( 17 ) Rätsel der Sichtbarkeit. Kunstphänomenologische Betrachtungen im Hinblick auf den Status der modernen Malerei“, in: Mercier, Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990, S. 204-224, hier S. 208. Dazu aus vielen passenden Texten: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004. Der Text ist hier wie an anderen Stellen gekürzt. Susan Sontag, Das Leiden ( 18 ) anderer betrachten, München: Carl Hanser, 2003.

Der Philosoph Bernhard Waldenfels beschreibt Bilder und Zeichen nicht als Zutaten, sondern als Medien, in denen sich die Wirklichkeit selbst darstellt.( 17 ) Wirkmächte und Bildkräfte spielen eine Rolle. Gleichwohl rauschen die Bilder des Archivs nicht vorbei. Einige bleiben hängen wie „Angelhaken“. Im Kulturarchiv der Sedimentierungen kommt es trotz der Fülle nicht dazu, dass man wie beim Betrachten des Leidens Anderer mit der Zeit abstumpft.( 18 ) Das liegt an einem Bild-Wirkungsprinzip, das ich mit der Kraft eines Stroboskops vergleichen möchte. Es handelt sich um ein Blitzlichtgerät, das in zeitlichen Abständen Lichtblitze aussendet. Der Ausdruck ist etymologisch aus altgriechisch στρόβιλος stróbilos (Wirbel) und σκοπεῖν skopeĩn (betrachten) gebildet. Schlaglichter beleuchten immer wieder Gegebenheiten. Dazwischen aber bleibt etwas kontinuierlich im Hintergrund. Der Moment „gefriert“. Man könnte meinen, durch die Bilderflut in einem Archiv würden alle Bilder wie unter einem stroboskopischen Flackern endlos vorbeirauschen und sich zu einer unüberschaubaren Menge akkumulieren. Durch die bildaktive Kraft tritt aber ein anderer Effekt auf. Die Zwischenräume des Stroboskops lassen das „untergründig Gefrorene“ zutage treten, sozusagen eine bleibende Bild-Essenz oder Botschaft. Dadurch sinkt das Bildhafte und bildhaft Komponierte selbst nicht ab. Es kann nicht in Vergessenheit verschwinden, sondern bleibt in „Unvergessenheit“. Bei Monika Huber fällt das Archiv genau durch dieses „Festhängen“ nicht ins Vergessen, so sehr eine Schwerkraft der Sedimentation auch ziehen möge. Bilder bleiben hängen. Sie vergehen nicht. Sie rufen an.

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Tableau – 294 Szenen von Protest, Widerstand, Gewalt und Krieg

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Auszüge aus dem Archiv Einsdreissig 2011–2022

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China 20. Februar 2011 #008_200211 Bei Protesten in Peking und Shanghai fordern die Demonstrierenden mehr Freiheitsrechte und politische Reformen ein. Sie werden mit einem massiven Polizeiaufgebot konfrontiert. Die Jasminrevolution in Tunesien und der Arabische Frühling in Nordafrika sind die Auslöser für die erneuten Proteste der chinesischen Demokratiebewegung, die von der Regierung

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seit 1989 unterdrückt wird. Damals kamen bei der brutalen Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz etwa 2.600 Personen ums Leben.

Libyen 21. Februar 2011 #005_210211 Die Fahne der Oppositionellen weht über der östlichen Stadt Bengasi und soll demonstrieren, dass die Stadt bereits in der Hand der Rebellen ist. Diese zeigen sich siegessicher. Der libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi geht massiv mit Luftangriffen gegen die Rebellen vor. Bei den Angriffen werden zahlreiche Menschen getötet. Zugleich wird über den Verbleib

von Gaddafi spekuliert. In einer Fernsehansprache kündigt der Sohn Gaddafis, Saif al-Islam al-Gaddafi, Reformen an und beteuert zugleich, dass sein Vater nie abtreten wird.

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Libyen 25. Februar 2011 #267_250211 Die Rebellen sind siegessicher und posieren für die Kameras mit dem Victory-Zeichen. Zehntausende Menschen skandieren: „Wir wollen den Sturz des Regimes.“( * ) Gaddafis Truppen schießen auf die Gegendemonstrierenden. Es gibt Tote und Verletzte. Der Ex-General Libyens Suleiman Mahmoud verweigert Gaddafis Befehl, auf sein eigenes Volk zu schießen und

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läuft zu den Rebellen über. Gaddafis Anhänger versammeln sich auf dem Grünen Platz in Tripolis zu einer Demonstration zur Unterstützung ihres Präsidenten. Gaddafi ruft seinen Anhängern zu: „Übt Vergeltung gegen sie ... tanzt, singt, freut euch und lasst es euch gut gehen.“( * ) ( * ) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts25010.html

Libyen 5. März 2011 #089_050311 Im ganzen Land kommt es zu schweren Kampfhandlungen zwischen der Opposition und Gaddafis Regierungstruppen. Die Lage ist unübersichtlich, es gibt viele Tote und Verletzte. Mit Luftangriffen, Panzern und angeheuerten Söldnermilizen geht Gaddafi brutal und rücksichtslos gegen die Opposition

vor. Im Osten Libyens verteidigen die Rebellen den Ölhafen Ras Lanuf und in Al-Rajma bei Bengasi explodiert ein Munitionsdepot, bei dem mindestens 26 Menschen getötet werden.

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Libyen 3. Mai 2011 #031_030511 Libysche Rebellen kontrollieren die Stadt Bengasi und es werden regierungsunabhängige Zeitungen herausgegeben. Ein Sprichwort sagt: „Die Feder [das Wort] ist mächtiger als das Schwert“( * ). Seit der Revolution 2011 entstehen viele neue Medien, zunächst in der Region von Bengasi, später dann im

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ganzen Land. Die Libyer:innen begrüßen die neue Pressefreiheit und freuen sich nach 42 Jahren ihre Meinungen endlich frei äußern zu können. ( * ) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt3050.html

Jemen 26. Mai 2011 #034_260511 Im Jemen gehen die Menschen auf die Straße und fordern den Rücktritt von Präsident Ali Abdullah Saleh. Dieser ist seit 33 Jahren an der Macht. In der Stadt Sanaa gibt es seit Tagen Kämpfe zwischen den Anhängerinnen und Anhängern der Re-

gierung und der Opposition. Am 26. Mai 2011 kommen mindestens zwölf Menschen ums Leben, weitere 28 bei der Explosion eines Waffendepots.

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Spanien 27. Mai 2011 #053_270511 In Barcelona geht die Polizei massiv mit Schlagstöcken und Gummigeschossen gegen Protestierende vor, um die Plaza de Catalunya zu räumen. Deren Protest richtet sich gegen die spanische Sparpolitik und die hohe Arbeitslosigkeit. Etwa 120 Menschen werden verletzt.

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Jemen 5. Juni 2011 #268_050611 Tausende Menschen im Jemen feiern die Ausreise ihres Präsidenten Ali Abdullah Saleh nach Saudi-Arabien. Bei einem Bombenangriff auf die Moschee seines Präsidentenpalastes wurde Saleh durch einen Munitionssplitter schwer verletzt. Er wurde vom saudischen König eingeladen, sich in Saudi-Arabien medizinisch behandeln zu lassen. In dieser politisch instabilen

Lage fordern die Protestierenden einen Übergangsrat mit Bürgerbeteiligung. Bei den anhaltenden Protesten gibt es erneut mehrere Tote und Verletzte.

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Russland 22. Juni 2011 #265_220611 Am 22. Juni, dem Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, gedenkt das russische Volk jedes Jahr der 27 Millionen sowjetischen Kriegstoten. In Russland findet die Parade des „Unsterblichen Regiments“ statt, bei

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der Familien Plakate mit Porträts ihrer Angehörigen tragen, die von 1941 bis 1945 gegen deutsche Soldatinnen und Soldaten gekämpft haben.

Ägypten 24. Juli 2011 #046_240711 Auf dem Tahrir-Platz in Kairo finden erneut Proteste für und gegen die ägyptische Militärregierung statt. Anlass für die Proteste sind die gewaltsamen Auseinandersetzungen des Vortages, an dem Demonstrierende zum Verteidigungsministerium gingen und von Polizeisperren aufgehalten wurden. Somit war ihnen der Rückweg zum Tahrir-Platz abgeschnitten. Sie

wurden von zivilen Personen von den Dächern aus mit Steinen beworfen. Dabei wurden circa 300 Menschen verletzt. Einige der oppositionellen Aktivistinnen und Aktivisten sind während der Proteste in den Hungerstreik getreten, um eine schnellere Reform der Militärregierung zu erwirken.

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Syrien 2. August 2011 #172_020811 Die syrische Bevölkerung leidet. Syriens Präsident Baschar alAssad lässt seine Truppen weiter aufmarschieren und auf Oppositionelle schießen. Vor allem die Rebellenhochburg in Hama ist umkämpft. Oppositionelle beschuldigen die Armee eines äußerst brutalen Vorgehens. Der UN-Sicherheitsrat berät über

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eine Resolution. Ein militärisches Eingreifen wird es jedoch nicht geben, da Russland und China im UN-Sicherheitsrat am Vortag ihr Veto gegen eine Verurteilung Assads einlegten.

Spanien 18. August 2011 #264_180811 In Madrid findet in Anwesenheit des Papstes Benedikt XVI. der Weltjugendtag statt. Hunderttausende Menschen sind angereist. Bei Protesten stehen sich hier Kritiker:innen und Befürworter:innen der Veranstaltung gegenüber. Die Teilnehmer:innen der Gegendemonstration kritisieren die enge Be-

ziehung zwischen Staat und Kirche und die Verschwendung von Steuergeldern zur Finanzierung des Weltjugendtages. In Spanien herrscht eine aufgebrachte Stimmung, denn etwa die Hälfte der unter 25-Jährigen ist arbeitslos.

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Syrien 18. August 2011 #228_180811 Viele Syrer:innen protestieren wieder gegen ihren Präsidenten Baschar al-Assad. Am Vortag kündigte Assad in seiner Rede, die auch an den Generalsekretär der UN Ban Ki-moon gerichtet war, das Ende seines Militäreinsatzes an. Die Realität zeigt jedoch ein anderes Bild. Zur gleichen Zeit gibt es in Homs wieder Tote und auf den Straßen von Latakia sind Panzer unterwegs.

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Die USA und EU fordern den syrischen Präsidenten Assad zum Rücktritt auf und der internationale Druck auf die syrische Regierung durch Wirtschaftssanktionen nimmt zu.

Israel / Palästina 20. August 2011 #145_200811 Wieder kommt es zu Gewalt zwischen Palästinenserinnen und Palästinensern und Israelis. Israelische Kampfflugzeuge bombardieren in der Nacht den Gazastreifen als Reaktion eines Terroranschlages im Badeort Eilat, im Grenzgebiet zur Sinai Halbinsel. Bei der Verfolgung der Attentäter sollen ägyptische Armeeangehörige von israelischen Soldaten getötet worden

sein. Die politische Situation zwischen Israel und Ägypten ist daher sehr angespannt. Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak macht Ägypten für den Terroranschlag mitverantwortlich, da die palästinensischen Attentäter angeblich von Ägypten kommend über den Gaza-Streifen nach Israel eingereist sind.

