Im Vorhof der Kunst: Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert [1. Aufl.] 9783839408247

Dieses Buch leistet die Rekonstruktion eines für die Literaturgeschichte folgenreichen Prozesses: die Überlagerung des L

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Im Vorhof der Kunst: Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert [1. Aufl.]
 9783839408247

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I. Für eine Mediengeschichte der Literatur
Reproduzierbarkeit
Masse
Perspektivwechsel
Differenzen
II. Literatursystem oder Mediensystem?
1. LITERATUR und Medium
Schrift/Buchdruck
Probleme des Codes
Funktion und Programm
2. Literatur als Massenkunst
Anonymität
Popularisierung
„Buntes Glück“
Zerstreuung
Unterhaltung/Kunst
3. Das Weibliche ist keine Frau …
Systemstelle Geschlechterdifferenz
‚Körpernatur‘
Stabilität durch Gendering
Medien-Körper
III. Mediale Affären um 1800
1. Autoerotik: Der Autor und sein Werk
Kommunikationsmedium und Akteursfiktion
Genie und Dilettant
‚Pöbel‘ und ‚Volk‘
2. Liebe zum Medium: Lesesucht und Schreibwut
Mediale Ansteckungen
‚Geschlecht‘ der Medien
Promiske Lektüren
Frauen-Romane
3. Medien-Geschichten: Goethes Wanderjahre
Mesalliance
Pustkuchens ‚Fälschung‘
‚Breite Suppen‘
‚Aggregat‘
Experimente mit Medien 1800
Fausts ‚Vorspiel‘
IV. Dilettantismus männlich/weiblich
1. Johann Peter Eckermanns Goethe
Gender und Medium: Doubles
Missverständnisse
Phono-Graphie
Liebende Sekretärspoetik
2. Bettine von Arnims entwendeter Briefwechsel
Mediale Zweideutigkeiten
Gender und Genre
Goethe als Leserin
Fürstliche Adressierungen
3. Gottfried Kellers missbrauchte Liebesbriefe
Storms Liebesbriefverkehr
Unfug mit Medien
‚Verrenkung‘ des Geschlechts
Literatur aus zweiter Hand
V. Realität massenmedialer Kommunikation
1. Mediale Filiationen: Brief – Zeitschrift – Novelle
Post
Brief-Veröffentlichung
Sicherung des Kanals
Nachrichten-Literatur
Neu-Gier
‚Weltklugheit der
Frauen-Zimmer‘
Feuilleton-Roman
Journalprosa
2. Literaturtheorie oder Medientheorie: ‚Realismus‘
Realistische Programme: „Grenzboten“
Verklärung
Nachmärz als Vorhof
Prutz’ Wirkungsgeschichte
Popularität des Schönen
‚Vorsätzlicher Realismus‘:
„Soll und Haben“ als Männerroman
Krise der Literaturkritik
3. Mediale Entdifferenzierung: Autor – Werk – Gattung
Buchmarkt
Unterhaltungspresse
Publikum
Kolportage
Bildung
Illustrationen
Intimität und Anonymität: Familie
Münchner Dichterschule
Originalromane
Fortsetzung folgt …
Roman und Novelle
VI. Literatur in Massenmedien – Massenmedien in Literatur
1. Realismus als Medieneffekt? Fontane
Zeitungsmann
Kreuzzeitung
„Vor dem Sturm“
‚Novellenschacher‘
Vossische Zeitung
„Irrungen, Wirrungen“
Rodenbergs Parnass
Weibliche Konkurrenz
Konversation
Original und Zitat
Triviale Moderne
2. Realismus weiblich? Marlitt
‚Damenlectüren‘
Keils „Gartenlaube“
Universale Inklusion
Realistische Liebesgeschichten im Vergleich: Marlitt, Keller, Fontane
‚Frauen-Bilder‘
3. Grotesker Realismus? Raabe
Literarisches Handwerk
Groteske Ambivalenzen
Literatur-Zitate
Essen und Erzählen
Mund und Hand
Mise en abyme
Klatsch und Gerücht
Fama in Massenmedien
Spiritueller Fidibus
Jankes „Deutsche Roman-Zeitung“
Experimente mit Medien 1900
VII. Moderne Restitutionen um 1900
1. Naturalismus, Ästhetizismus
Stellung des Schriftstellers
Gender Trouble
Literaturkritik vs. Feuilleton
Modernität als Programm
Georges „Blätter“
Literaturweib Heyse
Literarische Prostitution
‚Mode-Geschmier‘
2. Nietzsches Fall Wagner
Künstler und Publikum
Oper vs. Musikdrama
Effeminierung
Theater als Massenkunst
Austreibung des Publikums aus der Kunst
3. Franziska zu Reventlows Gelächter
Avantgarde und Manifest
Störung des Kanals
Spekularisationen
Hetären-Mimetik
Schlüsselliteratur
Herr Dame
Idiosynkrasien
VIII. Resümee
Siglenverzeichnis
Verzeichnis der Zeitungen und Zeitschriften
Literaturverzeichnis

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Manuela Günter Im Vorhof der Kunst

2008-06-10 09-34-37 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029d180985441600|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 824.p 180985441608

Manuela Günter (PD Dr. phil.) lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Medien, Autobiographie des 18.-20. Jahrhunderts, Gender/Cultural Studies sowie Shoah-Literatur.

2008-06-10 09-34-38 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029d180985441600|(S.

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Manuela Günter Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert

2008-06-10 09-34-38 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029d180985441600|(S.

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg, sowie der Philosophischen Fakultät der Universität Köln.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Zugl. Habilitationsschrift, Universität zu Köln (2006) Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Edgar Degas, »Mary Cassatt und ihre Schwester im Louvre«, 1880 Lektorat & Satz: Manuela Günter Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-824-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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INHALT

Vorwort

I. Für eine Mediengeschichte der Literatur

9

11

Reproduzierbarkeit -11- Masse -13- Perspektivwechsel -15Differenzen -18-

II. Literatursystem oder Mediensystem? 1. LITERATUR und Medium

21

Schrift/Buchdruck -21- Probleme des Codes -25Funktion und Programm -29-

2. Literatur als Massenkunst

31

Anonymität -31- Popularisierung -32- „Buntes Glück“ -35Zerstreuung -37- Unterhaltung/Kunst -38-

3. Das Weibliche ist keine Frau …

43

Systemstelle Geschlechterdifferenz -43- ‚Körpernatur‘ -45Stabilität durch Gendering -46- Medien-Körper -48-

III. Mediale Affären um 1800 1. Autoerotik: Der Autor und sein Werk

51

Kommunikationsmedium und Akteursfiktion -51Genie und Dilettant -55- ‚Pöbel‘ und ‚Volk‘ -59-

2. Liebe zum Medium: Lesesucht und Schreibwut

61

Mediale Ansteckungen -61- ‚Geschlecht‘ der Medien -63Promiske Lektüren -66- Frauen-Romane -69-

3. Medien-Geschichten: Goethes Wanderjahre Mesalliance -74- Pustkuchens ‚Fälschung‘ -76‚Breite Suppen‘ -81- ‚Aggregat‘ -84- Experimente mit Medien 1800 -87- Fausts ‚Vorspiel‘ -89-

74

IV. Dilettantismus männlich/weiblich 1. Johann Peter Eckermanns Goethe

93

Gender und Medium: Doubles -93- Missverständnisse -96Phono-Graphie -98- Liebende Sekretärspoetik -102-

2. Bettine von Arnims entwendeter Briefwechsel

105

Mediale Zweideutigkeiten -105- Gender und Genre -109Goethe als Leserin -112- Fürstliche Adressierungen -121-

3. Gottfried Kellers missbrauchte Liebesbriefe

125

Storms Liebesbriefverkehr -125- Unfug mit Medien -127‚Verrenkung‘ des Geschlechts -129- Literatur aus zweiter Hand -131-

V. Realität massenmedialer Kommunikation 1. Mediale Filiationen: Brief – Zeitschrift – Novelle

137

Post -137- Brief-Veröffentlichung -140- Sicherung des Kanals -144Nachrichten-Literatur -145- Neu-Gier -146- ‚Weltklugheit der Frauen-Zimmer‘ -148- Feuilleton-Roman -150- Journalprosa -152-

2. Literaturtheorie oder Medientheorie: ‚Realismus‘

156

Realistische Programme: „Grenzboten“ -156- Verklärung -158Nachmärz als Vorhof -160- Prutz’ Wirkungsgeschichte -162Popularität des Schönen -167- ‚Vorsätzlicher Realismus‘: „Soll und Haben“ als Männerroman -169- Krise der Literaturkritik -175-

3. Mediale Entdifferenzierung: Autor – Werk – Gattung

178

Buchmarkt -179- Unterhaltungspresse -180- Publikum -181Kolportage -182- Bildung -184- Illustrationen -185Intimität und Anonymität: Familie -189- Münchner Dichterschule -194Originalromane -196- Fortsetzung folgt … -197- Roman und Novelle -199-

VI. Literatur in Massenmedien – Massenmedien in Literatur

205

1. Realismus als Medieneffekt? Fontane

209

Zeitungsmann -209- Kreuzzeitung -210- „Vor dem Sturm“ -213‚Novellenschacher‘ -216- Vossische Zeitung -218„Irrungen, Wirrungen“ -222- Rodenbergs Parnass -224Weibliche Konkurrenz -226- Konversation -229Original und Zitat -232- Triviale Moderne -236-

2. Realismus weiblich? Marlitt ‚Damenlectüren‘ -239- Keils „Gartenlaube“ -241Universale Inklusion -244- Realistische Liebesgeschichten im Vergleich: Marlitt, Keller, Fontane -248- ‚Frauen-Bilder‘ -255-

238

3. Grotesker Realismus? Raabe

262

Literarisches Handwerk -262- Groteske Ambivalenzen -263Literatur-Zitate -266- Essen und Erzählen -268Mund und Hand -270- Mise en abyme -273Klatsch und Gerücht -275- Fama in Massenmedien -278Spiritueller Fidibus -280- Jankes „Deutsche Roman-Zeitung“ -281Experimente mit Medien 1900 -285-

VII. Moderne Restitutionen um 1900 1. Naturalismus, Ästhetizismus

287

Stellung des Schriftstellers -287- Gender Trouble -289Literaturkritik vs. Feuilleton -291- Modernität als Programm -292Georges „Blätter“ -293- Literaturweib Heyse -295Literarische Prostitution -299- ‚Mode-Geschmier‘ -300-

2. Nietzsches Fall Wagner

304

Künstler und Publikum -304- Oper vs. Musikdrama -306Effeminierung -307- Theater als Massenkunst -309Austreibung des Publikums aus der Kunst -310-

3. Franziska zu Reventlows Gelächter

312

Avantgarde und Manifest -312- Störung des Kanals -313Spekularisationen -316- Hetären-Mimetik -318Schlüsselliteratur -322- Herr Dame -323- Idiosynkrasien -326-

VIII. Resümee

331

Siglenverzeichnis

335

Verzeichnis der Zeitungen und Zeitschriften

337

Literaturverzeichnis

341

VORWORT Die vorliegende Studie, die im Wintersemester 2006 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Habilitationsschrift angenommen wurde, verdankt ihre Entstehung einem Ensemble glücklicher Umstände, die an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollen. Die Idee entstand zwischen 1995 und 1997 im Rahmen eines DFGProjekts über Literaturzeitschriften des 19. Jahrhunderts an der Universität München, wo ich durch Renate von Heydebrand wichtige Anregungen bekam. Erich Kleinschmidt hielt durch seinen unverbrüchlichen Glauben den ‚Willen zum Buch‘ wach. Seiner Unterstützung ist es zu danken, dass das Land Nordrhein-Westfalen das Projekt mit einem Lise-Meitner-Stipendium förderte. Die Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung und die Universität zu Köln gewährten großzügige Druckkostenzuschüsse. Schließlich danke ich meinen Freundinnen und Freunden: Holger Kluge, der auch diese Arbeit redaktionell bereicherte; Günter Butzer, der sie von Anfang an kritisch begleitete; Annette Keck, die mir über die Jahre unentbehrlich wurde; Susanne Bürkle, Susanne Couturier und Antje Roeben, die mir aus mancher Kalamität halfen; Peter Fuß, der liebevoll für mein leibliches Wohl sorgte. Mein Sohn David, im März 2000 geboren und mithin vollständig involviert, hatte nicht nur endlose Geduld, sondern für sämtliche Lebenslagen auch die richtigen Antworten parat. Ihm und meiner Mutter, die im Mai 2003 starb, ist dieses Buch gewidmet.

Köln, im Juni 2008

I. F Ü R

EINE

M ED I E N G E S C H I C H T E

DER

L I T E R A T UR

„Das Pathos dieser Arbeit: es gibt keine Verfallszeiten.“1

In seiner 1936 fertig gestellten Studie über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit gelangt Walter Benjamin in der Analyse des für die faschistische Propaganda so bedeutenden Mediums Film zu Einsichten, die sich auf das Funktionieren von Massenmedien und ihr Verhältnis zur Kunst überhaupt beziehen lassen und insofern gerade auch hinsichtlich deren Etablierung im 19. Jahrhundert von großem Erkenntniswert sind. Benjamin kommt, und dies ist für die methodische Rahmung der folgenden Studie von Bedeutung, in seiner Argumentation ohne Verfallsperspektive aus, denn die „Überwindung des Begriffs des ‚Fortschritts‘ und des Begriffs der ‚Verfallszeit‘ sind nur zwei Seiten ein und derselben Sache.“2 Wie sehr eine solche Perspektive die kritische Betrachtung von Massenmedien gerade in ihrem Verhältnis zur Kunst begleitet hat, zeigt ein Blick auf die wichtigsten Theorien. Zu denken ist hier in erster Linie an Theodor W. Adornos und Max Horkheimers berühmtes Kapitel über die „Kulturindustrie“ aus der Dialektik der Aufklärung, das – nach der Shoah – der faschistischen Nutzung der Massenmedien keine „Politisierung der Ästhetik“ mehr entgegenzusetzen weiß.3 Auch Leo Löwenthal geht von einer unüberbrückbaren Differenz zwischen Kunst und Massenkultur aus: „es ist der Unterschied zwischen einer Vertiefung unserer Einsicht mit Hilfe eines Mediums, das seine eigenen Ausdrucksmittel besitzt, und einer bloßen Wiederholung gegebener Tatsachen, die noch dazu nur mit erborgten Darstellungsmitteln durchgeführt wird.“4 Georg Lukács wiederum stellt insofern eine Verbindung her, als er das Verhältnis von

1 2 3 4

Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Bd. 1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1983, S. 571. Ebd., S. 575. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1971, S. 108-150. Leo Löwenthal: Literatur und Massenkultur, in: Schriften, Bd. 1, hg. v. Helmut Dubiel, Frankfurt/M. 1990, S. 14.

11

FÜR EINE MEDIENGESCHICHTE DER LITERATUR

Kunst und Massenmedien als eines von Vorder- und Hintergrund denkt; die Kunst könne danach nicht „unbeeinflußt vor diesem Hintergrund bestehen“, sie würde „bewußt oder unbewußt“ von dessen „Atmosphäre“ bestimmt.5 Schließlich entgeht auch Jürgen Habermas der Dichotomie von Kunst und Massenkultur nicht: Auch seiner bekannten These der Wandlung vom Kultur räsonierenden zum Kultur konsumierenden Publikum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist eine Verfallsperspektive eingeschrieben.6 Benjamin hingegen knüpfte 1936 durchaus positiv an die Reproduzierbarkeit von Kunstwerken an, sofern er dabei nicht von einem Bruch, sondern von einer Kontinuität ausging. Sie waren manuell immer reproduzierbar, und auch die technische Reproduzierbarkeit ist keine Frage der Moderne, sondern setzt schon im Mittelalter ein – mit Holzschnitt, Kupferstich und Radierung werde es schon lange vor der Lithographie tendenziell möglich, Kunstwerke zu reproduzieren. Doch im 19. Jahrhundert schlage diese ‚quantitative‘ Steigerung in eine neue Qualität um, insofern es mit Lithographie und Photographie möglich werde, den Alltag illustrativ zu begleiten. „Um neunzehnhundert hatte die technische Reproduktion einen Stand erreicht, auf dem sie nicht nur die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke zu ihrem Objekt zu machen und deren Wirkung den tiefsten Veränderungen zu unterwerfen begann, sondern sich einen eigenen Platz unter den künstlerischen Verfahrensweisen eroberte.“7 Benjamin entfaltet hier einen ‚starken‘ Medienbegriff: Die Entwicklung der technischen Medien wirke nicht nur auf die Dinge zurück, die sie unmittelbar ergreift, sondern auch auf den Begriff von Kunst selbst, der sich jenseits davon zu erhalten suche. Doch er bezweifelt, dass sich ein solcher ‚auratischer‘ Bezirk autonomer Kunst noch behaupten könne, vielmehr stehe „die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke“ zur Disposition, deren ‚Echtheit‘, auf der wiederum die Tradierbarkeit der auratischen Werke, die Fähigkeit, an sich selbst Geschichte zu bezeugen,

5 6

7

Georg Lukács: Schriftsteller und Kritiker, in: Essays über Realismus, Neuwied 1971, S. 377-412, hier: S. 383. Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, mit einem Vorwort zur Neuauflage, Frankfurt/M. 1990, S. 248ff. Ich folge im Weiteren der Fassung des „Urtextes“: Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Gesammelte Schriften, Bd. VII.1, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 350-384, hier: S. 351f. (im Original hervorgehoben).

12

FÜR EINE MEDIENGESCHICHTE DER LITERATUR

basierte.8 ‚Echte Werke‘ sind Speicher des kulturellen Gedächtnisses, während die Reproduktionstechnik „das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab[löst]. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises.“9 Die Reproduktion respektive Verbreitung von Kunst/Literatur in Massenmedien aber stört die idealistische Theorie vom ‚schönen Schein‘ als eines individuellen empfindlich. Der Begriff ‚Masse‘ etablierte sich schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Sinne der lokalen Ansammlung einer großen Zahl (von Menschen). Masse bezeichnet mithin eine universale Inklusionsfigur, der es an eigener Distinktionsfähigkeit mangelt; ihre Zusammensetzung ist zufällig und keineswegs auf die Besitzlosen und Ungebildeten zu reduzieren; ihre Aktionen sind spontan, ihre Reaktionen und die daraus resultierenden sozialen Dynamiken unvorhersehbar; Masse in diesem Sinn ist quantitativ nicht zu fixieren und von sozialen Qualifizierungen wie ‚Volk‘ oder ‚Klasse‘ abzugrenzen. Dabei oszilliert die Semantik unvermeidlich von der etymologischen Bedeutung des Gekneteten, Geformten, also des Verfüg- und Verführbaren bis zur störrischen oder gar hysterischen Masse, die sich der Beeinflussung entzieht und eigene Gesetze entwickelt. Die theoretisch-systematischen Erkundungen der Masse am Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem von Gustave Le Bon, machten deutlich, dass Masse nicht auf räumliche Anwesenheit angewiesen ist:10 „Tausende von getrennten einzelnen können im gegebenen Augenblick unter dem Einfluß gewisser heftiger Gemütsbewegungen, etwa eines großen nationalen Ereignisses, die Kennzeichen einer psychologischen Masse annehmen.“11 Damit wird der Konnex von Masse und Medium auch für unsere Fragestellung sinnfällig, denn diese heftigen Gemütsbewegungen brauchen Verbreitungsmedien, die sie erregen und auf diese Weise das Publikum erzeugen. Es erscheint deshalb durchaus plausibel,

8 Ebd. 9 Ebd., S. 353 (im Original hervorgehoben). 10 Vgl. hierzu ausführlich die historisch-systematische Herleitung der Begriffe ‚Masse‘ und ‚Massenmedium‘ bei Christina Bartz: MassenMedium Fernsehen. Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung, Bielefeld 2007, bes. S. 28-69; vgl. auch dies., Die Masse allein zu Hause. Alte Funktionen und neue Medien, in: Irmela Schneider/Peter Spangenberg (Hg.), Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Wiesbaden 2002, S. 109-121; zur historischen Abgrenzung vgl. auch den Eintrag „Volk, Nation“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 366-382. 11 Gustave Le Bon: Psychologie der Massen [1895], Leipzig 1932, S. 11.

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FÜR EINE MEDIENGESCHICHTE DER LITERATUR

die im 19. Jahrhundert stets wachsende Zahl räumlich und zeitlich getrennter Konsumenten von kulturellen Produkten periodischer Printmedien als Masse zu bezeichnen. Diese ist weder homogen noch konstant, „vielmehr ist Masse eine eigentümliche Nicht-Ordnung und Verbindung, ein Übergangsphänomen, das unterschiedlicher Medien seiner Hervorbringung und Darstellung bedarf.“12 Dieses Publikum wird von den populären Periodika hervorgebracht und dargestellt; anders als im Literatursystem wird es jedoch nicht als inkompetent disqualifiziert, unvermögend, die Literatur in diesen Medien angemessen, d.h. hermeneutisch zu rezipieren.13 Vielmehr erscheinen die LeserInnen als Masse von informierten MediennutzerInnen, deren Urteil durch diverse Rückkoppelungsmechanismen auf das Medium Einfluss nimmt. Benjamin selbst verbindet mit dem Konnex von Masse und Medium, dessen Produktivität er am Film herausstellt, nicht nur keine Verfallsperspektive, er findet darin im Gegenteil einen Anknüpfungspunkt für eine revolutionäre, die Traditionen aufsprengende Kunst. Während der traditionelle Kunstbegriff vom Gedanken der Aura ausgeht und auf die Seite des schönen Scheins setzt, verweist nach Benjamin die technische Reproduktion auf die Seite des Spiels: „Was mit der Verkümmerung des Scheins, dem Verfall der Aura in den Werken der Kunst einhergeht, ist ein ungeheurer Gewinn an Spiel-Raum.“14 Die grundlegenden Funktionsänderungen der Kunst, die damit verbunden sind und die sich nicht auf die schlichte Trennung von E und U, von populärem mainstream und hoher Kunst reduzieren lassen, fallen aber „aus dem Blickfeld des Jahrhunderts“ heraus. In seinen Selbstbeobachtungen hält deshalb aber nicht nur das 19., sondern ebenso das 20. Jahrhundert hartnäckig an den überkommenen Bestimmungen fest. Während sich die historisch ausgerichteten Kulturwissenschaften (oft mit geringem Theorieaufwand) der populären Alltagskultur zuwenden, orientieren sich die stark theoriegeleiteten, dekonstruktivistischen oder systemtheoretischen, Lektüren am Kanon hoher Kunst. Auch wenn Benjamins primäres Augenmerk vor allem den Transformationen gilt, denen die bildende Kunst seit der Erfindung der Photographie im 19. Jahrhundert ausgesetzt ist, so lassen sich seine Beobachtungen doch mit geringfügigen Modifikationen auf die Literatur applizie12 Inge Muenz-Koenen/Wolfgang Schäffner: Unruheherd Literaturwissenschaft. Eine Einführung, in: Dies. (Hg.), Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000, Berlin 2002, S. XIV-XXII, hier: S. XVIII. 13 Vgl. die Beispiele in Kap. VI. 14 Benjamin, Kunstwerk, S. 369, Anm. 10. 15 Ebd., S. 362.

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FÜR EINE MEDIENGESCHICHTE DER LITERATUR

ren, um deren gedruckte Existenzweise es im Folgenden ausschließlich gehen soll. Mit der stets wachsenden Bedeutung der periodischen Printmedien vom Almanach bis zur Familienzeitschrift stellt sich die Frage, ob sich durch die neue mediale Erscheinungsweise der Literatur seit dem 19. Jahrhundert, durch ihre Abkoppelung vom Buch, nicht auch der Gesamtcharakter der Literatur als Kunst grundlegend verändert hat. Es sollen deshalb in dieser Studie die Funktionsänderungen beschrieben und die Spiel-Räume ausgelotet werden, die die Literatur durch ihr Aufgehen in den periodischen Printmedien gewinnt. Dies führt auch auf die Frage, ob es noch länger Sinn macht, Literaturgeschichte an die Geschichte des Mediums Buch zu koppeln und damit die periodischen Printmedien und ihre folgenreichen Emanationen seit der Frühen Neuzeit auch und gerade in Bezug auf die Entwicklung der Literatur kurzer Hand einem „Zeitalter des Buches“ zu subsumieren. Um dieser Frage zumindest für das 19. Jahrhundert nachzugehen, ist ein Wechsel der Perspektive erforderlich, denn das Literatursystem kann Medien immer nur als „das Andere des Kanons“ wahrnehmen, als „einen Bereich, in dem sich die Diffusion des Ephemeren und Unzurechnungsfähigen ereignet“16 – als ob Literatur die eigene mediale Basis vergessen müsste. Aus der Perspektive des Systems Massenmedien hingegen kann die Medialität der Literatur erinnert und der denunziatorische Befund einer „Rede ohne Wert“17 revidiert werden. Es wird sich zeigen, dass die Medien, die ihre Existenz der räumlichen und (zumindest hinsichtlich der Printmedien auch) zeitlichen Trennung der Kommunikationsteilnehmer verdanken, „vermitteln, was zusammengehören will und doch nicht zusammenkommen kann“,18 und dass die Ausdifferenzierung des Literatursystems mit ihrer Distinktion von Literatur und LITERATUR19 vor allem eine Abwehrgeste auf die überaus erfolgreiche Produktion von Literatur in den Massenmedien darstellt. Damit soll aus einer medientheoretischen Perspektive auch ein neues Licht auf die Frage fallen, wie der permanente Aufschub des Endes – die 16 Georg Stanitzek: Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses über Medien, in: Ders./Wilhelm Voßkamp (Hg.), Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften, Köln 2000, S. 51-76, hier: S. 54. 17 Ebd., S. 63. 18 Jochen Hörisch: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt/M. 2001, S. 34. 19 Ich übernehme diese typographische Unterscheidung zur Abgrenzung eines emphatischen Literaturbegriffs von Nikolaus Wegmann: Vor der LITERATUR. Über Text(e), Entscheidungen und starke Lektüren, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Literaturwissenschaft, München 1995, S. 77-101, hier: S. 81.

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FÜR EINE MEDIENGESCHICHTE DER LITERATUR

produktive Grundfigur moderner Kunst von Hegel bis Nietzsche – zum permanenten Aufschub des Anfanges steht, der die Poetik des Realismus bestimmt. Während sich nämlich in der philosophischen Reflexion des „Endes der Kunst“ „die Autonomie der Kunst so oder so installiert“,20 kommt der Poetische Realismus als dominantes Kunstprogramm der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu völlig anderen Schlüssen. Ganz explizit setzt die realistische Poetik eine positive Figur des Anfangs ein, und da diese am Mangel eines vorbildlichen ‚Werks‘ zu scheitern droht, wird statt des Endes der Anfang immer weiter verschoben. Zugleich erscheint dieses poetologische Problem angesichts der Tatsache, dass nicht die programmatischen Äußerungen, sondern die Publikationsformen der periodischen Presse die Gestalt der Literatur im Untersuchungszeitraum wesentlich bestimmen, immer schon obsolet. Die Herausbildung einer autonomen Literatur um 1800 im Sinne der Abgrenzung von einer rhetorischen Programmierung sowie die Ausfaltung ihrer Funktion – der Herstellung von Kontingenz – mit Hilfe von ‚Autor‘ und ‚Werk‘ sind, folgt man den Beobachtungen Niklas Luhmanns, konstitutiv für die operative Schließung des Sozialsystems Literatur als Kommunikation in und über Literatur. Ob diese Beschreibung für die so genannte Kunstperiode um 1800 gilt, mag dahingestellt bleiben; sicher ist aber, dass sich die Literatur spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr in diesem Sinne als autopoietisches System fassen lässt, das Selbstprogrammierung, Blockierung externer Referenzen sowie einen funktionierenden Code aufweisen muss, im Gegenteil: „Man wird nun kaum in unüberwindliche Belegschwierigkeiten kommen, wenn man zeigen will, daß Funktion, Code und Programm des Literatursystems im 19. Jahrhundert gefährdet, zerrüttet, aus sicher gewähnten Verankerungen gerissen erscheinen.“21 Die Frage, wie LITERATUR möglich sei, ist also zumindest im hier avisierten Zeitraum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein „immer schon gelöstes Problem“,22 sondern ein ganz und gar ungelöstes. Das Literatursystem erweist sich als verwaist, ihm mangeln die ‚Werke‘, die die Kommunikation im System garantieren. Für die Zeitgenossen erscheint die Auszeichnung einer exklusiven Textmenge als LITERATUR offenbar als schwerwiegendes Problem, während die populären Texte, die nur um ihrer selbst willen gelesen werden, den Werkbegriff proliferieren.

20 Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt/M. 2002, S. 30. 21 Niklas Luhmann/Peter Fuchs: Reden und Schweigen, Frankfurt/M. 1989, S. 153. 22 Wegmann, Vor der LITERATUR, S. 95.

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FÜR EINE MEDIENGESCHICHTE DER LITERATUR

Die literarische Kommunikation über Texte als ‚Werke‘ muss also im 19. Jahrhundert zusehends ohne Kommunikationsmedium auskommen. Zwar wird permanent über ‚Werke‘ gesprochen, dies geschieht aber in dem deutlichen Bewusstsein, dass es (noch) gar keine sind. Das erlaubt zweierlei Schlussfolgerungen: Entweder, das Teilsystem Literatur ist so labil, dass es sich kurz nach seiner Herausbildung wieder auflöst, oder aber, es ist so stabil, dass es ohne funktionierenden Code ebenso auskommt wie ohne Kommunikationsmedium. Denn wenn überhaupt von einer Einheit des Literatursystems gesprochen werden kann, dann ist diese weder im Code noch im Werk zu finden, sondern bestenfalls in der Ordnung ästhetischer Kommunikation, in Kritik und Reflexion, die mit der Auszeichnung eines Textes als ‚literarisch‘ im Sinne von ‚Kunst‘ jedoch immer weniger überzeugen können.23 Was aber heißt es für die Literatur, wenn ihre Evolution von den Strukturen ästhetischer Kommunikation abhängt, der das Kommunikationsmedium, das Kunstwerk, verloren geht und die als Unterhaltung im System der Massenmedien prozessiert wird? Diese Frage soll in der vorliegenden Studie nicht durch den Rekurs auf die Dichotomie von hoher und niederer Literatur geklärt, ihre Antwort muss vielmehr in der Struktur der Massenmedien selbst gesucht werden, denn mit den Familien- und Rundschauzeitschriften bildet sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Verbreitungsmedium als Bedingung von Literatur heraus, das in der Lage ist, alle Literatur zu absorbieren. Reinhart Meyer hat in seiner wichtigen Untersuchung zu Novelle und Journal diese Verbindung vor allem für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits überzeugend dargestellt: „Das Medium bildet den einheitsstiftenden Bezugsrahmen, der es einer Theorie ermöglicht, das historische Material inclusive seiner verwirrenden Widersprüchlichkeit und Uneinheitlichkeit zu berücksichtigen und ernst zu nehmen, es in dieser Widersprüchlichkeit zu erklären, diese aber nicht zu verdrängen oder zu nivellieren.“24 Daran knüpft sich auch in dieser Arbeit die Forderung

23 Vgl. auch Holger Dainat/Hans-Martin Kruckis: Kunst, Werk, Stil, Evolution. Zu Luhmanns Stil-Begriff, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 159-172, hier: S. 170f. Dainat und Kruckis gehen allerdings dennoch davon aus, dass das Ziel in dem auch von Luhmann verteidigten „Individualitätsanspruch der Werke“ bestehe, die dadurch von der „sogenannten Trivialkunst“ deutlich zu unterscheiden seien. 24 Reinhart Meyer: Novelle und Journal, Bd. 1. Titel und Normen. Untersuchungen zur Terminologie der Journalprosa, zu ihren Tendenzen, Verhältnissen und Bedingungen, Stuttgart 1987, S. 40.

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nach einer „medientechnischen Reformulierung der Literatur“25 sowie die Frage, was eine solche für die Literaturgeschichtsschreibung – sowohl in Bezug auf die Periodisierung als auch in Bezug auf die Kanonisierung – und nicht zuletzt für den bis heute entgegen allen wohlmeinenden Beteuerungen geltenden emphatischen Begriff von Literatur bedeutet. Die systemtheoretische Perspektive wird also mit einer mediengeschichtlichen zusammengeführt – mit derjenigen Friedrich Kittlers, „in welchen Medien die Literatur in einer gegebenen Zeit überhaupt existierte“.26 Es stellt sich damit nicht mehr die Frage nach der Funktion von Literatur, sondern nach der Funktion der Literatur kommunizierenden Printmedien.27 Erst in einer solchen mediengeschichtlichen Perspektive mit einem funktionalen Literaturbegriff jenseits der überkommenen Dichotomie zeigt sich, wie die Kommunikation in und über Literatur überwuchert wird von der Differenz männlich/weiblich, die im Laufe des 19. Jahrhunderts – zusammen mit rassistischen und klassenspezifischen Differenzen – zu einem signifikanten Ordnungsmuster auch für die Literatur aufsteigt, das es im Folgenden sichtbar zu machen gilt. Es geht in der vorliegenden Studie deshalb weder um eine Abrechnung mit der ‚Kulturindustrie‘ noch um eine Apologie der ‚Massenkultur‘, sondern um die Beschreibung eines für die Literaturgeschichte folgenreichen Prozesses: die Überlagerung des Literatursystems durch die Massenmedien und dessen nachhaltige Zerrüttung.28

25 Nikolaus Wegmann: Literarische Autorität: Common Sense oder literaturwissenschaftliches Problem?, in: Stanitzek/Voßkamp (Hg.), Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften, S. 85-97, hier: S. 93. 26 Friedrich Kittler: Literaturgeschichte, in: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg 1999, S. 357-361, hier: S. 359. 27 Luhmann selbst schwankt in seinen Arbeiten zwischen einem schwachen Medienbegriff, in dem technische Medien in allen Systemen einfach der Verbreitung von Kommunikation dienen, und einem starken, wie er ihn in Die Realität der Massenmedien entwickelt und an den ich meine Überlegungen anschließen möchte. Vgl. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, 2. Aufl. Opladen 1996 (im Text mit Sigle RM und Seitenzahl). 28 Einen ganz anderen Ansatz verfolgt dagegen Oliver Jahraus, der Literatur selbst „als ausgezeichnetes Medium bzw. Mediensystem begreift“, das seit 1800 „die Disposition zur Interpretation paradigmatisch entfaltet.“ Oliver Jahraus: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation, Weilerswist 2003, S. 9. Dagegen steht hier das Verhältnis von Literatur und Verbreitungsmedien zur Diskussion.

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Eine solche Beschreibung setzt eine theoretische Rahmung voraus, die im zweiten Kapitel geleistet werden soll und die beansprucht, die funktionale Perspektive der Systemtheorie fruchtbar zu machen für eine Mediengeschichte der Literatur, die von der Differenz der Geschlechter dirigiert wird. Ziel wäre die „Verschiebung des Orts der Literatur“,29 um sie aus der Fixierung auf die Buchkultur herauszulösen. Dabei gehe ich nicht davon aus, dass es Literatur, Systeme, Geschlechter oder Medien einfach ‚gibt‘, sondern folge einem pragmatischen Konstruktivismus, der es erlaubt, die traditionellen Fragen anders zu stellen: „Der Systembegriff, der einmal wie kein anderer bestimmt schien, Ordnung in die Dinge und in ihre Beschreibung zu bringen […], formuliert heute das Phänomen der Oszillation. Er trennt Systemzustände und Umweltzustände, um deren durch keine Kausalität abzubildende Abhängigkeit voneinander zu studieren. Er spricht von der Ordnung, um sich die Unordnung anzuschauen, zu der diese sich durchringen muß, um auf das reagieren zu können, was sie ausschließt.“30

Auf dieses theoretische ‚Vorspiel‘ im zweiten Kapitel folgt im dritten ein historisches, in dem am ‚Meister-Autor‘ Goethe gezeigt wird, dass die Probleme, die die Verbreitungsmedien dem Literatursystem bereiten, nicht erst im 19. Jahrhundert entstehen, sondern immer schon virulent gewesen sind. Ergänzt wird diese historisch-systematische Rekonstruktion im vierten Abschnitt um die Perspektive der DilettantInnen, bei denen interessanterweise die Medialität von Literatur wesentlich präsenter ist als bei den kanonisierten Autoren. Im Vordergrund steht hier die Mediendifferenz von Mündlichkeit und Schrift, Gespräch und Brief. Im fünften Kapitel soll dann am Aufstieg der Familien- und Rundschauzeitschriften der Entdifferenzierungsprozess des Literatursystems rekonstruiert werden, sofern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts alle Literatur als Unterhaltung in Massenmedien generiert wird. Anschließend steht anhand ausgewählter AutorInnen der ‚Poetische Realismus‘ als produktive Indifferenz von Kunst und Unterhaltung in seinen Medien im Zentrum der Analyse. Am Ende stellt sich dann die Frage, ob den literarischen ‚Ismen‘ um 1900 die Erneuerung des Literatursystems durch die Stabilisierung des Codes mittels eines aggressiven gendering gelingt. Der Ort der Beobachtung wird in dieser Studie über weite Strecken dem Ort der Kritik vorgezogen. So lässt sich die fruchtlose Alternative vermeiden, entweder die bestehende Kritik an den Literaturverhältnissen 29 Karlheinz Barck: Literaturgeschichte als Mediengeschichte. Perspektiven, in: Münz-Koenen/Schäffner, Masse und Medium, S. 222-235, hier: S. 234. 30 Dirk Baecker: Wozu Systeme?, Berlin 2002, S. 7.

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des 19. Jahrhunderts weiterzuschreiben oder aber der – unergiebigen – Versuchung zu erliegen, diese durch Umwertungen einfach zu dementieren. Vielmehr soll aus der Beschreibung der Konstruktion der ‚Realität Literatur‘ die Realität der ‚Konstruktion Literatur‘ sichtbar werden, die auf zwei Fiktionen beruht: auf der der Geschlechtsneutralität und auf der der Medienunabhängigkeit. Die vorliegenden Mediengeschichten der Literatur setzen an die Stelle „des literarischen Artefakts die medialen Bedingungen, die dieser Bedeutungsbildung zugrunde liegen.“31 Die Auswahl der Texte und Periodika erfolgt systematisch entlang der Fragestellung und behauptet insofern für diese Exempla literaturgeschichtlichen Modellcharakter, ohne in irgendeiner Hinsicht ‚Vollständigkeit‘ suggerieren zu wollen. Dabei sollen die paradoxen Voraussetzungen mitreflektiert werden – dass der vermeintlich historische Anfang, das nachgerade mythisch gewordene „um 1800“, immer schon angefangen hat und insofern ebenso gespenstisch ist wie der Versuch, ausgerechnet bei der Systemtheorie um theoretische Absicherung für gewagte Thesen nachzusuchen, denn diese ist zwar „immer wieder für einen überraschenden, vielversprechenden und befreienden Anfang gut, verliert jedoch an Überzeugungskraft, sobald sie für die einzig mögliche Theorie gehalten wird.“32

31 Natalie Binczek/Nicolas Pethes: Mediengeschichte der Literatur, in: Helmut Schanze (Hg.), Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart 2001, S. 282-315, hier: S. 298. 32 Baecker, Wozu Systeme?, S. 83.

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II. L I T E R A T U R S Y S T E M

ODER

M ED I E N S Y S T E M ?

1. LITERATUR und Medium „Systeme ordnen, für einen Beobachter, den Zusammenhang von Freiheit, Blindheit und Abhängigkeit: Systeme sind frei in der Setzung ihrer Ausgangsunterscheidung; blind für die Folgen; und für den Erfolg dieser Setzung abhängig von allem, was sie ausschließen.“1

Der „Ursprung der Literatur“ liegt, folgt man der mediengeschichtlichen Literaturwissenschaft, im 15. Jahrhundert und korreliert aufs Engste mit dem epochalen Medienwechsel vom Manuskript zum gedruckten Buch.2 Um die Frage zu beantworten, inwiefern sich im 19. Jahrhundert der Gesamtcharakter der Literatur verändert hat, erscheint es deshalb zunächst sinnvoll, einen Blick auf diesen frühneuzeitlichen Medienwechsel zu werfen, da das Problem der technischen Reproduzierbarkeit von Schrift in der Frühzeit des Buchdrucks einer vergleichbaren Logik folgt und einen ähnlich tiefen Einschnitt darstellt, wie Benjamin ihn für die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts diagnostizierte. „Die schriftlichen Denkmäler hörten auf, noch Denkmäler zu sein.“3 Das Papier war, im Unterschied zur Papyrus-Rolle, viel verderblicher, die einzelnen Drucke von geringem Wert und ohne festen Ort. Die neue Materialität des Schriftträgers veränderte damit grundlegend die Einstellung zu Dauer und Tradierung der Schrift. Man muss feststellen, dass „Drucke ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie entstehen […], denn die schier unbegrenzte Mög-

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Baecker, Wozu Systeme?, S. 7. Hans Ulrich Gumbrecht: Beginn von ‚Literatur‘ / Abschied vom Körper?, in: Gisela Smolka-Koerdt/Peter M. Spangenberg/Dagmar TillmannBartylla (Hg.), Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650, München 1988, S. 15-50, hier: S. 16. Jan-Dirk Müller: Der Körper des Buchs. Zum Medienwechsel zwischen Handschrift und Druck, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988, S. 203-217, hier: S. 204 (Hervorhebung im Original).

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lichkeit schriftlicher Reproduktion schlägt um in Beliebigkeit und Nutzlosigkeit des schriftlich Fixierten. Schrift verliert ihre ‚Aura‘ […].“4 Die Versuche, den Verlust durch die Auratisierung des Mediums Buch zu kompensieren, reichen bis in die Moderne. Während es vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit zum „Tabernakel göttlicher Wahrheit“5 stilisiert wurde, heiligte man in der Moderne den Buchkörper als Sitz des unverbrüchlichen Sinns, den ein Autor in ihn hineingelegt hat. „Die Produktion von poetischen Schriften aber wurde als etwas Heiliges angesehn, und man hielt es beinah für Simonie, ein Honorar zu nehmen oder zu steigern.“6 Nicht mehr Überlieferung, sondern Entstehung, nicht göttlicher, sondern menschlicher Sinn machen aus dem Buchkörper ein ‚Werk‘, das Einheit und Präsenz, mithin Authentizität beanspruchen kann. Und Authentizität dient in der Moderne immer auch zur Distinktion von Kunst und Nicht-Kunst.7 Seit der flächendeckenden Durchsetzung des Buchdrucks, so lässt sich im Anschluss an Jan-Dirk Müller resümieren, ist das Verhältnis der Literatur zur Unterscheidung Original/Reproduktion ein völlig anderes als in den bildenden Künsten, insofern dem Manuskript eines Autors prinzipiell kein höherer künstlerischer Wert zugeschrieben wird als dessen gedruckter Fassung. Das literarische Werk nimmt die Reproduktion nicht nur in Kauf, es setzt sie geradezu voraus.8 Künstlerische ‚Echtheit‘ wird in der neuzeitlichen Literatur in ‚Neuheit‘ überführt, die als ‚Eigentümlichkeit‘ und ‚Originalität‘ den autonomen Literaturbegriff seit dem Sturm und Drang bestimmt. ‚Neuheit‘ aber programmiert seit der Frühen Neuzeit auch das System der Massenmedien.9 Deshalb erscheint es sinnvoll, die Literatur nicht nur im Kontext des Literatursystems – im Sinne des Werks als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium – zu beobachten, sondern im Kontext ihrer technischen Verbreitungsmedien. An die Neuheit/Originalität heften sich diejenigen Wertungen, die das Literatursystem in Gestalt von materialen und Deutungskanones

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Ebd., S. 205. Ebd., S. 206. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 14, hg. v. Klaus-Detlef Müller, Frankfurt/M. 1986, S. 563. Vgl. Susanne Knaller: Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs, in: Dies./Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München 2006, S. 17-35. Vgl. Elena Esposito: Code und Form, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 56-81, hier: S. 77. Vgl. den Abschnitt über Zeitungen und Zeitschriften in Kap. V.1.

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LITERATUR UND MEDIUM

hierarchisch und geschlechterdifferent strukturieren.10 Hoch und niedrig, ernst und unterhaltend dienen als Stabilisatoren eines Literatursystems, das sich gegen die Anonymität schriftbasierter Massenkommunikation abschließen muss. Der blinde Fleck seiner Codierung besteht darin, dass Unterhaltung, die als Gegenpol der LITERATUR fungiert, selbst zentraler Bestandteil des Systems Massenmedien ist, während auf der anderen Seite LITERATUR immer auf Massenmedien angewiesen bleibt. In der Forschung wird dieses Paradox zumeist aufgelöst: Durch die Annahme einer Doppelexistenz der Literatur als massenmediales Produkt und soziale Alltagserfahrung, als Medium unter anderen, sowie als Gegenstand allgemeiner Hochschätzung mit einer „positiven Sonderrolle im Reich der Texte und Medien“.11 Dagegen soll in dieser Arbeit die (nicht unumstrittene) Unterscheidung Luhmanns in ein System der Massenmedien und ein Kunst- bzw. Literatursystem fruchtbar gemacht werden, bietet diese systemtheoretische Perspektive doch – bei aller impliziten und expliziten Konzentration auf die ‚hohe‘ Kunst und ihre Einzigartigkeit12 – durch den Grad ihrer funktionalen Abstraktion in mehrfacher Hinsicht brauchbare Kategorien, die eine Neuvermessung des literarischen Feldes im 19. Jahrhundert in horizontaler Perspektive jenseits der Wertungen und Dichotomien des Literatursystems ermöglichen. Für Luhmann ist Kunst als System das Ergebnis funktionaler Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die es erlaubt, funktionsbezogene Teilsysteme von jeweiligen Umwelten abzuschließen. Charakterisiert sind diese Teilsysteme wesentlich dadurch, dass ihre Operationen ausschließlich in Kommunikationen bestehen. Luhmann beharrt bei seinem Begriff von Kommunikation – als Unterscheidung von Mitteilung und Information, die ein Verstehen und damit Anschlusskommunikation ermöglicht13 – auf deren Prozessieren jenseits von persönlicher Interaktion; strikt unterscheidet er psychische Systeme, die auf Wahrnehmung, von sozialen Systemen, die auf Kommunikation beruhen. Dennoch gilt: „Die Evolution der gesellschaftlichen 10 Zu dieser Unterscheidung vgl. Renate von Heydebrand: Probleme des ‚Kanons‘ – Probleme der Kultur- und Bildungspolitik, in: Johannes Janota (Hg.), Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis, Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, Bd. 4, Tübingen 1993, S. 3-22, hier: S. 5f.; vgl. auch Renate von Heydebrand/Simone Winko: Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon. Historische und systematische Überlegungen, in: IASL 19 (1994) 2, S. 96-171. 11 Wegmann, Vor der LITERATUR, S. 81. 12 Vgl. dazu auch Dainat/Kruckis, Kunst, S. 165, 169. 13 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1999, S. 35 (im Text mit Sigle KG und Seitenzahl).

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LITERATURSYSTEM ODER MEDIENSYSTEM?

Kommunikation ist nur möglich in ständiger operativer Kopplung mit Bewußtseinszuständen.“14 Eine solche Koppelung führt innerhalb des Systems der Massenmedien beispielsweise zum Phänomen der ‚Aufmerksamkeit‘. Auch wenn in Luhmanns Realität der Massenmedien diese Kategorie keine Rolle spielt, so bilden ‚Aufmerksamkeit‘ und ‚Zerstreuung‘ doch die zentralen Wahrnehmungselemente, über die das System der Massenmedien mit den Bewusstseinszuständen des Publikums verbunden ist. Wenn Autopoiesis bedeutet, dass die Systeme die Elemente, aus denen sie bestehen, über die Operation der Kommunikation ausschließlich selbst produzieren und reproduzieren, dann ist Literatur danach alles, was die Kommunikation des Systems nach systemeigenen Regeln als Literatur behandelt.15 Die Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur, die zur Differenzierung in LITERATUR und Literatur führte, erscheint im systemtheoretischen Modell als Resultat einer Beobachtung zweiter Ordnung. Das aber bedeutet, dass sie nicht mehr als Eigenschaft von Werken gedacht wird, sondern als Ergebnis einer Beobachtung, die sich selbst darauf hin beobachtet, wie sie von anderen beobachtet wird: „[D]er Status eines Kunstobjekts als Kunstwerk hat nichts mit den Eigenschaften des Objekts selbst zu tun. Es geht nicht darum, daß es harmonisch oder wertvoll ist oder daß es etwas angemessen repräsentiert: was gilt, ist nur seine Lokalisierung in der Formenkombination der Kunst.“16 Die Beobachtungen folgen dem Code des Systems. Code ist jeweils ein binärer Schematismus, der zwei entgegengesetzte Pole qua Negation trennt und vereint. Er garantiert die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen, deren Reproduktion nötig ist für die Autopoiesis des Systems. Codes sorgen also dafür, dass Systeme operativ geschlossen sind, d.h. dass sie ‚autonom‘ interne Kommunikationen prozessieren. „Unter Code verstehen wir eine Struktur unter anderen – eine Struktur, die das Erkennen der Zugehörigkeit von Operationen zum System ermöglicht, aber deswegen noch nicht in der Lage sein muß, die Einheit des Systems im System paradoxiefrei zu repräsentieren.“ (KG 303f.)

14 Niklas Luhmann: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?, in: Gumbrecht/Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, S. 884-905, hier: S. 888. 15 Vgl. Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation, Opladen 1992, S. 61. 16 Esposito, Code und Form, S. 63; vgl. auch KG 92 u. 101. Unter feldtheoretischer Perspektive beschreibt Pierre Bourdieu die Genese der autonomen Kunst durchaus ähnlich. Vgl. ders.: Die historische Genese einer reinen Ästhetik, in: Merkur 46 (1992) 7, S. 967-979.

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Diese Struktur muss variabel, stabil und darüber hinaus so abstrakt sein, dass sie jede Operation des Systems codieren kann. Ein „Code muß vor allem funktionieren.“17 Systembildung geht ohne Codierung nicht, und deshalb bedarf es auch für das Literatursystem eines Codes. Luhmann hat diesen schon früh als „Disjunktion von schön und häßlich“18 bestimmt und ihn bis in sein Spätwerk Die Kunst der Gesellschaft verteidigt.19 Der verschiedentlich vorgetragenen Kritik begegnet er mit einer funktionalen Antwort: Schönheit werde hier nicht inhaltlich – etwa als Einheit in der Mannigfaltigkeit oder als sinnliches Erscheinen der Idee – bestimmt, sie sei nicht Eigenschaft eines Objekts, sondern indiziere eine Form.20 Deshalb müsse die Differenz ergänzt werden durch andere Unterscheidungen – etwa passend/unpassend, stimmig/unstimmig oder gelungen/ misslungen –, die für die Funktionsfähigkeit des Codes notwendig seien, ihn aber nicht ersetzen könnten. Natürlich lässt sich, wie verschiedentlich vorgetragen, diese Offenheit bzw. Ergänzungsbedürftigkeit des Kunst-Codes als Abhängigkeit von den jeweiligen internen Programmen des Kunstsystems und damit als dessen konstitutive Eigentümlichkeit betrachten. Sie könnten aber ebenso als Indiz gelesen werden für einen Verdacht, den auch Luhmann für sich selbst nicht ausräumen konnte: dass nämlich das Kunstsystem bei weitem nicht die Stabilität aufweist, die er glaubt für andere Systeme nachweisen zu können. Offenbar lassen sich gerade für das 19. Jahrhundert ohne große Anstrengung berechtigte Zweifel an der Annahme eines ausdifferenzierten Literatursystems – zumindest in dieser theoretischen Formatierung – anmelden, ohne dass dies bislang zu Konsequenzen geführt hätte. Vielmehr gibt es verschiedene Versuche, das System Literatur zu retten, indem der Code neu bestimmt wird. So kritisiert Georg Jäger Luhmanns Gebrauch der Opposition schön/hässlich als inadäquat, weil diese nicht als binärer Schematismus funktioniere und insofern die Konfrontation jedes Elements im System mit der Möglichkeit, Wert bzw. Unwert zu sein, scheitere.21 Jäger schlägt stattdessen den Geschmack als Distinktionskriterium 17 Esposito, Code und Form, S. 57. 18 Niklas Luhmann: Ist Kunst codierbar?, in: Ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Opladen 1981, S. 245-266, hier: S. 252. 19 „Noch immer gibt es hier keine überzeugende Alternative zu schön/ häßlich.“ (KG 317) 20 Vgl. KG 314. 21 Georg Jäger: Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und avantgardistischen Literatursystems mit einer Wandlungshypothese, in: Michael Titzmann (Hg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 221-244, hier: S. 225f.

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vor: „Der Geschmack sichert die Einheit des Prozesses in der Sozial-, die Ästhetik in der Sach-, die Literaturgeschichte in der Zeitdimension. Kommunikationsgeschichtlich bedeutet dies eine Vermehrung und Spezialisierung der Diskurse.“22 Dabei vermag er jedoch den Vorschlag Luhmanns nicht wirklich zu ersetzen, fasst Jäger doch Kommunikation als Interaktion – in dieser Hinsicht grenzt sich Luhmann aber von Parsons’ handlungsorientierter Systemtheorie ab.23 Die Anfechtungen wiederum, die das Literatursystem im Laufe des 19. Jahrhunderts durch das System der Massenmedien erfährt, transformiert Jäger in eine Wandlungshypothese vom bürgerlichen zum avantgardistischen Literatursystem, in der die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in der vorliegenden Studie genauer betrachtet werden soll, nolens volens dem ‚bürgerlichen Literatursystem‘ zugeschlagen werden muss. Siegfried J. Schmidt hat in der Nachfolge Luhmanns ebenfalls die Frage der Grenze zu anderen Sozialsystemen als „Frage nach der grundlegenden Systemfunktion“24 gestellt, die die Literatur für die Gesamtgesellschaft erfülle. Dabei erklärt er den Prozess der Autonomisierung als „Herauslösung der schönen Künste aus allen gesellschaftlichen Verwertungszusammenhängen“25 zur Voraussetzung ihrer Funktion der Funktionslosigkeit. Schmidts Suche nach Alternativen zur schön/hässlichDifferenz führte zur Bestimmung des Codes in der Differenz von literarisch/nichtliterarisch: Literarisch ist danach, was man im System für Literatur hält.26 Dieser Ansatz krankt nach Luhmann weniger an seiner tautologischen Struktur als daran, dass er sich dem Unterscheidungsparadox innen/außen aussetze und deshalb die interne Präferenzstruktur nicht ausreichend bezeichnen könne. (KG 307) Dagegen ließe sich im Anschluss an Wegmann mit Hilfe der Unterscheidung LITERATUR/Literatur,27 die den Vorschlag von Schmidt präzisiert, für die Zeit um 1800 durchaus ein

22 Ebd., S. 228. 23 Zur Unterscheidung einer auf Handlungssystemen basierenden Systemtheorie in der Folge Talcott Parsons’, wie sie die Münchener Forschungsgruppe „Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770-1900“ für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht hat, und einer auf Kommunikationssystemen basierenden in der Tradition Luhmanns vgl. Werber, Literatur als System, S. 23f. 24 Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1989, S. 409. 25 Ebd., S. 268. 26 Vgl. ebd., S. 20 und passim; Niels Werber: Literatur als System?, in: Weimarer Beiträge 36 (1990) 7, S. 1192-1197, hier: S. 1196. 27 Vgl. Wegmann, Vor der LITERATUR.

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funktionierender Code beschreiben, auch ohne dass man, wie Schmidt, auf ein handlungstheoretisches Modell rekurriert. Auch Gerhard Plumpe und Niels Werber haben Luhmanns Leitdifferenz kritisiert, weil diese nicht dem Kunstsystem, sondern der Ästhetik, also der philosophischen Reflexion über Kunst entstamme und mithin von der „wissenschaftlichen Leitdifferenz ‚wahr‘/‚falsch‘ übercodiert“ sei.28 Der Code schön/hässlich unterscheide sich nicht hinreichend von dem der Wissenschaft, um die Autopoiesis zu garantieren. Ästhetik begreifen Plumpe und Werber nicht als Selbstreflexion des Kunstsystems, sondern als Beobachtung der Literatur vom System der Wissenschaft aus. Für die Kunstkommunikation schlagen sie deshalb die Differenz interessant/langweilig vor, über die seit der Romantik codiert werde, was Literatur sei und was nicht.29 Durch die neu entstehende Freizeit um 1800 hätte sich die Literatur exklusiv auf Unterhaltung durch interessante Werke eingestellt. Diese Überlegungen bieten tatsächlich eine Alternative zu Luhmanns Unterscheidung. Sie überzeugen jedoch gerade nicht wegen ihrer vermeintlichen Fundierung in literaturtheoretischen Zeugnissen, die mit derselben Begründung einem anderen als dem Literatursystem zugeordnet werden könnten – weder Christian Garves Gedanken über das Interessirende noch Friedrich Schlegels Reflexionen Über das Studium der griechischen Philosophie lassen sich zwingend dem Literatursystem zuschlagen, wenn zugleich Hegels Ästhetik daraus ausgeschlossen wird30 –, sondern aus einem ganz anderen Grund: Sie tragen unausgesprochen der Tatsache Rechnung, dass Literatur im System der Massenmedien generiert wird und dass die Ausdifferenzierung des Literatursystems nichts weniger als den Versuch darstellt, diese Bedingung vergessen zu machen. Gegen die Annahme, dass die Unterscheidung interessant/langweilig ein autonomes Funktionssystem Literatur codiert,31 soll diese Unterscheidung im Folgenden im Mediensystem verortet werden, wo sie mindestens den Bereich Unterhaltung ausschließlich codiert, wobei dahingestellt sei, ob dies nicht sogar auch für die Teilbereiche Nachrichten und Werbung gilt. Alle Teilsysteme erfüllen eine Funktion im Hinblick auf das System Gesellschaft. Luhmann denkt den Funktionsbegriff selbst funktional, d.h. er löst ihn ab von zweckgerichteter Handlung. Die Funktion des Kunst28 Gerhard Plumpe/Niels Werber: Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Opladen 1993, S. 9-43, hier: S. 29. 29 Werber, Literatur als System, S. 63ff; vgl. dazu KG 234f., Anm. 29. 30 Vgl. Werber, Literatur als System, S. 31. 31 Ebd., S. 26.

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werks sei es, eine eigene Realität zu etablieren, „die sich von der gewohnten Realität unterscheidet. Es konstituiert, bei aller Wahrnehmbarkeit und bei aller damit unleugbaren Eigenrealität, zugleich eine dem Sinne nach imaginäre oder fiktionale Realität. Die Welt wird […] in eine reale und in eine imaginäre Realität gespalten.“ (KG 229) Dieses Angebot an die Welt, sich selbst zu beobachten, impliziert eine Realitätsverdoppelung, die sich von den Verdoppelungen durch Sprache und Religion dadurch unterscheidet, dass sie auf „technisch-poietische Realisationen [setzt], die das Gemeinte wahrnehmbar machen“ (KG 230, Hervorhebung im Original) und die es erlauben, von der einen Seite aus die andere zu beobachten. Die Funktion bestimmt Luhmann mithin als die „Konfrontierung der (jedermann geläufigen) Realität mit einer anderen Version derselben Realität.“32 Die Brisanz dieses Funktionsbegriffs zeigt sich vor allem dann, wenn nicht nur jedes System eine Funktion der Einschränkungen darstellt, die es konstituieren, sondern wenn jedes System „eine Funktion seiner selbst und seiner Umwelt“ ist, insofern „es sich in dieser Umwelt von dieser Umwelt unterscheiden können muß.“ Dieses Oszillieren „zwischen Tautologie und Paradoxie“ 33 bedeutet in der Konsequenz, dass das System jenseits seiner Funktion für die Gesellschaft funktioniert, dass seine eigene Bedingtheit wie auch die Produktion seiner Grenzen, „die das System ausdifferenzieren und in seine Umwelt wieder einbetten, zum Gegenstand der Systemoperationen selbst“ werden.34 Das System schließt aus, was es als seine andere Seite voraussetzen muss: Die Unterscheidung LITERATUR/Literatur „enthält ihre beiden Seiten und die Trennung zwischen den beiden Seiten.“35 Diese Unterscheidung produziert eine Grenze, die nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern die ständig reproduziert werden muss, da das von ihr Ausgeschlossene und dennoch als Außenseite Mitlaufende diese Grenze immer wieder überschreitet. Es wäre deshalb ein Trugschluss, Systeme als feste und fertige Einheiten zu denken, die, einmal ausdifferenziert, sich unendlich reproduzieren. Vielmehr muss die Tatsache ernst genommen werden, dass das Prozessieren der Systeme im Sinne des erfolgreichen Anschlusses kommunikativer Operationen unter diesen Bedingungen eher unwahrscheinlich ist. Deshalb kommt alles darauf an,

32 Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt/M. 1986, S. 620-672, hier: S. 624 (im Original hervorgehoben). 33 Baecker, Wozu Systeme?, S. 86 (Hervorhebung im Original). 34 Ebd., S. 94. 35 Ebd., S. 12f. (Hervorhebung im Original).

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Kommunikationsmedien zu etablieren, die die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen. Auch Luhmanns Funktionsbestimmung der Literatur als Schärfung des Kontingenzbewusstseins wurde in der systemtheoretischen Literaturwissenschaft schon früh kritisiert36 und von Plumpe und Werber ersetzt: „die Funktion der Kunst ist es, zu unterhalten. Die Systembildung der Kunst ist zu beschreiben als Ausdifferenzierung von Unterhaltung vor dem historischen Hintergrund der Entstehung von Freizeit als einem gesellschaftlichen Problem ungebundener Zeit.“37 Doch auch diese Beschreibung trifft gerade kein autonomes Literatursystem, das sich doch dadurch auszeichnen soll, dass es „nach selbst erarbeiteten Regeln prozessiert“.38 Denn Unterhaltung ist nicht exklusive Funktion von Literatur, sondern bildet im System der Massenmedien ein eigenes Segment, dessen Aufgabe in der Ausfüllung freier Zeit durch unterhaltende, interessante, informative Objekte besteht. Damit erfüllt sie vorzüglich den Anspruch der Universalität, den die periodischen Printmedien, neben der Aktualität und der Publizität, zu erfüllen haben.39 Wie für die Unterscheidung interessant/langweilig gilt auch für die Funktion Unterhaltung, dass sie entweder das Literatursystem vom System der Massenmedien aus übercodiert oder aber dass die Funktion der Literatur mit derjenigen der Massenmedien zusammenfällt. Eine Lösung dieses Dilemmas durch die Annahme einer synchronen Inklusion in verschiedene Systeme könnte dagegen nur dann überzeugen, wenn für Kunst und Unterhaltung deutlich distinkte Funktionen zu bestimmen wären, denn eines ist bei aller Flexibilität der Systemtheorie unumstritten: dass die Ausdifferenzierung von Literatur nur möglich ist in Bezug auf eine „spezifische Funktion, die in diesem System und nirgendwo sonst erfüllt wird“.40 Die Frage, wie Kunst die Funktion der Unterhaltung erfüllen kann, ist deshalb für die folgenden Ausführungen erkenntnisleitend.41

36 Vgl. bereits Georg Stanitzek: Schöne Kontingenz. Niklas Luhmanns systemtheoretische Analysen der Kunst, in: FAZ vom 25.3.1987. 37 Plumpe/Werber, Literatur ist codierbar, S. 33 (Hervorhebung im Original). 38 Werber, Literatur als System, S. 61. 39 Zum phantasmatischen Charakter des Versprechens der Universalität vgl. Hedwig Pompe: Botenstoffe – Zeitung, Archiv, Umlauf, in: Dies./Leander Scholz (Hg.), Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 121-154, hier: S. 128: „Alles könnte in der ‚Zeitung‘ stehen, dies alles könnte relevant sein und alle betreffen, alles Publizierte sei ein kommunikatives Ereignis.“ 40 Luhmann, Kunstwerk, S. 624. 41 Ein ganz anderes Interesse verfolgt der Band von Herbert Heckmann (Hg.): Angst vor Unterhaltung? Über einige Merkwürdigkeiten unseres Literatur-

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Doch nicht nur die systemtheoretische Bestimmung von Code und Funktion des Teilsystems Literatur erweist sich als einigermaßen schwierig; auch das Programm lässt sich nicht abgrenzen. Während die Regelkunst eine Unterscheidung zwischen Programmierung und Codierung nicht zulasse, werde diese dann möglich, „wenn Neuheit als Erfordernis von Kunstwerken für unerläßlich gehalten, also Copieren untersagt wird.“ (KG 323) Die Umstellung von Abweichung im Sinne der Auffälligkeit, die einer besseren Speicherung im Gedächtnis dient, auf Neuheit im Sinne der Überraschung destabilisiert das Regelhafte; an seine Stelle tritt das Gefallen bzw. der Genuss des Publikums. Neuheit wiederum eignet sich nun aber nicht als positiver Codewert, auch ist die Bestimmung ‚neu‘ zur Qualifizierung dessen, was vom Neuen Kunst sei, gänzlich ungeeignet. Neuheit kann nur dann das Literatursystem programmieren, wenn der Code davon getrennt werden kann: „Der Code kann als binärer Schematismus stabil gehalten werden, während alles, was die Programmfunktion der richtigen Zuordnung der Codewerte erfüllt, dem Wechsel, dem Zeitgeist, dem Neuheitsgebot überlassen bleiben kann.“ (KG 327) Das Paradigma der Neuheit gerät jedoch zugleich zum Grundparadox, welches vom Literatursystem immer neu entfaltet wird: das ständige Veralten des eben noch Neuen. Dieser extremen Temporalisierung der Kunst kann nur durch Klassik-Zuschreibung, also dadurch begegnet werden, dass man das Kunstwerk der Zeit, der es seine Entstehung verdankt, wieder entzieht.

verständnisses, München, Wien 1986, der den Unterhaltungswert ‚hoher Kunst‘ herausstellt.

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2. Literatur als Massenkunst „Wie sie knallen, die Peitschen! Hilf Himmel! Journale! Kalender! Wagen an Wagen! / Wie viel Staub und wie wenig Gepäck!“1 „Vortrefflich! wenn Sie Sich üben frey und unabhängig zu den entgegengesetztesten Dingen – von der Wäsche zur Lectüre, aus der Küche zum Bücherschrank hinüber zu gehen.“2

Luhmann unterscheidet die technischen Medien einerseits in Speichermedien, die, wie Schrift oder Buchdruck, Kommunikationen gegen Zeit resistent machen und für Anschlusskommunikationen über die Zeiten hinweg verfügbar halten. Was mit ihnen entsteht, ist ‚Kultur‘ bzw. ‚Tradition‘, einer ihrer wichtigsten Träger die Literatur. Zum anderen beschreibt er die Massenmedien, die der Verbreitung von Kommunikation dienen und dazu technische Mittel der Reproduktion nutzen. Massenmedien verfügen zwar ebenfalls über immense Speicherkapazitäten, aber im Unterschied zu den Speichermedien sind sie ganz auf „schnelles Erinnern und Vergessen“ eingestellt. (RM 35) Luhmann denkt dabei Massenmedien nicht im Kontext von Verzerrung und Manipulation von Realität, sondern ausschließlich als ein ausdifferenziertes Funktionssystem, dessen Aufgabe für die Gesellschaft „in der Durchsetzung der Akzeptanz von Themen“ (RM 29) besteht. Entscheidend für die spezifische Verbindung von (quantitativ nicht spezifizierter) Masse und Verbreitungsmedium ist, dass „eine mündliche Interaktion aller an Kommunikation Beteiligten wirksam und sichtbar ausgeschlossen wird.“ (RM 34, Hervorhebung im Original) Diese Unterbrechung des Kontakts erhöhe die Kommunikationsmöglichkeiten erheblich, da die Beschränkungen der Interaktion, in der sich der Sender stets auf Erwartungen und kognitive Fähigkeiten des Empfängers einstellen muss, wegfallen. Damit entstehe ein Überschuss an Kommunikationen, der „nur noch systemintern durch Selbstorganisation und durch eigene Realitätskonstruktionen kontrolliert werden kann“. (RM 11f.) Sende-

1

2

Johann Wolfgang Goethe: Xenien [Juli 1796], Vers 432, in: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 1: Gedichte 1756-1799, hg. v. Karl Eibl, Frankfurt/M. 1987, S. 546. Leonhard Meister: Ueber die weibl. Lectüre [1788], zit. n. Erich Schön: Weibliches Lesen: Romanleserinnen im späten 18. Jahrhundert, in: Helga Gallas/Magdalene Heuser (Hg.), Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800, Tübingen 1990, S. 20-40, hier: S. 26.

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bzw. Empfangsbereitschaft sind dabei nicht zu kontrollieren, es kann nur vermutet werden, was akzeptiert und was abgelehnt werden könnte. Die Anonymität der Adressierung schränkt insofern die durch die Kontaktunterbrechung entstandenen neuen Möglichkeiten der Kommunikation auch wieder massiv ein: Das Angebot muss einerseits differenziert genug sein, damit es beim ‚zerstreuten‘ Publikum auch ankommt, andererseits soll es so standardisiert sein, dass es für viele ‚passt‘, die sonst untereinander wenig Gemeinsamkeiten aufweisen. Darüber hinaus steht es dem einzelnen Kommunikationsteilnehmer frei, sich aus dem einerseits differenzierten, andererseits standardisierten Angebot das auszusuchen, was ihm beliebt. Massenmedien sind nach Luhmann per definitionem der Popularisierung verpflichtet. Ihr Effekt besteht in einer rasanten Beschleunigung der Kommunikation, die sich „auf Voraussetzbares stützen und sich darauf konzentrieren [kann], jeweils spezifische Überraschungen neu (und als neu) einzuführen“. (RM 30) Sie repräsentieren eine Öffentlichkeit, zu der im Prinzip alle Zugang haben oder haben sollen. Mit dieser universalen Inklusion entsteht eine ‚Öffentlichkeit‘, die „von den Gesetzen der Aufmerksamkeit regiert [wird]. […] Aufmerksamkeit geht jeder Beobachtung voraus und ist daher Grundlage jeder Kommunikation.“3 Dementsprechend muss das Ziel der Massenmedien sein, die Aufmerksamkeit ständig wach zu halten, sie immer neu zu fesseln und die Inhalte und Themen so zu präsentieren, dass sie wirksam und nachhaltig gebunden wird, denn was keine Aufmerksamkeit auf sich zieht, existiert schlechterdings nicht. Garantiert wird sie durch Neuheit bzw. Überraschung, die das System programmieren. Dabei erscheint der von Luhmann vorgeschlagene Code Information/Nichtinformation, der mit dem Programm der Neuheit die autopoietische Schließung des Systems garantiert, zumindest ergänzungsbedürftig, ist doch nur eine neue Information interessant, während eine bereits veraltete langweilt und insofern zur Nichtinformation absinkt. Hierin sieht Luhmann einen wichtigen Unterschied zwischen dem System der Massenmedien und dem der Literatur: „Kunstwerke müssen eine hinreichende Ambiguität, eine Mehrzahl möglicher Lesarten aufweisen. Besonders in der modernen Kunst wird dieses Merkmal provokatorisch bis an äußerste Grenzen getrieben. […] Und vielleicht ist diese Tendenz zu extremen Anforderungen an den Beobachter ihrerseits eine Reaktion auf die Massenmedien und die Möglichkeiten auch der technischen Vervielfältigung von Kunstwerken. Finnegans Wake ist ein einziger Protest gegen 3

Florian Rötzer: Aufmerksamkeit als Medium der Öffentlichkeit, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Kommunikation. Medien. Macht, Frankfurt/M. 1999, S. 35-58, hier: S. 41 (im Original hervorgehoben).

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das Gelesenwerden, so wie umgekehrt die Schreibstilempfehlungen, die den Journalisten schon in ihrer Ausbildung eingebläut werden, den Tendenzen zum offenen Kunstwerk diametral entgegengerichtet sind.“ (RM 42, Anm. 15)

Luhmann zieht hier zumindest in Erwägung, was dieser Studie als Grundannahme vorausgeht – dass die Ausdifferenzierung eines autonomen Kunstsystems als Reaktion auf die technische Reproduzierbarkeit im System der Massenmedien verstanden werden muss. Vermutlich ist dies der Grund dafür, dass die verschiedenen Elemente des Literatursystems vom Code über die Programme bis zur Funktion nur eine schwache Distinktionskraft gegenüber den Massenmedien entwickeln und deshalb von dieser ‚Umwelt‘ her immer schon mit Entdifferenzierung bedroht werden. Offenkundig wird dies an der zwielichtigen Gestalt des genialen Autors sowie an der zweideutigen Identifizierung von Buch und Werk als Reaktion auf den Siegeszug der so genannten ‚Einwegliteratur‘ in den periodischen Printmedien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während ‚Werke‘ im Literatursystem Wiederholungslektüren in Gang setzen, wird in den Massenmedien beständig Information irreversibel in Nichtinformation verwandelt. Das Bekanntsein des Bekanntseins der Information wird zugleich zum Motor, Redundanz durch Variation, also durch neue Information zu ersetzen. Dem Prozess permanenter Entwertung durch den Zwang zur Neuigkeit begegnet das Mediensystem durch exklusive Gegenstrategien, etwa durch die „Aufwertung bestimmter Arten von Altsein zu Oldtimern, Klassikern, Antiquitäten“ (RM 46). Prinzip ist die möglichst umfassende Verständlichkeit für möglichst breite Empfängerkreise. Die Auswahl dessen, was zur Information wird und was nicht, unterliegt verschiedenen Kriterien, die alle dem Gesetz der Neuheit und dem Erfordernis der Aktualität gehorchen: Überraschungswert, Konfliktpotential, Spannung, Quantität, Normverstoß. Dabei zielen die so gewonnenen Neuigkeiten, die ständig verschlissen und neu produziert werden, nicht etwa selbst auf Verstoß und Übertretung, sondern auf Erhaltung der Ordnung und Reproduktion der Moral. Eine wichtige Funktion übernimmt die Rückkopplung, also der gesamte Bereich der Publikumsmeinung in Umfragen oder Leserbriefen, der nicht etwa dem Kontakt des Systems mit der Umwelt dient, sondern der Reproduktion des Systems, das sich in diesen Äußerungen selbst spiegelt (vgl. RM 69). Insofern die Funktion der Massenmedien durch ihre Programmierung auf Neuigkeit und ihren Code informativ/nichtinformativ darin besteht, die Voraussetzungen für immer neue Kommunikationen, d. i. eine Art Gedächtnis zu schaffen, das selbst nicht kommuniziert wird, auf das sich aber alle Teilnehmer an Kommunikation beziehen, zeichnen sie verantwortlich für die Reproduktion und Transformation der Moral:

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„In diesem Sinne sind sie für die Produktion der ‚Eigenwerte‘ [gemeint sind hier Sinnkondensate, Themen und Objekte, Anm. M.G.] der modernen Gesellschaft zuständig – eben jener relativ stabilen Orientierungen im kognitiven, im normativen und im evaluativen Bereich, die nicht ab extra gegeben sein können, sondern dadurch entstehen, daß Operationen rekursiv auf ihre eigenen Resultate angewandt werden.“ (RM 177)

Nicht weniger als die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung ist ihnen anvertraut, weil sie die Voraussetzung für das Existieren von Gesellschaft schlechthin schaffen: die Erzeugung von Objekten, die Kommunikationen in Gang setzen und in Gang halten, ohne die, zumindest für die Systemtheorie, von Gesellschaft gar nicht gesprochen werden kann. Sie verknüpfen durch ihre Doppelorientierung – Gedächtnis einerseits, offene Zukunft andererseits – Vergangenheit und Zukunft, und sie tragen durch laufende Aktualisierung der Selbstbeschreibung wesentlich zur Realitätskonstruktion der Gesellschaft bei. Die Realität der Massenmedien besteht mithin in ihren eigenen Operationen, in den „in ihnen ablaufenden, sie durchlaufenden Kommunikationen“ (RM 13). Wie weit sich deren Code, Programm und Funktion für die Beobachtung der Literatur auch und gerade im Hinblick auf die Dichotomie von hoch und niedrig, ernst und unterhaltend eignen und wie sehr damit Kittlers Frage nach der Existenz von Literatur in Medien in den Vordergrund rückt, wird ebenso am Material zu erörtern sein wie die These, dass die populäre Literatur des 19. Jahrhunderts im Sinne einer Massenkunst die Differenz Literatur/LITERATUR über die mediale Erscheinungsweise zu integrieren vermag. Dabei ist von Bedeutung, dass die hier gemeinten populären oder Massenkünste nicht mit der so genannten ‚Volkskunst‘ zusammenfallen. Während die Volkskunst als „Kunst des gemeinen Volkes“ ein Phänomen bezeichnet, das praktisch alle Gesellschaften zu allen Zeiten aufweisen, sind die Massenkünste an die Moderne gebunden: „It is the art of a particular type of culture. It has arisen in the context of modern industrial mass society and it is expressly designed for use by that society, employing, as it does, the characteristic productive forces of that society – namely, mass technologies of production and distribution – in order to deliver art to enormous consuming populations – populations that are ‘mass’ in the sense that they cross national, class, religious, political, ethnic, racial, and gender boundaries.“4

Wenn man mit Benjamin davon ausgeht, dass die Literatur im Laufe des 19. Jahrhunderts, wie die bildende Kunst, den schönen Schein einbüßt,

4

Noël Carroll: A Philosophy of Mass Art, Oxford 1998, S. 185.

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dafür aber an Spiel-Raum für unerwartete Experimente und ungeahnte Abenteuer hinzugewinnt, dann schließt dieser Prozess alle Verfahrensweisen der Moderne, von den Spiel-Anordnungen realistischer Novellen bis hin zu den Sprachspielen der literarischen Moderne, ein. Während die Hegelsche Fassung der Schönheit als Erscheinung des Geistes in seiner sinnlichen Gestalt selbst „schon epigonale Züge“ trägt,5 reflektiert das reproduzierte Kunstwerk Epigonalität programmatisch. Nicht Kult-, sondern Ausstellungswert, nicht kontemplative Versenkung, sondern genussvolle Zerstreuung, nicht der klassenbewusste Bürger, sondern die klassenindifferente ‚Masse‘, nicht der einsame Künstler, sondern das immer schon in Medien verankerte Kollektiv beherrschen die Szenerie. Ernst Bloch skizzierte bereits 1935 mit seinem Begriff der ‚Kolportage‘ eine dynamische Literaturgattung mit erheblichem Spannungspotential, hohem Unterhaltungswert und technisch-formaler Perfektion. Die Betonung legte der Karl-May-Fan vor allem auf ihre gesellschaftliche Funktion, die in der Bewahrung einer Vorstellung des „bunten Glücks“ bestehe: „Kolportage hat in ihren Verschlingungen keine Muse der Betrachtung über sich, sondern Wunschphantasien der Erfüllung in sich; und sie setzt den Glanz dieser Wunschphantasie nicht nur zur Ablenkung und Berauschung, sondern zur Aufreizung und zum Einbruch.“6 Auch wenn der Beobachter Bloch hierbei selbst der Unterscheidung von ‚guter Kolportage‘ und ‚schlechtem Kitsch‘ unterliegt und damit die ‚Schmutz-und-Schund‘-Debatten, wenn auch auf anderem Niveau, wiederholt, so indiziert er damit doch einen Literaturbegriff, der aus der Freizügigkeit entstanden ist und der seit dem 19. Jahrhundert sich anschickt, den autonomen zu verdrängen. Von dieser Erfolgsstory geht auch die neuere Forschung zum Thema aus, die an Bloch und andere frühe Theoretiker der Massenkultur anknüpft,7 sich aber der unbrauchbaren, moralisch tingierten Unterscheidung von Kunst und Kitsch nicht mehr aussetzt,8 sondern ihren Gegen5 6 7 8

Rudolf Maresch/Niels Werber: Vorwort, in: Dies. (Hg.), Kommunikation. Medien. Macht, S. 7-18, hier: S. 9. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, erw. Ausgabe, Frankfurt/M. 1985, S. 177f. Zumindest erinnert sei an dieser Stelle an die kultursoziologischen Arbeiten Georg Simmels, Siegfried Kracauers und Leo Löwenthals. Die Übernahme dieser Unterscheidung aus der Ästhetik in die Kulturtheorie führte zu folgenreichen Wertungen, die bis heute die Diskussion bestimmen: So fasste Hermann Broch den Kitsch als das Böse im Sinne von Effekthascherei, Giesz sprach von „Stimulantien und Narcotica“, Adorno beklagte den Zerfall des Ganzen zugunsten partikularer Reize und Walter Killy kritisierte vor allem die Häufung und Wiederholung des ‚Pre-

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stand grundsätzlich als hybride Mischung bestimmt, die, wie die ‚hohe‘ Kunst auch, aus unerwarteten Kombinationen und Transformationen traditioneller Formen entsteht. Der Begriff der „Massenkünste“ hat dabei den Vorteil, dass er nicht länger in Kategorien des Ersatzes, der Flucht oder der Kompensation operiert, vielmehr jene in ihrer eigenen Dynamik und Faszination ernst nimmt, beruhte doch der Aufstieg der Massenkultur darauf, „daß sie ästhetische Erfahrung im vollen Sinn des Wortes zum Element des Alltags der einfachen Leute gemacht hat.“9 Auch Massenkünste vermitteln, wie andere Künste, die Erfahrung von Schönheit, Verausgabung, Erschrecken und Mitleid sowie Ahnung eines Anderen; auch sie ermöglichen Distanzierung vom Gegebenen. Ihre Funktion besteht freilich nicht mehr in der Exklusion und Distinktion, sondern in der umfassenden Inklusion aller ins System der Massenmedien. Während bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Hochkultur sich in einem kaum noch zu übertreffenden Goethe-Kult Maß und Ziel gab, in dessen Inszenierungen das gebildete Publikum sich selbst feierte und zugleich seinen Abstand gegenüber den ‚Massen‘ zelebrierte, änderte sich diese Situation nach der gescheiterten Revolution rasch: „Die Unterschichten errangen Freizeit und Kaufkraft, sie entwickelten eine bislang ungekannte Nachfrage nach Kunst und Vergnügen.“10 Die Herausbildung eines kulturellen Massenmarktes, dessen literarische Komponente wesentlich mit dem Erscheinen der Familien- und Rundschauzeitschriften verknüpft war, stellte sich auf die verschiedenen Interessen und unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten perfekt ein. ‚Goethe‘ avancierte auf der einen Seite zum bevorzugten Objekt der sich neu formierenden Universitätsgermanistik, zum anderen wurde er, vorbereitet durch Eckermanns Gespräche, in den Zeitschriften und Almanachen sukzessive zur Pop-Ikone umgearbeitet, die für alle Lebenslagen eine Antwort bereithielt. Die Massenkünste müssen als Einheit von Angebot und Rezeptionsweise betrachtet werden. Voraussetzung sind moderne Verbreitungsmedien, die sowohl den einsamen Konsum (etwa von Kolportageromanen) als auch den kollektiven (Theater, Kino) ermöglichen, die zugleich erschwinglich und verständlich sind. Ihre Modernität besteht gerade darin, dass sie sich nicht mehr auf bestimmte Klassen beschränken lassen: „Ihre Machart geht weithin zurück auf ästhetische Techniken und Vermarktiösen‘. Vgl. dazu Thomas Hecken: Der Reiz des Trivialen. Idealistische Ästhetik, Trivialliteraturforschung, Geschmackssoziologie und die Aufnahme populärer Kultur, in: Ders. (Hg.), Der Reiz des Trivialen. Künstler, Intellektuelle und die Popkultur, Opladen 1997, S. 13-48, hier: S. 25. 9 Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, 3. Aufl. Frankfurt/M. 2001, S. 30. 10 Ebd., S. 16.

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tungspraktiken jener Unterhaltungskünste, die vom begüterten Bürgertum und Gruppen der Aristokratie wie der Mittelschichten getragen wurden.“11 Gegen diese nivellierende und egalisierende Macht der Massenkünste entfaltete das Kunstsystem eine diffizile Struktur der Distanzierung und Abgrenzung wie auch des Einschlusses. Dennoch konnte die Grenze nicht nachhaltig stabilisiert werden, da die Kulturwarenproduktion auf Gewinn zielt und die Freiheit des Zugangs im 19. Jahrhundert nicht mehr wirksam zu beschränken war. Die gesellschaftliche Distinktion über eine Zurechnung zur Sphäre der Hochkultur gerät, dies zeigen dann vor allem die ästhetischen Debatten des 20. Jahrhunderts, angesichts der inkludierenden Macht massenmedialer Künste deutlich in die Defensive.12 Seit Kant gilt die Zerstreuung als das Hauptlaster, das durch ‚Unterhaltung‘ systematisch produziert werde. „Das Romanlesen hat, außer manchen anderen Verstimmungen des Gemüts, auch dieses zur Folge, daß es die Zerstreuung habituell macht.“ Während die gezielte und bewusste distractio als Abkehr der Aufmerksamkeit und Verteilung derselben auf verschiedene Gegenstände, z. B. „Lesung der Zeitungen“, dem psychischen Ausgleich diene und insofern selbst als Kunst angesehen werden könne, erscheint die unwillkürliche Zerstreuung als unzulässige „Abwesenheit (absentia) von sich selbst“.13 In dieser Verurteilung der zerstreuten Lektüre als digressiv und fragmentarisch laufen aber nicht nur alle Argumente der Lesesuchtdebatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts zusammen; die Kritik der Zerstreuung erscheint bis heute als zentrales Element aller Kritik an Massenkultur. Dagegen hat wiederum Benjamin deutlich gemacht, dass die Freiheit zur Abschweifung ein individuelles Vermögen, Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit subjektive Quali-

11 Ebd., S. 22. 12 „Die ideologische Diffamierung der Massenliteratur als ‚Trivialliteratur‘ geht von dem simplen akademischen Vorurteil aus, daß Literatur, die nicht primär ästhetische Werte zu vermitteln versucht, sondern mit Interesse und Spannung gelesen werden möchte, minderwertig sei, und daß deren Leser, da nur an ‚äußeren‘ Reizen interessiert, einer literarischen wie sozialen Unterschicht angehören müßten.“ Meyer, Novelle und Journal, S. 100. Inzwischen erweist sich derjenige als besonders gebildet, der am elaborierten Diskurs über Massenkunst teilnehmen kann; man darf daran sogar Vergnügen finden, aber nur, sofern dieses selbstreflexiv in den Diskurs eingespeist werden kann. 13 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke, Bd. 10, hg. v. Wilhelm Weischedel, Sonderausgabe Darmstadt 1983, S. 518521, hier: S. 521.

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täten der Perzeption darstellen, die den sich verändernden medialen Bedingungen gerecht werden: „Die sehr viel größeren Massen der Anteilnehmenden haben eine veränderte Art des Anteils hervorgebracht. Es darf den Betrachter nicht irre machen, daß diese zunächst in verrufener Gestalt in Erscheinung tritt. Man klagt ihm, daß die Massen im Kunstwerk Zerstreuung suchten, während doch der Kunstfreund sich diesem mit Sammlung nahe. Für die Massen sei das Kunstwerk ein Anlaß der Unterhaltung, für den Kunstfreund sei es ein Gegenstand seiner Andacht. – Hier heißt es, näher zusehen. Zerstreuung und Sammlung stehen in einem Gegensatz, der folgende Formulierung erlaubt: Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein […]. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich […].“14

Durch eine konsequente Historisierung der sonst stets anthropologisch gedachten Wahrnehmung kann Benjamin an der Architektur zeigen, dass die zerstreute und gewohnheitsmäßige Rezeption von ‚Kunst‘ durch Kollektive zu allen Zeiten die Regel war. Wenn an die Stelle der gespannten Aufmerksamkeit das beiläufige Bemerken tritt, dann bedeutet das mithin nicht, dass Aufmerksamkeit ausgeschaltet wird, sondern nur, dass in der zerstreuten Apperzeption den neuen Formen der Modernisierung, etwa der Erfahrung von Beschleunigung, Rechnung getragen wird. Denn wie bereits erörtert, müssen gerade die Massenmedien, um zu existieren, Aufmerksamkeit auf sich ziehen und möglichst langfristig binden, sie können es schon aus ihrer ökonomischen Verwertungsnotwendigkeit heraus nicht dem Zufall überlassen, wer sich ihnen zuwendet. Zugleich verweist der Wahrnehmungsmodus ‚Zerstreuung‘ darauf, dass Geld und Zeit nicht, wie im Modell interesseloser Kontemplation unterstellt, unbegrenzt verfügbar sind, sondern dass der Überschuss über die Reproduktion des Lebens hinaus für die meisten gering bleibt und sie deshalb kräftige und effektvolle, verständliche und bezahlbare Vergnügungen erwarten. ‚Unterhaltung‘ bezeichnet im System der Massenmedien eine „Komponente der modernen Freizeitkultur, die mit der Funktion betraut ist, überflüssige Zeit zu vernichten.“ Doch trotz der pejorativen Geste, die das alte Ressentiment zu bestätigen scheint, bemüht sich Luhmann um eine Beschreibung der Unterhaltung jenseits von Wertungen und fragt, wie sich der Code der Massenmedien – informativ/nichtinformativ – in der Sparte Unterhaltung auswirke. Deren Funktion fasst er im Begriff des Spiels, in dem die Realität verdoppelt und aus der ‚normalen‘ Wirklichkeit ausgegliedert werde. „Es wird eine bestimmten Bedingungen gehor14 Benjamin, Kunstwerk, S. 380 (Hervorhebung im Original).