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Libyen 20. August 2011 #160_200811 Libysche Rebellen kämpfen weiter und nähern sich Tripolis von zwei Seiten, von der Stadt Al-Sawija und der Stadt Slitan. Mehr als 30 Aufständische werden bei den Kämpfen getötet. Nach eigenen Angaben nehmen die libyschen Rebellen die Hafenstadt Brega einschließlich ihrer Raffinerieanlagen ein. Der ehemalige enge Vertraute von Machthaber Muammar

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al-Gaddafi und die „Nummer zwei” in der libyschen Führung Abdessalam Jalloud, läuft zu den Rebellen über und setzt sich ins Ausland ab.

Libyen 17. September 2011 #224_170911 Die Rebellen in Libyen kämpfen weiter und geben sich äußerst siegessicher. Gaddafi Anhänger:innen verteidigen weiterhin mit Scharfschützen und Raketen die Städte Bani Walid, Sebha und Syrte. Die Stadt Bani Walid ist dabei besonders hart umkämpft.

Der Versuch der Rebellen die Stadt einzunehmen, scheitert. Sie sind bis ins Stadtzentrum vorgedrungen und werden dann von Scharfschützen an den Stadtrand zurückgedrängt.

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Bolivien 1. Oktober 2011 #171_011011 Der Protestmarsch mit etwa 1.000 indigenen Bewohnerinnen und Bewohnern des Tipnis-Nationalparks wird gewaltsam von der Polizei aufgelöst. Diese geht dabei brutal gegen die Teilnehmer:innen des Protestes vor, die sich gegen eine geplante Nationalstraße durch den Park wehren.

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USA 6. Oktober 2011 #370_061011 Tausende protestieren in New York an der Wall Street für höhere Steuern für Konzerne und Reiche und fordern darüber hinaus Reformen im Sozialsystem für ärmere Menschen.

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Libyen 8. Oktober 2011 #271_081011 Die Rebellen sind auf der Suche nach Gaddafi. Es gibt schwere Kämpfe in der libyschen Stadt Syrte, der Geburtsstadt Gaddafis. Die Regierungstruppen verteidigen mit Scharfschützen vehement die Stadt. Stark umkämpft ist dabei ein Konferenzzentrum und die Universität. Es gibt wieder viele Verletzte und auch Tote.

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Südkorea 15. Oktober 2011 #306_151011 Hunderttausende demonstrieren friedlich in rund 80 Ländern, so auch in Südkorea. Ihr Protest richtet sich gegen die Banken und die korrupten Finanzsysteme. Laut skandieren sie nach dem Vorbild der amerikanischen Occupy-Bewegung: „Wir sind

die 99 %“. Zur Wahrung ihrer Anonymität und als Zeichen des Protests tragen einige der Demonstrierenden Guy-FawkesMasken.

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Israel / Palästina 18. Oktober 2011 #272_181011 Abu Obaida, Sprecher der Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden, dem militärischen Flügel der Hamas, bekräftigt in einer Fernsehrede, anlässlich eines Gefangenenaustausches, den Kampf der Hamas solange fortzuführen, bis alle in israelischen Gefängnissen inhaftierten Palästinenser:innen frei sind. Nach fünf Jahren Haft wird der israelische Soldat Gilad Schalit gegen

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mehr als tausend palästinensische Gefangene ausgetauscht. Im Juni 2006 war der damals 19-jährige Soldat von der radikal islamischen Hamas entführt worden. Unter den Freigelassenen sind auch von israelischen Militärgerichten zu lebenslanger Haft verurteilte Palästinenser:innen.

Ägypten 23. November 2011 #330_231111 „Verschwinde, verschwinde“ rufen die Demonstrierenden auf dem Tahrir-Platz nach der Rede des ägyptischen Verteidigungsmininsters Mohammed Hussein Tantawi. Sie fordern lautstark den Rücktritt des Militärrates. Tantawi hat in einer Fernsehrede angekündigt, dass bereits Ende Juni 2012 Präsidentschaftswahlen stattfinden könnten. Während Tantawis

Fernsehansprache geht das Militär in einer Seitenstraße des Tahrir-Platzes mit Gummigeschossen, scharfer Munition und Tränengas rücksichtslos gegen die Demonstrierenden vor. Etwa 35 Menschen sind seit Beginn der Proteste ums Leben gekommen.

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Ägypten 17. Dezember 2011 #281_171211 In Kairo kommt es vor der Stichwahl der Direktkandidaten für die neun ägyptischen Provinzen erneut zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und den Sicherheitskräften des Militärrates. Ägyptische Soldaten errichten eine Mauer aus Betonblöcken um den Tahrir-Platz, um das angrenzende Regierungsviertel zu schützen und versuchen die Demonstrie-

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renden mit Schlagstöcken, Tränengas und auch Schusswaffen zu vertreiben. Die Demonstrierenden antworten mit Steinen und Brandsätzen. Es gibt neun Tote und etwa 300 Verletzte. Der Ministerpräsident der Übergangsregierung Kamal al Gansuri bestreitet, dass die Soldaten auf die Demonstrierenden geschossen haben.

Ägypten 20. Dezember 2011 #310_201211 Ein Foto zeigt wie eine junge Demonstrantin wehrlos am Boden liegt. Sie wird von ägyptischen Sicherheitskräften brutal in Brust und Bauch getreten und mit Schlagstöcken traktiert. Die attackierte Frau wird von den Sicherheitskräften über die Straße geschleift, wobei ihre Kleidung nach oben rutscht und ihr blauer BH sichtbar wird. Daraufhin ergießt sich ein medialer

Shitstorm über die junge Frau, bei dem sie dafür verantwortlich gemacht wird, dass ihr Körper entblößt der Öffentlichkeit gezeigt wurde. Das aggressive Vorgehen der Sicherheitskräfte zielt darauf ab, Frauen von der Teilnahme an Demonstrationen abzuhalten.

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Ägypten 25. Januar 2012 #452_250112 Zehntausende Ägypter:innen versammeln sich auf dem TahrirPlatz in Kairo, um den ersten Jahrestag der Revolution zu feiern. Die Menschen demonstrieren friedlich, obwohl ihre Forderungen aus dem vergangenen Jahr vom herrschenden Militär noch nicht erfüllt worden sind. Vor einem Jahr versammelten sich am Feiertag, dem Tag der Polizei, tausende Regimekritiker:innen

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zu einer großen Demonstration auf dem Tahrir-Platz in Kairo, um gegen die Regierung Mubaraks zu protestieren. 18 Tage lang besetzten die Aufständischen den Platz. Die Sicherheitskräfte gingen äußerst brutal gegen sie vor.

Ägypten 2. Februar 2012 #319_020212 Aufgebrachte Ägypter:innen gehen auf die Straße und zeigen ihre Wut. Denn: Am Vortag kam es zu einer Gewalteskalation im Fußballstadion in Port Said. Dort spielte die ägyptische Fußballmannschaft al Ahly Kairo gegen die von al-Masry. Nach dem Schlusspfiff des Spiels rannten Hunderte al-Masry-Fans auf das Spielfeld und begannen eine Hetzjagd auf Spieler und Fans der

gegnerischen Mannschaft. Dabei wurden über 70 Menschen getötet und Hunderte von Stadionbesucherinnen und Stadionbesuchern verletzt. Das Ereignis erinnert an den Tag vor genau einem Jahr. Damals verfolgten auf dem Tahrir-Platz bewaffnete Kamelreiter, Unterstützer Mubaraks, die oppositionellen Revolutionäre, die von al Ahly Fans unterstützt wurden.

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Syrien 7. Februar 2012 #423_070212 In der Stadt Homs, der Hochburg der Assad-Gegner, gibt es erneut viele Tote und Verletzte. Die Wohnviertel der Stadt werden mit Raketen beschossen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow ist zu Besuch in Damaskus und wird von einer jubelnden Menge von Assad’s Anhängerinnen und Anhän-

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gern begrüßt. Im syrischen Fernsehen sagt er: „Syrien braucht Frieden. Eine Lösung muss gefunden werden ohne ausländische Intervention.“( * ) ( * ) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts31988.html

Afghanistan 21. Februar 2012 #342_210212 Mehr als 2.000 Musliminnen und Muslime protestieren wütend vor dem US-Luftwaffenstützpunkt Bagram. Sie werfen den amerikanischen Soldatinnen und Soldaten vor, mehrere Bücher des Korans und auch andere religiöse Bücher verbrannt zu haben. Der Kommandeur der stationierten US-Truppen

John Allen entschuldigt sich dafür und sagt, dass die Bücher von ehemaligen muslimischen Gefangenen benutzt worden sind und die Verbrennungen aus Versehen erfolgt seien.

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Jemen 21. Februar 2012 #619_210212 In Aden, im Südjemen eskaliert die Gewalt, es werden Wahllokale zerstört und es gibt Tote und Verletzte. Nach nun 33 Jahren der Diktatur von Ali Abdullah Saleh können die Menschen im Jemen zur Wahl gehen, jedoch können sie ihre Stimme ausschließlich für oder gegen den Vizepräsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi abgeben. Gegner:innen der Wahl rufen deshalb

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in ganz Jemen zum Boykott der Präsidentschaftswahl auf. Der Jemen ist politisch zerrissen, im Süden versucht die islamistische Terrororganisation Al-Quaida an Einfluss zu gewinnen.

Syrien 22. Juli 2012 #238_220712 Syrer:innen zeigen ihre Wut gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, indem sie Plakate mit seinem Porträt demonstrativ mit Füßen treten. Überall im Land wird gekämpft. Die Menschen und das Land sind gezeichnet von den verheerenden Zerstörungen des immer noch anhaltenden Bürgerkrieges.

Videos aus Aleppo zeigen Kämpfe von Aufständischen gegen regierungstreue Milizen. Die Rebellen haben den Grenzübergang Bab al-Salameh zur Türkei unter ihre Kontrolle gebracht.

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Syrien 5. August 2012 #453_050812 In Damaskus wird eine Gruppe von Iranern entführt. Es wird vermutet, dass es sich bei den Entführten um Elitesoldaten der iranischen revolutionären Garden handelt. Teheran widerspricht dem und spricht von der Entführung einer Gruppe von Pilgern. Der Hauptmann der syrischen Revolutionäre zeigt zum

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Beweis die Ausweispapiere eines Iraners und beschuldigt den Iran, Assad im Kampf gegen die oppositionellen Revolutionäre zu unterstützen.

Tunesien 7. Februar 2013 #406_070213 Tunesische Sicherheitskräfte formieren sich gegen zehntausende Menschen, die auf die Straße gehen, um gegen ihre Regierung zu protestieren. Auslöser der Proteste ist die Ermordung des Oppositionspolitikers Chokri Belaid. Die Demonstrierenden bezeichnen dessen Mord als einen politischen Anschlag und machen die islamische Regierungspartei Ennahda dafür

verantwortlich. Belaid hatte sich für die Trennung von Staat und Religion eingesetzt und kritisierte Ennahda. Der tunesische Ministerpräsident Hamadi Jebali will die Regierung auflösen. Seine eigene Regierungspartei Ennahda lehnt dies jedoch ab.