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chende zweite Realität geschaffen, von der aus gesehen die übliche Weise der Lebensführung dann als die reale Realität erscheint.“ Diese zweite Welt ist als Ausschnitt markiert und als fiktionale deutlich von der ersten zu unterscheiden, d.h. Unterhaltung ist nicht irreal, sondern „setzt durchaus selbsterzeugte Realobjekte, sozusagen doppelseitige Objekte voraus“, die auf ihrer Innenseite eine „Welt der Imagination“ erzeugen. Diese Welt wiederum benötigt zu ihrem Funktionieren Information, die narrativ verarbeitet wird. Das heißt, in den fiktiven Geschichten darf nicht alles fiktiv sein, sie müssen mit (bekannten) Informationen angereichert sein, die von einem entsprechend geschulten Leser entziffert werden können bzw. ihm eine Interferenz mit dem eigenen Leben erlauben. Zentral ist deshalb, „daß die Sequenz der informationsverarbeitenden Operation ihre eigene Plausibilität selbst erzeugt.“15. Unterhaltung als Erzeugung und Auflösung von Unsicherheit ist historisch an die Emergenz von Massenmedien geknüpft, die Luhmann bereits in der Verbreitung des frühneuzeitlichen Buchdrucks – in Einblattdrucken, „Newen Zeitungen“ usw. – sieht. Wenn die wachsende Zahl von Publikationen es notwendig macht, in Bezug auf Gedrucktes zwischen fact und fiction zu unterscheiden, und wenn der Roman, wie bei Defoe, aus dem Journalismus entsteht, dann unterstreicht dies die Annahme, dass die Ausdifferenzierung autonomer Literatur im 18. Jahrhundert sich wesentlich auf die bereits vorhandene massenmediale Unterhaltung bezieht. Der Roman ist demnach die erste und nachhaltigste Erscheinungsform von Unterhaltung und „selbst deutlich ein Erzeugnis der auf Publikumswirkung berechneten Massenmedien“. (RM 103) Bemerkenswert erscheint die Rolle, die Luhmann der Druckpresse an dieser Stelle zugesteht, nimmt sie doch implizit Kittlers Frage nach der Existenzweise von Literatur in Medien auf: „Die Druckpresse verändert die Art und Weise, in der die Welt einem Publikum glaubwürdig präsentiert werden kann, und zwar über die Behauptung von Tatsachen oder von tatsächlich aufgefundenen (aber als Fiktion erkennbaren) Schrifterzeugnissen bis schließlich durch reine, unverschleierte fiktionale Erzählungen, die aber genug Wiedererkennbares enthalten, um als imaginierte Realität gelten zu können. Die Unterscheidung von (als Fakten prüfbaren) Nachrichten oder Berichten und hinreichend realitätsnahen fiktionalen Erzählungen kommt demnach überhaupt erst auf Grund der Technologie zustande, die es ermöglicht, Druckerzeugnisse herzustellen. Erst diese Unterscheidung ermöglicht es, die Realitätsdistanz und die größeren Freiheiten fiktionaler Literatur zu nutzen, um Geschichten zu erzählen, die, obwohl fiktiv, dem Leser doch Rückschlüsse auf die ihm bekannte Welt und auf sein eigenes Leben er-

15 Alle Zitate RM 96-101.

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möglichen; aber Rückschlüsse, die ihm, eben weil es sich um fiktionales Geschehen handelt, freigestellt sind. Dabei stützt sich das Angebot auf eine allgemeine Struktur, die als Aufhebung einer selbsterzeugten Ungewißheit über den Ausgang der Geschichte jeder Art von Unterhaltung zugrundeliegt.“ (RM 104)

Die Druckpresse bildet demnach die materiell-technische Voraussetzung für fiktionale Erzählungen, insofern sie verschiedene Präsentationsformen von Wirklichkeit ermöglicht. Aber nur wenn ein fiktionaler Pakt mit dem Publikum funktioniert und dieses nicht mehr einfach glaubt, was gedruckt steht, kann wiederum die Fiktion ihre Spielräume nutzen, um die Welt von einer anderen Perspektive aus zu beobachten. Das Angebot eines anderen Blicks, das wie jede Kommunikationsofferte angenommen oder abgelehnt werden kann, bedient sich dabei Strukturen, die den Ausgang nicht völlig öffnen, sondern erwartbar machen. Solche unterhaltenden Fiktionen gestatten den Lesenden Rückschlüsse auf das eigene Leben. Sobald sich die fiktionale Literatur Ende des 18. Jahrhunderts differenziert in Literatur und LITERATUR, geht es dagegen darum, aus den Werken Rückschlüsse auf das Leben der Dichter zu ziehen. Die Unsicherheit soll nicht mehr aufgelöst, sondern auf den Autor zurückgelesen werden. Wie dieser Unterschied zwischen ‚unterhaltender‘ und ‚künstlerischer‘ Literatur letztlich nicht zu überzeugen vermag, so fehlt es auch den übrigen an Distinktionskraft. So soll in Unterhaltung die Differenz von Information und Mitteilung im Text selbst getilgt, also nicht kommuniziert werden, womit der Schein reiner Fremdreferenz erzeugt werde, wohingegen in LITERATUR die Selbstreferenz durch Thematisierung dieser Differenz erscheine. Wenn es aber Selbstreferenz ohne Fremdreferenz nicht gibt und umgekehrt, da sich eine fiktionale Geschichte in jedem Fall mit der Setzung der Fiktion schon selbst beobachtet, erscheint die Differenz nun als Skala von Möglichkeiten, die eher verbindende als trennende Effekte hat. In Luhmanns Systemtheorie gibt es – wie in den teleologischen Modellen des 19. Jahrhunderts auch – eigentlich nur eine Richtung: diejenige der Ausdifferenzierung als Unterscheidung einer Unterscheidung, die nur immer weiter vollzogen werden kann. Vom Ende eines Teilsystems auf der Ebene funktionaler Differenzierung oder von Entdifferenzierung ist an keiner Stelle die Rede, die Möglichkeit eines Endes von Kommunikation wird zwar erwähnt, aber nirgends durchgespielt. Deshalb muss er – im Grunde wider besseres Wissen – an der Dichotomie von Kunst und Unterhaltung festhalten. Mit der Zuweisung zu zwei unterschiedlichen Systemen entkommt er so zwar dem Problem, beide Bereiche in eine hierarchische Werteordnung zu integrieren; dass diese säuberliche Trennung aber zumindest für das 19. Jahrhundert nicht aufrechtzuerhal40

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ten ist, werden die Studien am Material erweisen. Das Problem, dass die Sortierung in zwei distinkte Systeme möglicherweise nie funktioniert hat, erkennt Luhmann durchaus selbst, auch wenn er daraus keine Konsequenzen zieht. „Es ist danach durchaus möglich, Kunstwerke trivial zu erleben oder sie trivial zu kopieren unter Verzicht auf die Mitreflexion der durch die Sequenz der Informationen ausgeschlossenen Möglichkeiten. Und dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, daß viel Unterhaltung mit Bausteinen gearbeitet ist, die zunächst für Kunstwerke entwickelt worden waren. Man wird hier kaum von wechselseitigen strukturellen Kopplungen sprechen können, da nicht zu sehen ist, wie die Kunst von ihrer Trivialisierung als Unterhaltung profitieren könnte – es sei denn im Sinne eines drifting in Richtung auf Formen, die sich immer weniger als Unterhaltung eignen, also im Sinne eines Zwanges zum Bestehen auf Unterschied. Aber eine Anlehnung der Unterhaltung an das Kunstsystem läßt sich beobachten und damit auch eine mehr oder weniger breite Zone, in der die Zuordnung zu Kunst oder Unterhaltung uneindeutig ist und der Einstellung des Beobachters überlassen bleibt.“ (RM 123f.)

Kommt eine strukturelle Koppelung tatsächlich nur für Elemente diskreter Systeme in Betracht, so kann das an dieser Stelle beschriebene Indifferenzproblem zwischen LITERATUR und Unterhaltung nur dann angemessen gewürdigt werden, wenn ersichtlich wird, dass in Bezug auf LITERATUR eben nicht so leicht von einem eigenen System gesprochen werden kann, sondern dass diese eigentlich immer schon – und das zeigt nicht zuletzt die von Luhmann selbst vorgeschlagene historische Verortung des Romans – von Massenmedien generiert wird. Gerade die Abgrenzungskämpfe, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ausgetragen wurden und die in Zeiten der Kunstperioden – in Klassik, Romantik, literarischer Moderne – erfolgreich ein eigenes System simulierten, indizieren, dass Unterhaltung und LITERATUR nicht von ihrer medialen Erscheinungsweise getrennt werden können. Beide sind als prozessierende Medium/Form-Differenzen Resultat einer Beobachtung zweiter Ordnung, das selbst erzeugte Unsicherheit – mehr oder weniger effektiv – durch Informationssequenzen abbaut. Beide leben von einem Ausgleich zwischen Neuheit/Überraschung und Bekanntem/Tradition, beide arbeiten mit Spannung, in beiden verschwindet gelegentlich die Erzählinstanz (oder ist massiv präsent), beide erleichtern die Verortung eines Subjekts in der erzählten Welt – sei es nun das des lesenden oder das des dichtenden – und beide ermöglichen selbstverständlich Anschlusskommunikationen. Der Grund für diese Gemeinsamkeiten kann nur darin liegen, dass beide in der Tat im System der Massenmedien generiert werden und für beide derselbe Code interessant/langweilig gilt. Das Fazit daraus wird 41

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zwar in den Kulturwissenschaften gezogen, tangiert aber den Horizont der Literaturwissenschaften nur marginal: „Immer wieder hat man versucht, den Unterschied zwischen ernster und unterhaltender Kunst zu bestimmen – ohne überzeugendes Ergebnis.“16 Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass der deutsche Realismus den Indifferenzpunkt von Unterhaltung und Kunst präzise markiert, an dem die ‚Grauzone‘ zur Norm wird und die Beobachtung im Literatursystem keinen Sinn mehr macht.

16 Maase, Grenzenloses Vergnügen, S. 31.

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3. Das Weibliche ist keine Frau … „Drum tret ich frei und stolz einher / Und brüste mich und singe: / Ich bin ein Mann! – Wer ist es mehr? /Der hüpfe hoch und springe.“1

In der Systemtheorie wird die Geschlechterdifferenz wie jede andere Unterscheidung auch bestimmt: als Einführung einer Form mit zwei Seiten. Luhmann kann die Paradoxie des Schon-Begonnen-Habens auch in diesem Fall an den Anfang setzen. Wie andere Unterscheidungen funktioniert die Geschlechterdifferenz nur asymmetrisch, denn eine symmetrische Unterscheidung unterscheidet nichts: „Eine Unterscheidung als solche ist dann gleichsam unvollständig, operativ imperfekt, wenn sie nicht zugleich die eine Seite, die unterschieden wird, bezeichnet. Das Bezeichnen hat demnach nur im Rahmen einer Unterscheidung Sinn, während diese nur den Sinn haben kann, eine Bezeichnung vorzubereiten. Die andere Seite wird zugänglich gehalten, sie ist durch ein ‚crossing‘ erreichbar. Das gilt aber, wie leicht zu sehen ist, nur aufgrund der in der Ausgangsoperation bereits angelegten Asymmetrie.“2

Wie jeder systemtheoretische Anfang, so ist auch dieser notwendig fatal, es gibt daraus kein Zurück – weil die Anfangsunterscheidungen Objekte generieren, konditionieren sie „alles, was man erkennen kann und nicht nur, wie man es erkennen kann“.3 Warum es zu einem bestimmten und zu keinem anderen Anfang kommt, ist rational unentscheidbar, nichtsdestoweniger entfaltet er seine Konsequenzen wiederum durch anschlussfähige Unterscheidungen, die ihrerseits immer nur eine Seite bezeichnen, während die andere von dieser Information ausgeschlossen wird. Systemtheoretisch gedacht, impliziert eine solche Asymmetrie die Möglichkeit von Strukturgewinn, während ein Postulat der Gleichheit im Sinne einer einfachen Entgegensetzung auf Unterscheidung und damit auf ordnende

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Friedrich Schiller: Kastraten und Männer, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, hg. v. Harald Fricke u. Herbert G. Göpfert, 8. durchges. Aufl. Darmstadt 1987, S. 79-82, hier: S. 82. Niklas Luhmann: Frauen, Männer und George Spencer Brown [1988], in: Ursula Pasero/ Christine Weinbach (Hg.), Männer, Frauen, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays, Frankfurt/M. 2003, S. 15-62, hier: S. 19. Elena Esposito: Frauen, Männer und das ausgeschlossene Dritte, in: Pasero/Weinbach (Hg.), Männer, Frauen, Gender Trouble, S. 63-79, hier: S. 70.

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Realitätskonstruktion überhaupt verzichten muss, was unausweichlich „zur absoluten Herrschaft des Chaos der Situationen führen“ würde.4 Nun stellt sich aber die Frage, wo die Geschlechterdifferenz – sieht man einmal von der Familie, die ja nicht auf anonymer Kommunikation, sondern auf persönlicher Interaktion beruht, einmal ab – in der funktional differenzierten Gesellschaft eigentlich ihren Ort hat. Insofern die gesellschaftlichen Systeme nämlich auf partialer Inklusion qua Funktion beruhen, erscheint die Geschlechterdifferenz (ebenso wie etwa ethnische Differenzen) als dysfunktional. Deshalb diagnostiziert Luhmann für die Moderne eine strukturelle Funktionslosigkeit dieses für die stratifikatorische Gesellschaftsform so bedeutsamen Ordnungsfaktors. „In der vormodernen Welt, deren Schichtungsschema sich über hierarchische Repräsentationsroutinen reproduziert hatte, war die Unterscheidung von Mann und Frau bereits vorgängig asymmetrisch gebaut und konnte deshalb eine Ordnungsfunktion erfüllen, die analog zur Gesellschaftsstruktur gebaut war. Der Mann als die eine Seite der Unterscheidung repräsentierte das Ganze, zu dem die Frau als andere Seite der Unterscheidung zugleich gehörte und nicht gehörte.“5

Dieses Repräsentationsmodell erreicht sein Ende, wenn das Ganze der Gesellschaft nicht mehr repräsentiert werden kann, sondern in Teilsysteme zerfällt, die allein über ihre Funktion für die Gesellschaft definiert sind. Repräsentation kann also nicht einfach umgekehrt werden, wenn es darauf nicht mehr ankommt. Dennoch erscheint gerade die Geschlechterdifferenz als die beharrlichste von allen, gegen die weder Dementis noch Umwertungen helfen. Sie erweist sich als eine Unterscheidung, „die wie ein Parasit in der Lage ist, sich an beliebigen anderen Unterscheidungsgebräuchen anzupassen [sic!]“, und bleibt auch dann sichtbar, „wenn sie nicht zur Debatte steht“.6 Anders gesagt, es stellt sich die Frage, wie es gelingt, „die Geschlechterunterscheidung unter Bedingungen stabil, also: asymmetrisch zu halten, unter denen sie im Hinblick auf die primäre Differenzierungsfunktion dysfunktional wird?“7 Armin Nassehi beantwortet diese Frage im Rekurs auf die Performanztheorie Judith Butlers mit einem Verweis auf die Wahrnehmung von Körpern, deren paradoxe Struktur darin bestehe, dass sie die soziale Konstruiertheit der Geschlechter

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Luhmann, Frauen, S. 29. Armin Nassehi: Geschlecht im System. Die Ontologisierung des Körpers und die Asymmetrie der Geschlechter, in: Pasero/Weinbach (Hg.), Männer, Frauen, Gender Trouble, S. 80-104, hier: S. 85. Ebd., S. 88. Ebd., S. 89.

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durch Naturalisierung mit so großem Erfolg unsichtbar mache, dass man am Ende doch wieder davon sprechen zu können meint, es gebe ‚wirklich‘ weibliche und männliche Körper. „Die Konstruktion der Natur (wie die Konstruktion natürlicher Körper) dient zur Plausibilisierung der Nicht-Konstruiertheit der Körpernatur.“8 Diese erfolgreiche Paradoxierung, an deren Ende das soziale Konstrukt vollkommen als Natur erscheint, die sich auf Wahrnehmbarkeit berufen kann, macht deutlich, dass sich Geschlechterdifferenz offenbar der Dynamik operativer Geschlossenheit von Systemen entzieht, indem sie männlich/weiblich an eine körperliche Erscheinungsweise bindet. Doch auch das Evidenz-Argument der Sichtbarkeit von Körpern greift nur unter der Voraussetzung des Schon-begonnen-Habens der Differenz. Allein so ist es zu erklären, dass immer der weibliche Körper gesehen und beschrieben wird, der männliche hingegen unsichtbar bleibt oder, wie in jüngster Zeit, nur als Supplement des weiblichen figuriert. Hier offenbaren sich also zwei ganz unterschiedliche Operationalisierungen der Geschlechterdifferenz: Während die auf Repräsentation beruhende Asymmetrisierung auf der Bezeichnung des männlichen Körpers als Stellvertreter des Ganzen basiert (in das die Frau ein- und ausgeschlossen ist), beruht die moderne Unterscheidung auf der Markierung des weiblichen Körpers zu sichtbarer Natur, während der männliche Körper nur als davon abgeleitet erscheint.9 Diese implizit weibliche Körper/Natur wiederum „kann als Chiffre jenes ‚Außenkontaktes‘ gelten, der sich zeichenund operationstheoretisch offenbar nicht mehr beschreiben läßt. Und als soziale Praxis funktioniert das nach wie vor: Der Rekurs auf den Körper kommt mit einer Unmittelbarkeit daher, die sich weiteren Verweisungen entzieht.“10 Die Plausibilität und Selbstevidenz des sichtbaren (weiblichen) Körpers simuliert nicht nur Eindeutigkeit, sondern sie erzeugt darüber hinaus ein Realitätsgefühl, das Sicherheit vermittelt und Positionierung erlaubt, indem Wahrnehmung und Kommunikation gekoppelt werden. Insofern bildet die Erfindung der weiblichen Körpernatur einen wichtigen Ausgangspunkt für die Ausdifferenzierung auch des Kunst- bzw. Literatursystems. Die Geschlechterdifferenz kann sich im funktionalen System Literatur behaupten, indem sie Wahrnehmung und Kommunikation im sichtbaren Körper strukturell verbindet und damit jene Leistung

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Ebd., S. 93. Vgl. hierzu ausführlich Thomas W. Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/M. u.a. 1992. 10 Nassehi, Geschlecht im System, S. 94.

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stabilisiert, die dem Kunstsystem vorrangig zugeschrieben wird. In diesem Kontext universalisiert sie sich zu einer komplexen Semantik, über die das soziale Geschlecht zum „kulturellen Formgeber“ schlechthin mutiert: Natur/Kultur, Geist/Materie, Rationalität/Emotionalität bilden Gegensätze, die dem asymmetrischen Geschlechterverhältnis Plausibilität verleihen. „Zahllose komplementäre oder auch antagonistische Zuschreibungen, die typisch ‚Weibliches‘ und typisch ‚Männliches‘ bezeichnen, fungieren als Geschlechtsstereotypien, die latent bereitstehen, gerade um in mehrdeutigen Situationen aktiviert zu werden.“11 Koppelung erzeugt eine Rückkoppelung und hierarchisiert das gesamte Repertoire an Stereotypen. Und je deutlicher der Rekurs auf einen biologischen Körper, desto zweifelhafter erscheint die Fundierung des sozialen in einem biologischen Geschlecht. Zwar geht also in der funktional differenzierten Gesellschaft die Repräsentationsfunktion verloren, dafür übernimmt die Geschlechterdifferenz die Aufgabe der Bewältigung von Mehrdeutigkeit durch Reduktion von Komplexität und hierarchische Ordnung der Elemente. Die in Bezug auf Repräsentation funktionslos gewordene Geschlechterdifferenz koppelt sich in den verschiedensten Systemen an die Leitdifferenzen an und dirigiert so die Anschlusskommunikationen insofern, als die unterscheidungstheoretisch beobachtbaren Pole der asymmetrischen Differenzen nicht länger neutral erscheinen, sondern untrennbar mit Wertungen verbunden werden. Das lässt sich noch an den systemtheoretischen Grundannahmen zeigen, die selbst vom ‚Parasiten‘ der Geschlechterdifferenz befallen sind: Oppositionen wie Strukturbildung versus Amorphisierung, Anschlussfähigkeit versus Verstummen, Stabilität versus Instabilität oder Ordnung versus Chaos transportieren gleichfalls eine geschlechterdifferent tingierte Semantik. Schließlich ist Natur selbst kein neutraler Parameter, sondern Teil der Opposition Natur/Kultur. Systemtheorie ist also Partei, insofern sie sich für eine Beobachtung entschieden hat, die der Richtung der Differenzierung gilt, weil diese historisch Recht zu behalten scheint. Doch kann dieser ‚blinde Fleck‘ selbst fruchtbar gemacht werden, wenn man zeigt, warum Geschlechterdifferenz in der modernen Gesellschaft, in der sie funktional gesehen gar keine Rolle mehr spielt, dennoch einen so bedeutenden Platz einnimmt: Über ihre Verkoppelung mit den unterschiedlichen Leitdifferenzen werden die Systeme hierarchisch strukturiert; so immens stabil wird diese

11 Ursula Pasero: Geschlechterforschung revisited: konstruktivistische und systemtheoretische Perspektiven, in: Theresa Wobbe/Gesa Lindemann (Hg.), Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt/M. 1994, S. 264-295, hier: S. 269.

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Hierarchie, weil sie als ‚Natur‘ erscheint. Schließlich erfahren in der Moderne nicht nur Körper eine natürliche Begründung, sondern auch Institutionen der Ökonomie (Warentausch) oder des Rechts (Naturrecht). Indem gesellschaftliche Systeme als ‚natürliche‘ und ihre Elemente als ‚zweite Natur‘ betrachtet werden, ist das aus ihnen Ausgeschlossene – ihre bedrohliche Außenseite – zugleich eingeschlossen, wodurch sich die Stabilität erhöht. Das stabilisierende Gendering der Systeme, das einen Umweg über naturalisierte geschlechtliche Körper nimmt, um am Ende bei einer davon wiederum gereinigten, weil entkörperlichten Wertung männlich/weiblich anzukommen, funktioniert so universal, dass die zu bildenden Oppositionen darin vollkommen aufgehen. So wird auch die Unterscheidung LITERATUR/Literatur durch das Gendering (männliche) Kunstliteratur versus (weibliche) Unterhaltung stabilisiert. Wenn der Buch- oder Zeitschriftenautor real nicht wissen kann, von wem er gelesen wird, so schützt die Fiktion einer ‚liebenden Leserin‘ oder eines ‚weiblichen Publikums‘ zumindest vor der Unsicherheit geschlechtlicher Unbestimmtheit; umgekehrt signifiziert der Autorname für die Lesenden – zumindest in den meisten Fällen – ein Geschlecht, auf das man sich verlassen kann, weil man ihm zutraut, Sinn zu produzieren. Vor diesem Hintergrund werden die Verbreitungsmedien als universelle (d.h. selbstverständlich auch geschlechtsneutrale!) beschworen, die einen unbegrenzten Zugang unabhängig vom Geschlecht ermöglichen. Doch wie die humanistische Konstruktion des ‚Bürgers‘ als reine Universalität des Menschen, die im übrigen selbst vom Buchdruck nicht zu trennen ist, geschlechtlich unmarkiert erscheint, so gilt das für alle universellen Inklusionsfiguren, die durch ‚Entkörperung‘ erzeugt werden: „Die sich als universal präsentierende Inklusionsfigur ‚entrhetorisiert‘ ihre eigene partikulare Markierung, um überhaupt als universale Figur anschlußfähig werden zu können. Gleichzeitig bedeutet dies, daß all jene Formen, die sich nicht der Logik der Entmarkierung fügen, markiert werden und auf diese Weise als Minderheiten oder abweichende Subjekte […] sichtbar werden.“12

Was sich dieser Entkörperung entzieht, wird als abweichender Körper markiert und ausgeschlossen. Funktionale Inklusion und dysfunktionale Exklusion gehorchen derselben Logik. Der Prozess der Abstraktion und Neutralisierung mit dem Effekt einer Indifferenz des Mediums ist mithin, so die These Urs Stähelis, keineswegs geschlechtsneutral, sondern bleibt 12 Urs Stäheli: „134 – Who is at the Key?“ – Zur Utopie der GenderIndifferenz, in: Pasero/ Weinbach (Hg.), Männer, Frauen, Gender Trouble, S. 186-216, hier: S. 211.

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negativ auf geschlechtlich markierte Körper verwiesen – im Verbreitungsmedium werden Körper und Medium zusammengefügt. Damit stellt sich die Frage nach dem „Geschlecht“ der Verbreitungsmedien: „Denn die Technologien selbst verfügen über kein intrinsisches Geschlecht, sind aber auch nicht neutrale Werkzeuge, die beliebig eingesetzt werden können.“13 Wenn das Verbreitungsmedium selbst eine Faszination ausübt, die sich nicht auf ‚Werke‘ bezieht und die in Formulierungen wie „Romane lesen“, „Radio hören“ oder „ins Kino gehen“ sinnfällig zum Ausdruck gelangt, dann lässt sich über eine Theorie des Körpers, die diesen nicht voraussetzt, sondern als nicht-sinnhaftes Vermögen begreift, zu affizieren und affiziert zu werden, zeigen, dass dieses Vermögen selbst durch geschlechtsspezifische Arrangements reguliert wird. Hierin liegt die Gemeinsamkeit von Medien und Körpern und mithin die Möglichkeit zu ihrer wechselseitigen affektiven Inklusion, die die Ebene der bloß metaphorischen Analogie von Körper und corpus verlässt. Das bedeutet auch, dass das Geschlecht, dessen Träger vorher der Körper war, nun auf das Medium übergeht, denn wenn das Geschlecht der Mitteilenden in der anonymen Massenkommunikation nicht mehr am anwesenden Körper identifiziert werden kann, „dann verschiebt sich die Lektüre des Geschlechtskörpers auf eine Lektüre des ‚Geschlechtsmediums‘.“14 Der systemtheoretische Zuschnitt der Geschlechterdifferenz als notwendig asymmetrische Unterscheidung, die eine Form einführt, von der aus wiederum Strukturen erzeugt werden, erscheint als Beschreibungsinstrumentarium für das literarische Feld des 19. Jahrhunderts gerade deshalb brauchbar, weil er vor Schuldzuschreibungen und Ausgrenzungsvorwürfen an die männlichen Autoren ebenso schützt wie vor einfacher Umkehrung der Vorzeichen literarischer Wertung oder vor der Verführung zum Gedanken eines ‚weiblichen Schreibens‘. Denn die Unterscheidung geht immer der Intention auf Unterscheidung voraus, „und in dieses schwarze Loch der unsichtbaren Vor-Entschiedenheit aller Operation wird jeder Rekurs auf die Geschlechterunterscheidung hineingezogen.“15 Es soll im Folgenden gezeigt werden, wie diese schon immer vorausgesetzte Unterscheidung, die sich selbst nicht zur Codierung von 13 Ebd., S. 191. Stäheli bezieht sich hier auf Anna Munsters Kritik an der Vorstellung, dass Medien neutrale Werkzeuge seien, weil diese Vorstellung ein benutzendes Subjekt voraussetzt, aber nicht mitbedenkt, dass die Mediennutzung selbst Subjektivierungseffekte erzeugt. Vgl. Anna Munster: Is there Postlife after Postfeminism? Tropes of Technics and Life in Cyberfeminism, in: Australian Feminist Studies 14 (1999) 29, S. 119-129, hier: S. 122. 14 Stäheli, Who is at the Key?, S. 198. 15 Nassehi, Geschlecht im System, S. 101.

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Funktionssystemen eignet, für die Herausbildung des Literatursystems um 1800 konstitutiv wird. Die reine Ästhetik im Sinne einer vom sinnlichen Affekt gereinigten Wahrnehmung ebenso wie im Sinne eines vom trivialen Reiz gereinigten Objekts, die das autonome Literatursystem programmiert, ist das Resultat der Verleugnung der Geschlechterdifferenz wie auch der eigenen Medialität. Doch das Verdrängte kehrt bekanntlich wieder und berührt so auch den Code des Literatursystems: Schön heißt um 1800, was interesselos gefällt, und hässlich, was die Sinne, die Nerven, den Körper reizt und zur Einfühlung einlädt – also „alles Verführerische, übertrieben Glückliche, schuldlos Leichte, unproblematisch Eingängige; zu schweigen von der kaum weniger lustvollen Faszination des Bösen, Dämonischen, Abseitigen […].“16 In der Distinktion von interesselosem Wohlgefallen und sinnlichem Vergnügen, von Distanz und Identifikation, von hoher Kultur und niederer körperlicher Lust, von ideeller Erbauung und materieller Erregung kehrt die Geschlechterdifferenz als ästhetische und moralische Differenz wieder. Der autonome Künstler-Autor muss die körperlichen Reize des Materials tilgen, den Stoff in Form auflösen, während umgekehrt der Dilettant sich zu dieser fundamentalen Einheit zutiefst destruktiv verhält: „Nur für das rohe Element empfänglich, muß er die ästhetische Organisation eines Werks erst zerstören, ehe er einen Genuß daran findet, und das Einzelne sorgfältig aufscharren, das der Meister mit unendlicher Kunst in der Harmonie des Ganzen verschwinden machte.“17 Die Pole des Codes werden auf diese Weise mit qualitativen Bewertungen ausgestattet, die ihnen im autopoietisch geschlossenen System gar nicht zukommen, insofern Schönheit „weder die Eigenschaft eines Objekts ist […] noch ein ‚intrinsic persuader‘.“ (KG 314) Während in Bezug auf den Code das Wesentliche in der Unterscheidung selbst, in der Disjunktion zwischen schön und hässlich liegt, wird durch die parasitäre Anlagerung der Geschlechterdifferenz eine Qualifizierung der Pole erreicht, die dann erst für eine gewisse Stabilität der Asymmetrie sorgt. Zugleich wird aber auf diese Weise die operative Geschlossenheit des Systems in Frage gestellt, weil die Reduktion der Akteure auf funktionsspezifische Kompetenzen nicht mehr gewährleistet ist. Ob dies für alle Systeme gilt, kann nur vermutet werden. Mit Sicherheit ist es für das Literatursystem zu zeigen, das selbst nicht auf einen ver-

16 Hecken, Der Reiz des Trivialen, S. 14. 17 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, 9. durchges. Aufl. Darmstadt 1993, S. 570-669, hier: S. 640.

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lässlichen Code zurückzugreifen vermag. Es funktioniert ohne Geschlechterdifferenz schlechterdings nicht – LITERATUR ist männlich, mithin erscheint die den Körper und die Sinne unmittelbar reizende Unterhaltungsliteratur weiblich. Ersichtlich wird dies dann, wenn man die verschiedenen Erscheinungsformen der Printmedien differenziert. Das Werk in Gestalt des Buches setzt einen identischen männlichen Körper voraus, der an der Signatur des Meisters von der liebenden Leserin wie auch immer phantasmatisch identifiziert werden kann. Dagegen zerstreuen die periodischen Printmedien das Phantasma der Identität des Autors wie auch des Werks. Das LITERARISCHE Buch im 18. Jahrhundert sucht die Anonymität der Kommunikation, die die Printmedien als Massenmedien erzeugen, aufzuheben durch eine Rückkoppelung, die das Geschlechter-Verhältnis zwischen Autor und Leserin als liebende Interaktion simuliert.18 Dies geschieht – das zeigen die Lesesuchtdebatten – in der Überzeugung, dass Leserinnen immer schon untreu und promisk sind. Ihre ‚Lesesucht‘ verlangt nach Anonymität, in der die phantastischen Möglichkeiten der Literatur unabhängig von einem auf den Autor zurückprojizierten Sinn realisiert werden können. Die Zeitschriftenkommunikation im 19. Jahrhundert kommt dem entgegen, da sie Autornamen in Kontexte auflöst. Deshalb bietet sie eine sehr gute Ausgangsposition für schreibende Frauen, die, im Unterschied zu Autoren, im anonymen Sprechen geübt sind.

18 Vgl. dazu ausführlich Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985.

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III. M E D I A L E A F F Ä R E N

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1. Autoerotik: Der Autor und sein Werk „Hast Du an liebender Brust das Kind der Empfindung gepfleget, / Einen Wechselbalg nur gibt dir der Leser zurück.“1

Damit aus Literatur exklusive LITERATUR destilliert und im permanenten Prozess dieser Destillation sich ein Literatursystem ausdifferenzieren kann, bedarf es eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums, das der Kommunikation über LITERATUR Erfolgswahrscheinlichkeit sichert. Dazu eignet sich das ‚Werk‘, da dieses allein „ein Mindestmaß an Einheitlichkeit und Wechselbezüglichkeit“ garantiert, Beteiligung organisiert und Erwartungen reguliert.2 Es sind die Werke, die durch ihre „besondere – mehr oder minder emphatisch bestimmte – Pragmatik“3 die Kommunikation über Literatur stimulieren‚ doch dazu setzen sie auch eine bestimmte mediale Erscheinungsweise voraus: (Literarisches) ‚Werk‘ als Schlüsselbegriff ästhetischer Tradition und Inkorporation menschlichen (genialen) Schöpfertums ist auf Schriftlichkeit angewiesen.4 Sein Erscheinen bleibt ans Medium Buch geknüpft, das im Druck eine geschlossene Einheit darstellt.5

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Friedrich Schiller: Tabulae Votivae [mit Goethe], in: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 303-318, hier: S. 314. Luhmann, Kunstwerk, S. 627. Wolfgang Thierse: „Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat.“ Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs, in: Weimarer Beiträge 36 (1990) 2, S. 240-264, hier: S. 240. „Das Werk erhält relative Selbständigkeit erst und insofern, als zwischen Produktion und Konsumtion ein ‚Intervall‘ eingetreten ist, die orale Stufe der Poesie mit ihren (nicht werkhaften) Kommunikationsformen verdrängt wurde durch die schriftlich fixierte Form der Poesie, die literarische WerkForm.“ Thierse, Das Ganze, S. 247. Auch die Medienwissenschaft moniert, dass ‚Buch‘ und ‚Literatur‘ häufig gleichgesetzt wurden und dass demzufolge das Buch oft gar nicht als Medium begriffen wurde. Vgl. Werner Faulstich: Buch, in: Ders. (Hg.),

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MEDIALE AFFÄREN UM 1800

Das ästhetische ‚Werk‘, aus allen unmittelbaren politischen, sozialen und religiösen Funktionen herausgelöst, verfolgt keinen anderen Zweck als sich selbst. Während die Literatur bis weit ins 18. Jahrhundert hinein durch ihre Verankerung in der Rhetorik die Illusion einer Präsenz von Autor und Lesenden erzeugt, indem Schrift sich in erster Linie als schriftliche Rede, als Gespräch zwischen Autor und Leser konstituiert – die Anonymität des Schriftmediums wird durch Anrede realer Adressaten kompensiert –, reagiert das Literatursystem um 1800 programmatisch auf die Anonymität literarischer Kommunikation. Die Simulation mündlicher Rede, wie sie in den Widmungen vormoderner Literatur deutlich hervortritt, ändert sich im modernen Literatursystem grundlegend: „Der wahre Schriftsteller ist, der Gesprächssituation enthoben, seinem Publikum ebenso unsichtbar geworden, wie dieses ihm. Zurück bleibt, zum Schein autonom, in schriftlicher Gestalt das Werk.“6 Kommunikation, auch literarische, siedelt jenseits persönlicher Interaktion, weshalb sie immer auf Medien verwiesen ist, um den leeren Raum zwischen den Akteuren zu überbrücken. Die Adressierung richtet sich an ein anonymes Gegenüber, doch die autonome Programmierung der Literatur erschafft erstmals den ‚Autor‘ als Beobachter von Literatur, der sein eigenes Produkt daraufhin beobachtet, wie es vom unbekannten Publikum aufgenommen wird.7 Zugleich ist solche Anonymität dem ‚Werk‘ gänzlich fremd, erscheint es doch unausweichlich und aufs Engste mit dem Namen des Autors verbunden8 – beide verknüpfen sich in Gestalt des Buches zu einer unauflöslichen Einheit, die zu ihrer Realisierung nun nur noch die Lesenden benötigt. „Der Name des Autors und der des Textes spiegeln sich, und in dieser Spiegelung etabliert sich eine schier undurchdringliche Homogenität: Einer schreibt ein einheitliches Werk, und das ‚Werk‘ ist Indiz dieser Einheit.“9 Wenn aber der Autorname, um das

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Grundwissen Medien, 3. vollst. überarb. u. stark erw. Aufl. München 1998, S. 133-150, hier: S. 133f. Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 1981, S. 23. Diese systemtheoretische Sachlichkeit schließt nicht aus, dass es im Folgenden um einen emphatischen Autorbegriff geht, der mit der Semantik schöpferischer Autonomie des Originellen und Genialen behaftet ist. Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor?, in: Schriften zur Literatur, aus dem Französischen v. Karin Hofer u. Anneliese Botond, Frankfurt/M. 1988, S. 7-31. Barbara Hahn: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt/M. 1991, S. 9. Schreibende Frauen tragen entweder den Namen von Vätern, Brüdern oder Ehemännern und das oft noch in doppelter oder dreifacher Ausführung, oder aber sie kursieren unter ganz

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eine Werk zu bezeichnen und zusammenzuhalten, ein identischer sein muss, so produziert an dieser Stelle die universale Inklusionsfigur ‚Autor‘ einen radikalen Ausschluss aller derer, die über solche Namen nicht verfügen. Wo die Verbindung aber funktioniert, wird ‚Werk‘ unversehens mit Kunst identifiziert: „Das echte Original der Kunst gibt also zugleich das echte Original des Künstlers und vice versa.“10 In der „Säkularisierung des Schöpfertitels“ artikuliert sich der Anspruch, Autor und Werk „Subjektivität und Originalität, Eigengesetzlichkeit und Selbstbestimmtheit“ zuzusprechen11 und damit zugleich ein ‚Privateigentum an Eigentümlichkeit‘ zu installieren, das dem Schöpfer die Herrschaft über seine Schöpfung einräumt: „Die Verfertigung eines Buchs, es sey was es für eins wolle, ist eine wahre Schöpfung, das Manuskript ist ein Theil seiner Substanz, welche der Schriftsteller aus sich herausbringt.“12 Der moderne Autor, der über einen Namen verfügt, ist Eigentümer seiner Eigentümlichkeit und also – funktionaler Ausdifferenzierung adäquat – universelle Inklusionsfigur, die jeden einbezieht, der sich individuell äußern kann. Weil der Autor sich aber nie ganz ausspricht, sondern immer etwas zurückbehält, bleibt das Werk auf ihn verwiesen, es muss, der hermeneutischen Auslegungskunst gemäß, auf ihn zurückgelesen werden. Der Autor kompensiert also im Literatursystem die Anonymität der Schrift, indem er mit seinem Namen die personale Identität und Integrität des Werkes garantiert.13 Im Autor ist immer noch der ‚Geist‘ bewahrt, der bewirkt, „daß ein Werk dasselbe bleibt, nicht nur wenn es mechanisch vervielfältigt, sondern auch, wenn es in andere Medien übertragen, übersetzt und bearbeitet wird.“14

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verschiedenen Namen, die durch Pseudonymisierung oder aber durch Konversion entstehen: „Esther Gad Bernard alias Lucie Domeier, Sara Meyer Wulff alias Sophie von Grotthus, Rebekka Salomon Saaling Friedländer alias Regine Frohberg, Rhel Levin Robert alias Antonie Friederike Varnhagen von Ense.“ Vgl. ebd. S. 7. Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung), München 2005, S. 472. Thierse, Das Ganze, S. 252f. Des Herrn Linguets Betrachtungen über die Rechte des Schriftstellers und seines Verlegers [1778], zit. n. Bosse, Autorschaft, S. 10f. „Das Kunstwerk nur reflektiert mir, was sonst durch nichts reflektiert wird, jenes absolut Identische, was selbst im Ich schon sich trennt.“ Friedrich W. J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus, hg. v. Steffen Dietzsch, Leipzig 1979, S. 270. Bosse, Autorschaft, S. 15.

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Ein solches Modell von Autorschaft als Werkherrschaft – im Sinne einer gelungenen Identifizierung von ‚Geist‘ und dessen Erscheinungsweise – behauptet also eine Autonomie des Werks gegenüber seinen Medien. Die Funktion Autor soll die vielfältigen Erscheinungsweisen zur Einheit eines Werks integrieren, um es damit jenen Wirkungen zu entziehen, denen es durch seine Existenz in Medien ausgesetzt ist. Ein zeitlos Eines und Ganzes, das in der Form des Buches noch imaginiert werden kann, lässt sich in Zeiten von Nach- und Raubdrucken, von Teilabdrucken und unkontrollierbaren Übersetzungen nur dann konstruieren, wenn von den dissoziierenden Effekten der Verbreitungsmedien abstrahiert wird. Der Autor macht die mediale Zerstreutheit von Texten vergessen, indem er sich als Instanz in das Werk einschreibt, die fortan die Rezeption steuert – als Ausdruck einer ‚Persönlichkeit‘. „[U]nser abendländisches Bewußtsein, wenn von einem Kunstwerk die Rede ist, fordert, daß man unter ‚Werk‘ eine personale Produktion verstehe, die unabhängig von der Verschiedenheit der Auffassung ihre Physiognomie eines Organismus behält und wie sie auch verstanden oder weitergeführt werden mag, das persönliche Gepräge offenbart, kraft dessen sie besteht, gilt und sich mitteilt.“ 15

Die merkwürdige Verbindung von Eigentum und Eigentümlichkeit um 1800, die dem Autor die materiellen Rechte über seine Texte sichern soll, wird durch die programmatische Formatierung des Autors als Genie, die diese Rechte legitimieren soll, nur noch legitimationsbedürftiger. Denn wenn das ‚Werk‘ Resultat einer Naturgewalt ist, dann wird seine Definition als Eigentum ebenso schwierig wie der ökonomische Tausch. Ein solches Autormodell erscheint tatsächlich im traditionellen Verlegerhonorar besser aufgehoben als in einer Rechnung, die auf der Kalkulation der Bezahlung geleisteter Arbeit beruht. Die Ausdifferenzierung löst dieses Problem durch die Verdoppelung des Schriftstellers ins Genie des Literatursystems und dessen brotloses Schreiben im Namen der Poesie einerseits und den Produzenten schriftstellerischer ‚Brotarbeit‘ andererseits. Und so kann Goethe resümieren: „Sehr angenehm war mir zu denken, daß ich für wirkliche Dienste von den Menschen auch reellen Lohn fordern; jene liebliche Naturgabe dagegen als ein Heiliges uneigennützig auszuspenden fortfahren dürfte.“16 Durch diese Trennung der Sphären bleibt der Geist des Werks unveräußerliches Eigentum des Autors, das heißt mit seinem Namen verbunden. Er ist einzig, ewig und selbstverständlich unbezahlbar. 15 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1977, S. 56. 16 Goethe, Dichtung und Wahrheit, S. 735.

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Wie mühsam alle Versuche erscheinen, die Paradoxien des Literatursystems zu begrenzen, zeigt nicht zuletzt Kants Ableitung der Kunst als unbeabsichtigte Zweckmäßigkeit. Das interesselose Wohlgefallen des Geschmacksurteils am Schönen (welches sich vom Angenehmen im Sinne einer erschlaffenden, passiven Empfindung deutlich unterscheidet), das sich nicht mehr mit einem Gegenstand verknüpft und „der Beimischung der Reize und Rührungen“ nicht bedarf,17 muss in erster Linie von allen wirkungsästhetischen Kalkülen abgegrenzt werden, die über eine normative und mithin erlernbare Poetik das Charakteristische der Kunst verfehlen: deren ‚Freiheit‘. Wenn Schönheit „Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes [ist], sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird“,18 dann bedeutet das vor allem, dass Regeln und Normen für Kunst keine Gültigkeit haben können. Freiheit ist auf der einen Seite die Freiheit von direkten Interessen auf Seiten der Rezipienten, auf der anderen Seite die Freiheit des Genies von Regeln. Dieses erscheint als Mittler der Natur, das Kunstfertigkeit durch Originalität ersetzt. Seine Produkte sind also selbst nicht Resultate von Nachahmung, können aber anderen dazu dienen. Sie entspringen nicht dem Bewusstsein, und das bedeutet, dass das Genie die Regeln, die es sich selbst gibt, nachdem es sie der Natur abgelauscht hat, nicht mitteilen kann. Literarische Kommunikation wird ergo ausgesprochen gespenstisch, insofern sich „die Körperlosigkeit des Geistes mit der geistlosen Körperlichkeit des Mediums“ verbindet.19 Genie als produktiver Bildner von Kunst erweist sich als Komplement zum guten Geschmack, der diese Kunst insofern angemessen wahrnimmt, als er die Regeln zumindest erahnt und statt des Stoffes die Form realisiert. Die richtige, angemessene, verstehende Lektüre entziffert den Geist des Genies. Auch auf Seiten der Rezipienten besteht also Handlungsbedarf, muss doch auch bei ihnen für Distinktionskriterien gesorgt werden, die es dem Publikum gestatten, LITERATUR wirksam von Literatur zu unterscheiden. Als Pendant zum ‚Genie‘ entsteht der ‚Kenner‘, der wiederum dem anonymen Publikum der Massenmedien abgerungen bzw. gegen dieses positioniert werden muss, denn die noch von den Aufklärern avisierte und propagierte Einheit des literarischen Publikums löst sich „spätestens nach 1780 unübersehbar auf in eine kleine Gruppe von Experten und eine Masse von vorwiegend an Unterhaltung Interessier-

17 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Werke, Bd. 8, hg. v. Wilhelm Weischedel, Sonderausgabe Darmstadt 1983, S. 302. 18 Ebd., S. 319 (im Original hervorgehoben). 19 Stäheli, Who is at the Key?, S. 205.

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ten.“20 Als Vorbild ästhetischer Integration gilt um 1800 das Theaterpublikum, das scheinbar als reale Größe kalkuliert werden kann, weil daran verschiedene Fiktionen anschließbar sind: vor allem Präsenz und Überschaubarkeit, die durch persönliche Interaktion vermeintlich gesteuert und kontrolliert werden können. Grundsätzlich erscheint die Simulation von Interaktion also als konstitutiver Faktor des Literatursystems. Doch auch die nicht-werkfähigen Medien wie Briefe oder Familienzeitschriften regulieren durch verschiedene Fiktionen (liebender oder familiärer Konstellationen) die Anonymität der Kommunikation und reduzieren so die Kontingenz der Autor/LeserInnen-Beziehung. Antagonist des genialen Autors ist der Dilettant. Für die Ausarbeitung eines klassischen Kunstprogramms ist die Kritik am Dilettantismus zentral, bildet er doch mit seinen Zuschreibungen des Synkretismus, der Weichlichkeit, der Frivolität, der Empfindelei, der Modesucht sowie vor allem der Unverbesserlichkeit den idealen Widerpart zum wahren Dichter. Passive Empfindung setzt er an die Stelle energischer Aktivität und verwechselt Ursache und Wirkung. „Vom Wesen der Kunst erkennt er nur die Seite, die zu seinem Gefühl spricht: Die Schönheit reduziert sich auf ihre ‚schmelzende Komponente‘.“21 Dem Dilettanten fehlt mithin jenes „energische Prinzip, welches den Stoff beleben muß, um das wahrhaft Schöne zu erzeugen.“22 Paradigmatisch formuliert wird diese Position des autonomen Künstlers im Kontext der Zeitschrift Propyläen, die Goethe seit 1798 herausgab und die er bereits 1800 aufgrund der „ganz unerhörten Erbärmlichkeit“23 des Publikums wieder einstellen musste. In der „Einleitung“ zur ersten Ausgabe wird das Verhältnis des Künstlers zum Dilettanten deutlich akzentuiert. Der Künstler folge einer Berufung

20 Michael Gamper: „Die Massen haben wir preisgegeben.“ Eine Problemskizze als Einleitung, in: Hans-Georg Arburg/Ders./Dominik Müller (Hg.), Popularität. Zum Problem von Esoterik und Exoterik in Literatur und Philosophie, FS Ulrich Stadler, Würzburg 1999, S. 1-13, hier: S. 3. 21 Otto F. Best: Das verbotene Glück. Kitsch und Freiheit in der deutschen Literatur, München 1978, S. 101. Die Auseinandersetzung mit dem Dilettanten zieht sich durch Goethes gesamtes Schaffen und bleibt ambivalent, sei es in der Anerkennung des Strebens seiner ‚Dilettanten‘ Werther und Wilhelm Meister, sei es in den Würdigungen des Sammlers. Dennoch ist die ‚Klassik‘ ohne seine Verwerfung nicht zu verstehen. 22 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 694-780, hier: S. 739. 23 Schiller an Goethe, Brief v. 5. Juli 1799, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794-1805, hg. v. Manfred Beetz, München 1990, S. 715.

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und vermöge nur durch „fortschreitende Bildung“ sowie durch die Kenntnis der angemessenen „äußeren Hilfsmittel“ die „ungeheure Kluft“ zwischen Natur und Kunst zu überwinden, um so „etwas GeistigOrganisches hervorzubringen“.24 Gegen die Anmaßung wird das Maß, gegen die Vermischung die reine Kunst gesetzt. „Der echte gesetzgebende Künstler strebt nach Kunstwahrheit, der Gesetzlose, der einem blinden Trieb folgt, nach Naturwirklichkeit, durch jenen wird die Kunst zum höchsten Gipfel, durch diesen auf ihre niedrigste Stufe gebracht.“25 Die Kritik zielt in jedem Fall auf die falschen Genies, die sich in unbegrenzter Freiheit und endlosen Phantastereien ergingen und deren Hauptmerkmal die „Inkorrigibilität“ bei einem gleichzeitigen „ganz bestialischen Dünkel“ sei.26 Das setzt einen gegenüber dem Sturm und Drang modifizierten Genie-Begriff voraus: Genie ist nicht mehr als Subjekt allein verantwortlich für die Gesetze der Kunst, es ist vielmehr Vollstrecker einer Eigengesetzlichkeit des Kunstwerks; und diese fliegt nicht mehr aus der Natur zu, sondern muss mit der Tradition vermittelt werden. Eine umfassende rhetorische Ausbildung wird im Weimarer Kunstprogramm zwar nicht mehr als hinreichende, aber deutlich und mehr denn je als notwendige Bedingung für Kunst deklariert. Das Autor-Genie der Klassik funktioniert mithin über zweierlei Ausschlussverfahren – zum einen definiert es sich als eines, das sich seine Regeln selbst gibt und sich von den Traditionen der Rhetorik losgesagt hat, das also originell und innovativ aus seiner Imagination schöpft; zum anderen erweist sich aber die sichere Beherrschung eben dieser Regeln, der selbstverständliche Umgang mit Rhetorik wie auch die Kenntnis der antiken Klassiker und ihrer Sprachen als das Tor, durch das Genialität hindurch muss – weshalb es dann tatsächlich auch keine weiblichen Genies geben kann, da ihnen doch zum Namen auch noch die Bildung und das heißt Begriff und Bewusstsein von Kunst fehlen.27 Der Forderung nach ‚Natur‘ ent-

24 Johann Wolfgang Goethe: Einleitung [in die Propyläen], in: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771-1805, hg. v. Friedmar Apel, Frankfurt/M. 1998, S. 457-488, hier: S. 461. 25 Ebd., S. 469. 26 Goethe an Schiller, Brief v. 22. Juni 1799, in: Briefwechsel, S. 710 (Hervorhebung im Original). 27 Dies zeigt sich eindrücklich an der zeitgenössischen Rezeption der Gedichte Anna Louisa Karschs. Sie wurde von Sulzer, Gleim und anderen als Naturwunder bestaunt und zu einem Beispiel für die wahre Herzensstimme eines Naturtalents stilisiert. Doch dabei konnte es freilich nicht bleiben. Im Zuge der Artikulation eines Sturm-und-Drang-Genies musste wiederum eine geschlechterdistinkte Grenze gezogen werden. So monierte bereits Herder, „daß die Musen und Grazien an der Entstehung der Karschinschen

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spricht fortan die paradoxe Konstruktion einer Kunst, der man nicht ansehen darf, dass sie Kunst ist. Um ganz sicher zu gehen, dass der autonome Künstler männlich bleibt, wird dem Schreiben um 1800 also „ein Gegensatz implantiert, der vorher keine wesentliche Rolle spielte. Aus wissenschaftlichem Schreiben werden literarisierende Darstellungsweisen ausgeschlossen, die vorher durchaus üblich waren. Literarisches Schreiben gilt nun als vorwissenschaftlich, wird also in ein hierarchisches Verhältnis eingebunden und als Effekt dieser Positionierung als ‚weibisch‘ bezeichnet. Innerhalb des literarischen Schreibens zeigt sich ein ähnlicher Prozeß. Allerdings wird hier nicht eine Darstellungsweise, sondern ein Genre mit Weiblichkeit konnotiert […]. Wissenschaft grenzt sich gegen Literatur ab, das literarische Werk gegen den Brief.“28

Ein Autor ist immer auch ein wissenschaftlicher Autor – wie Goethes naturwissenschaftliche, Schillers historisch-philosophische oder Schlegels literaturwissenschaftliche Schriften eindrücklich beweisen. Gegenüber einer solchen Universalität gilt die Beschränkung auf belletristische Literatur bereits als subaltern und wird verfestigt durch die umsichtige Zuschreibung der Geschlechter auf Genres. Im Schema Über den Dilettantismus aus dem Jahr 1799 heißt es prägnant: „Die Kunst gibt sich selbst Gesetze und gebietet der Zeit: der Dilettantism folgt der Neigung der Zeit.“29 Damit scheinen die Pole des Li-

Poesie nicht beteiligt waren […].“ Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt/M. 1979, S. 150. Hier wird deutlich, dass schon die Begründer der so genannten Genieästhetik gar nicht daran dachten, auf ihr symbolisches Kapital der Bildung zu verzichten. 28 Barbara Hahn: Brief und Werk. Zur Konstitution von Autorschaft um 1800, in: Ina Schabert/Barbara Schaff (Hg.), Autorschaft. Genus und Genie in der Zeit um 1800, Berlin 1994, S. 145-156, hier: S. 147. 29 Johann Wolfgang Goethe/Friedrich Schiller: [Über den Dilettantismus], in: Sämtliche Werke Abt. I, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771-1805, S. 739786, hier: S. 778. In einem Brief an Schiller unterstreicht Goethe die Bedeutung dieser Arbeit für die durchaus brachiale Durchsetzung der eigenen Kunstauffassung: „Sie ist von der größten Wichtigkeit […]. Wenn wir dereinst unsere Schleußen ziehen, so wird es die grimmigsten Händel setzen, denn wir überschwemmen gerade zu das ganze liebe Tal, worin sich die Pfuscherei so glücklich angesiedelt hat.“ Goethe an Schiller, Brief v. 22.6.1799, in: Briefwechsel, S. 710. Zu den Spekulationen über die Gründe, warum es trotz der „großen Wichtigkeit“ am Ende doch nicht zu einer

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teratursystems klar geschieden: Autonome Originalität steht dem Epigonalen gegenüber, Genie dem Talent, die reine Form des organischen Werks der synkretistischen Mischung der Gattungen. „Die Restauration von den ursprünglichen Teilen, die Kopie von dem Original zu unterscheiden, in dem kleinsten Fragmente noch die zerstörte Herrlichkeit des Ganzen zu schauen“, erweist sich als ‚Markenzeichen‘ des echten Künstlers wie auch des Kunstkenners.30 Die Grenze wird dabei zum einen gegenüber der unterhaltenden Literatur gezogen, die um 1800 den Buchmarkt bestimmt, zum anderen gegenüber den schreibenden und lesewütigen Frauen, die nicht wenig zu diesem Markt beitragen – erstere können nur verwenden, was andere schaffen, sie können die Grenze des Plagiatorischen und des Handwerks nicht überschreiten, während letztere zu interesselosem Wohlgefallen unfähig sind, weil sie keine Distanz wahren, sondern alles auf sich beziehen. Identifikatorische Lektüre, Schielen nach Popularität und ‚Handwerk‘, das seinen Zweck außer sich hat und dem Gelderwerb dient, markieren das Feindesland, das um 1800 konsequent als ‚weiblich‘ qualifiziert wird. Die Grenze zu einer als populär disqualifizierten Literatur zieht Friedrich Schiller exemplarisch in seiner anonym erschienenen Rezension der Gedichte Gottfried August Bürgers aus dem Jahr 1789. Hier entfaltet sich die Unterscheidung zwischen Künstler und Dilettant in ihrer ganzen Polemik, wobei sich ‚Geist‘ und ‚Charakter‘ gegen ‚Talent‘ und ‚Begeisterung‘ verbünden. Resultat ist einmal einheitliches Werk, das andere Mal ‚zweideutige Gestalt‘. Wenn alles, was der Dichter uns geben könne, seine Individualität sei, so müsse diese auch „wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden“.31 An diesem normativen Anspruch müsse letztlich auch der ‚Volksdichter‘ Bürger gemessen werden, dessen Maßstab der Vervollkommnung die erreichte Popularität sei. Die anschließende Differenzierung eines in der Tat obsoleten Volksbegriffs in „Auswahl einer Nation“ und „Masse derselben“ desavouiert diesen Maßstab jedoch gründlich, und die Alternative, die das Ansehen beim „großen Haufen“ als gemeines Ziel dem Wirken der großen Kunst gegenüberstellt, wird eindeutig entschieden: Der klassische Dichter ist im Grunde der einzig wahre Volksdichter, der entsprechend auch „männlichen Geschmack“ beweist, während der Dilettant „Opfer des populären Ausarbeitung gekommen ist, vgl. Helmut Koopmann: Dilettantismus. Bemerkungen zu einem Phänomen der Goethezeit, in: Helmut Holtzhauer/Bernhard Zeller (Hg.), Studien zur Goethezeit, FS Lieselotte Blumenthal, Weimar 1968, S. 178-208, hier: S. 204f. 30 Goethe, Einleitung in die Propyläen, S. 471. 31 Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 970-991, hier: S. 972.

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Geschmacks“ werde, dessen Produkte dann dementsprechend einen „zu sinnlichen, oft gemeinsinnlichen Charakter“ zeigten.32 Der Hauptvorwurf richtet sich also gegen die mangelnde Distinktion – Bürger verletzt die unumstößliche Grenze zwischen LITERATUR und Unterhaltung, denn er erweist sich als affizierbar vom „unmännlichen, kindlichen Ton, den ein Heer von Stümpern in unsere lyrische Dichtung einführte.“33 Damit zieht Schiller im Literatursystem eine bedeutende Grenze: Partei für die Kunst ergreifen heißt nämlich nichts anderes, als „Kunst gegen Pseudokunst, Auswahl gegen Masse, männliches gegen weibliches Prinzip“ zu stellen.34 Mit schlafwandlerischer Sicherheit enden denn auch die Skizzen über den Dilettantismus bei den ‚Weibern‘, und auch der Briefwechsel zeigt, dass es vor allem die Texte von Frauen waren, an denen Goethe und Schiller den Begriff für sich klärten.35 Zugleich blieb die Abhängigkeit der Kunst vom Dilettantismus auch den beiden Olympiers nicht verborgen. Man brauchte die dilettantischen Leserinnen ebenso wie die dilettantischen Schreiberinnen dringend, schließlich konnten nur sie sich als wahre Liebhaber(innen) künftig der signierten Kunst zuwenden und damit die Autoren davor bewahren, „gar nichts geschrieben zu haben“.36

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Ebd., S. 973ff. Ebd., S. 981. Best, Das verbotene Glück, S. 90. Vgl. hierzu Christa Bürger: Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen, Stuttgart 1990, S. 22ff. 36 Kittler, Aufschreibesysteme, S. 159. Silke Schlichtmanns empirischer Befund, dass es keineswegs überwiegend Frauen waren, die Goethe in Briefen sein Werk zurückspiegelten (im Falle der Wahlverwandtschaften stehen sechzehn Briefen mit männlicher Signatur nur fünf Briefe von Frauen gegenüber), wird nur dann relevant, wenn man davon ausgeht, dass die weibliche Position der liebenden Leserin an weibliche Körper gebunden ist. Vgl. Silke Schlichtmann: Geschlechterdifferenz in der Literaturrezeption um 1800? Zu zeitgenössischen Goethe-Lektüren, Tübingen 2001, S. 101.

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2. Liebe zum Medium: Lesesucht und Schreibwut „Welchen Leser ich wünsche? Den unbefangensten, der mich,/ Sich und die Welt vergißt und in dem Buche nur lebt.“1

Der Einschluss aller gesellschaftlichen Schichten in die Literalität, der als eine der wichtigsten Errungenschaften des 19. Jahrhunderts den populären Printmedien zugeschrieben werden muss, ruft verstärkt eine Konstellation auf den Plan, die seit der Frühen Neuzeit die sukzessive Durchsetzung der autonomen Möglichkeiten von Schrift durch den Druck begleitet: die Verbindung von medialen Phänomenen mit körperlichen Zuständen. Wurde im 17. Jahrhundert mit dem Auftauchen der ersten Zeitungen und Zeitschriften von verschiedenen Seiten eine ‚Zeitungssucht‘ als buchstäblich körperliche Gier nach Nachrichten und Neuigkeiten konstatiert, so setzte sich diese Verbindung im 18. Jahrhundert fast unverändert in den Debatten um ‚Lesesucht‘ und ‚Schreibwut‘ fort.2 Dieses „kommunikative Suchtverhalten“3 galt den Pessimisten als negativer Auswuchs einer missverstandenen Aufklärung, der mit ‚diätetischen‘ Maßnahmen bekämpft werden sollte. Es ist eben dieser Punkt, an dem sich die Dichotomisierung der Literatur in Kunst und Unterhaltung um 1800 in ihren Konsequenzen für das 19. Jahrhundert am besten zeigen lässt, weil sich hier beispielhaft Körper und Medien derart affektiv verbinden, dass das Geschlecht der Körper auf das der Medien übergeht. Notwendig wird dabei allerdings eine Binnendifferenzierung der dominanten Printmedien. Damit kann nicht nur untermauert werden, dass allen Verhandlungen über Literatur im 18. Jahrhundert eine Geschlechterdifferenz zugrunde liegt, sondern auch, dass diese geschlechterdifferente Codierung sich statt als Apotropäum, das die durch mühsame Ausgrenzungen eben erst gewonnene (männliche) LITERATUR vor der Auflösung in Literatur bewahren soll, als Sprengsatz erweist, der die vermeintliche Stabilität des Systems immer schon gefährdet. Die Umstellung älterer Differenzierungsmodi auf den Modus funktionaler Differenzierung kann nur dann gelingen, wenn eine körperlose Kommunikation installiert wird, die einen universellen, allein durch funktionsspezifische Kriterien definierten Zugang zum System gewährleistet, oder anders gesagt: wenn Exklusion aus systemfremden Gründen

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Goethe, Xenien, V. 598, S. 568. Vgl. Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, Wien u.a. 2000, S. 7-9. Ebd., S. 7.

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nicht mehr legitim ist. Alle „Akteursfiktionen“4 des Systems, allen voran Autor und Leser, müssen in Bezug aufs Geschlecht (aber auch auf Klasse oder Ethnizität) intrinsisch neutral bestimmt werden, da andernfalls die Komplexität mit systemfremden Mitteln reduziert und die Evolution des Systems gefährdet wird. Eben daran krankt aber offenbar das Literatursystem, in dem Autorschaft und Werk männlich, Publikum und Unterhaltung dagegen weiblich codiert sind. „Mit wachsender Anonymisierung gewinnt nämlich das Publikum als Kollektiv überhaupt weibliche Züge – ein Vorklang der feminisierten modernen Massenformationen. Die Leserin, an die sich der Autor adressiert, ist […] eine Singularbildung seines ‚an sich‘ weiblichen Publikums.“5 Im Fall der erfolgreichen Beglaubigung ist die mediale Affäre eine respektable Liebesgeschichte und erfüllt ihre stabilisierende Funktion im Literatursystem. Doch diese ist keineswegs die Regel, vielmehr dominiert die ungezügelte und illegitime Leidenschaft für das Medium, die auch den Missbrauch des Kunstwerks einschließt. Die Verunreinigung und Verfälschung des Lesens durch egozentrische Erinnerung ist Folge eines sinnlichen Reizes, der nur vom Medium selbst ausgehen kann. Im Folgenden soll am Beispiel der Lesesuchtdebatten und der Charakterisierungen weiblichen Schreibens um 1800 kurz skizziert werden, wie sich die neutralisierten Akteursfiktionen wiederum mit den Geschlechtern verbinden, und zwar nicht auf der Ebene der jeweiligen Programme, sondern auf derjenigen der Verbreitungsmedien Buch und Journal. Die schriftbasierten Printmedien etablieren eine körperlose Kommunikation, die für die Ausdifferenzierung von Funktions-

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Zum Begriff vgl. Michael Hutter/Gunther Teubner: Der Gesellschaft fette Beute. Homo juridicus und homo oeconomicus als kommunikationserhaltende Fiktionen, in: Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hg.), Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?, Frankfurt/M. 1994, S. 110-145. Albrecht Koschorke: Geschlechterpolitik und Zeichenökonomie. Zur Geschichte der deutschen Klassik vor ihrer Entstehung, in: Renate von Heydebrand (Hg.), Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart, Weimar 1998, S. 581-599, hier: S. 594. Koschorke rekonstruiert die Versuche einer Übersetzung der sich anbahnenden Mediengesellschaft „in ein neues Arrangement von Geschlechtsrollenphantasmen“ sehr einleuchtend über die körperlich/sexuelle Metaphorik: Empfänglichkeit, Fruchtbarkeit und Hingabe sind die Anforderungen, die Autoren an Leserinnen stellen. Allerdings geht Koschorke, wie Kittler und Hahn, von einer wirksamen Kontrolle und einem gelungenen Ausschluss aus – dem soll hier insofern widersprochen werden, als das Funktionieren des Literatursystems grundsätzlich in Frage gestellt wird.

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systemen unabdingbar ist. Medien stellen dabei, wie Stäheli ausgeführt hat, keineswegs geschlechtsneutrale Werkzeuge dar, sondern beziehen sich auf bestehende Gender-Semantiken, wie sie etwa Adam Müller in einer seiner Reden entwickelt: „Die Art der Öffentlichkeit, welche die Poesie durch die Buchdruckerkunst erhalten hat, macht auf mich einen widrigen Eindruck, etwa als wenn: eine Frau auf dem Forum, auf dem Markte öffentliche Reden vor Tausenden halten wollte, wie ich denn auch die Reden geistreicher Frauen viel lieber in zierlichen Abschriften lesen würde als in dem Druck, wozu sie leider jetzt verdammt sind, da es nur diesen Einen Weg gibt, mit den verwandten Geistern ferner Zeiten und Örter zu sprechen. Der Poesie und ihrem weiblichen Wesen ist das häusliche Wesen der Abschrift viel angemessener als der Druck für alle Welt, die nicht lesen kann und die es doch für eine Gewissenspflicht hält, grade über das am strengsten zu urteilen, was sie am wenigsten versteht.“6

Wenn die Reduktion weiblicher Kommunikation aufs private Gespräch hinfällig wird, weil der Autor „Leserinnenliebesbriefe“ braucht, dann sollen diese, als Dokumente authentischer Innerlichkeit, wenigstens frei von allen Spuren technischer Reproduktion sein. Das ‚Geschlecht‘ der Verbreitungsmedien kann nur als widersprüchlicher Prozess von Entkörperlichung und neuer Verkörperung beobachtet werden.7 ‚Lesesucht‘ als in jeder Hinsicht faszinierte Attraktion von Körper und Medium bildet – neben der Masturbation – eines der häufigsten Schlagworte öffentlicher Debatten um 1800, die sich selbst wiederum einer „Popularisierung von Journalen“ verdanken.8 Johann Heinrich Campe definiert sie im Jahr 1809 bündig als „die Sucht, d.h. die unmäßige, ungeregelte auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen“, und Hübners Zeitungs- und Konversationslexikon sekundiert 1825 mit der Definition: „Lesesucht, Furia, Wuth, womit gewisse Leser bald alles Neue, bald das 6

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Adam Müller: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland, in: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften, Bd. 1, hg. v. Walter Schroeder u. Werner Siebert, Neuwied, Berlin 1967, S. 293451, hier: S. 415. Vgl. Stäheli, Who is at the Key?, S. 190f; zum Problem der körperlichen Affizierung im Kunstsystem vgl. neuerdings Mirjam Schaub/Nicole Suthor/Erika Fischer-Lichte (Hg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit als ästhetisches Prinzip, München 2005. Dominik von König: Lesesucht und Lesewut, in: Herbert G. Göpfert (Hg.), Buch und Leser, Vorträge des ersten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens, 13. und 14. Mai 1976, Hamburg 1977, S. 89-112, hier: S. 89.

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Altertümlichste, bald Nomenclatur, oder andere dürre Kenntnisse bibliophiler oder unbibliophiler Natur verschlingt [sic!].“9 Lesen ohne Distanz, ohne Maß und Ziel und um eines sinnlichen Vergnügens willen – deutlicher lässt sich nicht sagen, dass diese Verbindung von Körper und Medium misslungen sein muss. Durch die promiske Liebe zum Medium wird die Universalität des Literatursystems nämlich insofern bedroht, als „das Medium der Universalisierung durch die Sinnentleerung selbst in den Vordergrund gerät.“10 Bücher des von Hübners Zeitungs- und Konversationslexikon inkriminierten Schlags transportieren nicht mehr ‚Geist‘, sprich LITERATUR, sie transportieren vor allem sich selbst, ihre eigene Medialität. Immer wieder wird in der Lesesuchtdebatte beklagt, dass Lesen zum Selbstzweck verkomme11 und die totalisierende Zusammenschau des Ganzen auf der Strecke bleibe. „Der Prozeß der Entleerung spannt nicht nur einen totalisierenden Bedeutungshorizont durch die Verwendung entleerter Signifikanten auf, sondern verweist auch auf die Faszination durch diese Leere, welche paradoxerweise das Operieren des Sinnmediums außerhalb des Sinns stellt.“12 In der Lesesucht erfüllt sich eine Attraktion von Körper und Medium, die zunächst auf einer Entkörperlichung und mithin auf einer Dethematisierung von Geschlecht in der literarischen Kommunikation basiert, in der Folge aber zu einer wahren Eruption von Genderdiskursen führt: Lesen in diesem konsumierenden Sinne ist weiblich, schon insofern, als gescheiterte Medien-KörperVerbindungen grundsätzlich weiblicher Codierung unterliegen. Gescheitert sind sie aus der Perspektive einer autonomen Ästhetik, die den Reiz aus der wahren, räsonierenden Lektüre ausschließt, weil er nicht das ‚Humanum‘ mobilisiert, sondern nur den Körper. Ein gereizter Körper aber reagiert nicht mehr selbstbestimmt (autonom), sondern automatisch – der Weg der Sinnesreize führt am Bewusstsein vorbei direkt zu den Nerven. Damit aber ist die klärende, reinigende Instanz, die das Angenehme und Reizvolle in interesseloses Wohlgefallen verwandeln könnte, ausgeschaltet. Wer dem Reiz unterliegt und die Reizumwandlung verweigert, wird danach zweifach verdächtigt, nämlich sich entweder nicht darüber erheben zu wollen, was auf moralische Schwäche verweist, oder es nicht zu können, was ein intellektuelles Defizit signalisiert. Es sind in

9 Zit. n. ebd., S. 92 u. 89. 10 Stäheli, Who is at the Key?, S. 213. 11 „In der Belletristik wurde das Lesen aus einem Mittel zum Zweck zum Selbstzweck.“ Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500-1800, Stuttgart 1974, S. 299. 12 Stäheli, Who is at the Key?, S. 212.

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der Regel beide Argumentationsmuster, mit denen diese Rezeptionsweise unter Verdacht gestellt wird. Und es ist offenbar, dass sowohl die moralische Weigerung als auch die intellektuelle Unfähigkeit, die es verhindern, Lesen selbst als Kunst zu betreiben, stets mit einer weiblichen Position verbunden werden. „Die Weiber, auch die gebildetsten, haben mehr Appetit als Geschmack. Sie möchten lieber alles ankosten, es zieht sie das Neue an. Sie unterscheiden nicht […], sie werfen das alles in eine Masse. [W]enn man unser weibliches Publikum […] genauer studirt […], und weiß, daß es sein Leben mit der Lektüre gedankenloser Romane hinbringt, und daß sich seine Gesinnung und seine Denkungsart mit jedem Buche verändert, so wird man nicht leugnen können, daß der Einfluß des Bücherlesens auf die Menschen sehr groß sey. Die meisten Frauenzimmer lesen nichts als Romane […].“13

Dabei verweist die Strapazierung des Bildfeldes der Nahrungsaufnahme – von ‚Appetit‘ bis ‚Verschlingen‘ – auf eine rein körperliche Gier, in der nicht nur der Seelenfrieden verspielt wird, sondern auch Gesundheit und Lebensglück gefährdet sind. Gestützt wird diese Zuschreibung von der Empirie, wenn zwischen 1750 und 1800 in Deutschland über 5000 Romane erscheinen, die überwiegend von Frauen gelesen werden.14 Dabei kann die Trennung von Arbeit und Freizeit nur bedingt als Begründung überzeugen, schließlich gilt diese Trennung auch für die außer Haus tätigen Männer. Darüber hinaus bemängeln die Kritiker ja gerade, dass sich die Frauen an diese Trennung nicht halten und die Lektüre nicht auf die freie Zeit beschränken können, sondern stattdessen ihre häuslichen Pflichten vernachlässigen.15 Als gesichert kann aber gelten, dass der rasante Aufstieg des Ro13 Johann Adam Bergk: Die Kunst, Buecher zu lesen. Nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller, Jena 1799, S. 412f. 14 Vgl. Schön, Weibliches Lesen, S. 21. Wie überwiegend bürgerliche Frauen zu dem literarischen Publikum des Romans avancieren, zeigt Eva D. Becker an der Erfolgsgeschichte von Gellerts Schwedischer Gräfin. Eva D. Becker: Frauenlektüre oder: Erziehung durch Literatur 1700-1866, in: Dies., Literarisches Leben: Umschreibungen der Literaturgeschichte, St. Ingbert 1994, S. 143-164, hier: S. 150ff. 15 So nennt die Gouvernante einer prominenten Pietistenfamilie in Briefen acht Arten täglicher Lektüre, die durchaus mit anstrengender Hausarbeit zu vergleichen sind: „Gelesen wird, wie man Mastgänse nudelt.“ Zit. n. Marie-Claire Hoock-Demarle: Lesen und Schreiben in Deutschland, in: Georges Duby/Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 4: 19. Jahrhundert, hg. v. Geneviève Fraisse u. Michelle Perrot, Frankfurt/M., New York 1994, S. 165-186, hier: S. 173.

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mans zur führenden Gattung des literarischen Marktes wie auch seine moderne Neuschöpfung als ‚Frauenroman‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf der empirischen Tatsache einer weiblichen Leserschaft gründet. Überaus treffend bemerkt Erich Schön, „daß nahezu alle Beteiligten, von den (männlichen) Romanautoren und Ästhetikern des 18. Jahrhunderts bis zu den heutigen Literaturhistorikern, sehr wohl wissen, daß ihre Adressaten bzw. die tatsächlichen Leser der Romane Frauen waren. Aber die zeitgenössischen Literaten verdrängten dies meist ebenso […] wie es bis heute die Literaturwissenschaft tut: es entsteht die Fiktion eines geschlechtsneutralen Lesens, einer geschlechtsneutralen Literatur.“16

Diese Fiktion kann nur dadurch entstehen, dass mit der Anonymität der Kommunikation die Körper fürs Erste verschwinden und vermeintlich geschlechtslose Wesen schreiben und lesen. Die Folge dieser Universalisierung ist aber, dass die geschlechtliche Markierung – wie alles Verdrängte – auf der Ebene des Mediums wiederkehrt. In der Tat liebt die süchtige Leserin nicht den Autor, sondern das Medium. Es ist vor allem dieser untragbare Zustand, der im Literatursystem dafür sorgt, dass Interaktion simuliert werden muss, über die dann auch die geschlechtliche Orientierung wieder eindeutig wird und die Liebe der Leserin vom Medium zurück auf den Autor fallen kann. Dabei ist das Interesse an der Würdigung seiner Eigentümlichkeit nicht zu trennen von seinem Interesse an Eigentum: Die Trennung von LITERATUR und Literatur ist auch deshalb nötig, weil der private Ankauf von belletristischen Büchern um 1800 die absolute Ausnahme darstellt. Diese werden über Leihbibliotheken vertrieben, die Auflage bleibt mithin eng beschränkt und das Medium Buch wird völlig anders besetzt. An die Stelle der einzigen und wahren Liebe zum Buch als Werk eines Meister-Autors tritt der promiske ‚Partnertausch‘: Das Medium im Kontext der Leihbibliothek wandert von Hand zu Hand, bis es sich in seine Bestandteile auflöst, es wird buchstäblich ‚verschlungen‘ und ‚zerfleddert‘. Vor allem aber erzeugt der Vertrieb über die Leihbibliothek eigene Leseregeln, die mit denjenigen einer intensiven Klassikerlektüre wenig gemein haben, umso mehr aber mit den Benutzungsordnungen der verschiedenen Bibliotheken:

16 Schön, Weibliches Lesen, S. 23; ein gutes Beispiel für die konsequente Ausblendung der Geschlechterdifferenz aus der systemtheoretischen Literaturwissenschaft bietet etwa Gerhard Plumpe: Autor und Publikum, in: Heinrich Brackert/Jörn Stückrath (Hg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, 4. Aufl. Reinbek 1992, S. 377-391, hier: S. 386.

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„Z.B. eiliges Lesen, weil jeder Tag Geld kostet; schubweises Lesen, um ein Monatsabonnement auszunutzen; kurzfristiges Lesen, weil z.B. der 2. Band eines Romans erst geholt wird, wenn der 1. ausgelesen ist; gemeinsames Lesen als Vorlesen oder Weiterverleihen in der Familie oder unter Freundinnen; das ‚Mitlesen‘ der Dienstmädchen; die besondere Lesestruktur aufgrund der bei den Leihbibliotheksromanen üblichen Dreibändigkeit.“17

Die Liebe zum Medium geht mit einem misreading der LITERATUR einher: Die Frauen lesen falsch und das Falsche, kurz: falsches Lesen ist weiblich. Darüber hinaus wird nicht nur zu viel gelesen, es lesen auch zu viele, so dass durch die Überwindung der Lesebarriere die soziale Grenze nach unten beunruhigend unscharf wird.18 Statt den Anordnungen berufener Leselehrer zu folgen und das neue Medium Roman maßvoll zu nutzen, orientieren sich die lesenden Frauen offenbar an den Gesetzen der Distributionsinstanzen. Und die Durchsetzung der stillen Lektüre macht es vollends unmöglich, legitimes von illegitimem Lesen zu unterscheiden, um darüber die Rezeption zu kontrollieren. Dabei spielt es nicht die geringste Rolle, dass selbstverständlich auch Männer ‚falsch‘ im Sinne von empfindsam und identifikatorisch gelesen haben, während es selbstverständlich immer Frauen gab, die ‚professionell‘ lasen – die verfehlte Liebe zum Medium muss auf jeden Fall weiblich codiert werden, damit der von der liebenden Leserin behütete autoerotische Zirkel zwischen Autor und Werk auch durch negative Grenzziehung abgesichert wird. Dominik von König hat daraus schon früh eindeutige Schlüsse gezogen und die Lösung des weiblichen Lesesucht-Problems in der „Kanonisierung deutscher Klassiker“19 gefunden. Die Forderung an das Publikum, (nur) die Heroen der Literatur zu lesen und diese nicht in extensiver Lektüre zu verschlingen, sondern intensiv zu verstehen, zielt darauf, das empfindsam-identifikatorische, stoffliche Lesen durch ein die Form des Kunstwerks würdigendes zu ersetzen. „Wirksam wird eine doppelte Strategie. Erstens soll gegenüber den in wachsendem Maß anonymen Buchmarktmechanismen die Gewalt personaler und autoritativer Interaktion wiederhergestellt werden. Zweitens bildet sich eine Reihe von Werken heraus, die als Träger des kulturellen Bestands figurieren und im Gegensatz zum Überangebot an flüchtigen Lesestoffen intensivere Rezeptionsweisen in Anspruch nehmen.“20

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Schön, Weibliches Lesen, S. 25. Becker, Frauenlektüre, S. 158. König, Lesesucht, S. 105. Koschorke, Geschlechterpolitik, S. 592.

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Wenn legitime und stille Lektüre im 18. Jahrhundert auseinander fallen, muss offen bleiben, ob die Eindrücke ‚angemessen‘ sind oder ob sie zügellose Phantasien entfachen. Zu letzteren gehört durchaus auch, sich als Schreibende zu imaginieren. Die durch formale Alphabetisierung Lesefähigen, denen ‚Bildung‘ versagt bleibt, gelangen nämlich nicht nur zu einem in jeder Hinsicht unzureichenden Verständnis von LITERATUR, sie maßen sich auch noch das Schreiben an, das Exhibition und Verlust der spezifisch ‚weiblichen Natur‘ bedeutet.21 Und auch diese Verbindungen von Körper und Medium müssen notwendig scheitern. So findet sich nicht zufällig in einem Traktat Über Töchter-Erziehung aus dem Jahr 1790 eine deutliche Warnung vor einer Bücherflut durch Schreibwut: „Nicht so ganz mit Unrecht wird in Deutschland über die Sündfluth von Büchern, Büchlein, Schnurren und Wischen, und über die Überschwemmung ungeheurer Haufen von Schriftstellern geklagt, die das Land heimsuchen, wie Heuschrecken, Gothen, Vandalen und Normänner.“22 Es spielt dabei keine Rolle, dass selbstverständlich auch um 1800 der überwiegende Teil dieser Plage männlichen Geschlechts ist, die missverstandene Schreibseligkeit wird spätestens im 19. Jahrhundert ebenfalls weiblich codiert. Auch in diesem Fall sei nämlich Vernunft und Bewusstsein ausgeschaltet, wenn die Hand sich gleichsam mechanisch mit dem Griffel über das Papier bewege. Die deutliche Analogie von Schreiben und Masturbation zeigt an, dass es nicht bei der (passiven) Reizung der Nerven bleibt, sondern dass es um die handfeste Stimulation von Erregung geht, die es dann auch zu befriedigen gilt. Eine solche sich selbst befriedigende Leselust nun schwächt die männlichen Lebensgeister bis zur Erschöpfung und – das zeigt der gesamte Onaniediskurs des 18. bis 20. Jahrhunderts – führt auf direktem Weg zur Verweiblichung des Mannes.23 Die vielen Invektiven der Klassiker gegen diese Art sinnlicher Berauschung bleiben letztlich ohnmächtig, weisen aber bereits den Weg in die Moderne: „Alle diese Rührungen, sage ich, sind durch einen edeln

21 Vgl. ebd., S. 587. 22 Vgl. auch Titel wie Die Pest der deutschen Literatur von J. G. Heinzmann, Bern 1795. 23 So findet Christian Gottfried Schütz in einem Brief vom 7.9.1778 des Freiherrn von Zedlitz’ Vergleich zwischen „Versmacherei“ und Onanie, die beide die Seele schwächten und en männlichen Körper erschlafften, „vortrefflich“ und „ganz original“. Zit. n. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 2003, S. 56, Anm. 6.

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und männlichen Geschmack von der Kunst ausgeschlossen, weil sie bloß allein dem Sinne gefallen, mit dem die Kunst nichts zu verkehren hat.“24 Gemäß dieser offensichtlich angewiderten Abkehr tobt zwischen den Kunstsinnigen und den Erfolgreichen um 1800 ein erbitterter Kampf um die zunehmend populärer werdenden Prosagattungen Roman und Novelle, an denen sich gleichfalls die Geister scheiden. Schauplatz dieses Kampfes sind die Zeitschriften der ‚Klassiker‘, in denen eigentlich ein autonomes Kunstprogramm einem möglichst breiten Publikum nahe gebracht werden soll. Damit dies gelingt, werden auch und gerade Novellen und Romane gedruckt, die den Publikumsgeschmack bedienen. Christa Bürger hat diese Doppelstrategie an Schillers Literaturpolitik in den Horen gezeigt. Er veröffentlichte neben den Briefen zur ästhetischen Erziehung und anderen Traktaten, die das autonome Literaturverständnis begründen sollten, überwiegend Texte so qualifizierter Dilettantinnen wie Sophie Mereau oder Karoline von Wolzogen. Diese waren zwar vom ästhetischen Standpunkt aus zu verwerfen, wurden aber aus verkaufsstrategischen wie auch aus erzieherischen Gründen dringend gebraucht – schließlich sollte diese Literatur das Publikum auf die autonomieästhetischen Offenbarungen vorbereiten, sozusagen „heraufsozialisieren“.25 Durch diese Publikationspolitik förderte Schiller die Entstehung des so genannten ‚Frauenromans‘ (im Sinne einer Literatur von Frauen für Frauen), die er auf der anderen Seite polemisch bekämpfte. Auch Helga Brandes hat in ihren Studien überzeugend nachgewiesen, wie sehr die Literatur von Frauen um 1800 in ein System kommunikativer Wechselwirkungen vor allem mit den Journal-Experimenten Goethes und Schillers eingebunden ist – nahezu alle bedeutenden ‚Frauenromane‘ des 18. Jahrhunderts sind in Periodika erschienen.26 Zu Recht

24 Friedrich Schiller: Über das Pathetische, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 512-537, hier: S. 516. Erich Schön quittiert dieses Pathos lapidar: „Die deutsche Klassik ist, man kann es nicht anders sagen, leseglück-feindlich.“ Ders.: Mentalitätsgeschichte des Leseglücks, in: Alfred Bellebaum/Ludwig Muth (Hg.), Leseglück. Eine vergessene Erfahrung?, Opladen 1996, S. 151-179, hier: S. 160. 25 Vgl. Bürger, Leben Schreiben, S. 21. Bürgers Terminus der „mittleren Literatur“ für die Literatur der Frauen um 1800 erweist sich allerdings für den hier zu entwickelnden Gedankengang als unbrauchbar, weil er letztlich innerhalb der von Klassikern und Romantikern ausgegebenen Kriterien verbleibt. 26 Vgl. Helga Brandes: Der Frauenroman und die literarisch-publizistische Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, in: Helga Gallas/Magdalene Heuser (Hg.), Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800, Tübingen 1990, S. 41-51, hier: S. 42.

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weist sie darauf hin, dass die Fixierung auf die Buchfassung den wichtigen „Zusammenhang zwischen dem Roman und dem diesen vermittelnden Medium“ vernachlässige, insofern die „strukturbildende Wirkung des Mediums ‚Zeitschrift‘“ übersehen werde.27 Zu den Strukturmerkmalen des literarischen Journals gehören Periodizität, festgelegter Umfang, Kürze, Realitätsgehalt und Neuigkeitsanspruch, Unterhaltungswert und vor allem Interessantheit. Zu beobachten ist bereits um 1800 der Prozess einer „Journalisierung der Literatur“, wobei in dieser Perspektive vermeintliche Gattungseigenschaften des ‚Frauenromans‘ als genuiner Ausdruck der Publikationsbedingungen erscheinen, denn die periodischen Medien diktieren nicht nur die Gesetze der Rezeption, sondern vor allem auch die der Produktion.28 Sie bevorzugen kurze Formen wie Novelle, Skizze, Porträt, Anekdote – Genres also, die in den Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts Karriere machen werden. Eine besondere Rolle spielt bereits der Fortsetzungsroman, der die zeitlichen Lücken zwischen dem Erscheinen des Periodikums überbrücken und durch geschickte Unterbrechung das Interesse je nachdem – eine Woche, einen Monat, ein halbes Jahr – wach halten muss. Zugleich führt der regelmäßige Erscheinungsrhythmus zu Zeitdruck: Texte werden nicht veröffentlicht, wenn sie fertig sind, sondern sie sind fertig, wenn sie veröffentlicht werden. Wichtig ist vor allem, dass sie ‚portionsweise‘ gelesen werden können. Das aber erfordert die Herausbildung bestimmter Techniken: „Je eindeutiger die Romane (inhaltlich, kompositorisch usw.) gegliedert waren, um so unproblematischer konnte der Text ‚zerstückelt‘ werden, um so eher konnte er ‚Brechungen‘ und Lektüreintervalle vertragen. Briefroman, lineare, episodenreiche Handlungsstruktur, szenenähnlicher Aufbau etc. sind die in dem Zusammenhang bevorzugten Elemente […]. Gefragt sind also in sich geschlossene kleinere Einheiten, die dennoch ein Ganzes bilden (die Neugier der Leserin auf die Fortsetzung mußte erhalten bleiben).“29

Neben geschickten Spannungsbögen bedarf es einer ‚Wahrheitsfiktion‘, die das Erzählte beglaubigt und im oben genannten Sinn in einem gemeinsamen ‚Realitätshorizont‘ von Figuren und Leserinnen situiert. Die Verbindung von Erzählungen und Zeitschriften wird also bereits um

27 Ebd., S. 42; vgl. hierzu ausführlich Meyer, Novelle und Journal. 28 Brandes, Frauenroman, S. 48. Leider reproduziert auch die luzide Beschreibung von Brandes implizit die literaturwissenschaftlichen Wertungen: Die medialen Bedingungen werden nicht nur beobachtet, sie sollen vor allem als Entschuldigung für die, an LITERATUR gemessen, formal minderwertige Literatur von Frauen dienen. 29 Ebd., S. 49.