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Bahrain 18. April 2013 #386_180413 Die Proteste in Bahrain eskalieren. Tausende Menschen gehen im Königreich Bahrain auf die Straße und fordern Menschenrechte und Demokratie ein. Am Sonntag soll in Bahrain der Große Preis der Formel 1 stattfinden. Die Demonstrierenden

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nutzen die internationale Aufmerksamkeit, die in diesen Tagen auf ihr Land gerichtet ist und machen auf die Menschenrechtsverletzungen im Königreich aufmerksam.

Türkei 1. Juni 2013 #417_010613 Bei den Gezi-Park Protesten in Istanbul werden etwa tausend Menschen verletzt. Die Polizei nimmt etwa 100 Demonstrierende fest. Zehntausende Menschen protestieren gegen den Bau eines Gebäudekomplexes nach dem Vorbild einer alten osmanischen Kaserne, dem die Bäume im kleinen Gezi-Park

weichen sollen. Die Polizei geht bei der Räumung des Parkes gewaltsam mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die Demonstrierenden vor.

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Türkei 5. Juni 2013 #235_050613 Es ist bereits der sechste Tag der Proteste auf dem TaksimPlatz in Istanbul. Zwei Gewerkschaften rufen zu einem Generalstreik auf. Zehntausende Menschen versammeln sich, um gegen die Politik des türkischen Ministerpräsidenten Recep

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Tayyip Erdoğan zu protestieren. Sie fordern, dass die Verantwortlichen für das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die Demonstrierenden zur Rechenschaft gezogen werden sollen.

Türkei 9. Juni 2013 #426_090613 Wieder eskalieren die Proteste in der Türkei. Die türkische Polizei geht erneut mit Wasserwerfern gegen Demonstrierende vor. Deren Proteste richten sich mittlerweile nicht nur gegen die Abholzung der alten Bäume im Gezi-Park, sondern immer mehr

gegen die Politik des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Sie fordern mehr demokratische Mitbestimmung und sogar den Rücktritt Erdoğans.

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Türkei 10. Juni 2013 #414_100613 Es ist der elfte Tag der Proteste in der Türkei. Die Polizei ging am Vortag erneut mit Wasserwerfer und Tränengas gegen Demonstrierende vor. Diese lassen sich davon nicht einschüchtern und fordern weiterhin den Erhalt des kleinen GeziParkes als grüne Oase im Stadtzentrum. Präsident Recep

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Tayyip Erdoğan distanziert sich inzwischen von seinem Plan, dort ein Einkaufszentrum zu bauen. Er spricht nun von einem Kulturzentrum.

Ägypten 3. Juli 2013 #638_030713 In Kairo geraten Mursi Unterstützer:innen und Mursi Gegner:innen aneinander. Das Militär hatte den vor einem Jahr demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi aufgefordert die Krise im Land zu beenden. Das Ultimatum dafür ist abgelaufen. In den Straßen Kairos ist das Militär präsent und Panzer fahren

auf. Der Verteidigungsminister Abd al-Fattah as-Sisi erklärt am Abend das Ende von Mursis Präsidentschaft, setzt die Verfassung außer Kraft und kündigt eine Übergangsregierung an.

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Ägypten 14. August 2013 #633_140813 In Kairo geht die schwer bewaffnete Polizei gewaltsam gegen die Anhänger:innen des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi vor und räumt mit Bulldozern deren Protestcamps. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen werden nach Schätzung der Regierung mehr als 140 Menschen getötet. Die Übergangsregierung verordnet daraufhin einen einmonatigen

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Ausnahmezustand in Kairo und weiteren Provinzen. Vizepräsident Mohammed el-Baradei missbilligt das Vorgehen der Regierung und tritt zurück.

Ukraine 20. Januar 2014 #441_200114 In der Ukraine kommt es zu Protesten mit gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Regierungsgegnerinnen, Regierungsgegnern und der Polizei, bei denen auf beiden Seiten seit dem Vortag etwa 200 Menschen verletzt werden. Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschosse auf der einen Seite werden beantwortet mit Steinen, Feuerwerkskörpern und Brandsät-

zen auf der anderen Seite. Die Regierung will den Maidan Platz in Kiew räumen lassen. Das Drängen des Präsidenten Wiktor Janukowytsch das Demonstrationsrecht zu verschärfen ist der Auslöser für die Proteste. Das ukrainische Innenministerium verhängt einen Erlass, dass die Sicherheitskräfte auch scharfe Munition gegen die Demonstrierenden einsetzen dürfen.

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Ukraine 27. Januar 2014 #564_270114 Die Lage in der Ukraine ist äußerst angespannt, da die Regierung mit massiver Gewalt, willkürlichen Verhaftungen und auch mit Scharfschützen gegen die Demonstrierenden vorgeht. Auslöser der Proteste auf dem Maidan ist der Beschluss der Regierung vom Ende November 2013 ein Assoziierungsgesetz mit der EU zu kippen. Die Opposition fordert den Rücktritt

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der Regierung, die Aufhebung der Gesetze vom 16. Januar, mit denen das Versammlungsrecht und das Recht auf Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt werden, eine Amnestie für alle unschuldig Inhaftierten und die Einführung der Verfassung von 2004, die dem Präsidenten weniger Macht einräumt.

Russland 18. Februar 2014 #030_180214 Mitglieder der Pussy Riot werden während der Olympischen Winterspiele in Sotschi verhaftet und kurz darauf wieder freigelassen. Das 2011 gegründete feministische Punkrock-Kollektiv aus Moskau tritt bei spontanen Protestaktionen in schriller Kleidung und mit Sturmhauben auf. Weltweite Bekanntheit erlangten sie mit ihrem Auftritt am 21. Februar 2012 in der rus-

sisch-orthodoxen Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Dort führten sie auf dem Altar ein „Punk-Gebet“ auf. Gegen die drei Mitglieder Nadeschda Tolokonnikowa, Marija Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch wurde anschließend Anklage wegen grober Verletzung der öffentlichen Ordnung erhoben und sie wurden zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

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Ukraine 2. März 2014 #495_020314 Auf Grund der russischen Truppenbewegungen auf der Halbinsel Krim ruft die ukrainische Regierung ihre Armeeangehörigen zur Einsatzbereitschaft auf. Immer mehr russische Soldatinnen und Soldaten werden von Militärfahrzeugen, deren Nummernschilder zum Teil entfernt wurden, auf die Krim gebracht. Diese Militärpräsenz wird von den westlichen Staaten als Aggression

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gewertet. „Wir stehen am Rande einer Katastrophe“ sagt der Ministerpräsident der Ukraine Arsenij Jazenjuk, und weiter: „Präsident Putin sei auf dem besten Weg einen Krieg zwischen zwei benachbarten, befreundeten Staaten anzuzetteln.“( * ) ( * ) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts47090.html

Ukraine 28. April 2014 #588_280414 Etwa 2.000 Menschen protestieren friedlich in Donezk in der Ostukraine. Ihr Anlass: Am 11. Mai 2014 soll ein Referendum abgehalten werden, das entscheiden soll, ob es eine autonome Volksrepublik Donezk und eine Volksrepublik Lugansk geben soll. Dies würde die Spaltung der Ukraine bedeuten. Unerwartet werden die Protestierenden von pro-russischen Männern

mit Knüppeln und Feuerwerkskörpern angegriffen. Mehrere OSCE Beobachter werden von pro-russischen Separatisten als Geiseln genommen. Das russische Fernsehen verbreitet Falschmeldungen über Judenverfolgungen durch ukrainische Faschisten und angeblich brennende Synagogen.

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Nigeria 17. Mai 2014 #587_170514 In den Tagesnachrichten wird ein Gruppenbild der in Nigeria am 14. April 2014 entführten 276 Schülerinnen gezeigt. Diese wurden von der radikal-islamistischen Gruppe Boko Haram aus einem Internat in der nordnigerianischen Stadt Chibok entführt. Seitdem sind sie spurlos verschwunden. Die Bezeichnung „Boko Haram“ bedeutet in etwa „westliche Bildung ist Sünde“.

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Boko Haram wird als eine der gefährlichsten Terrorgruppen in Westafrika angesehen. Ihr werden auch Verbindungen zum nordafrikanischen Ableger von Al-Quaida nachgesagt.

Israel / Palästina 2. Juli 2014 #049_020714 In Ost-Jerusalem gibt es gewalttätige Ausschreitungen und Straßenkämpfe zwischen Palästinenserinnen und Palästinensern und der israelischen Polizei. Anlass ist die Entführung und Ermordung dreier israelischer Jugendlicher und der Tod des 16-jähriger Palästinensers Mohammed Abu Chedair. Es wird vermutet, dass es sich bei seinem Tod um einen Racheakt

rechtsgerichteter jüdischer Siedler handelt. Die Hamas kündigt Vergeltung an. Es wird eine dritte Intifada befürchtet. Die Situation ist sehr angespannt.

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Irak 5. August 2014 #637_050814 Kämpfer der sunnitischen Terrorgruppe Islamischer Staat bedrohen im Nordirak Andersgläubige. Tausende Turkmener:innen sind vor dem IS auf der Flucht in die autonomen Kurdengebiete. Ihnen mangelt es an Lebensmitteln und an der notwendigen medizinischen Versorgung. Die Terrorgruppe Islamischer Staat will alle Nicht-Araber und alle Andersgläubigen aus seinem

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Herrschaftsgebiet vertreiben. Insbesondere ist die Religionsgemeinschaft der Jesidinnen und Jesiden betroffen. Sie hoffen auf militärische Unterstützung der irakischen Regierung. Diese ist jedoch äußerst instabil, und zeigt sich passiv. Die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten erweist sich als schwierig.

USA 19. August 2014 #647_190814 Polizistinnen und Polizisten, unterstützt von der Nationalgarde, gehen mit Rauchgaskranaten und Tränengas gegen wütende Demonstrierende vor. Ein Teil von ihnen, maskiert und gewaltbereit, antwortet mit Steinen und Molotowcocktails. Anlass der zunächst friedlichen Demonstration war der Tod des afroamerikanischen Jugendlichen Michael Brown, der von dem Polizis-

ten Darren Wilson am 9. August 2014 erschossen wurde. Die Protestierenden kritisieren die rassistische Polizeigewalt und fordern eine Anklage und gerechte Verurteilung des beurlaubten Polizisten.

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Israel / Palästina 22. August 2014 #634_220814 Radikale Mitglieder der palästinensischen Hamas haben im Gazastreifen Personen, die sie beschuldigen mit Israel kollaboriert zu haben, festgenommen und anschließend öffentlich hingerichtet. Anlass für die 18 Hinrichtungen vor einer Moschee nach dem Freitagsgebet ist der Tod von drei ranghohen

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Hamas-Kommandeuren durch gezielte israelische Luftangriffe. Das palästinensische Zentrum für Menschenrechte (PCHR) lehnt diese Hinrichtungen ausdrücklich ab.

Hongkong 28. September 2014 #322_280914 Die Anführer:innen der Demokratiebewegung Occupy Central haben zur Besetzung des Finanzviertels von Hongkong aufgerufen. Die zunächst friedliche Demonstration wird von der Polizei aufgelöst, die Tränengas und Pfefferspray einsetzt. Die Demonstrierenden schützen sich mit Regenschirmen, einem Symbol des Widerstands. Auslöser der Proteste sind

neue Regeln für die Wahl eines künftigen Verwaltungschefs oder einer Verwaltungschefin im Jahr 2017. Bei künftigen Wahlen dürfen nur noch Kandidatinnen und Kandidaten antreten, die von der Zentralregierung in Peking zugelassen sind. Zehntausende protestieren für mehr demokratische Rechte und freie Wahlen.

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Frankreich 9. Januar 2015 #400_090115 Scharfschützen einer Anti-Terroreinheit sind gegen die islamistischen Terroristen, die das Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo verübten, in Position gegangen. Bei der AntiTerror-Aktion in Frankreich werden alle drei Attentäter getötet. Zuvor sind die beiden Attentäter, die Brüder Cherif und Said Kouachi in das Büro des Satiremagazins Charlie Hebdo ein-

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gedrungen und haben zwölf Menschen getötet. Die Attentäter verstecken sich anschließend in einer Druckerei im Nordosten von Paris, und werden dort von einer Anti-Terroreinheit aufgespürt und getötet.

Ukraine 20. Februar 2015 #472_200215 Bilder von der Niederschlagung der Proteste auf dem Maidan in Kiew zeigen das Ausmaß der Gewalt und Zerstörung. Vor einem Jahr, wurden während der Maidan Proteste etwa 110 Menschen getötet, außerdem wurden viele verletzt. Scharfschützen waren dabei im Einsatz. Wer diese beauftragt hat, bleibt unklar. Die Ukrainer:innen, die heute zur Gedenkfeier auf den Maidan

kommen, gedenken der getöteten Menschen, den sogenannten „Himmlischen Hundert“ und wollen nach wie vor eine Annäherung an Europa.

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Ukraine 27. Februar 2015 #429_270215 Die Kämpfe in der Ostukraine gehen weiter. Wieder sterben Soldatinnen und Soldaten. Der russische Außenminister Sergei Lawrow kündigt an, dass sich die Ostukraine abspalten könnte, falls die Ukraine weiterhin eine Mitgliedschaft in der NATO anstrebt und warnt die ukrainische Regierung ausdrücklich vor einer zu starken Annäherung an den Westen.

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Irak 6. März 2015 #056_060315 Im Irak, in der altorientalischen Stadt Nimrud südlich von Mosul plündern und zerstören radikale Anhänger:innen der Terrormiliz IS wertvolle antike Kulturgüter. Die asyrische Stadt Nimrud wurde im 13. Jahrhundert v. Chr. erbaut und im 19. Jahrhundert von Archäologinnen und Archäologen wiederentdeckt. Bereits

eine Woche zuvor wurden in Mossul wichtige Kulturgüter von radikalen Islamisten zerstört. In den Augen der Unesco ist dies ein Kriegsverbrechen.

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Afghanistan 28. September 2015 #630_280915 Afghanische Sicherheitskräfte verteidigen vergeblich die Stadt Kundus. Die Taliban, die zahlenmäßig deutlich unterlegen sind, nehmen Kundus in einem Überraschungsangriff von drei Seiten her ein. Sie drängen die afghanischen Streitkräfte bis zum Flughafen zurück. Am Abend haben die Taliban die Regierungsge-

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bäude und das Gefängnis eingenommen und zeigen ihren Sieg, indem sie ihre Flagge hissen. Sie verkünden, dass sie die Stadt nach dem islamischen Recht der Scharia regieren werden.

Israel 10. Oktober 2015 #093_101015 Am Damaskustor in Ostjerusalem greift ein 16-jähriger Palästinenser zwei orthodoxe Juden mit einem Messer an und verletzt die beiden Männer. Der Angreifer wird von der Polizei erschossen. Dies ist der dreizehnte Messerangriff auf Israelis innerhalb von acht Tagen.

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Nordkorea 10. Oktober 2015 #489_101015 In Pjöngjang findet die größte Militärparade der Geschichte Nordkoreas statt. Die Regierung feiert heute das 70-jährige Bestehen ihrer kommunistischen Arbeiterpartei mit einem gigantischen Fackelzug und demonstriert damit martialisch ihre militärische Stärke.

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Philippinen 19. November 2015 #632_191115 In Manila gibt es bei Demonstrationen Ausschreitungen. Dort demonstrieren etwa tausend Menschen vor dem Tagungsgebäude des Gipfeltreffens der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) gegen einen stärkeren Freihandel. Die Staats- und Regierungschefs der APEC fordern bei

ihrem Treffen eine stärkere gemeinsame internationale Zusammenarbeit, Solidarität und die Verteidigung der Grundwerte der freien Volkswirtschaften gegen Angriffe von Terroristen.

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Syrien 29. Mai 2016 #088_290516 Kämpfer:innen des Islamischen Staates erstürmen in Syrien die Außenbezirke der Rebellenstadt Marea. Daraufhin sind zehntausende Menschen in der Region von Marea eingeschlossen. Es folgen erbitterte Kämpfe zwischen den Rebellen und den ISKämpfern. Tausende von Menschen versuchen vor dem IS im Norden Syriens zu fliehen.

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Türkei 17. Juli 2016 #657_170716 Zehntausende feiern auf dem Taksim-Platz den Sieg über die Putschisten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan macht den türkischen Islamprediger Fethullah Gülen und seine Gülen-Bewegung für den Putschversuch verantwortlich, bei dem ca. 250 Menschen starben. Die Gülen-Bewegung wird von der türkischen Regierung als Terrororganisation eingestuft. Als

Reaktion auf den Putschversuch werden etwa 6.000 Personen, darunter Angehörige des Militärs und der Justiz verhaftet. Gleichzeitig werden ein Fünftel aller Richter und Staatsanwälte der Türkei von ihren Diensten suspendiert. Erdoğan fordert bei einer Trauerfeier die Wiedereinführung der Todesstrafe und eine strikte „Säuberung der Staatsorgane“.

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Türkei 7. August 2016 #483_070816 Hunderttausende Menschen folgen am 7. August in Istanbul dem Aufruf des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan an der „Demokratie- und Märtyrerkundgebung“ teilzunehmen. Die Putschistinnen und Putschisten versuchten in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli den Staatspräsidenten und seine Regierung unter Einsatz von Panzern und Kampfflugzeugen zu stür-

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zen. Dabei wurden rund 2.000 Personen verletzt und etwa 250 kamen ums Leben, die nun als Märtyrer geehrt werden. Erdoğan reagierte auf den Putsch mit Massenverhaftungen, Entlassungen und Suspendierungen beim Militär, bei der Justiz und der Verwaltung. Zudem geht er massiv gegen kritische Medien vor.

Irak 2. November 2016 #635_021116 Die Milizen von al-Haschd asch-Scha‘bī erobern mehr als 40 Dörfer vom IS zurück und haben sich bis zur IS-Hochburg Tal Afar, 70 km von Mossul entfernt, vorgekämpft. Hier möchten sie den IS Kämpferinnen und Kämpfern die Fluchtwege nach Syrien abschneiden. Al-Haschd asch-Scha‘bī ist ein Bund verschiedener schiitischer Kämpfer:innen, der gegen den Isla-

mischen Staat kämpft, mit dem Ziel den gesamten Irak vom IS zu befreien. Ihnen wird jedoch vorgeworfen bei der Befreiung von Falludscha in der irakischen Provinz al-Anbar sunnitische Zivilisten misshandelt zu haben. Die Schiiten-Miliz widerspricht diesem Vorwurf.

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Südkorea 19. November 2016 #037_191116 Zehntausende fordern in Seoul die amtierende Präsidentin Geun-hye Park zum Rücktritt auf. Sie werfen ihr Korruption vor. Park entschuldigt sich, lehnt jedoch einen Rücktritt ab. Die Anhänger:innen Parks protestieren in einer Gegendemonstration, da die Vorwürfe in ihren Augen nicht bewiesen sind.

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Syrien 14. Dezember 2016 #590_141216 Syrische Regierungstruppen greifen, trotz der von Russland ausgehandelten Waffenruhe, weiterhin den Osten von Aleppo an. Assad stimmt dem Waffenstillstand nicht zu und folglich wird dieser auch nicht eingehalten. Somit sind Zehntausende wei-

terhin in der Stadt eingeschlossen. Die grünen Busse stehen umsonst bereit, um die Bewohner:innen der umkämpften Stadt Aleppo in Sicherheit zu bringen.

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Belarus 25. März 2017 #530_250317 Die Polizei geht in der Hauptstadt Minsk gewaltsam gegen die Teilnehmer:innen einer nicht genehmigten Demonstration vor. Der Protest richtet sich wieder gegen den langjährigen, autoritär regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko. Mehrere hundert Demonstrierende werden festgenommen.

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Türkei 1. Mai 2017 #528_010517 Über 200 Regierungskritiker:innen werden in Istanbul bei den 1. Mai-Demonstrationen festgenommen. Die Istanbuler Behörden haben für den Taksim-Platz ein Demonstrationsverbot erteilt. Trotzdem protestieren Aktivistinnen und Aktivisten

gegen den Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Die türkischen Sicherheitskräfte gehen mit Tränengas gegen die Demonstrierenden vor.

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Deutschland 7. Juli 2017 #640_070717 In Hamburg eskaliert die Gewalt bei den Demonstrationen gegen den G20-Gipfel. Mit Sitzblockaden wollen Protestierende den Ablauf des Gipfeltreffens behindern. Die Proteste richten sich insbesondere auch gegen das brutale Vorgehen der Polizei vom Vortag. Die Polizei hatte eine Gruppe der Protestierenden, den sogenannten „schwarzen Block“, aufgefordert die

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Vermummung abzulegen. Nach deren Weigerung entschied die Polizei die Gruppe aufzulösen und setzte Wasserwerfer ein. Von der gegnerischen Seite wurden Flaschen und Brandsätze geworfen und Autos in Brand gesetzt. Die Situation geriet außer Kontrolle.

Deutschland 9. Juli 2017 #645_090717 Die seit Tagen anhaltenden friedlichen Proteste eskalieren am letzten Tag des G20-Gipfels. Etwa 1.500 gewaltbereite Autonome zünden Barrikaden an, plündern Geschäfte und setzen Autos in Brand. Fotografien und Videos über die gewaltsamen Krawalle zwischen links-autonomen Gipfel-Gegner:innen und der Polizei im Hamburger Schanzenviertel zeigen das Ausmaß

der Gewalt. Insgesamt waren etwa 20.000 Beamte im Einsatz, um den G20-Gipfel zu sichern. Die Polizei wurde von Spezialeinheiten zur Beendigung der Krawalle unterstützt.

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Israel 14. Juli 2017 #103_140717 Ein Überwachungsvideo zeigt im Bild einen Attentäter, rot eingekreist, der sich von hinten einem israelischen Polizisten, blau eingekreist, nähert, der den Eingang des Tempelberges überwacht. Nach dem Attentat mit fünf Toten auf dem Tem-

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pelberg sperren israelische Sicherheitskräfte die Altstadt von Jerusalem weiträumig ab. Das traditionelle Freitagsgebet in der Moschee kann nicht stattfinden.