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1800 innig – in den Familien- und Rundschauzeitschriften des 19. Jahrhunderts erscheint sie untrennbar, diese funktionieren nicht mehr ohne Literatur. Die schreibenden Frauen waren ebenso wie die poetae minores – Vulpius, Kotzebue, Iffland u.a. – mit den periodischen Medien Almanach, Journal und Zeitschrift von Anfang an bestens vertraut. Letztere wurden nicht nur ausdrücklich für die Frauen gemacht, sondern sollten, so etwa programmatisch in Wielands Journal für deutsche Frauen von deutschen Frauen geschrieben auch ausschließlich weibliche Signatur tragen.30 Vor allem die Almanache der zweiten Jahrhunderthälfte spielten in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle, weil in ihnen das „Prinzip der Varietät“31 noch sehr viel deutlicher ausgeprägt war als in den Moralischen Wochenschriften der Frühaufklärung. Als einer der beliebtesten und bedeutendsten kann Cornelia. Taschenbuch für Deutsche Frauen gelten, das ohne Unterbrechung von 1806 bis 1841 erschien und in dem erfolgreich das Genre der ‚Frauenliteratur‘ erprobt wurde. Als „Leitmedien“ des 18. Jahrhunderts nahmen die Almanache die hybriden Strukturelemente der Familien- und Rundschauzeitschriften – die Mischung von Dichtern und Dilettanten, Autoren und Publikum – vorweg: „Die ihnen eigene Verklammerung von Dichtkunst und Unterhaltungsliteratur, von Alltagsbezogenheit und bildungsbürgerlichem Humanitätsanspruch, von Privatheit und Publizität“ garantierte zum Teil sehr langlebige publizistische Erfolge, und durch die Aufforderungen an das Publikum, eigene Beiträge einzusenden, eröffneten sie „allen tatsächlichen oder vermeintlichen Talenten die Möglichkeit, in einem bis dato nicht gekannten Maß und Rahmen erste literarische Versuche der Öffentlichkeit vorzustellen“.32 Paradoxerweise waren Almanache und Zeitschriften um 1800 überwiegend Projekte von heute als klassisch geltenden Autoren: Wieland gab 35 Jahre lang zum Teil sehr erfolgreich Zeitschriften heraus, Schiller redigierte von 1781 bis 1800 fast ununterbrochen Journale und auch Goethe konnte und wollte auf das äußerst publikumswirksame Medium und dessen Genres nicht verzichten. Dennoch waren diese Autoren nicht in der Lage, deren Qualitäten angemessen zu würdigen, da der Wille zum unvergänglichen Werk dem ephemeren Charakter des Periodikums zu-

30 Dies bleibt wie schon in den Moralischen Wochenschriften auch in diesem Projekt Fiktion. Vgl. Meyer, Novelle und Journal, S. 202. 31 York-Gothart Mix: Vom Leitmedium zum Lesefutter. Prolegomena zur Mediengeschichte des literarischen Almanachs und Taschenbuchs, in: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 59 (1997), S. 93-113, hier: S. 93. 32 Ebd., S. 95f.

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tiefst widersprach. Unangefochten galt Herders Warnung vor der „Hüftund Marklose[n] Sprache der Wochenblätter“,33 die die männlichen Werke zwangsläufig feminisiere. Denn die Anonymität wird in den Zeitschriften tatsächlich vollendet, sie ist nicht mehr Anlass zur Suche nach Autornamen, sondern löst diese in Kontexte auf. Wo diese anonyme Adressierung nicht ernst genommen wird, führt sie auch schon mal zu kuriosen Verwechslungen, so wenn Caroline von Wolzogens anonym in den Horen erschienene Agnes von Lilien beim Publikum als ‚Werk‘ Goethes ankommt.34 Die schreibenden Frauen haben in den periodischen Printmedien deutliche Vorteile. Sie müssen keine komplexe Doppelmoral entwickeln, da ihnen ohnehin nicht die heilige, unbezahlbare, namhafte Kunst, sondern nur anonymes Schreiben für Geld offen steht. Die Honorierungspraxis – sofort und bar – entschädigt dafür ebenso wie die Möglichkeit einer Wiederverwendung der Beiträge als Buchfassung. Die Praxis des Vorabdrucks gestattet darüber hinaus eine Rückkopplung mit dem Publikum, und auch diese muss nicht, wie bei Schiller oder Goethe, Verachtung des Publikums und Werbung um dessen Gunst vereinen. Die Resonanz auf die Vorveröffentlichungen erlaubt zu erproben, wie ein Roman angenommen wird, und ermöglicht die Berücksichtigung der Reaktionen bei der Fertigstellung, so dass der Erfolg des Buches oft noch den des Vorabdrucks übertrifft. Doch am Maßstab des Werkes gemessen, ist ein adäquater Umgang mit den Zeitschriften prinzipiell ausgeschlossen. Erfolge in den periodischen Printmedien bleiben angesichts der strukturellen Minderwertigkeit ohne Bedeutung. Im als epidemisch markierten weiblichen Schreiben und Lesen wird deshalb aus der Affizierung durch das Medium eine Infektion, der nur mit strenger Quarantäne wirksam begegnet werden kann. Diese ‚Pathologie‘ stellt, das sollte deutlich geworden sein, keinen Auswuchs dar, sie geht vielmehr der ‚Normalität‘ voraus und muss als der eigentliche Auslöser für die Versuche der Ausdifferenzierung eines Literatursystems betrachtet werden, das nicht nur LITERATUR von Literatur zu unterscheiden gezwungen ist, sondern auch Autoren von Dilettanten und liebende Leserinnen von ‚primitiven‘ Lesesüchtigen. Diese Distinktion treibt nicht nur die Diskussionen um 1800, sondern auch die um 1900 an. In den Debatten um „Schmutz und Schund“ wiederholen sich alle Argumente, sofern die inkriminierte Unterhaltungsliteratur „Sinn-

33 Johann Gottfried Herder: Über Thomas Abbts Schriften, in: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781, hg. v. Gunter E. Grimm, Frankfurt/M. 1993, S. 565-608, hier: S. 588. 34 Vgl. Bürger, Leben Schreiben, S. 21.

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lichkeit und rohe Triebe [entfesselt], den Wirklichkeitssinn [zerstört], Autoritäten [untergräbt] und überhaupt jeglichen künstlerischen und sittlichen Wertes [entbehrt].“ Kurz, sie spekuliere auf ökonomischen Gewinn durch Reizung der niederen Instinkte, gegen deren unsittlichen Materialismus nicht nur mit ideologischer Diffamierung, sondern auch juristisch vorgegangen werden müsse.35

35 Mirjam Storim: Ästhetik im Umbruch. Zur Funktion der ‚Rede über Kunst‘ um 1900 am Beispiel der Debatte um Schmutz und Schund, Tübingen 2002, S. 102.

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3. Medien-Geschichten: Goethes Wanderjahre „Da wir nun als Originale gebohren worden, wie kömmt es doch, daß wir als Copien sterben?“1 „Tief und ernstlich denkende Menschen haben gegen das Publicum einen bösen Stand.“2

Wenn ‚Autor‘ als die zentrale Akteursfiktion und ‚Werk‘ als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium um 1800 perfekt verbunden werden können, dann im Namen ‚Goethe‘. Zum Ganzen wird beides durch die Signatur, und die Signatur erscheint wiederum als Ausdruck des Werks. Eine solche Verbindung garantiert Anschlussfähigkeit für Kommunikation und erfüllt damit die zentrale Funktion im System. Dieses Spiegelungsverhältnis gerät jedoch noch für Goethe selbst ins Wanken, wie sich an der kuriosen Publikationsgeschichte seines Alterswerks, Wilhelm Meisters Wanderjahre, exemplarisch zeigen lässt.3 Die Auflösung dieses Verhältnisses erscheint als Resultat einer fatalen und doch unausweichlichen Mesalliance: Der Meister-Autor verbindet sich mit dem Periodikum des Almanachs, und zwar nicht, um dort ein Publikum zu unterhalten, sondern, um ein ‚Werk‘ zu annoncieren. Dieses Missverständnis und seine Konsequenzen für die LITERATUR sollen im Folgenden skizziert werden. In Friedrich Cottas Taschenbuch für Damen wurde 1808 eine Übersetzung Goethes aus dem Französischen mit dem Titel Die pilgernde Thörinn abgedruckt. Für Cotta, den Goethe in seine Pläne einer Fortsetzung der Lehrjahre zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeweiht hatte, kein ungewöhnlicher Vorgang, schließlich veröffentlichte Goethe in Almanachen und Zeitschriften immer wieder ‚Gelegenheitsarbeiten‘, die im Autorbewusstsein nicht zum ‚Werk‘ gehörten und deshalb auch getrost

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Edward Young: Gedanken über die Original-Werke, Leipzig 1760, fotomechan. Nachdruck mit einem Nachwort v. Gerhard Sauder, Heidelberg 1977, S. 40. Johann Wolfgang Goethe: Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen, in: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 13, hg. v. Harald Fricke, Frankfurt/M. 1993, S. 41. Niels Werber hat überzeugend die Publikationsgeschichte von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten als Mediengeschichte rekonstruiert und damit die in der Forschung hartnäckig behauptete These vom ästhetisch vollendeten ‚Novellenkranz‘ zurückgewiesen. Vgl. ders., Liebe als Roman, S. 238-261.

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den abgewerteten Periodika anvertraut werden durften.4 Das Taschenbuch für Damen erschien seit 1797 und war eines der äußerst erfolgreichen und publikumswirksamen, zudem besonders langlebigen Projekte in Cottas Verlag, für das dieser auch andere Heroen der Literatur gewinnen konnte, weil Honorare und Gestaltungsfreiheit für all das, was sich von den Autoren nicht als ‚Werk‘ markieren ließ, überaus großzügig waren. Nachdem die Erzählung von der Pilgernden Thörinn beim Publikum eine sehr positive Resonanz fand und letzteres weitere unterhaltende Geschichten dieser Art wünschte, erschien im Jahrgang 1809 des Taschenbuches ein Text, der deutlich als die ersten vier Kapitel der späteren Wanderjahre gekennzeichnet war und damit erstmals ein größeres Publikum auf Pläne zur Fortsetzung des Romans über den erfolgreichen Dilettanten Wilhelm Meister hinwies.5 Das Versprechen gegenüber seinem Verleger, regelmäßig weitere Beiträge für den Almanach in der Art der Novelle zu liefern, erfüllte Goethe in den folgenden vier Jahren indes nicht, stattdessen ließ er im Leipziger Messekatalog von 1810 den Roman selbst ankündigen. Doch auch dieser Ankündigung folgte keine Publikation, vielmehr wendete sich Goethe offenbar anderen Projekten zu. Erst eine anonyme Litterarische Anfrage vom 3. März 1815, die die versprochene Veröffentlichung der Wanderjahre anmahnte, motivierte Goe-

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Wie bedeutsam auch hier die Betonung der Grenze ist, zeigt ein Brief von Goethe an Cotta vom 1.10.1809: „Was ich an dem Damen Calender vermisse, ist der geistreiche und heitere Theil, der doch eigentlich das Leben schmückt, und der in der großen, wie in der kleinen Welt höchst gute Aufnahme findet. […] Solche artige kleine Dinge, die sich auf das gesellige Leben galant beziehen, in Prosa und Versen, wie Ihr Almanach des Dames enthält, sucht man hier vergebens; und doch machen dergleichen, ohne eigentlich poetischen Wert, immer eine anmutige Wirkung.“ Goethe an Cotta, Brief v. 1.10.1809, in: Sämtliche Werke, Abt. II, Bd. 6: Napoleonische Zeit I. Von Schillers Tod bis 1811, hg. v. Rose Unterberger, Frankfurt/M. 1993, S. 497. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. auch Klaus F. Gille (Hg.): Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehr- und Wanderjahre, Königstein/Ts. 1979. Ich folge in meiner Analyse weitgehend der materialreichen Rekonstruktion von Wolfgang Bunzel: „Das ist eine heillose Manier, dieses Fragmente-Auftischen“. Die Vorabdrucke einzelner Abschnitte aus Goethes „Wanderjahren“ in Cottas „Taschenbuch für Damen“, in: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 1992, S. 36-68, schlage aber eine andere Interpretation der gesammelten Fakten vor. Diesem Text ist ein Titelblatt „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ vorgeschaltet, und auch die typographische Einrichtung kam einer öffentlichen Ankündigung der Wanderjahre gleich. Vgl. Bunzel, Heillose Manier, S. 41.

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the zur Wiederaufnahme der Arbeit – nicht am ‚Werk‘, wohl aber an den Veröffentlichungen im „DamenCalender“. Wie weit Goethe auch zu diesem Zeitpunkt von einer Vollendung der Wanderjahre entfernt war, zeigt seine Reaktion auf die Anfrage: „Ferner hab’ ich die Hälfte einer Novelle beigelegt, sie sollte auch einen Teil der Wanderjahre Wilhelm Meisters ausmachen; mögen Sie solche in den DamenKalender abdrucken lassen, so werde ich aufgeregt werden, Fortsetzung und Schluß zu schreiben, welche schon mehrere Jahre vorbereitet sind, zu deren Ausführung ich aber nicht habe gelangen können.“6 Die Anlage als Fortsetzung wie auch die Teilnahme des Publikums hatte offenbar anregende bzw. ‚aufregende‘ Wirkung; in ihr vermutete Goethe eine Dynamik, die die Schwierigkeiten des Genies beim Verfertigen des Werks überwinden konnte. Immer wieder betonte er, wie viel der Druck, den ein solcher publizierter Anfang erzeugte, für die Vollendung bedeutete. Was er deshalb an Cotta schickte, war keine Erzählung, sondern nur „die Hälfte einer Novelle“, nämlich der erste Teil des Nußbraunen Mädchens, mit dem nun eine kontinuierliche Reihe von Publikationen in Cottas Taschenbuch begann, wobei er seine Erzählungen mehrfach ‚halbiert‘ anbot: Neben dem Nußbraunen Mädchen auch den Mann von funfzig Jahren sowie Die neue Melusine, die nicht nur einfach abbricht, sondern das auch noch mitten im Satz. Die ständigen Vertröstungen des Verlegers und des Publikums entsprechen nun augenscheinlich keiner ‚Werkstrategie‘, vielmehr korrespondieren sie ganz und gar mit den Regeln, die das Medium des Almanachs als Periodikum diktiert – Spannung, Unterhaltung und Neuigkeit, die sich in der Novellenstruktur, und noch dazu als Fortsetzung, bestens vereinen lassen. Goethe nutzt ganz offensichtlich die Möglichkeiten des Mediums, Neugierde zu erregen, statt zu befriedigen, schließlich ist „die Neugier des Publikums […] das einzige, wovon was zu hoffen ist, und wenn diese abgeleitet ist, ist auf nichts mehr zu rechnen“.7 Es geht mithin um eine Wirkung, die den Autor im Bewusstsein des Publikums präsent halten soll, notfalls auch ohne Werk. Denn auch nach der letzten Publikation im Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1819 – der Fortsetzung der Neuen Melusine – erscheint zunächst unter dem Namen Goethe kein Buch mit dem Titel Wilhelm Meisters Wanderjahre. Erst im Februar 1821 kommt ein Roman dieses Titels heraus – allerdings anonym. Das Publikum, dessen Neugierde durch die Veröffentli-

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Goethe an Cotta, Brief v. 27.3.1815, in: Sämtliche Werke, Abt. II, Bd. 7: Napoleonische Zeit II. Von 1812 bis zu Christianes Tod, hg. v. Rose Unterberger, Frankfurt/M. 1994, S. 417. Schiller an Goethe, Brief v. 9.7.1799, in: Briefwechsel, S. 717.

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chungen im Almanach nachhaltig geweckt wurde, liest dennoch begierig – und als Ende Mai 1821 endlich das ‚Original‘ erscheint, ist die ‚Fälschung‘ bereits in aller Munde. Dabei handelte es sich nicht, wie bei Nicolais Freuden des jungen Werthers oder bei Vischers Faust III um nachträgliche Parodien, die den Ruhm des Originals nur bestärken, sondern um einen destruktiven Akt, der das ‚Urbild‘ schon vor dessen Erscheinen verunstaltet. Als Verfasser wird nach kurzer Zeit der in Sachen Literatur zwar nicht unbescholtene, aber dennoch gänzlich unbekannte Lemgoer Pfarrer Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen ausgemacht,8 welcher die Spannung, die eine über viele Jahre sich erstreckende, immer wieder erneuerte und dann zurückgezogene Ankündigung einer Fortsetzung der Lehrjahre erzeugte, für eine Kampfansage an Goethe nutzte. „Schließlich handelt es sich bei dem doppelgängerischen Unternehmen nicht einfach um ein Plagiat oder eine Imitation, noch weniger um eine Mimikry in parodistischer Absicht, sondern buchstäblich um einen Versuch der Überbietung […].“9 Dieser Wille, das Original zu übertreffen, bezog sich nicht nur auf den Stil, sondern erhob kunsttheoretische Ansprüche, wobei gegen die Unmoral der Goetheschen Figuren ausgerechnet die hohe Moral der Schillerschen ausgespielt wurde. Damit sprengte Pustkuchen die klassische Dyade: Mit seiner Trennung Schillers und Goethes, der Moral von der Autonomie, prägte er nachhaltig die zum Teil massive GoetheKritik des 19. Jahrhunderts. Pustkuchens Wanderjahre beanspruchten nicht weniger, als den Platz von Goethes Wanderjahren einzunehmen, oder zumindest ein eigenes ‚Pseudo‘ nur für den Fall zuzugestehen, dass ein solches auch für das ‚authentische‘ Werk gelte. Sein Spiel mit dem ‚Echten‘ greift dabei weit über die Wanderjahre hinaus: „Wir würden für die gegenwärtige Schrift den Namen Pseudo-Wanderjahre vorziehen, wenn man sich über den Titel Pseudo-Lehrjahre für die frühere eine Uebereinkunft der Leser versprechen könnte. Denn eigentlich sind beide Auf-

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Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Mit einer Einleitung: Goethe und Pustkuchen, 4 Bde., hg. v. Ludwig Geiger, wortgetreuer Nachdruck der neuen verbesserten Aufl. v. 1823-1826, Berlin 1913. Pustkuchens ‚Liebe zum Medium‘ muss erheblich gewesen sein, glaubt man den Berichten über seine jugendliche Versessenheit bezüglich des Lesens und Schreibens von Romanen, die sich in einem umfangreichen ‚Opus‘ der Jugendjahre niederschlug. Vgl. Volker Bohn: Pustkuchens „Wanderjahre“, in: Karl Corino (Hg.), Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik, Frankfurt/M. 1996, S. 229239, hier: S. 233; vgl. ausführlich Thomas Wolf: Pustkuchen und Goethe. Die Streitschrift als produktives Verwirrspiel, Tübingen 1999, S. 43f. Bohn, Pustkuchens „Wanderjahre“, S. 230.

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schriften verwechselt. Es haben unsere geistreichen Leser gewiß schon selbst bemerkt, daß Wilhelm Meister in der ersten Schrift zwar wandert, aber nicht lernt. Eben so wird in der andern Abtheilung mehr gelernt, als gewandert, wenigstens ist die Wanderung mehr geistig, als körperlich. Indeß sind wir uns bei der doppelten Verwechslung unsrer Schuldlosigkeit bewußt.“10

Wenn die ‚Fälschung‘ vor dem ‚Original‘ erscheint, die Parodie vor dem ‚Werk‘ und damit die Anschlusskommunikation vor der Kommunikation, dann ist dessen Existenz tatsächlich überflüssig geworden. Denn „Fälschung ist eine Täuschung, die darauf angelegt ist, an einer Stelle, die uns wichtig ist, eine Differenz zu verleugnen.“ Sie bestimmt sich nicht nur hinreichend in Bezug auf ein Original, sondern auch „in bezug auf die Absicht des Subjekts der Äußerung und auch auf die Erwartungshaltung, die ein Leser, Betrachter, Zuhörer hat.“11 An den Namen, über den sich seit dem Sturm und Drang Individualität und Werk verbunden haben, hängt sich parasitär, aber deshalb nicht minder erfolgreich, ein ‚Nicht-Name‘. „Goethe und Pustkuchen“ – diese Konjunktion evoziert Ebenbürtigkeit, wo strikte Distinktion herrschen sollte. „[D]er Anonymus hatte sich einen Namen gemacht“12 und damit zugleich die Autorität des Meister-Autors nachhaltig beschädigt, indem er dessen Werk durch einen überaus originellen literarischen Betrug buchstäblich ersetzt. Zu ergänzen bleibt nur noch, dass eine Fälschung nicht nur das Ende der im Namen Goethe signifizierten Autorschaft als Werkherrschaft markiert, sondern auch deren Anfang – man denke nur an die zentrale Stellung der pseudogälischen Ossian-Dichtungen in der Poetologie des Sturm und

10 Pustkuchen, Wilhelm Meisters Wanderjahre, Bd. III, S. 54; zu Pustkuchens Signifikationsspiel vgl. auch Hans-Martin Kruckis: Enträtselte Welt. Anmerkungen zu Pustkuchens „Falschen Wanderjahren“, in: Grabbe-Jahrbuch 6 (1987), S. 122-133, hier: S. 125. 11 Reinhold Görling: Kulturelle Autorität und Fälschung: Vom unterbrochenen Kreislauf der Symbole, in: Jürgen Fohrmann/Ingrid Kasten/Eva Neuland (Hg.), Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien, Vorträge des Bonner Germanistentages 1997, Bd. 2, Bielefeld 1999, S. 705-723, hier: S. 707f. 12 Vgl. Bohn, Pustkuchens „Wanderjahre“, S. 233. „Übrigens hat der Erfolg Pustkuchens Verleger Basse dazu verleitet, sogar zwei Bände Wilhelm Meisters Meisterjahre herauszugeben; auch diese ohne Angabe eines Verfassers, weshalb groteskerweise der längst nicht mehr anonyme Verfasser der falschen Wanderjahre dem Gerücht entgegentreten mußte, er sei nunmehr der anonyme Verfasser ominöser Meisterjahre.“ Ebd., S. 234.

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Drang im allgemeinen und als Spiegel der ‚authentischen‘ Empfindungen des jungen Werther im besonderen.13 Der Erfolg Pustkuchens, der die „idealistisch-romantische Goetheopposition“ Schlegels und Novalis’ popularisiert,14 basiert auf einer Fehladressierung, denn das Publikum des Almanachs besteht eben nicht aus liebenden Leserinnen, die den Schreibenden als Autor spiegeln, sondern aus einer „großen, nicht durchaus gebildeten Masse“, die sich durch dichterische Vorkehrungen und Ankündigungen nicht mehr präparieren lässt für die geduldige Aufnahme auch „fremder und ungewohnter Dinge“,15 sondern die den Gesetzen der anonymen Massenkommunikation folgt. Während das Literatursystem nur mittels der Fiktion eines kalkulierbaren Publikums funktioniert, erreicht das periodische Medium ein anonymes Publikum, dessen Reaktionen sich nicht mehr steuern lassen. Dieses findet Geschmack an der Sensation einer Fälschung, nivelliert so die Differenz von Original und Kopie und nimmt sich damit die Freiheit zu kontingenten Anschlüssen, die die Massenmedien bieten. Es ist nicht auf den Autor ausgerichtet und es eignet sich deshalb auch nicht zur Annoncierung von Werken. Die Adressierung der Wanderjahre an ein Goethe-Publikum geht fehl, weil das Medium offenbar einen anderen zur Produktion ‚aufgeregt‘ hat, der einfach schneller war. Das Interesse, das

13 Zur Fälschung James Mcphersons vgl. Andreas Höfele: Die Originalität der Fälschung. Zur Funktion des literarischen Betrugs in England 17501800, in: Poetica 18 (1986) 1-2, S. 75-95. 14 Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Zur Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Bd. 1: 1773-1918, München 1980, S. 64. Diese Opposition fand ihren boshaftesten Vertreter in Wolfgang Menzel, der Goethe gar als dichtende „Hetäre“ (!) denunzierte. Vgl. Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 134. Die Wirkung Pustkuchens zeigt sich noch bei prominenten Kritikern wie Julian Schmidt, der 1855 in den Grenzboten über „Wilhelm Meister im Verhältniß zu unsrer Zeit“ vor allem Pustkuchens Kritik an den Lehrjahren würdigen will: „Wenn man im Wilhelm Meister anfängt zu analysiren, so wird man Pustkuchen in den meisten Fällen Recht geben, das heißt, man wird begreifen, daß das poetische Princip dieses Romans nicht mehr das unsere sein kann.“ Julian Schmidt: Wilhelm Meister im Verhältniß zu unsrer Zeit, in: Die Grenzboten 14/1, 2 (1855), zit. n. Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, Bd. 2: Manifeste und Dokumente, hg. v. Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger u. Reinhard Wittmann, Stuttgart 1975, S. 227 (im Text mit Sigle RG und Seitenzahl). 15 Goethe an Jacob Andreas Conrad Levezow, Brief v. 13.4.1815, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. IV, Bd. 25, Weimar 1901, S. 259.

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der eine durch Vorabdrucke im Damenkalender weckt, wird am Ende erfolgreich von einem anderen genutzt. Pustkuchen scheint kurioserweise die Publikumserwartungen vollständig erfüllt zu haben: „Die falschen Wanderjahre, die sich, insgesamt gesehen (in dem vielhundertseitigen Werk) nur an wenigen Stellen unmittelbar mit Goethe auseinandersetzten, […], wurden, einmal mit ihrem sensationellen Image ausgestattet, ein selbstgängerisches Unternehmen. Sie wurden Lesefutter – und Pustkuchen war ja kein unbegabter Schriftsteller.“16

Die Gesetze des Mediums Almanach stimulieren – und hier triumphiert die Anonymität der Medien über die Fiktion einer gesteuerten Kommunikation im Literatursystem – mehr und anderes, als Goethe auf der Basis seines Literaturprogramms abschätzen kann. Die Folgen dieser Verwechslung für Goethes Wanderjahre sind fatal: „Die Tageslektüre sind die falschen Meisters Wanderjahre.“17 Doch nicht genug damit, dass Pustkuchen ein ‚Meister-Werk‘ wie die Lehrjahre persifliert und damit vielfältige Verwechslungen initiiert, insofern er die angestrebten Wirkungen der Taschenbuch-Veröffentlichungen ins Gegenteil verkehrt; er bezieht in den folgenden Jahren auch noch die Publikationsstrategie der Wanderjahre in die Persiflage mit ein. „In den Jahren 1821 bis 1828 erschienen vier weitere Teile der falschen ‚Wanderjahre‘. Durch den Erfolg beim Publikum bestärkt, gab Pustkuchen Fortsetzungen seines Romans heraus, die er auch noch durch ‚Beilagen‘ – ‚Wilhelm Meisters Tagebuch‘ (1821 und 1824), ‚Gedanken einer frommen Gräfin‘ (1822) – ergänzte. Er ahmte somit nicht nur Goethes Technik des sukzessiven Vorabdrucks nach, sondern parodierte sie gewissermaßen auch.“18

Angesichts dieses Desasters erscheint es nur noch als Quisquilie, dass die Wanderjahre-Parodie von Ludwig Tieck mit dem Titel Die Verlobung 1823 ebenfalls in einem Almanach – im Berliner Taschenkalender für Frauen – gedruckt wird. Offenbar sind die angesprochenen „Frauen“ und „Damen“ der Almanache für derlei originelle Fälschungsspiele überaus empfänglich, auch wenn ihnen die Erkenntnis der medienreflexiven Dimension dieses Vorgangs bis heute in der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht zugetraut wird. Das populäre, explizit geschlechtsspezifisch adressierte Medium Almanach geriet jedenfalls auf diese Weise

16 Bohn, Pustkuchens „Wanderjahre“, S. 237. 17 Therese Huber an Johann Martin Usteri, Brief v. 3.3.1821, in: GoetheJahrbuch 18 (1897), S. 133. 18 Bunzel, Heillose Manier, S. 65, Anm. 84.

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„ungewollt zum Austragungsort einer literarischen Fehde zwischen Goethe-Anhängern und Goethe-Gegnern und verlor so für Goethe seine Tauglichkeit als Publikationskanal.“19 Die Peinlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzungen um die Wanderjahre war nur durch einen radikalen Strategiewechsel zu begrenzen: Das ‚Werk‘ musste wieder aus seiner (erfolgreichen) Erscheinungsweise herausgelöst werden. Die mediale Affizierung, die Pustkuchen erreicht hatte, funktionierte bei Goethe ohnehin nicht mehr, seine Produktivität in Bezug auf den Roman erlahmte für vier Jahre völlig. Erst durch die Eingliederung in die „Ausgabe letzter Hand“, die die Texte unter seinem Namen zum Œuvre der ‚Weltliteratur‘ zusammenschließen, können, so die Hoffnung, die Wanderjahre an den Parodien und Anfeindungen vorbei doch noch als Werk platziert werden. Dennoch: Am Ende steht Goethe vor dem größten Misserfolg seiner Dichter-Karriere. Statt eines liebenden Publikums sieht er sich heftiger Kritik und Unterstellungen, die bis zur Finanzspekulation reichen, ausgesetzt. Offenbar nimmt das Publikum keinerlei Notiz mehr von den ‚eigentlichen‘ Absichten Goethes – weder die Kunst des Romans noch die Einheit des Werks finden Beachtung. Dabei ist der Vorwurf, Goethe habe mit der Veröffentlichung der Wanderjahre versucht, „längst gedruckte, höchst mittelmäßige und triviale Produkte […] unter einem trüglichen Äußern aufs neue in Kurs zu setzen“,20 nicht von der Hand zu weisen, er trifft vielmehr den Kern des Problems: Vom erfahrenen Verleger Cotta als ‚Gelegenheitsarbeit‘ eingestuft, konnten die vorabgedruckten Novellen im Taschenbuch für Damen als gute Unterhaltung gewürdigt werden; nach der Eingliederung in den Kontext eines ‚Werks‘ jedoch werden die Erzählungen nachträglich als triviale geschmäht. Goethe hatte insofern die „Litterarische Anfrage“ nach einer Fortsetzung gründlich missverstanden: Man verlangte nach spannender Unterhaltung, leicht und fein, nicht nach einem langwierigen und unlesbaren Opus. Ex post wird denn auch wieder die Spreu vom Weizen getrennt, und die unterhaltenden Erzählungen erscheinen als „das beste“ in der etwas „breiten Suppe“: „Das [die Wanderjahre, M.G.] ist nun etwas breit wie eine gute Nudelsuppe, aber gediegen voll Menschenverstand und auf der wahrhaften Breite funkeln einzelne herrliche Sprüche wie Lichtfunken. Einiges las man schon im Damenkalender. Das ist eine heilose [sic!] Manier, dieses Fragmente-Auftischen und sicher schadets dem Verkauf des Buchs, statt ihn zu befördern; denn der Laue

19 Ebd., S. 66. 20 Ebd., S. 67.

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oder wenig Kaufende denkt das beste habe ich ja doch schon im Damenkalender.“21

Diese despektierliche Einschätzung stammt von einer Autorin, die jahrelang ihre äußerst erfolgreichen Romane und Erzählungen unter dem Namen ihres zweiten Mannes veröffentlichte und sich erst als Witwe zum eigenen Schreiben bekannte, wobei sie sich ständig für ihre „höchst peinliche“, „unsre Geschlechterverhältniße zerstörende Laufbahn“ entschuldigte. Hubers literarisches und literaturpolitisches Schaffen kann aber nicht nur als Gegenmodell zur Literaturpolitik der Klassik betrachtet werden, sondern auch als eines, das dieser ernsthaft Konkurrenz machte, insofern sie mit der Redaktion des Cottaschen Morgenblatts für gebildete Stände eine Schlüsselposition in der Medienlandschaft des beginnenden 19. Jahrhunderts einnahm. Ihrer Einschätzung liegt also eine intime Kenntnis der Strukturen und Gesetze literarischer Kommunikation zugrunde: Vorabdrucke haben danach verheerende Folgen für ein ‚Werk‘, das nach der zeitlich und räumlich partialisierten Erscheinungsweise sowie der Kontextualisierung des Autornamens vom Publikum nicht mehr als organisches Ganzes wahrgenommen wird. Doch nicht nur seine materiale Einheit ist irreparabel zerstört, auch der ‚Geist‘ als die belebende und beglaubigende Kraft der Signatur schrumpft unter den neuen medialen Gesetzen, über die sich niemand ungestraft hinwegsetzt, auf die Größe des ‚gesunden Menschenverstandes‘. Keineswegs lässt nun diese überaus skurrile Publikationsgeschichte den Schluss zu, es liege eine komplexe Publikationsstrategie vor, die ohne Pustkuchens Parodie unzweifelhaft zum Erfolg geführt hätte, wie Wolfgang Bunzel mit seiner Rekonstruktion eines vermeintlichen „Systems des dosierten Vorabdrucks“ zu beweisen sucht. Denn was wäre das für eine Strategie: In einem vergleichsweise schnelllebigen Medium wie dem Almanach Interesse an der Fortsetzung eines Werks zu wecken, auf dessen ersten Teil das Publikum dann noch mehr als 13 Jahre warten muss, und zwar mit dem Anspruch, die Zeitdifferenz zu den Lehrjahren – immerhin nochmals ungefähr 13 Jahre – zu überbrücken; und das mit der Publikation von Novellen, die sich zwar vollkommen in den Rahmen des Taschenbuchs fügen und als gelungene und unterhaltende ‚Gelegenheitsarbeiten‘ goutiert werden, die aber nun gerade kein Interesse am Romanganzen entstehen lassen, sondern nur das Bedürfnis nach anderen ‚leichten‘ und ‚angenehmen‘ Erzählungen. Die „Pilotfunktion“, die den veröffentlichten Erzählungen in dieser Argumentation zugesprochen

21 Therese Huber an Karl Philipp Conz, Brief v. 17.6.1821, in: GoetheJahrbuch 18 (1897), S. 132f.

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wird, verkehrte sich nämlich ins Gegenteil: Je positiver die Resonanz ausfiel, desto deutlicher wurde, dass das Publikum kein Werk, sondern eine Fortsetzung der Unterhaltung wollte. Bei den vorabgedruckten Novellen handelte es sich gerade nicht um Proben aus einem Roman, sondern um Erzählungen für einen Almanach. Der Nachweis, „daß Goethe die ‚Wanderjahre‘ nicht nachträglich aus den Almanachdrucken zusammengestellt, sondern daß er die Beiträge für das Taschenbuch für Damen aus dem im Entstehen begriffenen Romankomplex ausgekoppelt und im Hinblick auf dessen baldiges Erscheinen vorab publiziert hat“,22 bleibt auf Vermutungen angewiesen, denn weder kann von den Erzählungen ein direkter Zusammenhang zum komplexen Romangeschehen hergestellt werden, noch auch ist der Roman ‚bald‘ erschienen. Eine von Autorintentionen unbeeindruckte Betrachtung der Geschichte muss dagegen zu ganz anderen Schlüssen gelangen. Zum einen lässt sich die durchaus erfolgreiche Strategie betrachten, mit der der etablierte Autor Goethe durch die Publikation seiner Erzählungen sich den Regeln des periodischen Mediums anzupassen und die Neugierde des Publikums durch die Zerstückelung von Erzählungen so zu spannen wusste, dass er im Bewusstsein der LeserInnen über viele Jahre präsent blieb. In der Technik des Vorabdrucks erwies er sich sowohl in Bezug auf die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten wie auch auf Hermann und Dorothea als überaus erfolgreich. Die Verzögerung der Wanderjahre dagegen kann auch als Einsicht in die Tatsache interpretiert werden, dass sich das Publikum verändert hatte und der Markt sich für Meister-Werke am Anfang des 19. Jahrhunderts tatsächlich schon in Auflösung befand. Nicht umsonst ist sein Roman in der Tat wohl kaum als ‚Fortsetzung‘ der Lehrjahre und des darin eingeschlossenen Kunstprogramms zu lesen, sondern als Roman vom „Ende der Kunst“,23 der sich der Titelfigur des erfolgreichen Bildungsromans ebenso bedient wie der Novellen. Ziel ist die Bündelung der Aufmerksamkeit eines zerstreuten Publikums, das kaum mehr für einen philosophischen Roman zu gewinnen ist. Bereits 1797 räsonierte Goethe über das „Publiko einer großen Stadt“: „Es lebt in einem beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren, und das, was wir Stimmung nennen, läßt sich weder hervorbringen noch mitteilen, alle Vergnügungen, selbst das Theater, sollen nur zerstreuen, und die große Neigung des lesenden Publikums zu Journalen und Romanen entsteht eben daher, weil jene immer und diese meist Zer-

22 Bunzel, Heillose Manier, S. 36f. 23 Vgl. dazu Hannelore Schlaffer: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980.

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streuung in die Zerstreuung bringen.“24 Diese Reflexion zeigt, dass Goethe sich intensiv mit den periodischen Medien auseinandergesetzt hat und dass deshalb kaum von naiver Unkenntnis auszugehen ist. Vielmehr muss ein Experiment für gescheitert erklärt werden, das eben jenen neuen Bedingungen galt. Schließlich lässt sich das Kompositionsprinzip der Wanderjahre ausgezeichnet an die Praxis der Journale und Zeitschriften anschließen, die Ernstes und Leichtes, Reflexion und Unterhaltung verbinden, wobei diese Unterscheidungen bereits im Roman selbst durch diejenige von interessant und langweilig ersetzt werden. Die Tatsache, dass die Wanderjahre nicht, wie die Lehrjahre, die disparaten Elemente lückenlos zu einer harmonischen Einheit zu integrieren vermögen, sondern dass es sich hierbei tatsächlich um ein „Aggregat“25 im Sinne einer lockeren, energiearmen Zusammenlagerung von Elementen handelt, wurde im 19. Jahrhundert mit der erlahmenden Gestaltungskraft des Meisters begründet und mithin als Mangel interpretiert. Dagegen adelte vor allem die Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts, die von einem solchen Erlahmen nichts mehr wissen wollte, den merkwürdig unförmigen Zustand zum bewussten Formprinzip und versuchte zu beweisen, dass die Komposition des Romans zwar locker erscheine, in Wirklichkeit aber nur die Oberfläche einer überaus komplexen Struktur sei, die durch Tagebuch- und Archivfiktionen, durch prismatische Spiegelungen und Verdoppelungen des Erzählers etc. charakterisiert sei.26 Indes gilt es, den Aggregat-Zustand des Textes ernst zu nehmen. Dazu scheint das Modell des ‚Novellenkranzes‘ besonders gut geeignet, dessen sich Goethe ja in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten bereits erfolgreich bedient hat und das gerade in seiner lockeren Verbindung kleiner, abgeschlossener Einheiten perfekt mit den Bedingungen der periodischen Medien harmoniert. Dem entspricht, dass die vermittelnde Instanz nicht in einer Rahmenerzählung gründet und schon gar nicht in einer übergeordneten psychologischen Betrachtung, sondern Resultat der Tätigkeit eines „bedrängten Redaktors“ ist, der höchst Disparates in Einklang bringen muss.27 „Deshalb konnten ihm auch getrost Dinge mitgeteilt werden, die zwar wirklich, aber zugleich unglaublich

24 Goethe an Schiller, Brief v. 9.8.1797, in: Briefwechsel, S. 384. 25 So charakterisiert Goethe selbst den Roman. Vgl. Volker Neuhaus: Die Archivfiktion in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“, in: Euphorion 62 (1968), S. 13-27, hier: S. 13. 26 Vgl. exemplarisch ebd.; Gonthier-Louis Fink: Tagebuch, Redaktor und Autor. Erzählinstanz und Struktur in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Recherches Germaniques 16 (1986), S. 7-54. 27 Vgl. Emil Staiger: Goethe 1814-1832, Zürich 1959, S. 138.

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sind.“28 Das Merkmal der Novelle, die ‚unerhörte Begebenheit‘, korreliert mit demjenigen des Journals ebenso, wie die Vorgaben des ‚Redaktors‘ bei der Zusammenstellung des Textes mit denjenigen eines Zeitschriftenredakteurs weitgehend übereinstimmen. Dieser sorgt dafür, dass die verschiedenen Sparten einer Zeitschrift mit informativen, unterhaltenden und spannenden Texten gefüllt werden. Seine Hauptaufgabe besteht in der Sichtung und Auswahl von Texten und Dokumenten, die ihm andere überlassen, wobei das zentrale Kriterium das allgemeine Interesse des Mitgeteilten darstellt. Darüber hinaus wählt der Redakteur das aus, was bereits abgeschlossen ist und sich auf die ‚Hauptsache‘ bezieht, ebenso wie dasjenige, was einen zügigen Abschluss garantiert. Immer wieder geht es auch um Kürzungen allzu lang geratener Erklärungen sowie um die Befriedigung der LeserInnen-Neugier nach Liebesgeschichten, die im Kontext einer Gesellschaft von Entsagenden nicht selbstverständlich ‚anfallen‘ und speziell für dieses Interesse produziert werden müssen.29 Das Resultat hat Volker Neuhaus folgendermaßen zusammengefasst: „Die Wanderjahre sind so die gesammelten Erzählungen, Dichtungen, Berichte, Tagebücher, Reden und Briefe von ungefähr zwanzig fiktiven Personen, zu denen noch eine unbestimmte Anzahl von Autoren tritt, denen die Aphorismen der beiden Sammlungen angehören. Ebenfalls unbestimmt bleibt die Zahl der Schreiber, von denen Dokumente für die Zusammenfassungen durch den Herausgeber verwandt wurden […]. Alle Teile des Romans werden so in Eigenverantwortung der verschiedensten Personen erzählt, ohne eine übergeordnete auktoriale Verantwortung. Die einzelnen Perspektiven ergänzen sich, verstärken sich oder heben sich auf.“30

Das Prinzip der beschränkten Haftung – namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht die Meinung der Redaktion wieder – ermöglicht Distanz und erschwert massiv die Zuschreibung des ‚Werks‘ zu einem einheitlichen ‚Autorwillen‘. Der Kunstwert der Geschichten wird kontinuierlich durch den Informationswert interessant/langweilig ersetzt. Die „Fiktion des Abdrucks gleichberechtigter Archivblätter“ erlaubt es, „die Fäden bald so, bald anders [zu] ziehen, bald diese, bald jene Punkte [zu] verbinden“.31 Damit werden vielfältige Zugänge eröffnet, die nicht nur ein professionelles, sondern auch ein Laienpublikum ansprechen.

28 29 30 31

Neuhaus, Archivfiktion, S. 17. Vgl. Fink, Tagebuch, S. 29. Neuhaus, Archivfiktion, S. 25. Ebd., S. 26.

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Die sich nach 1800 rasch wandelnden Medienverhältnisse werden also im Roman selbst präzise reflektiert. Die kommentarlose Darstellung durch einen Redakteur, der explizite Bezug auf eine Leserin (Natalie), die scheinbare Unterwerfung unter die Publikumsgunst,32 die Kritik an der zeitgenössischen Schreibwut,33 die Auflockerung durch Novellen, die Erzeugung von Spannung durch Fortsetzungen – all dies verweist auf Leseerwartungen, die von der zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur erzeugt werden, welche, in periodischen Medien generiert, konsequent deren Gesetze reproduziert.34 Es überzeugt deshalb nicht, angesichts eines solchen gewagten Experiments von einem „esoterischen Stilwillen“ oder auch von einem „ironischen Versteckspiel“ auszugehen, das „einerseits den oberflächlichen, allein auf Handlung und Spannung erpichten Leser abwimmeln und den aufmerksamen Leser in die dem Roman anvertraute Problematik einweihen“ wolle.35 Vielmehr ist davon auszugehen, dass Goethe diese Trennung, die er zusehends für seinen nachlassenden Ruhm verantwortlich machte, aufzuheben versuchte, indem er durch vielfältige Zugänge ganz unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten erzeugen wollte: Das Publikum sollte Liebesgeschichten, Psychologie und Spannung finden, der professionelle Leser sich mit einer komplexen Struktur von Doppelungen und Spiegelungen befassen können und beide zusammen den Absatz und den Ruhm von Goethes Namen und Werk sichern. Die komplexe Romanstruktur, in der der Erzähler bald als „souveräner Arrangeur“ erscheint, bald der Text als Resultat „des intertextuellen Spiels des Zufalls“ oder aber als bloße Ausbreitung von gesammelten ‚Papieren‘, kann danach ebenso wie die Verschränkung von Textsorten – „eine Kunstkritik neben einer Industriereportage“36 – mit guten Gründen als Reflex auf die zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr zu ignorierende Existenzweise von Literatur in periodischen Printmedien interpretiert werden. Statt von einer (letztlich intentionalen) „Konstruktion des Ganzen“ auszugehen, der eine homogene Reflexion zugrunde liegt, lässt sich die Modernität des Romans dann als Effekt von Publikationsprakti32 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre [erste Fassung 1821], in: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 10, hg. v. Gerhard Neumann u. Hans-Georg Dewitz, Frankfurt/M. 1989, S. 433 und passim. 33 Ebd., S. 339. 34 So wenn der Redakteur auf die Gewohnheit des Publikums anspielt, „welches seit geraumer Zeit Gefallen findet, sich stückweise unterhalten zu lassen“. Ebd., S. 433. Entsprechend gestaltet Goethe besonders das Ende des Romans im Sinne eines Happyends, wenn beinahe krampfhaft für alle Singles noch Partner gefunden werden müssen. 35 Fink, Tagebuch, S. 54. 36 Goethe, Wanderjahre, Kommentar, S. 965ff.

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ken beschreiben, denen auch Goethe, bei allem guten Willen, sich nicht zu entziehen vermochte. Insofern erscheint es durchaus sinnvoll, den Roman mit den erzählerischen Experimenten Immermanns oder Gutzkows zu vergleichen, und, statt uniform seine exzeptionelle Modernität zu behaupten, vielmehr nach seiner Zeitgenossenschaft zu fragen.37 Die Wanderjahre waren keineswegs Goethes einziges Experiment mit den periodischen Medien, das an dessen Gesetzen (und nicht etwa an Altersschwäche oder böswilligen Fälschungen) scheiterte. Sein gesamtes Schaffen war nicht nur von Publikationen in Zeitschriften,38 sondern vor allem auch von eigenen Zeitschriftenprojekten geprägt. Damit reagierte er auf die Tatsache, dass Journale, Almanache und Kalender bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert einen maßgeblichen Faktor literarischer Kommunikation darstellten – zwischen 1766 und 1790 wurden allein ca. 2200 Zeitschriften gegründet.39 Goethes Engagement reichte von der konzeptionellen und praktischen Mitwirkung an Schillers Horen (17951797) über eine Vielzahl dezidierter Journaltexte bis zu seinen eigenen Projekten: den Propyläen (1798-1800) und Ueber Kunst und Alterthum (1816-1832). Vor allem in den 1790er Jahren überwog die kritische Auseinandersetzung mit ‚Zerstreuung‘ und ‚Nivellierung‘, welche zusehends die eigenen literarisch-ästhetischen Bemühungen untergruben. Die Zeitschriftenprojekte wurden ostentativ als Antidot gegen diese Tendenzen ins Leben gerufen und sollten der Formierung und Verbreitung einer autonomen Ästhetik dienen. „Angesichts des hohen Stellenwerts der Zeitschrift im öffentlich-literarischen Diskurs lag es auf der Hand, Prinzipien der klassischen Autonomieästhetik nicht nur im ‚kritischen‘ Rezensionsjournal, sondern auch und vor allem in einem Periodicum mit literarischen Originalbeiträgen und theoretisch reflektierenden Essays vorzutragen.“40 Dabei verfolgte Goethe verschiedene Ziele: zum einen natürlich die schnelle Vorab-Publikation eigener Texte und ihre Lancierung durch Rezensionen, dann die Verbreitung des eigenen ästhetischen Programms in theoretischen Beiträgen und schließlich einen möglichst engen Kontakt zum Publikum, das durch unterhaltende ‚Artigkeiten‘ – oft 37 Vgl. dazu Waltraud Maierhofer: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ und der Roman des Nebeneinander, Bielefeld 1990. 38 Vgl. Siegfried Seifert: Goethe und die Kulturvermittlung durch Journale, in: Klaus Manger (Hg.), Goethe und die Weltkultur, Heidelberg 2003, S. 101-157, hier: S. 103; vgl. auch Siegfried Seifert: Eintrag „Zeitschriften“, in: Goethe Handbuch Bd. 4/2, hg. v. Hans-Dietrich Dahnke u. Regine Otto, Stuttgart, Weimar 1998, S. 1209-1213. 39 Vgl. Seifert, Kulturvermittlung, S. 105. 40 Ebd., S. 107f.

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aus der Feder von Frauen – bei Laune gehalten werden sollte. Variabilität und Flexibilität der periodischen Formate schienen dem Programm einer Erziehung zur Wahrheit durch Kunst durchaus nicht zu widersprechen, und die zügige und relativ weite Verbreitung war zur Universalisierung des eigenen Literaturmodells unverzichtbar. Doch auch dabei war er ständig bemüht, die Distinktion zu wahren. Populären Zeitschriften wie Friedrich Justin Bertuchs Journal des Luxus und der Moden (1786ff.), die „vordergründig und oberflächlich dem Geschmack des Massenpublikums huldigten und wie die seichten Trivialromane der bloßen substanzlosen Unterhaltung dienten“,41 wurden heftig befehdet. Das paradoxe Anliegen, mit einem esoterischen Literaturprogramm ein breites Publikum zu gewinnen, wurde denn auch nicht honoriert, keines der Projekte war letztlich auf dem Markt erfolgreich. Dagegen halfen auch die halbherzigen Versuche nicht, Unterhaltung und Zerstreuung als notwendige Übel zu integrieren bzw. durch Unterscheidungen nochmals so zu differenzieren, dass jeweils eine annehmbare Seite übrig blieb. In diesem Sinne versuchte Goethe seinem Verleger Cotta die Propyläen zu empfehlen: „Ohne daß es eine Zeitschrift würde näherte man das Werk einer so beliebten und der Zerstreuung des Publikums gemäßen Art.“42 Die Unentschiedenheit offenbart sich in dieser Äußerung wie schon bei den Wanderjahren: Was er selbst gerne als ‚Werk‘ definieren und vom Zeitschriftentypus abgrenzen will, muss dennoch als echtes Periodikum bezeichnet werden, da es „neben einer entsprechenden formalen Erscheinungsweise und Titelblattgestaltung“ auch die beiden wichtigsten Kriterien einer Zeitschrift erfüllt: „die komplexe inhaltliche Vielfalt“ sowie die „diskursive Aktualität und das Reagieren auf reale oder angenommene Publikums- und Lektürewünsche.“43 Ganz unverwechselbar tritt das Format des kulturell-literarischen Journals in Goethes nachgelassenen Bemerkungen zu seinem Projekt Ueber Kunst und Alterthum hervor: „Tägliche Bemerkungen, Briefe, Aufsätze, alles wechselt mit einander ab und bildet so ein buntes, wunderliches, sehr verschiedenartiges Ganzes. Auch kleine Gedichte stehen am gehörigen Ort und scheinen hier erst ihre volle Bedeutung zu gewinnen.“44 Die Zugeständnisse an Varietät und 41 Ebd., S. 113. 42 Goethe an Cotta, Brief v. 27.5.1798, in: Sämtliche Werke, Abt. II, Bd. 4: Goethe mit Schiller I, 1794-1799, hg. v. Volker C. Dörr u. Norbert Oellers, Frankfurt/M. 1998, S. 548. 43 Seifert, Kulturvermittlung, S. 117. 44 Johann Wolfgang Goethe: Sicherung meines literarischen Nachlasses und Vorbereitung zu einer echten vollständigen Ausgabe meiner Werke, in: Goethes Werke, Abt. II, Bd. 41.2, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1903, S. 89-92, hier: S. 92.

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‚Zeitgeist‘ werden im Laufe der Zeit und mit zunehmendem Leserschwund größer und überschreiten längst die Schmerzgrenze – doch das Kalkül geht nicht auf. Nur Cottas finanziellem Einsatz ist es zu verdanken, dass die Propyläen überhaupt drei Jahrgänge überstehen.45 Das zwiespältige Verhältnis des klassischen Kunstverständnisses zu Massenmedien, Publikum und Unterhaltung verhandelt Goethe paradigmatisch im ersten Teil des Faust, jenem Drama, dem Goethe im 19. Jahrhundert seine Karriere als Dichterfürst wesentlich verdankt und das zugleich das Problem genialer Autorschaft selbst ins Zentrum rückt. Im „Vorspiel auf dem Theater“46 wird die höchst prekäre Konstellation literarischen Lesens und Schreibens um 1800 nicht nur vorgestellt, das Drama bietet zugleich eine durchaus verblüffende Lösung an. Zunächst charakterisiert der Direktor das Publikum bzw. sein Verhältnis zu diesem in medientheoretischen Kategorien: Dieses erwarte zwar nicht das Beste, aber unbedingt Neues, und das unter der Voraussetzung, dass es „schrecklich viel gelesen“ habe, kurz es erwarte etwas, das „mit Bedeutung auch gefällig sei“ (F 15). Das Publikum erscheint ziemlich anspruchsvoll, die Neuheit soll auch sinnhaft entziffert werden können. Ebenso hat es hohe Ansprüche an eine spannende und effektreiche Handlung, die entsprechende affektive Wirkungen hervorruft. Der so geforderte Dichter verteidigt gegen dieses Ansinnen seine davon angegriffene Dichterehre: „O sprich mir nicht von jener bunten Menge, / Bei deren Anblick uns der Geist entflieht. […] Was glänzt, ist für den Augenblick geboren, / Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren.“ (F 15f.) Geniale Autorschaft, die sich tief und schüchtern zum echten, d.h. nachhaltigen Werk durchringt, setzt er mit schlafwandlerischer Sicherheit den Unter-

45 Hendrik Birus geht in Bezug auf Goethes Medienexperiment Ueber Kunst und Alterthum, in dem die Reproduktion der Kunstwerke und mithin der Verlust ihrer ‚Aura‘ die Voraussetzung des gesamten Projekts bildet, nicht von einem Scheitern, sondern von einer souveränen Distanzierung zur „Metaphysik der Präsenz“ aus: „Offenbar hat dieser Entzug des Hier und Jetzt Goethe keineswegs erschreckt, wie ja auch seine zukunftsweisende Idee der Weltliteratur den Begriff des autonomen ‚Werks‘ hinter Begriffe wie ‚Wechseltausch‘, ‚Kommunikation‘ und ‚Übersetzung‘ zurücktreten läßt.“ Hendrik Birus: Der Entzug des Hier und Jetzt. Goethes „Ueber Kunst und Alterthum“ an der Schwelle zum Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, in: Jürgen Fohrmann/Andrea Schütte/Wilhelm Voßkamp (Hg.), Medien der Präsenz: Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Köln 2001, S. 11-25, hier: S. 23. 46 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie, in: Sämtliche Schriften, Abt. I, Bd. 7.1, hg. v. Albrecht Schöne, Frankfurt/M. 1994, S. 15-21 (im Text mit Sigle F und Seitenzahl).

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haltungsbedürfnissen des Augenblicks entgegen, dem ein „putzsüchtiges“ – mithin weibliches – Publikum frönt. Doch der Dichter behält entgegen der Erwartung nicht das letzte Wort. Mit der „lustigen Person“ erhält das Publikum, das sich für die Nachwelt wenig, für den „Spaß“ der Mitwelt umso mehr interessiert, eine Stimme. Letztlich entscheidet es nämlich allein: „Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen, / ein jeder sucht sich endlich selbst was aus.“ (F 16f.) Das Angebot muss mannigfaltig sein, damit die divergierenden Bedürfnisse dieser ‚Masse‘ vereinzelter Einzelner befriedigt werden können. Und um dieses Publikum nicht zu überfordern, werden die Schnitte des Vorabdrucks auf die Pausen zwischen den Akten des Dramas projiziert: „Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! […] Was hilft’s, wenn Ihr ein Ganzes dargebracht, / Das Publikum wird es Euch doch zerpflücken.“ (F 17) Nicht kritisches Räsonnement und Kontemplation, sondern Zerstreuung und Neugier charakterisieren das in Portionen konsumierende Publikum. Der Widerstand des Dichters gegen diese Bedingungen seines Schaffens wird letztlich vom ökonomischen Argument sowie vom versprochenen Ruhm (der allerdings keine Lorbeeren mehr beinhaltet) gebrochen, denn das folgende Drama entspricht vollkommen den Vorstellungen des Theaterdirektors – die Neugier des Publikums, seine Erwartung an theatralische Effekte und eine spannende, unterhaltende Handlung werden von der Teufelsbundgeschichte wie auch von der Liebesgeschichte, die tatsächlich den ganzen Kreis „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ ausschreiten (F 21), geradezu vorbildhaft befriedigt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die periodischen Medien im Zeitalter des Buches omnipräsent sind und in die Literaturpolitik der Klassiker einbezogen werden.47 Ihre Attraktivität verdanken sie dem hohen Verbreitungsgrad sowie ihrer Variabilität und Flexibilität. Sie erlauben kurzfristige Reaktionen und zugleich Wiederholung. Ihr Publikum folgt nicht mehr den Vorgaben des Literatursystems, wo sich liebende Leserinnen und gebildete Eingeweihte schreibend und räsonierend als Bestandteil eines gemeinsamen Raumes verstehen, in dem sich Autoren und Werke spiegeln, sondern es nutzt die Freiheiten, die in der Anonymität massenmedialer Kommunikation liegen. Gegen die Strategien der Aufhebung von Anonymität durch das Literatursystem setzt sich die Of-

47 Auf die Medienpolitik der Romantiker, die noch um einiges offensiver auf die Massenmedien reagierte und mit ihnen interagierte, kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Youn Sin Kim: Als die Lumpen Flügel bekamen. Frühromantik im Zeitalter des Buchdrucks, Würzburg 2004.

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fenheit der periodischen Medien durch, die für normative Konzepte der Distinktionsgewinnung wie auch für die Annoncierung von ‚Werken‘ untauglich sind. Die Werkherrschaft, die ans Medium Buch gebunden ist, wird also bereits Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Gesetze der periodischen Medien massiv in Frage gestellt. Während aus der Sicht der ‚klassischen‘ Autoren die Erfüllung von LITERATUR in die Zukunft verschoben werden muss, sofern sie ohne adäquates Publikum auskommen müssen, sind die programmatischen Realisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezwungen, ohne ‚Werke‘ auszukommen und ihr Literatursystem ohne Kommunikationsmedium zu prozessieren.

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IV. D I L E T T A N T I S M U S

MÄNNLICH/WEIBLICH

1. Johann Peter Eckermanns Goethe „Dies ist mein Goethe.“1

Die geschlechtliche Codierung von Schreiben und Lesen, die sich paradigmatisch um den Autor Goethe und sein Werk rankt, hat weit reichende Folgen für das Literatursystem, insofern die eine Seite des Codes – die LITERATUR – nur sehr spärlich besetzt ist und alles andere als weiblich der gegenüberliegenden Seite zugeordnet werden muss. Eine Möglichkeit, sich mit dem Namen Goethe ‚parasitär‘ zu verbinden und damit, wenn nicht LITERATUR zu produzieren, so doch über eine solche Allianz den eigenen Nachruhm zu sichern, hatte schon der Pfarrer aus Lemgo vorgeführt. Doch es gibt andere interessante Versuche, die sich nicht einfach jenseits der LITERATUR ansiedeln lassen, sondern über die Verbindung mit dem Autornamen Goethe deren Paradigmen erschüttern. Einen der bekanntesten machte der langjährige Sekretär Johann Peter Eckermann mit seinen das Goethebild des 19. Jahrhunderts maßgeblich prägenden Gesprächen. Wie mit Pustkuchens Wanderjahren die Differenz von Original und Fälschung, so rückt mit der ambivalenten Existenzweise dieses Textes die mediale Differenz zwischen mündlichem Gespräch und gedrucktem Buch in den Blick, deren geschlechtliche Codierung Friedrich Schlegel schon 1799 „An Dorothea“ programmatisch festlegte: „Ich komme nun mein Versprechen zu halten; nicht eben um mich als einen Mann von Worte zu zeigen, sondern einzig und allein weil ich Lust dazu habe, wäre es auch nur um eine so entschiedene Verächterin alles Schreibens und Buchstabenwesens mit meiner Liebhaberei für diese Dinge zu necken. Dir wäre ein Gespräch vielleicht lieber. Aber ich bin nun einmal ganz und gar ein Autor. Die Schrift hat für mich ich weiß nicht welchen geheimen Zauber vielleicht durch die Dämmerung von Ewigkeit, welche sie umschwebt […]. Die stillen 1

Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Christoph Michel, Frankfurt/M. 1999, S. 750 (im Text mit Sigle GG und Seitenzahl).

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DILETTANTISMUS MÄNNLICH/WEIBLICH

Züge [der Schrift, M.G.] scheinen mir eine schicklichere Hülle für diese tiefsten, unmittelbarsten Äußerungen des Geistes als das Geräusch der Lippen.“2

Damit resümiert Schlegel einen Prozess, der mit der Durchsetzung der klassisch-romantischen Autonomieästhetik ein zentrales Paradigma abendländischer Kultur umwertet. Während von der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein die Stimme als Trägerin der mündlichen Rede deutlichen Vorrang vor deren Mortifizierung als Schrift hatte, und die Schrift zumindest – das bezeugt die beherrschende Stellung der Rhetorik im europäischen Bildungs- und Wissenschaftssystem – sich an Rede zu bilden und also Mündlichkeit zu simulieren hatte, wird bei Schlegel das mündliche Gespräch gegenüber der ‚Schrift‘ des Autors deutlich degradiert. Die Gründe dafür sind bekannt: Nicht nur geht „jene Schlüsselrolle, die für die Kommunikationseliten des 16. und 17. Jahrhunderts die Rhetorik besessen hatte, in der Aufklärung an die Presse über.“3 Auch verschiebt sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts „die Aufmerksamkeit von der Funktion Autor als Diskurseffekt“ auf die „Verankerung dieses Diskurseffekts in einem konkreten Individuum“,4 und nur die konservierbare Schrift erlaubt kommunikative Anschlüsse über den Tod des Autors hinaus. „Der Gegensatz zwischen der Flächigkeit des Textes und der Zeitlichkeit des Tons demonstriert die Umwandlung der ‚lebendigen‘ Rede in das ‚tote‘ Material des Speichermediums, die zugleich als Voraussetzung dafür erscheint, daß die Kommunikation zeitlich und räumlich verscho2

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Friedrich Schlegel: Über die Philosophie. An Dorothea [1799], in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. I, Bd. 8, hg. v. Ernst Behler u. Ursula Struc-Oppenberg, Sonderausgabe Darmstadt 1975, S. 41-62, hier: S. 42. In einem Brief an seine Schwägerin Caroline Schlegel vom 12. Dezember 1797 dekretierte er ähnlich: „Sie können wohl Fragmente sprechen und auch in Briefen schreiben: aber sie sind immer gerade nur in dem, was ganz individuell und also für unsern Zweck nicht brauchbar [ist]. […] Seyn Sie also ja vorsichtig bey der Wahl der Form, und bedenken Sie, daß Briefe und Recensionen Formen sind, die Sie ganz in der Gewalt [haben].“ Friedrich Schlegel: Briefe von und an Friedrich Schlegel und Dorothea Schlegel, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. III, Bd. 24: Die Periode des Athenäums 25. Juli 1797-Ende August 1799, eingel., komm. u. hg. v. Raymond Immerwahr, Paderborn u.a. 1985, S. 60. Gisbert Ter-Nedden: Das Ende der Rhetorik und der Aufstieg der Publizistik. Ein Beitrag zur Mediengeschichte der Aufklärung, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Kultur und Alltag, Göttingen 1988, S. 171-190, hier: S. 176. Birgit Wagner: Briefe und Autorschaft. Suor Maria Celestes Briefe aus dem Kloster, in: Christa Hämmerle/Edith Saurer (Hg.), Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute, Wien u.a. 2003, S. 71-82, hier: S. 78.

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JOHANN PETER ECKERMANNS GOETHE

ben wieder aufgenommen werden kann.“5 Während die spatiale Erscheinung des schriftlichen Textes ‚Ewigkeit‘ verspricht, bleibt das Gespräch in präphonographischen Zeiten durch seine Gegenwärtigkeit ephemer, es verflüchtigt sich und ist mithin nicht geeignet, Autorschaft zu gewährleisten, die wiederum, folgt man den Anweisungen Schlegels, mit Apotheose einhergeht. Schreiben im Geiste klassisch-romantischer Ästhetik bedeutet nämlich, „die Gedanken der Gottheit mit dem Griffel des bildenden Geistes in die Tafeln der Natur zu graben“, und Lektüre erscheint als Gottesdienst, in dem das geschriebene Wort heilig gehalten wird, wozu offenbar besonders Frauen wegen ihrer verdächtigen Lektüren angewiesen werden müssen.6 Unverhohlen werden im Zuge dieser Sakralisierung moderner Autorschaft Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis mit der Geschlechterdifferenz verwoben: „Denn wo einmal Weiblichkeit vorhanden ist, gibts wohl keinen Augenblick, in dem sie nicht die Besitzerin an ihr Dasein erinnert.“7 Der männliche Autor übersetzt dieses lebendige weibliche Körpergedächtnis in zwar tote, dafür aber ewige und geordnete Schrift. Durch diese Suprematie ist ein Verhältnis fixiert, das für die Kommunikation in und über LITERATUR zentral ist, bleibt doch das Literatursystem 1800 stets auf eine wie auch immer phantasmatische Mündlichkeit verwiesen, ebenso wie der Autor auf die liebende Leserin. Ich möchte im Folgenden den Konsequenzen nachgehen, die sich ergeben, sobald das Verhältnis umgekehrt wird und die mündliche Rede vom Autor stammt, die von einem liebenden Verehrer verschriftlicht wird mit der erklärten Absicht, über diesen Akt den eigenen Namen mit einem ‚Werk‘ zu verbinden. Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass die Beziehung zwischen Eckermann und Goethe von Anfang an von einem grundlegenden Missverständnis geprägt war: Während der weitgehend unbekannte Eckermann einen Weg suchte, ein erfolgreicher, mithin namhafter Autor zu werden, fand Goethe in diesem Namenlosen einen Sekretär, der durch seine unentgeltliche und überaus kompetente Arbeit als Lektor und Herausgeber seinen Ruhm erheblich zu befördern versprach. Das einseitige Verhältnis war von vornherein beschlossen. So verfügte Goethe nach dem ersten Besuch über Eckermann: „Da er keine weitere Bestimmung

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Horst Wenzel: Die ‚fließende‘ Rede und der ‚gefrorene‘ Text. Metaphern der Medialität, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1997, S. 481503, hier: S. 495. Schlegel, Über die Philosophie, S. 42. Ebd., S. 41.

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hat, so will ich ihn nach Jena einleiten und ihm dort einige Pakete abzudruckender Schriften zum Redigieren und Korrigieren geben. Nach dem Werke, das er mir geschickt hat, scheint er hiezu völlig geeignet. Da er sich an meinen Sachen heranbildete, so wird es keine Schwierigkeit haben, mit ihm sich zu verständigen.“8 Goethe taktierte in seinem Anliegen, Eckermann unlösbar an sich und das eigene Werk zu binden, sehr geschickt, indem er dessen Begehren nach Autorschaft scheinbar unterstützte: „Sie werden Muße und Gelegenheit finden in der Zeit für sich selbst manches Neue zu schreiben und nebenbei auch meine Zwecke zu befördern.“ (GG 43) Die Verheißung, Eckermanns „ferneres Glück als Autor“ (GG 45) zu beschleunigen, enthielt dabei nicht nur die Vermittlung wichtiger Beziehungen, sondern vor allem anderen diejenige von Bildung, deren Mangel Eckermann auf Schritt und Tritt zu spüren bekam. Doch letztlich ging es darum, das Begehren nach Autorschaft des anderen immer weiter zu verschieben und, wo nötig, zu blockieren, damit dessen Arbeit am eigenen Nachruhm nur nicht litt.9 Gezielt rät Goethe ihm von größeren Projekten ab, die ihn zu sehr „vom Leben“ ablenken würden: „Machen Sie vor der Hand, wie gesagt, immer nur kleine Gegenstände, immer alles frisch weg was sich Ihnen täglich darbietet, so werden Sie in der Regel immer etwas Gutes leisten und jeder Tag wird Ihnen Freude bringen. Geben Sie es zunächst in die Taschenbücher, in die Zeitschriften; aber fügen Sie sich nie fremden Anforderungen, sondern machen Sie es immer nach Ihrem eigenen Sinn. Die Welt ist so groß und reich und das Leben so mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt.“ (GG 50)

Goethe argumentiert an dieser Stelle mit einer Doppelbödigkeit, die Eckermann missverstehen muss. Denn selbstverständlich betrachtet Goethe Eckermann nicht als Dichter, der Wirklichkeit in Kunst verwandeln

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Goethe an Christoph Ludwig Friedrich Schultz, Brief v. 11.6.1823, zit. n. Heinz Schlaffer: Einführung, in: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Heinz Schlaffer, München, Wien 1986, S. 701-729, hier: S. 710. Im April 1824 wird Eckermann – ironischerweise – mit der Ordnung und Überarbeitung der Papiere über den Dilettantismus beauftragt. Vgl. Reiner Schlichting (Hg.): Johann Peter Eckermann. Leben im Spannungsfeld Goethes, hg. im Auftrage der Stiftung Weimarer Klassik vom Goethe Nationalmuseum, Weimar 1992, S. 173.

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kann. Gelegenheiten werden nur unter der Hand des wahren Dichters zu Geniestreichen; unter der Hand des Dilettanten bleiben sie freilich, was sie sind. Neben derlei „Ratschlägen“, die eigene künstlerische Arbeit betreffend, verhindert Goethe aber auch alle Schritte in die ökonomische Unabhängigkeit, wenn er etwa dringend vom lukrativen Angebot eines englischen Journals abrät, da dieses eine ernstzunehmende Konkurrenz zur Arbeit am Meister-Autor darstellte.10 Eckermann soll vielmehr nur erledigen, wozu er (von Goethe) auserkoren ist: die Briefedition und die Werkausgabe vorantreiben, und nicht zuletzt für den Meister lesen! Während Goethe den Sekretär vollständig in die Arbeit am eigenen Werk einspannt, vertröstet er diesen bezüglich der Publikation der Gespräche immer aufs Neue, bis er schließlich verfügt, dass Eckermanns Buch erst nach seinem Tod erscheinen dürfe. Die Grundlagen dieses Bündnisses bringt die Verlobte Eckermanns, Johanne Bertram, in einem Brief präzise auf den Punkt: „Ich höre, daß G. sehr thätig ist und Du fleißig mit einwirkst, wie steht’s nun aber mit Deinen Conversationen, woran auch G. Theil nehmen wollte und Ihr nicht eher aufhören wolltet, bis alles im Reinen wäre!? ich ärgere mich immer, wenn Du sagst, daß Du sehr glücklich bist, indem Du an G. Arbeit Theil nimmst, froh bin ich, wenn Du an Deinen eigenen Werken etwas schaffst, hierüber haben wir ja vielfältig gesprochen und Du warst ja selbst hier unglücklich darüber, nichts eigenes produciren zu können.“11

Die Umkehrung des Verhältnisses ist Eckermann bekanntlich nicht gelungen: Während er akribisch an Goethes Ruhm arbeitete, hielt dieser ihn auf sicherer Distanz und dachte gar nicht daran, sich selbst zum Mitarbeiter an einem fremden Werk machen zu lassen. Seit 1825 verfolgte Eckermann den Plan, seine ‚Unterhaltungen‘ mit Goethe zu veröffentlichen, d.h. er nahm seine Begegnungen mit diesem bereits unter dem Publikationsaspekt wahr und betrachtete mithin die Gespräche gattungsförmig. Das Gespräch siedelt im Bereich der „SemiOralität“12 und ist – nach den Regeln der Autonomieästhetik – nicht lite-

10 Vgl. Leo Kreuzer: Inszenierung einer Abhängigkeit. Johann Peter Eckermanns Leben für Goethe, in: Ders., Mein Gott Goethe. Essays, Reinbek 1980, S. 125-142, hier: S. 136. 11 Johanne Bertram an Eckermann, Brief v. 3.12.1830, zit. n. GG, Kommentar, S. 936. 12 „Damit sind solche Aktivitäten gemeint, die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit liegen, z.B. Protokoll oder Vorlesen.“ Brigitte SchliebenLange: Promiscue legere und lecture publique, in: Paul Goetsch (Hg.), Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewer-

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raturfähig. Um diese Regeln zu erfüllen, bedarf es vielfältiger Prozeduren und vor allem eines Namens, der LITERATUR verspricht. Aufschluss über diese Verfahren, die Eckermann nicht mit seinem Namen verbinden konnte, gibt die Rezeption der nach Goethes Tod endlich publizierten Gespräche: Der Übergang von Goethes mündlicher Rede in Eckermanns Schrift wirkt als verlustlose Transformation eines schon fast übermenschlichen Gedächtnisses. Der Medienwechsel, der einen Namenswechsel einschließt, wird retouchiert und ignoriert. Die Gespräche erscheinen als Übersetzung ‚eins zu eins‘, und das, obwohl Eckermann verzweifelt versuchte, seinen Zeitgenossen das Buch als sein ‚Werk‘ zu präsentieren: „Was nun ferner die Auffassung und Darstellung dieser Gespräche betrifft, so kann ich das Buch in dem Grade mein nennen, wie nur irgend ein Autor es von dem seinigen sagen kann. Es war dabei wohl theilweise das Was gegeben aber nicht das Wie. Und auch das Was mußte ich gewissermaßen bereits besitzen, um es zu penetriren und mit der gehörigen Wahrheit des Details wiedergeben zu können. Manche haben zwar geglaubt meine Produktion sei ein bloßes Werk eines guten Gedächtnisses, das maschinenmäßig die empfangenen Eindrücke zurückspiegelt.“13

Als lebender Phonograph und Goethes Verlängerung im technischen Medium wollte Eckermann keinesfalls gelten, vielmehr beharrte er auf seinem Traum, sich „zu einer literarischen Produktion von einiger Bedeutung zusammenzunehmen“ (GG 32), die nur äußerliche Anlässe benötigt, um dann ganz aus sich selbst heraus zu gestalten. Dass Eckermann aber Literatur produzierte, in der Goethe nur den Helden spielte, wollte kaum jemand wissen. Die Fehllektüre, die Eckermann trotz aller Beteuerungen nicht verhindern konnte, basiert auf einem grundsätzlichen Missverständnis gegenüber der Mediendifferenz, die sich gerade nicht auf eine phonographische Reproduktion reduzieren lässt,14 sondern die die Form des schriftlichen Textes und seine Effekte in den Vordergrund rückt. „The objectifying, controlling power of the written medium, while taking the life out of spoken language, can freeze oral

tung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, S. 183-194, hier: S. 183. 13 Eckermann an Heinrich Laube, Brief v. 5.3.1844, zit. n. GG, Kommentar, S. 918. 14 Zum Problem aufgezeichneter Rede am Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Kap. VI. 3.

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forms and preserve them in fossilized profiles.“15 Die Unterstellung, der ergebene Sekretär habe als Chronist die Worte des Meisters nur aufgezeichnet, übersieht eben diesen Effekt der Stillstellung und Konservierung, der im Übergang von der mündlichen Rede in den schriftlichen Text statthat. Und selbstverständlich sind bei aller Mimikry diese Effekte auch in Eckermanns Text allenthalben nachweisbar. Die gesamte Konstruktion ‚Goethe‘ hängt von einer einzigen Operation ab, die Eckermann in seinem Text meisterhaft beherrscht – das flüchtig gesprochene Wort in ewige Wahrheit zu überführen, also das zu tun, was Goethe allein einem Autor von Werken zuspricht, denn das „lineare gesprochene Wort ist vergänglich, kaum ausgesprochen, schon verklungen. Die Schrifttexte sind dauerhaft, was neue Möglichkeiten für Produktion und Rezeption bietet.“16 Aber offenbar galt das, was Schlegel über die Verteilung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf die Geschlechter festzuschreiben suchte, für den Meister-Autor nicht: Fast wie das göttliche Wort erscheint dasjenige Goethes als ‚Gesetz‘ – die Rezeption hat aus den Gesprächen vor allem kunsttheoretische Überlegungen isoliert – und insofern schon immer kodifiziert. Der mediale Übergang vom Gespräch zum Buch wird getilgt und das Wort des Dichters wie ein Werk behandelt, das wie Dichtung und Wahrheit zugleich vom „ächten, wahren Goethe“17 stammt und über diesen handelt. Dass es dasjenige eines anderen ist, bleibt Eckermanns historisches Pech, das er sich durchaus selbst zuzuschreiben hat. Zu perfekt gerät sein mimetisches Vermögen, sich den Duktus und das Sprechgebaren des anderen anzuverwandeln, sich in dessen „(lässige) Gesprächs-Idiomatik und -Syntax“ einzuüben und zugleich dessen Altersstil bis ins Detail zu kopieren. Die cholerischen Ausfälle und idiosynkratischen Exzesse, von denen andere Zeitgenossen zu berichten wissen und die den hagiographischen Zweck stören würden, sind aus Eckermanns Bild säuberlich entfernt. An der Überhöhung „des wirklichen zum bedeutsamen Dasein durfte Eckermann ganz im Sinne des Porträtierten weiterwirken.“18 Schließlich erweist sich auch sein Plan, die Gespräche als letzten Band der „Ausgabe letzter Hand“ in das Werk Goethes einzufädeln und sich damit dem großen Autornamen auf ewig zu verbinden, im Resultat als zweideutig, wurde doch

15 Werner H. Kelber: The Oral and the Written Gospel. The Hermeneutics of Speaking and Writing in the Synoptic Tradition, Philadelphia 1983, S. 44. 16 Schlieben-Lange, Promiscue legere und lecture publique, S. 185. 17 Karl August Varnhagen von Ense an Eckermann, Brief v. 20.5.1836, zit. n. GG, Kommentar, S. 969. 18 Schlaffer, Einführung, S. 723.

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das Buch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein konsequent als Werk Goethes gelesen. Wie komplex aber tatsächlich das künstlerische Aufschreibeverfahren ist, das mit mechanischer Reproduktion aus dem Gedächtnis nichts zu tun hat, lässt sich retrospektiv nicht nur an den zahlreichen Selbstaussagen zeigen, sondern an der schlichten Tatsache, dass zwischen den Gesprächen und deren Verschriftlichung zum Teil viele Jahre lagen – der dritte Band erschien erst 14 Jahre nach Goethes Tod – und dass zugleich von den jeweiligen Gesprächen oft nur wenige Notizen vorhanden waren. Eckermann selbst betonte die Notwendigkeit der Distanz, aus der heraus sich erst Gespräch in Text verwandeln ließ – eine unmittelbare Aufzeichnung wurde zu keinem Zeitpunkt auch nur angestrebt. Aus wenigen, teilweise sogar fremden Skizzen verfertigte Eckermann sein monumentales Goethe-Bild, wobei er sich „fast in dem Falle eines Bildhauers [sah], dem man etwa von einer antiken Statue ein Stück der linken Hand und des rechten Schenkels vorlegt, um daraus die ganze Statue herzustellen.“19 Die Gespräche sollten gerade keiner „Sekretärspoetik“20 folgen, sondern dem klassischen Kunstprogramm, mit dem Ziel eines Kunstwerks vom Format einer antiken Skulptur. Insofern beschreibt sich Eckermann selbst zu Recht als Opfer seines mimetischen Geschicks: „Ich stellte mir die Aufgabe, alle Kunst zu verbergen und bloß den reinen Eindruck eines Naturwerkes hervorzubringen. Dieß ist mir denn auch in dem Grade gelungen, daß man das Werk an sich hochschätzte, allein den sich zurückhaltenden Autor völlig übersah, ja oft sogar mit einer gewissen Geringschätzung auf ihn herabblickte. Man erzeigte zwar dem Buch die Ehre, es für eines der besten unsrer Literatur zu halten, allein den Autor rechnete man nicht mit unter die deutschen Schriftsteller.“21

Die Kunst zugunsten des schönen Scheins eines ‚Naturwerks‘ zu verbergen, entspräche durchaus dem Programm autonomer Ästhetik. Jedoch liefert Eckermann bereits in seinen Beyträgen zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe von 1824 eine höchst eigenwillige Reformulierung, die in eine andere Richtung weist. Gegen die für die Klassik konstitutive Opposition von Nachahmung und Originalität situiert Eckermann nämlich den Ursprung der Kunst im ‚subjektiven Geist‘, der über alle

19 Eckermann an Heinrich Laube, Brief v. 5.3.1844, zit. n. GG, Kommentar, S. 918f. 20 Zum Begriff vgl. das Vorwort zu Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.): Europa. Kultur der Sekretäre, Zürich, Berlin 2003, S. 7-9, hier: S. 8. 21 Eckermann an Heinrich Laube, Brief v. 5.3.1844, zit. n. GG, Kommentar, S. 919 (Hervorhebung im Original).

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Nachahmung erhaben sei, weil er allein dem Selbst des Dichters entspringen könne. „Ob nun dies geschieht unmittelbar, oder durch irgend eine Berührung mit dem Leben oder mit einem andern Geist, ist völlig gleich.“22 Damit handelt nicht nur Goethe nicht als Nachahmer (etwa des Hafis im West-östlichen Divan), auch Eckermann, der einen solchen Geist selbstverständlich für sich beansprucht, kann, bloß weil er sich mit einem anderen Geist berührt, kein solcher sein. Und wie überlieferte Stoffe durch den Geist belebt, beseelt und mithin neu und originell wirken, so macht es in Bezug auf die Formen schon gar keinen Sinn, dass „jeder wieder auf eigenem Wege herumsuchen und herumtappen wollte, um das zu finden, was schon in großer Vollkommenheit vorhanden ist. Die Form wird überliefert, gelernt, nachgebildet […].“23 Das Kunstideal Eckermanns orientiert sich am „genießenden Leser“, der sich für den Stoff interessiert, dessen Form deshalb dieses Interesse nicht stören darf. Indem Eckermann hier den nachklassischen Goethe gegen den Vorwurf der Nachahmung verteidigt, stellt er zugleich sein eigenes Projekt einer anspruchsvollen Unterhaltung – nicht mehr und nicht weniger bieten die Gespräche – in das Licht Goethescher Originalität. Doch die Entzifferung des Textgebildes als Werk Eckermanns wurde dadurch nicht leichter, auch deshalb, weil die Form, der Dialog, der eine Spannung zwischen den Sprechenden sowie eine ständige Modifizierung ihrer Rollen vorsieht,24 monologisch verkürzt erscheint: Der eine gibt praktisch bloß die Stichworte für die Ausführungen des anderen, die Rollen sind von vornherein fixiert und werden nicht angetastet. Eckermann verschwindet hinter seinem Gesprächspartner, der dann auch für die Nachwelt die Gespräche signieren darf. Es zeigt sich, dass Eckermann die Ungleichzeitigkeit unterschätzt, die in der Moderne zwischen dem Schreiben eines Textes und dessen Lektüre liegt, dass sein schriftlicher Text, anders als im homogenen Raum der Rhetorik, zwei völlig unterschiedlichen Situationen angehört, die beide kontrolliert werden müssen, damit Autorschaft gelingen kann.25 Was Eckermann durchaus als Poesie

22 Johann Peter Eckermann: Beyträge zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe [1824], in: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland, Teil I: 1773-1832, München 1975, S. 358-363, hier: S. 358. 23 Ebd., S. 359; vgl. auch ebd., S. 360. 24 Vgl. Otto F. Best: Der Dialog, in: Klaus Weißengerber (Hg.), Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa, Tübingen 1985, S. 89-104, hier: S. 90. 25 Vgl. Heinrich Bosse: Der Autor als abwesender Redner, in: Goetsch (Hg.), Lesen und Schreiben, S. 277-290, hier: S. 281.

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begreift, insofern es nicht Rede, sondern „Mimesis der Rede“26 ist, die das Ereignis von Stimme und Gebärde konsequent durch verkettete Schriftzeichen ersetzt, wird von den Zeitgenossen und lange danach auf Sprechakte des Genies Goethe reduziert. Der Redende wird selbst zum ‚Werk‘, während derjenige, der diese Rede schreibt, daraus verschwindet. Gerade dies zeitigt aber den paradoxen Effekt unumstößlicher Legitimität und Wahrheit angesichts einer mehr als zweifelhaften Überlieferung. Indem Eckermann mit „Goethe sagt …“ immer nur diesen zu zitieren scheint, immunisiert er sein Werk auch gegen philologische Kritik, die nun einmal gegen Meister-Zitate nichts auszurichten vermag.27 Am Fall Eckermann lässt sich zeigen, dass im Literatursystem die Worte des Autors in jedem Fall höher gehalten werden als die Schrift des Sekretärs. Es geht nicht nur um die Position des Schreibenden, sondern um diejenige des ‚Geistes‘, die mit Autorschaft untrennbar verbunden ist, und dieser Geist, der die toten Buchstaben belebt,28 bleibt für die Lesenden derjenige Goethes. Der Fall Eckermann beweist weiterhin, dass sich die Liebe zum Autor nicht in ein Werk überführen lässt, dass also Autorschaft als „männlicher Verfügungsgestus über die Frau“29 nicht einfach umkehrbar ist. Von einer weiblichen Position aus kann Autorschaft nicht beansprucht werden. Der Versuch des Sekretärs, einen Autor zum Objekt literarischer Kreativität zu machen, bleibt zweideutig, die weibliche Position als Leserin und Zuhörerin wird von ihm nicht überschritten. Dies liegt nicht zuletzt an der grundsätzlichen Ambivalenz des Genres „Gespräch“, das die vom Werk geforderte Einheit nicht aufbringt und insofern nicht an einen Autor zurückgebunden werden kann, weil bereits im Titel die organisierenden Koordinaten verschwimmen: Der Autorname ist gedoppelt, das ‚Gespräch‘, das Lebendigkeit evoziert, wurde mit einem inzwischen Verstorbenen geführt, der sich damit der wesentlichen Bestimmung des Gesprächs – direkter Überprüfbarkeit und Korrektur – entzieht. Im Unterschied zum Brief lässt sich das Gespräch gerade nicht als das Eigentum des Einen oder des Anderen fixieren. Eckermann 26 Gisbert Ter-Nedden: Das Ende der Lehrdichtung im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Schrift. Antithesen zur Fabel- und Parabelforschung, in: Theo Elm/Hans H. Hiebel (Hg.), Parabolische Formen in der deutschen Dichtung des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1986, S. 58-78, hier: S. 70. 27 Vgl. Karl Robert Mandelkow: Das Goethebild J. P. Eckermanns, in: Gratulatio, FS Christian Wegner zum 70. Geburtstag am 9. September 1963, Hamburg 1963, S. 83-109, hier: S. 85. 28 Vgl. Jer. 31,31; 1. Kor. 11,25; Röm. 7,6; Joh. 6,63. 29 Ina Schabert/Barbara Schaff: Einleitung, in: Dies. (Hg.), Autorschaft, S. 919, hier: S. 10.

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bleibt, trotz seines Aktes der Verschriftlichung, in der weiblichen Position, der Text wird nicht als die Mimesis von Rede wahrgenommen, die er ist, der darin enthaltene Ausdruck nicht als Resultat einer Konstruktion, sondern als unmittelbare Folge der Sprechakte eines Autors. Das korrespondiert wiederum vollkommen Eckermanns Selbstcharakterisierung, die den Gesprächen vorangestellt ist und die ihn in jeder Hinsicht als enthusiastische Leserin ausweist: „Ich war beglückt, Goethen wieder nahe zu sein und ihn wieder reden zu hören, und ich fühlte mich ihm mit meinem ganzen Innern hingegeben. Wenn ich nur dich habe und haben kann, dachte ich, so wird mir alles Übrige recht sein.“ (GG 48) Diese weibliche Empfänglichkeit kennzeichnet im Schema Goethes auch den Dilettanten, der die Kunst zwar liebt, bei deren Ausübung aber in unproduktiver Nachahmung verharrt. Solche Festlegung ist unverzichtbar für die Autonomieästhetik, da der Dilettant eine gefährliche, das eigene exklusive Programm ständig bedrohende Gefahr darstellt: Als Grenzfigur zwischen Rezeption und Produktion, Lesen und Schreiben, verwischt er immer schon diese Grenze, ohne die die Distinktion Kunst gar nicht funktionieren kann. Deshalb muss der Dilettant auf seinen Platz verwiesen werden. „Stoßen männliche Autorschaft und weibliches Schreiben aufeinander, bedeutet diese Schreibkonkurrenz immer eine Konfliktsituation, die durch Konkurrenz, Einvernahme und Löschung des weiblichen Textes geprägt sein kann.“30 Diesem Konflikt ist das Textbegehren Eckermanns ausgesetzt. Seine (verzweifelte) Lösung, die Selbstmediatisierung so weit zu treiben, dass das eigene Produkt noch durch Anpassung des Stiles, des Buchformats und des Layouts heimlich in das Werk des Meisters eingeschmuggelt werden kann, erliegt der Gefahr, in dieser Gratwanderung selbst unsichtbar zu werden. Die tatsächliche Produktivität dieses subalternen Schreibens „im Namen von“, das dann auch „in die Moderne hinüberführt“,31 offenbart sich, wenn man die weibliche Figur des Dilettanten als Figur des Übergangs vom Lesen zum Schreiben, die in der Namenlosigkeit verschwindet, mit der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung jenseits von LITERATUR verbindet. Nur so könnte Eckermanns Goethe als Held eines Textes sichtbar werden, der nach neuen, nicht mehr autonomen Regeln funktioniert:

30 Margaret Higonnet: Verräterischer Diebstahl. Authentizität, Autorität und männliche Angst in der englischen Romantik, in: Schabert/Schaff (Hg.), Autorschaft, S. 157-174, hier: S. 159. 31 Siegert/Vogl, Europa, S. 8f.

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„Da wäre Großes und Kleines, Zulängliches und Unzulängliches, Gehöriges und Ungehöriges, alles durcheinander, zufällig, wie der gewöhnliche Tag es giebt. Ich hatte aber höhere Zwecke im Auge, und wenn auch meinerseits nichts erfunden worden und alles vollkommen wahr ist, so ist es doch gewählt. Deßhalb hütete ich mich auch, die empfangenen Eindrücke sogleich niederzuschreiben, vielmehr wartete ich damit Tage und Wochen lang, damit das Kleinliche sich verliere und nur das Bedeutendere zurückbleibe.“32

In der Distanzierung seines Textes von „der ganz gemeinen Realität der Licht-Bilder“, die bloß ‚naturalistisch‘ abbildeten, antizipiert Eckermann bis in die Metaphorik hinein die Poetik des Realismus und erweist sich mithin als Theoretiker der Verklärung avant la lettre, deren Grundsatz immerhin darin besteht, zunächst einen prinzipiell schönen und bedeutungsvollen, also verklärungsfähigen Gegenstand – Goethe – auszuwählen, sodann aber diesen realen Gegenstand durch Reinigung vom bloß Äußerlichen und Zufälligen und durch Auswahl und bewusste Konstruktion zum idealen Gegenstand zu verklären. Das Wesen der Darstellung, des Stils, der sich dem großen Gegenstand anzuschmiegen hat, kann dabei nicht anders als sich an großen Mustern ausrichten, und „ein solches Muster ist Goethe. Die studiere man, denen strebe man nach.“33 Damit eröffnet er – wider Willen – das 19. Jahrhundert als Zeitalter der Epigonen. Es ist unter anderem Eckermanns mimetischer, ‚protorealistischer‘ Textur zu verdanken, dass Goethe bis heute als dieser ideale Gegenstand auch der literaturwissenschaftlichen Erzählungen über Literatur fungieren kann.