Frankreich 10. Januar 2018 #648_100118 #balancetonporc ist eine feministische Bewegung, die den Sexismus in der französischen Gesellschaft bereits vor der #metoo Bewegung öffentlich anprangerte. Die Debatte um sexuelle Belästigung ist in Frankreich neu entflammt. Anlass ist ein offener Brief von 100 prominenten Frauen, in dem sie der

#metoo Bewegung Sexualfeindlichkeit und Männerhass vorwerfen. Feministinnen kritisieren diese Haltung als Bagatelisierung von sexueller Gewalt.

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Russland 2. Februar 2018 #639_020218 Veteranen in historischen Winteruniformen der Rotarmisten nehmen an den Gedenkfeierlichkeiten in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, teil. In Russland wird alljährlich an die Schlacht von Stalingrad erinnert. Diese gilt als Wendepunkt des Krieges gegen das deutsche Naziregime.

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Syrien 5. Februar 2018 #186_050218 Ein Mann ringt um Atem. Fassbomben sind auf die nordsyrische Stadt Sarakeb geworfen worden. Sie sollen Chlorgas enthalten. Chlor verursacht Ätzungen an Augen und Schleimhäuten und kann zum Erstickungstod führen. Der Einsatz von Chemiewaffen ist ein Bruch des Völkerrechtes. Das Chemiewaffenübereinkommen (CWC), ein internationales Abkommen zwischen den

Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, das im April 1997 in Kraft trat, verbietet die Entwicklung, den Besitz, die Weitergabe und den Einsatz chemischer Waffen.

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Palästina 6. April 2018 #521_060418 Am 70. Jahrestags der Gründung Israels protestieren tausende Palästinenser:innen an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel. Der Rauch von brennenden Autoreifen am Grenzzaun soll den israelischen Scharfschützen die Sicht nehmen. Palästinenser:innen werfen Steine. Die Israelis antworten mit Tränengas und scharfer Munition. Wieder gibt es daher

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Tote und etwa 1.000 Verletzte. Die Hamas ruft zum „Marsch der Rückkehr“ auf und fordert weiter die Rückgabe ihrer vor 1948 bewohnten Gebiete.

Armenien 2. Mai 2018 #649_020518 In der armenischen Hauptstadt Eriwan protestieren die Menschen friedlich gegen ihre Regierung. Ausgelöst wurde die politische Krise durch den Rücktritt des ehemaligen Ministerpräsidenten Sersch Sargsjan, der durch Massenproteste wegen angeblicher Korruption und Vetternwirtschaft zum Rücktritt gezwungen worden war. Oppositionsführer Nikol Paschinjan

hatte zu einer Verkehrsblockade und auch zu einem Generalstreik aufgerufen, weil die Republikanische Partei ihn daran gehindert hatte, Premierminister zu werden.

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Türkei 12. Oktober 2018 #458_121018 Die brutale Ermordung des saudischen Journalisten und Regierungskritikers Jamal Khashoggi ist der Grund für eine große Medienpräsenz in Istanbul. Dieser betrat vor zehn Tagen das saudi-arabische Konsulat in Istanbul, um seine Heiratsdokumente abzuholen. Es gibt ein Foto in den Überwachungsaufzeichnungen, das ihn beim Betreten der Botschaft zeigt, aber

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kein Foto, das sein Verlassen dokumentiert. Die saudische Regierung weist zuerst die Verantwortung für den grausamen Tod Khashoggis zurück, bestätigt einige Wochen später seine dortige Ermordung.

Frankreich 2. Dezember 2018 #653_021218 In ganz Frankreich gibt es erneut gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den sogenannten „Gelbwesten“ und der Polizei. Steine fliegen, Wasserwerfer werden eingesetzt. In Paris allein werden etwa 130 Menschen verletzt und mehr als

400 festgenommen. Die „Gelbwesten“ fordern von der Regierung Steuersenkungen, eine Erhöhung der Renten und Mindestlöhne.

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Venezuela 27. Januar 2019 #566_270119 Bei einem Auftritt vor der Presse verspricht der selbst ernannte Interimspräsident Juan Guaidó dem Militär Amnestie, wenn es bereit sei, ihn zu unterstützen. Der Machtkampf zwischen Nicolás Maduro und Juan Guaidó geht weiter. Mehrere EU Staaten und die Vereinigten Staaten unterstützen Guaidó. Maduro lehnt das als Einmischung ab und wirft Guaidó Verfassungs-

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bruch vor. In Mexiko und in Venezuela finden Demonstrationen für Maduro statt. Militäroffiziere unterstützen ebenso Maduro. In Caracas versammeln sich viele Anhänger:innen Guaidós.

Frankreich 2. Februar 2019 #574_020219 Landesweit beteiligen sich am Aktionstag der „Gelbwesten“ wieder zehntausende Menschen und es kommt erneut zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Polizistinnen und Polizisten. Seit zwölf Wochen dauern die Proteste der „Gelbwesten“ in Paris schon an. Sie richten sich gegen die steigenden Lebenshaltungskosten und ganz

generell gegen die Politik von Präsident Emmanuel Macron. Nach Angaben der Regierung wurden bei den Protesten bisher schätzungsweise 1.900 Menschen verletzt, darunter etwa 100 schwer, unter anderem durch Gummigeschosse der Polizei.

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Sudan 12. April 2019 #294_120419 Zehntausende fordern, dass der selbsternannte Militärrat des Sudans die Macht an eine zivile Regierung abgeben soll. Umar al-Baschir, der den Sudan 30 Jahre lang als Präsident autoritär regiert hat, wird 2019 von seinem eigenen Militär entmachtet. Der Internationale Strafgerichtshof hat gegen Umar al-Baschir

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Haftbefehle wegen Kriegsverbrechen und Völkermord im Darfur-Konflikt erlassen. Der Militärrat weigert sich jedoch, den ehemaligen Präsidenten auszuliefern.

Venezuela 5. Juli 2019 #555_050719 In Venezuela sollen bisher etwa 7.000 Menschen bei Polizeieinsätzen getötet worden sein, unter anderem durch angeheuerte private Killerkommandos, die sogenannten „Colectivos“. Der Regierung Maduro werden in UN-Berichten folgende Vergehen vorgeworfen: Nahrungsmittelknappheit, willkürliche Erschießungen, fehlende medizinische Hilfe, Aushöhlung der Rechtsstaat-

lichkeit, Folter, Entführungen und Tötungen von Oppositionellen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen. Zum Unabhängigkeitstag versammeln sich Regierungsgegnerinnen und Regierungsgegner erneut zu Protesten in Caracas. Die Protestierenden fühlen sich durch die UN-Berichte endlich bestätigt und international gehört.

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Hongkong 28. Juli 2019 #556_280719 Die Polizei geht mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die anfangs friedlich Protestierenden vor, die sich zu Tausenden in einer genehmigten Demonstration versammelt haben, um gegen die von China eingesetzte Regierung in Hongkong zu protestieren. Mehrere hundert Demonstrierende ziehen in die Nähe der chinesischen Vertretung und errichten Straßenbarri-

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kaden. Sie fordern demokratische Reformen und den Rücktritt der Regierungschefin Carrie Lam. Ihre aktuellen Forderungen gehen weit über die ursprünglichen hinaus, nämlich die Verhinderung des Gesetzentwurfes über die Auslieferung von Angeklagten an China.

Hongkong 1. Oktober 2019 #563_011019 In Hongkong liefern sich radikale Demonstrierende und die Sicherheitspolizei Straßenschlachten. Die Demonstrationen, die sich gegen den starken Einfluss Chinas auf die Sonderverwaltungszone richten, eskalieren. Demonstrierende schleudern Brandsätze, die Polizei setzt Tränengas und Wasserwerfer gegen sie ein. Ein 18-jähriger Demonstrant, der einen Polizisten

angeblich mit einer Stange geschlagen haben soll, wird angeschossen. Isaac Cheng, Aktivist der Aktionspartei Demosisto, fordert eine Untersuchung der Polizeigewalt und will die Proteste fortsetzen. In China wird gleichzeitig der 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik mit einer Truppenparade auf dem Tiananmen-Platz in Peking gefeiert.

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Iran 18. November 2019 #558_181119 Die iranischen Sicherheitskräfte gehen äußerst hart gegen aufgebrachte Demonstrierende vor, die gegen die Verdreifachung des Benzinpreises protestieren. Dieser Preisanstieg ist eine Folge der Wirtschaftssanktionen der USA gegen den Iran. Der iranische Präsident Hassan Rohani räumt zwar ein, dass die Menschen das Recht haben, gegen die Sanktionen zu

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protestieren. Gleichzeitig ist das Internet seit dem Wochenende abgeschaltet, um zu verhindern, dass Bilder der eskalierten Demonstrationen an die Öffentlichkeit gelangen.

USA 6. Juni 2020 #477_060620 Der weiße Polizist Derek Chauvin kniet am 25. Mai 2020 etwa 10 Minuten lang auf dem Hals des Afroamerikaners George Floyd, der mit Handschellen gefesselt am Boden liegt. Dieser bittet den Polizisten ihn loszulassen: „I can‘t breathe.“ Floyd verliert das Bewusstsein und stirbt später in einem Krankenhaus in Minneapolis. Die anderen Polizisten stehen unbetei-

ligt daneben und greifen nicht gegen das unverhältnismäßige, rassistisch motivierte Verhalten ihres Kollegen ein. Infolgedessen gehen weltweit Zehntausende unter dem Hashtag #BlackLivesMatter gegen Rassismus auf die Straßen.

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USA 7. Juni 2020 #505_070620 Weltweit protestieren Menschen gegen Rassismus. Auslöser ist der Tod des 46-jährigen Afroamerikaner George Floyd. Er stirbt an den Folgen seiner Verhaftung durch den weißen Polizeibeamten Derek Chauvin im Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota. Die Demonstrierenden fordern schärfere Gesetze gegen Polizeigewalt.

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Hongkong 1. Juli 2020 #522_010720 Mehr als 300 Demonstrierende, die gegen das neu erlassene Sicherheitsgesetz auf die Straßen gehen, werden in Hongkong verhaftet. Die Polizei geht mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern gegen die Demonstrierenden vor. Die kommunistische Regierung in China bezeichnet die regierungsfeindlichen Proteste in der Sonderverwaltungszone Hongkong als

terroristischer Akt. Hongkong, das vor 23 Jahren von den Briten als Kolonie an China übergeben wurde, hatte damals Sonderrechte eingeräumt bekommen.

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Hongkong 2. August 2020 #536_020820 Wieder finden Proteste in Hongkong statt und erneut gibt es mehrere Festnahmen. Die Parlamentswahlen in Hongkong werden wegen der Corona Pandemie um ein Jahr verschoben. Die Opposition befürchtet, dass diese Entscheidung politisch motiviert sei, um freie und faire Wahlen in der Zukunft zu verhindern. Am 30. Juni 2020 ist ein neues Sicherheitsgesetz in Kraft

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getreten, das der Sicherheitspolizei mehr Befugnisse einräumt. Mit Hilfe dieses Gesetzes, das der „nationalen Sicherheit“ dienen soll, kann jede unerwünschte Meinungsäußerung in Hongkong unterdrückt und auch strafrechtlich verfolgt werden und darüber hinaus kann es auf jede Person weltweit angewendet werden.

Belarus 15. August 2020 #524_150820 Tausende Menschen protestieren in Minsk gegen den Präsidenten Alexander Lukaschenko und werfen ihm Wahlbetrug vor. Am 10. August 2020 wird der Student Alexandr Taraikovsky unter ungeklärten Umständen während einer Demonstration an der Metrostation Pushkinskaya in Minsk erschossen. Die

Demonstrierenden legen Blumen für ihn nieder. Weiße Kleidung und rote Blumen werden zum friedlichen Symbol des belarussischen Widerstandes.

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Russland 20. August 2020 #572_200820 Archivaufnahmen zeigen die gewaltsame Festnahme des Regierungskritikers Alexej Nawalny, der 2018 als Präsidentenkandidat gegen Putin angetreten war, aber nicht zur Wahl zugelassen wurde. Während eines Fluges von Sibirien nach Moskau verschlechtert sich Nawalnys Gesundheitszustand rapide. Das Flugzeug muss in der Stadt Omsk zwischenlanden.

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Nawalny fällt ins Koma. Er wird auf Vermittlung der deutschen Regierung in der Berliner Charité behandelt und überlebt den Giftanschlag. Nach seiner Rückkehr nach Moskau wird er zu 3,5 Jahren Straflagerhaft verurteilt.

Belarus 30. August 2020 #526_300820 Vierter Protestsonntag – trotz eines Demonstrationsverbots versammeln sich Zehntausende am Rande der Minsker Innenstadt, um gegen den Präsidenten Alexander Lukaschenko zu protestieren. Sie beschuldigen Lukaschenko des Wahlbetrugs und fordern seinen Rücktritt. Der zentrale Unabhängigkeitsplatz wird von der Polizei abgeriegelt und mehr als 100 Protes-

tierende werden willkürlich festgenommen. Filmaufnahmen sind verboten, die Internetverbindungen werden immer wieder unterbrochen und das Militär ist mit Panzern präsent. Die Bürgerrechtlerin und Oppositionspolitikerin Maryia Kalesnikawa bittet die Demonstrierenden friedlich zu bleiben und sich nicht provozieren zu lassen.

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Frankreich 2. September 2020 #537_020920 Zu Beginn des Charlie Hebdo Prozesses finden in Paris Solidaritätsbekundungen statt. Zu diesem Zweck erscheint die Sonderausgabe von Charlie Hebdo „Viel Lärm um nichts“. Am 7. Januar 2015 stürmten zwei schwer bewaffnete Islamisten das Büro des Satire Magazins Charlie Hebdo, töteten zwölf Menschen. Ein weiterer Attentäter überfiel einen koscheren

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Supermarkt und tötete fünf Menschen. Die drei Attentäter wurden von der Polizei erschossen. Vierzehn mutmaßliche Unterstützer:innen der Attentäter sind vor einem Pariser Schwurgericht wegen möglicher Beihilfe angeklagt.

Belarus 27. September 2020 #560_270920 Erneut protestieren zehntausende Menschen in Belarus für die Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja, die von den Protestierenden symbolisch zur Präsidentin erklärt wird. Sie werfen dem Präsidenten Alexander Lukaschenko erneut Wahl-

betrug vor. Die Polizei geht am Abend brutal gegen Demonstrierende vor und setzt Tränengas ein. Offiziellen Angaben zufolge werden mehr als 200 Menschen festgenommen.

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Belarus 22. Oktober 2020 #518_221020 Die belarussische Regierung geht weiter hart gegen Demonstrierende vor, die seit mehr als zwei Monaten freie Wahlen einfordern. Der Koordinierungsrat, die demokratische Opposition, erhält den Sacharow Friedenspreis. Der Koordinierungsrat widmet diesen Preis dem gesamten belarussischen Volk. Er ist eine Initiative mutiger Menschen: Swetlana Tichanowskaja,

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Swetlana Alexijewitsch, Maryia Kalesnikawa, Wolha Kawalkowa und Weranika Zepkala sowie von Persönlichkeiten aus Politik und Zivilgesellschaft wie Sjarhej Zichanouski, Ales Bjaljazki, Sjarhej Dyleuski, Szjapan Puzila, Mikalaj Statkewitsch und vielen mehr. Swetlana Tichanowskaja ist ins Ausland geflohen und Maryia Kalesnikawa wurde zu elf Jahren Haft verurteilt.

Belarus 25. Oktober 2020 #525_251020 Maryia Kalesnikawa ist auf Demonstrations-Plakaten zu sehen. Sie ist eine der mutigen Frauen des oppositionellen Widerstandes in Belarus und ein führendes Mitglied des oppositionellen Koordinationsrates. Die Opposition, die das Wahlergebnis vom 9. August 2020 nicht akzeptieren will, geht weiter auf die Straße

und fordert Präsident Lukaschenko mit einem Ultimatum auf, endlich zurückzutreten. Polizei und Militär gehen mit Blendgranaten gegen die Demonstrierenden vor.

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USA 7. Januar 2021 #546_070121 Ein wütender Mob von Trump-Anhänger:innen, ermutigt vom amerikanischen Präsidenten, erstürmt das Kapitol in Washington. Dort soll der Wahlsieg des designierten Präsidenten Joe Biden bestätigt werden. Die aufgebrachten Trump-Anhänger:innen dringen gewaltsam in das Kapitol ein, bedrohen Ab-

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geordnete und verwüsten deren Büroräume. Sicherheitskräfte müssen das Gebäude räumen. Fünf Menschen kommen dabei ums Leben.

Tunesien 18. Januar 2021 #551_180121 Trotz der nächtlichen Ausgangssperren gehen vor allem junge Tunesier:innen auf die Straße, um gegen die Wirtschaftskrise im Land zu demonstrieren. Es kommt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei. Mülltonnen werden angezündet, Steine und Molotowcocktails auf

die Polizistinnen und Polizisten geworfen, die mit Tränengas und Wasserwerfern antworten. Mehr als 600 Demonstrierende werden festgenommen.

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Russland 23. Januar 2021 #552_230121 Die Polizei geht brutal gegen Demonstrierende vor, die für die Freilassung Nawalnys und gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin auf die Straße gehen. Aus seiner Haft heraus ruft Nawalny zu einer Demonstration auf und veröffentlicht ein Video von Putins Prachtbau am Schwarzen Meer. In mehr als 100 Städten Russlands protestieren daraufhin Zehntausende.

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In Moskau versammeln sich trotz Demonstrationsverbotes rund 15.000 Menschen. Als Symbol des Widerstandes leuchten sie mit Taschenlampen und Smartphones. Sie skandieren: „Putin ist ein Dieb.“ Landesweit werden mehr als 2.000 Menschen verhaftet.

Russland 31. Januar 2021 #553_310121 Zehntausende Menschen folgen erneut dem Aufruf des Kremlkritikers Alexej Nawalny und protestieren in ganz Russland für seine Freilassung. Selbst bei minus 42 Grad in der sibirischen Stadt Jakutsk, der kältesten Großstadt der Welt, gehen die Menschen auf die Straße. Die Sicherheitskräfte gehen hart gegen die Protestierenden vor. Mindestens 4.700 Menschen,

darunter auch einige Medienvertreter, werden festgenommen. In St. Petersburg geht die Polizei äußerst brutal mit Elektroschockern und Tränengas gegen Protestierende vor.

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Myanmar 7. Februar 2021 #548_070221 Zehntausende gehen in Myanmar friedlich gegen das Militärregime auf die Straße. Sie fordern die Freilassung ihrer demokratisch gewählten Regierungschefin Aung San Suu Kyi und den Rücktritt der Militärregierung unter der Führung von General Min Aung Hlaing. Seit dem 1. Februar 2021 ist Suu Kyi wieder in

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Haft und das Militär hat einen landesweiten Ausnahmezustand verhängt. Militär und Polizei zeigen in der Öffentlichkeit starke Präsenz, das Internet und soziale Medien werden gesperrt.

Russland 14. Februar 2021 #547_140221 Frauen, verbunden mit einem weißen Band, bilden Menschenketten. Am Valentinstag finden in mehreren russischen Städten kleinere und dezentrale Proteste für die Freilassung des Kremlkritikers Alexej Nawalny statt. Die Proteste gelten auch seiner bei einer Demonstration festgenommenen Frau Julija Nawalnaja. Rote Kleidung und rote Blumen sind als Zeichen der

Solidaritätsbekundung für die Nawalnys zu verstehen. Abends lassen deren Sympathisantinnen und Sympathisanten auf öffentlichen Plätzen Taschenlampen und Smartphones als Symbol des Widerstandes leuchten.

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Myanmar 15. Februar 2021 #557_150221 Zwei Wochen nach dem Putsch halten in Myanmar die Proteste gegen das Militär noch immer an. Die Sicherheitskräfte setzen Gummigeschosse und Schlagstöcke gegen die friedlich Demonstrierenden ein. Teilnehmer:innen der Proteste werden willkürlich verhaftet. Der Sitz der Regierungspartei in Yangon wird abgeriegelt. Am Folgetag soll die abgesetzte und verhaf-

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tete Regierungschefin Aung San Suu Kyi vor Gericht aussagen. Drei ausgestreckte Finger sind das Zeichen für Solidarität und Widerstand. Dieses Widerstandszeichen ist ein Zitat aus der Filmserie „Hunger Games“.

Myanmar 28. März 2021 #570_280321 In Myanmar geht die Polizei mit Wasserwerfern, Gummigeschossen, Schlagstöcken und Inhaftierungen gegen friedlich Demonstrierende vor. Das Internet ist immer wieder unterbrochen. Trotz der Militärpräsenz wagen sich die Menschen auf die Straße, um für die Freilassung der abgesetzten Defacto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi und gegen das Mi-

litärregime zu protestieren. Am Vortag sind bei Protesten 107 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen. Das brutale Vorgehen des Militärs gegen die Demonstrierenden wird international kritisiert.

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Ukraine 14. April 2021 #592_140421 Russland verstärkt seine Truppen an der Ostgrenze der Ukraine mit rund 80.000 Soldatinnen und Soldaten. Die G7 Staaten kritisieren das Vorgehen Russlands. Es ist unklar, ob dies als Vorbereitung auf eine Militäroperation oder als Drohgebärde gegenüber der Ukraine zu werten ist.

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Großbritannien 27. April 2021 #644_270421 Archivbilder zeigen Bilder von Gewaltexzessen im NordirlandKonflikt. Wegen dem Brexit-Austritt von Großbritannien haben sich die Spannungen zwischen der EU und Großbritannien verstärkt. Es wird befürchtet, dass der Nordirlandkonflikt wieder ausbricht. Großbritannien zeigt sich nicht kooperativ in den Brexit-Verhandlungen, insbesondere was das Nord-Irland-Pro-

tokoll angeht. Dieses regelt den Warenverkehr zwischen der zur EU gehörenden Republik Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland.

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Israel 8. Mai 2021 #576_080521 Palästinenser:innen haben nach dem Freitagsgebet auf dem Tempelberg Steine und Flaschen auf israelische Polizistinnen und Polizisten geworfen. Diese antworten mit Gummigeschossen und Blendgranaten. Etwa 200 Menschen werden dabei verletzt. Grund für die Wut der Palästinenser:innen ist die angekündigte Zwangsräumung palästinensischer Familien in Ost-

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jerusalem. Seit der Staatsgründung leben mehrere Dutzend der betroffenen palästinensischen Familien in diesen Wohnungen. Jüdische Israelis können nach israelischem Recht Besitzansprüche auf Häuser in Ostjerusalem vor Gericht einklagen, wenn ihre Vorfahren dort vor 1948 Land besaßen.