32 Eckermann an Heinrich Laube, Brief v. 5.3.1844, zit. n. GG, Kommentar, S. 918 (Hervorhebung im Original). 33 Eckermann, Beyträge, S. 363.

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2. Bettine von Arnims entwendeter Briefwechsel „[…] die Erkenntniß daß er in Büchern seinen Weg zu meinem Herzen gemacht hatte war eine feierliche Epoche meines Lebens.“1

Ein Jahr vor Eckermanns Gesprächen erschien 1835 ein anderes Buch, in dem ebenfalls das Verhältnis von Autorschaft und Dilettantismus verhandelt wurde, und zwar wiederum in einem Medium, das die Anforderungen an ein ‚Werk‘ nicht erfüllt. Es handelt sich um Bettina von Arnims gleichfalls höchst zweideutiges Buch Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, an dem im Folgenden die mediale Differenz von öffentlichem ‚Werk‘ und privatem ‚Brief‘ diskutiert werden soll. Insgesamt lassen sich drei Textteile unterscheiden. Der erste umfasst den Briefwechsel des Kindes mit der Mutter Katharina von Goethe, der zweite versammelt die nach dem Tod der Mutter gewechselten Briefe zwischen Kind und Dichter und der dritte Teil mit dem Titel „Buch der Liebe“ enthält die Tagebuchaufzeichnungen des Kindes nach dem Ende des Briefwechsels und dem Tod Goethes. Zentrales Textverfahren ist dasjenige der Hybridisierung: In Arnims Briefbuch wird Echtes und Falsches, Geträumtes, Gedachtes und Erfundenes in einer Weise verwoben, dass Fakten und Fiktionen zusammen mit der textuellen Urheberschaft ins Zwielicht geraten. Autorschaft erscheint bei Arnim immer schon gedoubelt (dies gilt auch für ihre anderen Briefbücher). So suggeriert der Text wiederholt, Goethe habe an ihn adressierte Briefe als Vorlage für eigene Werke, etwa für sein Sonett Die Liebende schreibt, verwendet. Dagegen hat die Forschung die Textgenese dieses Sonetts ganz anders rekonstruiert. Demnach schrieb nicht Goethe das Sonett im Anschluss an einen Brief Arnims nieder, vielmehr übertrug diese das Sonett für ihr Briefbuch zunächst in Prosa, um es anschließend, als an sich adressiert und von ihr stimuliert, wiederum in ihr Goethebuch einzufügen.2 In anderen Fällen konnte jedoch auch der umgekehrte Weg nachgewiesen werden – tat1

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Bettine von Arnim an Karl Hartwig Gregor von Meusebach, Brief v. 25.7.1835, zit. n. Kommentar zu: Bettine von Arnim: Werke und Briefe, Bd. 2: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, hg. v. Walter Schmitz u. Sibylle Steinsdorff, Frankfurt/M. 1992, S. 823 (im Text mit Sigle GB und Seitenzahl). Vgl. Wolfgang Bunzel: „Phantasie ist die freie Kunst der Wahrheit.“ Bettine von Arnims poetisches Verfahren in „Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde“, in: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 1 (1987), S. 7-28, hier: S. 15-17.

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sächlich verwendete Goethe mindestens zwei Briefe Arnims als Vorlage für eigene Gedichte. Statt von einer Unterscheidbarkeit in authentische Briefe und fiktionale Bearbeitung geht die Forschung deshalb inzwischen von der Unfruchtbarkeit einer solchen Trennung aus: Original und Fälschung sind in Arnims Briefbuch nicht mehr, wie noch im Fall Pustkuchens, auseinander zu halten, beide fallen vielmehr im doppelten Boden dieses Textes ineinander. Die Paratexte von Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde erwecken allesamt den Anschein, als ob die Vorgaben der „schwierigen Autorschaft der Frauen“, wie Barbara Hahn sie für Klassik und Romantik diagnostiziert hat,3 erfüllt würden. Die weibliche Signatur verschwindet hinter dem bekannten Autornamen, und selbst die zu erzielenden Einnahmen sollen nur „Seinem Denkmal“ dienen. Doch der Schein trügt, das zeigt nicht zuletzt die pikante Adressierung an den ebenso skandalträchtigen wie populären Schriftsteller Hermann Fürst Pückler-Muskau. Die Löschung des eigenen Namens hinter der Maske des Kindes, die Ausstellung liebender Zueignung, der Verzicht auf eine ökonomische Verwertung sowie nicht zuletzt das ostentative Opfer des künstlerischen Anspruchs4 gehorchen in diesem Roman, das soll gezeigt werden, einer subversiven Logik, in deren Folge Arnim ganz dicht an Autorschaft heranrückt und mithin vormacht, wie die männliche Position zumindest hypothetisch besetzt werden könnte. Nicht zuletzt darin besteht Arnims „kritische Revision“ des „Paradigmas von Autorschaft um 1800“.5 Während Ulrike Landfester hierbei von einer schöpferischen Mythopoetik ausgeht, zielt meine Lektüre allerdings auf das destruktive Potential dieser Revision, in deren Zuge Arnim die männliche und die weibliche Position im Aufschreibesystem einnimmt und diese im Verlauf ihres TextExperiments als zwischen den Geschlechtern disponible vorführt. Goethe gerät in die Rolle des Epigonen, der auf die bloß nachahmende Wieder-

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Hahn, Unter falschem Namen. Bis in die Gegenwart hinein wird diese paratextuelle Stilisierung als Eigenschaft des Textes gewertet. Vgl. nicht zuletzt die fatale Fehleinschätzung bei Christa Wolf: „Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an.“ Ein Brief über die Bettine, in: Bettina von Arnim: Die Günderode, Frankfurt/M. 1983, S. 545-584, hier: S. 574f. Während die Lektüreanweisungen von Autoren, bestimmte Texte als Dokumente zu lesen, erst recht als Aufforderung zur künstlerischen Rezeption verstanden wurden, gilt das Gegenteil von Texten mit weiblicher Signatur – diese wurden überhaupt nur rezipiert, wenn sie auf Kunstansprüche verzichteten. Ulrike Landfester: Echo schreibt Narziß. Bettine von Arnims Mythopoetik des schöpferischen Dialogs und „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ (1835), in: Athenäum 9 (1999), S. 161-191, hier: S. 162f.

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holung reduziert wird, während Arnim – nach Goethes endgültiger Absage an ihr Angebot zum dialogischen Schreiben – am Ende monologische Autorschaft produziert, die auf keine Antwort mehr angewiesen ist.6 Unter dieser Prämisse müssen die weiblichen Bescheidenheitstopoi und Verzichtsbekundungen als Bestandteil einer Inszenierung betrachtet werden, die dazu geeignet ist, die Konjunktionen von Brief und Weiblichkeit bzw. Werk und Männlichkeit öffentlich bloß zu stellen. Vor allem die Verbindung der eigenen Signatur mit Goethes Namen, die bei Eckermann gescheitert ist, erweist sich in diesem Fall als überaus erfolgreich: Kaum eine Autorin wurde schon vor ihrem Debüt so gründlich mit ihrem Text identifiziert wie Arnim. Grund dafür war eine präzise kalkulierte Öffentlichkeitsarbeit, „die nicht nur die Ausstellung des Goethedenkmals und die Lesungen umfaßte, sondern auch, daß die Autorin in ihrem engeren Umkreis zeitig positive Rezensionen bestellte.“7 Was den ‚Klassikern‘ recht war – in ihren Periodika wie den Horen oder den Propyläen für sich zu werben und durch Akquisition wohlwollender Besprechungen das eigene Werk in der Öffentlichkeit zu verankern –, ist Arnim nur billig. Auch dafür eignet sich die halböffentliche Gestalt des Briefs: durch gezielte Weiterverbreitung Texte, eigene oder fremde, wirksam zu lancieren. Erfolgreich nutzt Arnim ihre vielfältigen literarischen Kontakte, um über ein briefliches Netz dem Buch die öffentliche Aufmerksamkeit zu sichern. Als bereits berühmte Briefschreiberin adressiert sie huldvolle Briefe an potenzielle Rezensenten, in denen sie das richtige Interpretationsmuster vorgibt, und erreicht damit ein hohes Maß an Rezeptionskontrolle, insofern sie die Rezensionen im Tenor alle selbst geschrieben haben wird.8 Dass die zahlreichen Besprechungen in ihrer Be-

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Auch Markus Wallenborn geht von einer solchen „fortschreitenden textuellen Einverleibung Goethes“ aus, die sich „immer zugleich als Aneignung des Lebens wie auch des Werks darstellt […].“ Vgl. ders.: Frauen. Dichten. Goethe. Die produktive Goethe-Rezeption bei Charlotte von Stein, Marianne von Willemer und Bettina von Arnim, Tübingen 2006, S. 249. Allerdings interpretiert Wallenborn diesen „Übergriff auf die Textherrschaft Goethes“ dann doch wieder eher traditionell: als Rückführung des „überzeitlichen Kunstwerks“ (männlich) in ein „Dokument gelebter Wirklichkeit“ (weiblich). Ebd., S. 270. Christiane Holm: Papierne Paare. Zum Verhältnis von Kunst und Geschlecht in Achim und Bettine von Arnims literarischem Dialog, in: Internationales Jahrbuch der Bettine-von-Arnim-Gesellschaft, Bd. 13/14 (2001/2002), S. 65-88, hier: S. 80. Vgl. Wolfgang Bunzel: Ver-Öffentlichung des Privaten. Typen und Funktionen epistolarischen Schreibens bei Bettine von Arnim, in: Bernd Füllner (Hg.), Briefkultur im Vormärz, Vorträge der Tagung des Forum Vormärz

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wertung durchaus gespalten sind und zwischen Begeisterung und Verriss schwanken, kommt diesem Anspruch nur entgegen: Umstrittenheit ist das beste Mittel, Aufmerksamkeit auch längerfristig zu gewährleisten. Indem sie die unreine und unregulierbare Dialogizität von Briefen, die man „als nicht kanonische Texte par excellence bezeichnen“ kann,9 in ihrem Brief/Roman mit dem Namen Goethes verbindet und damit in einen kanonischen Kontext stellt, bringt sie ein Genre zu letzten Ehren, das seine besten Zeiten hinter sich hat und um die Mitte des 19. Jahrhunderts bereits „das Stigma des Obsoleten, Trivialen“10 aufweist. Arnims Brief/Roman reflektiert jene Grenze, die im traditionellen Briefroman tendenziell verschwinden soll.11 Im Unterschied zu diesem, dessen ‚Briefe‘ fingiert sind, ist Arnims ‚Material‘ noch allen Gefahren und Kontingenzen, Ambivalenzen und Missverständnissen des realen Briefverkehrs ausgesetzt, die aus der Bedingung der Abwesenheit herrühren. Vom Brief kann man nämlich nie wissen, „ob er zur Literatur, zum Leben, zum Tod, zu einem ‚Werk‘, einer Biographie gehört. Auch weiß man nicht, ob er echt oder fingiert ist, ob er abgeschickt wurde oder nie angekommen ist, ob er im falschen Umschlag gelandet und womöglich verwechselt wurde.“12 Der Brief stellt – wie das geschriebene Gespräch – eine bedeutende Form der Semi-Oralität dar und ist seit den antiken Brieftheorien dem freundschaftlichen Dialog nachzubilden. Die Nachhaltigkeit dieser Bestimmung zeigt sich bis zu Gellerts berühmter Definition, nach der der

Forschung und der Heinrich-Heine-Gesellschaft am 23.10.1999 in Düsseldorf, Bielefeld 2001, S. 41-96, hier: S. 90f. 9 Barbara Hahn: Vergessene Briefe. Erkundungen am Rand des literarischen Kanons, in: v. Heydebrand (Hg.), Kanon – Macht – Kultur, S. 132-147, hier: S. 134. 10 Konstanze Fliedl/Karl Wagner: Briefe zur Literatur, in: Hämmerle/Saurer (Hg.), Briefkulturen und ihr Geschlecht, S. 35-53, hier: S. 40. 11 Zu den gattungsterminologischen Wirren in der Forschung hat Arnim nicht wenig beigetragen: Während Konstanze Bäumer Arnims Briefbuch als „weiblichen Bildungsroman“ bezeichnet (Konstanze Bäumer: „Bettine, Psyche, Mignon“. Bettina von Arnim und Goethe, Stuttgart 1986, S. V), spricht Bunzel von „teilfingierten Quelleneditionen“ (Bunzel, VerÖffentlichung, S. 59); Arnim selbst bezeichnet ihr Gebilde, wenn sie es nicht gerade als authentisches Dokument ausgibt, schon mal als „episches Gedicht“. Arnim an Nikolaus Heinrich Julius, Brief v. Juli 1834, zit. n. Bettina von Arnim: Werke, Bd. 1: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, Berlin/DDR 1986, S. 667. 12 Eva Meyer: Briefe oder die Autobiographie der Schrift, in: Manuskripte 26 (1986), S. 18-22, hier: S. 18.

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Brief „die Stelle eines Gesprächs vertritt“.13 Als Substitut mündlicher Rede erscheint er als Grenzgänger, der zwischen Mündlichkeit und Schrift oszilliert – er hat sich der ersten zu nähern und doch die Regeln der zweiten zu befolgen. Abwesenheit soll durch die stilisierte emotionale Wechselrede in simulierte Anwesenheit überführt werden. „Der prononcierte Dialogcharakter, der die Unmittelbarkeit des mündlichen Austauschs restituieren will, wird selber zum Ziel der sprachlichen Gestaltung: Gellert schreibt dagegen an, daß der andere nicht da ist; die Idee der Vergegenwärtigung des anderen im Medium der Schrift stellt die Aufhebung der raum-zeitlichen Distanz selbst ins Zentrum der Mitteilungsabsicht.“14 Dieses „Ideal kultivierter Mündlichkeit“ hat noch lange Bestand: Idealiter ist der Brief seit der Empfindsamkeit ‚natürlich‘ und ‚geschmackvoll‘, und über beide Attribute wird er dann auch mit der ‚weiblichen‘ Position verbunden, denn nicht nur „Genres konstituieren sich immer auch über Gender-Konstruktionen“,15 sondern ebenso Medien. Im 19. Jahrhundert erfährt diese Verbindung eine ontologische Überhöhung, die aber wieder nur der Abwehr weiblicher Autorschaft dient: „frauen […] ist die gabe eigen […], mit zartester feder die beobachtungen innig vertrauten personen mitzutheilen; fast jede litteratur besitzt einige solcher sammlungen voll unnachahmlicher natürlichkeit, die nach dem tode ihrer verfasserinnen zuweilen bekannt gemacht worden sind. alles glückliche, was frauen schreiben, sollte wie briefe behandelt und nur unter denselben bedingungen, mit denselben vorsichten öffentlich werden […].“16

13 Christian Fürchtegott Gellert: Vorrede, in: Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, Leipzig 1751, in: Angelika Ebrecht/Regina Nörtemann/Herta Schwarz (Hg.), Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays, Stuttgart 1990, S. 58-98. 14 Robert H. Vellusig: Mimesis von Mündlichkeit. Zum Stilwandel des Briefes im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Schrift, in: Theo Elm/Hans H. Hiebel (Hg.), Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter, Freiburg 1991, S. 70-92, hier: S. 88. 15 Irmela Schneider: Genre, Gender, Medien. Eine historische Skizze und ein beobachtungstheoretischer Vorschlag, in: Claudia Liebrand/Ines Steiner (Hg.), Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film, Marburg 2004, S. 16-28, hier: S. 16. 16 Jacob Grimm: die deutschen schriftstellerinnen des neunzehnten jahrhunderts von Carl Wilhelm Otto August von Schindel [Rezension], in: Kleinere Schriften, Bd. 4: Recensionen und Vermischte Aufsätze, Berlin 1869, S. 171-174, hier: S. 172.

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Zugleich wird der Brief um 1800 aber auch in die Diskussion um ästhetische Autonomie einbezogen. Als authentischer Ausdruck origineller Individualität kann er dann nur von einem (männlichen) Originalgenie stammen. Auch die Romantiker schätzen die kleine Form wegen ihrer formalen Offenheit und wegen der Fiktion von Unmittelbarkeit. Sie wird – jenseits des Briefromans – zu einem wichtigen Bestandteil romantischer Universalpoesie. „Eine der wichtigsten Buchformen ist der Brief. […] Der Brief ist äusserst romantisch; ja der Roman selbst eine Art von Brief.“17 Diese Entgrenzung des Genres, die – wie bereits im Werther demonstriert – mit einer deutlichen Reduktion des Dialogischen und einer Monologisierung des Mediums einhergeht, „das eigentlich keine Antwort mehr ermöglicht“,18 bedeutet aber nicht, dass damit die Geschlechtercodierung aufgehoben, das weiblich codierte Genre plötzlich kunstwürdig wäre und Briefe mit weiblicher Signatur selbstverständlich, wie diejenigen mit männlicher, „zum Zentrum ihres dichterischen Werks und ihrer dichterischen Existenz gehören.“19 Die romantische Vereinnahmung gilt ausschließlich dem Brief mit männlicher Signatur, der in ein Buch passt, also zur Veröffentlichung drängt, während das Genre „unter dem Geschlechtsmerkmal ‚weiblich‘ dahin [tendiert], aus der universellen poetischen Theorie abgespalten zu werden.“20 Im Prozess der Generalisierung des Briefes zu LITERATUR muss die Geschlechterdifferenzierung des Genres negiert werden.21 Mitnichten kann also belegt werden, dass sich Genres wie der Brief per se nicht zum Werk eignen. Damit Briefe zu „literarischen Werkbriefen“ werden, müssen sie aber einem männlichen Autor zugerechnet werden können.22 Dieses zu simulieren, darum geht es in Arnims Experi-

17 Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre 1776-1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796-1828, 1. Teil, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Abt. II, Bd. 18, hg., eingel. u. komm. v. Ernst Behler, Sonderausgabe Darmstadt 1963, S. 494. Zu Goethes Adressierung eines ‚Werks‘ (der Wahlverwandtschaften) als ‚Brief‘ vgl. Schlichtmann, Geschlechterdifferenz, S. 100. 18 Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, München, Wien 1987, S. 214. 19 Reinhard M. G. Nickisch: Brief, Stuttgart 1991, S. 98. 20 Herta Schwarz: „Brieftheorie“ in der Romantik, in: Ebrecht/ Nörtemann/Dies. (Hg.), Brieftheorie, S. 225-238, hier: S. 237. 21 Diese Negation schreibt die Literaturwissenschaft fort. Vgl. Edgar Pankow: Brieflichkeit. Revolutionen eines Sprachbildes. Jacques-Louis David, Friedrich Hölderlin, Jean Paul, Edgar Allan Poe, München 2002. 22 Zum Begriff vgl. Ursula Hess: Typen des Humanistenbriefs. Zu den CeltisAutographen der Münchner Universitätsbibliothek, in: Ernst Grubmüller

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ment. Denn mit der Festlegung weiblichen Schreibens auf die Briefform „hat der männliche Logos der Moderne den Frauen die Schaufel für das Grab seiner Alleinherrschaft […] in die Hand gedrückt.“23 Arnims Brief/Roman dokumentiert dies eindrücklich – der Monolog ist ihr Monolog, für den sie die Unterschrift Goethes entwendet. Sie nutzt für sich „den Vortheil, den man davon geistig und stilistisch hat, zu schreiben, ohne Schriftsteller zu sein“,24 sowie alle Freiheiten, die das Genre in seiner konstitutiven Gespaltenheit mit einem „Ort des Absendens und eine[m] Ort der Bestimmung“25 bereithält, stellt aber das Verhältnis von Brief und Weiblichkeit auf den Kopf. Während in Eckermanns Gesprächen Goethe das letzte Wort behält und die zu beobachtende Reduktion des Dialogs zugunsten des Meister-Autors ausgeht, erscheint dieser nunmehr als der bloße Stichwortgeber für das Schreiben der Protagonistin, deren Aufforderungen zur Antwort nur noch die Konvention bedienen. Seine Briefe mit seiner Signatur garantieren aber dem Projekt jenen kanonischen Kontext, der sogar Briefe zu Werken macht, denn: „Spätestens die Briefe der Klassiker erweisen, daß es auch eine deutsche Briefliteratur im anspruchsvollsten Sinne gibt.“26 Arnims Briefbuch folgt weder „den Regeln literarischer Paarungsspiele“27 noch denjenigen des empfindsamen Liebesdiskurses, dem die ‚Weiblichkeit‘ des Briefes entstammt. Während die empfindsame Literatur der Gefühlsproduktion dient und Sentiment stiftet,28 dient bei Arnim umgekehrt die Produktion von Gefühl ausschließlich der Produktion von Literatur. Das Medium des Briefes wird gerade nicht zum Verschwinden gebracht, sondern erstrahlt in vollem Glanze, insofern es selbst als das

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u.a. (Hg.), Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft, Tübingen 1979, S. 470-497, hier: S. 484; zur Behandlung von Briefen als ‚Werk‘ vgl. Nickisch, Brief, S. 98. Wolfram Malte Fues: Die Prosa der zarten Empfindung. Gellerts Brieftheorie und die Frage des weiblichen Schreibens, in: Das achtzehnte Jahrhundert 18 (1994) 1, S. 19-32, hier: S. 25f. So Karl Gutzkow und Ludolf Wienbarg in ihrer Einladung Arnims zur Mitarbeit an der geplanten Zeitschrift Deutsche Revue, zit. n. Bunzel, VerÖffentlichung, S. 95, Anm. 174. Meyer, Briefe oder die Autobiographie der Schrift, S. 19. Nickisch, Brief, S. 53. Holm, Papierne Paare, S. 79. Vgl. Albrecht Koschorke: Die Verschriftlichung der Liebe und ihre empfindsamen Folgen. Zu Modellen erotischer Autorschaft bei Gleim, Lessing und Klopstock, in: Goetsch (Hg.), Lesen und Schreiben, S. 251-264, hier: S. 261.

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eigentlich begehrte Liebesobjekt erscheint. Entsprechend eifersüchtig wird es gehütet: „Als ich jetzt diese Briefe wieder las, mit diesen Spuren seiner Hand, da empfand ich denselben Schauer und ich hätte mich nicht leichtlich von einem der geringsten Blätter trennen mögen.“ (GB 15) In dem Liebesspiel, zu dem das geniale Kind Bettine sein göttergleiches Gegenüber nötigt, geht es deshalb vor allem darum, möglichst viele originale Briefe von Goethes Hand zu bekommen. Umso verständlicher das Entsetzen, als Briefe in der Schrift des Sekretärs eintreffen: „Aber, Goethe, erst ganz zuletzt denkst Du an mich! erlaub’, daß ich so frei bin Dir einen Verweis zu geben, für diesen Brief, fasse alles kurz ab, was Du verlangst und schreib’s mit eigner Hand, ich weiß nicht warum Du einen Secretair anstellst um das überflüssige zu melden, ich kann’s nicht vertragen, es beleidigt mich, es macht mich krank; im Anfang glaubt’ ich der Brief sei gar nicht an mich, nun trag’ ich doch gern’ solch einen Brief auf dem Herzen, so lange bis der neue kommt, – wie kann ich aber mit einer solchen fremden Secretairshand verfahren? / Adieu, schreibe mir das einzige, was Du zu sagen hast und nicht mehr.“ (GB 134f.)

Die fremde Hand lässt sich nicht ans Herz legen, aber noch viel mehr verletzt sie das Gebot der Originalität, das sich nicht nur in der authentischen Handschrift, sondern auch in Stil und Ausdruck offenbaren muss. Das funktioniert ohne die Hand-Schrift des Autors nicht. Die Klagen über Sekretärshandschriften sowie über Kälte und Steifheit auch der eigenhändig geschriebenen Briefe, die das von Arnim festgelegte Genre eines romantischen Liebesromans stören, durchziehen den gesamten Briefwechsel. Sie lassen vor allem jenen verehrenden Respekt vermissen, den angehende Autoren bezogen auf Goethe einklagen und der sich auf jede Äußerung beziehen kann, sofern man nicht darauf angewiesen ist, diese in ein eigenes Werk zu verwandeln: „Daß Du Göthes Brief kalt und steif nennst, weiß ich nur mit sehr künstlichen Brücken mit Deiner Verehrung seines Werts zu verbinden; ich gestehe Dir, daß ich alles, was mir von Göthe käme, mit Ehrfurcht annehmen würde, gedenke, daß bei dem Reichtum seines Lebens es eine schöne Gutmütigkeit von ihm ist, Dein und auch mein Vertrauen zu wünschen, aber es zu erwidern würde ich fast unnatürlich finden […]. Ich bewahre Briefe von ihm, die mir nicht mehr sagen, als daß er die meinen mit Vergnügen empfangen, wie ein Heiligtum; daß Du

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nicht so denkst, verwundert mich nicht, Mädchen werden verwöhnt, aber Du hättest wohl die Kraft, Dich von der Gattung in ihren Fehlern loszureißen.“29

Ganz im Unterschied zu ihrem Ehemann kennt Arnim in dieser Beziehung keinerlei Bescheidenheit, die „Fehler der Gattung“ werden zur Antriebskraft des eigenen Schreibprojektes. Sie erwartet, dass das von ihr erwählte Gegenüber seinen Part spielt und Meister-Briefe höchstpersönlich für sie schreibt. „Hättest Du mich lieb, unmöglich könntest Du von deinem Secretair einen Brief abschnurren lassen wie ein Paternoster […], ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie Du es mit ihm anstellst; sprichst Du ihm denn den Inhalt deines Brief’s vor, oder gibst Du ihm deine Gedanken so im Rummel, daß er sie nachher reihenweis neben einander aufschichte?“ (GB 296f.) Es ist demnach nicht nur die seit der Empfindsamkeit programmatisch kultivierte Inszenierung von Intimität, die durch die Einschaltung eines Dritten leidet30 – sind doch die Briefe auch an ein anonymes Publikum adressiert –, es sind vor allem stilistische Fragen, von deren Lösung das Experiment abhängt und die keinesfalls durch eine buchhalterische „reihenweise Aufschichtung“ beantwortet werden dürfen. Literarische Intimität als Einheit von Hand und Herz, Schrift und Name ist nicht mehr und nicht weniger als die conditio sine qua non für diese Inszenierung liebenden Schreibens. Der ordnende Zugriff des Sekretärs zerrüttet die romantische Liebesauffassung wie auch die für das romantische Schreibkonzept unverzichtbare Unordnung.31 Nur eine strikte Zweierkonstellation garantiert das Gelingen der schriftlichen Verwebung von Gefühl und Text, weshalb der eigene Gatte Achim von Arnim in Goethe’s Briefwechsel schlechterdings nicht auftaucht, während sich Arnim umgekehrt im realen Briefwechsel mit ihrem Mann ständig über Goethe austauscht. Auf der anderen Seite geht es nicht mehr um eine Rhetorik der Anwesenheit, wie der empfindsame Liebesbriefwechsel sie

29 Achim von Arnim an Bettine Brentano, Brief v. 10.3.1808, in: Bettina von Arnim: Bettine und Arnim: Briefe der Freundschaft und Liebe, Bd. 1: 1806-1808, hg., eingef. u. komm. v. Otto Betz u. Veronika Straub, Frankfurt/M. 1986, S. 178f. 30 „Begreift man jede echte Korrespondenz als Ort der ideellen Begegnung zwischen einer ersten und einer zweiten Person, ist die Intervention einer dritten naturgemäß störend. Ein verlorener Brief ist gleichbedeutend einem verfehlten Besuch.“ Martin Fontius: Post und Brief, in: Gumbrecht/Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, S. 267-279, hier: S. 273f. 31 Zu Arnims Sorglosigkeit im Umgang mit Datierungen vgl. Bunzel, Phantasie.

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gepflegt hat, im Gegenteil: Abwesenheit, nicht Liebe bildet die Grundlage dieses Schreibens, dessen Ziel das Buch ist.32 Eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen des eigenen Projektes besteht darin, dass der andere die erhaltenen Briefe ebenso liebt und selbst einen intimen Umgang mit ihnen pflegt. Nur dann ist die Gefahr gebannt, denen Frauenbriefe auch im 19. Jahrhundert noch selbstverständlich ausgesetzt sind: „Verbrenne meine Briefe nicht, zerreiße sie nicht, es möchte Dir sonst selber weh tun, so fest so wahrhaft lebendig häng ich mit Dir zusammen, aber zeige sie auch niemanden halt’s verborgen wie eine geheime Schönheit, meine Liebe steht Dir schön, Du bist schön weil Du Dich geliebt fühlst.“ (GB 318)33 Die imaginierten Körper werden mit den papiernen Briefen verbunden, so dass die Verletzung der einen die anderen in Mitleidenschaft zöge. Diese Drohung wird mit der Aufforderung zur Geheimhaltung verknüpft, denn wenn der Inhalt der Briefe vorab bekannt würde, dann wäre der Neuigkeitswert und Überraschungseffekt des geplanten Buches gefährdet. Mit ihren Ansprüchen sichert Arnim den Fortbestand ihrer eigenen Briefe für die Zukunft. Zugleich verdeckt sie die Tatsache, dass ihre Briefe von Anfang an doppelt bzw. dreifach adressiert sind: an Goethe, den Fürsten Pückler-Muskau und ans Publikum. Diesen Anspruch auf Öffentlichkeit dokumentiert ein Brief Clemens Brentanos an Achim von Arnim, wo jener bereits kurz nach der ersten Kontaktaufnahme Arnims mit Katharina Elisabeth Goethe im Juli 1806 dem Freund mitteilt, seine Schwester beabsichtige „‚eine geheime Biographie dieses Göttlichen‘ aus den von Frau Rat erzählten ‚Anekdoten‘ zu ‚bilden‘“.34

32 In dieser Perspektive erscheint Kittlers Lesart, welche das kunstvolle Arrangement dieses Textes als „einzige verrückte Schreib-Maschine“ interpretiert, in der „das Buch nur Abfall“ ist, einigermaßen verwegen. Friedrich A. Kittler: Dichter – Mutter – Kind, München 1991, S. 222. 33 Zu Goethes systematischen Briefverbrennungen einerseits, seiner peniblen Briefregistratur andererseits vgl. Karl-Heinz Hahn: Einleitung, in: Briefe an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform, Bd. 1, hg. v. Karl-Heinz Hahn, Weimar 1980, S. 9-32, hier: S. 10ff. In den Briefen eines Narren an eine Närrin (1832) inszeniert Karl Gutzkows Protagonist ein Autodafé mit den Briefen der Geliebten, um, wie es heißt, „die eigenen Gesänge“ „in dem Resonanzboden Deiner Thäler“ zu hören; das „Brandopfer“ ihres „Gesammelten Briefwechsels“ dient dabei – was sonst – dem geistigen Höhenflug des Geliebten. Karl Gutzkow: Briefe eines Narren an eine Närrin, Faksimiledruck der Ausgabe Hamburg 1835, Frankfurt/M. 1973, S. 1f. 34 Zit. n. GG, Kommentar, S. 824; zum doppelten Adressierungsspiel vgl. auch Barbara Hahn: Rahel Levin Varnhagen und Bettine von Arnim:

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Darüber hinaus und ganz nebenbei besetzt Arnim auch die Position des männlichen Schöpfers weiblicher Schönheit – sie ist Pygmalion, Goethe ihr Geschöpf.35 Damit redupliziert sie die romantische Substituierbarkeit der Frau und kehrt sie um mit dem Ziel, die realen Züge des Geliebten vollständig zu verwischen. So heißt es in Bezug auf den Denkmalsentwurf dann auch konsequent: „Der erfundne Goethe konnte nur so dargestellt werden, daß er zugleich einen Adam, einen Abraham, einen Moses, einen Rechtsgelehrten oder auch einen Dichter bezeichnet; keine Individualität.“ (GB 423) Nur so wird es möglich, das Textbegehren in einer Weise offen zu halten, dass sich so unterschiedliche Adressaten wie Goethe und Pückler-Muskau angesprochen fühlen dürfen. Die Liebe ist unübersehbar „ein Effekt des Schreibens. Das Objekt, auf das diese Liebe sich richtet, wird erst im Text modelliert und erhält gar nicht erst den Status eines adressierbaren Gegenübers […].“36 Insofern kann die Korrespondenz mühelos über das frühe Verstummen des vermeintlich Angesprochenen hinaus in der vollends monologischen Form des Tagebuchs fortgesetzt werden. Immer wieder ist es das Papier selbst, das die Gestalt des Verhältnisses prägt – das Format der Briefe formatiert die Liebe. „Ich fange gern hoch oben am Blatt an zu schreiben, und endige gern tief unten, ohne einen Platz zu lassen für den Respekt, das malt mir immer vor wie vertraut ich mit Dir sein darf […].“ (GB 302) Während das gedruckte Buch über festgelegte Formate verfügt, erscheint die handschriftliche Gestaltung des Papiers offen und erlaubt es so, die Grenzen des anderen beliebig zu überschreiten, was seit Schlegels Lucinde die romantische Liebe qualifiziert.37 Dass dieser Kurzschluss von Medium und Liebe immer wieder auf Goethes Widerstand stößt und ein großformatiges Papier, womöglich noch mit Goldschnitt, mitnichten auf eine ebenso große Liebe schließen lässt, wird zwar genauestens registriert (GB 204), jedoch wirkt sich diese Differenz nicht aus. Das Papier als materialer Träger des Briefes und damit der liebenden Kommunion wird gefürchtet oder geküsst (GB 196), Briefe, Bücher, Biographien, in: Annegret Pelz (Hg.), Frauen – Literatur – Politik, Hamburg 1988, S. 115-131, hier: S. 116. 35 Die zentrale Rolle des Pygmalion-Mythos für den Text ist in der Forschung verschiedentlich betont worden. Vgl. zuletzt Holm, Papierne Paare, S. 84 u. passim. 36 Ebd., S. 68. 37 Auch bei Goethe gibt der Papierumfang das Format vor: „Ich bin am Ende des Blatts und nehme dies zum Vorwand, daß ich verschweige, was ich zu sagen keinen Vorwand habe.“ (GB 309) Und an einer anderen Stelle heißt es: „Sage Dir alles selbst, wozu mir der Platz hier nicht vergönnt ist […].“ (GB 202)

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es bleibt aber allemal die Voraussetzung für das daraus zu erschaffende Werk und ersetzt somit nicht den geliebten Mann/Autor, sondern vertritt vorerst das Buch. „Mein erster Gang war hier herauf, wo ich Dir den letzten Brief schrieb, eh’ wir reisten. Ich wollte sehen, ob mein Tintenfaß noch da sei und meine kleine Mappe mit Papier. Alles noch an Ort und Stelle; Ach Goethe, ich habe Deine Briefe so lieb, ich habe sie eingehüllt in ein seidnes Tuch, mit bunten Blumen und goldnem Zierrat gestickt. Am letzten Tag vor der Rheinreise, da wußte ich nicht wohin mit […] ich dachte, der Nachen könnte versinken und ich versaufen, und dann würden diese Briefe deren einer um den andern an meinem Herzen gelegen hat, in fremde Hand kommen […] ich hatte Fieber aus Angst um meine Briefe […].“ (GB 191f.)

Es sind die Briefe, denen die ganze Liebe und die ganze Sorge gilt, weil sie die Voraussetzung darstellen für die Generierung eines Werks, das Anspruch auf Konstruktion von Autorschaft erheben kann. Diese Vorstellung einer liebenden und geliebten Schrift, durch die sie selbst als Autorin hervorgebracht wird, findet sich mehrfach deutlich artikuliert: „Mein Geist ist fortwährend geschäftig diese Liebe in sich umzusetzen, daraus wird und muß mein unsterblich Leben hervorgehen oder ich geh unter. –“ (GB 538) Der Meister-Autor figuriert darin dreifach: als literarischer Held, der den Erzählprozess vorantreibt, als realer Korrespondent, der den Schreibprozess in Gang hält, und als Name, der den kanonischen Kontext garantiert. Dagegen stört der reale Körper nur das eigene Projekt: „Noch enger hätte ich damals deine Kniee umschließen mögen […], und doch hielt dies mich ab vom Schreiben.“ (GB 231) Auf der Grundlage der Enteignung des Körpers bzw. der Abstraktion vom Körper entsteht bei Arnim nicht mehr eine „imaginäre Körperlichkeit […] geschlechtsloser Erotik“,38 vielmehr geht es um eine körperliche Liebe zum Kommunikationsmedium Brief, welcher nicht „das anwesende Substrat des abwesenden Gesprächspartners“39 darstellt, sondern das Versprechen auf ein ‚Werk‘. Unverhohlen parasitär verknüpft Arnim ihr Schreiben mit demjenigen Goethes und erreicht, was Eckermann versagt blieb: die CoAutorschaft des Meisters. Damit dies gelingt, gilt es auch hier, das Aufschreibesystem 1800 zu erfüllen – einem schöpferischen Autor muss eine liebende Leserin zur Seite stehen. Arnim zwingt Goethe mit Nachdruck in diese Position. Da er sie nicht freiwillig bezieht, erfindet sie kurzer-

38 Koschorke, Verschriftlichung der Liebe, S. 264. 39 Vellusig, Schriftliche Gespräche, S. 27.

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hand die Briefe, in denen er selbst sich als glühender Verehrer beschreibt: „Ich muß ganz darauf verzichten, Dir zu antworten, liebe Bettine; Du läßt ein ganzes Bilderbuch herrlicher, allerliebster Vorstellungen zierlich durch die Finger laufen; man erkennt im Flug die Schätze, und man weiß, was man hat, noch eh’ man sich des Inhalts bemächtigen kann. Die besten Stunden benütze ich dazu, um näher mit ihnen vertraut zu werden, und ermutige mich, die elektrischen Schläge Deiner Begeistrungen auszuhalten. In diesem Augenblick habe ich kaum die erste Hälfte Deines Briefs gelesen, und bin zu bewegt, um fortzufahren. Hab’ einstweilen Dank für alles; […] wundre Dich aber nicht, daß ich wie diese [die Fische, M.G.] verstumme. Um eines bitte ich Dich: höre nicht auf, mir gern zu schreiben; ich werde nie aufhören Dich mit Lust zu lesen.“ (GB 183, Hervorhebungen M.G.)

Das Verhältnis wird in diesem Brief vollständig verkehrt: Der vormalige Autor befindet sich unversehens in der Position der körperlich affizierten Leserin, deren Lust an ‚elektrischen Schlägen‘ auch in Kategorien der Lesesucht-Debatten zu beschreiben wäre. Und während sich Arnim vergewissert, dass ihre Texte tatsächlich gelesen werden und ein sie als Autor spiegelndes Urteil darüber einfordert, reagiert Goethe, wie man es von der Leserin eines Klassikers erwartet: Die Freude an den Blättern, die sich auf wunderliche Weise „zu etwas ganzem bilden“ (GB 181), verbindet sich mit größter Ehrfurcht und erhöhter Aufmerksamkeit. Die Anweisung, die die berühmten Brüder ihren lesenden Schwestern, Töchtern und Ehefrauen auf den Weg gaben – „meistens Göthe und immer Göthe“ zu lesen40 – wird in diesen Briefen verkehrt in die Form von „Bettine und immer Bettine“, schließlich kürt erst die Wiederholungslektüre einen Schreiber zu einem Autor. Diese Wiederholung legitimiert sich aus der spezifischen Originalität, die das Werk interessant macht und es in einen Prozess der Überbietung einspannt: „Deine Briefe, allerliebste Bettine, sind von der Art, daß man jederzeit glaubt der letzte sei der interessanteste. So ging mir’s mit den Blättern, die Du mitgebracht hattest, und die ich am Morgen deiner Abreise fleißig las und wieder las. Nun aber kam dein letztes das alle die andern übertrifft. Kannst Du so fortfahren Dich selbst zu überbieten, so tu es […].“ (GB 368, Hervorhebungen M.G.)

40 So exemplarisch Clemens Brentano an Bettine Brentano, Brief v. Anfang März 1803, in: Bettine von Arnim, Clemens Brentano’s Frühlingskranz. Die Günderode, in: Werke und Briefe, Bd. 1, hg. v. Walter Schmitz, Frankfurt/M. 1986, S. 1014-1019, hier: S. 1017.

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Goethe unterliegt im Rahmen dieses Brief/Romans einem fundamentalen Irrtum: Während er wähnt, in ‚seiner Bettine‘ eine Ressource für eigene Texte gefunden zu haben, und sie zu diesem Zweck mehrfach ganz unverhohlen um Geschichten der Mutter, um Reiseberichte, Nachrichten oder auch Journale bittet,41 vermag Arnim daraus ihren eigenen Nutzen zu ziehen, indem sie ihn zum Leser ihrer eigenen Biographie macht. (GB 317) Sie liefert ihm alles Gewünschte mit dem Hintergedanken, dass über eine solche Korrespondenz sie selbst an wertvolle Quellen gelangt, die ihr ein ‚Werk‘ ermöglichen – schließlich sind Briefe, im Unterschied zur Stimme, nicht mehr Eigentum des Absenders, sondern sie gehen in dasjenige des Empfängers über, auch wenn sich daraus kein Recht zur Veröffentlichung ergibt.42 Die Briefe des Meister-Autors gehören der Empfängerin, juristisches Eigentum und geistige Eigentümlichkeit fallen also zunächst auseinander, vereinigen sich aber sogleich wieder im Werk – der Autorin. Demgegenüber enthält sich Arnim als Leserin der Werke Goethes ostentativ der hermeneutischen Lektüre und der enthusiastischen Dichterfeier und liest ihn stattdessen, „als habe er geschrieben wie sie und also nur über sich.“43 In den (meist überaus kritischen) Auslassungen über seine Romanfiguren begegnet sie diesen wie realen. Zugleich stellt sie das Kommunikationsmedium ‚Werk‘ – das doch als in sich abgeschlossene und damit unantastbare Einheit aufgefasst werden muss – in Frage, wenn sie für die Wahlverwandtschaften ein Happyend und für Ottilie einen Retter verlangt oder wenn sie Wilhelms Verhalten gegenüber Mignon als Feigheit interpretiert und die Texte in ihrem Sinne zu Ende schreibt. Zugleich zeigen ihre Lektüren, dass in den literarischen Texten Goethes nicht nur der Dilettant (Werther, Wilhelm), sondern auch die Dilettantin als Figur an der Grenze vom Lesen zum Schreiben Gestalt gewinnt. Hannelore Schlaffer hat diese ‚Produktion‘ von schreibenden Dilettantinnen durch die Klassiker erörtert: „Der Autor Goethe inspiriert seine Verehrerinnen in einem Maß, daß sie zur Feder greifen, um schreibend zu werden wie seine Figuren. Die Verwechslung von Literatur und Leben, eine Kalkulation des Identifikationsangebots, mit dem der männliche Autor wirbt, insinuiert den Frauen die Berufung zur Schriftstellerei. Das Leben, von dem die Literatur erzählt, kennen sie alle besser noch als

41 Vgl. GB 362; 372; 183; 329. 42 Vgl. Nickisch, Brief, S. 219. 43 Hannelore Schlaffer: Goethe als Muse. Der Autor und die Schriftstellerinnen seiner Zeit, in: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 183-195, hier: S. 189.

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der männliche Autor selbst; es muß nur Schrift werden, um schon Literatur zu sein.“44

Selbstverständlich ist die Ironie in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde unübersehbar. Im Unterschied zu Eckermann oder auch zur Günderrode will sich Arnim eben nicht in den klassisch-romantischen Autonomie- und Künstlerdiskurs ununterscheidbar einschreiben, um dann fatalerweise darin zu verschwinden. Ihr Textverfahren entblößt vielmehr dessen Logik der Überbietung, in der das Neue zum Selbstzweck wird, sowie die prekäre Distinktion von Künstler und Dilettant, denn: „Was die Aneignungen des Genies von den Plagiaten des Talents unterscheidet, ist nicht die Ehrlichkeit, sondern die ‚starke Hand‘ der dichterischen Autorität, die sich einer Vorlage bemächtigt.“45 Und diese ‚starke Hand‘ lässt sich Bettine von Goethe höchstpersönlich bescheinigen: „eigentlich kann man Dir nichts geben, weil Du Dir alles entweder schaffst oder nimmst.“ (GB 335) Durch ihr subtiles Textgewebe aus Originalen, mehr oder weniger starken Entstellungen und eindeutigen Fälschungen bzw. Erfindungen von Briefen46 stellt sie literarisches Schreiben – dasjenige Goethes wie das eigene – als komplexe intertextuelle Prozedur aus, die erst nachträglich vom Publikum anhand der Signatur evaluiert wird, wobei deutlich hervortritt, dass dieser Evaluation grundsätzlich eine Geschlechterdifferenz eingeschrieben ist. Dem stellt sie die Genealogie eines weiblichen Erzählens gegenüber, zu deren Anerkennung sie Goethe zu zwingen sucht – indem sie dessen Mutter als Ursprung einsetzt, die folglich auch Teil am Ruhm des Sohnes hat. Nicht beim berühmten Autor, bei ihr lernt Bettine das Schreiben, ihre Geschichten sind es, die beide verbinden. „Sie sagte mir […], sie sei nicht allein um ihres Sohnes willen da, sondern der Sohn auch um ihrentwillen; und sie könne sich wohl ihres Anteils an deinem Wirken und an deinem Ruhm versichert halten […].“ (GB 392) Der Autor wird zu einer untergeordneten Position im Kosmos weiblichen Erzählens. Er ist dessen Produkt und bleibt ihm verhaftet. Wie das bereits Gesagte zeigt, ist es schwierig bis unmöglich, die beiden Figuren – Arnim als Autorin und Bettine als Protagonistin des Romans – auseinander zu halten, da der Text diese Grenze ebenso kunstvoll umspielt wie diejenige von realem Brief und fiktionalem Briefroman.47 Es lässt sich aber die These wagen, dass Arnim den Anspruch auf 44 Ebd., S. 186. 45 Higonnet, Verräterischer Diebstahl, S. 157. 46 Zur Unterscheidung des ‚echten‘ Briefkonvoluts vom Brief/Roman vgl. Bunzel, Phantasie. 47 Dasselbe gilt für Goethe, der ebenfalls als Autor und als Figur funktioniert. Verschiedentlich wurde dieses Verhältnis als Doppelgängertum gefasst.

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Autorschaft erhebt, während Bettine in der direkten Auseinandersetzung mit Goethe selbstbewusst den Status der Dilettantin für sich reklamiert, die sich weder auf Bildung48 noch auf Regeln berufen kann und will, die kritzelt, Tintenkleckse und Orthographiefehler macht (GB 134) und die dennoch Ebenbürtigkeit beansprucht. Gerade dieses Vexierspiel ermöglicht die doppelte Positionierung männlich/weiblich, die damit die höchst exklusiven Regeln des Literatursystems entlarvt. So überlässt Bettine Goethe ihren Denkmalsentwurf, der ja nichts weniger als ihn selbst zum Gegenstand hat, ganz provokativ als Beweis des Vermögens einer Inspiration „ohne Übung der Kunst“ (GB 423, Hervorhebung M. G.) und nutzt dabei die konstitutive Ambivalenz des Denkmals, das dem einen gilt, das aber vollständig das Werk eines anderen bleibt. Über das Monument, das auch der Text zu stiften sich vornimmt, generiert sich Autorschaft, an der der so Fixierte keinen Anteil hat. Seine Realisierung setzt buchstäblich den Tod des Autors voraus und konterkariert mithin den weiblichen Dienst am männlichen Dichter gründlich. Im Kontext ihres musikalischen Dilettantismus, innerhalb dessen sie ganz nebenbei die Position des Geliebten durch Beethoven ersetzt, formuliert Bettine ihr eigenes häretisches ‚Evangelium‘: „Beide Lieder von Beethoven sind hier beigelegt, die beiden andern sind von mir, Beethoven hat sie gesehen und mir viel Schönes drüber gesagt, daß wenn ich mich dieser Kunst gewidmet hätte, ich große Hoffnungen darauf bauen könnte; ich aber streife sie nur im Flug, denn meine Kunst ist Lachen und Seufzen in einem Säckelchen, und über die ist mir keine.“ (GB 354)

Gegen die am Ende des 18. Jahrhunderts forcierte Abwertung des Dilettanten durch die Gleichsetzung des Begriffs mit Oberflächlichkeit, Inkompetenz und vor allem Unverbesserlichkeit restauriert Arnim selbstbewusst die in der Renaissance ausgebildete Vorstellung vom Liebhaber der Künste aus Neigung, die sich mit dem romantischen Künstlerbild kongenial verbinden lässt. Als das Andere der Kunst, bei der es „immer auf dem Weg zum Tempel des Ruhms fortgeleiert sein“ muss und wo man deshalb „so oft marode wird“ (GB 158), positioniert Arnim den Dilettantismus auf der Seite des Vergnügens, des Affekts und des Zeitver-

Vgl. etwa Konstanze Bäumer/Hartwig Schultz: Bettina von Arnim, Stuttgart 1995, S. VIII. 48 „[…] denn ich hab’ mit den Leuten geglaubt ich sei sehr klug wo nicht gar ein Genie, und nun stoße ich auf solche Untiefen […] und ich muß erstaunt bekennen daß ich in meinem Leben nichts gelernt habe.“ (GB 236)

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treibs.49 Das Kind exponiert sich als Paradox eines dilettantischen Genies, wobei immer klar bleibt, dass dieser Geniebegriff, mit dem auch Goethe „seine Bettine“ belehnt, ein obsoleter ist, insofern das génie enfant keinerlei Anteil an Wissenschaft und Bildung hat, sondern nur – wie im Sturm und Drang – ein selbst gemachtes „Naturevangelium“, das keine Regeln, keine Grenzen und keine Traditionen anerkennt. Doch auch diese Zuschreibung wendet Bettine produktiv insofern, als sich damit auch in Bezug auf den Meister-Autor sämtliche Regeln – Respekt, Distanz, Geist und Ordnung – außer Kraft setzen lassen, um „recht vertraulich, kindisch und selbst ungereimt“ an ihn schreiben zu dürfen. (GB 92) Nicht nur sie nimmt ihn in sich auf, sondern er auch sie (GB 117), nicht nur er verwendet die von ihr gelieferten Texte, sondern auch sie schreibt seine Gedichte in Briefe um, wobei der Vorwurf der Fälschung bzw. des Plagiats natürlich nur Arnim traf, da Autoren per definitionem nur originale Texte verfassen. Arnims Anmaßung wird von Goethe bereits im Jahr 1811 mit einem radikalen Abbruch der Korrespondenz bestraft. Doch dieses Schweigen kommt zu spät. Der Schreibprozess und die damit einhergehende auktoriale Selbstermächtigung, die dafür den Namen des Meister-Autors entwendet, ist nicht mehr aufzuhalten, denn: „schon die ganze Zeit schreibe ich meine Blätter als ein verzweifelter Liebhaber [sic!], der sie dem Sturmwind preis gibt […].“ (GB 271) Hatte sie während des Briefverkehrs unterlassene Briefe durch Selbstantwort gekontert, reagiert sie auf die endgültige Verweigerung mit ihrem Tagebuch, in dem sie ihre Version von Goethe nach und nach jenem schon zu Beginn des Textes in Stellung gebrachten Dritten zueignet, wobei der Name des Autors sukzessive verschwindet, denn „Namen nennen Dich nicht!“ (GB 427)50 Ausgerechnet die schillernde Figur des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau, der als stets verschuldeter Republikaner des Hochadels, Frauenheld, Reiseschriftsteller und vor allem Landschaftsarchitekt zu eigentümlichem Ruhm gelangt ist, ersetzt im dritten Teil Goethe und schiebt sich paratextuell bis in die Widmung vor. Letztere führt mit der zweifachen Adressierung – „Seinem Denkmal“ – von Anfang an eine parodistische Ebene ein, die den Liebesroman unter 49 Ein Modell dieses selbstbewussten dilettantischen Schreibverfahrens geben die „erfundenen Reisejournale“ mit der Günderrode. (Vgl. GB 65) 50 Die Austauschbarkeit des Adressaten/Briefpartners bezeugen die umfangreichen Briefwechsel aus dem Nachlass Arnims. Vgl. z.B. auch das Zeugnis Johann Caspar Bluntschlis, er habe „Briefe der Bettina gesehen, die nicht veröffentlicht wurden, aber nicht weniger merkwürdig sind, als ihre Briefe an Goethe. Sie hatte einen jungen Schweizer aus Graubünden [namens Philipp Hössli, M.G.] in ähnlicher Weise idealisiert wie zuvor den alten Goethe.“ Bunzel, Ver-Öffentlichung, S. 65, Anm. 80.

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Vorbehalt stellt. Vor allem im Tagebuch setzt sich dies fort im nahtlosen Übergang vom Eintrag des 22. März 1832 zum nächsten mit der Anrede: „An meinen Freund“: „Wem sollte ich nun wohl dies verwais’te Blatt vererben als dem Freund, der mit so innigem Anteil mich von ihm sprechen hörte […].“ (GB 547f.) Nach seinem Tod rückt Goethe endgültig in die Position des Dritten, des Sujets, von dem zwar ständig die Rede ist, das aber keine Rolle mehr spielt und dessen Briefe nunmehr ausschließlich dazu dienen, Texte mit weiblicher Signatur zu schmücken. Diese Dekonstruktion wird im Laufe des Romans mehrfach durchgeführt: Vor dem Fürsten sind es vor allem die Mutter Goethes und Beethoven, die das weibliche Künstlertum stimulieren und bestätigen.51 Auch Pückler-Muskau erfüllt die ihm zugedachte Rolle, zumindest zeitweise, mustergültig, indem er als perfekte Leserin durch sein Briefbegehren und seine Wiederholungslektüre nicht nur Arnims Schreiben anregt (vgl. GB 562, 550), sondern auch ihr Spiel der geschlechtlichen Recodierung mitspielt. „Sie sind das männliche Prinzip in unserem Verhältnis, ich das weibliche.“52 Als dieses weibliche Prinzip vermag er, und darauf kommt es vor allem an, in seiner empfindlichen Rezeption den Text als Werk zurückzuspiegeln, und zwar auch noch zu Zeiten, da der „Seelenbund“ zwischen beiden bereits zerbrochen ist. So schreibt er am 25. November 1833 an Arnim: „ist Dir aber jene alte Art unserer Korrespondenz, wie Du sagst, nötig, um Dein Werk über und an Göthe zu vollenden, so schreibe wie Du willst, denn es wäre sehr grausam von mir, wenn ich Dich und die Welt um etwas so Schönes,

51 Dass die Briefe dem Zweck des eigenen Werks völlig untergeordnet sind, bestätigt indes auch Pückler-Muskau in einem Brief vom 25. November 1833 an Arnim, in dem er sich darüber beschwert, dass ihre Briefe „doch nur zu Befriedigung eigenen Dranges geschrieben [sind], eigentlich mit fast ebensowenig Rücksicht auf mich, als der leidenschaftliche Schütze, in Ermangelung des Wildes, sein Pulver auf einen gemalten Hirschen verschießt.“ Hermann von Pückler-Muskau: Frauenbriefe. Von und an Hermann Fürsten Pückler-Muskau, aus dem Nachlaß neu hg. v. Heinrich Conrad, München, Leipzig 1912, S. 79. 52 Pückler-Muskau an Arnim, Brief v. 26. 2. 1833, in: Frauenbriefe, S. 8. Dieses Spiel mit den Geschlechtern wird noch deutlicher im nächsten Brief vom 27. Februar 1832, wo er diese mit „Guter Mann, böser Mann“ anredet und für sich selbst reklamiert, „daß Weiber immer gern eine persönliche Beziehung in allem finden mögen“. Ebd., S. 9.

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Originelles, ja vielleicht Einziges in seiner Art bringen wollte, als dieses Werk ohnfehlbar werden muß, wenn Du Dich nicht zu sehr darin gehen läßt […].“53

Resultat ist das Paradox eines dilettantischen Werks, das innerhalb eines bereits veralteten Genres die Hindernisse weiblicher Autorschaft und deren Überwindung ausstellt und sich den Nachruhm sichert, indem es die Signatur des Meister-Autors „über seine Leiche hinweg“ erfolgreich entwendet. Im Unterschied zu Eckermanns Gesprächen wurde Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde zu keinem Zeitpunkt diesem zugerechnet, auch wenn beide vor Verwechslungen nicht sicher waren und die Poetizität des Textes wiederholt vom Brief/Roman abgezogen und der Person Arnims gutgeschrieben wurde: Eine „Gestalt gewordene Poesie“ produzierte dann (mehr oder minder) kunstlose, (mehr oder minder) authentische Dokumente.54 Doch sowohl Gegner als auch Verfechter des Romans waren stets sorgfältig darauf bedacht, die weibliche Urheberschaft zu betonen und sie vom Werk Goethes strikt abzugrenzen. Man kann vor diesem Hintergrund Arnims Beschränkung auf das Medium Brief als „Akt bewußter Weigerung“ deuten, „sich einem ästhetischen Kanon zu unterstellen“.55 Gendertheoretisch interessanter erscheint es dagegen, dies als Versuch zu werten, ihre epistolare Meisterschaft selbst kanonfähig zu machen, wodurch nebenbei die geschlechtsspezifische Ordnung dieses Kanons und seine Ausschlussmechanismen in den Blick geraten konnten. Oder anders gesagt: Während Goethe mit seinem Wanderjahre-Fiasko Kunst in Medien transformierte, gelingt Arnim die Umkehrung: die Transformation des Mediums Brief in Kunst. Der Erfolg von Arnims Schreibexperiment mit Goethe als Co-Autor, Protagonist und Objekt, das wesentlich zur Unterminierung des Literatursystems im 19. Jahrhundert beigetragen hat, hing dabei ganz von der Ambivalenz des Mediums ab, die sie als unübertroffene Medienstrategin des 19. Jahrhunderts wie kaum ein(e) andere(r) zu gebrauchen wusste: Während das gesprochene Wort auch als geschriebenes noch dem Sprecher angehört, bleibt der gattungskonstitutive Adressatenbezug des Briefes paradox. Briefe gehören nicht dem, der sie schreibt, sondern dem, der sie empfängt. Bettina von Arnim war nicht die einzige Autorin aus dem Umkreis autonomieästhetisch programmierter Literatur, der das ephemere Genre

53 Ebd., S. 80. 54 Zu dieser Rezeptionslinie vgl. Bunzel, Ver-Öffentlichung, Anm. 3 u. Anm. 28. 55 Wolf, Brief über die Bettine, S. 574f.

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des Liebesbriefs zur Monumentalisierung diente.56 Wie Rahel Varnhagen spielte sie dieses Faktum offensiv gegen die Autonomieästhetik aus und unterstellte das Denkmal für den dichterischen Heros grammatikalisch höchst zweideutig dem eigenen: „ich auch tue alles, damit sein Andenken mir blühe.“ (GB 565, Hervorhebung M. G.) Doch im Unterschied zu Varnhagen bestimmte sie die Form der Publikation selbst und wartete den Tod des Autors ab, bis sie mit ihrem ‚Werk‘ an die Öffentlichkeit trat.

56 Vgl. Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, hg. v. Karl August Varnhagen von Ense, Berlin 1833.

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3. Gottfried Kellers missbrauchte Liebesbriefe „ein zeichen tüchtiger dichter ist unter andern, dasz sich ihre weiber von dem mit- und nachdichten neben ihnen frei halten.“1

Ausgerechnet Arnims Brief/Roman, der vielen Zeitgenossen unter dem Aspekt brieflicher Authentizität als ‚Fälschung‘ galt, empfiehlt der junge Theodor Storm ein paar Jahre später seiner Braut Constanze Esmarch zur Lektüre, denn auch er hat Affären mit Medien: „Deine Briefe […] nehme ich jeden Abend mit aufs Bett und auch den Göthe, und da hat der letzte dann jedesmal das Loos ungelesen liegen zu bleiben […].“2 Als Vorbild für die von ihm gewünschte Korrespondenz mit der Verlobten einmal ausgewählt und angepriesen, missversteht er Arnims Buch als „Erinnerungen an Göthe und enthusiastische Liebe“3 gründlich. Die Brautzeit, in der beide über mehrere Jahre eine größere Distanz zu überwinden haben, betrachtet Storm als Gelegenheit, sich eine überschwängliche Geliebte und liebende Leserin nach seiner Vorstellung heranzubilden: Constanze soll schreiben wie Bettina. Als liebende Leserin möge sie liebende Briefe produzieren, die die männliche Position durch ihr Schreiben positiv spiegelt und den Produktionsprozess des Autors anregt. Dem ging eine grundlegende Unzufriedenheit mit Constanze Esmarchs prosaischem Verhältnis zum brieflichen Verkehr voraus, welcher zwar an eindeutigen Liebesbekundungen nichts zu wünschen übrig ließ, die Storm aber nicht genügten.4 Denn Spuren des mangelnden Respekts vor dem Schreibakt wie vor dem Medium selbst offenbarten sich ihm in den Briefen der Verlobten allenthalben: in Tintenflecken und Rechtschreibfehlern, in der Verwendung schlechter Tinte und noch schlechteren Papiers, im Versäumen von Posttagen und falschen Datierungen, in zu kurzen oder auch zu nichtssagenden Briefen und immer wieder im ‚Klippschulenausdruck‘, den er wie ein Oberlehrer korrigierte. Dabei er1 2

3 4

Grimm, Die deutschen schriftstellerinnen des neunzehnten jahrhunderts, S. 173. Theodor Storm an Constanze Esmarch, Brief v. 2.5.-4.5.1844, in: Theodor Storm – Constanze Esmarch. Briefwechsel (1844-1846), Bd. 1, in: Kritische Ausgabe, hg. v. Regina Fasold, Berlin 2002, S. 59. Storm an Esmarch, Brief v. 13.6.-16.6.1844, in: Briefwechsel, Bd. 1, S. 113. „Du schreibst Dienstag nachmittag, daß Du so furchtbar abgespannt bist – warum steht grade denn, Du, Dange, in einem Satze der meine Besorgniß für Dich erregt, dieser Klippschulenausdruck?“ Storm an Esmarch, Brief v. 30.5.-2.6.1844, in: Briefwechsel, Bd. 1, S. 101.

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schien ihm seine wiederholte, der Brieftheorie des 18. Jahrhunderts entstammende Aufforderung „Schreibe wie du redest“ kein Widerspruch zu sein: denn solch hyperbolischer Ausdrücke wie des mehrfach inkriminierten „furchtbar“ habe man sich gerade unter dem Paradigma des natürlichen Sprechens zu enthalten.5 Aus der Nachlässigkeit und dem Desinteresse der Geliebten an einer „reinen einfachen Sprache“ wie auch an regelmäßigem Austausch nährte Storm wiederum, erfahren im literarischen Liebesdiskurs, ein grundlegendes Misstrauen und verfolgte die Verlobte mit quälenden Zweifeln an ihrer Liebe, die mit überspannten Liebeserklärungen abwechselten. Mit seinen Verdächtigungen wie auch mit den ständigen Ermahnungen, korrekt datiert, leserlich und vor allem liebesinnig zu schreiben, traktierte Storm seine Verlobte wiederholt: „Weißt Du, was am Weihnachtabend auch dazu beitrug, mich auf eine Zeitlang etwas unwirsch zu machen? – Daß Dein Montagsschreiben in Schrift und Gedanken so sehr den Stempel der Flüchtigkeit an sich trug und in mir das Gefühl erregte, als hättest Du nur geschrieben, um mir zu Gefallen den Brief zu verlängern. Laß mich Eins nicht fehlbitten, meine Constanze; wenn Du mir auch noch so wenig schreibst, laß mich immer fühlen, daß Du mir im Behagen Deiner Liebe, aus herzlicher Nothwendigkeit geschrieben hast. Du schreibst gewöhnlich die Hälfte fast von Deinem Briefe am letzten Nachmittag, einige Stunden vor Abgang der Post; das beweist mir, daß Du es mehr mir als Dir selbst zu Gefallen thust, daß es Dir nicht, so wie mir, Bedürfniß und Mittel zum Austausch Deiner Liebe ist. Deine Briefe geben mir nur sehr selten den Eindruck Deiner Persönlichkeit, wie das bei meinen, glaub ich, der Fall ist; daher hab ich gewöhnlich beim Lesen Deiner Briefe ein Gefühl der Täuschung […]. Soll ich es aber sagen mein Herz, Du betrachtest es gewöhnlich zu sehr als Nebensache und als eine zu leichte Kunst; ich habe auf diese halbe Seite eine Stunde geschrieben, Du schreibst in der Zeit einen ganzen Brief.“6

Offenbar wird die Position der liebenden Leserin von Constanze Esmarch verweigert. Ihr Schreiben folgt anderen Regeln als denen, die der Bräutigam bestimmt hat. Hingegen wirkt die Anpassung an die vom Empfänger geforderte Form auf diesen mühsam und lustlos, die ‚Persönlichkeit‘ will sich nicht einschreiben in die Briefe und der Ef5

6

Vgl. dazu exemplarisch Karin Müller: „Schreibe wie du sprichst!“ Eine Maxime im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Eine historische und systematische Untersuchung, Frankfurt/M. u.a. 1990; Werner Jung: Zur Reform des deutschen Briefstils im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zu C. F. Gellerts Epistolographie, in: ZfdPh 114 (1995), S. 481-498. Storm an Esmarch, Brief v. 26.12.-28.12.1845, in: Briefwechsel, Bd. 2, S. 115.

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GOTTFRIED KELLERS MISSBRAUCHTE LIEBESBRIEFE

fekt der Täuschung, der sich beim Gegenüber einstellt, konterkariert gänzlich die Erwartungen, die ein empfindsamer Liebesbriefwechsel weckt. Eine ganz ähnliche Konstellation findet sich in Gottfried Kellers Novelle Die mißbrauchten Liebesbriefe, die 1865 in der Deutschen Reichszeitung vorabgedruckt wurde und 1874 im Rahmen des zweiten Bandes der Leute von Seldwyla erschien. Vorbild ist allerdings nicht der Briefwechsel des Freundes Theodor Storm, sondern der a priori für die Publikation bestimmte voreheliche Briefverkehr zwischen Fanny Lewald und Adolf Stahr, die deshalb beide von Keller apodiktisch als „das vierbeinige zweigeschlechtliche Tintentier“ denunziert wurden.7 In der Novelle soll eine wackere und tapfere Hausfrau zur Muse und Liebesbriefschreiberin erzogen werden, die ihren Gatten zum Autor macht. Danach allein strebt nämlich der Protagonist Viggi Störteler, der bereits zu Beginn der Geschichte neben seinen erfolgreichen bürgerlichen Geschäften vor allem die Anerkennung als Schriftsteller erstrebt. Dass dieses Begehren illegitim sei, daran lässt die Erzählung von Anfang an keinen Zweifel, folgte doch die literarische ‚Bildung‘ nicht mehr dem verbindlichen Muster – „Göthe und immer Göthe“ –, sondern den evasiven Lektüregewohnheiten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Er „abonnierte in allen Leihbibliotheken und Lesezirkeln der Hauptstadt, hielt sich die ‚Gartenlaube‘ und unterschrieb auf alles, was in Lieferungen erschien […].“8 Damit wäre die im Text als utopischer Horizont markierte biedergemütliche Häuslichkeit noch nicht weiter gestört, doch Viggi kann es nicht dabei belassen. Pseudonym verschickt er ‚Essays‘ und ‚Novellen‘ an die verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen, wobei vor allem die „Sonntagsblättchen“ reagieren und durch den Abdruck die Fiktion von der eigenen Autorschaft erblühen lassen. Zu deren Gedeihen, das hat Viggi durchaus der Literatur der Meister entnommen, bedarf es jedoch eines weiblichen Pendants, welches das anonyme Treiben intimisiert. Dass sich seine spinnende und Erbsen lesende Gattin dafür möglicherweise nicht eignet, bleibt ihm allerdings verborgen. Dem fatalen Kurzschluss ‚Frauenkörper gleich weibliche Position‘ folgend, verpflichtet er sie vielmehr auf Lektüre, die sich, wie seine eigene, ziemlich wahllos gestaltet. Doch der Erziehungserfolg will 7

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Gottfried Keller an Lina Duncker, Brief v. 6.3.1856, in: Gottfried Keller: Gesammelte Briefe in vier Bänden, Bd. 2, hg. v. Carl Helbling, Bern 1951, S. 154. Gottfried Keller: Die mißbrauchten Liebesbriefe, in: Die Leute von Seldwyla, Zweiter Band, in: Sämtliche Werke, Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 5, hg. von Walter Morgenthaler u.a., Zürich 2000, S. 97-180, hier: S. 97 (im Text mit Sigle ML und Seitenzahl).

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DILETTANTISMUS MÄNNLICH/WEIBLICH

sich nicht einstellen, auf seine Nachfragen weiß die Frau nichts zu entgegnen, und beim Vorlesen „seiner neuesten Handschrift“ schläft sie prompt ein. Um sie allen Widerständen zum Trotz dennoch zu sich „heranzubilden“ (ML 100), „machte er schnell einen Erziehungsplan, legte eine Anzahl Bücher zurecht, trat fest vor die Frau hin und wies sie an, unfehlbar zu lesen und zu lernen, was er ihr vorlegte.“ (ML 101) Vorbildliche Ehefrau, die sie im Sinne des 19. Jahrhunderts ist, fügt sie sich den Anforderungen um des Haussegens willen und heuchelt Interesse und Aufmerksamkeit, erreicht den ersehnten Frieden aber nicht. Vielmehr verlangt Viggi anlässlich einer Geschäftsreise von ihr einen Briefwechsel, „der sich einst darf sehen lassen!“ (ML 102): „Nun gilt es, mein liebes Weibchen, deine Empfindungen und Gedanken in Fluß zu bringen! Ich werde dir gleich von der nächsten Stadt aus den ersten Brief schreiben; diesen beantwortest du im gleichen Sinne. Daß du mir ja nicht schreibst, das Sauerkraut sei bereits geschnitten und du habest mir neue Nachthemden bestellt […] und was dergleichen Trivialitäten mehr sind, die du sonst zu schreiben pflegst! Nein doch! Ermanne dich oder vielmehr erweibe dich einmal! Möchte ich beinahe sagen, d.h. kehre deine höhere Weiblichkeit hervor […]. Kurz merke auf den Ton und Hauch in meinen Briefen und richte dich danach, mehr sag ich nicht!“ (ML 102)

Wie Constanze Esmarch missversteht Gritli Störteler das Medium Brief, da sie darin auf Vertrautheit durch Alltäglichkeit setzt. Wenn der wahre Brief seiner ‚Natur‘ nach poetisch sein, sprich zur Produktion von LITERATUR ‚aufregen‘ soll, dann verlangt diese Programmierung nachhaltige Stilisierung zur Natürlichkeit; und das bedeutet vor allem die Erfindung von Empfindung, die nur Bestand hat, wenn sie sich umgehend in Schrift verwandelt. Damit nun das Alltägliche, worum es doch ‚eigentlich‘ geht, nicht ganz verschwindet, verordnet Viggi eine säuberliche Trennung zwischen zur Literatur bestimmten Liebesbriefen und privater Korrespondenz und setzt damit das charakteristische Merkmal des empfindsamen Briefes – die Aufhebung der Unterscheidung von öffentlich und privat, allgemein und intim – außer Kraft.9 Entschieden fordert Störteler die Besetzung der unter den verschärften massenmedialen Bedingungen des 19. Jahrhunderts vakant gewordenen Positionen im Aufschreibesystem. In welchem Sinne sich dieses aber radikal geändert hat, lehrt ihn seine Gattin im Laufe der Novelle schmerzhaft. Um sich des „Schreckgespenstes“ Postbote zu erwehren und den aus ihrer Sicht aberwitzigen Forderungen zu genügen, kommt 9

„Wir wollen die geschäftlichen und häuslichen Angelegenheiten auf solche Extrazettel setzen, damit man sie nachher absondern kann.“ (ML 104)

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GOTTFRIED KELLERS MISSBRAUCHTE LIEBESBRIEFE

Gritli nämlich auf die Idee, diese Briefe von einer dritten Person schreiben zu lassen. Diesen Dritten findet sie in dem schüchternen und den Frauen zugeneigten „armen Unterlehrer“ Wilhelm, der sich mit Freuden auf ein Spiel einlässt, das ihm erlaubt, von einer Geliebten zu träumen. „Sie ging also hin und schrieb den Brief ihres Mannes ab, und zwar dergestalt, daß sie einige Worte veränderte oder hinzusetzte, als ob eine Frau an einen Mann schreiben würde.“ (ML 106) Den Brief stellt sie Wilhelm selbst – „ohne Adresse“ – über die Hecke zu. Obgleich von Gritli darauf hingewiesen, dass es sich um einen „Scherz“ handle, verfällt dieser der Illusion, der Liebesbrief, wenn auch ein bisschen „kurios und töricht geschrieben“ (ML 107), gelte ihm, und erteilt „darauf eine Antwort auf Viggis Brief, wie sie dieser nur wünschen konnte.“ (ML 107) Als dann auch noch ein „idealer Name“ gefunden ist, der den „prosaischen Hausnamen“ Gritlis (ML 112) ersetzt, steht Viggis Vorhaben nichts mehr im Wege: „Nun ging also die seltsame Briefpost tagtäglich und nach einiger Zeit in der Tat zweimal des Tages. Gritli hatte nun alle Tage vier lange Briefe abzuschreiben, weshalb ihre feinen rosigen Finger fast immer mit Tinte befleckt waren. Sie seufzte reichlich bei diesem ungewohnten Tun, mußte bald lachen, bald weinen über die Einfälle und Mitteilungen der beiden Briefsteller, die durch ihre Hand gingen und sie unterschrieb die Briefe an Viggi mit Alwine, diejenigen an Wilhelm mit Gritli, wobei sie dachte: der ist wenigstens zufrieden mit meinem armen Namen. […] So ging denn der Verkehr wie besessen und an drei Orten häufte sich ein Stoß gewaltiger Liebesbriefe an. Viggi sammelte die vermeintlichen Briefe seiner Frau sorgfältig auf, Gritli verwahrte die Originale von beiden Seiten, und Wilhelm bewahrte Gritlis feine Abschriften in einer dicken Brieftasche auf seiner Brust, während er sich um seine eigenen Erzeugnisse nicht mehr kümmerte.“ (ML 113f.)

Gritli verfährt in ihren Bearbeitungen äußerst sorgsam, auch wenn ihr in den verschiedenen Anreden einige Verwechslungen unterlaufen. Während sie die „großen hohlen Worte“ belässt, tilgt sie alles aus Wilhelms Briefen, das sie an sich persönlich gerichtet empfindet. Sie besetzt also kurzerhand die beiden Positionen mit zwei männlichen Protagonisten, während sie sich selbst herauszieht und eine Position wieder belebt, die vor der LITERATUR datiert: diejenige des „Kanzlisten“ (ML 115), der kopiert, was andere schreiben, der aber in dieser Rolle zum bedeutenden Bearbeiter und Redakteur der Originale wird. Damit positioniert sich Gritli äußerst apart zwischen der Rolle des Kopisten, die vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein männlich besetzt war, und derjenigen der Sekretärin, die am Ende des 19. Jahrhunderts an das neue technische Medium der Schreibmaschine angeschlossen wird, um zwischen männli129

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chem Schreiber und seiner Schrift zu vermitteln. Die Stelle der liebenden Leserin besetzt sie dagegen mit einem Mann. Sie selbst, ihre Seele, ihre Subjekthaftigkeit, die im empfindsamen Brief erfolgreich erfunden und dann ‚authentisch‘ mitgeteilt werden,10 bleiben aus dem Spiel. Die Protagonistin aus Kellers Novelle erfüllt mithin die Anforderungen, die in der Moderne an ein Medium gestellt werden – sich der Wahrnehmung zu entziehen und dennoch den Sinn mitzuerzeugen, denn „Medien wirken wie Fensterscheiben: Sie werden ihrer Aufgabe um so besser gerecht, je durchsichtiger sie bleiben, je unauffälliger sie unterhalb der Schwelle unserer Aufmerksamkeit verharren.“11 Die Szenerie gerät außer Kontrolle, als das Medium durch einen dummen Zufall sichtbar und ‚Autorschaft‘ auf ihre medialen Voraussetzungen zurückgeworfen wird. Das stattliche Konvolut, das auf so überaus kuriose Weise entsteht, übertrifft zwar alle Erwartungen, die sich Viggi von seinen „Briefen zweier Zeitgenossen“ (ML 115) macht. Doch mit der Entdeckung des Schwindels wird der Rückzug der Frau aus der weiblichen Position evident. In seiner Empörung über den „himmelschreiendsten Betrug“ (ML 117) rekapituliert Viggi das von ihm selbst erzwungene Verhältnis zutreffend: „Sie nimmt die treuen, ehrlichen Ergüsse, die Briefe des Gatten, verrenkt ihr Geschlecht und verdreht die Namen und traktiert damit, prunkend mit gestohlenen Federn, den betörten Genossen ihrer Sünde! […] doch nicht genug! Sie dreht dem Geschlechte abermals das Genick um, verwechselt abermals die Namen und betrügt mit tückischer Seele den arglosen Gemahl mit den neuen erschlichenen Liebesbriefen […]. So äffen sich zwei unbekannte Männer, der echte Gatte und der verführte Buhle, in der Luft fechtend, mit ihrem niedergeschriebenen Herzblut […].“ (ML 117)

Doch, und damit sind wir im 19. Jahrhundert und seiner im Vergleich zum 18. noch einmal deutlich modifizierten Geschlechterordnung angekommen, in der die Geschlechterdifferenz unverhohlen ontologisch begründet und das Wesen des Weibes deutlicher als zuvor bei Heim und Herd verankert wurde,12 formuliert der Protagonist damit gerade das,

10 Vgl. Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale, Würzburg 2003, S. 232. 11 Sybille Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat, in: Dies. (Hg.), Medien. Computer. Realität, Frankfurt/M. 1998, S. 73-93, hier: S. 74. 12 „Zuletzt aber habe er das Unmögliche von ihr verlangt, nämlich ihre Frauengefühle in einer geschraubten und unnatürlichen Sprache und in langen Briefen für die Öffentlichkeit aufzuschreiben und, statt ihrem häuslichen

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was der Erzähler ihm selbst zum Vorwurf macht: dass er das ‚schöne‘, weil häusliche und sittsame, auf Privatheit statt Öffentlichkeit vorbildlich bedachte ‚Wesen‘ seines Weibes durch den Zwang zum Schreiben und die Erziehung zur Muse zu verrenken sucht. Ganz im Sinne Jacob Grimms besteht Gritli frühzeitig darauf: „ein rechter Dichter soll seine Kunst verstehen ohne eine solche Einbläserin.“ (ML 101) Dass sie sich im Text mit der eingeschalteten Erzählung vom Schorenhans als die eigentliche Dichterin präsentiert, die, ganz in der Tradition Therese Hubers dem Gatten ihren Text zur Publikation schenkt, weil ihr eigener ‚armer Name‘ keine Öffentlichkeit verträgt, gehört zu einer der Pointen der Geschichte, die ihr tumber Ehemann freilich nicht verstehen kann. Auch der Vorwurf des „Vampyrismus“ (vgl. ML 117) fällt in dieser Perspektive auf ihn selbst zurück, ist er es doch, der sich an ihrer „höheren Weiblichkeit“ bereichern will. In seiner grenzenlosen Einfalt verstößt er dieses ‚Bild einer Frau‘ und bereitet damit seinen unaufhaltsamen gesellschaftlichen und ökonomischen Abstieg vor, der mit der Ahnung einhergeht, „daß er nun selbst der Gegenstand einer förmlichen Geschichte geworden sei“ (ML 117), während die tugendhafte Gritli sich ihrer Liebe zum tugendhaften Wilhelm bewusst wird und einem tadellosen Happyend entgegensieht. Die pädagogischen Programme zur Erziehung des weiblichen Lesegeschlechts werden in Kellers Novelle zusammen mit ihrem literarischen Ort, dem empfindsamen Brief, systematisch karikiert. Wahrhaftigkeit ist keine Frage der authentischen Schrift mehr, wahre Liebe offenbart sich vielmehr ausgerechnet in den Fälschungen (ML 108, 110), für die das Medium Brief durch die Tatsache der ihm inhärenten zeitlichen und räumlichen Differenz ohne die verlässlichen Zeichen der Präsenz die besten Voraussetzungen bietet. Fiktion wie Fälschung setzen Anonymität voraus, die durch die mediale Verbreitung von Kommunikation garantiert wird, das heißt: Medien ermöglichen Literatur, die aber zu ihrem Funktionieren Medien vergessen muss. Störtelers brieflicher Unfug untergräbt die Bedingung des Literatursystems: „daß Frauen keine Literatur machen, sondern intime Geständnisse“.13 Die von seiner Frau geforderten Briefe sollen schon Literatur sein, d.h. sie sollen den Bereich natürlichen Geschmacks und freier Intimität bereits in poetische Bilder transformieren. Das aber wäre gerade die Aufgabe des Autors.

Leben nachzugehen, die schöne Zeit mit einer ihr fremden und widerwärtigen, nutzlosen Tätigkeit zu verbringen.“ (ML 126) 13 Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751-1913, Berlin 1993, S. 142.

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Galt Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde vielen Zeitgenossen als Fälschung, weil hier ein Autorname entwendet und die so signierten Briefe zunächst entsprechend ‚redigiert‘ und dann dem eigenen Werk eingefügt wurden, so gerät bei Keller das Adressierungsspiel mit den Geschlechtern systematisch zur Frage von Original und Fälschung, die sich wiederum – über die in die Briefe eingeschaltete Erzählung vom Schorenhans – mit den Problemen einer realistischen Poetik verbindet. Der Skandal der „mißbrauchten Liebesbriefe“ besteht zum einen in ihrer Signatur, denn nur an ihr lässt sich eine Täuschungsabsicht feststellen, die eine Differenz verleugnen will. „Das besondere an der Signatur ist, daß sie ihre zweifache Einschreibung auszustellen scheint, denn das, was in ihr auf Einmaligkeit verweist, ist ein Zugleich von Ähnlichkeit und Differenz zu einem nicht vorhandenen Original.“14 Gritli macht aus den echten Briefen falsche, indem sie deren Unterschriften fälscht. Zum noch größeren Teil besteht der Skandal aber in der „Verrenkung des Geschlechts“. Der sentimentale Briefwechsel wird damit zum „hommo-sexuellen Briefverkehr“,15 was die Aufschreibeordnung in ihren Grundfesten destabilisiert. Dabei nutzt Gritli nur die besonderen Bedingungen des Mediums Brief, der „in seinem ständigen, osmotischen Hin und Her die Grenzen zwischen den auf scharfe Kontrastierung gegründeten Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit [perforiert].“16 Kellers Novelle propagiert mithin die Erkenntnis, dass ‚weibliches‘ oder ‚männliches‘ Schreiben den Texten gar nicht anzusehen ist, sondern dass erst die Signatur und die Adressierung diese Differenz einschreibt. Was in der Romantik noch als beliebtes literarisches Spiel galt – „die reizende Verwirrung der Geschlechter“ – wird in diesem Fall zum Debakel, denn nur eindeutig markierte und durch Geschlechtskörper beglaubigte Texte reüssieren auf dem heiß umkämpften literarischen Markt. Während die Romantiker ihre Frauen noch relativ gefahrlos zur Mitarbeit am eigenen Werk verpflichten konnten, weil sie sie durch die Begrenzung auf „Briefchen und Romänchen“ von Autorschaft fernzuhalten meinten, muss der Erzähler der Novelle angesichts der unkontrollierbaren literarischen Proliferation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Grimm darauf bestehen, dass sich die „weiber von dem mit- und nachdichten neben ihnen frei halten.“ Deshalb bleibt für die naive Erzählerin Gritli und ihren das Genre des Liebesbriefes souverän beherrschenden Schullehrer

14 Görling, Kulturelle Autorität, S. 709. 15 Siegert, Relais, S. 143. 16 Juliane Vogel: Briefwechsel und Geschlechtertausch. Rahel Varnhagen und Friedrich Gentz, in: Hämmerle/Saurer (Hg.), Briefkulturen und ihr Geschlecht, S. 55-70, hier: S. 61.

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die Hochzeit, wohingegen der ‚wahre‘ Dichter, der Erzähler, den skurrilen Stoff in eine noch skurrilere Novelle verwandelt: mit Viggi Störteler und Kätter Ambach, zwei wenn nicht begabten, so doch zumindest begeisterten Briefschreibern, in den Hauptrollen.17 In der Mitte des 19. Jahrhunderts verschwindet das Genre Briefroman zwar nicht, aber es wird deutlich abgewertet. „Die Entwicklung führt vom Briefroman zum Romanbrief“,18 wobei die Konstruktion des Briefromans verworfen, seine psychologischen Möglichkeiten aber erhalten und intensiviert wurden. Die zeitgenössische Literaturkritik quittierte diese Entwicklung einer ‚Verinnerung‘ der Literatur durch Integration eines ‚weiblichen‘ Genres mit dem Vorwurf der „Verweiblichung“.19 Eben diese Kritik findet sich auch in Kellers Novelle, die Viggis ambitioniertes und zugleich epigonales Projekt eines Liebesbriefromans – „Niederschrift von schon Gelesenem und Geschriebenem, mithin Literatur aus zweiter Hand“20 – Gritlis schlichte Erzählung vom Schorenhans (ML 110f.) gegenüberstellt. In letzterer gibt es keine Innerlichkeit und keine psychologische Erklärung, vielmehr folgt sie ganz den Prinzipien des poetischen Realismus: Die „kleine närrische Geschichte“ (ML 110) ist eine von denen, die das Leben selbst schreibt, deren ideale Schönheit aber erst unter der verklärenden Hand eines Dichters zum Vorschein gelangen kann. Doch die Alternative zur „wilden und schülerhaften Literatur“ (ML 131) wird im Text noch grundsätzlicher entfaltet, entschließt sich doch der zunächst düpierte Liebhaber Wilhelm [sic!] zum Verzicht aufs Schreiben und zum Rückzug in die Natur. Gegen die Literatur aus zweiter Hand gibt es im Wald die wahre Schrift der Natur ebenso zu lesen wie diejenige einer ehrwürdigen, archaischen Kultur. Und es ist gerade der Verzicht auf eine Veröffentlichung seiner Entdeckung, die in der Erzählung besonders betont wird: ‚Eigentlichkeit‘, so die Botschaft, gedeiht nicht im öffentlichen Raum, sie wird nur errungen durch den heroischen Verzicht auf Publizität. Viggis Missverständnis gegenüber dem, was er von den Briefen seiner Frau verlangt, entspringt – obwohl seine Charakterisierung dies nahe legt – nicht aus individuellem Versagen, sondern aus den radikal verän17 Auch Keller sah sich, bei aller Distanz zum Betrieb, letztlich als „ein Auktor, bei dem es sich außer dem Honorar auch noch um eine gesetzmäßig ordentliche Entwicklung handelt, wo das letzte Opus immer das beste und ein Fortschritt erkenntlich sein soll.“ Gottfried Keller an Lina Duncker, Brief v. 6.3.1886, in: Gesammelte Briefe, Bd. 2, S. 151. 18 Fliedl/Wagner, Briefe zur Literatur, S. 40. 19 Ebd. 20 Rolf Selbmann: Dichterberuf. Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Darmstadt 1994, S. 132.

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derten, aber noch unverstandenen und ungewohnten Reproduktionstechniken, in denen genau das verlangt wird, was Gritli macht: mit allen Mitteln Texte herbeizuschaffen und deren Authentizität zu simulieren. Denn erst durch die Verarbeitung ihrer originalen Handschriften zu Abfall erhalten die beiden Männer ihr ephemeres Sein (als Schriftsteller der eine, als Liebhaber der andere) aus der Zirkulation zugestellt. Das Original, die authentische Handschrift, ist schon beim Kauf der Briefmarke Makulatur – sein Verschwinden ist Bedingung dafür, daß die Literaturproduktion läuft.“21 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehen die Uhren des Literaturbetriebs anders, oder, mit Luhmann gesprochen: Funktion, Code und Programm des Literatursystems sind aus sicher gewähnten Verankerungen gerissen. Diese Zerrüttung, die zugleich das Ende einer Epoche der LITERATUR anzeigt, verdankt sich einerseits veränderten Distributionsbedingungen und Vertriebsformen, zum anderen aber auch den boomenden periodischen Printmedien, allen voran den Familienzeitschriften, die als eine Art populäres Gesamtkunstwerk das Literatursystem 1800 beerben. In der periodischen Presse entsteht nämlich, auch darauf hat Bernhard Siegert zu Recht hingewiesen, „eine Literatur nicht von unverwechselbaren, weil individuellen Autoren, sondern von Schreibern, die so beliebig austauschbar sind wie ihre Pseudonyme. Sie produzieren eine Standardliteratur für ein Medium, dessen Kapazität aufgrund seiner Reproduktionsgeschwindigkeit derart groß ist, daß es von vornherein auf eine Unersetzlichkeit von Autoren – wie sie einen Goethe zu dem einen Goethe gemacht hat – verzichten muß.“22

Damit wird auch der alte Gegensatz zwischen ‚Autoren‘ und ‚Dilettanten‘ obsolet. Wenn das Literatursystem angetreten ist, die Anonymität von Kommunikation im autorsignierten Werk und seinem Pendant, der liebenden Leserin, zu kompensieren, so wird dieses Anliegen zwar von den neuen Massenmedien übernommen, aber nur noch als Simulation. Es geht nicht mehr darum, Anonymität erfolgreich zu substituieren,23 sondern darum, die Teilnehmer anonymer Massenkommunikation an deren Strukturen und Regeln zu gewöhnen, und das heißt an den „Verkehr mit

21 Siegert, Relais, S. 143. 22 Ebd, S. 140. 23 Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 265.

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Gespenstern undzwar [sic!] nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst.“24

24 Franz Kafka an Milena Jesenska, Brief v. Ende März 1922, in: Franz Kafka, Briefe an Milena, erw. Neuausgabe, hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller, Frankfurt/M. 1983, S. 302.

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V. R E A L I T Ä T

MASSENMEDIALER

KOMMUNIKATION

1. Mediale Filiationen: Brief – Zeitschrift – Novelle „Und was das allerschlimmste bleibt, / Gar mancher kommt vom Lesen der Journale. / Man eilt zerstreut zu uns, wie zu den Maskenfesten, / Und Neugier nur beflügelt jeden Schritt.“ (F 17)

Die Klage des Dichters aus dem Vorspiel zu Faust verklang ungehört, die Durchsetzung anonymer Massenkommunikation war im 19. Jahrhundert nicht mehr aufzuhalten. Eine besondere Rolle spielte dabei ausgerechnet jenes Medium, das im Literatursystem zur Verkörperung persönlicher Interaktion schlechthin stilisiert und durch die Aufforderung „Schreibe wie Du redest“, die Arnim höchst wirkungsvoll inszeniert und die noch Storm an seine Braut wiederholt, fixiert wurde: der Brief. Sein Charakteristikum, als Elementarform zeitlich und räumlich distanzierter Kommunikation an der Grenze zwischen Vertraulichkeit und Öffentlichkeit, von Intimität und Anonymität, von Schrift und unmittelbarer Erfahrung angesiedelt zu sein, prädestinierte ihn zum idealen Vermittler der sich um 1800 durchsetzenden literalen Kommunikationsverhältnisse, in denen alle Bereiche – vom Wissen über das Gefühl bis zur Nachricht – der „aktuellen periodischen Kommunikation“ unterworfen wurden.1 Der Brief im Spannungsfeld zwischen Absender und Empfänger spiegelt aber auch sämtliche Probleme, die in der postalischen Zirkulation entstehen können und denen auch die periodische Presse von je ausgesetzt war: von der Möglichkeit der Fehladressierung der Mitteilung und der Unmöglichkeit der Zustellung über die Zensur bis hin zum materiellen Verlust. Diese Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation, die dem Bereich der Zirkulation entstammt, wird zwar mit der Einrichtung des Postwesens – Briefkästen, regelmäßige Leerungen, Postboten, Briefmarken, gesetzlicher Schutz des Postgeheimnisses – nach und nach stark vermindert,2 das Prinzip selbst aber bleibt bestehen. Der Absender kann nie sicher sein, dass seine Nachricht den Empfänger unversehrt erreicht, und noch weni1 2

Vellusig, Schriftliche Gespräche, S. 13. Vgl. hierzu ausführlich Siegert, Relais; Fontius, Post und Brief.

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ger, dass er eine Antwort erhält. Erst danach macht sich die zweite Unwahrscheinlichkeit bemerkbar: dass der Empfänger Information und Mitteilung auch unterscheiden und mithin neue Kommunikation anschließen kann. Der postalische Verkehr geht also der brieflichen wie der periodischen Kommunikation in Massenmedien voraus, ein halbwegs geregelter Postdienst bildet die materiale Bedingung für das regelmäßige Erscheinen der Zeitungen und später der Wochenschriften, deren Periodizität aus den wiederkehrenden Posttagen resultiert und die nicht nur wissenschaftliche Gelehrsamkeit und poetische Erbauung zirkulieren lassen, sondern auch eine immer breitere Versorgung der (lesenden, städtischen) Bevölkerung mit Nachrichten aller Art garantieren.3 Die enge Verbindung zwischen Brief und periodischer Presse zeigt sich indes auch in der großen Bedeutung, die dem Brief als Genre bei der Entstehung der Periodika zukommt. Sie lässt sich am unmerklichen Übergang vom ein exklusives Publikum ansprechenden, gelehrten Brief zur „Gelehrtenzeitung“ ebenso zeigen4 wie an den Moralischen Wochenschriften, die ihr ‚Wissen‘ möglichst vielen zugänglich machen wollen und sich zu diesem Zwecke überwiegend in Briefform präsentieren.5 Da3

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Auch in Grimms Wörterbuch wird die Nähe der „Neuen Zeitung“ zum Brief betont: „unter der bezeichnung neue z. (nova, relatio, aviso), was soviel wie actuelle nachricht besagt, beilage zu briefen (s. 1 b); solche beilagen wurden wegen ihres allgemeinen inhaltes (kriegsereignisse, religiöse und politische vorgänge, curioses, entdeckungen) seit dem 15. jahrh. von den empfängern schriftlich, danach durch den druck vervielfältigt […]und verbreitet, jedoch erst seit den 80er jahren des 16. jahrh.s zu regelmäszigen (noch geschriebenen und für einzelne empfänger bestimmten) wochenberichten ausgestaltet. deren gewerbsmäszige drucklegung und vertrieb schuf die z. im modernen sinne: die älteste gedruckte z. erschien 1609 in Straszburg.“ Eintrag „Zeitung“, in: Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 31, München 1984, Sp. 591-599; vgl. hierzu auch Georg Steinhausen: Die Entstehung der Zeitung aus dem brieflichen Verkehr, in: Archiv für Buchgewerbe und Gebrauchsgraphik 1928, H. 4, S. 51-64. Zur Rolle der Zeitung bei der Zirkulation gelehrten Wissens in der Frühen Neuzeit vgl. Hedwig Pompe: Zeitung/Kommunikation. Zur Rekonfiguration von Wissen, in: Jürgen Fohrmann (Hg.), Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2005, S. 157-322. Hierzu immer noch einschlägig Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968; ausführlich zum Verhältnis von Aufklärung und Öffentlichkeit vgl. Hans-Wolf Jäger (Hg.): „Öffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert, Göttingen 1997; zu den frühen Vorläufern einer ‚Massenpresse‘ im 17. und 18. Jahrhundert unter kommunikationstheoretischen Aspekten

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bei nutzen sie vor allem die appellative Funktion zur Erbauung und Belehrung und setzen didaktisch auf reziproke Effekte: „Liest man Wochenblätter, so lernt man das Briefeschreiben; schreibt man Briefe, sind sie potentiell für die Öffentlichkeit (der Blätter) bestimmt, zumindest wird dies suggeriert, wenn in den Wochenschriften Leserzuschriften oder aufgefundene Briefe veröffentlicht werden […].“6 Wie eng Zeitungen und Zeitschriften mit der Briefkorrespondenz verbunden sind, zeigt sich auch in formalen Affinitäten.7 So nutzen die Periodika sämtliche gattungsspezifischen Vorteile des Briefes – also persönliche Adressierung, konstitutive Unordnung, zwanglose Argumentation, Nebeneinander von Themen und Genres, am Gespräch orientierte Verständlichkeit und vor allem die Möglichkeit der Unterbrechung und Fortsetzung. Das Versprechen einer Antwort, das die Anschlusskommunikation immer wieder aufs Neue zu sichern sucht, wird in der periodischen Presse zum unverzichtbaren Bindeglied, das die LeserInnen an das Medium fesselt. Der Brief erscheint mithin als das Urbild der Journalprosa; er erzeugt bereits jene Erwartungshaltung und gespannte Aufmerksamkeit, die die rezeptive Voraussetzung für die Institutionalisierung der Massenkommunikation darstellt.8 Er teilt mit den Periodika die postalischen Risiken wie auch die mangelnde Werkfähigkeit, und er fungiert als medialer Transformator von persönlich vollzogenem Lebenszusammen-

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vgl. Kurt Koszyk: Vorläufer der Massenpresse. Ökonomie und Publizistik zwischen Reformation und Französischer Revolution. Öffentliche Kommunikation im Zeitalter des Feudalismus, München 1972; Werner Faulstich: Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400-1700), Göttingen 1998. Regina Nörtemann: Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert, in: Ebrecht/Dies./ Schwarz (Hg.), Brieftheorie des 18. Jahrhunderts, S. 211-224, hier: S. 219. Unterschieden werden die verschiedenen Typen von Periodika im Hinblick auf die Reichweite ihrer Merkmale: Universalität, Aktualität, Publizität und vor allem Periodizität. Vgl. Jörg Jochen Berns: Zeitung und Historia. Die Historiographischen Konzepte der Zeitungstheoretiker des 17. Jahrhunderts, in: Daphnis 12/1 (1983), S. 87-109, hier: S. 92. Während die Unterscheidung zwischen einmalig erscheinendem Buch und periodisch erscheinenden Journalen von Anfang an greift, stabilisiert sich diejenige von Zeitung und Zeitschrift erst Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Die Gemeinsamkeit „Periodizität“ erweist sich offenbar stabiler als die vielen Unterschiede. Vgl. Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2000, S. 41.

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hang in unpersönliche Kommunikation. „Einem anonymen Publikum interessant werden Briefe in dem Maße, in dem dieser Lebenszusammenhang im Brief personale Prägnanz und im Briefwechsel als Geschichte Gestalt gewinnt. Zumeist sind es freilich die intimen Informationen und die interessanten Themen selbst, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen“9 und den Brief damit für Massenmedien prädisponieren. Der Brief übernimmt im Literatursystem die Funktion, die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation wirksam zu reduzieren. Auf der einen Seite tritt, etwa in der wissenschaftlichen Korrespondenz, die Eignung des Briefs zur Informationsvermittlung hervor. Zugleich kann der Brief durch die Isolierung der verschiedenen Funktionen und die Zurückdrängung der traditionellen Stillehre im 18. Jahrhundert zur verbindlichen Äußerungsform empfindsamer Innerlichkeit werden. Ihren Niederschlag findet diese an der Geselligkeit orientierte Briefkultur nicht nur in einer Fülle von Briefsammlungen und Briefromanen, sondern auch in einer „verblüffenden Menge von Briefen und Brieffolgen in den eifrig gelesenen Zeitschriften.“10 Damit erweist sich die paradoxe Funktion brieflicher Codierung von Intimität: sie ist immer schon auf Veröffentlichung angelegt. So bezieht sich Grabbes Feststellung einer „Briefpublikationswut“ nicht auf die besondere Pflege einer intensiven Briefkultur, sondern auf ein voyeuristisches Bedürfnis nach der Privatheit anderer, das sich durch den Verweis auf das kulturelle Gedächtnis legitimiert und sich gerade im 19. Jahrhundert in einer ungeahnten Fülle von Nachlasseditionen niederschlägt, die nicht selten zuerst in Zeitschriften erscheinen.11 Wer auch immer „auf interessante Nachlaßpapiere stößt, veröffentlicht sie. Unter der Rubrik der ‚Rettung‘ wird so manches davor bewahrt, als Tüte beim Kaufmann […] den Weg aller Makulatur zu gehen. Wo Erben den ideellen Wert der Hinterlassenschaft höher taxieren, wird sie einer öffentlichen Sammlung angeboten.“12 Neben dieser Verwertung privater Briefsammlungen kündigt sich mit dem Paradoxon des „Offenen Briefs“ eine Umstrukturierung des Genres an, bei der Privatheit, anders als im 9

Robert Vellusig: Gellert, der Husar, ein Brief und seine Geschichte. Briefkultur und Autorschaft im 18. Jahrhundert, in: Jochen Strobel (Hg.), Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur, Heidelberg 2006, S. 33-59, hier: S. 56. 10 Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! Das Medium Brief von 1750 bis 1830, Göttingen 2001, S. 23. 11 Vgl. Rainer Baasner: Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis, in: Ders. (Hg.), Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 1-36, hier: S. 33. 12 Ebd., S. 31.

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Liebesbrief, vollends und unverhüllt als Stilmittel fungiert, während der Adressat immer schon ausschließlich die Öffentlichkeit ist. Neben den populärwissenschaftlichen Briefen aller Art sowie den Dichterbriefen13 spielen die Reisebriefe eine besondere Rolle, sofern sie Welt, Wissen und dichterische Gestaltung aufs Engste miteinander verknüpfen.14 Der Anspruch auf breite öffentliche Rezeption wird durch die Verkündigung von Neuigkeiten aus der Welt gerechtfertigt, die ihrerseits einer permanenten Erneuerung unterliegen. Während sich die Korrespondentenbriefe um Tagesaktualität bemühen, postuliert der literarische Reisebrief eine einmalige Entdeckung von bis dato Unbekanntem und Fremdem, was der Periodizität und dem Gesetz der Neuheit aber insofern unterworfen ist, als in der Fortsetzung (in der Regel) eine andere Entdeckung folgen

13 So schreibt Wilhelm Jensen an Wilhelm Raabe am 18.3.1870: „Du mußt wissen, ich kenne nämlich vierzehn Verleger, die sämmtlich nur auf die neuesten zehn reichstäglich-wiesbadener Jahre nach dem Abscheiden des Autors warten, um die von Dir an mich gerichteten Briefe ohne Honorar zu Concurrenzpreisen herauszugeben. Diese haben mich nun gebeten, meine Briefe an Dich derartig einzurichten, daß Du recht passende und geistvolle Antworten darauf ertheilen kannst […]. So schleiche ich vielleicht durch ein Nadelöhr […] mit in die Unsterblichkeit.“ Wilhelm Raabe: Briefwechsel Raabe – Jensen, in: Sämtliche Werke, hg. v. Karl Hoppe, Erg.-Bd. 3, bearb. v. Else Hoppe u. H. Oppermann, Göttingen 1970, S. 94. 14 Vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte erleben die Reisebriefe, die fast durchweg in Zeitschriften veröffentlicht werden, einen ungeahnten Aufschwung, vgl. Heinrich Heine, Briefe aus Berlin (1822), Fürst PücklerMuskau, Briefe eines Verstorbenen (1830/31), Karl Gutzkow, Reisebriefe an zwei Schwestern (1832), Ludwig Börne, Briefe aus Paris (1831-34); auch für die auf den Markt drängenden Frauen wird der Reisebrief zum wichtigen Genre, vgl. Ida von Hahn-Hahn, Reisebriefe (1841), Orientalische Briefe (1844); in der zweiten Jahrhunderthälfte kann Fanny Lewald als prominenteste Reisebriefschreiberin gelten, vgl. die Briefe aus Königsberg, die 1840 in der Zeitschrift Europa anonym erschienen, die Berliner Briefe in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände 1849/50, ihre Briefe aus der Heimat, die zwischen 1859 und 1880 regelmäßig in der Kölnischen Zeitung veröffentlicht wurden (dazu Briefe in die Heimat, ebd., 1878), Briefe aus Flandern 1863 in Otto Jankes Deutscher Wochenschrift, Römische Briefe 1878-82 in Westermann’s Monatshefte, Briefe aus Sorrent 1881 in der National-Zeitung; einen großen Teil publizierte sie nachträglich in Buchform, so die Reisebriefe aus Deutschland, Italien und Frankreich (1877, 1878) und Vom Sund zum Posilipp. Briefe aus den Jahren 1879-1881.

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muss.15 Zeit wird hier thematisch und als Regulativ für die Vertextung zum entscheidenden Faktor. Briefe füllen mithin die Zeitschriften und Zeitungsfeuilletons und bleiben bei der Produktion von „Zeitungen“ im Sinne von Nachrichten und Neuigkeiten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein unentbehrlich. „In diesem Sinne werden Briefe zur ‚zeitgemäßen‘ Textform“ und fungieren nunmehr „als schnelle Informationsträger, korrespondierend zur schnellen Wandelbarkeit ihrer Themen“,16 die im Unterschied zu den langwierigen Kommunikationskanälen des Mediums Buch den rasanten gesellschaftlichen Umbrüchen gerecht werden können. „Wenn Briefe nun deswegen gegen andere Textformen ausgespielt werden, weil die für zu schwerfällig, langsam oder aufwendig und insofern nicht mehr adäquat befunden werden, dann wird deutlich, daß der Informationsweg selbst

15 Wie unhaltbar das sich hartnäckig behauptende literaturwissenschaftliche Vorurteil ist, Unterhaltungsliteratur sei, im Unterschied zur LITERATUR, nicht autoreflexiv, hat Wulf Wülfing schon Anfang der 1980er Jahre in einem Vergleich der Reisebriefe Heines mit denjenigen Hahn-Hahns nachgewiesen. Dabei unterscheiden sich das „fortschrittlich liberale Paradigma“ Heines und das „konservativ aristokratische“ Hahn-Hahns vor allem auf der Ebene des Inhalts und der ideologischen Einfärbung, während beide in der Zurschaustellung von Vertextungsmechanismen und im Grad an Autoreflexivität viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Vgl. Wulf Wülfing: Reisebericht im Vormärz. Die Paradigmen Heinrich Heine und Ida Hahn-Hahn, in: Peter J. Brenner (Hg.), Der Reisebericht, Frankfurt/M. 1989, S. 333362. 16 Dominica Volkert: „Wenn ich von meiner Freundin schriftliche Ergüsse ihrer Liebe erhalte.“ Konstruktionsmechanismen von Briefen und ihre Funktionalisierung für Brieftexte um 1830, in: Michael Titzmann (Hg.), Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Zeit des Biedermeier, Tübingen 2002, S. 249-268, hier: S. 259, 260 (Hervorhebung im Original). Vgl. hierzu auch die luzide Analyse Jeanette Wohls, die Volkert zitiert: „Ich habe heute die ganze Nacht nicht geschlafen, so lebhaft habe ich mich mit dem Gedanken beschäftigt, wie Sie damit Glück machen könnten, wenn Sie jetzt in Briefform schrieben, oder besser nur Briefe schrieben. Auch weiß ich ja noch von früher, wie das mit Aufsätzen geht. Bis nur der Plan fertig ist, ist schon soviel Zeit verloren, und manchmal, oder gar auch oft, wie das natürlich, die Lust zur Ausführung. […] Sagten Sie [das] nicht neulich selbst? … ‚In dieser ungeheuer bewegten, tatenreichen Zeit kann man keine Bücher schreiben‘, also Briefe, Briefe!“ Jeanette Wohl an Ludwig Börne, Brief v. 21.11.1830, in: Fritz Böttger (Hg.), Frauen im Aufbruch. Frauenbriefe aus dem Vormärz und der Revolution von 1848, Berlin/DDR 1977, S. 22f.

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ins Bewußtsein gedrungen ist. […] Das neue Phänomen, mit dem sich der Schreiber konfrontiert sieht, heißt Zeitdruck, oder, in gesteigerter Form, Zeitnot. Fürderhin wird es unentbehrlich, Nachrichten rechtzeitig zu plazieren.“17

Auch Literatur wird sich in der Briefform ihrer Medialität bewusst. Als Unterhaltung sind die literarischen Texte im System Massenmedien derselben Zeitnot unterworfen wie die Nachrichten. Und weil Briefen immer noch das Odium der Spontaneität anhaftet, vermitteln sie, als Nachrichten wie als literarische Texte, den Eindruck, dass sie ebenso spontan und unmittelbar, ohne umständliche Überarbeitungen wie auch ohne redaktionelle Eingriffe direkt aus der Feder in die Druckerpresse geraten sind. Die bewegte Form des Briefes scheint geradezu prädestiniert, die sich ständig verändernde Welt- und Realitätswahrnehmung abzubilden. Aus sich selbst heraus neigt der Brief zur Serie, er zwingt strukturell die Fortsetzung. Die Erfahrung der Diskontinuität wird durch diesen Zwang ausgestellt und überbrückt zugleich. Gerade durch die Suggestion von Flüchtigkeit insinuieren Briefe eine besondere Affinität zur modernen Dynamisierung. „Ist nicht in Briefen eine weit frischere, lebendigere, anziehendere und ansprechendere Darstellung möglich als in Aufsätzen? […] Aufsätze sind wie Bücher, sie ziehen zuviel vom Allgemeinen aufs Einzelne ab. Dahingegen Briefe alles umfassen können, […] je unvorbereiteter, desto frischer, lebenskräftiger und liebenswürdiger.“18 Den vielfältigen Klagen über das Ende des Privatbriefs steht also im 19. Jahrhundert die Proliferation von allen möglichen Texten in Briefform gegenüber. Das hat vor allem intramediale Gründe, insofern die informierende Funktion von effektiveren Formen wie dem Telegramm oder der Postkarte übernommen wird, während sich der Brief in seiner appellierenden und expressiven Funktion wie auch in seiner Kompaktheit als bevorzugtes Genre der Journalprosa geradezu aufdrängt. Durch die Suggestion von Intimität verspricht er engen Kontakt zum Publikum. Die Klagen darüber, dass Briefe nur noch im Hinblick auf die Veröffentlichung geschrieben werden, reflektieren diese medialen Transformationsprozesse, so wenn beispielsweise Fontane 1853 an Storm über die Briefe eines Zeitgenossen räsoniert: „Solche Briefe wie die Brinckmannschen werden heut zu Tage nur selten noch geschrieben. […] Die Leute von heut sind lukrativer: wenn man sich derlei Dinge zurecht gelegt hat, so macht man einen Aufsatz daraus, den man sich mit 10 Th preußisch be-

17 Volkert, Wenn ich von meiner Freundin, S. 259f. 18 Jeanette Wohl an Ludwig Börne, Brief v. 21.11.1830, S. 22f.

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zahlen läßt. Briefe fuchst man jetzt zusammen, ich mit, wie figura zeigt.“19 Die Emanzipation der periodischen Presse vom Brief datiert Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Erfindung der Telegraphie: „Die sich bildenden Presse-Agenturen liefern mit ihren Depeschendiensten jetzt den Zeitungsredaktionen jenen Nachrichtenrohstoff, den bislang die briefliche Korrespondenz herangeschafft hatte.“20 Dennoch war der Brief den Zeitschriften noch lange unverzichtbar, schon weil er eben im Kleinen erreichte, was die Zeitungen und Zeitschriften im Großen zu leisten hatten: die Simulation von Interaktion, die zwar nicht mehr – wie das Literatursystem – Kompensation, aber immerhin die Möglichkeit einer Kontrolle der anonymen Kommunikationsverhältnisse suggerierte. Denn das Problem des Briefes wie der periodischen Presse ist strukturell dasselbe: „die Sicherung des Kanals. Was gesendet wird, soll ankommen.“21 Voraussetzung der Entwicklung einer periodischen Presse ist – neben dem Buchdruck und regelmäßigem Postdienst – die „völlige Unabhängigkeit von allem Persönlichen“.22 Während bis ins 16. Jahrhundert hinein der intim-familiäre wie auch der kaufmännische Brief als Haupttransportmittel für Neuigkeiten aller Art fungierte, wurden im Laufe des 16. Jahrhunderts die allgemein interessanten ‚Zeitungen‘ im Sinne von Nachrichten zunächst als „Rubrik im Brief“23 am Ende angefügt und dann zunehmend als (formlose) Beilage vom äußerst konventionalisierten Brief abgekoppelt. „Aus dieser Beilage entwickelt sich die geschriebene Briefzeitung als Institution.“24 Schon für Kaspar Stieler, der 1695 die wichtigsten Argumente der frühneuzeitlichen Zeitungsdebatte zusam-

19 Theodor Fontane an Theodor Storm, Brief v. 6.10.1853, in: Theodor Storm – Theodor Fontane. Briefwechsel, kritische Ausgabe, hg. v. Jacob Steiner, Berlin 1981, S. 53. Auch Georg Steinhausen konstatiert ein Ende der „Briefleidenschaft“ für das 19. Jahrhundert: „Der Umschwung der Verkehrsmittel bedingt zugleich einen Wandel im ganzen Leben […]. Eine rastlose Unruhe charakterisiert unser Leben. Und die raschlebenden modernen Menschen – trotzdem oder weil so ungeheuer viel mehr korrespondiert wird – haben nicht Zeit und nicht Lust zu Briefen nach Art des vorigen Jahrhunderts. Viel hat ihnen auch das Aufblühen der Presse genommen.“ Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, 2 Teile, Berlin 1889-91, hier: 2. Teil, S. 408ff. 20 Fontius, Post und Brief, S. 276. 21 Koschorke, Mediologie, S. 159. 22 Steinhausen, Die Entstehung der Zeitung, S. 61. 23 Ebd., S. 52. 24 Fontius, Post und Brief, S. 275.

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menfasste, übertrafen die Vorteile des neuen Kommunikationskanals, der vielen Zeitgenossen als Teufelswerk galt, deutlich die Nachteile. Seine Herkunft aus dem Brief galt den meisten Medienbeobachtern des 17. Jahrhunderts als unbestritten.25 Zeitungen im Sinne von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Nachrichten werden nämlich zunächst in den Posthäusern redigiert, von wo aus sie dann weiter zirkulieren. Sie besitzen das Monopol auf Nachrichtenverbreitung: „Inzwischen ist nicht zu leugnen / daß die Zeitungen ihren Ursprung und Fortsetzung dem Briefwechsel mehrern teils zu danken haben. Gestalt dann heut zu tage alles / was man von Welthändeln in Erfarung bringet / einzig und allein von den Briefen herkommt.“26 Für Stieler ist diese neue Form der Nachrichtenzirkulation, die sich von der Balladen- und Moritatendichtung27 ebenso ablöst wie von den Flugschriften, nichts weniger als „Anweisung und Richtschnur aller Klugheit“ und insofern unverzichtbar für jeden, der sich über die komplexer werdende Welt ein Bild machen will (ZL 5). Zeitung kommt, so Stieler, von Zeit – dieses Grundgebot der Aktualität wiederum verknüpft er mit dem Genre der Novelle, denn – „Nachricht / Erzehlung / Benachrichtigung. Ist alles einerley.“ (ZL 25) Im Begriff der Novelle ist Neuigkeit und Aktualität als Erzählung präzise erfasst. Schon an dieser Stelle kündigt sich die Leitdifferenz an, die plausibel nicht das Literatursystem, sondern das System der Massenmedien codiert: diejenige zwischen interessant und langweilig. Interesse erweckt das Neue, während Wiederholungen, bekannte Geschichten aus vergangenen Zeiten oder umständliche Zustandsbeschreibungen „den Lesern einen Verdruß und Ekel [machen]“ und „das Lüsterne Gemüt keines weges“ sättigen (ZL 30). Hauptzweck der Zeitungen sei deshalb die Befriedigung der menschlichen Neugier, Voraussetzung ein Minimum an freier Zeit; ihr Stoff alles, was in der Welt gerade – neu – geschehen oder ver-

25 Zum Umkreis dieser „Debatte“ vgl. Berns, Zeitung und Historia, sowie daran anschließend Pompe, Zeitung/Kommunikation, S. 157, Anm. 1. 26 Kaspar Stieler: Zeitungs Lust und Nutz, vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1695, hg. v. Gert Hagelweide, Bremen 1969, S. 15 (im Text mit Sigle ZL und Seitenzahl). 27 Niels Werber bezeichnet die Ballade als „Proto-Zeitung“, die vor der Erfindung der periodischen Presse „als ‚journalistische‘ Gelegenheitsdichtung massenmediale Funktion“ erfüllte. Ders: Die Form des Populären. Zur Frühgeschichte fantastischer und kriminalistischer Literatur, in: Thomas Hecken (Hg.), Der Reiz des Trivialen. Künstler, Intellektuelle und die Popkultur, Opladen 1997, S. 49-86, hier: S. 52; vgl. auch ders., Liebe als Roman, S. 171. Werber bezieht sich hier vor allem auf die wichtige Studie von Lennard J. Davis: Factual Fictions. The Origins of the English Novel, New York 1983.

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meintlich geschehen sei, vorausgesetzt, dass es vom Rezipienten in Bezug zu seiner Lebenswirklichkeit gesetzt werden könne. Dabei müssen möglichst das Wichtige von den Lappalien und die gerade noch wahrscheinliche Geschichte vom offensichtlichen Betrug geschieden werden. Denn auch wenn die „wahren Zeitungen den wahrscheinlichen vor[gehen]“, „kann es allezeit so genau nicht abgehen / daß nicht ein erdichtetes wesen mit unterlaufe / und dann ist nur darauff zu sehen / ob die Relation wahrscheinlich sey oder nicht“. (ZL 32) Damit benennt Stieler bereits früh jene paradoxe Konstellation, in der sich Massenmedien auch modernen Medientheoretikern zufolge stets befinden und die sich aus der konstitutiven Indifferenz zwischen Wahrheit und Lüge oder, moderner, zwischen fact und fiction notwendig ergibt. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. […] Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wissen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt. Man wird alles Wissen mit dem Vorzeichen des Bezweifelbaren versehen – und trotzdem darauf aufbauen, daran anschließen müssen.“ (RM 9f.)28

Die Ununterscheidbarkeit zwischen Fabel und wahrer Geschichte wird zur eigentlichen Anziehungskraft der Zeitung, da nur die Sensation, also die Überraschung auf der Grenze zwischen Zweifel und Gewissheit jenen körperlichen Lusteffekt produziert, der der Befriedigung einer Gier gleicht. Bezeichnenderweise knüpft hieran noch die frühe, gegen Regelpoetik polemisierende Ästhetik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an. So wird in Johann Jacob Breitingers Critischer Dichtkunst das „Ergetzen“ des Lesers zum vornehmsten Zweck der Poesie, der zunächst und vor allem durch Neuheit erreicht werde: „Daß nicht alles, was natürlich und wahr ist, die Kraft habe, die Sinnen und das Gemüthe auf eine angenehm-ergetzende Weise zu rühren und einzunehmen, sondern daß diese Gabe alleine dem Neuen, Ungewohnten, Seltzamen, und Ausserordentlichen zukomme. […] Aber die Neuheit ist eine Mutter des Wunderbaren, und hiermit eine Quelle des Ergetzens.“29 Auch wenn die Gier

28 „Denn eben darum haben die Zeitungen so einen bösen Namen und Glauben / weil sie oft mit so vielen Fabeln ausgespicket werden und darüber ihren Beyfall auch in wahrhaftigen Dingen verlieren.“ (ZL 32) 29 Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst, Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740, 2 Bde., mit einem Nachwort v. Wolfgang Bender, Stuttgart 1966, Bd. 1, S. 110.

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schon geläutert erscheint – die körperliche Affektation ist in dieser frühen Ästhetik durchaus noch legitim. ‚Zeitungen‘ bilden die Hauptquelle der Historiker. Doch während die Geschichtsschreibung die Geschehnisse nachträglich ordnet, Zusammenhänge herstellt und damit ihre ‚Wahrheit‘ allererst produziert, stellt Stieler gerade die Ordnungslosigkeit und Diskontinuität als Qualität der Zeitungsmeldungen heraus, die nicht zuletzt der mangelnden Kommentierung geschuldet sind. Dass keine Autorität deren Wahrheit verbürgen kann, verweist auf die Unbesetztheit der Autorposition im System Massenmedien. Als interessante Qualität im Sinne der Abwechslung ist diese Tatsache wiederum für die „vermischte“ Gestalt des „Stückwerks“ wesentlich verantwortlich. Und den Gebrauchswert des ‚Vermischten‘ setzt Stieler sehr hoch an: Neben der belehrenden Benachrichtigung erfülle nämlich die Zeitung auch noch die unterhaltende Funktion des Vergnügens und der Belustigung wie auch die therapeutische einer Erleichterung des Gemüts; nur wenn dies alles erfüllt sei, „entbäret er [der Rezipient, M.G.] seinen Groschen gern“ (ZL 35), weil dann leere Zeit vertrieben und verschönt werden könne. Das Stilgebot der Kürze, Klarheit und Sachlichkeit widerspricht diesem Anspruch offenbar nicht. Schmuck gehört nicht in die Zeitungen, weil so die Verständlichkeit gefährdet ist. Stieler rekurriert in seiner Abhandlung ausführlich auf die Rezeptionshaltung der Neugierde als Begierde nach Neuem, die im Zeitalter des Buchdrucks immer schneller und immer effektiver durch die periodischen Medien erzeugt wird.30 Sie hat ihren Ursprung in den ‚Niederungen‘ der unteren Bevölkerungsschichten und nicht zuletzt der Frauen – im Sinne eines lustvollen Interesses an Dingen, die einen nichts angehen. Seit Adam und Eva ist die „Neugirigkeit“ durch ihre Konnotation als körperliches Begehren weiblich codiert,31 während demgegenüber die mittelalterliche curiositas als das Streben nach (göttlicher oder wissenschaftlicher) Wahrheit, die immer auch bestimmte Grenzen wahrt, körperlos und mithin männlich erscheint. Wie Hans Blumenberg an Augustins Confessiones ausgeführt hat, birgt zwar auch die curiositas das Mo30 Vgl. Andree, Medienwirkung, S. 212. 31 „Da sah die Frau, daß es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, daß der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß. / Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren.“ Gen. 3,6f. Zur weiblichen Codierung der Neugierde vgl. auch Annette Keck: Buchstabenkörper. Zur Koinzidenz von Blaubart und Hysterika, in: Hanjo Berressem/Dagmar Buchwald/Heide Volkening (Hg.), Grenzüberschreibungen. ‚Feminismus‘ und ‚Cultural Studies‘, Aisthesis 2001, S. 101-124, hier: S. 101.

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ment der Versuchung im Doppelsinne des Sichversuchens und des Versuchtwerdens, aber der erreichte Genuss gilt nicht den Gegenständen, sondern dem Wissenkönnen selbst.32 Nicht zuletzt deshalb erhebt vor allem die Geistlichkeit Einwände gegen das neue Medium: „Denn die fleischliche Lust / die viele Leute haben darinnen / daß sie gern was neues hören / und können reden und anhören mit Lust anderer Leute sachen / die ihnen doch nichts angehen / dasselbe ist sündiglich: weil dadurch viel Zeit verdorben […].“ (ZL 11) Die Neuigkeit findet „ohne weiteres Aufmerksamkeit und Zustimmung […], da sie – unmittelbar und somatisch – dazu reizt“,33 und die gleichfalls körperliche Gier danach überschreitet nicht nur die Grenze des Mitmenschen, sondern stets auch ein göttliches Gebot, sprengen doch die moderne Neuigkeitsforderung und ihr rezeptives Komplement jene Grenze, wonach es in einer von Gott wohl geordneten Welt eben gerade „nichts Neues unter der Sonne geben“ könne. Die Sucht nach Sensationen, die den tristen Alltag um Unerhörtes bereichern und den Rezipienten bei fast fleischlichen Genüssen doch zugleich in sicherer Distanz zum Geschehen belassen, dieses Rezeptionsmuster moderner audiovisueller und elektronischer Medien funktioniert, das zeigt Stieler eindrücklich, bereits bei den Frühformen der Presse. Schon deshalb ist es nicht entscheidend, ob das Gedruckte „wahr oder scheinwahr oder vermeintlich wahr“ sei (ZL 29), wichtig ist allein, dass diese Lust nach Neuem befriedigt wird.34 Stieler vermittelt die unvereinbaren Positionen, dass es nichts Neues unter der Sonne gebe und die moderne Aktualitätsforderung, nonchalant: schließlich „machen die Personen / die Zeit und Umstände / stets etwas Neues“ (ZL 31). Auch erscheint bei Stieler die Neugier, soll sie der Rezeptionsmodus des neuen Mediums sein, als anthropologische Konstante. Doch um sie vollends aus ihrem Kontext zu lösen, muss sie als nicht sündhafter Wille zum Wissen gewendet werden, der beide Geschlechter treibt, denn das „Frauen-Zimmer ist so wol / als das Mannes-Volk klug und geschickt“. (ZL 98) Dies gilt in stratifikatorischen Gesellschaften selbstverständlich nur für diejenigen, die über freie Zeit verfügen: Wäh32 Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, erw. u. überarb. Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“ (3. Teil), Frankfurt/M. 1973, S. 106f. Für Blumenberg ist die „naive Neugierde“ eine anthropologische Konstante (vgl. ebd., S. 13); die biblische Verführung zum Wissen durch die Frau, das zugleich ein Wissen um die eigene Geschlechtlichkeit ist, wird von ihm nicht thematisiert. 33 Werber, Liebe als Roman, S. 230 (Hervorhebung im Original). 34 Insofern erscheint es nur konsequent, dass die Neugierde auch das zentrale Motiv der RomanleserInnen des 18. Jahrhunderts darstellt, wie Werber an Blankenburgs Versuch über den Roman gezeigt hat. Vgl. ebd., S. 112.

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rend den Mägden und Bürgerstöchtern Nähen und Spinnen besser ansteht, kann ein „fürstliches Frauen-Zimmer […] ohne Zeitung nicht seyn“. (ZL 98) Doch damit nicht genug – die adligen Frauen erscheinen nicht nur als ausgezeichnete und verständige Leserinnen, sie sind vor allem auch die besseren Schreiberinnen: „Das Adeliche Frauen-Zimmer / höhern und geringern Standes / trägt sich nicht allein mit Zeitungen bey Hofe / sondern sind selber Zeitungs-schreiberinnen / also / daß man von ihnen viel leichter und geschwinder einen heimlichen Anschlag / ein weit aussehendes Vorhaben / und / was in- und auserhalb Hofes ergangen / zu erfahren vermag. Sie auch wissen so artig die klügste Minister an andern Höfen / oder bey ihnen die fremden Gesanten // und Gesantinnen auszuholen / als kein Beichtvater tuhn kann. Dahero bekümmern sie sich um alles / sie lesen alles / schreibens ab / und verschickens. Wol dem, der mit ihnen vertraulich lebet / weil sie ihn mehr klug machen können in einem Augenblick / als er sonsten in vielen Zeiten nicht erlernen möchte.“ (ZL 98 f.)

Die gleichfalls mit Eva in die Welt gekommene Fähigkeit, mit verführerischer Kunst den anderen zum Sprechen zu bringen, verschafft den adligen Frauen einen Konkurrenzvorteil bei der Beschaffung von Nachrichten, den sie durch eine überdurchschnittliche Allgemeinbildung noch erhöhen. Sie sind deshalb auch die wahren Lehrerinnen der Weltklugheit, die wissen, wie man in einer komplexer werdenden Welt agieren muss. „Was soll man von dem vornemen Frauen-Zimmer in Städten sagen? Eine Jungfrau zu Leipzig und Halle weyß einem oft besser zusagen / wo die Armeen in Teutschland / in Ungarn / und Welschland stehen / und was sie beginnen / als mancher Staatsgelehrter / und können in ihren Gesprächen so artig fremde Wörter mit einwerfen / daß man schweren solte, sie verstünden es.“ (ZL 99)

Eine solche Belesenheit und Weltklugheit, die im Nachsatz dann doch wieder nur fast wie richtige Bildung aussieht, wird im 18. Jahrhundert dann radikal zur unproduktiven Lesesucht abgewertet. Die ‚Frauenzimmer‘ lesen nun doch nicht mehr die Zeitungen richtig, sondern auch noch die Bücher falsch, sie verweilen nämlich „am liebsten by den schlüpfrigen Stellen“.35

35 ABC Buch für Große Kinder [1796], zit. n. Annette Keck: Buchstäbliche Anatomien. Vom Lesen und Schreiben des Menschen – Literaturgeschichten der Moderne, Würzburg 2007, S. 41. Die „süßen Herren“ verweisen darauf, dass die weibliche Position nicht nur von biologischen Frauen eingenommen werden kann – das Weibliche bezeichnet auch hier keine Frau, sondern eine Position innerhalb einer asymmetrischen Opposition.

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Bedeutend an Stielers Argumentation für unseren Zusammenhang ist zum einen die implizite, über die Neugier, aber auch über die spezifische Fähigkeit der Offenlegung von ansonsten opaken Zusammenhängen begründete Bindung des Mediums an eine weibliche Position, zum anderen die Tatsache, dass die aus heutiger Sicht unhinterfragte Ausdifferenzierung von informativer Journalprosa und einer ästhetisch legitimierten Poesie offenbar einen permanenten, offenen und unabschließbaren Prozess darstellt. Die Unmöglichkeit der Trennung von Wahrheit, Faktualität, Bericht auf der einen Seite und bloßer Wahrscheinlichkeit bzw. Fiktion auf der anderen Seite charakterisiert die Entwicklung der Zeitungen/Zeitschriften von Anfang an und macht sie zu einem unreinen, immer mit dem Geruch des Unseriösen behafteten Medium, der sich auch nach der erfolgreichen Ausdifferenzierung der Sparten in faktuale und fiktionale nicht verflüchtigt. Das Resultat dieser Entwicklung stellt der Feuilleton- oder Zeitungsroman dar, dessen besonderes Merkmal neben spezifischen Techniken der Spannungserzeugung und der bewussten Gestaltung von Fortsetzungsgrenzen der aktuelle und allgemein interessierende Stoff ist.36 Doch erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich von einem eigenen Sektor der Herstellung und des Vertriebs solcher Romane sprechen, die durch literarische Agenturen verbreitet und von den Zeitungen mit präzisen Vorgaben bestellt werden. Die eigens für die Zeitung konzipierten Texte bilden zumindest in Deutschland noch lange die Ausnahme. Zwar gibt es seit 1844 in der Tagespresse immer wieder Versuche, in Anlehnung an französische und englische Vorbilder den Fortsetzungsroman zu etablieren. Zu nennen sind vor allem Georg Weerths Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski, die von August 1848 bis Januar 1849 in der Neuen Rheinischen Zeitung abgedruckt wurden, sowie Karl Gutzkows Die Ritter vom Geiste, die von Juli bis November 1850 im Beiblatt der Deutschen Allgemeinen Zeitung erschienen. Doch erst seit den 1880er Jahren etabliert sich der Fortsetzungsroman in den deutschen Tageszeitungen als fester Bestandteil.37 „Auch wenn er noch so ‚literarischer‘ Herkunft ist, erscheint der Roman in der Zeitung als Produkt der

36 Vgl. Norbert Bachleitner: Kleine Geschichte des deutschen Feuilletonromans, Tübingen 1999, S. 7f.; Umberto Eco: Eugène Sue: Sozialismus und Vertröstung, in: LiLi Beiheft 2: Literatur für viele, 2 (1976), S. 42-72, hier: S. 63; Günter Oesterle: „Unter dem Strich“. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert, in: Jürgen Barkhoff/Gilbert Carr/Roger Paulin (Hg.), Das schwierige neunzehnte Jahrhundert, FS Eda Sagarra, Tübingen 2000, S. 229-250. 37 Vgl. hierzu ausführlich Bachleitner, Feuilletonroman, S. 24-32, 50-58.

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Massenmedien, für das eigene Gesetze gelten.“38 Da Nachricht und Unterhaltung demselben System angehören und der Leitdifferenz informativ/nichtinformativ unterworfen sind, können sie auch ihre systeminternen Funktionen tauschen: der fiktive Text kann im Nachrichtenmodus, die Nachricht in narrativer Einkleidung erscheinen. Was der literarische Realismus durch das Verklärungsdispositiv aufrechtzuerhalten sucht – die Differenz zwischen Literatur und Umwelt –, wird in den Massenmedien systematisch integriert, und diese Integration von Information und Belletristik „bringt eine eigentümliche Realitätsverschiebung, geradezu eine Verschlingung verschiedener Realitätsebenen zustande“, es entsteht das „mixtum compositum eines angenehmen und zugleich annehmlichen Unterhaltungsstoffes“.39 Aber nicht nur bezüglich des Stils und des Formates, auch strukturell lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen, so etwa in dem Umstand, dass Zeitungsromane wie Nachrichten in Fortsetzungen produziert werden und mithin zur Serienbildung neigen und dass sie an bestehendes Wissen anknüpfen.40 Diese Durchlässigkeit, die die LeserInnen von Sues Mystères de Paris schließlich nach Berichten über die Armut in Paris rufen lässt und bis heute zu Verwechslungen zwischen Serienhelden und Schauspielern führt, ist zwar ein besonderes Kennzeichen derjenigen literarischen Texte, die in Tageszeitungen publiziert werden, da sie in besonderem Maße aktuell sein müssen, sie bestimmt in modifizierter Form aber auch diejenigen Romane und Novellen, die in Zeitschriften erscheinen. Die Wahrheitsprüfung auch und gerade des News-Teils über dem Strich bleibt – wie schon zu Stielers Zeiten – unmöglich: Nicht nur arbeiten Feuilletonroman und Novelle massiv mit Realitätseffekten, auch macht es das Versprechen bzw. die Notwendigkeit der Aktualität unmöglich, den Wahrheitsgehalt von Nachrichten zu eruieren – Nachricht und Fiktion bleiben an ihren Rändern gegeneinander durchlässig, oder, in den Worten von Lennard Davis, „the news/novel discourse seems to make no real distinction between what we could call fact and fiction.“41 Novelle/Roman und Journal teilen das „Versprechen der Unterhaltung durch 38 Ebd., S. 10. 39 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 260. „Nachrichten und Berichte, selbst Stellungnahmen werden mit dem Inventar der Unterhaltungsliteratur ausgestattet, während andererseits die belletristischen Beiträge ‚streng‘ realistisch auf die Verdoppelung des ohnehin unter Klischees subsumierten Bestehenden abstellen und ihrerseits die Grenze zwischen Roman und Reportage aufheben.“ Ebd. 40 Vgl. Bachleitner, Feuilletonroman, S. 16. 41 Davis, Factual Fictions, zit. n. Werber, Liebe als Roman, S. 172.

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Abwechslung“,42 beide erwecken die Neugier der Lesenden, und diese Neugier wiederum ruft nach immer neuen und dem Variationsgebot entsprechenden kurzen Texten. Und schließlich: Von wunderbaren (Tieck), unerhörten (Goethe), merkwürdig zufälligen (Kleist) Begebenheiten zu berichten, wie die literaturwissenschaftliche Novellentheorie es als Charakteristikum einer autonomen Gattungsentwicklung postuliert hat, „ist von jeher Domäne der Presse“.43 Die vermeintlich gattungsinternen Strukturen der Novelle erweisen sich mithin als Strukturen der Periodika, deren Bedingungen übertragen sich unmittelbar auf jene. So hat Bachleitner klargestellt, dass der Zeitungsroman keine neue Romanform darstelle, sondern „als Produkt der Übertragung einer bereits mit anderen literarischen Formen wie der Novelle erprobten Publikationsweise auf den Roman zu betrachten“ sei.44 Auch Reinhart Meyer hat den sekundären Charakter der Novellen unterstrichen, die nie die Neuigkeit selbst bezeichnen, sondern die schon für ein bestimmtes Publikum zugerichtete und kommerziell vertriebene Nachricht: „die ‚Novelle‘ bietet ein ‚Extract‘, schreibt andere Publikationen aus und liefert sie dem interessierten Leser zur mühelosen und beliebigen Lektüre.“45 Auch nach der Trennung von faktualer Nachricht und fiktionaler Novelle bleibt dieser sekundäre Charakter sichtbar, bemühen sich doch nicht nur die Nachrichten um den Nachweis ihrer Wahrheit in einer primären Quelle, sondern auch die Novellen: Bereits der Terminus des ‚Unerhörten‘ verbindet unmerklich das Unglaubliche und Wunderbare mit dem Faktischen. Dabei ist das Spektrum der Authentifizierungsstrategien breit: „Es sind also viele Quellen, auf die sich die Prosa-Erzähler berufen: Chroniken, Akten, Hinterlassene Papiere, Tagebücher, Briefschaften und Berichte von Freunden, Verwandten; zufällig aufgefundene Manuskripte, Augenzeugen, Inschriften oder Volksgut – die wichtigsten Weisen des Faktizitäts- und Wahrheitsanspruchs der Erzählungen aber liegen in stilistisch-formalen Bereichen: einerseits der Ich-Erzählung, der selbst geäußerten Skepsis oder der Vorwegnahme des Unglaubens des Lesers durch entsprechende Hinweise auf das ‚Wunderbare‘ des Berichteten; dann aber auch in der Übernahme des ‚histori-

42 Werber, Liebe als Roman, S. 170 (im Original hervorgehoben). 43 Meyer, Novelle und Journal, S. 25; zum Zusammenhang von Zeitschrift und Novelle vgl. bereits Fritz Martini: Die deutsche Novelle im ‚bürgerlichen Realismus‘. Überlegungen zur geschichtlichen Bestimmung des Formtypus, in: Josef Kunz (Hg.), Novelle, 2. Aufl. Darmstadt 1973, S. 352390, bes. S. 362-364. 44 Bachleitner, Feuilletonroman, S. 9. 45 Meyer, Novelle und Journal, S. 61.

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schen Stils‘ der Zeitschriften und des Aufbaus der Journal-Artikel in die Erzählungen.“46

Das Kuriosum dieser Wahrheitsbekundungen und Quellennachweise liegt nun gerade nicht darin, dass diese Papiere, Manuskripte und Briefe grundsätzlich erfunden seien, sondern dass ihnen Komplemente in der ‚Wirklichkeit‘ entsprechen: „Tatsächlich war die Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts beträchtlich realitätshaltiger, als selbst die zeitgenössischen Rezensenten meinten“,47 weil Autoren aufgrund des erheblichen Produktionsdrucks mit Vorliebe auf historische Werke oder Zeitungsmeldungen zurückgriffen. Und die Beteuerungen funktionierten, weil es den journalistischen Gepflogenheiten zutiefst widersprochen hätte, Geschichten einfach zu erfinden. Die Novelle profitiert und zehrt vom Wahrheitsanspruch der Nachricht. Auf diesem etwas umständlichen Weg mutieren die Wahrheitsbekundungen der Nachrichten zum „Kennzeichen fiktiven Erzählens“.48 Zum Stoff wird alles, was in der periodischen Presse erscheinen kann, buchstäblich jede ‚Begebenheit‘. Stil, Aufbau und die Berufung auf Quellen bleiben als Gemeinsamkeiten gleichermaßen signifikant. Und wie die ersten Zeitungen/Novellen nur andere Quellen aus- und fortschrieben, so verwendeten die Prosaisten des 19. Jahrhunderts alles, was sie hörten und vor allem lasen. Dabei ist es unerheblich, wie genau und umfänglich sich die Erzähler tatsächlich auf Quellen und Autoritäten bezogen, zentral sind die Berufung auf den Wahrheitsanspruch und damit dessen Verselbstständigung in fiktionaler Literatur. Bereits zur Eröffnung des Cottaschen Morgenblatts für gebildete Stände im Jahr 1807 erkannte Jean Paul nicht nur die Gefahr der Einebnung von Distinktionsniveaus, sondern vor allem auch die katalytische Kraft der periodischen Presse für die Literatur, und beschrieb damit zugleich präzise den ‚Zeitungsgeist‘ einer Lesekultur des Vermischten, die im 19. Jahrhundert den hybriden Genres Novelle und Roman zum Siegeszug verhalf: „Jedes gute Zeitblatt – es hebe noch so arm und enge an – arbeitet sich mit der Zeit zu einer schätzbaren Niederlage von Miszellen aus, und reicht allen allerley vom All; ein Reichthum, der zugleich Lesen und Schreiben nicht sowohl schwer macht, als recht bequem und flink.“49 Das Vermischte ist der Ort in den Zeitungen und Zeitschriften, an dem die Novellisten und Romanciers bevorzugt ihre Stoffe suchen und finden; es regt die literarische Produktion an und auf und es ist (in 46 47 48 49

Ebd., S. 79. Ebd., S. 75. Vgl. ebd. Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 1, 1.1.1807.

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der Regel) die Seite, die LeserInnen als erste aufschlagen. Bereits 1837 kann deshalb ein anonymer Kritiker resümieren, dass „unsere Litteratur“ von „unserer Journalistik“ buchstäblich verschlungen worden sei.50 Während Norbert Bachleitner in seiner Untersuchung die politische Tagespresse thematisiert, weil er in ihr jene ‚unmittelbare Aktualität‘ findet, an der sich die Wechselwirkungen zwischen Periodika und Literatur am besten zeigen lassen, soll es im Folgenden nur ausnahmsweise um Zeitungen gehen,51 primär jedoch um ausgewählte – literaturkritische wie auch literaturverbreitende – Zeitschriften, die das Bild der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich geprägt haben. Durch die Betrachtung der Zeitschriften lässt sich klären, auf welche Weise so träge Genres wie der Roman sich angesichts des neuen Kommunikationsideals stark beschleunigter Zirkulation, die eigentlich „kurze, schnelle Genres“ erfordert,52 jenseits des Buches dennoch so vielseitig entwickeln können. Diese Konzentration lässt sich auch insofern begründen, als der Feuilletonroman, der in Frankreich und England seit den 1830er Jahren boomte, in Deutschland bis zum letzten Jahrhundertdrittel eine untergeordnete Rolle spielte,53 während in den Familien- und Rundschauzeitschriften seit den 1850er Jahren die erzählende Literatur gut ein Drittel des Raumes beanspruchte und jene durch ihre forcierte Publikationspolitik für die Entwicklung der Literatur eine nicht zu unterschätzende Rolle übernahmen. Ihre Publizität ist, im Vergleich zu Tageszeitungen, erheblich größer, ihre Universalität gerade auch durch das Verbot parteipolitischer Bezüge gewahrt. Bezüglich der Periodizität bezieht die nicht täglich, sondern wöchentlich, monatlich oder gar halbjährlich erscheinende Zeitschrift eine Zwitterstellung zwischen der Aktualität der Tageszeitung und der ‚Zeitlosigkeit‘ des Buches. Diese Grenzposition bekommt hinsichtlich der Literatur besondere Relevanz. Bevor das Verhältnis von Zeitschriften und Literatur näher beleuchtet wird, sollen anhand zweier führender literaturkritischer Blätter die Versuche nachgezeichnet werden, einerseits das Literatursystem gegen alle 50 Zit. n. Meyer, Novelle und Roman, S. 139. 51 So finden in Bezug auf Fontane vor allem die Kreuzzeitung wie auch die Vossische Zeitung nähere Betrachtung (vgl. Kap. VI.1). 52 Jürgen Fohrmann: Einleitung, in: Ders./Andrea Schütte/Wilhelm Voßkamp (Hg.), Medien der Präsenz: Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, Köln 2001, S. 7-10, hier: S. 7. 53 Tageszeitungen erreichten in Deutschland Massenauflagen erst mit dem Aufkommen der Generalanzeigerpresse Ende des 19. Jahrhunderts. Nicht umsonst stehen der französische und der englische sowie der österreichische Zeitungsroman im Mittelpunkt der Studie von Bachleitner, Feuilletonroman.

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mediale Realität als autonomes zu verteidigen, wie das in den Grenzboten Programm war, zum anderen dem zerrütteten Literatursystem und seinen medialen Bedingungen Rechnung zu tragen, wie dies Robert Prutz zum Teil sehr überzeugend vorführte. Beider Bemühungen resultieren in dem, was heute in der Literaturgeschichtsschreibung als „Bürgerlicher“ oder „Poetischer Realismus“ figuriert. Der Realismus erweist sich, das sollen die nächsten Kapitel zeigen, als Zeitschriftenphänomen und damit als Medieneffekt sans phrase. Er nimmt die Unterscheidung des NewsDiskurses zwischen fact und fiction in sich auf, um ein ‚männliches‘ literarisches System zu programmieren, dem aber keine Literatur zugeordnet werden kann, während die belletristischen Texte in den Zeitschriften auf Unterhaltung verpflichtet und weiblich konnotiert sind.

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2. Literaturtheorie oder Medientheorie: ‚Realismus‘ „Denn eine neue Kunst ist es allerdings, in der wir die alte Zeit begraben wollen […].“1

Wie die Forschung hinlänglich festgestellt hat, gibt es für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts keine ausformulierte Literaturtheorie, und alle lautstarken Postulate vom Neuanfang, der im Datum der (immerhin gescheiterten) Revolution gründen soll, konnten von der literaturgeschichtlichen Forschung nicht verifiziert werden. Allerdings besteht seit Friedrich Sengles Forderung nach einem „geschichtlich begründeten und begrenzten Realismusbegriff“, der an die „sehr klaren und dezidierten Theoretiker der realistischen Bewegung anschließt“,2 weitgehend Einigkeit darüber, dass aus den verstreuten Äußerungen in Aufsätzen und Rezensionen dennoch ein verbindendes Gemeinsames destilliert werden könne, das in der Literaturgeschichtsschreibung heute einigermaßen unangefochten unter dem Namen bürgerlicher oder poetischer Realismus

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Julian Schmidt: Die Märzpoeten, in: Die Grenzboten 9/1 (1850), zit. n. RG 78. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution, Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 257-291, hier: S. 257 (im Original hervorgehoben); weiter ausgeführt wird diese These vor allem bei Helmut Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition. Zur Theorie der Literatur in Deutschland 1848-1860, Tübingen 1972. Die literarische Theorie wird dabei mehr oder weniger als Reflex des politischen Liberalismus, als ‚liberale Poetik‘, verstanden. Dieser sozialgeschichtliche Ansatz wird fortgeführt in Max Bucher u.a. (Hg.): Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 18481880, 2 Bde., Stuttgart 1975f. Eine modifizierte Ideologiekritik bestimmt Ulf Eiseles Ansatz, indem er, anknüpfend an Richard Brinkmann: Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, 3. erw. Aufl. Darmstadt 1987 sowie an den strukturalen Marxismus französischer Provenienz, Realismus als „Strukturbegriff“ fasst und weniger auf die liberalen Inhalte als auf die formal-abstrakte Seite realistischen Denkens abhebt. Dieser Ansatz, der auf Homologie statt auf Widerspiegelung setzt, hat den Vorteil, dass er den Mechanismus in den Blick bekommt, der im Paradigma des ‚Realismus‘ das Verhältnis von Literatur und außerliterarischer Realität regelt. Literatur ist danach nicht mehr Ausdruck von Realität, sie produziert vielmehr Effekte von Realität, die im Sinne Roland Barthes’ auf die Naturalisierung des Sinns zielen. Vgl. Ulf Eisele: Realismus-Problematik: Überlegungen zur Forschungssituation, in: DVjs 51 (1977), S. 148-174.

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firmiert.3 So geht auch Gerhard Plumpe von einem „überraschend einheitlichen theoretischen Bild“ aus, „das in dem Anspruch manifest wird, Literatur solle – und könne – die zeitgenössische Wirklichkeit in ihren wesentlichen Eigenschaften und Entwicklungszügen darstellen,“4 und Sabina Becker unterstellt gar eine „Bewegung mit einem fest umrissenen Programm und einer klar definierten Ästhetik“, „die für ein halbes Jahrhundert die deutsche Literaturgeschichte bestimmt hat“. Ihre Studie wird dementsprechend von der Maxime geleitet, „dass das Leben in einer bürgerlichen Welt und die Erfahrung derselben eine im Hinblick auf die Inhalte und Schreibformen erstaunlich homogene Literatur haben entstehen lassen.“5 Grundannahme all dieser Äußerungen ist ein ausdifferenziertes Literatursystem, das seine autopoietische Reproduktion durch einen Programmwechsel, die Umstellung von Selbst- auf Fremdreferenz, garantiert. Gegen Hegels These vom Ende der Kunst werde der klassischromantische Literaturbegriff mit seiner Akteursfiktion und seinem Kommunikationsmedium in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem neuen Vorzeichen der Umweltreferenz prozessiert. Gedeckt scheinen diese Thesen von den verstreuten ‚programmatischen‘ Äußerungen – von Kellers Diktum von der „Reichsunmittelbarkeit der Poesie“6 bis hin zu Fontanes emphatischem Statement zur nachmärzlichen Literatur:

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Einen immer noch lesenswerten Überblick über die ältere Forschung bietet Brinkmann, Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. Gerhard Plumpe: Einleitung, in: Ders. (Hg.), Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung, Stuttgart 1985, S. 9-40, hier: S. 9. Vgl. hierzu schon Roland Barthes: „Unter der bürgerlichen Vorherrschaft ist die Beziehung des Schriftstellers zur Gesellschaft zweideutig: unter dem Vorwand des Liberalismus beauftragt die bürgerliche Klasse den Schriftsteller, sich eine ideologische Rechtfertigung zur Aufgabe zu machen. Daher ist gewöhnlich die bürgerliche Dichtung idealistisch; sie wählt aus der Vielfalt der Wirklichkeit nur das, was ihre idealistischen Ansprüche rechtfertigen kann. Sie ist eine auswählende Dichtung, die die Wirklichkeit verstellt, um von ihr ein beschwichtigendes Bild zu geben.“ Roland Barthes: Probleme des literarischen Realismus, in: Akzente 3 (1956), S. 303-307, hier: S. 303. Sabina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848-1900, Tübingen, Basel 2003, S. 12. Gottfried Keller an Paul Heyse, Brief v. 27.7.1881, in: Gesammelte Briefe Bd. 3/I, S. 57. Hermann Kinder hat zwar bereits Anfang der 1970er Jahre darauf hingewiesen, dass dieser Begriff dem – von Keller sehr geschätzten – sechsten Band der Ästhetik Friedrich Theodor Vischers entstammt, das hat an der Überlieferung als Aperçu Kellers (der die Quelle verschweigt) bis heute aber nichts geändert und dabei wird es wohl auch bleiben. Vgl.

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„Das Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie schlummern darin, aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar und nur durch seine Hand zu erwecken. Der Block an sich, nur herausgerissen aus einem größern Ganzen, ist noch kein Kunstwerk, und dennoch haben wir die Erkenntniß als einen unbedingten Fortschritt zu begrüßen, daß es zunächst des Stoffes, oder sagen wir lieber des Wirklichen, zu allem künstlerischen Schaffen bedarf.“7

Die Attitüde gegen „Unnatur“, „Lüge und Steifheit“, die Verehrung für Shakespeare, das Bekenntnis zur Volkstümlichkeit und die explizite Berufung auf Herder stellt den Aufbruch ganz unmissverständlich in die Tradition des Sturm und Drang und aktualisiert die Topoi des autonomen Literatursystems, Genie und Werk.8 Dem Künstler allein sei der läuternde Zugriff vorbehalten, der aus dem Stoff der Wirklichkeit dessen ‚Wahrheit‘ zu extrahieren und damit ein Werk zu schaffen vermag. Dabei kann es, darauf hat Hermann Kinder frühzeitig hingewiesen, nicht darum gehen, empirische Wirklichkeit als ganze nachzuahmen, vielmehr misst sich die Qualität der Nachahmung daran, „ob eine richtige Auswahl von richtigen Wirklichkeitspartikeln getroffen wurde“.9 Und ‚richtig‘ heißt in diesem Zusammenhang vor allem verklärungsfähig, schließlich geht es nicht um den Einschluss der ‚bloßen Wirklichkeit‘, sondern um deren wirksamen Ausschluss: „Wenn die Dichtung ein Duplicat des Wirklichen gäbe, so wüßte man nicht, wozu sie da wäre. Sie soll erheben, erschüttern, ergötzen; das kann sie nur durch Ideale. […] Das bloße Wirkliche ist zu elend, um die Seele dauernd zu erregen.“10 Die viel beschworene realistische Freude an der Welt hält sich also in Grenzen, erst deren läuternde Zurichtung erschafft jenes realistische Kunstwerk, von dem auch Otto Ludwig träumt, „von einer Welt, die von der schaffenden Phantasie vermittelt ist, nicht von der gemeinen; sie schafft die Welt noch einmal, keine sogenannte phantastische

Hermann Kinder: Poesie als Synthese. Ausbreitung eines deutschen Realismus-Verständnisses in der Mitte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1973, S. 225f., Anm. 122. 7 Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 [1853], in: Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, Bd. 1, hg. v. Jürgen Kolbe, Darmstadt 1969, S. 236-263, hier: S. 241 (Hervorhebung im Original). 8 Vgl. ebd., S. 238. 9 Kinder, Poesie als Synthese, S. 177. 10 [Julian Schmidt]: Georg Büchner. (Rez. Büchner: Nachgelassene Schriften, Frankfurt/M. 1850), in: Die Grenzboten 10/1 (1851), zit. n. RG 88.

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Welt, d. h. keine zusammenhangslose, im Gegentheil, eine, in der der Zusammenhang sichtbarer ist als in der wirklichen, nicht ein Stück Welt, sondern eine ganze, geschlossene, die alle ihre Bedingungen, alle ihre Folgen in sich selbst hat. […] Eine Welt, in der die Mannigfaltigkeit der Dinge nicht verschwindet, aber durch Harmonie und Kontrast für unsern Geist in Einheit gebracht ist; nur von Dem, was dem Falle gleichgültig ist, gereinigt.“11

Die Vermittlung der repräsentativen Details zu einem neuen verklärten Ganzen, zur ‚Totalität‘, leistet im Wesentlichen der Humor als dasjenige Vermögen, das die heterogenen Wirklichkeitspartikel mit dem ‚Gesetz der Wirklichkeit‘ verknüpft. „Mit einem Wort, die einzige poetische Form, durch welche dieser Realismus seine Berechtigung in der Kunst erwirbt, ist der Humor […].“12 Es erscheint in diesem Zusammenhang weniger sinnvoll, das Neuartige des Realismus zu betonen, als vielmehr dessen offenkundige Kontinuität: „Von einem ‚Paradigmawechsel‘, wie er als charakteristisch für echte Einschnitte in der Geschichte einer Theorie angenommen werden darf, kann beim programmatischen Realismus keine Rede sein, viel eher stellt er umgekehrt die letzte verbleibende Ressource dar im Kampf um die Erhaltung des herrschenden Paradigmas: des überkommenen Begriffs und Bewußtseins von Literatur.“13

Darüber hinaus ignoriert die Annahme eines Paradigmenwechsels Entwicklungen, die bereits frühzeitig den Charakter eines ‚homogenen‘ Programms vollständig unterminieren. So hat schon Kinder darauf hingewiesen, dass ‚Realismus‘ bei Schmidt und Freytag nur für den relativ kurzen Zeitraum der 1850er Jahre als integrale Klammer für eine Erneuerung der Literatur steht, dass die Verwendung des Begriffs höchst widersprüchlich bleibt und angesichts der historischen Desillusionierungen immer mehr auf ein Darstellungsverfahren reduziert wird. „Ja die Vermutung taucht auf, daß Realismus gar nicht mehr das Ideal erst konstituiert, sondern als ‚Trick‘ das Ideal nur möglichst glaubhaft machen soll.“14 Die argumentativen Volten, die in diesen Entwicklungen geschlagen

11 Otto Ludwig: Nachlaßschriften, hg. v. Moritz Heydrich, Bd. 2: Shakespeare-Studien, Leipzig 1874, zit. n. RG 102. 12 J[ulian] S[chmidt]: Otto Ludwig, in: Die Grenzboten 16/2, 4 (1857), S. 401-412, zit. n. RG 193. 13 Ulf Eisele: Realismus und Ideologie. Zur Kritik der literarischen Theorie nach 1848 am Beispiel des „Deutschen Museums“, Stuttgart 1976, S. 46. 14 Kinder, Poesie als Synthese, S. 194.

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werden, reichen bei Schmidt von der harschesten Goethe-Kritik bis zu dessen demütiger Verehrung. Eines der wichtigsten Argumente besteht aber darin, dass wahrhaft realistische – oder besser: realidealistische – Literatur im Nachmärz praktisch nicht stattfindet. Den Grund hierfür sucht man nicht primär bei den Dichtern, er erscheint als notwendige und objektive Tatsache: Es sei seiner Zeit, so Freytag in der Widmung von Soll und Haben, noch nicht vergönnt, dem „Schönen in edelster Form den höchsten Ausdruck“ zu geben.15 Diese Argumentationsfigur, die die gesamte vor- und nachmärzliche Gegenwart in eine Übergangszeit verwandelt, in der LITERATUR in die Zukunft verschoben wird, vermittelt das von Hegel philosophisch und von Gervinus literaturgeschichtlich begründete Ende der Kunst mit einem neuen Anfang. Vor allem Gervinus’ Begründung eines Endes der Literatur im Höhepunkt Klassik, die mit einer grundlegenden Neuorientierung auf die politische Praxis mit dem Ziel der Einheit der Nation verbunden wird, wirkt in allen verstreuten programmatischen Äußerungen von Hettner bis Schmidt nach.16 Der kritische Ansatz, der neben der Romantik als Hauptfeind auch das Junge Deutschland und selbst den späten Goethe trifft, wird damit auf die gesamte zeitgenössische literarische Produktion ausgeweitet. „Wenn ich also das Facit aus dieser Rechnung ziehe, so heißt die Formel, durch welche eine Wiedergeburt der deutschen Poesie allein bewirkt werden kann: Aufheben des Dilettantismus […].“17 Während Gervinus die Literaturgeschichte mit der Weimarer Klassik als Höhepunkt harmonisch abschließen kann, öffnet die realistische Kritik diesen Horizont wieder. LITERATUR ist demnach nichts, das sich in der Gegenwart ereignet und das nur punktuell in der Vergangenheit stattgefunden hat. Vor allem ist sie ein Versprechen, ein Wechsel auf die Zukunft, denn eine wahrhafte, realistische Klassik kann erst auf ein wahrhaft nationales Leben folgen. Die Distinktionsgrenze ist dabei ausdrücklich keine ästhetische: „Es gilt, allem Fremden, Gemachten, Unvolksthümlichen ein für allemal den Rücken zu kehren. Erst wenn die Kunst in Form und Inhalt Fleisch von unserem Fleisch ist, ist sie auch wieder eine wahre, naturwüchsige, ächt

15 Gustav Freytag: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern, Leipzig 1922, S. 4. 16 Vgl. Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen (1835-1842); zum Problem der literaturgeschichtlichen Vollendung bei Gervinus vgl. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989, S. 132f. 17 Schmidt, Die Märzpoeten, S. 80.

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nationale und darum auch monumentale Kunst.“18 Solange es eine solche nicht geben kann, wird ihr Platz – vorübergehend – von der Literaturkritik vertreten. Diese soll „den Ersatz für eine noch nicht ihren Maßstäben genügende Literatur bieten.“19 Das aber bedeutet, dass die Kritik im Realismus der Literatur vorausgeht, insofern sie Maßstäbe und Grenzen definiert, an der diese sich zu messen hat, denn es ist „eine Reaction, eine Rückkehr zum Schönen, und ein Aufgeben der anatomischen Reflexionsthätigkeit nothwendig […]. Diesen nothwendigen Proceß zu beschleunigen, seinen Verlauf frei und ungestört zu erhalten, ist eine der vornehmsten Aufgaben der neuen Kritik; es ist die Hauptaufgabe, welche wir uns gestellt haben.“20 Der Kritiker wird zum Hüter der Möglichkeit von LITERATUR, er definiert die ästhetischen Normen und die moralischen Werte, denen sie zu folgen hätte. „Wir fordern vom Roman, daß er eine Begebenheit erzähle, welche, in allen ihren Theilen verständlich, durch den innern Zusammenhang ihrer Theile als eine geschlossene Einheit erscheint, und deshalb eine bestimmte einheitliche Färbung in Stil, Schilderung und in Charakteristik der darin auftretenden Personen möglich macht. Diese innere Einheit […] muß sich entwickeln aus den dargestellten Persönlichkeiten und dem logischen Zwange der ihm zu Grunde liegenden Verhältnisse.“21

Ziel ist und bleibt das Ideal des klassischen Dramas, in dem man die verbindliche Gestalt des Kunstwerks sieht und an dessen Form auch die erfolgreichen epischen Genres gemessen werden. Sein Exempel statuiert Schmidt an Karl Gutzkows Die Ritter vom Geiste aus dem Jahr 1850, deren Verriss radikaler nicht sein könnte. Als Mitglied einer „belletristischen Clique von Dilettanten“ bringe Gutzkow nur „gezierte Effecthascherei hervor, […] die beständig aus forcirtem Pathos und gespreizter Sentimentalität […] ins Gemeine, Triviale und Häßliche überspringt.“22 Wenn die Kritik die Normen und Werte bestimmt, die Literatur diese aber partout nicht erfüllt, dann wendet sich der Kritiker entsetzt ab. Die Abkehr von der schönen Literatur ist in den Grenzboten bereits in den

18 Hermann Hettner: Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhange mit Göthe und Schiller, Braunschweig 1850, zit. n. RG 64. 19 Kinder, Poesie als Synthese, S. 186. 20 [Julian Schmidt]: Die Reaction in der deutschen Poesie, in: Die Grenzboten 10/1 (1851), zit. n. RG 87. 21 Gustav Freytag: Willibald Alexis, Isegrimm. Vaterländischer Roman, Berlin 1854, in: Die Grenzboten 13/1, 1 (1854), zit. n. RG 285f. 22 [Julian Schmidt]: Karl Gutzkow, Die Ritter vom Geist. Roman in neun Büchern, in: Die Grenzboten 11/1, 2 (1852), zit. n. RG 317, 320f.

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1860er Jahren abzusehen: „Offensichtlich traut Schmidt weit eher der Geschichtsschreibung als der zeitgenössischen Belletristik die Erfüllung seiner Maßstäbe zu.“23 Das bedeutet aber nicht weniger, als dass die Literatur aufgegeben und den Massenmedien und ihren Gesetzen überlassen wird. Forderte er 1858 für die künftige Literatur noch eine „gesundere, männlichere Weltanschauung“,24 so bleibt von diesem Optimismus wenige Jahre später nur resignativer Rückzug auf die Felder der Literaturund Kulturgeschichtsschreibung. Unterdessen kündigt sich beim Kritikerkollegen Robert Prutz, trotz weitgehender Übereinstimmungen in den ästhetischen Vorstellungen, aufgrund seiner medientheoretischen Studien die Einsicht einer Übereinkunft zwischen Realismus und Unterhaltung in der periodischen Presse an. Prutz hat mit seinen historischen Arbeiten über den deutschen Journalismus sowie über Taschenbücher und Almanache die theoretische Grundlage für einen medienbasierten Literaturbegriff geschaffen. Dieser soll im Folgenden skizziert werden, weil er sich dezidiert gegen den „komischen Eifer“ und den geradezu „blutdürstigen Grimm“ richtet, mit dem die Grenzboten fast die gesamte zeitgenössische Produktion, ausgenommen die eigene, disqualifizieren.25 Verfolgt man den Weg des Linkshegelianers Prutz von seinen Anfängen in den Hallischen und Deutschen Jahrbüchern bis zu seiner Herausgeberschaft des Deutschen Museum, so lässt sich zunächst feststellen, dass sich eine politisch und theologisch fortschrittliche Orientierung offenbar sehr gut mit einem dezidiert ästhetischen Konservatismus verbinden ließ und dass 1848 auch für ihn keinen Bruch markierte, sondern vielmehr von der „erstaunlich kontinuierlichen Linie eines ästhetischen Programms auszugehen ist, das sich von der junghegelianischen Literaturtheorie der späten 30er und frühen 40er Jahre bis zu den realistischen Konzepten des Nachmärz erstreckt.“26 Grundlage bildet (wie für Schmidt

23 Kinder, Poesie als Synthese, S. 190. 24 Julian Schmidt: Nachgelassene Schriften von G. Büchner [1858], in: HansJoachim Ruckhäberle/Helmuth Widhammer: Roman und Romantheorie des Realismus. Darstellung und Dokumente, Kronberg/Ts. 1977, S. 88. 25 Robert E. Prutz: Die Literaturgeschichte und ihre Stellung zur Gegenwart, in: Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848-1858, 2. Aufl. Leipzig 1870, Bd. 1, S. 1-38, hier: S. 18. 26 Manuela Günter/Günter Butzer: Zur Funktion der Literatur im Vor- und Nachmärz: Robert Prutz’ Weg von den „Hallischen Jahrbüchern“ zum „Deutschen Museum“, in: Norbert Otto Eke/Renate Werner (Hg.), Vormärz – Nachmärz. Bruch oder Kontinuität?, Vorträge des Symposions des Forum Vormärz Forschung e.V. vom 19.-21. November 1998 an der Universität Paderborn, Bielefeld 2000, S. 229-252, hier: S. 230. Das zeigt auch

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und Freytag) das autonome Kunstwerk der Hegelschen Ästhetik mit ihrem Ideal der Plastik und ihren Normen der Objektivität, Geschlossenheit und Harmonie, sowie dem integrativen Humor, der in der Dichtung den Standpunkt des absoluten Geistes vertritt. Doch ganz im Gegensatz zu Hegel oder Gervinus steht die Realisierung der höchsten Dichtung noch aus, sie ist keineswegs mit der Weimarer Klassik erfüllt und abgeschlossen. Der Übergang zur (politischen) Tat soll gerade nicht das Ende der Literatur besiegeln, sondern deren neuen, besseren Anfang markieren. Die Figur des Aufschubs der LITERATUR, die für den ‚Realismus‘ charakteristisch ist, kennzeichnet also auch Prutz’ theoretische Bemühungen, insofern „eine erneute Blüte unserer Literatur nicht möglich ist ohne eine Erneuerung unseres gesammten volksthümlichen Daseins“.27 Doch zieht Prutz aus dieser Erkenntnis nicht den Schluss einer Abkehr von der zeitgenössischen Literatur. Die Ambivalenz zwischen normativer (klassischer) Ästhetik und deskriptiver (letztlich wirkungsästhetischer) Literaturkritik entscheidet er in seinen Arbeiten für das Deutsche Museum pragmatisch. Die Nivellierung der literarischen Höhenunterschiede nötigt zu einer Erweiterung des Literaturbegriffs, die den Standpunkt des Ästhetikers relativiert. Statt „den Stab zu brechen über eine ganze Literaturepoche, bloß weil ihr die klassischen Poeten und die Meisterwerke fehlen, die sie ihrer ganzen Natur nach nicht hervorbringen konnte“28, fordert er von der Literaturproduktion wie auch von der

die gehäufte Verwendung des Begriffs der Verklärung in Prutz’ Beiträgen für die Hallischen Jahrbücher (Nachweise vgl. ebd., S. 236, Anm. 32). Vgl. zu dieser Kontinuität Jörg Schönert: Berthold Auerbachs „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ der 40er und der 50er Jahre als Beispiel eines ‚literarischen Wandels‘?, in: Michael Titzmann (Hg.), Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, Tübingen 2002, S. 331-346. 27 Robert E. Prutz: Das Drama der Gegenwart, in: Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848-1858, Bd. 2, S. 271-283, hier: S. 282f. In dem Aufsatz „Die deutsche Einheit sonst und jetzt“ heißt es hierzu: „[…] es wird nur darauf ankommen, daß Deutschland frei und mächtig, der deutsche Handel reich und blühend, das deutsche Gewerbeleben fruchtbar und glücklich wird, um auch diese Poesie der Wirklichkeit einer neuen classischen Epoche entgegenzuführen.“ In: Deutsches Museum 4,1 (1854), S. 178. 28 Robert E. Prutz: Die Literaturgeschichte und ihre Stellung zur Gegenwart, in: Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848-1858, Bd. 1, S. 1-38, hier: S. 37 (Hervorhebung M.G.).

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Kritik, sich „den Zuständen der Wirklichkeit mehr an[zu]schließen“.29 Dass Prutz selbst dies beherzigt hat, zeigen sowohl seine populären sozialen Romane als auch die Großzügigkeit, mit der er im Deutschen Museum überwiegend das rezensiert, was auch gelesen wird. Stets geht es Prutz dabei um die möglichst vollständige Erfassung und Integration des interessierten Publikums in den Kommunikationsprozess,30 denn das „Publikum ist unsre ganze Macht, es ist das Einzige (aber dann auch ein Fels!), auf das wir uns stützen können: ehren wir es denn als unseren Meister.“31 Um diese Macht des Publikums erklären zu können, unterzieht Prutz die Dichotomie von hoher und niederer Literatur einer Revision. Während nämlich überall und zu allen Zeiten neben der ersteren eine zweite Literatur einherging, „welche, scheinbar unberührt von der übrigen geistigen Entfaltung, allein für den Augenblick vorhanden ist und mit ihm untergeht“,32 scheint dies nur in der deutschen Literatur ein besonderes Problem darzustellen. Diese „Lectürbücher“, die um des reinen Lesevergnügens gelesen werden – mithin ihren Zweck ganz in sich selbst tragen –, werden nämlich besonders in Deutschland von der Kritik grimmig beargwöhnt, während in England oder Frankreich die angesehenen AutorInnen eine ihrer vornehmsten Aufgaben darin sehen, gute unterhaltende Literatur für ein möglichst großes Publikum zu schreiben. Schließlich müsse auch hinsichtlich der Gattungshierarchie ein Perspektivwechsel stattfinden. Den Anschluss an die erstrebte ‚Wirklichkeit‘ leisteten nämlich gerade nicht die ‚reinen‘ Gattungen Epos und Drama, sondern die hybriden Formen Roman und Novelle. Diese garantierten formal und inhaltlich alle Möglichkeiten des Realismus.33 „Welche Gattung ästhetischer Production hätte mehr Anspruch, von Alt und Jung und Arm und Reich, in Hütten und Palästen, in Casernen und Fabriken ge-

29 Robert E. Prutz: Epos und Drama in der deutschen Literatur der Gegenwart, in: Neue Schriften. Zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 2, Halle 1854, S. 171-219, hier: S. 189. 30 Vgl. Roland Berbig: Robert E. Prutz’ Berufsentwicklung und Theoriebildung vor 1848, in: Zeitschrift für Germanistik 11 (1990) 3, S. 543-556, hier: S. 553. 31 Robert E. Prutz: Vaterland? Oder Freiheit?, in: Kleine Schriften zur Politik und Literatur, Bd. 1, Merseburg 1847, S. 64-105, hier: S. 70. 32 Robert E. Prutz: Über die Unterhaltungsliteratur, insbesondere der Deutschen, in: Zur Theorie und Geschichte der Literatur, hg. v. Ingrid Pepperle, Berlin 1981, S. 108-128, hier: S. 108. 33 „Roman ist Realismus ist (gute) Unterhaltung.“ Günter/Butzer, Zur Funktion der Literatur, S. 247.

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lesen zu werden, als der Roman, diese eigenthümliche Schöpfung der modernen Literatur, dieser wahre Ueberallundnirgends, dem alle Höhen und Tiefen offen stehen, dem keine Wirklichkeit zu prosaisch, keine Erfindung zu phantastisch ist, dies eigentlichste poetische Abbild unseres vielbewegten, vielverflochtenen, vielirrenden modernen Lebens.“34

Prutz fundiert das Phänomen der Unterhaltung in der Erbauungsliteratur des 18. Jahrhunderts und deren moralisch-didaktischem Element. Nicht formale oder sprachliche, sondern kommunikative Experimente mit dem Publikum bestimmen die aufklärerische Literatur, wobei vor allem die Zugangsmöglichkeiten in den Blick geraten: „Die eigentliche Bildung ist, ähnlich wie der eigentliche Besitz, das eigentliche Vermögen, auf unendlich wenige beschränkt; in einer Welt, wo Alles privilegirt ist, ist auch der Geschmack und der Schönheitssinn ein Privilegium geworden.“35 In dieser frühen Theorie der „feinen Unterschiede“ gibt Prutz das klassische Ideal der Plastik und dessen Gestalt des harmonischen und geschlossenen Werks zwar nicht auf, aber er verschiebt es aus dem Zentrum seiner Betrachtung und löst es vom moralischen Diskurs ab, der im Realismus vom klassischen Kunstwerk übrig bleibt. Die Publikumsschelte, mit der sich viele seiner Kritikerkollegen auf Distanz halten, weist er zurück, denn das „Publikum ist überhaupt nicht da, um Reflexionen zu machen und Vergleiche anzustellen: es geht frisch auf die Sache los, genießt, wo es verdauen kann, läßt liegen, was ihm nicht schmeckt und überläßt das Weitere Gott.“36 Die Trennung in hoch und niedrig, die eine ständige Distanzierung vom Publikum mit sich bringt, könnte nach Prutz durch eine neue Naivität, eine neue Volkstümlichkeit der Literatur überwunden werden. Gerade durch diese begriffliche Unschärfe, mit der er in seiner Argumentation die Differenz zwischen Volkstümlichkeit und Popularität, die Schiller in seiner Bürger-Rezension so sorgfältig positioniert, verschleift, gewinnt Prutz die Basis für eine ganz anders geartete Kritik, die die massenmediale Bedingtheit von Literatur reflektiert, gerade weil bzw. wenn die Literaturgeschichte für die Geschichte der Nation eine politische Rolle spielen soll. Die Integration dieses großen, gemischten Publikums mit seinen heterogenen Interessen leisten die periodischen Printmedien, denen Prutz in seiner Studie über den deutschen Journalismus besondere Aufmerksamkeit widmet, sind sie es doch, die „die Grenzen des literarischen Interesses um ein Unermeßliches“ erweitern und „völlig neue, völlig unberührte 34 Robert E. Prutz: Die deutsche Belletristik und das Publikum, in: Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848-1858, Bd. 2, S. 69-89, hier: S. 71f. 35 Prutz, Über die Unterhaltungsliteratur, S. 116. 36 Ebd., S. 111.

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Schichten der Gesellschaft“ hineinziehen.37 Die ‚Ansteckung‘ von scheinbar literaturresistenten Kreisen durch Literatur gelingt den Zeitungen und Zeitschriften, weil sie, frei von ästhetischen Beschränkungen, auf das Publikum antworten können, das nichts lieber hat, „als wenn es in der Literatur recht frisch und rührig zugeht […]. [E]s interessirt sich sehr gern, es läßt sich gern mit fortreißen“,38 und nur die periodische Presse kann auf seine Bedürfnisse zeitnah und umfassend reagieren, während alle Versuche einer kritischen Steuerung dieser Lektürebedürfnisse zwangsläufig scheitern müssen. „Wenn das postrevolutionäre Modell der Kritik die Regulationsfähigkeit der Kritiker betont, so ergibt sich ein eigentümlicher Widerspruch: Während der potentielle Einfluß des Kritikers auf Grund der dichteren Kommunikation steigt, entzieht sich gleichzeitig ein großer Teil der literarischen Produktion seiner Kontrolle. Und zwar nicht nur die populäre Literatur, die auch vor 1848 unterhalb der Grenze der Rezeptionswürdigkeit lag, sondern auch die neuen Medien wie die Familienzeitschriften.“39

Dieser Widerspruch durchzieht auch Prutz’ Wirken: Obgleich er mit dem Deutschen Museum ein Organ gründen will, das gegen die Interessen des Tages und den flüchtigen Geschmack der Masse eine Bastion gediegener Wissenschaft errichten und über die literarischen Entwicklungen kritisch wachen soll,40 argumentiert er in seiner literaturkritischen Praxis stets differenzierter. Die neu entstehenden Familienzeitschriften begleitet er ebenso mit Wohlwollen wie die belletristische ‚Tagesproduktion‘. So hebt er an ästhetisch inkriminierten AutorInnen wie Oskar von Redwitz oder Luise Mühlbach deren kulturhistorische Bedeutung hervor und stellt den hohen didaktischen Wert von Gutzkows Unterhaltungen am häuslichen Herd, Keils Gartenlaube, Hackländers Über Land und Meer oder auch Westermann’s Monatshefte heraus, wobei er vor allem den Illustrationen bei der Popularisierung von Wissen und Literatur einen hohen

37 Robert E. Prutz: Der deutsche Journalismus, seine Vergangenheit, seine Wirksamkeit und Aufgabe für die Gegenwart, in: Neue Schriften. Zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 1, S. 1-103, hier: S. 32. 38 Robert E. Prutz: Die politische Poesie vor und nach dem Jahre Achtundvierzig, in: Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848-1858, Bd. 1, S. 6980, hier: S. 72. 39 Hohendahl, Literaturkritik, S. 203. 40 [Eröffnung] Deutsches Museum II (1852), S. 1-7; zum literaturkritischen Ansatz vgl. ausführlich Eva D. Becker: Das Literaturgespräch zwischen 1848 und 1870 in Robert Prutz’ Zeitschrift „Deutsches Museum“, in: Publizistik 12 (1967), S. 14-36.

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Stellenwert einräumt.41 Am Ende steht die schlichte Einsicht, dass „das Schöne bei uns populär geworden [ist]“42 und dass eben nicht die Kritik über Wert oder Unwert der Literatur entscheidet, sondern das Publikum. „Da es nun aber unzweifelhaft erst die Wirkung eines Buches auf das Publikum ist, was ihm seine Bedeutung für den Reichthum einer bestimmten Literatur oder Literaturepoche verleiht, so läßt sich auch daraus schließen, wie es mit dem Reichthum unserer Literatur bestellt ist und was wir eigentlich an so manchem berühmten Namen besitzen – nämlich einen Namen und nichts weiter …“43

Die realistische Klassik, die auch bei Prutz als Ideal im Hinterkopf spukt, rückt immer wieder aus dem Blick, an ihre Stelle tritt die seismographisch genaue Aufzeichnung der Veränderungen literarischer Kommunikation. Versuchte das Literatursystem, die Anonymität massenmedialer Kommunikation durch die Konstruktion eines Liebesverhältnisses zwischen Autor und Leserin, das im Brief seinen Niederschlag fand, in eine private Interaktion zu übersetzen, so tritt nun das anonyme Publikum in Kontakt zum Autor. Beide vereinen sich nicht mehr im ‚Werk‘, sondern im Massenmedium. Die gemeinsame „Partizipation am gleichen bürgerlichen Wert- und Sittenkodex“44 macht die Literaturkritik tendenziell überflüssig. Die Reaktionen der LeserInnen sind nicht mehr darauf beschränkt, Autoren zu spiegeln, indem sie Werke bewundern; in Rückkopplungen über Leserbriefe an die Zeitschriften, die in ‚Leserbriefkästen‘ publiziert werden, stellen sie ihre eigenen Forderungen an Gestalt, Fort- und Ausgang der Literatur. Zugleich reflektiert sich in den Publikumsmeinungen das Medium selbst. Das Publikum wird zum wahren Souverän, von dem auch die Literarhistorie ihren Ausgang nehmen muss. Konsequent fordert Prutz deshalb eine Literaturgeschichte, die „vom bloßen Standpunkt des Lesers aus“ geschrieben sei, „wo nach gut oder schlecht, gelungen oder mißlungen, gar keine Frage wäre, sondern wo es sich allein darum handelte, welche Schriftsteller, in welchen Kreisen, welcher Ausdehnung und mit welchem Beifall sie gelesen werden.“45

41 Vgl. Deutsches Museum 3,1 (1853), S. 34-35; 9,1 (1859), S. 789-790; 12,1 (1862), S. 150-151. 42 Prutz, Der deutsche Journalismus, S. 96. 43 Prutz, Die deutsche Belletristik und das Publikum, S. 71. 44 Carin Liesenhoff: Fontane und das literarische Leben seiner Zeit. Eine literatursoziologische Studie, Bonn 1975, S. 59. 45 Prutz, Die deutsche Belletristik und das Publikum, S. 73. Prutz selbst hat dieses Projekt leider nicht ausgeführt.