Israel / Palästina 15. Mai 2021 #581_150521 Im Westjordanland kommt es zu Straßenkämpfen zwischen Palästinenserinnen, Palästinensern und israelischen Soldatinnen und Soldaten. Auslöser dafür sind die Proteste nach einem Brandanschlag auf eine arabische Wohnung in Jaffa. Hunderte von Raketen werden aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Israel antwortet mit heftigen Gegenangriffen und zerstört

nach vorheriger Ankündigung gezielt ein Hochhaus, in dem militärische Einrichtungen der Hamas vermutet werden. Darin befanden sich unter anderem auch Büros der amerikanischen Presseagentur AP und des katarischen Fernsehsenders Al Jazeera.

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Afghanistan 30. Juni 2021 #593_300621 Ortskräfte, die mit ausländischen Staaten all die Jahre in Afghanistan zusammengearbeitet haben, machen auf die Gefahren aufmerksam, denen sie nach Abzug der internationalen Truppen, ausgesetzt sind. Aufgrund ihrer Arbeit bei internationalen Organisationen werden viele von ihnen durch die Taliban mit

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dem Tod bedroht. Mitte April 2021 beschloss der NATO-Rat das Ende des militärischen Einsatzes in Afghanistan und damit den Abzug aller internationalen Soldatinnen und Soldaten.

Afghanistan 11. August 2021 #611_110821 Die Taliban sind in etwa einem Viertel des Landes wieder an der Macht. Sie haben sogar Kundus eingenommen, was für sie einen symbolischen und strategischen Sieg bedeutet. Viele Afghaninnen und Afghanen fliehen vor den Taliban. Insbesondere die Frauen befürchten ihre mühsam erkämpften Rechte wie Bildung, Arbeitsmöglichkeiten und Teilhabe an politischen

Entscheidungsprozessen zu verlieren. Mitte April 2021 kündigt US Präsident Joe Biden den Abzug der amerikanischen Truppen bis zum 11. September 2021 an. Im Juli 2021 korrigiert Biden den Termin auf den 31. August 2021.

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Afghanistan 26. August 2021 #600_260821 Nachdem am Flughafen in Kabul ein Selbstmordanschlag verübt wird, verlassen die Menschen in Panik den Ort. Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 warten täglich tausende Menschen dort auf eine Chance das Land zu verlassen. Bei den beiden Selbstmordanschlägen am Abbey Gate und im nahe gelegenen Baron Hotel werden viele

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afghanische Zivilistinnen und Zivilisten verletzt und getötet, darunter auch dreizehn US-Soldatinnen und Soldaten. Es wird vermutet, dass eine Splittergruppe des Islamischen Staates dafür verantwortlich ist. Anschläge wie diese waren seit Tagen erwartet worden.

Ukraine 20. Februar 2022 #617_200222 Im Osten der Ukraine werden Schützengräben ausgehoben und die ukrainische Bevölkerung bereitet sich auf ihre Selbstverteidigung gegen eine mögliche russische Militärintervention vor. Aus den selbsternannten russischen Republiken im Osten bringen die Separatisten Frauen und Kinder nach Russland. Als Grund wird eine bevorstehende ukrainische Militäroffensive

genannt, was jedoch vom ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba bestritten wird. Zu diesem Zeitpunkt hat Russland bereits rund 130.000 Soldatinnen, Soldaten und Kriegsgerät an der Ostgrenze zu Russland zusammengezogen. Gleichzeitig verlängert Russland sein Manöver in Belarus.

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Ukraine 21. Februar 2022 #616_210222 In Donezk feiern die Separatisten mit einem Feuerwerk und russischen Fahnen ihre zukünftige Unabhängigkeit. Separistenführer Denis Puschilin bittet den russischen Präsidenten Putin in einer Fernsehrede um Hilfe: „Im Namen des Volkes von der Volksrepublik Donezk bitte ich Sie die Volksrepublik Donezk als einen unabhängigen, demokratischen, verfassungsrechtlichen

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sozialen Staat anzuerkennen. Auch bitten wir ein Abkommen über Freundschaft und Zusammenarbeit zu prüfen.”( * ) Putin erklärt daraufhin die Separatistengebiete Donezk und Luhansk von der Ukraine unabhängig. ( * ) https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-9189.html

Ukraine 1. März 2022 #621_010322 Mit einer überraschenden Mehrheit verurteilt die UN-Vollversammlung den russischen Angriffskrieg. 141 Staaten verurteilen die Kriegshandlungen Russlands, fünf Staaten sind dagegen (Russland, Belarus, Syrien, Nordkorea und Eritrea), die anderen 35 Staaten enthalten sich der Stimme.

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Ukraine 5. März 2022 #625_050322 In der ukrainischen, bereits von russischen Truppen besetzten und strategisch wichtigen Seehafenstadt Cherson gibt es weiterhin Proteste. Die Demonstrierenden fordern mutig und unter Lebensgefahr Frieden und den Abzug der russischen Trupppen. Gleichzeitig wird in Russland das Veröffentlichen von Bildern von Massendemonstrationen verboten.

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Russland 7. März 2022 #622_070322 „Kein Krieg“ ist auf die Eisfläche eines Flusses in St. Petersburg geschrieben. Die Protestbekundung wird von russischen Beamten übermalt. Die russischen Sicherheitskräfte gehen äußerst hart gegen Demonstrierende vor. Auch die an Demonstrationen teilnehmenden Frauen werden brutal mit Schlägen und Tritten attackiert. Am 4. März wird in Russland ein verschärftes

Sicherheitsgesetz, das Föderale Gesetz Nr. 32-FZ, in Kraft gesetzt, das Wörter wie „Krieg“, „Invasion“, „Angriff“ und „Kriegserklärung“ verbietet. Ein Verstoß gegen das Gesetz kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren bestraft werden.

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Ukraine 5. April 2022 #650_050422 In den Nachrichten sind verstörende Bilder aus Butscha, einer Stadt nordöstlich von Kiew zu sehen. Nach dem Rückzug der russischen Truppen werden dort hunderte Leichen entdeckt. Augenzeugen berichten über die gezielte Tötung von Zivilisten durch russische Soldaten. Der russischen Armee wird vorgeworfen ein Massaker an der zivilen Bevölkerung verübt zu ha-

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ben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verurteilt dies und fordert den UN-Sicherheitsrat auf die russischen Täter als Kriegsverbrecher vor den Internationalen Gerichtshof zu bringen. Russische Diplomaten werden daraufhin aus mehreren EU-Staaten ausgewiesen.

Irak 30. Juli 2022 #651_300722 In Bagdad protestieren tausende Menschen. Anlass der irakischen Proteste ist der Streit um das Amt des zukünftigen Ministerpräsidenten. Die al-Sadr-Bewegung hatte bei den Parlamentswahlen im Herbst 2021 die meisten Stimmen erhalten, konnte jedoch keine Regierung bilden. Einem Teil der al-SadrAnhänger:innen gelingt es die Sicherheitsblockaden auf der

Brücke, die zum Regierungsviertel führen, zu überwinden. Es gelingt ihnen wiederholt das Parlament zu erstürmen und die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten zu verhindern.

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Iran 22. September 2022 #665_220922 In aller Öffentlichkeit verbrennen Frauen im Iran als Zeichen der Solidarität mit Mahsa Amini ihre Kopftücher und klagen die systematische Diskriminierung von Frauen im Iran an. Ihre Wut richtet sich gegen das harte Vorgehen der Sittenpolizei und damit auch gegen die konservativ religiöse Führung ihres Landes. Seit dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini gehen

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Hunderte von Menschen auf die Straße. Die junge Iranerin war von der Sittenpolizei festgenommen worden, da sie ihr Kopftuch nicht nach den strengen islamischen Regeln getragen hatte. Sie verstarb daraufhin im Polizeiarrest.

Russland 22. September 2022 #662_220922 In mehreren russischen Städten protestieren Menschen gegen die Teilmobilmachung und den Krieg gegen die Ukraine. Die russischen Sicherheitskräfte gehen mit sofortigen Verhaftungen gegen Protestierende vor. Landesweit werden etwa 1.400 Personen festgenommen. Die Teilmobilmachung bedeutet, dass etwa 300.000 russische Reservisten zum Militär einge-

zogen werden, um im Krieg gegen die Ukraine zu kämpfen. Viele, vor allem junge Männer reisen deshalb in visafreie Länder aus, um der Einberufung zu entgehen.

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497 bildbeschreibende Suchbegriffe in der Datenbank Archiv Einsdreissig (ausgenommen Länder, Städte, Personen, Parteien)

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Abholzung Abschreckung Absperrung Abwehr Abzug Ängstlich Aggressiv Aktion Amateur Am Boden Am Rand Angreifer Anhänger:in Anschlag Anspannung Anti-Terroreinheit Anzünden Architektur Archivmaterial Arm Arm ausgestreckt Armee Arm hoch Arm nach hinten Arzt Atomkatastrophe Attentat Attentäter:in Aufruhr Aufständische Augen Augenzeugen Auseinandersetzung Auto Autoreifen Bahre Band Banner Barrikade Begräbnis Beine Beobachten Berge Bericht Beschuss Beugen Bevölkerung Bewegung Bewegungsunschärfe BH Bild Blacklivesmatter Blau Blendgranaten Blick nach unten Blockade Blumen Blut Bombe Bombenangriff Boot Botschaft Boykott Brand Brandsatz Brennen Brille Brücke Bücher Bücken Bürger:in

Bürgerkrieg Bunker Bus Camouflage Chaos Charlie Hebdo Chemische Waffen Chronik Computerspiel Datum Davidstern Decke Demonstrierende Diplomat Diskriminierung Doppelbelichtung Drohnen Drohung Drücken Dunkelheit Dunst Eingekreist Einsturz Eisfläche Elektroschocker Entführung Entsetzen Ereignis Erinnerung Ermordung Erschöpft Erstürmung Eskalation Explosion Extremist:in Fackelzug Fahne Fahren Fahrzeug Falschmeldung Fassade Faust Femen Feminist:in Fenster Fernsehrede Fernsehsender Festnahme Feuer Feuerwehr Feuerwerk Finger Flagge Flucht Flüchtling Flugzeug Fluss Folter Fotografie Frau Freiheit Freilassung Friedlich Fuß Fußballstadion Gebäude Gebet Gebeugt Gebiet Gedenken Gedenkfeier

Gedränge Gefängnis Gefahr Gefangene Gefechte Gefesselt Gegner:in Gehen Gelb Gelbwesten Gerahmt Geschäfte Geschlossen Geschützt Gesicht Gesicht bedeckt Geste Gewalt Gewaltexzess Gewehr Gezi-Park Giftanschlag Gitter Glas Gräueltaten Graffiti Grenze Grün Gruppe Gummigeschosse Guy Fawkes Haft Hand oben Hand unten Hand vor dem Mund Handy Hashtag Haubitze Haus Helfen Helm Hidschab Hilflos Himmel Hindernis Hinrichtung Hochhaus Höhle Hubschrauber Hunger Games Innenraum Internat Internet Invasion Jagd Jobs Journalist:in Jubel Jugendlich Justiz Kämpfer:in Kamera Kampf Kandidat:in Kapitol Kapuze Katastrophe Killerkommando Kind Kirche Klagen