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Eine solche Wirkungsgeschichte der Literatur aber verschiebt die Koordinaten der autonomen Ästhetik vom Vorurteil des exklusiven Geschmacks hin zum Sinnengeschmack, den Kant als – „barbarische“ – Opposition zum interesselosen Wohlgefallen konstruiert hatte, sofern er der „Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht“.46 Der (ökonomische) Erfolg eines Textes ist nicht länger etwas Ehrenrühriges, nicht gelesen zu werden, gilt nicht länger als Auszeichnung. Der Medientheoretiker Prutz instauriert das Recht einer durchaus sinnlichen Lust am Text, denn der populäre Geschmack fordert eindeutige Lesbarkeit und erkennt nur „die realistische, will heißen respektvolle, bescheidene und folgsame Darstellung von Gegenständen [an], die durch ihre Schönheit wie ihre gesellschaftliche Bedeutsamkeit dazu prädestiniert sind.“47 Diese Realismus-Definition Pierre Bourdieus trifft sich ziemlich präzise mit derjenigen, die Prutz’ Schriften – wenn auch oftmals hinter dem Rücken ihres Verfassers – zu lesen geben. Sie unterscheidet sich aber auch deutlich von den Injurien ‚jungdeutsch‘, ‚romantisch‘ oder ‚naturalistisch‘, ‚verweichlicht‘, ‚unmännlich‘ oder ‚krank‘, mit denen Programmatiker wie Ludwig oder Schmidt die zeitgenössische Produktion belegen.48 Von einem auch nur relativ homogenen Bild realistischer Programmatik kann also nicht ausgegangen werden, weil durch die notorische Verschiebung der wahren, eigentlichen Literatur auf die erfüllte Geschichte der Zukunft und die daraus resultierenden Probleme mit der Gegenwartsliteratur das realistische Programm einer Eliminierung der Kontingenz durch die Unterscheidung von ‚Wesentlichem‘ und ‚Zufälligem‘49 keine Realisierung finden konnte. Zugleich verwirklichte sich auch Prutz’ Hoffnung auf eine ‚neue Naivität‘ nicht. Auch das, was heute als ‚Realismus‘ kanonisiert ist, entspricht entschieden nicht dem, was sich die Zeitgenossen bis zur Reichsgründung unter einer realistischen Klassik vorstellten.50 Die Tagesproduktion, und mit ihr die Werke 46 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 302. 47 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 7. Aufl. Frankfurt/M. 1994, S. 85. 48 Zur polemischen Abgrenzung von solchen Positionen vgl. Robert E. Prutz: Literatur und Literaturgeschichte in ihren Beziehungen zur Gegenwart, in: Deutsches Museum 8, II (1858), zit. n. RG 609-613. 49 Ulf Eisele: Realismus-Theorie, in: Horst Albert Glaser (Hg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 7: Vom Nachmärz zur Gründerzeit: Realismus 1848-1880, Reinbek 1982, S. 36-46, hier: S. 40. 50 Zu dieser Differenz vgl. Günter Butzer/Manuela Günter/Renate von Heydebrand: Strategien zur Kanonisierung des ‚Realismus‘ am Beispiel der „Deutschen Rundschau“, in: IASL 24 (1999) 1, S. 55-81.

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Storms, Raabes, Fontanes u.a., musste entweder ständig unter Vorbehalt gestellt werden, wie in den Grenzboten, oder – mehr oder weniger undifferenziert – anerkannt werden, wie in den Blättern für literarische Unterhaltung. Ein Beispiel für die Verrenkungen, die dieser Widerspruch bei den Theoretikern wie auch bei den Autoren hervorrief, stellte die Rezeption von Gustav Freytags erstem Roman Soll und Haben aus dem Jahr 1855 dar. Als zugleich bemerkenswertes Exempel für eine Literatur aus Kritik bildet dieser Roman die Probleme und Widersprüche des programmatischen Realismus präzise ab: Geschrieben aus dem Gesichtskreis der Kritik heraus, zielt er dennoch nicht auf ein kritischräsonierendes Publikum, sondern auf ein konsumierendes, das sich identifizieren will.51 Der Erfolg des Romans wurde von dem bis dahin mäßig erfolgreichen Dramatiker und Mitherausgeber der Grenzboten von langer Hand vorbereitet. Was im Sinne des emphatischen Autorbegriffs der Programmatiker direkt aus dem Dichter selbst entspringen müsste – kommt doch die „poetische Inspiration nicht von außen, sondern von innen“52 – schafft Freytag systematisch entlang der Maßgabe einer Übersetzung von Zeitgeschichte in Literatur, die er gemeinsam mit Julian Schmidt in Rezensionen und Aufsätzen Anfang der 1850er Jahre entwickelt hat.53 So fordert er bereits 1853 in einer Rezension über „Deutsche Romane“, dass diese sich endlich der Wirklichkeit, dem „großen Kreise menschlicher Thätigkeit selbst“ zuwenden sollten. Da aber der überwiegende Teil der Schriftsteller vom gegenwärtigen Leben und Arbeiten der Menschen nichts verstehe und das einzige Vorbild, die Dorfgeschichte, der komplexen Wirklichkeit nicht mehr gerecht werde, müsse der Kritiker selbst in die Bresche springen und das repräsentative Vorbild für den Realismus buchstäblich aus dem Boden stampfen. Schließlich beansprucht Freytag für sich, dass er bereits „ein tüchtiger Mann“ geworden sei, „das heißt, in irgend einem Kreise menschlicher Interessen heimisch, durch eine ausdauernde und männliche Thätigkeit in die große Kette der kräftigen Menschen als ein nützliches Glied eingefügt“.54 Die tätige, kräftige, nützliche LITERATUR, die sich um die Arbeit der Deutschen kümmern solle, müsste also eine „männliche“ sein, doch die Realität sieht anders aus – arbeiten doch die meisten Autoren und Autorinnen „flüchtig, zerstreut, 51 Vgl. Michael Kienzle: Der Erfolgsroman. Zur Kritik seiner poetischen Ökonomie bei Gustav Freytag und Eugenie Marlitt, Stuttgart 1975, S. 51. 52 [Julian Schmidt]: Neue Romane, in: Die Grenzboten 15/1, 1 (1856), zit. n. RG 383. 53 Vgl. Michael Kienzle, Der Erfolgsroman, S. 5. 54 [Gustav Freytag]: Deutsche Romane, in: Die Grenzboten 12/1 (1853), zit. n. RG 72.

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ohne rechten Drang, ohne Studien und ohne Kritik, als Tagelöhner für den Tag“.55 Damit wiederum werden jene Attribute aktiviert, die sich seit 1800 wie von selbst mit einer weiblichen Position verbinden. Die literaturwissenschaftliche Forschung geht vielfach davon aus, dass Freytag mit seinem Opus durch die Übertragung der detaillierten realistischen Darstellungsverfahren der Dorfgeschichten auf den Bildungsund Gesellschaftsroman ein neues, genuin bürgerliches Genre entworfen habe. Darüber hinaus durchbrach „dieser Roman des deutschen Bürgertums mit seiner unaufhaltsamen Tüchtigkeit […] offensichtlich die Barriere, die das männliche Publikum von der Romanlektüre trennte; ‚Soll und Haben‘ ist ein Männerroman.“56 Zwar stellt Freytag schon in der Vorrede das eigene Produkt unter den bekannten Vorbehalt, dass die Zeit für die wahre Dichtung noch nicht reif sei, jedoch kann er sich in dieser Hinsicht ganz auf seine Kollegen verlassen, die jenen durch den Hinweis auf die gute Absicht eines programmatischen Romans mit lobenden Rezensionen ausräumen und das Buch, gegen den erbitterten Widerstand anderer einflussreicher Kritiker wie Karl Gutzkow oder Hermann Marggraff,57 zur „Bibel des Bürgertums“ stilisieren. Allen voran geht Theodor 55 [Gustav Freytag]: Neue deutsche Romane, in: Die Grenzboten 12/2 (1853), S. 121-128, zit. n. RG 73. 56 Eva D. Becker: Literaturverbreitung, in: Edward McInnes/Gerhard Plumpe (Hg.), Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 6), München, Wien 1996, S. 108-143, hier: S. 135. Die These, dass Soll und Haben aus den deutschen bürgerlichen Männern Leser gemacht habe, können Zeitgenossen allerdings so nicht bestätigen: Freude an der Literatur, so etwa Albert Last, „finden wir fast nur bei unserer [männlichen, sic! M.G.] Jugend, doch überdauert sie nicht das Gymnasium. […] Während der Universitätsjahre vollzieht sich der Stoffwechsel, Buch in Bier, wobei die Erfahrung resultirt, daß das erzielte Quantum Bier in schreiendem Mißverhältniß steht zu den einstigen Anschaffungskosten der Bücher. Nach dieser Erfahrung beschließt der Jüngling, nur noch jene Bücher zu kaufen, die der Beruf erfordert.“ Dennoch wurde in keiner Zeit „mehr Belletristik vom Publikum gekauft, als in der unsrigen“. Ersatz für dieses Aussterben der Hausbibliothek sieht der Verfasser in „anderen Käufern, anderen Methoden“, sprich den Frauen und den Zeitschriften. Albert Last: Der Einfluß der Leihbibliotheken auf den Roman-Absatz, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 51/162 [1884], zit. n. RG 645, 642, 645. 57 So moniert Gutzkow in seiner vernichtenden Kritik die Abstraktheit der geschilderten Arbeit, die Oberflächlichkeit der Charaktere, die Geschwätzigkeit und die mangelnde Spannung (vgl. [Karl Gutzkow]: Ein neuer Roman, in: Unterhaltungen am häuslichen Herd 3 (1855), zit. n. RG 324ff.),

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Fontane, der in seiner Rezension – und dies ist für die Anerkennung als Kunstwerk unerlässlich – die ästhetische Qualität besonders herausstellt und den Roman „als erste Blüthe des modernen Realismus“ würdigt. Fontane argumentiert nicht inhaltlich (er formuliert sogar einige kritische Anmerkungen), sondern auf die Form bezogen, die den Aufbau des Romans streng am Drama orientiere und den englischen Roman – bis Soll und Haben das einzige Vorbild – ästhetisch vollende.58 Freytags Herausgeberkollege Schmidt sekundiert mit der inhaltlichen Legitimation: „In Soll und Haben werden wir tief in das wirkliche Leben eingeführt, und die endlichen Bedingungen des Berufs, der Arbeit und des Genusses werden uns in der Form von Grund und Folge entwickelt. Im Roman bewegen wir uns auf dem Gebiet der Nothwendigkeit […]. Diese Ausbreitung und Vertiefung der sittlichen Ideen in das Detail des wirklichen Lebens ist die nothwendige, die einzige Grundlage einer echten Poesie.“59

Ganz explizit stellt Schmidt den Text in die Tradition des Bildungsromans und profiliert ihn in Abgrenzung zum Wilhelm Meister gar noch als dessen Vollendung, insofern die Charaktere nicht mehr dilettantisch durch die Welt irrten, sondern ‚ihren Mann stünden‘, und die Arbeit bei Freytag weder Talent noch Lebensmut töte. Nicht Entsagung, sondern freudige Pflichterfüllung, nicht faule Kompromisse mit dem Adel, sondern ‚natürliches Bürgertum‘ garantierten jene ‚Gesundheit‘, ‚Frische‘ und männliche ‚Tatkraft‘, die der Nation erfolgreich auf die Beine helfen könnten. Nicht zuletzt Freytags „ideologisches Sendungsbewußtsein verlangt notwendigerweise einen breiten Adressatenkreis“,60 den ihm der sich etablierende, ein großes Publikum ansprechende Vorabdruck garantiert hätte. Dennoch ließ Freytag den Roman nicht in einer Zeitschrift, „sondern zuerst in Buchform erscheinen, um damit seinen Anspruch als Pro-

und auch Marggraf stellt fest: „Aber auf 453 Seiten trafen wir zu unserer Ueberraschung kaum auf eine Spur wirklicher Arbeit.“ Er rügt die „Commisidylle“ wie auch die Prätention, die von diesem Roman ausgehe. Vgl. Hermann Marggraff: Ein Roman, „der das deutsche Volk bei seiner Arbeit sucht“, in: Blätter für literarische Unterhaltung 25 [1855], zit. n. RG 340. 58 [Theodor Fontane]: Gustav Freytag: Soll und Haben. Leipzig [1855], in: Literatur-Blatt des Deutschen Kunstblattes 2 (1855), S. 59-63, zit. n. RG 329. 59 Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur seit Lessing’s Tod [1858], zit. n. RG 344f. 60 Kienzle, Der Erfolgsroman, S. 9.

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grammatiker des Realismus zu unterstreichen.“61 Dies kann angesichts der heftigen Kritik der Grenzboten-Autoren an der belletristischen Tagesproduktion sowie ihrer Pose als Aristokratie der Bildung in der Tat als symbolischer Akt gewertet werden: Durch das prestigeträchtige Buchformat soll von vornherein der Anspruch sichergestellt werden, dass hier ein Werk geschaffen worden sein wird. Damit verbindet sich das Signal, dass LITERATUR nicht dem Primat ökonomischer Verwertung folgen dürfe, sondern den Anspruch auf Werkschöpfung unter allen Umständen aufrechterhalten müsse, und dass dieses Programm in der Gegenwart nur unter den ästhetischen Prämissen des Realismus zu verwirklichen sei. Freytag unterstreicht diese Absage ans System der Massenmedien im Roman auch auf der Ebene des erzählten Geschehens. Plumpe hat darauf hingewiesen, dass die antagonistischen Gruppen Bürgertum, Adel und Judentum auch über ihre Lektüre charakterisiert würden, wobei die Zuschreibungen mit der realistischen Literaturauffassung vollkommen übereinstimmten. Während der (bürgerliche) Protagonist Anton Wohlfahrt eifrig in Coopers Letztem Mohikaner liest und sich damit dem vorbildhaften englischen Realismus zuwendet, interessiert sich „der Jude“ Bernhard Ehrenthal für den dekadenten englischen Romantiker Lord Byron, wohingegen die Baronin von Rothsattel als begeisterte Leserin von ‚Modenovellen‘ und ‚Journalen‘ wie der Gartenlaube durch ihr Interesse an der abgewerteten ‚weiblichen‘ Unterhaltungsliteratur hinreichend charakterisiert wird.62 Damit sich also die richtige, eigentliche und vor allem deutsche LITERATUR (die dem englischen Vorbild nacheifert und dieses zugleich hinter sich lässt) durchsetzen kann, ist ein nichtadliges, nichtjüdisches, nichtweibliches Publikum erforderlich, das Werkabsichten honoriert und Bücher kauft. In diese Richtung zielen deshalb deutlich die volkspädagogischen Aufrufe Freytags an die „Vermögenden und Behaglichen“ – sich ihrer nationalen Pflicht gegenüber der LITERATUR bewusst zu werden und diese durch die Meidung von Leihbibliotheken und den Aufbau von Hausbibliotheken zu unterstützen. Nur ein Rezeptionsverhalten, das den flüchtigen ‚Einwegmedien‘ den Rücken kehrt und sich dem Buch als der ‚natürlichen‘ Form der Literatur zuwendet, vermag einem „Produzieren ohne besondre Berechtigung“ Einhalt zu gebieten, so dass Schreiben wieder „Männerarbeit“ sei.63 Doch zumindest bis in die 1880er Jahre, als auch der Buchhandel wieder einen merklichen

61 Becker, Literaturverbreitung, S. 135. 62 Vgl. Gerhard Plumpe: Roman, in: McInnes/Plumpe (Hg.), Bürgerlicher Realismus, S. 529-689, hier: S. 552f. 63 Freytag, Deutsche Romane, zit. nach Plumpe, Theorie des bürgerlichen Realismus, S. 215.

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Aufschwung zu verzeichnen hatte, verhallten alle diese Aufrufe ungehört.64 Dass Freytags Experiment so großer Erfolg beschieden war und Soll und Haben als Buch ein Bestseller wurde,65 ist unterdessen nicht ohne Ironie, standen doch gerade die erfolgreichen Publikumsbücher immer unter dem Verdacht, den Anspruch eines Kunstwerks gerade nicht zu erfüllen. Während Schmidt und Fontane die Plastizität der Figurengestaltung in Soll und Haben, deren Lebensnähe und Bürgerlichkeit feiern und auch Freytag selbst in seinem Lebensrückblick diese als „wahrhafte und wirksame Darstellungen der Menschennatur“66 bezeichnet, erscheinen T.O. Schröter und Co. nicht erst aus heutiger Sicht als Karikaturen ihrer

64 Vgl. etwa Gustav Freytag: Luxus und Schönheit im modernen Leben. Die Anlage von Hausbibliotheken, in: Die Grenzboten 11/2 (1852), S. 102-109, zit. n. RG 626-630. 65 Es lässt sich angesichts des sonst stagnierenden Buchabsatzes zwar tatsächlich von Rekordverkaufszahlen sprechen (bis 1860 wurde Soll und Haben ca. 22000 Mal verkauft, bis 1914 ca. 300000 Mal); das ist aber immer noch weit entfernt von der Legende des „meistverkauften Werks des 19. Jahrhunderts“, wie Sabina Becker immer noch kolportiert, lagen doch bspw. die Verkaufszahlen von Marlitts Goldelse im gesamten 19. Jahrhundert um ein Vielfaches höher. Sabina Becker: Erziehung zur Bürgerlichkeit: Eine kulturgeschichtliche Lektüre von Gustav Freytags „Soll und Haben“ im Kontext des Bürgerlichen Realismus, in: Florian Krobb (Hg.), 150 Jahre „Soll und Haben“. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman, Würzburg 2005, S. 29-46, hier: S. 29. Vermutlich zählt Sabina Becker Marlitt nicht zur Literatur. Die eigentliche Erfolgsstory von Freytags Roman beginnt dagegen erst im 20. Jahrhundert: eine rapide Zunahme der Auflagenhöhe ist seit 1907 zu verzeichnen. Vgl. Kienzle, Der Erfolgsroman, S. 46f. Plumpe hat die Gründe für diesen Erfolg am ‚Traumpaar‘ Anton und Sabine erklärt: „An ihm ist ein Syndrom ablesbar, das in der Kombination von Häuslichkeit und Fremdenhaß, von Arbeitsfreude und Lustfeindlichkeit, Gemütlichkeit und Härte, Sittsamkeit und Unempfindlichkeit, Pflichttreue und Borniertheit – die Mentalität der Deutschen nicht unerheblich geprägt hat und gewiß in die Vorgeschichte des Faschismus gehört.“ Plumpe, Roman, S. 569. Und, so bleibt zu ergänzen, vor allem auch in dessen Nachgeschichte: zwischen 1950 und 1965 wurden laut Kienzle 406000 Exemplare allein in der Bundesrepublik verkauft. „Man kann feststellen, daß sich das Interesse an dem Roman vornehmlich in den Jahren reaktualisiert, die in ihrer Situation der ersten Gründerzeit der 1850er Jahre entsprechen […]. Das heißt vor allem in den beiden Rekonstruktionsperioden nach den Weltkriegen.“ Kienzle, Der Erfolgsroman, S. 48. 66 Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig 1887, S. 265, zit. n. Plumpe, Roman, S. 558.

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selbst.67 Doch nicht nur das Personal – Schröter als geisternder Sentenzenproduzent oder Anton Wohlfahrts Begehren nach ‚Normalität‘68 –, auch der Realitätsbezug, das angeblich ‚lebendige Bild der Gegenwart‘, bleibt für viele unglaubwürdig: Das Handelshaus offenbart sich als merkantiles Relikt, das mit seiner patriarchalen Fürsorge wie auch mit seiner Transparenz mit den anonymen und funktionalen Modernisierungsprozessen in Industrie und Handel der zweiten Jahrhunderthälfte keinerlei Ähnlichkeit aufweist. Das im Motto beschworene Thema ‚Arbeit‘ – im Sinne einer Produktion von Gütern – bleibt gänzlich ausgespart, denn „,Arbeit‘ bedeutet hier die Umverteilung von Gütern, den Handel und die Kolonisierung östlicher Provinzen.“69 Sie ist unverrechenbar und wird mit Stolz und persönlicher Anteilnahme bis zur Selbstverleugnung verrichtet. Formal entspricht die strenge Ökonomie des Textes, in der es keine Abschweifungen gibt,70 der Ziel setzenden Versagung jeglichen Genusses. Dies stellten auch die Kritiker fest, die die mangelnde Begeisterung und Phantasielosigkeit wie auch die Unmöglichkeit von Empfindung monierten.71 Der große Erfolg basierte letztlich auf einem überzeugenden Identifikationsangebot: dem Aufstieg des (stets bedrohten) Kleinbürgers zum erfolgreichen bürgerlichen Geschäftsmann. Eine literarische Ansteckungsgefahr indes ging von diesem Roman zu keiner Zeit aus. Der Besitz des Romans selbst wurde im 20. Jahrhundert zum Bekenntnis, eine Kenntnis durch Lektüre war hierfür nicht nötig. Auch Robert Prutz kommt als Kritiker an Freytags Roman nicht vorbei, auch er konstatiert den Anachronismus der dargestellten Arbeitswelt in biedermeierlichen Genreszenen, die mit zeitgenössischer Arbeit wenig, mit der „Poesie des Gewürzkrämerladens“ 72 dagegen sehr viel tun haben. Der Vorwurf der Harmonisierung von Gegensätzen – „hier ist alles Friede, Freude, Fidelität“ – wie auch derjenige des Antisemitismus, „der natürlich einem großen Theil des Publicums wiederum sehr glatt einging“, wird von Prutz jedoch insofern relativiert, als er die kulturhistorische Bedeutung des Romans durchaus richtig einzuschätzen weiß, da 67 Vgl. etwa die Rezension Gutzkows, Ein neuer Roman, S. 324ff. 68 Zum Begehren nach Normalität im Realismus vgl. Hermann Korte: Ordnung & Tabu. Studien zum poetischen Realismus, Bonn 1989. 69 Kienzle, Der Erfolgsroman, S. 13. 70 „Da wird im ersten Bande kein Nagel eingeschlagen, an dem im dritten Bande nicht irgend etwas, sei es ein Rock oder ein Mensch aufgehängt würde […].“ Fontane, Gustav Freytag, S. 331. 71 Vgl. Rudolf Gottschall: Die deutsche Nationalliteratur des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, 5. Aufl. Breslau 1881, S. XIII. 72 Alle folgenden Zitate vgl. Robert E. Prutz: Gustav Freytag, in: Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848-1858, Bd. 2, S. 90-114.

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dieser „der Literatur ganz neue Kreise aufschloß und ein ästhetisches Interesse in Gegenden erweckte, wohin sonst kaum ein Roman gedrungen war.“ Mit dem Kriterium der kulturgeschichtlichen Bedeutung aber, und darin liegt die Tücke dieser Kritik, stellt Prutz Freytags Roman auf eine Stufe mit der zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur. Er betrachtet ihn nämlich von vornherein gerade nicht als Kunst, sondern situiert ihn im Rahmen der populären Literatur und ihrer Gesetze: „Der Masse des Publicums dagegen war auch diese ewig heitere, ewig schmunzelnde Laune des Dichters höchst angenehm; Lachen, Plaudern, den Ernst des Lebens vergessen, das war es ja, was die Menge wünschte […].“ Und da dieser Literatur – in diesem Punkt sind sich die Kritiker von den Grenzboten bis zum Deutschen Museum einig – die Männlichkeit fehlt, ist es für Prutz ein Leichtes, auch den Dichter selbst am Ende einer ‚Geschlechtsumwandlung‘ zu unterziehen. Freytag, so Prutz, sei nämlich eigentlich „eine überwiegend weibliche Natur. […] Zart, sinnig, verschämt“, ohne je frivol und anstößig zu werden. Gerade im Maßhalten mit den eigenen Kräften, das eine vorzeitige Verausgabung ebenso verhindere wie eine Überproduktion, zeige sich sein ganz und gar „weibliches Talent“.73 Literaturkritik verlor im 19. Jahrhundert angesichts der rasanten Expansion des literarischen Marktes ihre normative Funktion, die sie im 18. Jahrhundert beim Versuch einer Ausdifferenzierung des Literatursystems übernommen hatte. Der Kritiker fungierte als „der räsonierende Vermittler der ästhetischen Normen und poetischen Regeln, der Richter über die Anwendung, der jeweils formuliert, was das mündige Publikum zu sagen hätte“.74 Doch dieser Konsens wurde durch die Proliferation kritischer Stimmen schon in den 1820er Jahren aufgelöst, sofern das „Rezensionswesen bereits eine Sekundärindustrie [darstellt], die die Fülle der jährlich auf dem Markt erscheinenden Werke für die Konsumtion vorbereitet.“75 Die Aufgabe der Literaturkritik reduzierte sich zunehmend darauf, die neue Unübersichtlichkeit zu strukturieren. Wenn Ludwig Börne schon 1826 polemisiert, dass „deutsche Rezensionen sich in der Kürze mit nichts treffender vergleichen [lassen] als mit dem Löschpapier, auf dem sie gedruckt sind“,76 so hat die Kritik als Selbstreflexion des Literatursys73 74 75 76

Ebd., S. 113. Hohendahl, Literaturkritik, S. 157. Ebd., S. 132. Ludwig Börne: Einige Worte über die angekündigten Jahrbücher der wissenschaftlichen Kritik, in: Kritische Schriften, ausgew., eingel. u. erläutert v. Edgar Schumacher, Zürich, Stuttgart 1964, S. 52-62, hier: S. 53. Und Wolfgang Menzel bemerkt 1827: „Mehrere hundert Zeitschriften für alle literarischen Fächer cirkuliren täglich in Deutschland, werden täglich von Millionen Lesern gelesen; und die Mehrzahl deutscher Leser liest mehr

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tems ihre normative Funktion eingebüßt. Sie gerät zum Element der unterhaltenden Zeitungen und Zeitschriften. Die Profilierung als Kritiker in der unübersehbaren Vielzahl von Rezensenten wird deshalb schon im Vormärz begleitet von neuen Programmen und Zeitschriften, wie z. B. den Hallischen Jahrbüchern, die sich von der zeitgenössischen Rezensionswut abzusetzen suchen. Doch auch wenn sich diese Versuche, etwa durch die Gründung der Grenzboten, in den Nachmärz hinein fortsetzen und in den 1870er Jahren von der Deutschen Rundschau wieder aufgenommen werden – sie orientieren sich am ‚Werk‘ als Buch, während der überwiegende Teil der Literatur zunächst gar nicht in dieser Form erscheint. Da Vorabdrucke in der Regel nicht rezensiert werden, kursiert Literatur jenseits der steuernden Kontrolle durch die Kritik. Die literaturkritische Wirklichkeit wird von den Feuilletons der Tageszeitungen und biographischen Artikeln in den Publikumszeitschriften bzw. von Organen wie den Blättern für literarische Unterhaltung bestimmt. Letztere haben insofern großen Anteil an der Enthierarchisierung der zeitgenössischen Literaturproduktion, weil sie „im Resultat – wo nicht theoretisch, so doch in der literaturkritischen Praxis – die künftige Blüte der Literatur bereits in der Gegenwart feiern.“77 Das Interesse verschiebt sich deutlich von einem ästhetischpoetologischen hin auf ein biographisch-moralisches; ausführliche Beschreibungen und Inhaltsangaben von allem, was das Publikum goutiert, tragen mit ihrem fast schon ostentativen Verzicht auf ein kritisches Urteil dem Unterhaltungscharakter der Literatur im System der Massenmedien Rechnung. Die entscheidende Frage ist nicht mehr, ob ein belletristischer Text ein Kunstwerk ist, sondern, ob er dem Publikum gefällt und ob er sich möglicherweise als Weihnachtsgeschenk eignet. Während die Kritik im Stile der Grenzboten das Publikum zu vertreten beansprucht, versuchen die Familienblätter „mit Erfolg, ihr Lesepublikum konkret anzusprechen, indem sie den Dialog personalisieren. Bezeichnenderweise nehmen sie die literaturkritische Tradition nicht auf.“78 Lektüre wird nicht länger durch die Kritik angeleitet, vielmehr kann diese immer erst nachträglich kommentieren, was die ‚unbegleitete‘, ‚naive‘ Lektüre des Vorabdrucks bereits entschieden hat. Auf diese Weise dreht sich das Verhältnis buchstäblich um: „Das Grundverhältniß ist doch dies, daß diese Beherrscher des Publicums nur die Diener des Publicums sind. Der entschiedene Anspruch des Publi-

Zeitungen als selbständige Werke.“ Wolfgang Menzel: Die deutsche Literatur, Bd. 1, Stuttgart 1828, S. 73. 77 Günter/Butzer, Zur Funktion der Literatur, S. 246. 78 Hohendahl, Literaturkritik, S. 137.

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cums zähmt die Recensenten. Und so darf man sagen: bei der heutigen Organisation des literarischen Verkehrs haben im Allgemeinen die Culturvölker die Poesie, die sie verdienen.“79 Literaturkritische Zeitschriften bilden in der zweiten Jahrhunderthälfte nur noch sekundäre Kommunikationskanäle, das kritische Räsonnement über LITERATUR wird im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vom Wissenschaftssystem übernommen. Es findet seinen Ort in der sich etablierenden Universitätsgermanistik und deren Fachzeitschriften, während Feuilletons und informativunterhaltende biographische Porträts die Kommunikation über Literatur popularisieren und so den Kontakt des Publikums mit Literatur regulieren.

79 Wilhelm Scherer: Poetik [1888], hg. v. G. Reiss, München 1977, S. 89.

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3. Mediale Entdifferenzierung: Autor – Werk – Gattung „Üble Laune läßt man in guter Gesellschaft nicht aus, und der muß sehr üble Laune haben, der in dem Augenblicke Deutschland vortreffliche Schriftsteller abspricht, da fast jedermann gut schreibt. Man braucht nicht weit zu suchen, um einen artigen Roman, eine glückliche Erzählung, einen reinen Aufsatz über diesen oder jenen Gegenstand zu finden. Unsre kritischen Blätter, Journale und Kompendien, welchen Beweis geben sie nicht oft eines übereinstimmenden guten Styls! Die Sachkenntnis erweitert sich beim Deutschen mehr und mehr, und die Übersicht wird klärer.“1

Selbst Goethes Diagnose, die im Kontext seiner anderen Äußerungen über die LeserInnen und AutorInnen von Journalen eher befremdlich wirkt, legt nahe, die konstatierte Verbesserung des Stils sowie die Erweiterung der Sachkenntnis als Effekt eines Medienwechsels zu lesen, der das gesamte 19. Jahrhundert bestimmen wird. Literarische Evolution findet nicht mehr, so ist daraus zu schließen, im Medium des Buches statt, das für AutorInnen durch exklusive Verlegerstrategien sowie für LeserInnen durch hohe Preise immer noch relativ schwer zugänglich ist, sondern in den Zeitschriften, die sich durch Publizität und Disponibilität im Sinne von öffentlicher Zugänglichkeit sowie räumlicher und zeitlicher Verfügbarkeit auszeichnen. Auf der Grundlage dieser heuristischen Annahme sollen im Folgenden die Konsequenzen aus der Erkenntnis gezogen werden, dass die Ausdifferenzierung des Systems der Massenmedien einhergeht mit einer nachhaltigen Entdifferenzierung des Literatursystems. Wenn Benjamin für seine Gegenwart Anfang der 1930er Jahre einen „gewaltigen Umschmelzungsprozeß literarischer Formen“ feststellt, dessen Schauplatz die Zeitung sei,2 so kann diese Perspektive mit guten Gründen ins 19. Jahrhundert zurückprojiziert werden. Es sind in der zweiten Jahrhunderthälfte im Wesentlichen die überaus erfolgreichen Familien- und Rundschauzeitschriften, die auf der Basis sich rapide ent1

2

Johann Wolfgang Goethe: Literarischer Sanscülottismus [1795], in: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771-1805, hg. v. Friedmar Apel, Frankfurt/M. 1998, S. 319-324, hier: S. 323. Walter Benjamin: Der Autor als Produzent, in: Gesammelte Schriften II.2, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1980, S. 683-701, hier: S. 686f.

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wickelnder Drucktechniken einen Prozess vorantreiben, der nicht nur „konventionelle Scheidungen zwischen den Gattungen, zwischen Schriftsteller und Dichter, zwischen Forscher und Popularisator“, sondern auch „die Scheidung zwischen Autor und Leser einer Revision unterzieht.“3 Es gilt die These zu entfalten, dass sämtliche Parameter, mit Hilfe derer der Poetische Realismus Literatur beobachtet, dem System der Massenmedien entstammen. Die Marktsituation für das Verbreitungsmedium Buch erwies sich seit der gescheiterten Revolution als außerordentlich schwierig. Dazu hatte die Wiedereinführung der Zensur im Deutschen Bund im Jahre 1854 allerdings nur teilweise beigetragen. Die Stagnation des nachmärzlichen Buchmarktes war wohl vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, dass sich die Verlagskalkulationen am Bedarf der Leihbibliotheken orientierten, denen mit den Gründungen von Literatur verbreitenden Familienzeitschriften eine massive Konkurrenz entstand, die in der zweiten Jahrhunderthälfte zum Verlust des Distributionsmonopols für Literatur führte. Zu ihrem Erwerb musste man sich nicht mehr auf den Weg machen, und sie gingen, im Unterschied zu den entliehenen Büchern, ins Eigentum über, wenn auch in der Regel nur für kurze Zeit: Mit der preisgünstigen Verbreitung des Buches in Form von Broschüren, Taschenbüchern und Heften als ‚Einwegmedien‘ teilten die Zeitschriften den Geruch der „Einmallektüre“; wie die Leihbibliotheksromane galten sie als „schnell veraltende und deshalb den Kauf nicht lohnende Modeware“.4 Reinhard Wittmann hat gezeigt, dass die Entwicklung der Buchproduktion seit dem 18. Jahrhundert keineswegs geradlinig verläuft. So konstatiert er nach einem rapiden Anstieg im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts einen deutlichen Rückgang zur Zeit der napoleonischen Kriege, dem wiederum ein relativer Höchststand im Jahr 1843 folgt; bis 1849 stellt die Buchmarktforschung erneut ein rapides Absinken der Buchproduktion fest. In den folgenden Jahrzehnten ist nur ein langsamer Anstieg zu verzeichnen, die Zahlen von 1843 werden erst 1879 wieder erreicht.5 3 4

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Ebd., S. 689. Vgl. hierzu Georg Jäger/Jörg Schönert: Die Leihbibliothek im 18. und 19. Jahrhundert. Ein Problemaufriß, in: Dies. (Hg.), Die Leihbibliothek als Institution des literarischen Lebens im 18. und 19. Jahrhundert. Organisationsformen, Bestände, Publikum, Arbeitsgespräch der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 30. September bis 1. Oktober 1977, Hamburg 1980, S. 7-62, hier: S. 23. Vgl. Reinhard Wittmann: Das literarische Leben 1848 bis 1880 (mit einem Beitrag von Georg Jäger über die höhere Bildung), in: Max Bucher u.a. (Hg.), Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, Bd. 1, Stuttgart 1976, S. 161-257, hier:

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Dennoch vergrößert sich im Nachmärz der Kreis von LeserInnen und AutorInnen belletristischer Literatur beträchtlich, und diese Erweiterung verdankt sich der grundlegenden Funktionsverschiebung zwischen Buch und Presse. Bisher nicht lesende Schichten, aber auch das bürgerliche Publikum greifen vermehrt zu den neu gegründeten Zeitschriften, die offenbar das Bedürfnis nach Unterhaltung wie auch nach ‚Bildung‘ umfassend befriedigen.6 Während die Buchauflagen vergleichsweise niedrig bleiben, „wachsen die Zeitschriften an Zahl wie an Auflagen. Im Gegensatz zum stagnierenden Buchhandel hat die periodische Presse durchaus teil an der industriellen Entwicklung der ‚ersten Gründerzeit‘.“7 Die Zeitschriften bilden das Zentrum, von dem aus sich der moderne literarische Markt für ein tendenziell unbegrenztes Publikum entwickelt. Erst um die Jahrhundertwende vermögen Autoren mit Buchhonoraren wieder so viel zu verdienen, dass der verpönte Vorabdruck in Zeitschriften überflüssig wird. Mit dem Verzicht auf politische Stellungnahmen avancieren die Familienblätter zu dem führenden Druckmedium der 1850er und 60er Jahre, das an Auflagen auch die Tageszeitungen weit hinter sich lässt. Das publizistisch Neuartige, das den Erfolg der neuen „Massenpresse“ garantiert, liegt laut Dieter Barth darin, „eine Zeitschrift für alle“8 zu sein – ohne Rücksicht auf soziale Herkunft, Bildungsstand, Alter und Ge-

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S. 167ff.; vgl. auch Becker, Literaturverbreitung, S. 133; Ilsedore Rarisch: Industrialisierung und Literatur. Buchproduktion, Verlagswesen und Buchhandel in Deutschland im 19. Jahrhundert in ihrem statistischen Zusammenhang, Berlin 1976, S. 43. Rudolf Schenda hat allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass vom Grad der Alphabetisierung nicht auf die Zahl von LeserInnen geschlossen werden kann. „Der größte Teil dieser unteren Volksschichten, nahezu die Hälfte der Gesamtbevölkerung, fällt bis weit über die Jahrhundertmitte als Leser, gleich welcher Literatur, aus.“ Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910, Frankfurt/M. 1970, S. 446. Für das letzte Jahrzehnt konstatiert Joachim Kirchner dann, dass etwa 60-70 % der Bevölkerung in die Zeitschriftenkommunikation integriert sind. Vgl. Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, seine Geschichte und seine Probleme, Teil II: Vom Wiener Kongreß bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1962, S. 466. Becker, Literaturverbreitung, S. 108f. Dieter Barth: Zeitschrift für alle. Das Familienblatt im 19. Jahrhundert. Ein sozialhistorischer Beitrag zur Massenpresse in Deutschland, Münster 1974, S. 6. Massenpresse definiert Barth als „Publizistik, die auf die breite Masse zugeschnitten ist und sich den Bedürfnissen und Erwartungen der Leserschaft weitgehend anzupassen sucht.“ Ebd., S. 3.

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schlecht. „Ein Blatt soll’s werden für’s Haus und für die Familie, ein Buch für Groß und Klein, für Jeden, dem ein warmes Herz an den Rippen pocht, der noch Lust hat am Guten und Edlen.“9 Die Adressierung an ‚Herz‘ und ‚Lust‘ unterscheidet sich deutlich von Blättern, die ausdrücklich die ‚Gebildeten‘ ansprechen, und führt notwendig zur Ausrichtung auf eine Zielgruppe, die tatsächlich ‚alle‘ integriert, sofern jeder und jede irgendwie und irgendwann ein Teil davon ist: die Familie, deren Zentrum die Frauen darstellen.10 Die Einbeziehung kleinbürgerlicher und bäuerlicher Kreise in ein ‚bürgerliches Kommunikationssystem Lesen‘ wird erreicht durch Verständlichkeit einerseits, erschwingliche Preise andererseits. Die Barrieren, die das prestigeträchtige Kulturmedium Buch aufbaut, werden von den Zeitschriften elegant überwunden, sie versprechen eine ‚Bildung‘, die nicht mehr an die Berührung mit dem Buch gebunden ist. Mit dieser Expansion des Adressatenkreises treten auch die Anonymität massenmedialer Kommunikation sowie ihre Auswirkungen auf LITERATUR zunehmend in den Blick. Schon 1834 bemerkt Theodor Mundt: „Vom Publikum hat man noch immer nicht auskundschaften können, wer es eigentlich sei“,11 und Friedrich Spielhagen klagt 1883 in einem Aufsatz für Westermann’s Monatshefte: „die goldene Zeit ist ein für allemal vorüber. Muß vorüber sein in einer Periode menschlicher Verhältnisse, wo in den zu Millionen angewachsenen Völkern es ein Publikum in dem bisherigen Sinne für den Künstler nicht mehr geben kann […] [wo] der frühere Zustand einer durch alle Schichten der Bevölkerung hindurchgehenden, nicht gleichen, aber doch bis zu einem gewissen Grade gleichmäßigen Kultur einer unendlichen Klimax Platz gemacht hat, an welcher alle Stufen von der tiefsten sittlichen und intellektuellen Roheit bis zur höchsten Geistes- und Herzensbildung nicht von einzelnen Individuen, sondern wie-

9 Gartenlaube 1,1 (1853), S. 1. 10 Nicht umsonst wünscht sich Wilhelm Heinrich Riehl, dass seine für die Familienideologie des 19. Jahrhunderts bedeutsame Schrift Die Familie als „Idyll vom deutschen Hause“ „namentlich auch bei deutschen Frauen sich einbürgere.“ Wilhelm Heinrich Riehl: Die Familie [1855], Stuttgart 1861, S. VII. 11 Theodor Mundt: Zeitperspektive 1834, in: Schriften in bunter Reihe. Zur Anregung und Unterhaltung, Faksimiledruck der Ausgabe Leipzig 1834, Frankfurt/M. 1971, S. 1-8, hier: S. 7.

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derum von breiten Massen und Schichten vertreten werden, die sich untereinander nicht mehr verstehen.“12

Das Publikum kann vom Autor nicht mehr als berechenbares und homogenes imaginiert werden. Was Spielhagen missfällt, ist vor allem die „Durchsetzung der horizontal gelagerten Standesschichten von den in entgegengesetzter Richtung streichenden Bildungsschichten“, die vollständige Verwirrung von bewährten Gegensätzen der Klassen oder des politischen bzw. des Glaubensbekenntnisses, aber auch derjenigen von Stadt und Land, von Zentrum und Peripherie, die durch die universale Inklusion in die Familienblatt-Kommunikation statthabe. Diese Verwirrung, die selbstverständlich auch das Geschlechterverhältnis betrifft, ziehe, so Spielhagen, völlig gegensätzliche und unvereinbare Urteile nach sich und lasse das Gegenüber des Künstlers letztlich als ein unberechenbares und unentzifferbares Ungetüm erscheinen, von dem ein „intimes Verständnis“ der Kunst nicht mehr zu erwarten sei.13 Das Kunstverstehen aber begleitet seit Klassik und Romantik als unverzichtbares Komplement die autonome Kunst und wird durch vielfältige Autorenkommentare, Rezensionen und andere Handreichungen zur ‚richtigen‘ Lektüre abgesichert: LITERATUR ist an kunstgemäßes Verstehen gebunden. Dagegen zwingen die Familienzeitschriften ihre Autoren zu allgemeiner Verständlichkeit. Sie richten sich an ‚Herz‘ und ‚Lust‘ und lokalisieren ihr Gegenüber im Heim und am Herd. Angesprochen werden also unmissverständlich jene, die in Bezug auf die Lektüre von LITERATUR von je verdächtig waren: die Frauen, deren Bildungswünsche ebenso erfüllt werden sollen wie deren unbefriedigte Sehnsüchte.14 Die Adressierung an die Familie, in der die Geschlechterdifferenz noch eine funktionale Rolle spielt, erlaubt das erfolgreiche Kopieren von privater Interaktion in die anonyme Massenkommunikation. Ein wesentliches Element des Erfolgs lag in der Erschließung neuer Distributionswege. Seit den 1830er Jahren wurde bereits das PfennigMagazin – wichtiger Vorläufer der Familienzeitschriften – über so genannte Kolporteure vertrieben. Diese gingen mit ihren Lieferungen von Haus zu Haus und warben zugleich im direkten Gespräch um neue Subskribenten. Auf diese Weise konnten das Käuferpotential optimal ausgeschöpft und massenweise Nichtkäufer in Käufer verwandelt werden. 12 Friedrich Spielhagen: Produktion, Kritik und Publikum, in: [Westermanns] Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte 54 (1883), zit. n. RG 613f. 13 Ebd., S. 614. 14 Unterdessen setzen die Titelvignetten, sofern sie nicht mit allegorischen Darstellungen aufwarten, unverdrossen Männer in die Position der Lesenden ein.

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Kolportage war mithin nicht nur eine Form der Distribution, sondern vor allem auch eine wirksame Werbestrategie für diejenigen Kreise, die von gedruckter Reklame nicht erreicht werden konnten. Auch hier verhalf die persönliche Interaktion dazu, anonyme Kommunikation durchzusetzen: „Seit den 40er Jahren bis Ende des 19. Jahrhunderts war der Kolporteur der einzige Agent, mitunter auch Propagandist, der zum Volk Zugang fand.“15 Sein Anteil bei der medialen Vernetzung der Kommunikation im 19. Jahrhundert ist nicht zu unterschätzen und stellt einen bedeutenden Beitrag zur allgemeinen Volksbildung dar. Ein weiterer Aspekt des Erfolges, der sich in die restaurative Landschaft des Nachmärz bestens fügte, war das Gebot der Enthaltsamkeit von allen politischen, religiösen oder sozialen Konfliktfeldern. Die liberalen, antifeudalen und antiklerikalen Positionen der ehemaligen Jungdeutschen Gutzkow oder Keil wurden literarisch verpackt, so dass sie nicht als direkte Stellungnahme gewertet werden konnten. Dies war vor allem eine Reaktion auf die nach 1850 wieder eingeführte Zensur für alle Presseerzeugnisse mit einem Umfang unter 20 Bogen. Solche Einschränkungen machten die im Vormärz populären politischen Zeitschriften für die LeserInnen unattraktiv und drängten sie praktisch in die Bedeutungslosigkeit ab. Der explizite Verzicht auf gesellschaftspolitische Einmischung, der in keiner Vorrede oder Ankündigung fehlt und en passant eine zentrale weibliche Tugend aufruft, bildet eine wichtige Voraussetzung für die Attraktivität, ist er doch mit der Zusicherung verbunden, Harmonie und Optimismus glaubwürdig zu vermitteln. So verspricht Gutzkow seinen LeserInnen in der ersten Nummer seiner Unterhaltungen am häuslichen Herd: „Fern von aller Politik, fern von kirchlicher Fehde und gelehrtem Meinungsstreit […] gibt es noch einige geweihte Stellen, wo blaue Luft Allen blaue Luft und echte Farbe Allen echte Farbe ist. Es gibt noch Plätze, wo wir nur Menschen sind und nichts höher halten als unsere sittliche Würde und kein vortrefflicheres Mittel dazu kennen als die Bildung.“16 15 Barth, Zeitschrift für alle, S. 155. Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil machte die so genannte „Schund- und Schandpresse“ nur ca. 10 % der Kolportage-Literatur aus, der überwiegende Teil waren Familien- und Rundschauzeitschriften sowie Konversationslexika und preisgünstige Klassiker-Ausgaben. Vgl. dazu auch Andreas Graf: Literarisierung und Kolportageroman. Überlegungen zu Publikum und Kommunikationsstrategien eines Massenmediums im 19. Jahrhundert, in: Ursula Brunhold-Bigler/ Hermann Bausinger (Hg.), Hören Sagen Lesen Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur, Bern 1995, S. 277-291. 16 Karl Gutzkow: Was wir bringen, in: Unterhaltungen am häuslichen Herd 1 (1852), S. 1 (Hervorhebung im Original).

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Gutzkows Unterhaltungen können als wichtiges publizistisches Experiment gelten, das die Zeit der Familienzeitschriften einläutet, ohne schon selbst an deren ökonomischem Erfolg teilzuhaben. Die hier versprochene ‚Bildung‘ stellt den eigentlichen Reiz des neuen Konzepts dar. Als Erben der Moralischen Wochenschriften führen die Familienzeitschriften deren Stoffe, Motive und belehrenden Absichten fort.17 In der Popularisierung von Wissen besteht für Herausgeber wie Gutzkow, Ernst Keil, George Westermann oder Georg Friedrich Hackländer der eigentliche Auftrag, und ihre Zeitschriften „entwickelten sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in der Tat – neben Schule/Universität und Literatur – zur dritten Bildungsmacht“.18 Die Universalität des Inhalts soll garantieren, dass die divergierenden Interessen des heterogenen Publikums möglichst breit und gleichmäßig mit literarischen, moraldidaktischen und populärwissenschaftlichen Texten bedient werden. Gegen die Ausdifferenzierung der Wissenschaften wie auch gegen die sich etablierende Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften sucht man eine einheitliche Präsentationsform zu setzen, die wiederum an die enzyklopädischen Projekte der Aufklärung anschließbar ist. Dabei soll die Sehnsucht nach der Ferne durch exotische Reiseberichte und ethnographische Aufsätze ebenso bedient werden wie

17 Wie bei den Moralischen Wochenschriften so handelt es sich auch bei den Familienzeitschriften und ihren Vorläufern um Importe aus England: 1832 wurde dort das Penny Magazine gegründet, 1842 The Illustrated London News und 1850 folgten Dickens’ Household Words; auch in Frankreich entstanden zeitgleich Blätter mit vergleichbaren Konzeptionen, in denen es, wie schon bei den Vorläufern, um die Gewinnung bzw. Sicherung der – weiblichen – Leserschaft ging. 18 Ulrich Kinzel: Die Zeitschrift und die Wiederbelebung der Ökonomik. Zur ‚Bildungspresse‘ im 19. Jahrhundert, in: DVjs 67 (1993), S. 669-715, hier: S. 672. Hier, wie auch in der Preisgestaltung, knüpfte man unmittelbar an das von Johann Jakob Weber seit 1833 in Leipzig herausgegebene PfennigMagazin an, das innerhalb kürzester Zeit eine Auflage von ca. 60.000 Exemplaren erreichte. Das international erfolgreiche Konzept stützte sich auf niedrige Preise, möglichst viele Holzschnitte sowie inhaltliche Universalität, unterschätzte aber die enorme Bedeutung der Unterhaltung. Vgl. hierzu ausführlich Wolfgang Weber: Johann Jakob Weber. Der Begründer der illustrierten Presse in Deutschland, Leipzig 2003; Hartwig Gebhardt: Die Pfennig-Magazine und ihre Bilder. Zur Geschichte und Funktion eines illustrierten Massenmediums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Rolf Wilhelm Brednich/Andreas Hartmann (Hg.), Populäre Bildmedien, Vorträge des 2. Symposions für ethnologische Bildforschung Reinhausen 1986, Hamburg 1989, S. 19-41.

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das Interesse an der ‚vaterländischen‘ Vergangenheit durch die Vermittlung kultureller Traditionen. Ein Minimum an volkswirtschaftlichen Informationen steht einem Maximum an naturwissenschaftlichen gegenüber. Vor allem die Beiträge über die neuesten technischen Erfindungen, geographischen Entdeckungen und medizinischen Fortschritte locken das Publikum, weil diese nicht nur – im Sinne der Sensation – ‚neu‘ sind, sondern gesellschaftliche Innovationen und Modernisierungsprozesse beschreiben, an denen es teilhaben will. Maßgeblichen Anteil am großen Erfolg hatte die „innige Verbindung des Holzschnittes mit der Druckpresse“, wie sie seit 1843 in der Illustrirten Zeitung installiert wird.19 Doch während hier der Einsatz von Bildern bereits an Aktualität orientiert ist und diese damit tendenziell zu selbstständigen Informationsträgern werden, dient der lange Zeit eher sparsame Gebrauch von Illustrationen, etwa in der Gartenlaube, der wechselseitigen Erläuterung von Text und Bild. Das Sehen wird mobilisiert, aber kontrolliert von Kommentaren. Die Illustrationen erzeugen nicht den Effekt von Tagesaktualität, bei dem sich die „Leser als Augenzeugen fühlen“.20 Es geht vielmehr um die Herstellung von Präsenz des Fernen wie des Vergangenen. Neuigkeit wird nicht dem Tagesgeschehen entnommen, dem man wegen der periodischen Erscheinungsweise immer hinterherhinken würde, vielmehr tritt an dessen Stelle „die Akzentuierung des Paradigmatischen, der exemplarischen Qualität der behandelten Themen“.21 Das Programm der Familienzeitschriften, so lässt sich zusammenfassen, besteht in der Konstruktion eines bereits Bekannten als Neuigkeit einerseits, in einer Familiarisierung des Fremden andererseits. In beiden Fällen geht es um die Modulierung des Verhältnisses von Abstand und Nähe – der Akt des Lesens wird zu einem des Wiedererkennens. Das Neue, das die Familienblätter präsentieren, ist das von den LeserInnen immer schon als Realität Anerkannte.22 Diese Orientierungsleistung wie19 Illustrirte Zeitung 1 (1843), S. 1. Zur Illustrirten Zeitung vgl. ausführlich Eberhard Seifert: Die Entwicklung der Illustrirten Zeitung Leipzig von 1843 bis 1906, Leipzig 1942. 20 Barth, Zeitschrift für alle, S. 45. 21 Joachim Schöberl: „Verzierende und erklärende Abbildungen“. Wort und Bild in der illustrierten Familienzeitschrift des neunzehnten Jahrhunderts am Beispiel der „Gartenlaube“, in: Harro Segeberg (Hg.), Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst, Mediengeschichte des Films, Bd. 1, München 1996, S. 209-236, hier: S. 227. 22 Vgl. Horst Steinmetz: Der vergessene Leser, in: Ferdinand van Ingen u.a. (Hg.), Dichter und Leser, Groningen 1972, S. 113-133.

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derholt der programmatische Realismus, denn auch in seinen Produkten muss die textuelle Wirklichkeit stets so konstruiert sein, dass das Neue der Erzählung in ein den Lesenden vertrautes Bild von Wirklichkeit eingebettet ist. Während die Gartenlaube Illustrationen zumindest in den ersten zwei Jahrzehnten zwar programmatisch, aber doch eher sparsam und funktional zur Erläuterung von Texten einsetzt, kehrt die Zeitschrift Über Land und Meer das Verhältnis um: „Was er [der Leser, M.G.] mit uns schaut, wollen wir mit dem goldenen Rahmen des Wortes umfassen.“23 Sehen wird wichtiger als Lesen, wenn die Texte als erweiterte Bildunterschriften erscheinen und die Bilder ganze Doppelseiten füllen. Diese gegenüber der Visualisierung nur noch „ornamentale Funktion des Wortes“24 reduziert den ‚Bildungsprozess‘ auf die Rezeption von ‚Bildern‘, womit das auf diese Weise popularisierte Wissen als Sparte innerhalb der Unterhaltung kenntlich wird. Kriegsberichterstattung, naturwissenschaftliche Abhandlung, Erzählung und Holzstich vereinen sich im Genrebild, dessen Programm in der „Auflösung komplexer Zusammenhänge ins Szenische“, in der Aneinanderreihung „kleiner, in sich abgeschlossener Geschichten“25 besteht. Sichergestellt wird die Repräsentationsfähigkeit von Wirklichkeit als Ornament. Vor diesem Hintergrund zeigt sich dann auch deutlich, dass der mäßige Erfolg und das relativ frühe Ende der Unterhaltungen am häuslichen Herd zu einem guten Teil Gutzkows Verzicht auf Illustrationen geschuldet ist, deren extensive Verbreitung „nahezu an die Grenze des Blödsinns gekommen“ sei.26 Denn diese asketische Haltung verkennt, dass ein ‚Massenblatt‘ im 19. Jahrhundert auch diejenigen ansprechen muss, die nicht lesen, die eine illustrierte Zeitschrift aber immerhin als ‚Bilderbuch‘ verwenden können, und dass die hierüber sich einstellenden ‚Bildungserfolge‘ auch nicht unterschätzt werden dürfen.27 Das Problem einer Verständlichkeit für alle, das durch die tendenzielle Aufhebung der Differenz von Bild und Text optimal gelöst scheint, setzt sich auch in die Schreibanweisungen der Redaktionen um. So sollen 23 24 25 26

Über Land und Meer, Bd. 1 (1858/59), S. 2. Kinzel, Die Zeitschrift, S. 682. Schöberl, Abbildungen, S. 223. [Karl Gutzkow]: Illustration und Volksverdummung, in: Unterhaltungen am häuslichen Herd, N.F., 5, 51 (1860), S. 516. 27 Parallel zur Popularisierung des Wissens und der Literatur findet im 19. Jahrhundert eine Popularisierung der Bildenden Kunst statt, die auf ihre Weise die Zeitschriften zur Illustration zwingt. Vgl. Schöberl, Abbildungen, S. 232; vgl. auch Christa Pieske: Bilder für jedermann. Wandbilddrucke 1840-1940, München 1988.

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nicht nur die Beiträge für die Gartenlaube „keinen schulmeisterlichen Anstrich haben, sondern müssen durchweg leicht verständlich, elegant, womöglich in novellistischer Form geschrieben werden, so daß sie die gewöhnlichsten Handwerker, besonders aber die Frauen verstehen können.“28 Auch Berichte, Reportagen und naturwissenschaftliche Briefe folgen damit dem Gebot der Unterhaltung, die Unterscheidung von Textsorten, von Fiktion und Nichtfiktion wird im Begriff der Novelle eingeebnet. Der Anspruch, „durch Belehrung unterhalten und durch Unterhaltung belehren“29 zu wollen, bildet die Säule, auf der der Erfolg der Familienzeitschriften letztlich beruht. Darüber hinaus durchkreuzt „die Kopräsenz von Bild und Text […] die Grenze von informierenden und literarischen Texten. Im Kontext solcher Praktiken ändert sich der Status der Fiktion, die Funktion von ästhetischer Literatur […].“30 Denn das Charakteristikum massenmedialer Unterhaltung besteht in einer permanenten Entwertung und Verwandlung von Information in Nichtinformation.31 Unterhaltsamkeit wird mithin zur Bedingung für die Belehrung, Bildung ist Unterhaltung. Solches Vergessen im Sinne der Entwertung von Information durch Veralten charakterisiert auch die in den Massenmedien generierte Literatur. Sie rückt in wenigen Jahren aus einer eher marginalen Position zur zentralen Rubrik auf. Mit den Zeitschriften beginnt ein „allgemeiner Popularisierungsprozeß der Literatur“.32 Unterhaltung gerät, ganz im Sinne von Prutz, zu ihrer primären und legitimen Funktion. Während bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts Pädagogen und staatliche Institutionen

28 Ernst Keil: Erste Notizen zur „Gartenlaube“, zit. n. Wilmont Haacke: Die Zeitschrift – Schrift der Zeit, Essen 1961, S. 79f. (Hervorhebung M.G.). 29 Ankündigung von Westermann’s Monatsheften im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel vom 1.9.1856, zit. n. Wolfgang Ehekircher: Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte. Ihre Geschichte und ihre Stellung in der Literatur der Zeit. Ein Beitrag zur Zeitschriftenkunde, Braunschweig u.a. 1952, S. 14. Ehekircher zählt übrigens auch diese erste deutsche Revue zu den Familienzeitschriften. Vgl. ebd., S. 6. 30 Rudolf Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des poetischen Realismus, München 1997, S. 50. 31 Gerhart v. Graevenitz hat gezeigt, dass gegen diese Vergesslichkeit in den Zeitschriften die Gedächtniskunst mobilisiert wird – nicht zuletzt durch die Archivierung der einzelnen Jahrgänge in Buchform. Vgl. Gerhart von Graevenitz: Memoria und Realismus. Erzählende Literatur in der deutschen ‚Bildungspresse‘ des 19. Jahrhunderts, in: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hg.), Vergessen und Erinnern, München 1993, S. 283-304. 32 Barth, Familienblatt, Sp. 127.

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das Bedürfnis nach unterhaltender Lektüre zu kontrollieren versuchten, reagieren die Redaktionen mit Schreibanweisungen für ihre Autoren und Autorinnen auf die Einsicht, dass eine Kontrolle des anonymen Publikums nicht möglich ist.33 Damit wird diese in den Schreibprozess verlagert: AutorInnen haben sich nicht nur offener politischer oder religiöser Stellungnahmen zu enthalten, sie müssen auch bei Liebesgeschichten, die doch den Großteil ausmachen, an die „noch nicht eingesegneten Töchter“ denken. Ehescheidung und Selbstmord sind tabu, das Happyend oder zumindest die Wiederherstellung der Ordnung unverzichtbar.34 Darüber hinaus wiederholt sich die Verpflichtung auf regelmäßige Spannungsbögen, überschaubare Fabeln und kompatible Genres. So ermahnt der Herausgeber der Deutschen Rundschau, Julius Rodenberg, den umworbenen Hausautor Conrad Ferdinand Meyer: „Wenn Sie können, geben Sie den Gedanken auf an die dramatische Gestaltung; bleiben Sie bei der hergebrachten Form der Novelle, die ja auch dramatisch genug sein kann.“35 Ganz subtil bedient der Herausgeber in dieser Passage das Bild des autonomen Dichters – „wenn Sie können“ – und verknüpft es mit den Anforderungen, die seine Kalkulation verlangt: Novellen sind im Unterschied zu Dramen zeitschriftenförmig. Die Spekulation, bei dieser weit reichenden Einmischung sei ein Dramatiker an seinem Werk gehindert worden, erübrigt sich von selbst, denn Rodenberg hat schließlich recht behalten: Die Novellen Meyers sind nicht nur überaus spannend, sie haben sich auch sehr gut verkauft und darüber hinaus Eingang in den Kanon gefunden.36

33 Schöberl hat gezeigt, dass mit der zunehmenden Verselbstständigung von Illustrationen zum alleinigen Informationsträger in der Gartenlaube seit den 1870er Jahren auch das Erläuterungsbedürfnis zunimmt und mithin die traditionelle dreiteilige Emblemstruktur mit Inscriptio, Pictura und Subscriptio hier wieder zu Ehren kommt: „Der Leser kann oder soll also die Bilder nicht einfach nach seinem Gutdünken betrachten, sondern er wird durch die Erläuterung dazu angehalten, sie so zu rezipieren, wie es vom Konzept der Redaktion her ‚vorgesehen‘ ist.“ Schöberl, Abbildungen, S. 228. 34 Vgl. etwa die Anweisung der Gartenlaube, zit. n. Gabriele Strecker: Frauenträume, Frauentränen. Über den unterhaltenden deutschen Frauenroman, Weilheim 1969, S. 17. 35 Julius Rodenberg an Conrad Ferdinand Meyer, Brief v. 16.2.1880, in: Conrad Ferdinand Meyer und Julius Rodenberg. Ein Briefwechsel, hg. v. August Langmesser, Berlin 1918, S. 64. 36 Zum Anteil der Deutschen Rundschau bei der Kanonisierung Meyers vgl. Butzer/Günter/Heydebrand, Strategien zur Kanonisierung, S. 66-68.

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Derlei Anleitungen und Einmischungen dürfen also nicht als Zensurmaßnahmen missverstanden werden. Schon Eva D. Becker hat darauf hingewiesen, dass der zentrale Grund des zeitgenössischen Erfolges auch derjenigen, die heute als Realisten kanonisiert sind, letztlich darin lag, dass sie „aus einer Übereinstimmung mit ihrem Publikum heraus schrieben, wie sie in wenigen anderen deutschen Literaturperioden bestanden hat.“37 So korrespondierten die Schreibanweisungen der Redaktionen in vielen Aspekten mit den programmatischen Vorgaben des Realismus, der sich von der verpönten Salonliteratur durch den Ausschluss des Sexuellen, vom ‚Naturalismus‘ durch die Vermeidung des sozial Prekären, von der Romantik durch das Versprechen geschlossener Formen und von den gesellschaftlichen Widerwärtigkeiten durch die Versicherung eines in der Realität vorhandenen Schönen abgrenzte. Weder in Bezug auf das Ideal der geeinten Nation noch in Bezug auf deren ‚Keimzelle‘, die Familie, bestand ein Dissens zwischen AutorInnen, Redaktionen, Verlegern und Publikum. Dargeboten wurde diese Selbstbeschränkung freilich nicht als von außen diktierte Schreibanweisung, sondern als „formaler Index von Poetizität“:38 Das realistische Verklärungspostulat schließt die Tilgung von Kontingenz und die sinnhafte Wiedergabe der (schönen) Welt ebenso ein wie es das Amoralische, Ekelhafte und Widersinnige ausschließt. Das Bedürfnis nach und das Versprechen von Harmonie, Sinn und Ordnung vereint ProduzentInnen und RezipientInnen im Kommunikationsraum der Massenmedien und lässt sogar noch Raum für Abgrenzungsposen, in denen sich aber nur die Instabilität der Grenze zwischen Kunst und Unterhaltung manifestiert. Offenkundig aber ist, dass die programmatische Enthaltung wenig mit der Imago des ‚Bürgers‘ und sehr viel mit der tatsächlich gemeinten Leserin zu tun hat. Die Journalerzählung befriedigt mit ihrem zentralen Thema – die „zunehmende Entfremdung der Geschlechter, die Unfähigkeit, einander zu verstehen, miteinander umzugehen“39 – fundamentale Interessen ihrer Klientel. Indem sie die Störung in Glück oder zumindest in Ordnung auflöst, erfüllt sie zugleich deren Sehnsucht. Schließlich eröffneten die Vorgaben der Zeitschriften auch ein neues Feld für Formexperimente – wie das Spiel mit der Serialität, den Perspektivismus oder auch das Verschwinden des Erzählers –, die heute als 37 Eva D. Becker: „Zeitungen sind doch das Beste“. Bürgerliche Realisten und der Vorabdruck ihrer Werke in der periodischen Presse, in: Dies., Literarisches Leben: Umschreibungen der Literaturgeschichte, St. Ingbert 1994, S. 85-108, hier: S. 93. 38 Vgl. hierzu Plumpe, Einleitung, in: McInnes/Plumpe, Bürgerlicher Realismus, S. 55. 39 Meyer, Novelle und Roman, S. 11.

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Kennzeichen der Modernität des Realismus gelten und die allesamt zuerst in den großen Zeitschriften präsentiert wurden. Gegen die verbreitete Annahme, diese Experimente seien im Widerstand gegen die Medien errungen worden, muss betont werden, dass es nur wenige Hinweise darauf gibt, dass bei den Eingriffen der Redaktionen in die Textgestaltung komplexe Erzählstrukturen oder die spezifische Selbstreflexivität von Texten beschnitten wurden. Die Interventionen beschränkten sich in der Regel auf die Titelgebung sowie auf Kürzungen, die aber, wenn man Qualität einmal vom genialen Autorsubjekt abzulösen bereit ist, nicht unbedingt eine Verschlechterung bedeuteten.40 Auch die beharrlichen Nachfragen, der Publikationsdruck, den die Zeitschriften durch ihren periodischen ‚Hunger‘ erzeugten, müssen nicht einseitig als Hindernis für Qualität betrachtet, sondern können als produktives Element verstanden werden, ohne das vieles von dem, was unter ‚Realismus‘ firmiert, gar nicht existieren würde. Für die sinnvolle und harmonische Anordnung der dargestellten Welt liefert die Erzählung mit Anfang, Mitte und Ende den passenden Rahmen. Ihr Erscheinen in Fortsetzungen verklammert die verschiedenen Hefte und stiftet Kontinuität. Jene sind nötig, weil die Zeitschrift, im Unterschied zum Buch, einer strikten Umfangsbegrenzung unterliegt. Wenn „Serie eine allgemeine Präsentations- und Vermittlungsform der Kultur“ ist, die dem Erzählen selbst innewohnt „und die aus den Prinzipien der

40 So hat bspw. Hans-Jürgen Schrader an der Publikationsgeschichte von Storms Der Spiegel des Cyprianus in der Deutschen Rundschau gezeigt, dass durch die vom Herausgeber Rodenberg vorgenommenen Streichungen von Redundanzen und „unnötigen Ausmalungen“, von allzu kitschigen Märchentönen und „schiefer Parallelisierung in einem hölzern zugezimmerten Rahmen“ sowie einem angeklebten Ende die Novelle deutlich an Qualität gewonnen hat. Trotz dieser Erkenntnis hält Schrader unbeirrt an der Opposition von innovationsfeindlichem literarischen Markt und widerständigen Künstlern fest, die unter Bedingungen medialer Versklavung dennoch bleibende Kunstwerke geschaffen hätten. Hans-Jürgen Schrader: Preß-Autorität. Mitformende Marktfaktoren der realistischen Erzählkunst – an Beispielen Storms, Raabes und Kellers, in: Jahrbuch der RaabeGesellschaft 2001, S. 1-40, hier: S. 17f. Auch das von Schrader immer wieder angeführte Beispiel Gottfried Kellers bleibt allenthalben zweideutig: Entweder sind Die Leute von Seldwyla oder Martin Salander „große Kunst“, dann konnten ihnen offenbar der Zeitdruck wie auch die Einmischungen Rodenbergs nicht viel anhaben, oder sie sind doch nicht so gut und wären möglicherweise ohne diese Vorgaben viel besser? Oder, und das wäre geradezu ketzerisch, vielleicht wären einige von Kellers Texten ohne das Insistieren Rodenbergs nie entstanden.

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erzählerischen Sukzession und Kausalität entsteht“,41 mithin die Unterbrechung Folge der zeitlichen Beschränkung ist, dann gilt das modifiziert auch für die Zeitschriften: Der Abdruck in Etappen oder Folgen, die als Kette die Serie bilden, ist einem Platzmangel geschuldet, den die Zeitschriften zu ihrem Vorteil nutzen. Denn wenn die Leser die einmal begonnene Geschichte zu Ende lesen wollen, so müssen sie zum nächsten Heft greifen. Von eminenter Bedeutung für den Erfolg erweist sich die Herstellung einer Interaktion mit den LeserInnen, indem diese sich erstmals öffentlich artikulieren können. Während die Literatur vorher entweder von professionellen Literaturbeobachtern rezensiert oder in privaten Briefen von liebenden Leserinnen gespiegelt wurde, ermöglichen nunmehr die Familienzeitschriften eine neue Form der Teilhabe. Wenn Prutz 1843 feststellt, dass „erst die Zeitungen das geschaffen [haben], was wir heut zu Tage die Stimme des Publikums“ nennen,42 so spricht er damit massenmediale Rückkoppelungseffekte an, die die Anonymität der Kommunikation als intimen Austausch unter Familienmitgliedern erscheinen lassen. Die Veröffentlichung von Leserbriefen sowie die Einladung zur Mitarbeit dienen dabei nicht dem Kontakt des Systems mit der Umwelt, sondern ausschließlich der Reproduktion des Systems (vgl. RM 34). Sie verschleift die für die Beobachtung von LITERATUR konstitutive Differenz zwischen Autor und LeserIn sowie die damit verbundene von Kunst und Dilettantismus und macht aus dem Publikum ein potentielles Heer von Schreibenden, indem sie eine „Laienproduktion von bis dahin unbekanntem Ausmaß“ stimuliert.43 Die Zeitschriften imitieren, nicht nur in den explizit gekennzeichneten Rubriken, sondern strukturell, die dialogische Form des Briefes, indem sie „jeden Sender zum Empfänger, jeden Empfänger auch zum Sender“ machen.44 Suggeriert wird ein Austausch unter Bekannten, bei dem

41 Knut Hickethier: Serie, in: Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, hg. v. Hans-Otto Hügel, Stuttgart, Weimar 2003, S. 397403, hier: S. 397. 42 Robert E. Prutz: Geschichte des deutschen Journalismus. Einleitung, in: Zur Theorie und Geschichte der Literatur, bearb. u. eingel. v. Ingrid Pepperle, Berlin 1981, S. 77-107, hier: S. 89. 43 Meyer, Novelle und Journal, S. 183. „Indem nämlich das Schrifttum an Breite gewinnt, was es an Tiefe verliert, beginnt die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum […] zu verschwinden.“ Benjamin, Der Autor als Produzent, S. 688. 44 Helmut Schanze: Vom Werk des Autors zum Werk des Nutzers, in: Ders./ Peter Ludes (Hg.), Qualitative Perspektiven des Medienwandels. Positio-

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es nicht um objektive Berichterstattung, sondern gerade um eine perspektivierte und empathische Darstellung geht. „Durch diese Tendenz zur emotional bewegenden Aufbereitung aller Geschehnisse […] stellte die Zeitschrift wahrscheinlich den intensivsten Kontakt zu ihren Lesern her.“45 Auch diese Eigenschaften: persönlich, gefühlvoll, einfühlsam zu sein, teilt sie mit dem ‚weiblichen‘ Genre des Briefes. Die Wiederholung dieser bekannten Struktur hebt die anonyme Kommunikation der Massenmedien natürlich nicht auf, vielmehr werden durch die Bereitstellung von Simulakren persönlicher Interaktion ihre TeilnehmerInnen damit vertraut gemacht. Auf Seiten der Distribution drängen sich die Zeitschriften über die Kolporteure in den Intimraum der Familie, sie sprengen diesen Raum auf und schließen sich in ihn ein. Häuslicher Herd, Daheim oder Gartenlaube signifizieren, gespiegelt in Titelvignetten und Illustrationen, Bereiche familiärer Idylle und Harmonie. Auf der anderen Seite reist man mit den LeserInnen über Land und Meer oder auch vom Fels zum Meer, so dass mittels eines „vertraulichen Exotismus“46 auch die Fremde in den Bereich des Hauses einrückt. Mit dieser Vertraulichkeit korrespondiert der betuliche Tonfall, mit dem Redakteure und Herausgeber das Publikum umwerben. Das Modell Familie als Muster privater Interaktion wird mithin erfolgreich auf die anonyme massenmediale Kommunikation projiziert. Die Auswirkungen auf die Literatur sind eklatant. Während die räsonierende bzw. die liebende Lektüre durch ihre Bestätigung des Autors bedeutenden Anteil an der Werkschöpfung hatte, bleibt die ‚Familie‘ auf sich bezogen. Ihre vielfältigen Reaktionen auf die dargebotene Literatur führen nicht mehr zur Konstitution von Autorschaft, sondern fixieren das massenmediale Simulakrum eines intimen Interaktionsraumes, in dem das Private öffentlich hergestellt wird. Auch manifestiert sich die enge Verbindung zur realistischen Verklärungspoetik überaus sinnfällig, insofern die Projektion familiärer Interaktion auf die massenmediale Kommunikation allenthalben funktioniert: „Aus dem statuierten bzw. postulierten ‚Realitätseffekt‘ resultiert ein Wahrheitseffekt; suggeriert wird die Wiedergabe des wirklich Wahren.“47 Die Verwechslung von Wirklichkeit und Realismus, auf der alle poetologischen Bemühungen der zweiten Jahrhunderthälfte basieren, liegt auch der Etablierung der Zeitschrift zum erfolgreichsten Massenmedium zugrunde.

nen der Medienwissenschaft im Kontext ‚Neuer Medien‘, Opladen 1997, S. 189-197, hier: S. 189. 45 Schöberl, Abbildungen, S. 226. 46 Kinzel, Die Zeitschrift, S. 700. 47 Eisele, Realismus-Theorie, S. 44.

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Der Gleichsetzung von Publikum und Familie auf der einen entspricht die Familiarisierung des Dichters auf der anderen Seite, sind doch an die Stelle ästhetischer Kritik die biographischen Autorenporträts getreten, die den Dichter bevorzugt im Elternhaus oder im Kreis der Verwandten und Freunde zeigen.48 Die Bedeutung der Porträts liegt nicht in der Evaluierung von literarischen Niveaus, sondern in der Inszenierung von Individualität. Sie verstärken die Simulation persönlicher Interaktion, indem sie den Dichter entheroisieren und den ‚Menschen‘ hinter dem Künstler aufzeigen: „Das Individuum wird auf einer mittleren Höhe sichtbar.“49 Individualität ist nicht mehr genial und exzentrisch, sondern ‚normal‘ und durchschnittlich. Zwar findet potenziell jeder Eingang, aber doch nicht in gleicher Weise. Während an die denkwürdigen ‚Menschen mit Namen‘ Porträts in Zentralperspektive erinnern, tauchen die klassifizierbaren Namenlosen in ornamentaler Funktion auf. Die biographischen Wortporträts verdoppeln die Botschaft der gestochenen Porträts zusammen mit Illustrationen, die das Besondere des Alltäglichen unterstreichen. Diese Rückführung des Dichters auf menschliches Maß stößt bei vielen Zeitgenossen, die mit der Distinktion ohnehin Probleme haben, auf positive Resonanz, denn die neueren Schriftsteller „machen einen Teil des Publikums aus, sie stoßen sich mit der Menge herum, sie ereifern sich, freuen sich, lieben und zürnen wie jeder andere.“50 Autornamen, die Garanten für den Sinn eines Textes und damit für seine bedeutungshaltige Entzifferung, lösen sich dementsprechend in die Kontexte auf, in denen die Texte erscheinen. Sie gehen ihrer distinktiven Funktion verlustig, weil sie nicht nur von anderen Autornamen, sondern vor allem auch von demjenigen des Herausgebers aus ihrer einzigartigen Position der Textsignatur verdrängt werden. Schließlich ist „Unterhaltungsliteratur […] ein kollektives Phänomen, für das zwar die Namen von Autoren kurzfristig werbewirksam sein können, längerfristig aber relativ bedeutungslos sind. […] Ihrem Prinzip nach ist Unterhaltungsliteratur anonym.“51 Die Akteursfiktion Autor wird in den periodischen Printmedien als Fiktion erkennbar, als Mythos von Individualität, die vom traditionslosen Konservatismus des Publikums selbst nur als Unterhaltung geduldet wird. Gerade deshalb ist es möglich, das Spiel mit dem Prestige des Dichters so weit zu treiben, wie es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

48 Vgl. hierzu die Autorenporträts Goethes in der Gartenlaube VII (1859), S. 197; VIII (1860), S. 229, XIII (1865), S. 181; XV (1867), S. 5. 49 Kinzel, Die Zeitschrift, S. 702. 50 Ludolf Wienbarg: Ästhetische Feldzüge, Berlin, Weimar 1964, S. 188. 51 Meyer, Novelle und Journal, S. 184, 185.

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zu beobachten ist, wird doch ausgerechnet in den Familienzeitschriften der Kult des Dichtergenies so intensiv gepflegt wie nirgendwo sonst, indem man die reale Anonymisierung des Autornamens in der Textpräsentation durch ‚persönliche‘ Autorenporträts in Bild und Text emphatisch substituiert. Die ‚Literaturlegende‘, die Werk und Autor zur höheren Einheit verschmilzt, wird schon durch das Gebot der Abwechslung zum Element der Unterhaltung.52 Partizipation an der Aura des großen Namens und Inflationierung des traditionellen Autorbildes markieren zwei Seiten desselben Prozesses. Die Zeitschrift „suggeriert einen virtuellen kollektiven Autor, die Redaktion integriert den Plural der beitragenden Autoren, verdrängt und vertritt die Instanz des (singularen) Autors.“53 Dieser Prozess einer Kollektivierung macht den einzelnen austauschbar und unterwirft sein Dichten der Produktionslogik der Massenmedien. Autoren sind im 19. Jahrhundert Journalisten. Fontane, Freytag, Gutzkow, Spielhagen, die die ökonomische Seite ihrer „Thätigkeit bestens verwerthen“ wollen,54 produzieren Zeitschriften und Zeitschriftenprosa gleichermaßen, denn in deren Zentrum müssen grundsätzlich Begebenheiten stehen, „deren Inhalt werth ist, daß sich die Leser dafür interessiren.“55 Auch die Stoffsuche der AutorInnen ähnelt deshalb zunehmend journalistischen Recherchen: „Der ‚Novellist‘ fahndet nach Stoffen und Begebenheiten wie der Journalist, denn beide haben eingesehen, daß mit den tatsächlich geschehenen Ereignissen keine Phantasie wetteifern kann. Die Wirklichkeitssuche des Erzählers und sein Bemühen, der historischen Wahrheit nahe zu bleiben, hat mit der des Journalisten einerlei Voraussetzung; sie ist nicht poetisches Unvermögen, sondern Konsequenz einer gerade durch das Journal bewirkten, bis vor kurzem noch unvorstellbar erweiterten Information, die als Realität zuträgt, was bis dahin die ausschweifendste Phantasie nicht erfinden konnte.“56

Nicht gegen diesen, sondern nur innerhalb dieses Kontextes ist deshalb ein Phänomen wie die Münchner Dichterschule erklärbar. Sie bildet kein längst versunkenes Relikt, denn sie inszeniert Mäzenatentum und Dich-

52 Vgl. Wegmann, Vor der LITERATUR, S. 89. An den Autorenporträts in den Zeitschriften lässt sich der Umcodierungsprozess der großen LITERATUR-Erzählungen in unterhaltende Information sehr gut beobachten. 53 Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 50. 54 Julius Duboc: Über die Darstellungsweise im Roman, in: Deutsche Warte 1 (1871), S. 617-623, zit. n. RG 394. 55 Freytag, Für junge Novellendichter, S. 397. 56 Meyer, Novelle und Journal, S. 85. Und schon Kaspar Stieler wusste: „Aus den Zeitungen sind alle Geschichte genommen.“ (ZL 14)

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terheros offensiv im massenmedialen Raum. Das klassizistische Programm, das in der „Wiedererhebung des rein Menschlichen zum Gegenstande der Poesie“57 besteht und das Autoren wie Emanuel Geibel oder Paul Heyse in engem Austausch mit Wissenschaftlern wie Justus Liebig oder Heinrich Sybel durchsetzen sollen, ist, wie bereits Wolfgang Ehekircher gezeigt hat, programmatisch und personell von Anfang an aufs Engste mit einer der bekanntesten Familienzeitschriften – mit Westermann’s Monatsheften – verbunden. In beiden Fällen geht es um „eine Synthese zwischen empirischer Forschung und kodifiziertem Wissen sowie zwischen den freien Künsten und den technischen Wissenschaften“.58 Umfassende Bildung und klassizistisches Dichtungsideal sollen, unterstützt von einem adäquaten Bildprogramm, in einem breiten Publikum verankert werden, ohne dass die Distinktion preisgegeben wird. Vielmehr erhält tendenziell jeder die Möglichkeit, sich über den anderen zu erheben. Das Erfolgsgeheimnis des Münchner Kreises besteht denn auch nur zu einem geringen Teil in der politischen Protektion. Zwar kann das Aushängeschild, der Hofpoet Emanuel Geibel, durchaus als Produkt mäzenatischer Förderung betrachtet werden, hatte er doch seine Pensionen zunächst des bayerischen und dann des preußischen Königs vor allem seinem beherzten Dichten gegen die bürgerlich-liberale Opposition des Vormärz zu verdanken. Allerdings revanchierte er sich dafür mit der erfolgreichen massenmedialen Installierung eines Kunstverständnisses, das den Dichter als Sachwalter autonomer Kunst in den Massenmedien situiert. Der Effekt einer Trennung der Kunst von der Politik (der gerade aus deren inniger Verbindung hervorgeht) und ihre Verknüpfung mit den empirischen Wissenschaften sind von enormer kulturpolitischer Bedeutung. Klassizismus als Programm beendet die Politisierung der Kunst im Vormärz und setzt an deren Stelle eine Ästhetisierung des Politischen, die in der heroischen Lyrik Geibels zum Ausdruck gelangt. Diese Trennung von Kunst und Politik, die ihren Niederschlag sowohl in der realistischen Programmatik als auch in den Familienzeitschriften findet, ermöglicht nicht nur deutliche politische Stellungnahmen für Kaiser und Reich, sondern erlaubt vor allem die keineswegs widersprüchliche Verknüpfung von heroischem Dichterbild und dessen massenmedialer Prä-

57 Ehekircher, Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte, S. 12; vgl. auch Günter Butzer: Von der Popularisierung zum Pop. Literarische Massenkommunikation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Gereon Blaseio/Hedwig Pompe/Jens Ruchatz (Hg.), Popularisierung und Popularität, Köln 2005, S. 115-135, S. 125. 58 Butzer, Popularisierung, S. 122.

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senz. Heroisch erscheint dieses nämlich gerade deshalb, weil es in seinem epigonalen Selbstverständnis ausdrücklich auf Autonomie und Originalität verzichtet. Andererseits ermöglicht die klassizistische Nachfolge, die Regeln der LITERATUR erfolgreich im System der Massenmedien zu reproduzieren, und abgesehen von wenigen kritischen Stimmen geht diese Rechnung vollkommen auf: „Man rezipierte die Lyrikproduktion der ‚Münchner‘ als Standard ‚hoher‘ Literatur.“59 Wenn also Siegert davon ausgeht, die periodische Presse produziere „eine Standardliteratur für ein Medium, dessen Kapazität aufgrund seiner Reproduktionsgeschwindigkeit derart groß ist, daß es von vornherein auf eine Unersetzlichkeit von Autoren – wie sie einen Goethe zu dem einen Goethe gemacht hat – verzichten muß“,60 so kann dieser Befund ergänzt werden durch denjenigen einer massenmedialen Feier autonomen und genialen Dichtertums, die ihren sinnfälligen Ausdruck in der Fülle von Klassikerporträts in Wort und Bild findet. Komplementär zu dieser Inflationierung des Dichterbildes desavouieren die Periodika das Kommunikationsmedium ‚Werk‘, das durch raumzeitliche Begrenzung, Geschlossenheit, Ganzheitlichkeit, Individualität und Originalität charakterisiert ist. Dies beginnt mit dem Zentralbegriff der Originalität, der vom Konnex von Eigentum und Eigentümlichkeit vollständig losgelöst und ganz auf den Aspekt des Neuen reduziert wird. Nur ein neuer Roman ist, unter den Regeln der Massenmedien, informativ – nur was interessiert, ist auch wert, gedruckt zu werden. Die Suche nach deutschen „Originalromanen“ sowie die Bemühung um Erstabdrucke von Übersetzungen werden zur wichtigsten Aufgabe der Redaktionen. Die Übersetzungen gewinnen bereits in der ersten Jahrhunderthälfte prägenden Einfluss auf die literarischen Kommunikationsverhältnisse. Neben den Buchserien und Anthologien, die seit den 1820er Jahren einen ungeahnten Aufschwung erleben,61 sind es vor allem die Zeitschriften,

59 Renate Werner: Ästhetische Kunstauffassung am Beispiel des ‚Münchner Dichterkreises‘, in: McInnes/Plumpe (Hg.), Bürgerlicher Realismus, S. 308-342, hier: S. 317f; vgl. hierzu auch Michael von Krausnick: Paul Heyse und der Münchner Dichterkreis, Bonn 1974. 60 Siegert, Relais, S. 140. 61 Vgl. z. B. die Reihe Das belletristische Ausland mit über 3600 Bänden zwischen 1843 und 1865, die Familien-Bibliothek der Deutschen Klassiker. Eine Anthologie in 100 Bänden, die von Hermann Kurz und Paul Heyse herausgegebene Moderne Romane des Auslandes in guten Übersetzungen (1867-1868) in 100 Bänden sowie den Novellenschatz des Auslandes (1871-1875) in insgesamt 14 Bänden; vgl. ausführlich hierzu Bernd Weitemeier/Fritz Paul (Hg.): Übersetzte Literatur in deutschsprachigen Antho-

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die zur Vermittlung ausländischer Literatur maßgeblich beitragen, sofern sie Neues im Sinne von Unbekanntem zu bieten hat. Begünstigt wird dies durch die „rechtlose Situation im internationalen literarischen Verkehr, die keinerlei Honorare für den Originalautor oder Abfindung des Originalverlags“ vorsieht,62 womit der Nachdruck in (variierenden) Übersetzungen eine preisgünstige Alternative zum relativ teuren ‚deutschen Originalroman‘ bietet. ‚Original‘ ist ein Text dann, wenn er in dieser Gestalt nicht schon an einem anderen Ort gedruckt wurde. Wenn aber Individualität und Eigentümlichkeit vom Begriff des Originals ab-, der ästhetische Originalitätsbegriff mithin aufgelöst wird, dann können erstmals auch Romane und Novellen mit weiblicher Signatur diesen Status erreichen. Tatsächlich verdankt ein Blatt wie die Gartenlaube seine beispiellose Erfolgsgeschichte den ‚Originalromanen‘ von Eugenie Marlitt, Wilhelmine Heimburg und E. Werner. Diese Entwicklung wird zwar von so manch düsterem Szenario begleitet, nach dem „das entartete deutsche Volk zuletzt gar keine urkräftigen Genies von deutschem Wesen mehr zu erzeugen“ vermöge, doch der Siegeszug der „secundären, untergeordneten Talente“63 ist nicht aufzuhalten, allein die illustrierten Romanserien des „Gartenlaube-Dreigestirns“ brechen alle Rekorde. Während die Buchserie mehrere, in sich abgeschlossene Texte verschiedener Verfasser vereinigt, drucken Zeitschriften einen Roman in mehreren Fortsetzungen über mehrere Hefte verteilt. Damit wird der Textkörper geöffnet, das Ganze in Teile zerlegt, die nicht unbedingt auch im Sinne eines nun fiktiven Ganzen wieder zusammengesetzt werden müssen. Diese Auflösung der raumzeitlichen Begrenzung geht einher mit dem Verlust der Selbstständigkeit durch die starke Kontextualisierung, der der literarische Text in den Zeitschriften ausgesetzt ist. Die innere Zweckmäßigkeit weicht einer äußeren – Literatur dient als werbewirksamer ‚Aufmacher‘ sowie der möglichst spannenden Verklammerung der verschiedenen Hefte. Anfang, Mitte und Ende werden tendenziell kontingent, die Einheit ist nicht mehr die des Werks, sondern die des Mediums. Diese Tatsache desavouiert den Anspruch auf Interpretierbarkeit. Während ‚Werk‘ immer Objekt der Hermeneutik mit einem zu entziffernden Sinn darstellt, entspringt die Journalprosa dem „ursprungslosen Treiben der Wörter“,64 das dem Vergnügen dient. Lektüre wird im Zeitlogien: Bibliographien anthologischer Formen, Teilband 4: Literarische Übersetzungsserien 1820-1910, Stuttgart 2001. 62 http://www.univie.ac.at/comp-lit/vorlagen/Uebersetzungsfabriken.pdf, S. 2, aufgerufen am 3.7.2006. 63 Adolf Zeising: Deutsche Originalromane, in: Blätter für literarische Unterhaltung 1854/1, S. 285-292, zit. n. RG 631f. 64 Siegert, Relais, S. 141.

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schriftenkontext von der Aufgabe der hermeneutischen Sinnentzifferung, die die Einheit von Autor und Werk reproduziert, entlastet, womit ‚Zweckfreiheit‘ als Zwecklosigkeit wiederkehrt: Die Texte sind ausschließlich dazu da, um gelesen zu werden. Ihre massenmediale Gestalt gilt für alle AutorInnen, unabhängig vom Kanon. Durch die Gleichsetzung von Buch und literarischem Text wurde das Buch lange Zeit gar nicht als Medium wahrgenommen. Das Buch als materielle Form des ‚Werks‘ zeichnet sich durch eine kontinuierliche, in Buchdeckeln geschlossene Einheit aus. Da das Buch aber selbstverständlich auch immer schon technisch reproduziertes Massenmedium ist, muss ‚Werk‘ von dieser materialen Gestalt abgelöst werden können. „Originalität wandert als Geist des Autors in das Werk ein, das Buch ist nur notwendige Hülle.“65 Demgegenüber tritt durch die Praxis des Vorabdrucks, in der die Einheit von Autor und Werk nicht mehr funktioniert, die Medialität des Buches selbst in den Blick und entlarvt die Illusion, dass das gebundene Buch der ‚natürliche‘ Körper eines literarischen Werkes sei. Die Buchform bestimmt im 19. Jahrhundert längst nicht mehr die primäre Erscheinungsweise, sondern wird zur Option für die Zweitverwertung. Nichtsdestoweniger geht die aktuelle Forschung immer noch von der Buchausgabe als „intakte und eigentliche Fassung“ gegenüber der desintegrierten und deformierten Gestalt im Vorabdruck aus.66 Umgekehrt distanzieren sich die Zeitschriften von ihrer Periodizität und von der im Feuilletonroman praktizierten Produktion von Literatur als „Wegwerfprodukt“.67 Sie maskieren sich durch entsprechende Formate, fortlaufende Paginierung, umfangreiche Register und reich verzierte Buchdeckel für die Sammlung der einzelnen Jahrgänge als Buch. Verleger und Redakteure bemühen sich auf diese Weise darum, die Zeitschriften am höheren Prestige des Buches zu beteiligen. Sie sollen Eingang in die Bibliotheken finden, und die einmaligen Lektüren der Wiederholung geöffnet werden. Diese Grenzverwischungen deuten darauf hin, dass entgegen aller medialen Realität die Medienhierarchie im kulturellen 65 Raimar Stefan Zons: Über den Ursprung des literarischen Werks aus dem Geist der Autorschaft, in: Willi Oelmüller (Hg.), Kolloquium Kunst und Philosophie, Bd. 3: Das Kunstwerk, Paderborn u.a. 1983, S. 104-127, hier: S. 116. 66 Rudolf Helmstetter: „Kunst nur für Künstler“ und Literatur fürs Familienblatt. Nietzsche und die Poetischen Realisten (Storm, Raabe, Fontane), in: Heinrich Detering/Gerd Eversberg (Hg.), Kunstautonomie und literarischer Markt. Konstellationen des Poetischen Realismus, Vorträge der Raabe- und Storm-Tagung vom 7. bis 10. September 2000 in Husum, Berlin 2003, S. 47-63, hier: S. 55. 67 Bachleitner, Feuilletonroman, S. 14.

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Bewusstsein unangetastet ist: Buch bedeutet großes, einheitliches Werk, während die Journale dem Gebot der Abwechslung folgend die kleine Form, sei sie lyrisch oder prosaisch, bevorzugen, die keinen Werkanspruch erhebt, womit das Journal als ganzes in eine weibliche Position gerückt wird. Wollen Autoren ‚männliche‘ Werke produzieren und dennoch auf die finanziellen und publizistischen Vorteile des Vorabdrucks in der periodischen Presse nicht verzichten, so müssen die Texte das Medium wechseln. Das bedeutet im 19. Jahrhundert nicht einfach ‚Verbesserungen‘ nach poetologischen Vorgaben, sondern die Transformation in eine andere ‚Gattung‘. Die Überführung „periodischer Beiträge in Sammelwerke und schließlich sogar in Einzelbände mit mehreren Teilen stellt sich publizistisch als Trend vom Journal zum Buch dar. Sie bedeutet eine soziale Hebung, der viele Autoren auch literarisch durch Bearbeitung ihrer Journalbeiträge nachzukommen versuchten […].“68 Es geht vor allem darum, nachträglich den schlechten Ruf kommerzieller Verwertung an den Texten zu tilgen. Wie die Journaltexte sich zur Buchform läutern und sogar die Zeitschriften diese kopieren, so übernimmt der Realismus den organizistischen Werkbegriff, der seine Geschlossenheit dem klassischen Drama verdankt, während gleichzeitig im 19. Jahrhundert die Anti-Genres Roman und Novelle favorisiert werden. Anti-Genres deshalb, weil beide praktisch ohne Verwerfungen auskommen und möglichst alles einschließen, wohingegen sich Genres „in einer Selbstbeschreibung [konstituieren], indem eine Merkmalsgruppe zusammengestellt und damit andere Merkmale ausgeschlossen […] werden.“69 Roman und Novelle erweisen sich als überaus flexibel und offen, das zeigt sich nicht zuletzt in der Proliferation der terminologischen Erweiterungen. Während ‚Roman‘ Oberbegriff für„alle Erzählliteratur [ist], die in Buchform vorgelegt wird“, unterliegt auch die Nomenklatur der Novelle keinen „ästhetischen oder poetologischen Erwägungen“,70 sondern resultiert in toto aus dem Gesetz der Neuheit. Der Furor, mit dem in den Verlagen und Redaktionen ständig neue Bezeichnungen erfunden werden, folgt demjenigen der Varietät.71

68 Meyer, Novelle und Journal, S. 116. Dass dies ganz systematisch betrieben wurde, zeigt Meyer an vielen Beispielen von Gutzkow bis Stifter. 69 Schneider, Genre, Gender, Medien, S. 27. 70 Meyer, Novelle und Journal, S. 33f. „Angesichts der Belanglosigkeit historischer Gattungszuweisungen scheint jeder theoretische Ordnungsversuch zum Scheitern verurteilt zu sein.“ Ebd., S. 30. 71 So reicht das semantische Spektrum der ‚Novelle‘ vom traditionellen Begriff für ‚Zeitung‘ über eine Sigle für eine Erzählung im Stile Walter Scotts bzw. einer historischen Erzählung überhaupt bis hin zu Neuerscheinung,

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Die extreme Flexibilität der Genrebezeichnungen korrespondiert der variablen Funktionalität der Journale. Auch hier wiederholt sich also die paradoxe Konstellation in Bezug auf das Kommunikationsmedium des Literatursystems: Zu den offensten und flexibelsten aller bis dahin existierenden literarischen Formen werden die traditionellen Zutaten hinzugefügt. Organische Geschlossenheit und plastische Gestalt bilden die formalen Ideale, die problemlos mit den journalistischen Formen vereinigt werden. Wiederholung und Original, ‚Un-Werk‘ und ‚Werk‘ lassen sich in diesem Prozess nicht mehr unterscheiden, in den Zeitschriften, und zwar auch in den literaturkritischen Organen, wird vorsichtshalber alles, was zwischen zwei Buchdeckeln steckt, als ‚Werk‘, im schlechteren Fall als ‚Werkchen‘, bezeichnet. Die Möglichkeit der Verwechslung geht so weit, dass ein medienversierter Autor wie Gutzkow seine Zeitschrift Unterhaltungen am häuslichen Herd als Ausgabe seiner literarischen Werke missverstand, die er dann folgerichtig auch mehr oder weniger alleine zu schreiben gedachte.72 Das Scheitern ist vorprogrammiert, verkennt er doch die Unvereinbarkeit von Periodikum und Werk; darüber hinaus verstößt er gegen das Gesetz der Varietät – Texte müssen nämlich nicht nur neu, sie müssen auch möglichst vielfältig sein, und die Variation von Autornamen gehört wesentlich dazu. Der Journalprosa wird in den Überarbeitungen zum Buch die Werkform also nachträglich implementiert. In der Regel handelt es sich dabei um eine (oft geringfügige) Erweiterung des bereits Publizierten – etwa durch Aufnahme eines ‚Originalbeitrags‘, der noch nicht in einem Journal zu lesen war, wobei es vor allem darum geht, den für ein Buch erforderlichen Mindestumfang zu erreichen. „Zeitschriften- und Almanacherzählungen konnten zu Separatpublikationen aufgeschwemmt werden; sie konnten als Binnen-Erzählungen in Romane aufgenommen oder aus diesen herausgezogen und mit anderen zu Sammlungen zusammengefaßt werden. […] Ein probates Mittel, Journalbeiträge in Buchform zu überführen, war der Rahmen, mit dessen Hilfe ursprünglich an völlig verschiedenen Orten publizierte Einzelbeiträge in eine mehr oder weniger geglückte größere Einheit überführt wurden.“73

Rahmenerzählung, Erzählsammlung oder ganz allgemein: Journalbeitrag. Vgl. ebd. 72 Vgl. Barth, Familienblatt, Sp. 153. 73 Meyer, Novelle und Journal, S. 46. Bereits in der ersten Hälfte war diese Praxis etabliert, wie Meyer an Hauff, Kleist, Tieck, Achim von Arnim, Hoffmann u.a. nachweist.

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Der mediale Kontext des Journals, dem stets etwas Unseriöses anhaftet, wird auf diese Weise getilgt. Als Bedingung von ‚Werk‘ erweist sich – das wird an diesen Transformationen deutlich – das Vergessen der medialen Beschaffenheit von Literatur. Nur wenn die Medien ihrer Existenzweise verdeckt sind, kann Literatur als LITERATUR erscheinen. Sobald sich diese Existenzweise im System der Massenmedien offenbart, werden radikale Verwerfungen erforderlich, wie sie an den Prozessen der Kanonbildung abzulesen sind. „Das kanonisierte Werk ist bestimmt als eines, das die Regeln, denen es gehorcht, allererst schafft. Die Aufgabe des Rezipienten besteht demzufolge darin, diese Regeln zu entdecken. Durch den Akt der Kanonisierung, d. h. der Anerkennung als Kunstwerk erfolgt zugleich eine Wertschätzung, der die Interpretation sich unterordnet, indem sie alle Elemente des Einzelwerks als Beweis für dessen ästhetische Qualität deutet.“74

Was im einen Fall als Unvermögen, erscheint im anderen als innovative Abweichung, was im einen Fall Klischee, ist im anderen Zitat, was im einen Fall trivial, ist im anderen Kunst, denn die „Dialektik der Deutung erlaubt dem Interpreten, ein Kunstwerk zu denken, in dem alles immer zugleich sein anderes bedeutet […].“75 Deshalb wird die in den Zeitschriften des 19. Jahrhunderts radikal vorangetriebene „Liquidation von Originalität, Identität, Kohärenz und Kontinuität, die De-formation des ‚Werks‘“76 auch nicht als ‚Dekonstruktion‘ interpretiert, die neue Energien freisetzt, sondern als reine Destruktion, vor der die LITERATUR in Schutz genommen werden muss. Vor diesem Hintergrund wird Plumpes Version des Realismus als „Literaturepoche, die sich programmatisch der Umwelt-Referenz ausdifferenzierter Literatur öffnet und über interessante Themen reproduziert“,77 problematisch. Denn der von ihm definierte Code interessant/langweilig sowie die Funktion der Unterhaltung steuern die Ausdifferenzierung des Systems der Massenmedien; sie können deshalb nicht in gleicher Weise das Literatursystem dirigieren. Entweder man bestimmt den Code des Literatursystems wie Luhmann ästhetisch als schön/ hässlich und die Funktion als Aufhebung von Kontingenz, dann muss man für das 19. Jahrhundert jedenfalls jene Zerrüttung analysieren, die Luh-

74 Christa Bürger: Das Kunstwerk als Setzung. Rohe Thesen, in: Willi Oelmüller (Hg.), Kolloquium Kunst und Philosophie, S. 128-130, hier: S. 129. 75 Ebd., S. 130. 76 Zons, Über den Ursprung, S. 126. 77 Vgl. Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, S. 108.

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mann eher beiläufig festgestellt hat. Oder aber man geht von dem medieninduzierten Code und einer Unterhaltungsfunktion aus, dann kann Literatur im 19. Jahrhundert nicht sinnvoll im Literatursystem beobachtet werden, denn dann ist das Gebot des Redundanzverzichts verletzt, wonach kein Funktionssystem die Funktion eines anderen Systems übernehmen kann: „Jedes System beansprucht für sich die alleinige Kompetenz in der Ausübung der eigenen Funktion und findet die dafür erforderlichen Kriterien in sich selbst.“78 Doch auch wenn diese Annahme gelten soll, kann von einer „Paradigmatisierung der ‚Autonomie‘ zu einer unspektakulären Selbstverständlichkeit“79 gerade nicht ausgegangen werden. Vielmehr gewinnt die Reflexion von Ausdifferenzierung als (berechtigte) Angst vor einer Entdifferenzierung im 19. Jahrhundert an Brisanz, weil weder der Code, noch die Funktion, noch das Programm (des Realismus), noch auch die Differenz von Erzählung und Nachricht für die Journalprosa (und das ist mit Ausnahme von Freytags Soll und Haben oder Felix Dahns Der Kampf um Rom die bestimmende Form der Literatur) so funktioniert, dass sich wirksam ein Literatursystem von einem System der Massenmedien abschließen kann. Während also Plumpe Realismus als literarisches Programm definiert, das „die Literatur – bei selbstverständlich kontinuierlich weiterlaufender Systemreferenz – auf Umweltreferenz festlegt“,80 soll hier die Gefahr akzentuiert werden, dass der Realismus als „hypostasierte Übergänglichkeit von Literatur und außerliterarischer Realität sich dem ‚Grenzwert Realität‘ immer mehr annähert und somit den literarischen Aggregatzustand einzubüßen droht“.81 Noch expliziter erscheint das Problem bei René Wellek, sofern, „von der realistischen Theorie unterstützt, alle Unterschiede zwischen Kunst und Vermittlung von Informationen“ aufgegeben werden.82 Dies manifestiert sich vor allem in den Genres zwischen Bericht und Fiktion, wie sie die Zeitschriften bevorzugen: Der ‚wahre Bericht‘ arbeitet durchgehend mit Fiktionen und fiktionalen Strukturen, und paradoxerweise verstärkt gerade diese Tatsache die Glaubwürdigkeit und Realitätshaltigkeit der Texte. Die Journale nutzen die Fiktion als ‚Transmitter‘ für Information, denn jene macht eingängig

78 Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft, aus dem Italienischen v. Alessandra Corti, mit einem Nachwort v. Jan Assmann, Frankfurt/M. 2002, S. 195. 79 Plumpe, Epochen moderner Literatur, S. 106. 80 Ebd., S. 107. 81 Eisele, Realismus-Theorie, S. 38, 42. 82 René Wellek: Der Realismusbegriff in der Literaturwissenschaft, in: Ders., Grundbegriffe der Literaturkritik, Stuttgart 1965, S. 161-182, hier: S. 182.

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und verständlich, was an dieser sonst vom Publikum als unwahr verdächtigt würde. Die Informationsförmigkeit der fiktionalen Texte zeigt sich nicht nur an der Themenwahl oder an der Figurengestaltung, sondern vor allem auch an der schlichten Tatsache der Existenzweise der Literatur – und zwar in Bezug auf Produktion, Distribution und Rezeption – in den periodischen Massenmedien. Die realistische Programmierung im Sinne der ‚Verklärung‘, die die LITERATUR von der Literatur abgrenzen sollte, erscheint als äußerst inkonsistente Kategorie, die eher eine Konstellation verschiedener Interessen als ein homogenes Konzept beschreibt. Gerade die Formel, wonach realistische Kunst das Realschöne vom Hässlichen und Zufälligen zu reinigen habe, um es in der Fiktion verklärt als eine ideale Totalität präsentieren zu können, beweist ihre große Nähe zur Unterhaltung, wo ‚Wahrheit‘ von je her einen unverzichtbaren Topos darstellt, der durch Realitätseffekte erzeugt wird. Darüber hinaus ebnen gerade die periodischen Printmedien die Differenz zwischen literarischen und nichtliterarischen Texten tendenziell ein, so dass sie ständig darum bemüht sind, durch deutliche Kennzeichnung – in den Tageszeitungen durch den Strich – die Unterscheidbarkeit der Texte zu garantieren: „Der Leser glaubt sie, hält sie für real und tatsächlich, weil es zwischen der Zeitung und ihm eine Abmachung gibt, nach der geregelt ist, wo Fiktion und wo Nachrichten und Informationen zu finden sind.“83 Dieser Pakt zwischen JournalleserInnen und Journalen bildet die Voraussetzung, dass das realistische Konzept der Verklärung überhaupt funktioniert. In der Tat liefert die Umwelt die Themen, „deren interessante Bearbeitung die Unterhaltungsfunktion der Literatur sichern soll“.84 Allerdings, wenn Interessantheit und Unterhaltung Elemente des Systems Massenmedien sind, besteht das Ziel nicht mehr im künstlerischen Formgewinn, sondern in der Spannungserzeugung und Bindung des Publikums ans Medium. Denn dessen Inhalt, dessen ‚Stoff‘ versagt sich zuverlässig „jeder anderen Organisationsform als der, die ihm die Ungeduld des Lesers aufzwingt.“85

83 Steinmetz, Der vergessene Leser, S. 117. 84 Plumpe, Epochen moderner Literatur, S. 107. 85 Benjamin, Der Autor als Produzent, S. 688.

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VI. L I T E R A T U R I N M A S S E N M E D I E N – MASSENMEDIEN IN LITERATUR „[W]elches Genie, das nicht der Hunger treibt, wird nicht bald lieber seine Werke verbrennen und sagen: ich singe nur für meine Freunde. Oder, wenns der Hunger treibt und es soll andre, die Druckergesellen der Dichtkunst, reich machen; – wehe! Und schreibts nun gar dieses traurigen Gewinsts wegen, zerret, feilschet, verkauft, veranstaltet Subskriptionen und Pränumerationen; der Dichter der Nation ist Letternkrämer worden, er muß schreiben, Genie und Würkung ist verhandelt.“1

Die resignierte Invektive Herders gegen eine Kunst, die nach ‚Brod‘ geht, zielt auf die massenmediale Generierung von Literatur, gegen die sich das Literatursystem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausdifferenziert. Die Mutation des Dichters zum ‚Letternkrämer‘, der um den Preis seiner Produkte feilscht, bedeutet für Herder das Ende des Genies – und ‚Hunger‘ erscheint ihm kein hinreichender Grund für einen solchen Verrat am Ideal. Diese puristische Perspektive ändert sich im 19. Jahrhundert grundlegend: Der Berufsschriftsteller wird zur selbstverständlichen Erscheinung auf dem Literaturmarkt, und die Bewertung seines Wirkens hängt nicht mehr von der lukrativen ökonomischen Verwertung seiner Produkte ab. Nicht die pure Not, sondern bereits der Anspruch auf Sicherung eines gehobenen Lebensstandards wie beim ‚Vielschreiber‘ Raabe oder beim Journalisten Fontane rechtfertigt die Akkomodation an die zeitgenössischen Markt- und Medienverhältnisse. Damit Schriftsteller wie Raabe oder Fontane dennoch für die Restituierung des zerrütteten Literatursystems herangezogen werden können, kommt es darauf an, die Marktstrategen hinter den genialen Dichtern verschwinden 1

Johann Gottfried Herder: Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten. Paralipomenon, in: Werke, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher, Frankfurt/M. 1994, S. 937-943, hier: S. 939f.

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LITERATUR IN MASSENMEDIEN – MASSENMEDIEN IN LITERATUR

zu lassen. Was den heute abgewerteten Autoren und Autorinnen des 19. Jahrhunderts in der literaturwissenschaftlichen Betrachtung stets zum Verhängnis wird – ihr versierter Umgang mit den periodischen Massenmedien –, gerät bei Fontane oder Raabe zur besonderen Qualität: im Sinne eines Triumphes der Kunst „im Schraubstock moderner Marktmechanismen“.2 Eine weniger intentionalistische Betrachtung, die die prekäre Alternative Marktgängigkeit/Marktwidrigkeit zu vermeiden sucht,3 bietet die Konstruktion eines „Bimorphismus“ an: „Der Vorabdruck bedeutet eine doppelte Situation und Zuhandenheit des Textes mit unterschiedlichen Gebrauchsweisen, Lektüreformen und ‚Lesewelten‘.“4 Die Konsequenz besteht in einer zweifachen Betrachtung der Texte und ihrer Autoren – einmal in den Medien und dann wieder getrennt davon, wobei auch in diesem Fall letztlich die heroische Geste des Künstlers obsiegt. So geht Gerhart von Graevenitz von zwei Kontexten literarischer Texte aus, die die Literatur aber letztlich nur wieder in die bekannten zwei Literaturen spaltet: „Sie entstehen einerseits in dem mit hohem Autonomiebewußtsein ausgestatteten Subsystem der ‚Literatur‘, einem Produkt der ausdifferenzierten Kulturvielfalt, und sie entstehen andererseits für ein Medium, das dieser Differenzfülle die Sonderfunktion ‚Zusammenführung des Getrennten‘ zur Seite stellt. Diese doppelte Situation der Literatur wird im Medium als doppelte Präsenz abgebildet. […] Doppelt ist darum schließlich auch die Erscheinungsweise solcher Literatur, zum einen in der Fortsetzungsserie der Hefte und der Jahrgangsbände, zum anderen in Buchform, in der ‚klassischen‘ Erscheinungsweise von Literatur.“5

Diese Perspektive, die die am Literaturprozess beteiligten Instanzen vom Autor über den Text bis zum Medium und dem Leser/der Leserin aufspaltet, um so die vermeintlich widersprüchliche Struktur in ihre Bestandteile zu zerlegen, soll in dieser Studie abgelöst werden durch eine, die diese Instanzen konsequent im System der Massenmedien be-

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Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Im Schraubstock moderner Marktmechanismen. Vom Druck Kellers und Meyers in Rodenbergs „Deutscher Rundschau“, in: DVjs 67 (1993), S. 669-716. Exemplarisch für diese These vgl. ebd.; vgl. auch Ulrike Koller: Wilhelm Raabes Verlegerbeziehungen, Göttingen 1994; Gerd Eversberg/Harro Segeberg (Hg.): Theodor Storm und die Medien, Berlin 1999; Heinrich Detering/Gerd Eversberg (Hg.), Kunstautonomie und literarischer Markt. Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 66. Graevenitz, Memoria und Realismus, S. 298.

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obachtet. Statt einen Autor wie Fontane als Funktion der Möglichkeiten eines „von außen“ begrenzten zeitgenössischen Literatursystems zu betrachten,6 soll er hier als eine Funktion der Möglichkeiten präsentiert werden, die das zeitgenössische Mediensystem bereitstellt. Der ‚literarische Markt‘ wird dann auch nicht als schlechter Einfluss auf und Beschränkung der literarischen Möglichkeiten verurteilt, sondern tritt als wichtige ‚Produktivkraft‘ der Literatur in den Blick. Es soll im Folgenden an kanonisierten und nicht kanonisierten AutorInnen, die allesamt ausdrücklich in diesen und für diese Medien produziert haben, gezeigt werden, dass Werk, Autor und Gattung im Kontext der Massenmedien zu sekundären Eigenschaften, zu Simulakren werden, von deren vergangener Aura die Massenmedien vielfältig profitieren, ohne dass sie noch als Kommunikationsmedien funktionieren. Alle Unterschiede zwischen Buch und Zeitschrift, auch noch die materiellen, werden nivelliert. Kulturelles Prestige, textueller Status wie auch die Rezeptionsweisen gleichen sich tendenziell dadurch an, dass die ‚Bücher‘ vorab in Zeitschriften erscheinen und Zeitschriften Bücher sein wollen. Mit der Universalisierung der Massenmedien verliert darüber hinaus „das gebildete Publikum sein Monopol, seine gebildete Homogenität wird aufgeweicht und der Normenhorizont von Kultur, Bildung, Räsonnement gesprengt.“7 In der Tat geht es im System der Massenmedien nicht um die Erzeugung neuer Textstrukturen, sondern darum, dass „etablierte Strukturrepertoires“ durch Rearrangement thematische Produktivität freisetzen8 – im Sinne der Neuigkeit, die das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums befriedigt. Unterhaltung und Realismus treffen sich auch in ihrer Funktion für die Gesellschaft, die Unsicherheit in Bezug auf Werte und Verhaltensweisen durch neue Orientierungen zu kompensieren und in der Familie eine unverrückbare Instanz gegen Mobilisierung und Modernisierung zu fixieren. In diesem Kontext spielen sich Realismus, Familienzeitschriften und Gesellschaftstheorie in die Hände – die theoretischen Abhandlungen wie auch die kulturgeschichtlichen Novellen Wilhelm Heinrich Riehls erfüllen sich im Kontext realistischer Poetik und popularisieren sich in den Zeitschriften.9 Mithin soll ‚realistische‘ Literatur nicht länger als Konkurrenz und Alternative zur ‚Unterhaltungsliteratur‘

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Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 20. Ebd., S. 54. Graevenitz, Memoria und Realismus, S. 298. Zur Familie als ‚Gründungsmythos‘ des 19. Jahrhunderts vgl. Claudia Streit: (Re-) Konstruktion von Familie im sozialen Roman des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. u.a. 1997.

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betrachtet werden, sondern als deren optimale Gestalt. ‚Realismus‘ bezeichnet in unserem Zusammenhang keine Umschaltung des Literatursystems auf Fremdreferenz, sondern die Programmierung der Unterhaltung im Kontext der Massenmedien. Nachrichten und Berichte mit lokalem oder historischem Bezug sind zentral für die Generierung der literarischen Texte, ebenso der Wiedererkennungseffekt von Vertrautem durch den Abgleich mit ‚Wirklichkeit‘ wie auch durch Verknüpfungsmöglichkeiten mit pragmatischen Texten, etwa der Nachricht, die hinter einer Novelle steht, wobei beide dem Publikum möglicherweise sogar aus demselben Medium bekannt sind. Fontane hat den gleitenden Übergang von Nachricht und Narration, von Zeitung/Zeitschrift und belletristischer Literatur in Bezug auf den Roman folgendermaßen beschrieben: „Was soll ein Roman? Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Häßlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll zu unserer Phantasie und unserem Herzen sprechen, Anregung geben, ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluß aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte, klärte und belehrte.“10

Diese Verbindungen zur Wirklichkeit werden zwar eingeklammert und die Differenz durch Idealisierung und Verklärung akzentuiert – dennoch wird die für LITERATUR konstitutive Grenze zwischen Fakt und Fiktion in der semifiktionalen Texttypenmischung der Zeitschriften nachhaltig verwischt. Dass die so erzeugte Neuheit im einen oder anderen Fall auch für ein Literatursystem im Sinne der ästhetischen Innovation reklamiert wird, erscheint als nachträgliche Operation, die die zeitgenössische Produktion und Distribution von Texten, will man sich nicht auf Autorintentionen berufen, nicht tangiert.

10 Theodor Fontane: Gustav Freytag. Die Ahnen I-III, in: HFA III.1: Aufsätze und Aufzeichnungen, hg. v. Jürgen Kolbe, München 1969, S. 308-325, hier: S. 316f.

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1. Realismus als Medieneffekt? Fontane „In mir war wohl eine Vorahnung eines großen Ereignisses und so kam es, daß ich eine kleine Weile zögerte, einen Blick in das aufgeschlagene Blatt zu tun. Indessen dem Mutigen gehört die Welt; ich ließ also schließlich mein Auge drüber hingleiten und siehe da, da stand es: ‚Geschwisterliebe‘, Novelle von Th. Fontane. […]: hier diese vier Spalten mit ‚Fortsetzung folgt‘, das war großartig.“1

Bereits 1940 stellte der Zeitungswissenschaftler Wilmont Haacke über Fontane apodiktisch fest, er sei „einer der ersten deutschen Zeitungsmänner des 19. Jahrhunderts“, der seine gesamte Entwicklung „allein der Presse verdanke“,2 und auch Charlotte Jolles betonte frühzeitig, dass Fontanes Journalismus erst den Romancier hervorgebracht habe.3 Diese Erkenntnis, dass die Zeitung für Fontane seit dem Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn „Lektüre, Geldgeberin und Lieferantin von Neuigkeiten aller Art“4 war, geht auch in die neueren Arbeiten zur journalistischen Praxis ein, erscheint in diesen allerdings ins Kanonische gewendet, insofern sie (zusammen mit den lästigen konservativen und antisemitischen Statements Fontanes) als „Werkbestandteil“5 in das Bild des literaturwissenschaftlich etablierten Meisterautors integriert wird. Dagegen soll im Folgenden dieses Bild als Resultat einer perfekten Nutzung sämtlicher Potentiale der periodischen Printmedien rekonstruiert und mithin der ‚Dichter‘ als Effekt von Medienstrategien sichtbar werden. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei Fontanes Engagement für zwei führende Tageszeitungen, deren Profile sich stark unterschieden: die Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung (NPZ) auf der einen, die Vossische Zeitung (VZ) auf der anderen Seite. 1882 erklärt Fontane diese seine Doppelexistenz in einem Brief an den Verleger Friedrich: 1 2

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Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig, in: HFA III.4: Autobiographisches, hg. v. Walter Keitel, München 1973, S. 179-539, hier: S. 183f. Wilmont Haacke: Fontane, Theodor, in: Walther Heide (Hg.), Handbuch der Zeitungswissenschaft, Bd. 1, Leipzig 1940, Sp. 1052-1057, hier: Sp. 1052. Charlotte Jolles: Theodor Fontane als Essayist und Journalist, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 7 (1975) 2, S. 98-119, hier: S. 98. Roland Berbig: Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine, unter Mitarbeit v. Bettina Hartz, Berlin, New York 2000, S. 72. Ebd., S. 5 (Hervorhebung M.G.).

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„Beide muß ich cajoliren, denn beide (wiewohl politisch ganz entgegengesetzt) umfassen mein allereigentlichstes Publikum, die Kreuzzeitungs-Leute halten wegen meiner Kriegsbücher, märkischen Wanderungen etc. grosse Stücke von mir, die Leser der Vossin wegen meiner Theater-Berichterstattung und sonstiger mannigfacher geübter Kritik.“6

Entgegen der gängigen Interpretation des zeitlichen Nacheinanders seiner Mitarbeit bei der NPZ und bei der VZ im Sinne einer biographischen Entwicklung vom konservativen, vaterländischen Wanderer zum liberalen Gesellschaftskritiker möchte ich für eine Perspektive plädieren, die Fontane als mediales ‚Chamäleon‘ in den Blick nimmt, der in einem Maße in den massenmedialen Kommunikationsraum integriert ist, dass er auf diesem Terrain die Kriterien für seine eigene Profilierung als Dichter entwickelt und durchsetzt, denen die wechselnden politischen Überzeugungen konsequent untergeordnet werden. Im Revolutionsjahr 1848 zum Schutz von Thron, Altar und Vaterland aus dem „Comité der konservativen Rechten“ um Bismarck hervorgegangen, entfaltete die NPZ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ihrer national-völkischen und zugleich orthodox-protestantischen Ausrichtung eine publizistische Wirksamkeit, die aus den Auflagenzahlen nicht unbedingt zu erschließen ist und die weit über das Stammpublikum des preußischen Junkertums hinausging. Fontane bot sich der NPZ bereits 1857 von London aus als Korrespondent an; durch Vermittlung des „Tunnel“-Kollegen7 George Hesekiel kam es 1860 zu einer festen Anstellung als Redakteur des „englischen Artikels“, doch Fontane lieferte darüber hinaus auch Feuilletons, Rezensionen, Kapitel aus dem Wanderungen-Projekt und aus seinen Kriegsbüchern, Leitartikel und Glossen. Vor allem aber übte er sich in der Praxis der „unechten Korrespondenz“8

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Fontane an Wilhelm Friedrich, Brief v. 23.11.1882, in: Fontane Blätter 3 (1973) 1, S. 46. Der Dichterverein „Tunnel über der Spree“ war ein überaus wirkungsvolles Netzwerk, in dem man sich über Jahrzehnte gegenseitig zu Publikationen, Posten und wichtigen Kontakten verhalf, die sich bei der bürgerlichen Etablierung als äußerst nützlich erwiesen. Vgl. hierzu Berbig, Theodor Fontane, S. 418f.; vgl. auch Wulf Wülfing: Tunnel über der Spree, in: Ders./Karin Bruns/Rolf Parr (Hg.), Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825-1933, Stuttgart, Weimar 1998, S. 430-455. Vgl. dazu ausführlich Heide Streiter-Buscher: Zur Einführung, in: Theodor Fontane: Unechte Korrespondenzen, hg. v. Heide Streiter-Buscher, 2 Bde., Berlin, New York 1995, Bd. 1, S. 1-66; Dies.: „… und dann wieder jahrelang unechter Korrespondent“. Der Kreuzzeitungskorrespondent Theodor Fontane, in: Fontane Blätter 58 (1994), S. 89-105.

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– als Redakteur zuständig für England, verfasste er die Artikel darüber in Berlin. Im autobiographischen Rückblick bestätigt er, dass es dazu keiner eigenen Anschauung, sondern nur der Lektüre der entsprechenden Zeitungen bedurfte; ‚Wirklichkeit‘ erscheint – ganz konstruktivistisch – als mediales Simulakrum.9 „Es ist damit wie mit den Friderizianischen Anekdoten, die unechten sind gerade so gut wie die echten und mitunter noch ein bißchen besser. Ich bin selbst jahrelang echter und dann wieder jahrelang unechter Korrespondent gewesen und kann aus Erfahrung mitsprechen. Man nimmt seine Weisheit aus der ‚Times‘ oder dem ‚Standard‘ etc., und es bedeutet dabei wenig, ob man den Reproduktionsprozeß in Hampstead-Highgate oder in Steglitz-Friedenau vornimmt.“10

‚Wirklichkeit‘ ist keine Sache der persönlichen Erfahrung und des ‚Augenscheins‘, sondern wird von den Massenmedien erzeugt, und dabei besteht kaum ein Unterschied, ob es sich um eine ‚reale‘ oder um eine ‚fiktive‘ Wirklichkeit handelt. Die Verschleifung dieser Grenze, die Fontane als überaus kreativen Akt und omnipotentes Spiel mit dem Wirklichkeitsmaterial beschreibt,11 war gängige Praxis bei der NPZ, sofern der bei Tageszeitungen sonst übliche ‚Strich‘, der ‚Eigentliches‘ von ‚Uneigentlichem‘, Wichtiges von Unwichtigem und Reales von Fiktivem trennt, noch nicht eingeführt war. Statt auf die Separierung setzte das Blatt bewusst auf die Durchmischung von Feuilleton und Nachrichtenberichterstattung; jenes fungierte nicht als Appendix von dieser, sondern als „deren Fortsetzung, wenn nicht sogar Intensivierung mit anderen Mitteln“.12 Eine besondere Rolle spielte die Literaturkritik, wobei die Belletristik deutlich dem (politischen, historischen oder religiösen) Sachbuch unter9

Lat. simulacrum: Abbild, Nachbildung, Gebilde, Schatten, Gespenst. Während es bei Jean Baudrillard deutlich negative Konnotationen der Täuschung annimmt im Sinne des Trugbildes, des Blendwerks, der Fassade und des Scheins (vgl. Jean Baudrillard: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978, S. 6), liegt bei Fontane die Betonung auf dem konstruktiven Akt der Nachbildung. 10 Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 412. 11 „Ich bilde mir ein, über den Alten Fritzen einen Essay aus dem Stegreif schreiben zu können, und manche [sic!] sollen wirken, als ob ich bei Kunersdorf oder Torgau oder auf der Terrasse von Sanssouci mit dabeigewesen wäre […].“ Fontane an Friedrich Stephany, Brief v. 16.7.1887, in: HFA IV.3: Briefe 1879-1889, hg. v. Otto Drude u.a., München 1980, S. 553. 12 Luise Berg-Ehlers: Theodor Fontane und die Literaturkritik. Zur Rezeption eines Autors in der zeitgenössischen konservativen und liberalen Berliner Tagespresse, Bochum 1990, S. 101.

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geordnet war. Mit einem Anteil von teilweise bis zu 30 % erwies sie sich als kulturpolitisches Instrument, das durch literaturexterne Kriterien literarische „Qualität“ evaluierte. Der Aspekt der Unterhaltung spielt bei dieser kulturpolitischen Positionierung der Zeitung durch Literaturkritik gerade auch in Bezug auf die Sachbücher eine herausragende Rolle. So empfahl Hesekiel Fontanes Buch über den Krieg 1866 mit den Worten: „Das Buch – dessen hervorstechendster Zug übrigens in einem Streben nach Unparteilichkeit zu liegen scheint – wird dadurch zugleich zu einem Unterhaltungs-Buche.“13 Zwar verstand sich Fontane, will man seinen brieflichen Äußerungen glauben, durchaus als ‚wackrer Reactionär‘,14 aber diese ‚Überzeugung‘ war nicht ausschlaggebend für seinen Erfolg in der Kreuzzeitung. Wenn sich „aus dem konservativen Märker, dem Sänger preußischer Balladen und nach 1866 dem Militärschriftsteller“ Fontanes Profil als „vaterländischer Schriftsteller“ herauskristallisierte, so verdankte sich diese Profilierung seiner besonderen Fähigkeit, Kultur- und Militärgeschichte in Unterhaltung zu verwandeln. Sein erklärtes Ziel – zu fesseln und Interesse zu wecken wie eine ‚Räubergeschichte‘ – erreichte er mit den Kriegsbüchern zwar nicht, doch zeigte sich in diesen schon deutlich die Absicht, (Zeit-)Geschichte massenmedial aufzubereiten und hierfür entsprechende Formate zu entwickeln. Diese spezifische Kompetenz, Historie, Kriege, Landschaften usw. jenseits wechselnder politischer Überzeugungen vom ‚Revolutionär‘ zum ‚Reaktionär‘ zum ‚Liberalen‘ in konversationsförmige Unterhaltung zu transformieren, brachte Fontane den Titel des vaterländischen Autors ein. Und er ‚münzte‘ dieses Marktsegment durch immer neue Fortsetzungen seiner Wanderungen wie auch seiner Kriegsberichte mit so großem Erfolg aus, dass er darauf eine Existenz als freier Schriftsteller begründen konnte, der sogar Eingang in die Schulbücher fand.15 Äußerst produktiv verknüpften sich im Kommunikationsraum der NPZ die Konstituenten des publizistischen Mediums mit den Eigenschaften des journalistisch-literarischen Schaffens Fontanes, so dass es nicht verwundert, wenn er noch im Rückblick Von Zwanzig bis Dreißig resümiert, es habe sich für ihn „immer so getroffen, daß ich unter Muckern, Orthodoxen und Pietisten, desgleichen auch unter Adligen von der jun13 NPZ 279, 18.11.1869; vgl. auch NPZ 89, 18.4.1866. 14 Dass dies keine üble Nachrede darstellt, zeigt sich in den Bekenntnissen, mit denen Fontane sich bspw. vor seinem Verleger rechtfertigt: „auch ist das ächte, ideale Kreuzzeitungsthum eine Sache die bei Freund und Feind respektirt werden muß, denn sie ist gleichbedeutend mit allem Guten, Hohen und Wahren.“ Fontane an Wilhelm Hertz, Brief v. 8.12.1861, in: HFA IV.2: Briefe 1860-1878, hg. v. Otto Drude u.a., München 1979, S. 54. 15 Vgl. Berg-Ehlers, Theodor Fontane, S. 114.

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kerlichsten Observanz meine angenehmsten Tage verlebt habe. Jedenfalls keine unangenehmen.“16 Nach der Trennung von der NPZ 1870 konkretisierte sich das Projekt, sich endgültig der Belletristik zuzuwenden und künftig mit einem „kleinen Romanschriftsteller-Laden“17 als freier Autor zu leben. Sein erster Großversuch galt dem Erfolgsgenre des 19. Jahrhunderts, dem historischen Roman. 1866 beschrieb er die Pläne für Vor dem Sturm gegenüber dem Verleger Wilhelm Hertz: „Anregendes, heitres, wenns sein kann geistvolles Geplauder, wie es hierlandes üblich ist, ist die Hauptsache an dem Buch.“18 Und auch wenn er darauf insistierte, „die Arbeit ganz nach mir selbst, nach meiner Neigung und Individualität zu machen“,19 und sich damit auf produktionsästhetische Autonomie berief, so zeigt die Publikationsgeschichte dieses und aller anderen Romane (und Novellen), dass sich Fontane mit seiner Individualität doch ganz gezielt auf den Markt einstellte. Bereits 1875 wusste auch der Verleger der VZ, Karl Robert Lessing, von dem Romanplan und verband sein Interesse an einem Vorabdruck mit dem Angebot, Hausautor bei der VZ zu werden und über die Theaterkritiken hinaus regelmäßig das Feuilleton mit belletristischen Beiträgen zu beliefern.20 Fontane lehnte diesen Vorschlag, vor allem im Hinblick auf seine Produktionskapazitäten, aber auch hinsichtlich der Verpflichtung ab, die seine Freiheit in der Verwertung seiner Texte stark eingeschränkt hätte.21 Wiewohl er die Arbeiten an dem ruhenden Romanprojekt aufgrund des starken Interesses Lessings im Februar 1876 wieder aufnahm, entschied er sich am Ende doch gegen den Vorabdruck in der VZ, wohl vor allem, weil August Klasing von der Familienzeitschrift Daheim mit 1000 Talern das wesentlich lukrativere Angebot machte. Mit diesem kam es zu einer schnellen Einigung über die Veröf-

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Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 517. Fontane an Ludovica Hesekiel, Brief v. 28.5.1878, in: HFA IV.2, S. 572. Fontane an Wilhelm Hertz, Brief v. 17.6.1866, in: HFA IV.2, S. 163. Vgl. Fontane an Wilhelm Hertz, Brief v. 17.6.1866, in: HFA IV.2, S. 163. „Die ‚Vossin‘ wollte dem Beispiel der ‚Kölnischen Zeitung‘, die schon früh Feuilleton-Romane abgedruckt hatte, dem ‚Berliner Tageblatt‘ und der ‚National-Zeitung‘ folgen und ein ständiges Roman-Feuilleton anbieten.“ Wolf Dieter Lützen: Der Textschreiber und seine Medien, in: Udo Ropohl/Krista Tebbe (Hg.), Theodor Fontane – Dichtung und Wirklichkeit, Berlin 1981, S. 189-224, hier: S. 212. 21 Zur Begründung vgl. Fontane an Hermann Kletke, Briefe v. 3.12.1879 und 6.12.1879, in: HFA IV.3, S. 50-54.

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fentlichung, und auch den umfangreichen Kürzungsforderungen des Daheim stimmte Fontane ohne Einschränkungen zu.22 Das seit Oktober 1864 im Verlag von Velhagen & Klasing erscheinende Blatt setzte sich programmatisch vom ‚Liberalismus‘ der Gartenlaube ab. Das Publikum ließ sich den konservativ-protestantischen Kreisen zurechnen, aus denen das Blatt hervorging. Die illustrierte Zeitschrift wurde, wie das überaus homogene übrige Verlagswerk auch, ganz in den „Dienst an Thron und Altar“ gestellt. Ziel war die Förderung und Verbreitung „wahrhaft guter“ Volksliteratur. Neben Familiennovellen und historisch-religiösen Sittenschilderungen spielte die Militärbelletristik eine bedeutende Rolle.23 Die Zeitschrift Daheim kann also gleichsam als belletristisches Pendant zur NPZ gelten, und es verwundert daher nicht, dass man sich schon in der Gründungsphase um Fontane als Mitarbeiter bemühte. 1875 erschien vom Chefredakteur Robert Koenig eine ausführliche Würdigung Fontanes als „Sänger der Mark“ mit Porträt, und 1876 war der Redaktion das Manuskript von Vor dem Sturm so wichtig, „daß Koenig persönlich nach Berlin zu dem Verfasser reiste, um die nötigen Verhandlungen zu führen.“24 Die Zufriedenheit über Stoff, Gesinnung, Tendenz und Darstellung war groß, und so erschien Vor dem Sturm zwischen Januar und September 1878, wenn auch stark gekürzt, in 65 fortlaufenden Kapiteln, sorgfältig gerahmt von Erinnerungen eines preußischen Konservativen an das Jahr 1848 und an die Kreuzzeitung.25 Der Medienstratege Fontane wusste aus eigener Erfahrung, dass der Literaturkritik in den Periodika vor allem die Aufgabe der Werbung zukam, er wusste aber auch, dass dieser Werbung die primäre Rezeption des Publikums vorgeschaltet war, an der Autoren und Verleger nicht vorbeikamen. Da letztere offenbar nicht so enthusiastisch ausfiel, wie Fontane sich das wünschte, bemühte er sich intensiv, die Rezeption seines ‚Debüt-Romans‘ in Buchgestalt so weit als möglich selbst zu organi-

22 „Indeß wir einigten uns zuletzt, indem ich ihm Kürzungen für das Daheim gestattete.“ Theodor Fontane: Tagebücher, Bd. 2: 1866-1882, 1884-1898, hg. v. Gotthard Erler, Berlin o. J., S. 65. Zum Wechsel des Publikationsortes vgl. Fontane an Wilhelm Hertz, Brief v. 24.7.1876, in: HFA IV.2, S. 535. 23 Vgl. Barth, Das Familienblatt, Sp. 240. Das zeigt auch die Empfehlung des Preußischen Kriegsministers von Roon im November 1864, der die Zeitschrift öffentlich als Alternative zur Gartenlaube empfahl. Vgl. ebd., Sp. 250ff. Trotz solcher politischen Parteinahmen, die einen Skandal auslösten, wurde Daheim mit maximalen Auflagenzahlen von ca. 70000 im Herbst 1870 nie zu einer ernsthaften Konkurrenz der Gartenlaube. 24 Berbig, Theodor Fontane, S. 203. 25 Vgl. ebd., S. 204.

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sieren. Da er sich auch nach seinem Ausscheiden bei der NPZ über die persönliche Freundschaft mit deren maßgebender Kritikerin Ludovica Hesekiel noch bis weit in die 1880er Jahre hinein des anhaltenden Wohlwollens des NPZ-Publikums zu versichern wusste, bereitete er hier zielstrebig seinen ersten großen Auftritt vor.26 Im Mai 1878 kündigte er der Freundin brieflich das Buch an und verband das mit dem deutlichen Hinweis auf die heikle finanzielle Situation.27 Seinem Wunsch nach einer wohlwollenden Rezension folgten präzise Anweisungen, wie er den Autor als Person und den Text als Literatur eingeordnet sehen wollte: „Thuen Sie nun was Sie können und seien Sie meines Dankes und meiner Bereitwilligkeit zu kl. liter. Gegendiensten im Voraus versichert. Wenn ich noch einen Wunsch aussprechen darf, so ist es der: nicht zu viel Parallele mit Scott, W. Alexis, Hesekiel. Alle drei müssen natürlich genannt werden, aber es thut einem wohler die unterscheidenden Merkmale hervorgehoben zu sehn, als die Aehnlichkeiten.“28

Schließlich erschien die Rezension, die sämtliche Wünsche Fontanes erfüllte, am 12. Dezember 1878, pünktlich zum Weihnachtsgeschäft, und beglückte den Autor nicht nur hinsichtlich des außerordentlichen Umfangs, sondern auch bezüglich der äußeren Aufmachung: „Extratitel, Druck, Plazierung“ sicherten die besondere Aufmerksamkeit des Publikums.29 Nun sollte man annehmen, dass Fontane zufrieden sein konnte: Mit dem Publikum des Daheim wurde eine ansehnliche Zahl konservativer LeserInnen erreicht, der belletristische Debütant erzielte durch den Vorabdruck ein stattliches Honorar und die Rezensionen in den führenden Tageszeitungen und sogar in der angesehenen Deutschen Rundschau hatten überwiegend einen positiven Tenor. Doch die ablehnenden Publikumsreaktionen, der verschiedentlich geäußerte Unmut über den beträchtlichen Umfang und die darin betriebene Detailmalerei führten offenbar eher dazu, Fontanes Traum vom „Romanschriftsteller-Laden“ in Frage zu stellen. Auch an den Reaktionen der Daheim-Redaktion wurde

26 Vgl. Fontane an Ludovika Hesekiel, Brief v. 6.11.1878, in: HFA IV.2, S. 631; vgl. auch die Briefe an die Brüder Hertz vom 9.10. und 5.11.1878. Ludovica Hesekiel war die Tochter von George Hesekiel, von dem sie nach dessen Ausscheiden die Literaturredaktion der NPZ übernahm und dort auch selbst Fortsetzungsromane veröffentlichte. Vgl. hierzu ausführlich Berg-Ehlers, Theodor Fontane, S. 37 ff. 27 Fontane an Ludovika Hesekiel, Brief v. 28.5.1878, in: HFA IV.2, S. 572. 28 Fontane an Ludovika Hesekiel, Brief v. 6.11.1878, in: HFA IV.2, S. 631. 29 Berg-Ehlers, Theodor Fontane, S. 127.

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deutlich, dass der Text den Gesetzen des Mediums nicht wirklich gerecht wurde. Trotz der Kürzungen erschien er, mit Ausnahme des vierten Bandes, selbst dem Redakteur König zu lang und zu langatmig. Die sekundären Buchkritiken konnten an der Erstlektüre des Publikums im Daheim offenbar nichts mehr ändern – der Roman war durchgefallen und zwar vor allem aufgrund seiner Weitschweifigkeit, die der Forderung des Mediums nach Prägnanz diametral entgegenlief. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen blieb also der Erfolg von Vor dem Sturm mäßig. Fontane reagierte unmittelbar darauf, indem er seine Romanpläne zurück- und seine Produktion auf mediengerechte Novellen und deren Rezeptionsmodi umstellte. Schon in Ellernklipp, über dessen Vorabdruck in Westermann’s Monatshefte er sich im März 1880 mit Gustav Karpeles einigte, folgte er in jeder Hinsicht den Anforderungen der Unterhaltungsblätter: Die weibliche Heldin mit dem Schleier geheimnisvoller Herkunft, das Liebesverhältnis zwischen den Stiefgeschwistern und die Eifersuchtstragödie zwischen Vater und Sohn mit tödlichem Ausgang werden in transparenten erzählerischen Strukturen präsentiert. Zügige Exposition, übersichtliches Personal, schneller Rhythmus, kurze Kapitel und insgesamt deutlich reduzierter Umfang entsprechen ebenfalls dem Format einer Zeitschriftennovelle.30 Zwischen Ende der 1870er und Ende der 1880er Jahre entstehen insgesamt elf ‚Novellen‘, die allesamt vorab in einem äußerst breiten Spektrum von Zeitungen und Zeitschriften – von der Vossischen bis zum Daheim, von Westermann bis zur Gartenlaube, von Nord und Süd bis zur Deutschen Rundschau – erscheinen,31 eine finanzielle Absicherung auf hohem Niveau garantieren und insgesamt den Ruf Fontanes als Erzähler – lange vor Stechlin – begründen.32 Sie sind von vorneherein für die verschiedenen Periodika geplant und orientieren sich in Stoff und Stil am wechselnden Publikum, wobei selbst noch die größere Toleranz der Periodika gegenüber logischen Fehlern und Ungenauigkeiten einkalkuliert wird: „Journal, Blatt, Zeitung ist, wie Sie mehrfach freundlich hervorgehoben, freilich etwas andres wie Buch, aber zum Teil auch zum Guten – es vertut sich in dem stückweisen Erscheinen alles mehr.“33 Den Redaktionen bietet er in der Regel zunächst 30 Vgl. Lützen, Der Textschreiber, S. 213. 31 Zur Spannbreite von Fontanes Beziehungen zu den periodischen Printmedien vgl. ausführlich Berbig, Theodor Fontane. 32 Vgl. Paul Schlenthers Geburtstagsartikel in der VZ 607, 29.12.1889, zit. n. Berg-Ehlers, Theodor Fontane, S. 278f. 33 Fontane an Julius Rodenberg, Brief v. 24.7.1893, in: HFA IV.4: Briefe 1890-1898, hg. v. Otto Drude u. Helmuth Nürnberger, München 1982, S. 270.

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Skizzen an und räumt ihnen bei der Auswahl eine sehr weitgehende Mitsprache ein: „Sie sollen das Aussuchen haben und sich Ihrerseits entscheiden, ob Sie eine Novellette, ein märkisches oder dänisches oder schottisches Kapitel wollen.“34 Angesichts solcher Entscheidungsprozesse, die immerhin Stoffe, Umfang und auch Stil betrafen, muss man jenseits autonomieästhetischer Selbststilisierungen von überaus anregenden Wirkungen durch das Medium ausgehen, führte doch erst dessen Wahl zur Fertigstellung, während das Verschmähte in der Schublade blieb.35 Besonders die gegenüber den Tageszeitungen deutlich höhere ökonomische Potenz der Familienzeitschriften bleibt dem aufmerksamen Marktbeobachter und Literaturverwerter Fontane nicht verborgen. „Unverkennbar ist, daß Fontane in der Reichweite der Publikationsorgane eine für die Durchsetzung seines Namens günstige Nebenwirkung einer vergleichsweise guten Honorierung gesehen hat. Sowohl die Phasen seines Arbeitsprozesses als auch die Themenangebote seiner Werke von ‚Grete Minde‘ bis ‚Quitt‘ lassen den Schluß zu, daß Fontane gerade im Zeitraum von 1879 bis 1891 medien- und adressatenbezogene Gesichtspunkte mit seinen schriftstellerischen Zielen zu verbinden wußte, bzw. letztere in bestimmten Fällen sogar hintanstellte.“36

Und so war es zwar keine dichterische, aber doch eine publizistische Ehre, auch einmal in der prominenten Gartenlaube zu veröffentlichen. Fontane zeigte sich gewillt, hierfür einiges in Kauf zu nehmen: Die zwei Erzählungen, die zu seinen Lebzeiten in dieser Zeitschrift als Vorabdrucke veröffentlicht wurden – 1885 erschien die Kriminalnovelle Unterm Birnbaum, 1890 folgte Quitt –, wiesen erhebliche redaktionelle Überarbeitungen auf, so dass man in der Tat von massiven Eingriffen in die Textgestalt sprechen kann. Doch augenfällig rechtfertigte der Zweck in Fontanes Augen die Mittel vollkommen: „Was die vorzunehmenden Kürzungen und Aenderungen angeht, so wiederhole ich meine ganz ergebenste Bitte, frei schalten zu wollen, ohne mir die Sache noch mal vorzulegen. Von einer nachträglichen, auch nur stillen Klage meinerseits kann gar keine Rede sein; es muß doch schließlich immer was heraus kommen, was, so weit der Urstoff es ermöglicht, 300.000 Abonnenten, oder

34 Fontane an Gustav Karpeles, Brief v. 17.5.1885, in: HFA IV.3, S. 385. 35 Vgl. Lützen, Der Textschreiber, S. 214; vgl. auch Berbig, Theodor Fontane, S. 101; Manfred Windfuhr: Fontanes Erzählkunst unter den Marktbedingungen ihrer Zeit, in: Jörg Thunecke (Hg.), Formen realistischer Erzählkunst, FS Charlotte Jolles, Nottingham 1979, S. 335-346, hier: S. 339. 36 Lützen, Der Textschreiber, S. 216.

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wie viel ihrer sein mögen, ein Genüge thut, und aus der Schüssel, aus der 300.000 Deutsche essen, ess’ ich ruhig mit.“37

Seine weitgehende Kompromissbereitschaft offenbarte sich darin, die Fahnen als „Roman in seiner Urform“ zu bezeichnen und die Zugeständnisse an die Redaktion dreist mit einer grundsätzlichen „Wackligkeit des Urtheils“ zu begründen.38 Und die Rechnung Fontanes ging auf, auch wenn er nie in die erste Reihe der Gartenlaube-AutorInnen gehörte. Wiewohl erst wieder nach dem Tod Fontanes etwas von ihm gedruckt wurde – Mathilde Möhring erschien 1906 aus dem Nachlass –, so blieb ihm das Blatt doch gewogen, das zeigte nicht zuletzt der ausführliche Geburtstagsartikel von Rudolf Gottschall 1890 mit großem Porträt.39 1870 übernahm Fontane das Referat für das Königliche Schauspiel bei der Vossischen Zeitung. Seine zunehmende Distanz und Reserve gegenüber der NPZ im Laufe der 1880er Jahre hatte wohl eher mit deren zunehmenden Ignoranz gegenüber seinen belletristischen Arbeiten zu tun als mit grundlegenden politischen Differenzen.40 Auch stellte die Festlegung auf den ‚vaterländischen Wanderer‘ in der NPZ eine unzumutbare Einschränkung dar. Eine Erweiterung des Publikums schien unverzichtbar, ein Wechsel des Sujets auch. Der Übertritt zur VZ bedeutete deshalb auch keinen Bruch, sondern nur eine Ausdehnung des Wirkungskreises auf das liberale, bildungsbürgerliche Publikum. Mit ihrer liberalen Opposition gegen Bismarcks Innenpolitik und ihrem Kampf für ein konstitutionelles parlamentarisches System, das die Trennung von Staat und Kirche einschloss, bildete die VZ den vollkommenen Gegensatz zur Kreuzzeitung. Sie war nicht nur die traditionsreichste, sondern mit einer ver-

37 Fontane an die Redaktion der Gartenlaube, Brief v. 15.11.1889, in: HFA IV.3, S. 737. 38 Ebd., S. 736f. Auch wenn er diese grundlegende Relativierung im Brief an Georg Friedlaender wiederum korrigiert und die Eingriffe als Verunstaltungen bezeichnet (vgl. Fontane an Georg Friedlaender, Brief v. 11.11.1889, in: HFA IV.3, S. 736), so bekundet sich darin doch nicht primär die Resignation des wackeren Dichters gegenüber den Publikationsbedingungen in den Familienblättern, sondern vor allem ein äußerst geschicktes strategisches Kalkül. 39 Rudolf Gottschall: Theodor Fontane, in: Die Gartenlaube 38 (1890), S. 6-8. Gefeiert wird Fontane als Dichter „von ausgesprochener Eigenart und liebenswürdiger Begabung“, welcher „seine Anhänglichkeit an die heimathliche Scholle treu gewahrt“ habe; gerühmt wird sein „Sinn für die kleinen Einzelzüge, die Fähigkeit zur meisterlichen Kleinmalerei“, seine „Vorliebe für das Kriegswesen und seine Begeisterung für preußischen Kriegsruhm“. 40 Vgl. Berbig, Theodor Fontane, S. 67.

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gleichsweise hohen Auflage von ca. 14000 Exemplaren um 1870, 20000 in den 1880er Jahren auch die erfolgreichste und mit bis zu zehn Beilagen darüber hinaus die umfangreichste aller Berliner Tageszeitungen.41 Mit einem ausführlichen Wirtschafts- und einem stets wachsenden Anzeigenteil reagierten die Herausgeber auf die ökonomischen Interessen des gehobenen Bürgertums, mit einem breiten Feuilleton auf dessen Bedürfnis nach Kultur und Bildung, wobei bemerkenswerterweise auch in der VZ, wie in der Kreuzzeitung, noch keine Trennung der Ressorts vollzogen wurde: Feuilletonistische Artikel wie auch belletristische Vorabdrucke waren über das gesamte Blatt verstreut, so dass das Publikum „diese immer im Kontext anderer Nachrichten und nicht im Bewußtsein einer deutlich ausgewiesenen Ressortzuordnung rezipierte“.42 Durch den Vorrang der Einheitlichkeit vor der Übersichtlichkeit wirkten die belletristischen Beiträge als eine Form der Nachricht und umgekehrt – die Nachrichten wurden als Unterhaltung wahrgenommen, deren Wahrheitsgehalt nicht von Bedeutung war. Dieses Schwanken zwischen Unterhaltung und Nachricht bildete denn auch „das charakteristische Merkmal des Romans in der Zeitung“.43 Fontanes Realismus war hier also gut aufgehoben, und sowohl seine Sujetwahl – die Berliner Gesellschaft – als auch die Wahl seines Genres – die sentimental novel – kamen in der VZ gut an. „So bin ich zum Schilderer der Demimondeschaft geworden, ich hab es durch Intuition, um nicht blasphemisch zu sagen ‚von oben‘. Schließlich ist es aber nicht so wunderbar damit, erstlich hat man doch auch in grauer Vergangenheit in dieser Welt rumgeschnüffelt, und zweitens und hauptsächlichst, alles, was wir wissen, wissen wir überhaupt mehr historisch als aus persönlichem Erlebnis. Der ‚Bericht‘ ist beinah alles, alles ist Akten- oder Buch- oder Zeitungswissen, auch in den intimsten Fragen.“44

Die göttliche Inspiration des Genies im Literatursystem wird drastisch reformuliert: als mediale Anschließbarkeit von Kommunikation. Der Dichter bezieht seine An- bzw. Aufregungen aus dem Mediensystem, nur das Wissen, das in Medien dargeboten wird, garantiert ‚Wirklichkeitsbezug‘ und wird damit zur Voraussetzung ‚realistischer‘ Literatur. Auch im Sujet schließt sich Fontane enger ans Mediensystem an. Ausgeschrieben und buchstäblich ‚ausgemünzt‘ werden nun nicht mehr kriegs- oder kulturgeschichtliche Ereignisse, sondern die Skandale und Skandälchen aus 41 42 43 44

Ebd., S. 74. Berg-Ehlers, Theodor Fontane, S. 163. Bachleitner, Feuilletonroman, S. 20. Fontane an Friedrich Stephany, Brief v. 16.7.1887, in: HFA IV.3, S. 553.

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der besseren Gesellschaft, die die sich konstituierenden Klatschspalten der periodischen Presse zu füllen beginnen. Bereits im Rahmen seiner Tätigkeit für die preußische Regierung in den 1850er Jahren hatte Fontane Kontakt mit der VZ aufgenommen und vereinzelt feuilletonistische Beiträge geliefert, seit 1870 veröffentlichte er neben Theaterkritiken und Rezensionen immer mehr belletristische Arbeiten. Wie bei der Kreuzzeitung bewährte er sich auch auf dieser Stelle als absolut loyaler Mitarbeiter mit einer „Haltung des Sichgeräuschlos-ins-Benehmen-Setzens“.45 Durch seine extrem starke Präsenz als Rezensent und Rezensierter entwickelte sich seine Position schnell zu einer Institution, die sich der Anerkennung des Publikums sicher sein konnte. Dies wusste Fontane zu schätzen: „[D]ie Vossische Zeitung ist ein großes und reiches Blatt, sehr angenehm für seine Mitarbeiter, weil nie nörglig und kleinlich und last not least im Besitz eines Leserkreises, der, wieviel sich sonst auch gegen Zeitungs-Abdruck sagen läßt, für meine Arbeiten, nach Stoff, Anschauung und Behandlung, wie geschaffen ist. Ich werde von jedem meiner Leser verstanden, auch von dem beschränkten und nur halbgebildeten.“46

Fontane selbst widerspricht an dieser Stelle deutlich der Legende vom missverstandenen und verkannten Dichter. Tatsächlich zeugen solche Aussagen von der harmonischen Übereinstimmung nicht nur mit dem ‚gebildeten‘, sondern auch noch mit dem ‚weniger gebildeten‘ Teil des Publikums, wobei der Konsens notwendigerweise eine Koinzidenz von Werten und Normen einschließt, denn Kommunikation ist nur erfolgreich, wenn sie verstanden wird. Um den schwer zu kalkulierenden Adressatenkreis der Zeitungen und Zeitschriften zu bedienen, muss Präsenz durch Unterstellungen ersetzt werden. Der zu kommunizierende Gegenstand soll vielfältig anschließbar sein, ohne zu polarisieren oder auszuschließen. Diese Verpflichtung auf einen gemeinsamen Horizont lässt sich an Fontanes stark schematisierten Rezensionen für die VZ gut ablesen: Auf die Kurzcharakteristik des Autors und des Textes folgen stets eine ausführliche Inhaltsangabe sowie verschiedene wertende Schlussbemerkungen, den Stil und die Erzählweise betreffend. Dabei zeigen sich die Wertungskriterien zwar „den Vorstellungen eines bereits Allgemeingut gewordenen Realismus verpflichtet“,47 doch diese bilden kein normatives Gerüst ästhetischer Evaluierung 45 Lützen, Der Textschreiber, S. 208. 46 Fontane an Hermann Kletke, Brief v. 3.12.1879, in: HFA IV.3, S. 50 (Hervorhebung im Original). 47 Berg-Ehlers, Theodor Fontane, S. 203.

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mehr, wie noch bei den Kritikern der Grenzboten. Deren Kampf gegen die institutionelle Krise räsonierender Kritik und den Verlust kritischer Autonomie durch die massenmediale Produktion und Distribution von Literatur ist bei Fontane längst zugunsten eines plaudernden Feuilletonismus entschieden, der keiner argumentativen Regeln und ästhetischen Normen mehr bedarf, sondern sich ganz auf sein subjektives, intuitives Urteil verlässt. „Der Anspruch, die besprochenen Werke anhand eines festen, systematischen und deshalb angeblich objektiven Apparates zu behandeln, wich einer Neigung des Kritikers, eigne Empfindungen und Reaktionen voranzustellen, ohne irgendwie für sie Allgemeingültigkeit zu behaupten.“48 Der Feuilletonist, der sich mit seinem subjektiven Geschmack an die leicht zu beeindruckende Einbildungskraft seiner LeserInnen richtet, gibt sich als integraler Bestandteil des Publikums zu erkennen. Er stimuliert nicht mehr, wie der Kritiker im Literatursystem, Anschlusskommunikationen über Werke, sondern zeigt sich als Seismograph für Medienwirkungen. Berg-Ehlers hat darauf hingewiesen, dass die Rezensionen Fontanes in der Regel im Bereich des Freundlich-Unverbindlichen bleiben und er sich mithin – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine Feinde zu machen wünscht. Zugleich wird deutlich, dass er an anderen dasjenige lobend hervorhebt, was er als herausragende Eigenschaften seiner eigenen Novellen und Romane gewürdigt sehen will: Neben dem Lob von Detailschilderungen ist es vor allem die Anerkennung einer schlichten Wiedergabe des Alltäglichen, die sich in zahlreichen Rezensionen Fontanes findet. Der kritische Maßstab wird dabei vor allem durch persönliche Beziehungen bestimmt, wie sich an den wohlwollenden Besprechungen von Texten Heyses, Storms oder auch Heinrich Seidels offenbart. Die Grenze Literatur/Unterhaltung zeigt sich dabei als überaus labil und muss beständig revidiert und relativiert werden. ‚Unterhaltung‘ erweist sich bei Fontane, wie bei Prutz, als überaus flexible Kategorie, in die die gesamte zeitgenössische Produktion integriert werden kann.49 Von der seichten und oberflächlichen bis zur spannenden Unterhaltung eher pejorativ gefasst, wird sie in Bezug auf ‚realistische‘ Texte auch zum Kriterium für Innovation, denn: „Man darf, wenn es spannend und unterhaltsam sein soll, nicht schon vorweg wissen, wie der Text zu lesen oder die Geschichte zu verstehen ist. Man will immer neu unterhalten werden.“ (RM 105) Die Vossische Zeitung bietet Fontane zweifellos ein hervorragendes

48 Russell A. Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933, in: Hohendahl, Geschichte der deutschen Literaturkritik, S. 205-274, hier: S. 210. 49 Vgl. auch Berg-Ehlers, Theodor Fontane, S. 201f.

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Forum für diese Auffassung von unterhaltender Literatur. Mit regelmäßigen und häufigen Beiträgen avanciert er zu einer kulturellen Autorität im Wilhelminischen Deutschland. Gemeinsam mit den maßgebenden Kritikern Ludwig Pietsch, Paul Schlenther und Otto Brahm arbeitet er an einer „Art zeitungsinterner Literaturgeschichte“, die „individuelle Präferenzen für ein größeres Publikum generalisiert“.50 Das Strategische dieses Vorgehens lässt sich an der Publikationsgeschichte von Irrungen, Wirrungen gut nachzeichnen. Am 24. Juli begann der Vorabdruck in der VZ, vereinbart war ein Honorar von 400 Talern pro Bogen, das war zu dieser Zeit bereits die untere Grenze für Fontane. Zwar schätzte Fontane die sommerliche Leselust als nicht sehr hoch ein – „Gott, wer liest Novellen bei die [sic] Hitze“ –, doch letztlich setzte er auf „das rasche Aufeinanderfolgen der Kapitel“ und verließ sich im übrigen auf das „beßre Publikum der Vossin“, das „so recht in der Lage ist, den berlinschen ‚flavour‘ herauszuschmecken“.51 Ärger gab es zunächst auf der Ebene der Setzerkorrekturen, die den Text durch schlampige Orthographie und großzügige Zeichensetzung entstellten. Folgenreicher war, dass die kalkulierte Dialektverwendung an die Schriftsprache angeglichen wurde. Zu einer gravierenden Sinnentstellung kam es, als der für die Geschichte höchst bedeutsame Rechtschreibfehler im Brief Lenes vom Setzer korrigiert wurde. Dagegen verwahrte sich Fontane erfolgreich. Bereits am 1. August 1887 stellte er befriedigt die vollkommene „Wandlung der Dinge“ fest: „Die Fahnen erscheinen jetzt, als ob sie zum Kaiser ins Palais sollten.“52 Der Vorabdruck wurde am 23. August 1887 ohne weitere Zwischenfälle abgeschlossen. Nach öffentlichen Angriffen auch aus Reihen der VZ wegen der „gräßliche[n] Hurengeschichte“ sieht sich Fontane veranlasst, gemeinsam mit den Freunden und Kollegen die Rezeption entsprechend nachzubereiten. Neben Schlenther und Pietsch stellt sich der Chefredakteur Stephany ausdrücklich hinter seinen Autor, und auch die übrige Literaturkritik reagiert überwiegend positiv: „Alles in allem habe ich Ursach’, diesmal mit der Kritik zufrieden zu sein; an die feindlichen Blätter muß man gar keine Exemplare einsenden.“53 Am 10. Februar 1888 bestellt er bei Pietsch eine Rezension mit der ausdrücklichen Bitte, mögliche moralische Missverständnisse auszuräumen,54 und die Rezension des mit der Ausführung beauftragten Schlenther könnte „liebenswürdiger“ nicht

50 51 52 53 54

Ebd., S. 207. Vgl. Fontane an Emil Dominik, Brief v. 14.7.1887, in: HFA IV.3, S. 551. Fontane an Friedrich Stephany, Brief v. 1.8.1887, in: HFA IV.3, S. 556. Fontane, Eintrag 8.7.-15.7.1888, in: Tagebücher, Bd. 2, S. 245. Vgl. Fontane an Ludwig Pietsch, Brief v. 10.2.1888, in: HFA IV.3, S. 584.

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sein.55 Dessen Würdigung des Romans als realistisches, moralisch integres und zugleich modernes Kunstwerk basiert nämlich auf dem Interpretament, das Fontane selbst vorgegeben hat: „‚Die Sitte gilt und muß gelten‘, aber daß sie’s muß, ist mitunter hart. Und weil es so ist, wie es ist, ist es am besten, man bleibt davon und rührt nicht dran.“56 Das Individuum, das frei ist, dagegen zu verstoßen, muss allemal die „natürlichen“ Konsequenzen tragen und dem Glück entsagen; dass es entsagen kann, darin liegt wiederum seine schlichte Größe, die den Ansatz für die realistische Verklärung gibt.57 Wie in der Kreuzzeitung so herrschte also auch in diesem Organ ein optimales kommunikatives Netzwerk, das zur maximalen Ausnutzung aller medialen Möglichkeiten der Vossischen Zeitung beitrug. Die verbreitete Annahme, dass Fontane mit seinen belletristischen Beiträgen beim Publikum der VZ gescheitert sei, erscheint deshalb mehr als zweifelhaft. Dass neben Schach von Wuthenow und Irrungen, Wirrungen keine weiteren Erzähltexte von ihm veröffentlicht wurden, hatte vermutlich ganz andere Ursachen, etwa die, dass der Feuilletonroman in Deutschland auch in den 1880er Jahren noch nicht wirklich etabliert war und die Familienund Rundschauzeitschriften nicht nur bessere Honorarbedingungen, sondern auch ein vorab auf Belletristik eingestelltes Publikum aufzuweisen hatten, weshalb er schon Vor dem Sturm lieber im Daheim veröffentlichte. Jedenfalls wird an den wenigen Beispielen deutlich, wie weit Fontanes gesamtes Verhalten gegenüber Autoren, Verlegern, Zeitungs- und Zeitschriftenredakteuren jeglichen Zuschnitts in einem „aufwendigen und nicht selten virtuosen Ausbalancieren“ von Interessen und Beziehungen bestand.58 Dass er angesichts einer sich rapide ausdifferenzieren-

55 „Lob zu hören, ist freilich immer angenehm […], aber für einen leidlich verständigen Menschen fällt doch die Qualität mehr ins Gewicht als die Quantität und das oft persiflierte Verlangen der Frauenherzen ‚sich verstanden zu sehn‘, – für den Schriftsteller hängt an der Erfüllung dieses Wunsches sein höchstes Glück.“ Fontane an Friedrich Stephany, Brief v. 1.4.1888, in: HFA IV.3, S. 594f. Schlenther hatte bereits eine äußerst positive Besprechung von Cécile in der VZ veröffentlicht. Vgl. Fontane an Paul Schlenther, Brief v. 2.6.1887, in: HFA IV.3, S. 539. 56 Fontane an Friedrich Stephany, Brief v. 16.7.1887, in: HFA IV.3, S. 553. 57 Zu einer Interpretation von Irrungen, Wirrungen vgl. Kap. VI.2. 58 Berbig, Theodor Fontane, S. 103. So waren neben Paul Lindaus Nord und Süd auch Westermann’s Monatshefte bedeutsam beim Rollenwechsel vom kulturgeschichtlichen Wanderer zum realistischen Erzähler: „Ihnen und L. [Lindau, M.G.] kann ich es nie vergessen, daß Sie mir’s leicht gemacht haben, mich noch in meinen alten Tagen in der Novellistik zu etablieren! Solche Neuetablierung ist, wie Sie wissen, immer schwer; das Publikum

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den Medienlandschaft von Tagespresse auf der einen, Familien-, Rundschau-, Roman- und Novellenzeitschriften auf der anderen Seite keine ein für allemal gültige und verlässliche Strategie entwickeln konnte, sondern immer auch mit Irrtümern, Fehlern und Missverständnissen gerechnet werden musste, verwundert daher nicht, vielmehr, wie umfassend Fontane unter diesen Bedingungen im Mediensystem reüssierte. Während der Buchabsatz in den 1870er und 80er Jahren gering blieb, garantierten die finanziellen und publizistischen Erfolge in den periodischen Printmedien die Existenz des Autors Fontane. Dennoch trachtete er unermüdlich nach seiner „Dichterbeweisführung vor anderen“.59 Doch diese Bemühungen wurden durch die Tatsache begrenzt, dass die öffentlichkeitswirksame Evaluierung nicht im Feuilleton der VZ, sondern in der von Julius Rodenberg 1874 gegründeten Deutschen Rundschau stattfand, einem Blatt, das mit der Gründung des Deutschen Reiches endlich auch die Voraussetzungen einer neuen deutschen Klassik gegeben sah und das nicht weniger als das „repräsentative Organ“ für all dasjenige zu sein beanspruchte, „was der deutsche Geist überhaupt ist und vermag“.60 Wiederum ging es um einen Distinktionsversuch, sofern in diesem ‚Nationaljournal‘ die ‚Gebildeten‘ vom Rest des Zeitschriftenpublikums geschieden, mithin gegen den Entdifferenzierungsprozess eine alte/neue Differenz in Stellung gebracht werden sollte: „Nicht eine Fortsetzung des ‚Salon‘ […], etwas Höheres sollte die neue Zeitschrift werden.“61 Gleichwohl sorgte die Auswahl belletristischer Texte für die umfassende Befriedigung von Unterhaltungsbedürfnissen. Durch die Integration von Wissenschaft, Literaturkritik und Literaturverbreitung, die im Nachmärz tendenziell getrennt wurden, gelang es der Rundschau innerhalb kürzester Zeit, allgemeine Anerkennung zu erringen. In den Kritiken lobte man das, was man in den anderen Spalten an Belletristik abdruckte. Dieses Vorgehen war ausgesprochen effizient und überzeugte das bildungsbürgerliche Publikum sehr schnell davon, dass hier tatsächlich die ‚Elite‘ der deutschsprachigen Literatur unter sich sei. „Rodenbergs Rundschau war das gelobte Land der Novellen- und Romanautoren, war Parnaß und gewissermaßen Endstation, so etwas wie Seligsprechung bei lebendigem

nagelt einen fest […].“ Fontane an Gustav Karpeles, Brief v. 17.5.1885, in: HFA IV.3, S. 385 (Hervorhebung im Original). 59 Fontane an Wilhelm Hertz, Brief v. 15.4.1887, in: HFA IV.3, S. 535. 60 Gründungsprospekt der Deutschen Rundschau [1874], zit. n. Julius Rodenberg: Die Begründung der „Deutschen Rundschau“. Ein Rückblick, Berlin 1899, S. 29-31, hier: S. 29. 61 Rodenberg, Die Begründung, S. 5.

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Leibe.“62 Indem Rodenberg erfolgreich Code und Programm der LITERATUR im System der Massenmedien kopierte, partizipierte sein Blatt wie kein anderes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an deren Aura. Durch die gezielte Abstimmung von expliziten und impliziten Wertungshandlungen wie Werbung und Betreuung von AutorInnen, Anforderung von Texten, Präsentationsweise in der Zeitschrift sowie die literaturkritische Beurteilung in Rezensionen und Porträts – als deren Antipode wiederum der Dilettantismus jeglicher Art fungierte –, schuf die Deutsche Rundschau eine differenzierte Hierarchie der zeitgenössischen Literatur, die der Struktur eines literarischen Kanons ähnelte.63 Angeführt wurde diese ‚deutsche‘ Elite uneingeschränkt von den beiden Schweizern Keller und Meyer, denen mehrere ausführliche biographische Aufsätze und Nachlassbesprechungen gewidmet wurden, die deren kanonischen Status fixierten. Durch Autorenporträts geehrt wurden darüber hinaus Storm und Heyse, Geibel und Ebner-Eschenbach. Auf der dritten Stufe der Auszeichnung standen die Geburtstagsartikel, die neben anderen Raabe, Spielhagen und Fontane bedachten. Fontane spielte also, wie auch Raabe, in der Einschätzung Rodenbergs keine herausragende Rolle in der zeitgenössischen Literatur. Bei der Einladung der „ersten Männer“ zur Mitarbeit an der neuen Revue stand er nicht auf der Liste, und auch später gehörte er nur zum weiteren Umkreis, festgelegt auf „Brandenburgensia“.64 So sehr er sich auch bemühte, an der Aura der Rundschau zu partizipieren – er schaffte es bis zum Lebensende nicht, in den Genuss von Rodenbergs Wertschätzung zu gelangen. Auch die Praxis, die belletristischen Beiträge im Vorabdruck auf ihren möglichen Bucherfolg zu testen, um sie in die Produktion des Hausverlages der Gebrüder Paetel zu übernehmen, griff bei Fontane nicht, keines seiner Bücher wurde bei Paetel verlegt. Denn bei Rodenberg hielten sich bis zu Fontanes Tod hartnäckig die von Anfang an gehegten Vorbehalte: So sehr er den Autor der Wanderungen schätzte, so

62 Lützen, Der Textschreiber, S. 222; zur Rolle der Deutschen Rundschau bei der Kanonisierung des Realismus vgl. Wilmont Haacke: Julius Rodenberg und die Deutsche Rundschau. Eine Studie zur Publizistik des deutschen Liberalismus (1870-1918), Heidelberg 1950, S. 95f. 63 Vgl. Butzer/Günter/Heydebrand, Strategien zur Kanonisierung, S. 60. Eine wichtige Rolle spielte hierbei die Zusammenarbeit mit dem Universitätsgermanisten Wilhelm Scherer, der in der Zeitschrift neben Rezensionen auch Teile seiner Goethe-Studien veröffentlichte. Vgl. Haacke, Julius Rodenberg, S. 53. 64 Vgl. Lützen, Der Textschreiber, S. 209.

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wenig behagte ihm der Novellist.65 Fontane blieb der devote Bittsteller, der letztlich vergeblich um seine Würdigung als „Dichter ersten Ranges“ kämpfte. Nach der Ablehnung von Ellernklipp 1880 konnte Fontane in der Rundschau zwar, wenn auch zu unterdurchschnittlichem Honorar, in den folgenden Jahren die ‚Frauenromane‘ Unwiederbringlich, Frau Jenny Treibel sowie Effi Briest unterbringen, so dass er noch 1895 betonte, „welche Befriedigung, ja geradezu welches Glück es mir bereitet hat, in meinen alten Tagen in Ihrer ‚Rundschau‘ seßhaft geworden zu sein“,66 doch angesichts der erheblichen Kürzungswünsche bei den autobiographischen Schriften der Kinderjahre und Von Zwanzig bis Dreißig kam es schließlich zum Bruch: Ausgerechnet der Detailrealismus, für den Fontane sich selbst am meisten rühmte,67 fand bei Rodenberg keine Resonanz. Und so war es zwar eine persönliche Genugtuung und ein großer finanzieller Erfolg, als er für den Vorabdruck des Stechlin in Über Land und Meer „mehr als das doppelte Rundschau-Honorar [erhielt] und damit einmal so viel Honorar wie der im Umgang mit Verlegern recht gewiefte Storm es lange Zeit erhalten hat“,68 doch der Triumph der höheren Rundschau-Weihen blieb ihm versagt. Diese Differenzen sind um so erstaunlicher, als ja beider Erfolg, derjenige Fontanes wie derjenige Rodenbergs, letztlich nicht auf der „Dichterbeweisführung“ oder auf der Durchsetzung eines Kanons beruhte, sondern auf der Tatsache, dass sie mit dem Genre des ‚Frauenromans‘ zunächst und vor allem das Interesse der Leserinnen an Frauenschicksalen erfolgreich bedienten. Problematisch war eher, dass Fontane auf diesem Feld große Konkurrenz hatte: nicht nur in Marie von Ebner-Eschenbach,

65 Seinem Tagebuch vertraute Rodenberg schon 1878 an: „An Fontanes ‚Vor dem Sturm‘ würge ich nun schon bald acht Wochen; es ist nicht zu sagen, was das für ein albernes Buch ist. […] Es ist so unglaublich dumm und albern, daß es mir aus diesem Grunde eine Art von negativem Vergnügen macht […].“ Dagegen heißt es in seiner Rezension des Romans: „der Gesamteindruck des Buches ist ein wohltuender.“ Auch Rodenberg taktierte also seinen Autoren gegenüber. Theodor Fontane: Briefe an Julius Rodenberg. Eine Dokumentation, hg. v. Hans-Heinrich Reuter, Berlin, Weimar 1969, S. 175, 120. 66 Fontane an Julius Rodenberg, Brief v. 1.3.1895, in: HFA IV.4, S. 429. 67 „[…] die Weitschweifigkeit aber, die ich übe, hängt doch durchaus auch mit meinen literarischen Vorzügen zusammen. Ich behandle das Kleine mit derselben Liebe wie das Große, weil ich den Unterschied zwischen klein und groß nicht recht gelten lasse […].“ Fontane an Emilie Fontane, Brief v. 8.8.1883, in: HFA IV.3, S. 278. 68 Lützen, Der Textschreiber, S. 224.

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die von Rodenberg praktisch ‚entdeckt‘ wurde,69 oder in Wilhelmine von Hillern, die der Deutschen Rundschau mit ihrem Erfolgsroman GeierWally einen enormen Popularitätsschub bescherte, sondern auch in der heute völlig vergessenen deutsch-tschechischen Autorin Ossip Schubin,70 die regelmäßig und an prominenter Stelle die Spalten der Rundschau mit ihren Salon- und Gesellschaftsromanen füllte. Seine Texte in diesem Umfeld erfolgreich zu platzieren, war besonders schwer, und so fragte er bezüglich des Vorabdrucks von Unwiederbringlich bei Rodenberg ergeben nach: „bin ich – etwa wie wenn ich Gottfried Keller oder Ossip Schubin wäre – der Annahme meines Romans unter allen Umständen sicher […]?“71 Im Zentrum der Novellen und Romane der 1880er Jahre von L’Adultera bis Effi Briest stehen erotische Verwirrungen in der besseren Gesellschaft und die damit verbundenen Leidensgeschichten: voreheliche, illegitime, unstandesgemäße, außereheliche Verhältnisse. Meistens brechen sich die Liebeskonstellationen an der Institution Ehe, wobei es in der Regel Opfer gibt: Stine, Effi, Schach, Petöfy, Cécile scheitern mit geradezu fatalistischer Konsequenz, weil sie die Ordnung der Dinge verletzen. Damit bringt Fontane zwei Momente in ein – immer wieder neu arrangiertes – Schema: Das skandalöse Ereignis (häufig der Tagespresse entnommen) als Garant für Sensation, das er für seinen Erfolg in den Periodika braucht, wird eingeführt und die Lust nach der Überschreitung der Ordnung beim Publikum befriedigt. Zugleich aber reduziert er das Potential des Skandalons durch verschiedene textuelle Strategien und konfrontiert es mit der Macht der gesellschaftlichen Ordnung auf eine Weise, dass er sich von allen Unsittlichkeitsvorwürfen getrost abgrenzen kann. „[D]ie möglicherweise irritierende, wenn nicht abstoßende Handlung ist ‚unter sorgfältiger Beobachtung des keuschen Ausdrucks‘ so gestaltet, daß der Leser keine Entrüstung zu verspüren braucht.“72 Damit erweist sich Fontane als weitblickender, als die Zeitungen und Zeitschriften es zu diesem Zeitpunkt sind: Er erfüllt das Bedürfnis nach dem Uner69 Vgl. hierzu Manuela Günter: „Dank und Dank: – ich wiederhole mich immer, nicht wahr?“ Zum Briefwechsel zwischen Marie von EbnerEschenbach und Julius Rodenberg, in: Rainer Baasner (Hg.), Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 55-71. 70 Pseudonym für Aloisia Kirschner (1854-1934). Sie verfasste eine Vielzahl zum Teil sehr erfolgreicher Romane, u.a. für die Deutsche Rundschau und Über Land und Meer, und war mithin Kollegin Fontanes, der sie auch in Rezensionen verschiedentlich würdigte. 71 Fontane an Julius Rodenberg, Brief v. 7.6.1889, in: HFA IV.3, S. 695. 72 Berg-Ehlers, Theodor Fontane, S. 264; vgl. auch Fontane an Martha Fontane, Brief v. 5.5.1883, in: HFA IV.3, S. 242f.

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hörten (und Ungehörigen) und reduziert dieses zugleich auf das Maß, das das mediale Umfeld gerade noch zu integrieren vermag. Fontane spielt mit dem Tabubruch, um ihn mittels realistischer Verklärung desto nachhaltiger in die Ordnung zurückzuholen. Das ‚Hässliche‘, dessen er sich annimmt, ist kein sterbender Proletarier, sondern es sind gesellschaftliche Übertretungen, die in den Texten entsprechend geahndet werden. Verklärung bei Fontane heißt Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung, denn die Tabus verletzenden Charaktere werden dadurch ‚schön‘, dass sie sich am Ende dieser Logik opfern, oder anders gesagt: die „natürlichen Konsequenzen“ aus ihrer Übertretung ziehen. Realistische Poetik setzt also bei den Gesetzen der Massenmedien selbst an, bei der Programmierung auf Nachricht/Neuheit ebenso wie bei deren Funktion, die nach Luhmann im Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems liegt. Besonders geeignet hierfür erscheinen Nachrichten von Konflikten aller Art, da diese aus sich heraus Ungewissheit und Spannung erzeugen, die im weiteren Verlauf aufgelöst, d.h. an die neue Geschichten angeschlossen werden können. Die periodischen Printmedien machen deshalb Verklärung nicht „hoch unwahrscheinlich“,73 sondern qualifizieren sich dafür durch die Normverstöße aller Art: „Letztlich produzieren Verstöße erst die Norm, sie bestätigen die geltende Moral ständig aufs Neue. Die Präferenz der Massenmedien für moralische Wertungen zeigt, daß Moral ständig angemahnt und reproduziert werden muß.“74 Was in der Forschung häufig als Fontanes ‚Gesellschaftskritik‘ bezeichnet wird, erscheint in dieser Perspektive als Funktion von Massenmedien selbst, die ja nicht unbedingt im Verdacht stehen, gesellschaftskritisch zu agieren. Vielmehr ist die Erzeugung und Bearbeitung von Irritation strukturelle Voraussetzung für die Produktion der Eigenwerte der Gesellschaft. Letztere funktioniert nur als Kommunikation, deren Gelingen doch immer unwahrscheinlich bleibt. Die Verbreitungsmedien dienen dazu, die Wahrscheinlichkeit anonymer Kommunikation zu erhöhen. „Einerseits saugen Massenmedien Kommunikation an, andererseits stimulieren sie weiterlaufende Kommunikation.“ (RM 176) Probates Mittel, die Voraussetzung für gelingende Anschlusskommunikationen zu schaffen, ist die Simulation von Interaktion. In dieser koinzidieren Konversation, Unterhaltung und periodische Printmedien. Zugleich regen die Massenmedien zu Anschlusskommunikationen an und auf, wie Fontane in einem weitsichtigen Gelegenheitsgedicht rühmt:

73 Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 33. 74 Bachleitner, Feuilletonroman, S. 16.