Kleidung Klettern Knien Königreich Körper Körperprotektoren Körperspannung Kommandeur:in Konfrontation Konvoi Kopf Kopfbedeckung Kopftuch Krank Krankentransport Krawall Kreis Krieg Kriegsgerät Kriegsverbrechen Kritiker Land Laterne Laufen Leben Leiche Leiter Licht Liegen Loch Lockdown Luftangriff Märtyrer:in Magazin Mann Manöver Markierung Marschieren Martialisch Maske Massaker Massenverhaftung Mauer Meer Menge Menschenmenge Messerangriff Metoo Militär Militäroperation Militärrat Miliz Misshandlung Mob Molotowcocktail Mond Monitoring Motorrad Mülltonne Mütze Mund Mundschutz Munition Munitionssplitter Nacht Nachtaufnahme Nach unten schauen Nackt Niederlage Niederschlagung Niqab

Oberkörper Orange Organisation Paar Palast Palastwache Panzer Papier Parade Parlament Passfoto Patrone Patronengürtel Personen Person verdeckt Pfefferspray Pferd Pistole Plakat Platz Politik Polizei Polizeiarrest Polizeieinsatz Polizeigewalt Polizeisperre Polizeiuniform Porträt Präsident:in Presse Pressefreiheit Profil Profilabdruck Projektion Propaganda Protest Punk Band Pussy Riot Putsch Putschist:in Qualen Quelle Raketen Raketenangriff Raketenspur Rassismus Rauch Raum Rebell Rede Regen Regenschirm Religion Rennen Republik Rettung Rot Rothemden Rückenansicht Rücktritt Rufen Ruine Sarg Satiremagazin Scharfschützen Schatten Scheibe Schieben Schießen Schild Schlagen

Schlagstock Schleifen Schreck Schrei Schreiben Schreien Schrift Schützengraben Schuhe Schutz Schutzweste Schwarz Schwenken Schwert Schwimmen Selbstmord Selbstmordanschlag Seperatist:in Sexismus Sichel Sicherheitskraft Sieg Siegesfeier Siegessicher Siegeszeichen Sittenpolizei Sitzblockade Sitzen Skulptur Smartphone Söldner:in Soldat:in Solidarität Sonnenbrille Spielfeld Sport Springen Spuren Stacheldraht Stadt Stadtrand Stadtzentrum Staub Stehen Stein Stiefel Straflager Straße Straßenbarrikade Streik Streit Streitkräfte Stützpunkt Stuhl Sturmhaube Suchen Symbol Synagoge Tag Tatzeit Teilmobilmachung Terror Terrorgruppe Tötung Torso Tot Totenmaske Tränengas Tragen Transparent Trauer

Treppe Treten Trösten Trommeln Truppen Truppenbewegung Truppenparade Tsunami Tuch Tumult Tunnel Überbeugen Überwachungskamera Umarmen Unabhängigkeit Uniform Universität Unschärfe Verband Verbot Verbrennen Verbrennung Verfolgung Vergiftung Verhaftung Verhüllt Verletzte Verletzung Vermummung Verschleiert Verschleppung Verschwommen Verwaschen Veteran Video Von der Seite Von hinten Von oben Von unten Von vorne Waffe Wahl Wand Warten Wasser Wasserwerfer Wehen Wehrlos Wellen Werfen Weste Widerstand Widerstandszeichen Wiederholung Winteruniform Wirtschaft Wort Wut YouTube Zaun Zeigen Zeitungen Zentrum Zerstörung Zeuge Zielen Zigarette Zitat Zivilist:in Zusammenstoß Zwangsräumung

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Nachwort von Monika Huber Im Buch auf den letzten Seiten angekommen, blicke ich nun wieder zurück zum Beginn meiner Archivarbeit. Diese begann 2011 aus dem Impuls heraus die Nachrichtenbilder, die ich täglich sah, genauer zu betrachten. Ich fotografierte von meinem Bildschirm jene Bilder, welche Journalistinnen und Journalisten, sowie am Geschehen Beteiligte, überall auf der Welt aufgenommen hatten. Später bearbeitete ich diese Bilder weiter, analog und digital. Mit jedem Arbeitsschritt schienen die Bilder mich immer direkter zu berühren. Nach und nach wurde es für mich zu einem malerischen Forschen zu Gesten der Revolten und Akten der Gewalt. So wurden die Nachrichtenbilder Teil meiner täglichen Atelierarbeit. Der Wunsch nach Freiheit, nach Demokratie, die legitime Einforderung von Menschenrechten, das Aufbegehren gegen Unrecht nimmt nicht ab. Unermüdlich und unerschrocken setzen sich mutige Menschen auf der ganzen Welt für einen Wandel ein, der bessere Lebensbedingungen schaffen soll. Und, schematisch, nach altbekannten Mustern des Machterhalts, antworten autokratische Staaten darauf, indem sie die Proteste niederknüppeln, um zu verhindern, dass sie Freiheitsrechte an die Bevölkerung abgeben müssen. All dies dokumentiere ich Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr in meiner Archivarbeit Einsdreissig. Anfangs war mein Schwerpunkt vor allem auf das Visuelle der Nachrichtenbilder gerichtet. Und, es sind meist keine schönen Bilder, die wir sehen. Bei manchen frage ich mich, ob sie den Zuschauerinnen und Zuschauern überhaupt zumutbar sind oder ob die Schmerzgrenze des Erträglichen nicht schon lange überschritten ist. Andererseits bin ich davon überzeugt, wie wichtig es ist, dass Journalistinnen und Journalisten, die sich selbst bei Recherchen und Berichterstattungen oft sogar in Lebensgefahr bringen, uns genau diese ungeschönten direkten Bilder übermitteln. Nach und nach kam im Laufe der Jahre die Textarbeit hinzu. Ich wollte verstehen, was sich als übergeordnetes Prinzip, an politischen Reflexen und an Machtstrukturen hinter den immer gleichen Prozessen verbirgt. Ich wollte diese Zusammenhänge erkennen und dokumentieren. Dieser neugierig forschende und analysierende Ansatz half und hilft mir dabei, die oft erschreckenden Bilder, die uns täglich erreichen, emotional zu bewältigen. Die geopolitische Lage ist durch den russischen Krieg gegen die Ukraine extrem angespannt und ein neues internationales Kräftemessen hat begonnen. Das alles wird wieder täglich neue Bilder produzieren, die ich wieder im Archiv Einsdreissig dokumentieren werde, um die Zeitachse kontinuierlich fortzuführen. Denn „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden nicht einfach eine lineare Kontinuität. Vergangenheit ist etwas, das nur in der Gegenwart oder in der Zukunft verstanden werden kann.“(*) Biografische Daten und Ausstellungsverzeichnis von Monika Huber: www.monikahuber.com

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(*) Ernst van Alphen, Staging the Archive, Art and Photography in the Age of New media, London: Reaktion Books, 2014, S. 51.

Dank

Mein erster Dank und vor allem Respekt richtet sich an alle Journalistinnen und Journalisten, Auslandskorrespondentinnen und Auslandskorrespondenten, Fotografinnen und Fotografen, die uns teilhaben lassen an dem, was in der Welt passiert. Ohne sie wäre Information und Meinungsbildung für uns nicht möglich. Insbesondere sei allen meinen Autorinnen und Autoren – Ernst van Alphen, Mieke Bal, James W. Davis, Antje Kapust, Ute Schaeffer, Bernhart Schwenk und Ulrich Wilmes herzlich gedankt, dass sie sich mit meinem Archiv so intensiv auseinandergesetzt haben. In ihren Artikeln lassen sie vieles von ihrer sonstigen wissenschaftlichen Arbeit und eigenen Interessen einfließen. Katja Richter und David Fesser vom „Deutschen Kunstverlag“ sei gedankt für die engagierte redaktionelle Begleitung bei der Buchherstellung, Kerstin Protz für die Herstellungsleitung. Ebenso sei der Übersetzerin und dem Übersetzer der Textbeiträge vom Englischen ins Deutsche gedankt – Inga Nevermann-Ballandis und Konstantin Schendzielorz. Die Recherche zum Archiv wurde gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR Modul D (Digitale Vermittlungsformate) des „Deutschen Künstlerbundes“ und NEUSTART KULTUR Modul C (Innovative Kunstprojekte) des „Berufsverbandes Bildender Künstlerinnen und Künstler“ (BBK). Weiter gilt mein Dank dem „Verein Ausstellungshaus für christliche Kunst e.V.“ (VAH) in München, der die umfangreiche Recherche und die vorliegende Publikation unterstützt. Dank an dieser Stelle auch an das „Kunstmuseum Magdeburg“ und die „Erwin und Gisela von Steiner-Stiftung“ in München ebenso für die Förderung der Publikation. Darüberhinaus haben viele meiner Wegbegleiter:innen zur Realisierung des vorliegenden Buches beigetragen und/oder meine Arbeiten öffentlich gezeigt: Alexander und Silke von Berswordt-Wallrabe, Miro Craemer, Matthias Dachwald, Karl und Petra Denk, Britta Egetemeier, Stephan Hell, Christl und Sigi Kaindl, Hannah Kansy, Laura Kansy, Rasmus Kleine, Annegret Laabs, Christine Litz, Gabriel und Renate Mayer, Benita Meißner, Andrea und Ulrich Schürenkrämer, Heinz Schütz, Galerie Smudajescheck, Markus Uhrig und Harriet Zilch – allen gilt mein herzlicher Dank. Weiterhin geht mein Dank auch an Felix Mittelberger und Margit Rosen vom „ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe“. Als Kooperationspartner, wird das ZKM das Archiv Einsdreissig in seine digitale Langzeitarchivierung übernehmen und sichern.

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Links zu den ausgewählten Bildern  /T   exten vom Archiv Einsdreissig

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Weitere Publikation von Monika Huber zum Archiv Einsdreissig

News. The Televised Revolution Monika Huber – Susanne Fischer

»Das sorgfältig gestaltete Buch spiegelt auf beeindruckende Weise die Anteilnahme der beiden westlichen Beobachterinnen und ihr Engagement, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln auf das Geschehen aufmerksam zu machen, zu sensibilisieren und dem individuellen Schicksal seinen Raum zu geben.« Münchner Feuilleton

www.hirmerverlag.de

Beiträge von Susanne Fischer, Hazim al-Sharaa, Atiaf Alwazir, Raghda ­al-Halawany, Maryam Hassan, Sabry Khaled, Zainab al-Khawaja, Raed Rafei, Tiare Rath, Ulrich Wilmes und Razan Zeitouneh 160 Seiten, 53 Abbildungen in Farbe, 21,5 × 30 cm, gebunden  € 14,90 [D] | € 15,40 [A]  978-3-7774-5581-5

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Einbandabbildung Auswahl aus den Bildern Archiv Einsdreissig 2011–2022

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Verein Ausstellungshaus für christliche Kunst e.V.