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„Wie mein Auge nach dir späht, / Morgens früh und abends spät, / Die besten Plätze sind alle leer, / Was noch lebt, gefällt mir nicht mehr. / Aber wie sie mogeln und sich betören, / Davon mag ich noch gerne hören. / Wie sie sich zanken und sich verhetzen, / Ist mir gar nicht zu ersetzen, / […] Will mir, wenn sie ganz arg es treiben, / Vor Vergnügen die Hände reiben, / Und will aus dem Leitartikel erfahren / Die Gedanken des Sultans oder des Zaren. / Vielleicht entbehrt es des rechten Lichts, / Aber enfin; das schadet nichts, / Im ganzen ist es doch immer noch besser, / Als ein Weisheitsschnitt mit eignem Messer, / Und nichts kann mich so tief empören, / Als auf Zeitungsschreiber schimpfen zu hören. / Da stehn sie mit hochgetragnen Nasen: / ‚Aus deiner Zeitung – das sind ja Blasen, / Die Kerle, die’s schreiben, halb Füchse, halb Hasen. / Und was sie schreiben, sind elende Phrasen.‘ / Aber nehmt uns die Phrasen auch nur auf drei Wochen, / So wird der reine Unsinn gesprochen, / Und du – du suchst wohl krampfhaft zu lachen – / Du würdest keine Ausnahme machen.“75

Zeitungen und Zeitschriften sorgen für die Zirkulation von Kommunikation, ohne die die Gesellschaft nicht funktionieren würde. Sie vermitteln kein Wissen, sondern sie stellen die Voraussetzung für weitere Kommunikationen bereit und erzeugen so jenen ‚Sinn‘, der für den Fortbestand der Gesellschaft unabdingbar ist. In dieses System sind alle eingeschlossen, und die elitäre Abgrenzung davon erweist sich als unmöglich. Dem sich hingebenden Beobachter jedoch eröffnen die Journale ungeahnte Vergnügungen und vor allem Stoff für immer neue Geschichten. Als Vorbild für dieses Ideal literarischen Infotainments erscheint bei Fontane der Leitartikel der Times, der als graziöse Arabeske und geistreiche Illustration kokett und fesselnd zugleich sei. Es gehe diesem nicht darum, zu überzeugen, sondern elegant zu blenden. Er folge dem Prinzip des Haec fabula docet und beginne stets mit einer Geschichte, „deren Erzählung oft die Hälfte des ganzen Artikels ausmacht. Der Inhalt dieser Geschichte ist so mannigfach, wie Geschichten nur sein können: Historie, Fabel, Märchen, Anekdote, alles ist willkommen, alles ist gleichberechtigt, nur pikant muß der Bissen sein und jenen Gerichten zugehörig, die […] doch vor allem den Appetit reizen und begierig machen auf das, was kommt.“76 Dem gelungenen Leitartikel lassen sich also sämtliche ‚Zutaten‘ für eine geglückte Konversation wie auch für eine gute Novelle entnehmen. Ein beliebiger Erzählanlass wird so spannend ausgeschmückt, dass er die Begierde der LeserInnen auf das Kommende reizt. Die erzählten Begebenheiten stehen gleichberechtigt nebeneinander und

75 Theodor Fontane: Zeitung, in: HFA I.6: Romane, Erzählungen, Gedichte, hg. v. Walter Keitel, München 1964, S. 333f. 76 Theodor Fontane: Politik und Geschichte, in: Sämtliche Werke, Bd. XIX, hg. v. Charlotte Jolles, München 1969, S. 243.

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haben nur den einen Zweck, Langeweile zu verhindern und Aufmerksamkeit zu fesseln. Die Speisemetaphorik unterstreicht, dass es bei der Lektüre tatsächlich um sinnlichen Genuss geht. Das „liebenswürdige Plaudertalent“, das frivol und scherzhaft über Nichtigkeiten ebenso wie über wichtige Dinge zu parlieren vermag, ist freilich, dies hat Fontane offenbar übersehen, aufgrund seines Mangels an Ernst und Distinktionsfähigkeit traditionell weiblich codiert. Wenn Bedeutendes von Unbedeutendem und Gutes von Schlechtem nicht mehr zu unterscheiden ist und an die Stelle einer rationalen Erkenntnis eine körperliche Erfahrung des Spürens tritt, die keinen Sinn für Hierarchien hat, dann sind alle Eigenschaften vereint, die im zeitgenössischen Diskurs mit dem Attribut ‚unmännlich‘ belegt sind und die aus der Mesalliance mit den periodischen Printmedien entspringen. Doch Fontanes spezifischer Stil nimmt exakt diese Struktur der Konversation auf und schließt damit strukturell an die Funktion der Massenmedien an, immer neue Anschlusskommunikationen zu generieren. Dabei muss nicht betont werden, dass Mündlichkeit auch bei ihm Schriftlichkeit voraussetzt. Die Konversation als das herausragende Stilmittel Fontanes simuliert innerhalb der schriftlichen anonymen Massenmedien persönliche, mündliche Interaktion. Wie die Massenmedien Kommunikation ansaugen und zugleich weiterlaufende Kommunikation zu stimulieren vermögen, so kopiert die Konversation diese Struktur als Interaktion. Bereits die Wanderungen zeugen von spielerischer Leichtigkeit, vom Prinzip des zufälligen Anlasses und der gleichberechtigten Kleinigkeiten, die für die Konversation typisch sind. In Irrungen, Wirrungen hat Fontane die Strukturhomologie von anonymer Kommunikation und interaktiver Konversation präzisiert, indem er eine gesellschaftliche Abendunterhaltung als Rollenspiel inszeniert. Deutlich wird dabei, dass alles mit allem verknüpfbar ist und der Gegenstand gar nicht abseitig genug sein kann, um nicht über ihn eine Konversation zu beginnen, denn „eigentlich ist es ganz gleich, wovon man spricht. […] Über jedes kann man ja was sagen, und ob’s einem gefällt oder nicht. Und ‚ja‘ ist geradesoviel wie ‚nein‘.“77 Die Gleichgültigkeit des Sujets wie auch diejenige der subjektiven Haltung dazu und letztlich die Indifferenz gegenüber Wahrheit vereint die Konversation mit der anonymen Kommunikation der Zeitungen und Zeitschriften. In beiden Fällen können Nichtigkeiten „ganze Geschichten“ enthalten,78 in beiden

77 Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen, in: HFA I.2: Romane, Erzählungen, Gedichte, hg. v. Walter Keitel, München 1962, S. 319-475, hier: S. 338. 78 Ebd., S. 339.

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Fällen hat dies die „Reproduktion von Intransparenz durch Transparenz“ (RM 183) zur Folge. Ziel der Rede ist nicht Verständigung, sondern die Fortsetzung von Kommunikation, wozu die Unterstellung von Verstehen im Sinne eines „Missverstehens ohne Verstehen des Miss“ völlig ausreicht. (RM 173) Konversation wird bei Fontane als „Sprache der Verstellung“79 vorgeführt, über die sich die Oberschicht nach innen und außen abgrenzt. Die symmetrische Interaktion, bei der für alle sozial Gleichgestellten gleiche Regeln gelten, garantierte in stratifikatorischen Gesellschaften die Stabilität der sozialen Position.80 Mit der funktionalen Differenzierung wird diese Kunst der Interaktion zum Selbstzweck – die „Damen“ der adligen Herren um Botho von Rienäcker beherrschen das Spiel, ohne doch durch ihre Masken oder ihre „Sprechfähigkeit“ ihre soziale Herkunft verbergen zu können.81 Die Grundregel besteht darin, die Resultate der nach formalen Kriterien hervorgebrachten Rede nur ja nicht wörtlich zu nehmen, sondern deren Unbestimmtheit und Ambivalenz anzuerkennen, die die Anschlussfähigkeit erst ermöglichen. „Nicht das gerade verhandelte Thema der Konversation ist von Bedeutung. Es dient nur als Anlaß und Reizstoff, an dem sich die Sprachartistik der Teilnehmer erproben und sich in Form von Doppeldeutigkeiten, Ironie und Witz entfalten kann.“82 Der Beweis der eigenen Geistesgegenwart wird vornehmlich durch literarische Zitate, Sprichwörter und Redensarten erbracht, sie setzen die Konversation in Gang. Darüber hinaus fungieren sie als Katalysatoren bei der Fortsetzung der Unterhaltung, indem sie komplexe Situationen so reduzieren, dass die Beteiligten sich schnell über das Wesentliche verständigen. In Irrungen, Wirrungen sind das neben Knallbonbonsprüchen und Gemeinplätzen Anspielungen auf populäre Literatur, vor allem auf Märchen und den sentimentalen Roman.83 Auch bei diesen Allusionen geht es um die pathische Funktion im Sinne einer Aufrechterhaltung von Kommunikation wie auch um die allseitige Anknüpfbarkeit. Fontane 79 Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992. 80 Vgl. Niklas Luhmann: Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/M. 1989, S. 72-161. 81 Fontane, Irrungen, Wirrungen, S. 396f. 82 Sabine Boscheinen: Unendliches Sprechen. Zum Verhältnis von ‚conversation‘ und ‚écriture‘ in Marcel Prousts „A la Recherche du temps perdu“, Tübingen 1997, S. 127. 83 Vgl. hierzu Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 132ff.

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popularisiert also die esoterische und elitäre Konversation der höheren Kreise und speist sie als Unterhaltung in die Unterhaltung ein. In der Selbstzweckhaftigkeit der einen spiegelt sich so die Selbstzweckhaftigkeit der anderen. Sichtbar wird in diesem Prozess, dass Konversation immer schon die mit mündlicher Interaktion verbundene Authentizität verfehlt. Sie erweist sich insofern als sekundär, als das déjà dit immer auch ein déjà écrit ist. Originalität im autonomen Sinn wird vor dem Hintergrund, dass alles immer schon gesagt/geschrieben ist, zum aussichtslosen Unterfangen. Allerdings bietet diese Tatsache wiederum die Möglichkeit, die eigene Schrift immer weiter ironisch zu vertexten und die eigenen Texte selbstironisch zu zitieren. „Das Populäre verbindet sich mit einem Kommunikationsmodus der erhöhten Zitierbarkeit, da populäre Semantiken weniger stark kontextgebunden sind als ‚ernsthafte‘ Semantiken.“84 Deshalb kann die Inflationierung des literarischen Zitats und des Gemeinplatzes bei Fontane nicht einfach als erhöhte Selbstreflexivität, die der Ausstellung des Kunstcharakters dient, interpretiert werden. Letzterer erscheint vielmehr als sekundärer Effekt einer präzise kalkulierten Vermeidung von Kommunikationsrisiken. Das Spiel mit dem schon Gesagten/ Geschriebenen zielt darauf, „von allen Lesern“ verstanden zu werden. Dass von den „tausend Finessen“85 jeweils verschiedene und verschieden viele von den LeserInnen aktualisiert werden, versteht sich von selbst. Sie dienen aber gerade nicht dem Ausschluss und der Beschränkung auf ein gebildetes (mithin nicht weibliches) Publikum, sondern der universalen Inklusion, die Unterhaltung als Programmbereich der Massenmedien grundsätzlich zu leisten hat. In dem 1891 anonym im Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes veröffentlichten Aufsatz Die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller86 verhandelt Fontane die Frage der gesellschaftlichen Anerkennung der Literatur als Kunst. Deren Missachtung und Marginalisierung durch die Zeitgenossen wiesen zurück auf die Zerrüttung des emphatischen Literaturbegriffs, der offenbar für die Gesellschaft keine Funktion mehr erfülle. Der mangelnde Respekt vor der Literatur, der ihrer Existenzweise in den Massenmedien geschuldet sei, falle auf die Autoren zurück, die dementsprechend „am richtigsten als ‚Niemand‘, als

84 Urs Stäheli: Die Wiederholbarkeit des Populären: Archivierung und das Populäre, in: Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hg.), Archivprozesse: Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 73-83, hier: S. 74. 85 Fontane an Emil Dominik, Brief v. 14.7.1887, in: HFA IV.3, S. 551. 86 Theodor Fontane: Die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller, in: Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes 60 (1891), S. 52.

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‚Nobody‘, als ‚Nemo‘“ zeichneten.87 Trotz oder wegen dieser luziden Einsicht einer medialen Verflüchtigung des Autornamens trachtete Fontane nach seiner „Dichterbeweisführung vor anderen“, von der er selbst zwar längst überzeugt war, die aber in der Öffentlichkeit offenbar nicht plausibel kommuniziert wurde. Wenn Fontane von einer „40jährige[n] vergebliche[n] Zappelei“ spricht,88 dann spielen bei dieser Einschätzung die vielen positiven Rezensionen der führenden Kritiker, die ihn eindeutig zu den Dichtern zählen, offenbar keine entscheidende Rolle. Die ersichtliche Anerkennung durch das (weibliche) Publikum der Zeitungen und Zeitschriften wiederum, die sich ‚nur‘ an der stetigen Nachfrage nach Texten ablesen lässt, gilt zwar als ökonomischer und publizistischer, nicht aber als literarischer Erfolg, weil diesem Publikum prinzipiell ‚niedere‘ Beweggründe unterstellt werden und es ästhetisch anspruchsvolle Texte ohnehin nicht verstehe. Dabei macht wiederum der erfolgreiche Kollege Heyse vor, dass es auch anders geht, wenn er sich ganz selbstbewusst zur weiblichen Leserschaft rechnet, die bei Fontanes Novellen und Romanen allemal auf ihre Kosten kommt, und sich dabei zu einem höchst zweideutigen Kompliment hinreißen lässt: „Wie gut, daß ich von jeher zum gelernten Rezensenten verdorben war und so ein Buch von Dir mit dem Heißhunger der ersten besten Nähmamsell am Sonntagnachmittag – vorausgesetzt, daß sie keinen Schatz hat – verschlingen darf!“ 89 Doch die Inszenierung als verkannter Dichter ist gleichfalls nur eine geschickte Taktik des medienversierten Fontane. Trotz seines Beharrens auf der Beglaubigung des ‚ächten‘ Dichtertums, wo kein ‚weibliches‘ Publikum das Urteil verzerrt, bleibt ihm nicht verborgen, dass „seine Gemeinde weit größer [ist], als er annimmt“,90 und dass sie es ist, die ihm über viele Jahre ein sehr be hagliches Schriftstellerleben ermöglicht. Fontanes Entscheidung zum Berufsschriftsteller für das weibliche Geschlecht erfolgt, das sei betont, ohne Not. Gegen die – zeitweise überaus nützliche – Legende vom Hunger leidenden Dichter muss er sich am Ende selbst in Schutz nehmen.91 Seine Etablierung auf dem journalistischen 87 Diese Bezeichnungen entstammen der unveröffentlichten Erstfassung. Theodor Fontane: Die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers in Deutschland [1881], in: Aufzeichnungen zur Literatur. Ungedrucktes und Unbekanntes, hg. v. Hans-Heinrich Reuter, Berlin, Weimar 1969, S. 177190, hier: S. 177. 88 Fontane an Wilhelm Friedrich, Brief v. 13.7.1883, in: HFA IV.3, S. 266. 89 Heyse an Fontane, Brief v. 15.12.1890, in: Briefwechsel, S. 210. 90 Anonyme Rezension der 3. Auflage der Gedichte, VZ 587, 15.12.1889. 91 So schreibt er 1881 an Mathilde Rohr: „Wir haben seit Anno 55, also seit 26 Jahren, alljährlich über 2000, eine kurze Zeit lang 3000 und als Durch-

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Markt kann bereits Anfang der 1870er Jahre, also noch vor seiner Kritikertätigkeit für die VZ, als abgeschlossen gelten: „Mein Geschriebenes drucken zu lassen, und zwar zu besten Honoraren, habe ich keine Schwierigkeiten; mir kommt es darauf an Geld zu kriegen ohne zu schreiben. Das ist das Geheimnis schriftstellerischen Wohlergehens.“92 Und sogar dieses Kunststück ist ihm ansatzweise gelungen, erhält er doch immerhin seit 1870 eine jährliche Pension von 400 Talern, deklariert als ‚Forschungsbeihilfe‘, die mit keinerlei Verpflichtungen verbunden ist. Die Ehrung als „potentieller Klassiker“, die ihm zwar nicht durch Rodenbergs Rundschau, aber immerhin durch die Kritiker der Vossischen widerfährt,93 kollidiert immer wieder mit der massenmedialen Wirklichkeit, in welcher diese Auszeichnung ihre distinktive Funktion eingebüßt hat. Denn alle Versuche der Etablierung seines Dichterselbstbildnisses erscheinen a priori gefährdet durch die Tatsache, dass jede „geistige Arbeit von dem Ort […], wo sie sich niederläßt, einen ganz bestimmten Geruch an[nimmt]“.94 Dieser Geruch, den die Vorabdrucke an die Buchfassungen weitergeben, heftet sich also auch an die Bestrebungen zum autonomen, originalen Werk. Ausgerechnet das, was Fontane ein Auskommen als Schriftsteller ermöglicht, verhindert seine Dichterwerdung: „Eigentlich schuld an der geringen Stellung, die der Schriftsteller im öffent-

schnitt 2500 bis 2700 Taler ausgegeben, ich kann dies unmöglich ein jämmerliches Leben nennen.“ Fontane an Mathilde Rohr, Brief v. 6.6.1881, in: HFA IV.2, S. 39. Peter Wruck hat darauf hingewiesen, dass es sich dabei um wirklichen Wohlstand handelte: 1871 verfügten nur etwa 1,5 % der Berliner Haushalte über ein Einkommen von mehr als 1000 Talern jährlich. Vgl. Peter Wruck: Theodor Fontane in der Rolle des vaterländischen Schriftstellers. Bemerkungen zum schriftstellerischen Sozialverhalten, in: Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit, Beiträge zur FontaneKonferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam, mit einem Vorwort v. Otfried Keiler, Berlin 1987, S. 1-39, hier: S. 30. 92 Fontane an Mathilde Rohr, Brief v. 30.3.1872, zit. n. Wruck, Theodor Fontane, S. 30f. 93 Vgl. den umfangreichen Geburtstagsartikel Paul Schlenthers in der VZ 607, 29.12.1889. Schlenther betont den Durchbruch zur ‚Modernität‘, den die Wende zum Berlin-Roman gebracht habe, und zugleich die Verankerung in der Tradition: „einerseits Goethe, andererseits Naturalismus; einerseits Realist, andererseits potentieller Klassiker, dessen Zukunftsbedeutung schon jetzt offensichtlich ist.“ 94 Fontane an Rodenberg, Brief v. 1.3.1895, in: HFA IV.4, S. 429.

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lichen Leben einnimmt […], sind die Leser, es ist der ganze literarische Massenbetrieb.“95 Wenn die Gesellschaft keine verlässlichen Kriterien für die Anerkennung als Dichter mehr zur Verfügung hat, dann kommt es darauf an, diese Kriterien selbst zu entwickeln und durch rege Beteiligung an der literarischen Kommunikation für ihre Zirkulation zu sorgen. Fontane war stets auf die Ausdehnung des Publikums bedacht, wobei er darauf achtete, dass das ‚anspruchsvolle‘ Bildungs- wie auch das ‚Gros‘ des Lesepublikums eingeschlossen wurden. „Sofern man überhaupt von einer ausgebildeten Romantheorie bei Fontane sprechen kann, findet sie ihre Basis fast ausschließlich in der Perspektive und Reaktion des Lesers. Keiner der Realisten hat so für Leser geschrieben, hat so intensiv mit der Mitschöpferkraft des Lesers gerechnet und so wenig einen l’art pour l’artStandpunkt eingenommen wie Fontane.“96 Dabei kann seine Wende von der ‚Ausmünzung‘ der Historie hin zur Partizipation an erfolgreichen Genres wie dem ‚Berlin-Roman‘97 bzw. dem ‚Frauenroman‘ nur als Wende zum weiblichen Publikum verstanden werden: „Das Publikum ist eine einfache Frau, / Bourgeoishaft, eitel und wichtig, / Und folgt man, wenn sie spricht, genau, / So spricht sie nicht mal richtig. / Eine einfache Frau, doch rosig und frisch, / Und ihre Juwelen blitzen, / Und sie lacht und führt einen guten Tisch, / Und es möchte sie jeder besitzen.“98 Zum souveränen Spiel mit dieser Größe gehört, das zeigt diese Epistel, selbstverständlich auch die verächtliche Abwendung mittels des Phantasmas vom „ganz feinen Publikum“, das letztlich in dem einen, verständigen Leser besteht, der wiederum das Pendant zum verkannten Dachstuben-

95 Bernd W. Seiler: Theodor Fontane oder Die neue Bescheidenheit, in: Wolfgang Braungart (Hg.), Verehrung, Kult, Distanz. Vom Umgang mit dem Dichter im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004, S. 259-278, hier: S. 265. 96 Steinmetz, Der vergessene Leser, S. 120. 97 Der Berlin-Roman ist zu der Zeit, als Fontane damit anfängt, bereits ein äußerst populäres Genre. Großen Erfolg hatten vor allem Julius Stindes Romane über die Familie Buchholz, aber auch Heyses Die Kinder der Welt (1873), Paul Lindaus Der Zug nach Westen (1886) oder Heinrich Seidels Leberecht Hühnchen (1882-1890) erfreuten sich großer Beliebtheit. Vgl. hierzu Heidi Grieve: Frau Jenny Treibel und Frau Wilhelmine Buchholz. Fontanes Romane und die Berliner Populärliteratur, in: Jörg Thunecke (Hg.), Formen realistischer Erzählkunst, FS Charlotte Jolles, Nottingham 1979, S. 535-543. Grieve weist die Parallelen in Bezug auf Thema, Charaktere, Handlungsverlauf und Erzähltechnik zwischen Frau Jenny Treibel und Stindes Buchholz-Romanen nach. Ebd., S. 538. 98 Theodor Fontane: Publikum. Romane, Erzählungen, Gedichte, in: HFA I.6, hg. v. Walter Keitel, München 1964, S. 380.

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poeten darstellt.99 Und während er in Fragen der Kunst keinen Spaß versteht, weil: „Kunst ist Kunst“,100 und sich vom „Aventüren-Blech“ der großen Plots distanziert, rühmt er doch gleichzeitig die massenmediale Eignung seiner Texte: „Die Arbeit ist nun ganz wie sie sein soll und liest sich wie geschmiert. Alles flink, knapp, unterhaltlich“.101 In dieser Ambivalenz, die sich durch das gesamte Schaffen zieht, entpuppt sich Fontane als mediales Chamäleon, das je nach Bedarf Publikationsorte, Genres, Themen oder auch die politische Farbe wechselt: Diese notorische Unzuverlässigkeit offenbart sich einer medienbewussten Lektüre als perfektes strategisches Kalkül in Fontanes ‚Literaturkampf‘. Am Ende besetzt er nämlich sämtliche denkbaren Positionen: diejenige des konservativen Patrioten wie diejenige des liberalen Gesellschaftskritikers, diejenige des populären Unterhaltungsschriftstellers wie diejenige des realistischen Dichters, der sogar vor den Naturalisten Gnade findet. Popularität und Verkennung, Erfolg und Scheitern, aber auch Liberalismus, Konservatismus und selbst der Antisemitismus werden im System der Massenmedien zu Spielmarken, die auf den unterschiedlichsten Feldern als Einsatz dienen. Am Beispiel Fontane wird mithin evident, dass sich die literarische Moderne nicht primär der Opposition zur, sondern zuallererst der Tatsache der Ausdifferenzierung der Massenmedien verdankt und dass das subjektive Beharren auf funktionaler Differenz vergeblich bleibt. Damit bestätigt sich jener, in der neueren Forschung verschiedentlich geäußerte, Verdacht einer „‚Trivialität‘ der Moderne“, der meist zugunsten der Rettung eines emphatischen Literaturbegriffs rasch zerstreut wird. Die Figur des Bimorphismus, wo der Dichter „zur Vermittlung von Dissidenz und Konformität gezwungen wird“,102 spielt bei diesen Rettungsversuchen eine große Rolle. Dagegen erlaubt es der etwas ketzerische Gedanke einer Trivialität der Moderne, dasjenige einzuschließen, wovon diese sich unbedingt unterscheiden will: den damned mob of sribbling women,103 der an der Ausdifferenzierung des Systems der Massenmedien im 19. Jahrhundert bedeutenden Anteil hat. Auf diese Weise können auch die von der programmatischen Moderne verworfenen Wirkungen, die traditionell mit den Genres der Massenmedien verknüpft sind – Unterhal99 100 101 102 103

Fontane an Emilie Fontane, Brief v. 30.8.1883, in: HFA IV.3, S. 283. Fontane an Emilie Fontane, Brief v. 12.6.1883, in: HFA IV.3, S. 255. Fontane an Emilie Fontane, Brief v. 30.8.1883, in: HFA IV.3, S. 283. Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 87 (Hervorhebung M.G). So sahen das Autoren wie Nathanael Hawthorne, Oscar Wilde oder James Joyce. Vgl. Sandra Gilbert, Susan Gubar: No Man’s Land I. The Place of the Woman Writer in the Twentieth Century. The War of the Words, New Haven u.a. 1987, S. 142.

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tung, Belehrung und Rührung – in die Literaturgeschichte der Moderne zurückgeholt werden.104

104 Vgl. Suzanne Clark: Sentimental Modernism. Women Writers And The Revolution Of The Word, Bloomington, Indianapolis, 1991.

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2. Realismus weiblich? Marlitt „Wir wollen nichts zu tun haben mit jener abgründigen Verlogenheit eines Teiles unserer Literatur, der gegen die Verlogenheit solcher absolut wahrer und ehrlicher Schriftsteller wie Courths-Mahler eifert. Die Courths-Mahler ist nicht verlogen. Wir sind idealistische Schriftsteller. Die Mahler ist die große Realistin.“1

Die Polemik Brechts lässt sich mühelos auf die Literaturgeschichtsschreibung hin verlängern, die von einem funktionierenden Literatursystem ausgeht und – noch in ihren sozialgeschichtlichen Varianten – die Dichotomie von hoher (männlicher) und niederer (weiblicher) Literatur zusammen mit derjenigen von ‚realistisch‘ vs. ‚idealistisch‘ ungeachtet widersprechender Erkenntnisse auch ins 19. Jahrhundert projiziert. Vom Konstrukt des ‚Poetischen Realismus‘ und erst recht von demjenigen einer ‚Klassischen Moderne‘ aus erscheinen die Autorinnen, die das literarische Geschehen längst aktiv mitgestalten, als minderwertiger, ‚trivialer‘ Hintergrund, der höchstens als soziologisches Phänomen interessiert. Unterdessen bemühten sich vor allem (aber nicht nur) feministische Ansätze in der Vergangenheit immer wieder – unter prinzipieller Anerkennung der Dichotomie – um eine Erweiterung des Kanons durch die Um- und Aufwertung von Autorinnen des 19. Jahrhunderts.2 Im Unterschied dazu

1 2

Bertolt Brecht: [Verlogenheit unserer Literatur], in: Gesammelte Werke, Bd. 18: Schriften zur Literatur und Kunst I, Frankfurt/M. 1967, S. 35. So können innerhalb der spärlichen Marlitt-Forschung drei Ansätze unterschieden werden: 1) das Trivialitätsparadigma, das bereits im Naturalismus geprägt wird, 2) die Integration in die Tradition der bürgerlichen Frauenbewegung, und neuerdings 3) die Aufnahme in den Kanon des Poetischen Realismus. Zur Forschung (Monographien) vgl. Bertha Potthast: Eugenie Marlitt. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Frauenromans, Köln 1926; Jutta Schönberg: Frauenrolle und Roman. Studien zu den Romanen der Eugenie Marlitt, Frankfurt/M. u.a. 1986; Günter Merbach: E. Marlitt. Das Leben einer großen Schriftstellerin, aus alten Quellen zusammengestellt, Hamburg 1992; Cornelia Brauer (später Hobohm): Eugenie Marlitt – Bürgerliche, Christin, Liberale, Autorin. Eine Analyse ihres Werkes im Kontext der „Gartenlaube“ und der Entwicklung des bürgerlichen Realismus, Erfurt 1993; Hans Arens: E. Marlitt. Eine kritische Würdigung, Trier 1994; Marina Zitterer: Der Frauenroman bei Fontane, Lewald und Marlitt. Eine Analyse des feministischen Ganzheitskonzepts im humanistischen Sinn, Klagenfurt 1997.

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soll im Folgenden aus der massenmedialen Programmierung sämtlicher Literatur auf Unterhaltung, die, wie schon bei Fontane gezeigt, auf universale Inklusion und nicht auf geschlechtliche und soziale Distinktion setzt, eine Perspektive gewonnen werden, in welcher sich diese Grenzziehung zugunsten eines gemeinsamen Nenners der Massenkünste verliert. In seinem Essay Die Literatur und die Frauen aus dem Jahr 1858 stellt Prutz seinen Zeitgenossen eine bemerkenswerte Diagnose: „Die Frauen sind eine Macht in unserer Literatur geworden; gleich den Juden begegnet man ihnen auf Schritt und Tritt.“3 Nicht etwa, dass diese Teilnahme etwas Neues darstelle, aber sie habe gegenwärtig „einen so außerordentlichen Umfang gewonnen, daß es kaum noch einen einzigen Zweig literarischer Täthigkeit gibt […], der nicht von weiblichen Händen gepflegt würde; ja auf manchen Gebieten, wie z.B. dem Roman, haben sie sogar entschieden die Oberhand.“4 Wenn sie auch, wie Prutz feststellt, „nicht leicht eine neue Richtung in Kunst oder Wissenschaft einschlagen“, so werden sie sich doch nicht damit „begnügen, bloß in den Bahnen fortzuwandeln, die Männer ihnen vorgezeichnet haben“.5 Ihre innovative Leistung beschränke sich aber aufs Inhaltliche und bestehe in der verdienstvollen Thematisierung weiblicher Lebenszusammenhänge sowie in der Ausbildung des entsprechenden Genres ‚Frauenroman‘. Während Prutz als Literaturkritiker deutlich innerhalb der autonomieästhetischen Alternative und deren Geschlechterordnung verbleibt, sprengt er diese in seiner Analyse der Strukturen und Gesetze massenmedialer Kommunikation. Aus medientheoretischer Perspektive, die die zeitgenössische Literatur als Journalphänomen begreift, erfährt die Geschlechterdifferenz eine signifikante Verschiebung, insofern mit der Konzentration auf die Publikumswirksamkeit die autonomieästhetische Einheit von Autor und Werk aus dem Blickfeld rückt. Dieses Publikum, „selbst erst durch die Zeitungen gebildet“,6 ist unübersehbar ‚weiblich‘, wie Wilhelm Heinrich Riehl 1855 feststellt: „Unsere Buchhändler speculiren auf nichts eifriger als auf Damenlectüre: ein Dichter, den die Frauen kaufen, ist ein gemachter Mann. Die Frauen sind jetzt ‚ein Publikum‘ geworden für den Poeten, wie sie vor zweihundert Jahren ein Kunstrichtercollegium im Hotel Rambouillet waren. Am Ende sind sie gar ‚das

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Robert E. Prutz: Die Literatur und die Frauen, in: Die deutsche Literatur der Gegenwart 1848-1858, Bd. 2, S. 249-253, hier: S. 249. Ebd. Ebd., S. 251, 252. Prutz, Geschichte des deutschen Journalismus, S. 89.

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Publikum‘, und das Publikum erzieht sich seine Poeten.“7 Deshalb macht es wenig Sinn, von einem zwar umfangreichen, aber doch letztlich spezialisierten Marktsegment für Mädchen und Frauen auszugehen,8 vielmehr richtete sich der gesamte belletristische Markt auf dieses Publikum und seine Interessen hin aus. Die durch Alphabetisierung und wachsende Freizeit zunehmend nachgefragte ‚Bildung‘ für Frauen und Unterschichten blieb bis zum Ende des Jahrhunderts durch den Ausschluss aus dem männlichen Bildungskanon und seinen Institutionen auf die Literatur verwiesen. Deshalb verbanden jene sich mit den ihnen zugänglichen Medien – den Leihbibliotheksromanen, der Kolportage und den Familienblättern. Mithin rief erst das wilde, ungezügelte und promiske Lesen, das einer Lust am Text um des Textes willen den Vorzug gab, die Fülle von Anthologien, Ratgebern, Anstandsbüchern und Lektüreanweisungen auf den Plan. Darüber hinaus entstand, bei gleichzeitigem Ausschluss von fast allen bürgerlichen Berufen, mit diesem neuen Markt ein Berufsbild, das auch Frauen offen stand: dasjenige der Schriftstellerin. Frauen nutzten beim Übergang vom Lesen zum Schreiben ihre umfangreichen Erfahrungen mit den „Lectürbüchern“ zur erfolgreichen Produktion populärer Unterhaltungsliteratur, deren Rahmenbedingungen – Massenmedien und Marktgesetze – Fontane 1884 gar als „Glück“ bezeichnete: „Für das rein dichterische Talent, das dann Protektion an Fürstenhöfen fand, mag die alte Zeit förderlicher gewesen sein, aber für Menschenthum und Durchschnittstalent ist der Fortschritt unsrer Tage riesig. Es ist und bleibt ein Glück (vielleicht das höchste), frei athmen zu können.“9 Diese Freiheit des ‚Durchschnittstalentes‘ nutzt auch E. Marlitt alias Eugenie John. Ihr Entschluss zur Schriftstellerin erweist sich – wie bei Fontane – als präzises Kalkül, doch im Unterschied zu diesem fühlt sie sich nicht zum ‚Dichter vor anderen‘ berufen, sondern begreift das

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Riehl, Die Familie, S. 100. Bereits 1837 konstatierten die Blätter für literarische Unterhaltung: „Männer lesen nicht mehr Romane, außer um sie zu recensiren. Wer Romane schreibt muß an die Damen denken, wenn er gelesen sein will. Sie herrschen schon jetzt.“ Blätter für literarische Unterhaltung 1837, zit. n. Schön, Weibliches Lesen, S. 23. Vgl. Günter Häntzschel: Einleitung, in: Ders. (Hg.), Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850-1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weiblichen literarischen Sozialisation, Tübingen 1986, S. 1-42, hier: S. 32ff. Theodor Fontane an Emilie Fontane, Brief v. 20.6.1884, in: Emilie und Theodor Fontane. Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel 1873-1898, hg. v. Gotthard Erler u. Mitarbeit v. Therese Erler, Bd. 3, Berlin 1998, S. 413.

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Schreiben nach dem Scheitern ihrer Gesangskarriere als Beruf, mit dem sie den Unterhalt für sich und ihre Familie bestreiten kann. Sie erkennt zielsicher, dass die Gartenlaube das für ihre Erzählungen kongeniale Medium darstellt und schickt ihre erste Arbeit Die zwölf Apostel unter dem Pseudonym E. Marlitt ausschließlich an Keil, obgleich auch andere Texte bereits kurz vor dem Abschluss stehen, die sie anderen Redaktionen anbieten könnte: „We have no direct evidence as to what prompted Marlitt to offer her work to Die Gartenlaube, but it is not unreasonable to assume that, as a liberal-minded woman, she felt a certain elective affinity with the journal.“10 Systematisch plant sie ihre neue Karriere und bewegt sich von Anfang an in dem unbekannten Feld höchst professionell. Wie bei Fontane offenbart sich auch in ihrem Fall das Bild von der verzagten und verzweifelten Schriftstellerin als Mythos,11 der der optimalen Vermarktung entgegenkam, mit der Wirklichkeit aber nur wenig zu tun hatte. Die Reaktion Keils auf Marlitts Angebot der Zwölf Apostel kann als enthusiastisch bezeichnet werden. Signifikanterweise argumentiert er in seinem Antwortbrief nicht mit der Opposition schön/hässlich oder literarisch/nichtliterarisch, sondern mit derjenigen von „schülerhaft“ und „talentiert“, die den Gegensatz von Dilettant und Genie in den Bereich der Unterhaltung überführt. „Wenn man genötigt ist, so viele verfehlte, triviale, schülerhafte u.s.w. novellistische Arbeiten zu lesen, wie dies die Redaktion einer Zeitschrift, wie es meine Gartenlaube ist, nicht anders mit sich bringt, so thut es doppelt wohl, stößt man unter der Menge von Einsendungen einmal auf eine Schöpfung, die nach Stoff und Form unwiderleglich den Stempel des Talentes an sich trägt. […] ich wäre mit Vergnügen bereit, auch fernere novellistische Beiträge von Ihnen zu acceptieren und Sie zu den ständigen Mitarbeitern meiner Gartenlaube zu zählen […].“12

Diese prompte Aussicht auf regelmäßige Mitarbeit, „liberale Honorare“ sowie die uneingeschränkte Anerkennung ihres Erzähltalentes begründen

10 W. A. Coupe: Eugenie Marlitt: In Defence of a Writer of Kitsch, in: German Life & Letters 49 (1996), S. 42-58, hier: S. 43. 11 Vgl. Cornelia Hobohm: Geliebt. Gehaßt. Erfolgreich. Eugenie Marlitt (1825-1887), in: Karin Tebben (Hg.), Beruf: Schriftstellerin. Schreibende Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1998, S. 244-275, hier: S. 248f. 12 Ernst Keil an E. Marlitt, zit n. [Anonym]: Eugenie John-Marlitt. Ihr Leben und ihre Werke, in: E. Marlitt’s gesammelte Romane und Novellen, Bd. 10, 2. Aufl. Leipzig o. J., S. 399-444, hier: S. 404.

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eine lebenslange und für beide Seiten höchst lukrative Zusammenarbeit, die die Marlitt in die seltene Rolle der Ernährerin einer Familie rückt. Im Unterschied zu Fontane, der seinen ersten literarischen Auftritt umständlich vorbereitet, kommt Marlitt buchstäblich aus dem Nichts. Ohne Werbung, ohne Vorankündigung und an der Kritik vorbei schreibt sich „das Fräulein aus Arnstadt“ ein in den riesigen Kommunikationsraum der populärsten aller Familienzeitschriften und gestaltet diesen in den folgenden Jahren wesentlich mit. Dabei bedient sie nicht nur bestehende Bedürfnisse des Blattes virtuos, sie verändert diese auch massiv. „Mit ihren Gartenlaube-Romanen brachte E. Marlitt eine wahre Lawine an publizistisch-literarischen Wandlungen ins Rollen und prägte den bald boomenden Markt des Zeitschriften- und Populärromans auf Jahrzehnte.“13 Während Keil bis dahin nur kurze, auf wenige Fortsetzungen berechnete Novellen und Erzählungen wünscht, sprengt Marlitt schon mit ihrer ersten Novelle diesen Rahmen. Der durchschlagende Erfolg des Romans Goldelse, dessen Vorabdruck sich immerhin über neunzehn Wochen zieht, überzeugt Keil endgültig, den Wechsel von der engen Funktionalisierung der belletristischen Beiträge hin zum umfassenden Identifikationsangebot zu vollziehen. Marlitts perfekte Schnitttechnik mit der „alternierenden Abfolge von Spannung und Entspannung bei gleichzeitiger Zuspitzung des Grundkonfliktes“14 erreicht, dass das Publikum den Fortsetzungen auch über einen längeren Zeitraum mit gespannter Aufmerksamkeit folgt und sich über die vollkommene Identifikation mit der jeweiligen Heldin zugleich mit dem Medium identifiziert. Besonders nachhaltig wirkt dabei die spezifische Verbindung des Epischen mit dramatischen Elementen im Roman. „The reader is offered a theme of perennial interest that is treated in stories whose pace seldom flags and whose verve holds the attention to the end.“15 Mit Marlitts Romanen findet Keil ein Erfolgsrezept, das die AbonnentInnen langfristig an die Gartenlaube zu binden vermag und zugleich den Zweck – unterhaltende Volksbildung – optimal erfüllt. Der „helle Enthusiasmus“ über diesen „Sieg der Poesie“ entlädt sich denn auch „in einer wahren Sturmflut von begeisterten Zuschriften an die Redaktion und die Autorin“,16 die ohnehin schon beachtliche Auflage der Zeitschrift steigt innerhalb weniger Jahre exorbitant an und Marlitts Erzählungen

13 Urszula Bonter: Der Populärroman in der Nachfolge von E. Marlitt, Wilhelmine Heimburg, Valeska Gräfin Bethusy-Huc, Eufemia von AdlersfeldBallestrem, Würzburg 2005, S. 13. 14 Hobohm, Eugenie Marlitt, S. 267. 15 Coupe, Eugenie Marlitt, S. 47. 16 [Anonym], Marlitt, S. 407.

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avancieren zum Maßstab für die Familienblätter, an dem fortan gemessen wird, was dort publiziert werden will. Sie vergrößert mithin nicht nur die Zahl der RomanleserInnen enorm, sie spornt mit ihrem Erfolg auch „latente Schreibbegabungen an, sich ihrerseits in der Romanproduktion zu versuchen“.17 Die Zeitschrift stimuliert sie zur Produktion, umgekehrt regen ihre Texte im Medium andere Produktionen an. Dem Zeitdruck, der durch die Erscheinungsweise und die große Publikumsnachfrage entsteht, unterwirft sich Marlitt aber im Unterschied zu vielen anderen KollegInnen nicht. Zwar kann Keil Erzählungen von ihr lange vor der Fertigstellung ankündigen, doch an diese Zeitpläne fühlt sie sich nicht gebunden, und vom Drängen des Herausgebers sowie vom Druck des Publikums lässt sie sich nicht irritieren.18 So gehört sie auch nicht zu den geschmähten ‚VielschreiberInnen‘ wie Heyse, Raabe oder Mühlbach – der Umfang ihrer Produktion ist mit neun zu Lebzeiten veröffentlichten Romanen, einem Novellen- und einem Gedichtband sogar im Vergleich zu Fontane gering. Marlitt nimmt Kürzungen und Änderungen im Einvernehmen mit der Redaktion in der Regel selbst vor, Klagen über Entstellungen gibt es von ihr nicht, auch wenn sich die Buchfassungen oft vor allem vom Umfang her deutlich vom kurz zuvor erschienenen Vorabdruck unterscheiden.19 Im Gegensatz zu Autoren wie Fontane, der sich mehrfach über das Verschwinden des Autornamens im Zeitschriftenvorabdruck beschwert, zeigt Marlitt keinerlei Interesse an der Publizität ihrer Person und behält das Pseudonym auch nach dessen (schneller) Enthüllung bei. Ihren Widerstand gegen den Abdruck ihres Porträts in der Gartenlaube gibt sie nur zögernd auf, „zu irgendwelchen biographischen Notizen war sie jedoch nicht zu bewegen, da sie über ihr Leben etwas Bedeutendes oder von allgemeinem Interesse nicht zu sagen wisse. Nicht einmal ihren eigentlichen Namen, der längst bekannt geworden war, gestattete sie unter den Holzschnitt zu setzen […].“20 17 Gabriele Strecker: Frauenträume. Frauentränen. Über den deutschen Frauenroman, Weilheim 1969, S. 54; vgl. auch die Untersuchung von Bonter, Der Populärroman, S. 13. 18 „Ich meine es ernst, sehr ernst, mit meinem Streben und bin nicht im stande, gedeihlich zu arbeiten, wenn ich mich nicht im Innersten dazu getrieben fühle.“ Marlitt an Keil, zit. n. [Anonym], Marlitt, S. 408f. 19 Cornelia Hobohm hat darauf hingewiesen, dass nur die im Verlag Ernst Keil erschienenen Erstauflagen wirklich ungekürzt sind, während in späteren Ausgaben oft bis zu 30 % an „unzeitgemäße[n] ‚Längen‘“ getilgt wurden. Vgl. Hobohm, Geliebt, S. 244. Auf eine solche Idee würde in Bezug auf den Roman Vor dem Sturm selbstverständlich kein Verleger kommen. 20 [Anonym], Marlitt, S. 411f.

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Statt den Dichter als Einheit zwischen Name, Bild und Text aufwendig zu inszenieren, offenbart die journalistische Präsentation Marlitts die vollkommene Einheit zwischen belletristischem Text und Medium, bei der die Signatur als eine Art Kitt funktioniert. Diese Identifikation gelingt umso besser, als das Medium von ihr nicht, wie von vielen männlichen Kollegen, als doppeltes betrachtet wird. Frei und fern von allen Zweideutigkeiten, die sich Kollegen wie Fontane oder Storm durch ihr Schielen nach ‚ächtem‘ Dichtertum bei gleichzeitigem Anspruch auf Teilhabe am publizistischen und ökonomischen Erfolg der periodischen Printmedien einhandeln,21 schöpft Marlitt deren Potential voll aus: Die Bindung der LeserInnen an die Zeitschrift hat ihr Fundament in derjenigen der Autorin, die bis zu ihrem Tod ausschließlich in der Gartenlaube und dem daran angegliederten Verlag veröffentlicht. So kann sie Keil glaubhaft versichern: „Wir beide haben ein Ziel, es ist der Ruhm und das Blühen der Gartenlaube, Sie können unmöglich ängstlicher um dieses Ziel sorgen als ich […].“22 Unter dieser vertrauten Zusammenarbeit stieg die Auflage der Gartenlaube von 142.000 Exemplaren im Jahr 1866 auf 382.000 im Jahr 1875.23 Die Einheit von Autorin, Verleger, Medium, Publikum, Rezeptionsweise und erzählten Geschichten schloss alle Klassen, Schichten und Gruppen der Gesellschaft ein.24 Diese Einheit beförderte die identifika-

21 Die Kränkung über Marlitts Erfolg, den Fontane dem Dichter, also sich selbst, vorbehalten sehen wollte, war groß und äußerte sich wiederholt in bösartigen Invektiven: „Personen [wie die Marlitt, M.G.], die ich gar nicht als Schriftsteller gelten lasse, erleben nicht nur zahlreiche Auflagen, sondern werden auch wo möglich ins Vorder- und Hinter-Indische übersetzt; um mich kümmert sich keine Katze.“ Fontane an Emilie Fontane, Brief v. 15.6.1879, in: Fontane, Emilie u. Theodor: Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel, Bd. 3: 1873-1898, hg. v. Gotthard Erler, Berlin o. J., S. 175. 22 Marlitt an Keil, zit. n. [Anonym], Marlitt, S. 414. 23 Vgl. Barth, Zeitschrift für alle, S. 437 24 Vgl. auch George L. Mosse: Was die Deutschen wirklich lasen. Marlitt, May, Ganghofer, in: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.), Popularität und Trivialität, Frankfurt/M. 1974, S. 101-120, der ausdrücklich betont, dass populäre AutorInnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie Marlitt, May oder Ganghofer „fast von allen Klassen gelesen [wurden], nicht nur von jenem legendären Dienstmädchen in ihrem Dachstübchen oder jenem ebenso legendären kleinen Mann auf der Straße. Schon die Tatsache, daß die Auflagen in die Millionen gingen, sollte uns warnen, bei der Beurteilung ihrer Rezeption nur einen bestimmten Sektor der Leserschaft ins Auge zu fassen.“ Ebd. S. 101f.

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torische Lektüre, die seit 1800 weiblich codiert war – die Aufmerksamkeit wurde durch das Gebot der Interessantheit von der ästhetischen Form weg auf den Stoff, die erzählten Geschichten gelenkt. Sie bescherte einer deutschen Autorin eine bis dahin nicht gekannte Popularität, die nach Coupe nur mit derjenigen von Charles Dickens vergleichbar war:25 „Von der ‚Goldelse‘ und der ‚Alten Mamsell‘ spricht man nicht nur in den verborgensten Winkeln deutschen Landes, wohin der Wellenschlag der litterarischen Bewegung sonst selten ein verlorenes Echo wirft, sondern in der That, ‚so weit die deutsche Zunge klingt‘, in den fernsten Kolonien des innern Rußland, an den halbasiatischen Riesenströmen, wie an den Ufern des Mississippi, in Chile und Brasilien.“26

Der „deutsche Originalroman“ Marlittscher Provenienz errang weltweite Verbreitung, sämtliche Erzählungen wurden sofort nach der Veröffentlichung oder schon während des Erscheinens in zahlreiche Sprachen übersetzt; aufgrund der großen Nachfrage vervierfachte sich die sonst übliche Auflagenzahl belletristischer Buchausgaben von tausend Exemplaren. Auch die zeitgenössische Kritik kam an diesem Phänomen nicht vorbei und musste in Marlitt das bedeutende Erzähltalent anerkennen, das sich insofern von der Fülle der „sehr geistreichen Romanschriftsteller“ unterscheide, als diese „eigentlich nicht zu erzählen verstehen“.27 Roman und Novelle als genuine Journalgenres sollten spannend unterhalten und nicht hintersinnig reflektieren, und dieses Ziel erreiche Marlitt mit schlafwandlerischer Sicherheit, wie sogar Gustav Freytag zugestehen musste: „Erzählung: klare Exposition, eine fesselnde Verwickelung, welche in ausgeführtem Höhepunkte gipfelt und eine größer angelegte, kräftige Katastrophe werden häufig mit bestem Glück erfunden; auch unsere Schriftstellerinnen schlingen den leicht geflochtenen Zopf ihrer Novelle zuweilen recht kunstvoll zum Knoten; es ist nicht das kleinste Verdienst der Dame Marlitt, daß diese Kunstfertigkeit ihr völlig zu Gebote steht.“28

25 Coupe, Eugenie Marlitt, S. 42. 26 Rudolf Gottschall: Der Novellistin der Gartenlaube, in: Blätter für litterarische Unterhaltung Nr. 19, 5.5.1870. 27 Ebd. Auch den Stil lobt Gottschall: „er ist frei von jeder Künstelei und Uebertreibung, fließend und frisch von anmutiger dichterischer Belebung, ohne lyrische Extratouren, anschaulich und bezeichnend, edel und tadellos im Ausdruck wie in der syntaktischen Fügung.“ 28 Freytag, Für junge Novellendichter, S. 398.

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Den wiederkehrenden Einwand der Literaturkritik gegen die Märchenelemente konterte die Redaktion selbstbewusst mit dem Verweis auf das ‚Volk‘ als entscheidende Instanz. Das ästhetische Empfinden des „‚Volksgemüts‘ sei allemal fähig, auch ohne Literaturkritik eine gelungene Erzählung ‚aus eigener Machtvollkommenheit‘ zu erkennen und zu würdigen.“29 Ein Rezeptionszeugnis, das in eigener Sache 1887 von der Gartenlaube überliefert ist, zeigt darüber hinaus, dass Marlitts Texte, die auf sensationelle Effekte weitgehend verzichteten, offenbar dennoch das Gebot nach Neuheit befriedigten, wenn im März 1866 in Leipzig „Leute aus dem Volk […] mit fieberhafter Spannung“ die letzte Folge der Goldelse verschlangen. „Hier fahndete kein Neugieriger nach den neuesten Depeschen, kein Stellenloser suchte die Annoncen der Arbeitsangebote“,30 hier erreichte vielmehr ein belletristischer Text einen Grad an Aktualität, der die Neugierde auf Nachrichten und Anzeigen noch übertraf. Marlitts Romane wurden selbst zum gesellschaftlichen Ereignis, das alle anging, an dem alle teilhaben konnten, ohne dass in den Geschichten auf Skandal oder Tabubruch rekurriert werden musste. Mit dem Geheimnis der alten Mamsell, dessen Erscheinen 1867 bereits eine Art nationales Ereignis darstellte, wurde der Ruf Marlitts als Erzählerin ersten Ranges begründet. Dabei zeigte sich, dass die harmonische Kooperation Marlitts mit Keil sich auch inhaltlich als sehr produktiv erwies. So konnte dieser Roman auch als narrativer Kommentar zu dem 1866 in der Gartenlaube veröffentlichten „Brief an eine Gläubige“ gelesen werden, in dem Keil sich scharf gegen katholische Heuchelei und religiösen Fanatismus wendete. Ähnliches galt für den Roman Im Hause des Kommerzienrates aus dem Jahr 1876, der mit seiner Kritik am gründerzeitlichen Spekulantentum und seinem Wohlfahrtskonzept unmittelbar an die entsprechende Berichterstattung in der Gartenlaube anschloss.31 Deshalb musste die Kritik, wenn auch zähneknirschend, nicht nur die Gewandtheit der Sprache, die besondere Gabe der Spannungserzeugung und den hohen Vergnügungsfaktor der Texte anerkennen, son29 Kit Belgum: „Die Gartenlaube“ und E. Marlitt: Berichten und Erzählen, in: Eugenie John-Marlitt, Internationales Symposium anläßlich ihres 115. Todestages am 22. Juni 2002 in Arnstadt, Arnstadt 2002, S. 7-20, hier: S. 14. 30 [Anonym]: E. Marlitt, in: Die Gartenlaube 1887, S. 472-476, hier: S. 472. 31 Vgl. Belgum, Berichten und Erzählen, S. 15ff. Und Belgum resümiert: „Ernst Keil konnte seine Gartenlaube-Leser mit den vielen berichtenden Beiträgen national-gesinnt erbauen. Sie zum Lesen hinreißen konnte er nur mit Hilfe der Marlitt.“ Ebd., S. 20 (Hervorhebung im Original); vgl. ausführlich dies.: Popularizing the Nation. Audience, Representation, and the Production of Identity in “Die Gartenlaube” 1853-1900, Lincoln, London 1998.

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dern auch noch die Aktualität der Erzählungen, die offenbar unmittelbar auf wichtige Fragen der Zeit zu antworten vermochten. Während die Forschungsliteratur, wenn sie überhaupt Vergleiche anstellt, vor allem die Differenzen zwischen den kanonisierten Realisten und ihren ‚trivialen‘ KonkurrentInnen konstatiert und mit höchst spitzfindigen Argumentationsfiguren wie dem „bedeutungshaltigen Fehlen“ im Sinne eines „Minusverfahrens“32 oder der Zuschreibung von parodistischen Strategien und Ironiesignalen die meist offenkundige Nähe von Kanon und Trivialität überdeckt, sollen im Folgenden in zwei knappen Vergleichsskizzen von Erzählungen Marlitts mit Texten Kellers und Fontanes die Gemeinsamkeiten dieser Literatur im Sinne des Konzepts der Massenkünste herausgestellt werden.33 Dabei gehe ich mit Beatrix Kampel davon aus, dass gerade der Vergleich der Stoffe und Motive in Bezug auf den Realismus und seine Poetik nicht marginal ist, sondern zentral,34 dass aber auch hinsichtlich der Poetik der Verklärung wie bezüglich des Spiels mit intertextuellen Referenzen die Gemeinsamkeiten weit größer sind als die Unterschiede.

32 Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 131. 33 Während vor allem Fontane und Marlitt verschiedentlich verglichen wurden, um die dichterische Überlegenheit des ersteren herauszustellen (zuletzt bei Helmstetter, Die Geburt des Realismus), gibt es zu Keller und Marlitt m. W. keine entsprechende Studie; interessant wäre auch ein Vergleich zwischen Marlitts ‚Märchen‘ und denjenigen Storms. 34 In einem luziden Vergleich zwischen Fontanes Graf Petöfy (1884) mit zwei ‚typischen‘ Gartenlauberomanen – Mary Mischs Novelle Ein unbedachtes Wort (1896) und Adolf Wilbrandts Vater und Sohn (1895) – kommt Beatrix Kampel zu überaus bemerkenswerten Ergebnissen: In allen drei Texten zeige die Art der Zitatverwendung an, dass Literatur und Bildung zum Konversationsstoff verflacht sei, wobei weder beim Spiel mit literarischen Anspielungen noch bezüglich der Dialogisierung des Geschehens signifikante Unterschiede auszumachen seien. In keinem der Texte entscheide die Herkunft über das Gelingen oder Scheitern der Liebesbeziehung; hingegen verzichteten Misch und Wilbrandt auf „die für Fontane so typischen ‚Arsenale von Ausstattungsstücken‘“ wie auch auf „dunkelhäutige Männer, fremdsprachige Einstreuungen und südländisch-feurige Gefühlsausbrüche“. Beatrix Kampel: Fontane und die Gartenlaube. Vergleichende Untersuchungen zu Prosaklischees, in: Otfried Keiler/Peter Schaefer (Hg.), Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit, Beiträge zur Fontane Konferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam, Berlin 1987, S. 496-524, hier: S. 508.

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Anfang 1856 erschien bei Vieweg der erste Teil der Leute von Seldwyla mit der Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe.35 Die „unerhörte Begebenheit“ hatte Keller 1847 der Zürcher Freitagszeitung entnommen, wo von einem ärmlichen Liebespaar berichtet wurde, das sich gemeinsam das Leben genommen hatte. 1855 erhält der Stoff seine endgültige novellistische Form wie auch durch den Titel seine intertextuelle Referentialisierung, im Text unterstrichen durch das Auftreten von Nachtigall und Lerche. Erzählt wird die Geschichte von Vreni und Sali, Kinder zweier ehemals befreundeter Bauernfamilien, deren in der Kindheit gewachsene Liebe auch noch die hasserfüllte Feindschaft der Väter überdauert. Nachdem beide Familien aufgrund des Streites um ein Grundstück ruiniert und die Kinder vollkommen verarmt sind, beschließen diese, da ein gemeinsames Leben innerhalb der bürgerlichen Welt nicht möglich ist, den gemeinsamen Tod. Der Vergleichstext, Marlitts Novelle Blaubart, wurde zehn Jahre später in der Gartenlaube veröffentlicht. Sie erzählt die Geschichte der jugendlichen Protagonistin Lili, die beim Besuch ihrer Tante durch ihre Neugier wie auch durch ihr beherztes Handeln das Geheimnis des mysteriösen Nachbarn samt der dazugehörigen unrühmlichen Familiengeschichte lüftet und am Ende nicht nur den Mann, sondern auch noch den Segen der Tante gewinnt. So deutlich bei Keller die ShakespeareReferenz, so klar tritt bei Marlitt diejenige auf das Märchen Perraults hervor. Beide nutzen die Titel für die intertextuelle Situierung ihrer Erzählungen in einem populären Textraum, mit dem die LeserInnen schon vorab bestimmte Erwartungen und Erfahrungen verknüpfen. Beiden Geschichten liegt die Idylle zweier eng verbundener Familien voraus, die bei Marlitt im Rückblick, bei Keller chronologisch erzählt wird. In beiden Fällen zerbrechen die Familien an der bürgerlichen Todsünde schlechthin: der widerrechtlichen Aneignung fremden Besitzes. Diese

35 Hierbei handelt es sich um eine von wenigen Novellen Kellers, die nicht vorabgedruckt wurden. Der wichtigste Publikationsort für Keller war seit 1874 die Deutsche Rundschau, wo er neben Martin Salander auch einige der Novellen aus dem zweiten Band der Leute von Seldwyla publizierte. Keller war im übrigen einer von wenigen, der das Erzähltalent Marlitts offen anerkannte und sich an der Häme vieler seiner Zeitgenossen nicht beteiligte: „Da ist ein Zug, ein Fluß in der Erzählung, ein Schwung der Stimmung und eine Gewalt in der Darstellung dessen, was sie sieht und fühlt – ja, wie sie das kann, bekommen wir alle nicht fertig!“ Zit. n. A. Rehbein: Die Marlitt, in: Die Gartenlaube 48 [1925], S. 960. Selbst wenn dieses offenbar nur mündlich kolportierte Urteil Kellers möglicherweise nicht ganz so emphatisch ausgefallen wäre, es weicht von den Invektiven des „Marlittund Gartenlaubestils“ seines Berliner Kollegen doch deutlich ab.

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Übereinstimmung ist umso bemerkenswerter, als eine massenmedial generierte Literatur keine ‚Epigonalität‘ produzieren kann, setzt dieser Begriff doch die originale, autonome Kunst voraus. Vielmehr muss von einer gemeinsamen Anstrengung der Unterhaltungsliteratur ausgegangen werden, das Privateigentum als unantastbares Kernstück der bürgerlichen Ökonomie auszuweisen. Beide Novellen stellen also gleichermaßen den Schutz des Privateigentums als Voraussetzung allen privaten Glücks und aller bürgerlicher Ordnung ins Zentrum, entsprechend sind sie durch ein extremes Ordnungsbedürfnis charakterisiert.36 Keine Abschweifungen oder narrativen Experimente stören den klar gegliederten und übersichtlichen Gang der Erzählung. Sauberkeit und Reinlichkeit spielen auch auf der inhaltlichen Ebene eine herausragende Rolle – das saubere Äußere der Figuren verweist auf ein entsprechendes Inneres, während die äußere Verwahrlosung der beiden Väter an deren moralische Verkommenheit mahnt. Die positiven Figuren wirken auffällig parallel konstruiert und in den Kardinaltugenden der Treue, Beständigkeit und Ordnungsliebe fundiert. So wie sich Kellers Bauernkinder nicht jenseits der bürgerlichen Gesellschaft einrichten können und wollen, könnte sich Lili nicht über das Gebot der Tante und damit gleichfalls über die bürgerlichen Werte hinwegsetzen, wenn diese gegenüber dem geheimnisvollen Nachbarn mit ihrer Feindschaft im Recht bliebe. Deshalb vermag die Lösung bei Marlitt nur darin zu bestehen, das Rätsel um das gestohlene Bild aufzuklären und damit die Tante ins Unrecht zu setzen, womit die bürgerliche Ordnung und dadurch die Voraussetzung eines gemeinsamen Glücks wiederhergestellt sind. Dagegen wird das Vergehen der Väter bei Keller in den christlichen Schuldzusammenhang der Erbsünde verschoben, aus dem es kein Entrinnen gibt: Das junge Paar erbt gleichsam die Schuld

36 ‚Ordnung‘ ist tatsächlich eine Schlüsselkategorie für den Poetischen Realismus, besonders markant in Otto Ludwigs einzigem Roman Zwischen Himmel und Erde, wo Ordnung zwanghaft gegen die abweichenden Individuen vollstreckt wird. Vgl. dazu ausführlich Korte, Ordnung & Tabu, S. 11-40. Mary Douglas hat den Zwang zur Herstellung von Ordnung/Reinheit und die Abwehr von Unordnung/Verunreinigung als kultisches Ritual analysiert, das allen Versuchen innewohnt, „die Welt von neuem zu erschaffen“. Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigungen und Tabu [1966], aus dem Amerikanischen v. Brigitte Luchesi, Frankfurt/M. 1988, S. 39. Eben diese Vorstellung bestimmt auch Ludwigs ‚programmatische‘ Äußerungen zum Poetischen Realismus, wonach die Kunst „die Welt noch einmal [schafft]“, „nur von Dem, was dem Falle gleichgültig ist, gereinigt“. Ludwig, Shakespeare-Studien, S. 102.

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der Väter, wiederholt diese zwanghaft durch den Schlag Salis gegen Vrenis Vater und hat dafür zu büßen.37 Poetische Gerechtigkeit erfährt das Paar bei Keller nicht durch die Nachwelt, sondern durch die Erzählung selbst, in der die wahre Liebe gegen den Vorwurf des allgemeinen Sittenverfalls verteidigt wird. Entmystifiziert Marlitts Erzählung den Mythos vom Frauen mordenden Serienkiller, so Keller denjenigen vom bösen schwarzen Mann. In beiden Fällen handelt es sich um Figuren, deren Umrisse nur aus Projektionen der Umwelt bestehen und denen im Laufe der Erzählung gleichfalls poetische Gerechtigkeit widerfährt. So bietet der schwarze Geiger dem jungen Liebespaar ‚Asyl‘ und ein alternatives Leben im Wald, während sich der vermeintliche Blaubart bei Marlitt als honetter und grundsympathischer junger Mann entpuppt, der sich liebevoll um seine kranke Schwester kümmert, und der „Neger […] das treueste und ehrlichste Herz unter der Sonne hat“.38 Diese Enthüllungen gesellschaftlicher Projektionen verbinden die beiden Erzählungen als realistische zugleich mit der Tradition der Aufklärung wie auch mit dem Kommunikationsraum der Zeitschriften. Letztlich erfüllen beide Texte die Anforderungen des Poetischen Realismus wie diejenigen massenmedialer Unterhaltung: eine spannende Liebesgeschichte, in der die wahre Liebe zum Anknüpfungspunkt von Ästhetischem und Realschönem wird. Sie bildet den Ansatz für die Verklärung, sie ermöglicht die poetische Gerechtigkeit, die in beiden Fällen triumphiert: Die Liebe siegt bei Marlitt wie bei Keller über Vorurteil, Borniertheit und Hass. Während die Spannung des zweiten Teils bei Keller einem konzisen, am aristotelischen Drama orientierten Zeitgerüst entspringt, sofern den Liebenden für ihr gemeinsames Leben de facto nur ein Tag bleibt, entstehen die Spannungsbögen bei Marlitt aus dem Aufbau für den Vorabdruck und der Aufklärung des Familiengeheimnisses: Lili muss ihre eigenen phantastischen Vorstellungen durch die Wirklichkeit korrigieren lassen, um das Rätsel des gestohlenen Bildes und damit dasjenige der Familienfeindschaft zu entziffern. Festzuhalten bleibt, dass Shakespeares Liebesdrama und Perraults Märchen wenn auch differente, so doch äußerst effektive Schemata der Schließung von Liebesgeschichten ausgebildet haben: das des tragischen Untergangs auf der einen, das der märchenhaften Erfüllung auf der anderen Seite.

37 Vgl. hierzu bereits Gerhard Kaiser: Sündenfall, Paradies und himmlisches Jerusalem in Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, in: Euphorion 65 (1971), S. 21-48. 38 Eugenie Marlitt: Der Blaubart, in: Gesammelte Romane und Novellen, Bd. 10: Thüringer Erzählungen, 2. Aufl. Leipzig 1890, S. 338.

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Auch ein Vergleich mit Texten Fontanes zeigt, inwiefern Realismus und Unterhaltung vielfach anschließbar sind. Wie gesehen, beteiligte sich Fontane entgegen seiner trotzigen Abgrenzung vom „alt-überkommenen Marlitt- oder Gartenlaub-Stil“39 ausgiebig am lukrativen Geschäft des Vorabdrucks. Mit seinen Novellen und Romanen aus den 1880er Jahren schrieb er sich ein in das erfolgreiche Genre des Liebesromans. Von einer „erzwungenen Beteiligung am Novellenschacher‘“40 kann dabei keine Rede sein, vielmehr von einer selbstbewussten Anpassung an die Vorgaben der jeweiligen Medien, nach dem Motto: „der Stil wird angeputzt“.41 Unübersehbar häufen sich Mord und Selbstmord, Ehebruch und außerehelicher Geschlechtsverkehr, Spukhäuser und Geheimnisse. Der Zwang zum tragischen Ende erscheint in dieser „Unheilsnovellistik“, in der die Lösung so manchen „sittlichen Problems“ durch „eine abschüssige Felswand“ herbeigeführt wird,42 als „natürliche Konsequenz“ einer schicksalhaften, naturgegebenen Ordnung. Bei der Kolorierung seiner Geschichten bedient sich Fontane einer Fülle von Stereotypen und Klischees, düsterer Vorausdeutungen und unheilschwangerer Symbole. Diese stilistischen Mittel fungieren, darauf hat Manfred Windfuhr zu Recht hingewiesen, nicht als Erweiterung, sondern als „Beschränkung der Möglichkeiten und helfen dabei mit, einen fatalistisch geschlossenen Raum aufzubauen, aus dem es keinen Ausweg mehr gibt. Fontane erspart sich vielfach durch sie die nötige Motivierung des tragischen Ausgangs aus den Situationen und Personenkonstellationen. Der Leser wird künstlich in eine bestimmte Richtung gezwungen, so daß der Zirkelschluß zustande kommt: die Handlung mußte unglücklich enden, weil die Zeichen so und nicht anders standen.“43

Dieses Textverfahren lässt sich auch an Irrungen, Wirrungen zeigen, obgleich Fontane offenbar gezielt die Alternative von tragischem oder glücklichem Ausgang vermeidet. Dabei sind die Ökonomie des Aufbaus, das Gleichmaß der Kapitel wie auch die strenge Parallelisierung der beiden Geschichten Lenes und Bothos wie in der Novelle Marlitts deutlich

39 Fontane an Gustav Karpeles, Brief v. 3.3.1881, in: HFA IV.3, S. 120. 40 Windfuhr, Fontanes Erzählkunst, S. 338. 41 Fontane an Georg Friedländer, Brief v. 24.6.1886, in: Theodor Fontane: Briefe an Georg Friedlaender, hg. u. erl. v. Kurt Schreinert, Heidelberg 1954, S. 38. 42 Paul Heyse an Fontane, Brief v. 15.12.1890, in: Erich Petzet (Hg.), Der Briefwechsel von Theodor Fontane und Paul Heyse 1850-1897, Berlin 1929, S. 212. 43 Windfuhr, Fontanes Erzählkunst, S. 344.

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auf den Vorabdruck hin orientiert. Unter signifikanter, für die realistische Verklärungspoetik typischer Ausblendung der sozialen Wirklichkeit erzählt Fontane die kurze Liaison zwischen der Plätterin Lene Nimptsch und dem adligen Offizier Botho von Rienäcker. Dabei werden zunächst verschiedene Oppositionen aufgebaut, die der Text nach und nach aber revidiert: Lene soll kein typisches Offiziersliebchen sein und Botho kein typischer Kavalier, sondern bei beiden soll es sich um wahre Liebe handeln. Vorgegeben wird diese Lesart von Paul Schlenther, der in seinem Artikel zum 70. Geburtstag Fontanes Botho und Lene schon mal prophylaktisch als „eines der weltliterarischen Liebespaare“ installiert.44 Die Forschung zeigt sich bis heute mehrheitlich überzeugt, dass es die Gesellschaft ist, die diese Liebe verhindert und die Protagonisten jeweils in eine standesgemäße Ehe zwingt.45 Doch einer solchen Lektüre hält der Text nicht stand. Von ‚wahrer Liebe‘ im Sinne des sentimentalen Romans kann nicht gesprochen werden. Zum Rendezvous kommt Botho angetrunken, beim gemeinsamen Spaziergang wünscht er die Begleitung der ihn amüsierenden Frau Dörr, beim Liebesspiel lässt er sich von einem kläffenden Hund ablenken, den verzweifelten Brief der Geliebten korrigiert er mit einem Bleistift, vor der gemeinsamen Nacht auf „Hankels Ablage“ verplaudert er sich mit dem Wirt und auf das Spiel, das ihm die plötzlich auftauchenden Freunde anbieten, steigt er ohne Zögern ein. Schließlich ist im ganzen Text keine Rede von einer erzwungenen Entsagung. Vielmehr stellt ihm die Mutter ausdrücklich frei, sich gegen die standesgemäße Käthe von Sellenthin und ihr Vermögen zu entscheiden. Doch daran denkt Botho gar nicht, führt er doch ein Leben weit über seine Verhältnisse, das er auch fortzusetzen gedenkt. Letztlich handelt es sich bei Irrungen, Wirrungen also doch um eine „Hurengeschichte“, wenn sich Botho zunächst mit Lene amüsiert, um dann ausschließlich des Geldes wegen eine andere zu heiraten. Doch diese Betrachtung des männlichen Protagonisten wird vollkommen verdeckt von der Sicht auf die Heldin, die direkt einem modernen Märchen entsprungen und mit ihren stupenden Tugenden die Schwächen Bothos vollkommen auszugleichen scheint – über Lenes Liebe wird sogar eine Charge wie Botho verklärungsfähig. Es handelt sich um eine überaus triviale Alltagsgeschichte, deren Ausgang – zwei standesgemäße, nicht

44 Vgl. VZ v. 29.12.1889. 45 Zuletzt Helmstetter, nach dessen Urteil das Potential des Textes darin bestehe, „daß er das naive Wiedererkennen von Wirklichkeiten mit dem Ausspielen von Möglichkeiten verbindet, die in Wirklichkeit unterdrückt oder marginalisiert werden.“ Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 129.

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einmal besonders unglückliche Ehen – die Ordnung der Gesellschaft bestätigt. Am Ende sind alle – männliche und weibliche Huren, Adlige und Kleinbürger, Junker und Gärtner, Lene, Frau Dörr, Herr Francke und Käthe von Sellenthin – wenn schon nicht in Liebe, so doch im gemeinsamen Credo bürgerlicher „Ordnung und Anständigkeit“ vereint. Schließlich hat Literatur für Fontane in erster Linie „konstruktiv zu sein, sie muß eine Art von Urvertrauen in die jeweils gegebene Welt ausströmen, zumindest aber hat sie ihren fingierten Symbolzusammenhang so einzurichten, daß alles vermieden wird, was als Abweichung von solcher Konstruktivität gedeutet werden kann.“46 Das Gefühl von „einer der besten Welten“ siegt über das regellose Begehren, und dieser gemeinsame Wertehorizont des Romans, der vollständig mit dem des Realismus wie auch mit dem der Familienzeitschriften übereinstimmt, erlaubt trotz der skandalösen Ellipse – das Paar verbringt immerhin eine gemeinsame Nacht im Gasthaus – das Erscheinen in einer der führenden Berliner Tageszeitungen. Vor allem die Charakterisierung Lenes aktualisiert sämtliche (märchenhaften) Stereotypen vom guten, armen Mädchen. Auch wenn es sich nicht um ihre erste Liebe handelt, so wird sie doch von Beginn an zur wahrhaft Liebenden stilisiert, die zugunsten des Glücks des Geliebten klaglos auf das eigene Glück verzichtet. Sie bildet den sentimentalen Gegenpol zur Liebe als Gesellschaftsspiel, wie es die Offiziere mit ihren Gespielinnen auf „Hankels Ablage“ vormachen. Den Gattungskonventionen des sentimentalen Romans gemäß ist sie mit ihrer Einfachheit, Wahrheit und Natürlichkeit die ‚schöne Seele‘ des ausgehenden Jahrhunderts: lebensklug, großzügig, spontan in ihrer Hingabe, konsequent in ihrem Verzicht und alles in allem von heroischem Format – die Frau als Entsagende und Erlöserin. Deshalb geht Monika Strzeletz zu Recht davon aus, dass Lenes Charakteristik in dieser Hinsicht „nicht von denen der Heldinnen bei Heimburg oder Marlitt zu unterscheiden“ sei,47 auch wenn sie in Bezug auf Bildungs- und Glücksanspruch dann doch deutlich abweiche. In Fontanes letztem Roman Der Stechlin resümiert die Figur des Doktor Pusch sarkastisch die Gesetze der Literatur in den periodischen Printmedien und erzählt als Beispiel die Geschichte von Lene und Botho – mit kleinen Abweichungen: 46 Bernhard Spies: Ein bürgerlicher Großschriftsteller: Paul Heyses Briefwechsel, in: Rainer Baasner (Hg.): Briefkultur im 19. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 207-238, hier: S. 226. 47 Monika Strzeletz: Poesie und Realismus. Über die Bewahrung und Zerstörung von Ideal und Illusion in Fontanes Gesellschaftsromanen, in: Theodor Fontane. Dichtung und Wirklichkeit, Ausstellung vom 5.9.-8.11.1981, hg. v. Udo Ropohl u. Krista Tebbe, Berlin 1981, S. 225-232, hier: S. 228.

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„Es gibt eine Normalnovelle. Etwa so: Tiefverschuldeter adeliger Assessor und ‚Sommerleutnant‘ liebt Gouvernante von stupender Tugend […]. Plötzlich aber ist ein alter Onkel da, der den halb entgleisten Neffen an eine reiche Cousine standesgemäß zu verheiraten wünscht. Höhe der Situation! Drohendster Konflikt. Aber in diesem bedrängten Moment entsagt die Cousine nicht nur, sondern vermacht ihrer Rivalin auch ihr Gesamtvermögen.“48

In Irrungen, Wirrungen entsagt um der guten Ordnung willen die tugendhafte Gouvernante, während die reiche Cousine ihr Vermögen direkt an den richtigen Mann bringt. Doch dieses eher resignierte Ende reicht nicht aus, im zeitgenössischen Literaturverständnis eine werthaltige Differenz zur Unterhaltungsliteratur einzutragen. Im System der Massenmedien wird der Wert der Literatur ausschließlich an ihrer Fähigkeit gemessen, Interesse zu wecken und die so erzeugte Aufmerksamkeit durch Spannung aufrechtzuerhalten. Fontanes Versuch, die alternativen Schließungsmodi zu umgehen, indem er die Geschichte weitgehend ‚veralltäglicht‘, reduziert mit der Spannung zugleich das Interesse und verfehlt damit die Vorgaben des Mediums – auch ein möglicher Grund, warum von Fontane keine weiteren literarischen Beiträge in der VZ erschienen sind. Dagegen gelingt es ihm hervorragend, die Differenz von fact und fiction so zu verschleifen, dass eine Verwechslung von Leben und Literatur möglich wird.49 In der Programmierung der Rezeption auf Identifikation durch Wiedererkennen besteht bekanntlich das Prinzip des Realismus wie der Unterhaltung.50 Doch nicht „Wirklichkeit“ soll wiedererkannt werden, sondern Literatur. In den Allusionen populärer Genres wie dem Märchen oder dem sentimentalen Roman wie auch im Spiel mit Gemeinplätzen und Sprichwörtern wird ein gemeinsamer literarischer Bildungsund Wertehorizont aufgerufen. Darüber hinaus eröffnet die Anspielung die Option der Umschreibung. Von beiden Möglichkeiten macht Fontane Gebrauch, wenn das Schloss doch kein Schloss, die alte Frau Nimptsch

48 Theodor Fontane: Der Stechlin, in: HFA I.5: Romane, Erzählungen, Gedichte, hg. v. Walter Keitel, München 1966, S. 7-388, hier: S. 300. 49 Von den – unangenehmen – Folgen dieser Verwechslung berichtet Fontane: „Eben, während ich diese Zeilen schrieb, war eine Dame von sechsundvierzig bei mir, die sagte, ‚sie sei Lene; ich hätte ihre Geschichte geschrieben‘. Es war eine furchtbare Szene mit Massenheulerei. Ob sie verrückt oder unglücklich oder eine Schwindlerin war, ist mir nicht klargeworden.“ Fontane an Paul Schlenther, Brief v. 20.9.1887, in: HFA IV.3, S. 566. 50 Identifikatorische Lektüre ist seit 1800, daran sei hier nur noch einmal erinnert, weiblich codiert, ebenso wie das Interesse am Stoff.

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nicht die mythische Hüterin des Feuers, die arme Lene keine heimliche Prinzessin ist, der verletzte Finger keinen hundertjährigen Schlaf und die darauf folgende Erlösung mehr bedeutet, wie auch Botho nicht der heldenhafte Märchenprinz ist, sondern nur ein käuflicher Junker. Die Anknüpfung an bekannte Lektüreerfahrungen eröffnet den Lesenden jedoch allemal ein Wiedererkennen bekannter Schemata und die Identifikation mit vertrauten Figuren. Die Desillusionierung klärt diese Schemata zugleich auf und wirbt dafür, ‚realistisch‘, ohne ‚Einbildung‘ und romantisierende Vorstellungen damit zu verfahren. Wenn dies wie bei Lene und Botho gelingt und beide die ‚natürlichen Konsequenzen‘ aus ihrer Übertretung der Klassengrenzen ziehen, dann können diese Figuren, so schwach und unvollkommen sie auch immer sein mögen, doch verklärt werden. Fontanes Text folgt mithin entschieden dem Schema von „Verletzung und Übertretung der bürgerlichen Moral / Rückkehr zur Konvention durch entsagenden Verzicht“ sowie von Verbindung „sozial inhomogener Gruppen“ durch „scheinbar allgemein-menschliche Qualitäten wie Opferbereitschaft und Verzicht“ bei gleichzeitiger Aussparung aller „brennenden sozialen Probleme“,51 was einem Autor wie Heyse als „Narkotisierung“ vorgeworfen wird. Elisabeth Ferber, Protagonistin aus Marlitts erstem Roman Goldelse, ist dagegen selbst Abkömmling einer Mesalliance zwischen ihrer adligen Mutter und ihrem bürgerlichen Vater, denn im Unterschied zu Botho legt Elisabeths Mutter auf ihre Herkunft nicht den geringsten Wert. Elisabeth zeichnet sich im Unterschied zu Lene nicht nur durch ‚weibliche‘, sondern auch durch ‚männliche‘ Tugenden wie Mut, Bildung und Selbstbewusstsein aus. Sie wird am Ende nicht deshalb glücklich, weil sie selbst mütterlicherseits adliger Abstammung ist, sondern dennoch. Im bürgerlichen Selbstverständnis der eigenen moralischen Überlegenheit und des Wissens um die Fragwürdigkeit adliger Privilegien in der modernen Welt weist sie die Änderung ihres bürgerlichen Standes und Namens zurück, die unstandesgemäße Verbindung ihrer Eltern gilt ihr gerade als Vorbild, Standesschranken zu überwinden. Der ererbte Adel, dessen Legitimität bei Fontane stets bestätigt wird, verliert diese in Marlitts Romankosmos. Die Liebe Elisabeths gilt „einem untadeligen Manne, der – leider – von Adel ist.“52 Er muss seine Integrität und seine inneren Werte beweisen, erst dann kann sich die Heldin verlieben. Der Märchenerwartung wird in diesem Roman also nur scheinbar weitergehend entsprochen als bei Fon-

51 So Michael Hetzner: Die Ästhetisierung der Welt, die Narkotisierung des Lesers. Zu einem (postmodernen) Grundmotiv in den Novellen Paul Heyses, in: Literatur für Leser 16 (1993) 4, S. 134-143, hier: S. 137. 52 Hans Arens: E. Marlitt. Eine kritische Würdigung, Trier 1994, S. 171.

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tane, sofern sich Elisabeth tatsächlich als blaublütig entpuppt; dies spielt aber für die Partnerwahl gerade keine Rolle, es wird als Kriterium ausdrücklich ausgeschlossen. Für Marlitt kann nur Liebe legitimieren, den Liebesroman ordnungsgemäß durch ein Happyend zu beschließen, ein resignatives Ende wie bei Fontane kommt für ihre Heldinnen nicht in Betracht. Auch bei Marlitt steht das Thema der Journalerzählung im Zentrum: die Irrungen und Wirrungen, die die Begegnung der Geschlechter auslöst. In ihren Texten wird die Brisanz der Geschlechterkonfrontation ebenfalls überlagert vom Standesunterschied, den Marlitt aber als Gegensatz von überholten Adelsprivilegien und „zunehmend akkreditierten Bürgerrechten“53 sehr viel zeitgemäßer beschreibt. Vor diesem Hintergrund müssen Liebesehen, anders als im 18. Jahrhundert, keine sozialen Schranken mehr sprengen, da diese eigentlich immer schon unter sozial Gleichrangigen geschlossen werden. Auch hieraus lässt sich der unspektakuläre Charakter der Beziehung zwischen Elisabeth Ferber und Rudolf von Walde, die gerade keine ‚Mesalliance‘ mehr sein will, erklären. Und während bei Fontane der Wert der Jungfräulichkeit „souverän dethematisiert“ wird,54 so bei Marlitt das Schema des weiblichen Prüfungsromans, die sexuelle Probe auf die weibliche Tugend: Elisabeth hat sich ausschließlich sozial zu bewähren, während sie die Nachstellungen und Belästigungen, denen sie während der Musikstunden durch den Sohn des Hauses ausgesetzt ist, nicht zu deuten weiß und diese mithin komplett ins Leere laufen lässt. Diese Parodie auf die Prüfung der Tugend korrespondiert mit der vollkommenen Asexualität des Marlittschen Œuvres, durch die die weiblichen Figuren nachhaltig aus der Fixierung auf die sexuelle Beziehung emanzipiert werden. Gerade diese Askese in Bezug auf Sexualität eröffnet angesichts der realen sexuellen Ausbeutung von Frauen aus der Unterschicht vor und bürgerlichen Frauen in der Ehe geradezu einen utopischen Raum,55 in dem Männer und Frauen als Freunde ihre Treue und Zuverlässigkeit bewähren müssen. Das frühaufklärerische Modell einer freundschaftlichen Beziehung der Geschlechter, in Zeiten des propagierten Geschlechterkampfes im ausgehenden 19. Jahrhundert schier unvorstellbar, geht denn auch der immer wieder inkriminierten Unterwerfung der weiblichen Figur unter den männlichen Helden voraus: Dieser muss sich die Frau buchstäblich erst verdienen, bevor sie – aus freien Stücken – ihr selbstständiges Leben aufgibt. „Neben dem An-

53 Elke Liebs: Wer hat Angst vor ‚Trivialliteratur‘? Eugenie Marlitts ruhige Revolution, in: Feministische Studien 2 (1984) 22, S. 167-179, hier: S. 174. 54 Helmstetter, Die Geburt des Realismus, S. 134. 55 Vgl. auch Liebs, Wer hat Angst vor ‚Trivialliteratur‘?, S. 171.

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spruch auf Selbstverwirklichung vor der Ehe erheben [Marlitts Heldinnen, M.G.] aber vor allem den Glücksanspruch in der Ehe.“56 Elisabeth Ferber ist nicht nur klug, wie Lene, sondern auch künstlerisch begabt. Während Fontane die Ungebildetheit Lenes ausstellt, um diese sogleich mit dem Attribut des Natürlichen zu versehen, tritt Marlitt auch dieser Zuschreibung entgegen. Naive Frauen gibt es bei ihr ebenso wenig wie dumme, schließlich stehen den jugendlichen Heldinnen fast immer kluge, männer- und kinderlose alte Tanten als Vorbilder zur Seite. Auch die Väter haben, wie in der Schwedischen Gräfin oder im Fräulein von Sternheim, ihren Anteil, dass die Heldinnen eine gute Ausbildung erhalten, die Eigenständigkeit, Selbstbewusstsein und potentiell immer ein von Männern unabhängiges Leben ermöglicht. Dabei schließen Bildungsdrang, künstlerische Ambitionen und Arbeitsethos einander gerade nicht aus, sondern ein. Auf dem Weg zum Glück, der immer auch eine Selbstfindung darstellt, müssen die jungen Heldinnen wie auch ihre männlichen Gegenspieler intensive Aufklärungsarbeit gegen eigene und fremde Vorurteile sowie gegen eigenen und fremden Aberglauben leisten, „ehe die Barrieren des Standes, des Dünkels, der intellektuellen Überheblichkeit oder auch der Dummheit und Unwissenheit bzw. einer unstatthaften Naivität ins Wanken geraten“.57 Deshalb erweist sich auch das zur Interpretation immer wieder bemühte ‚Aschenbrödel‘ als absolut unzureichend: Marlitts Protagonistinnen sind ihrem Schicksal nicht schutzlos ausgeliefert und nicht auf eine Rettung von außen angewiesen: In Goldelse rettet Elisabeth beherzt den geliebten Mann aus der Gefahr. Die (Er-)Lösung wird also nicht mehr, wie im klassischen Märchen, an den tapferen Mann delegiert, sondern sie wird zur Frauensache, denn „only strong-willed and resourceful heroines merit marriage to a worthy man“.58 Marlitts Attraktivität bestand und besteht in der Kombination von Märchen/romance und realistischem Roman zu einem geglückten weiblichen Bildungsroman, in dem weibliche Subjektivität völlig neu modelliert wird. Als Vertreterin einer ‚sentimentalen Moderne‘ führt sie im System der Massenmedien vor, dass die „Verbindung zwischen empfindsamer Gefühlskultur und intellektueller Selbstfindung“ gelingen kann, und zwar durch „spannungsgeladene, in hohem Maße unterhaltende wie

56 Hobohm, Geliebt, S. 266. 57 Liebs, Wer hat Angst vor ‚Trivialliteratur‘?, S. 174. 58 Todd Kontje: Marlitt’s World: Domestic Fiction in an Age of Empire, in: The German Quarterly 77 (2004) 1, S. 408-426, hier: S. 423. Kontje betont auch die deutliche Positionierung Marlitts gegen jede Form des Antisemitismus.

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emanzipatorische und von erzählerischer Verve getragene Literatur“.59 Marlitt ist so vollständig im massenmedialen Kommunikationsraum verankert, dass das Erscheinen ihrer Romane und Novellen selbst zum Ereignis wird, welches das Gebot der Neuheit erfüllt. „Her romances address questions of social class, gender roles, and religious difference that played a central role in German domestic politics at the time of its first unification.“60 Insofern sind ihre Romane – wie diejenigen ihrer weniger geschmähten Zeitgenossinnen George Sand, Charlotte Brontë oder George Eliot – Gesellschaftsromane im besten Sinne, in denen kontroverse gesellschaftspolitische Themen kritisch aufgenommen und streitbar beantwortet werden. Gemäß dem realistischen Paradigma der Verklärung findet die soziale Frage weder bei Marlitt noch bei Fontane oder Keller Eingang in den Textraum. Stets bleibt die Not ein individuelles Problem, das nur auf dieser Ebene auch lösbar erscheint. Alle drei bedienen in den periodischen Printmedien das Bedürfnis nach „informierender Unterhaltung“,61 alle drei sind – mehr oder weniger – populär. Auch stilistisch gibt es viele Gemeinsamkeiten, wie die präzisen Detailschilderungen, das erzählerische Ordnungsbedürfnis, die Verbindung von epischen mit dramatischen Elementen, die starken Dialoge, über die sich auch bei Marlitt die Figuren profilieren und die bei Fontane zum bestimmenden Prinzip werden. Nicht nur Marlitt „ loves to operate with antithetically juxtaposed characters who represent extremes of behaviour“,62 auch Keller nutzt die antithetische Gegenüberstellung der verkommenen Väter und der unschuldigen Kinder, um deren Tugend um so heller erstrahlen zu lassen. Während Keller die für den realistischen Text notwendige Fremdreferenz durch Beglaubigung seiner Erzählung aus „den Zeitungen“ sucht, ragen bei Fontane und Marlitt die Realitätseffekte in die Wirklichkeit hinein: Das Publikum liest auf, „was sich aus dieser geheimnisvollen, idealen Welt noch wirklich vorfindet, wirklich zutrug und wirklich erlebt ward“,63 und adressiert es an die Absender zurück, wenn Leserinnen Rosen vom wirklichen Grab der Spielersfrau an die Gartenlaube-Redaktion schicken oder Fontane Besuch von der ‚wirklichen‘ Lene Nimptsch bekommt. Darin besteht ein zentraler Impuls realistischer Unterhaltung: 59 Liebs, Wer hat Angst vor ‚Trivialliteratur‘?, S. 178. Diese Emphase wird auch von W. A. Coupe geteilt: „Many critics seem to have forgotten that the prime duty of a story-teller is to tell a good story. And this, whatever her faults, Marlitt does.“ Coupe, Eugenie Marlitt, S. 47. 60 Kontje, Marlitt’s World, S. 409. 61 Kampel, Fontane und die Gartenlaube, S. 498. 62 Coupe, Eugenie Marlitt, S. 45. 63 [Anonym], Marlitt, S. 410.

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„Außerdem darf in der Unterhaltung, gerade wenn die Geschichte als fiktiv erzählt wird, nicht schlechthin alles fiktiv sein. Der Leser/Zuschauer muß in die Lage versetzt werden, sehr schnell ein zur Erzählung passendes, auf sie zugeschnittenes Gedächtnis zu bilden; und das kann er nur, wenn ihm in den Bildern oder Texten genügend ihm bekannte Details mitgeliefert werden. […] Vom Leser/Zuschauer wird mithin geschultes (und doch nicht: bewußt gehandhabtes) Unterscheidungsvermögen verlangt.“ (RM 99)

Die Verwechslungsmöglichkeit bleibt aber nicht auf diejenige von fact und fiction beschränkt, sondern nutzt extensiv Erinnerungen kultureller Traditionen und Genres. Auch durch das Zitat aktiviert Unterhaltung Erfahrung. Für alle drei AutorInnen gilt demnach, dass durch die produktive Dekomposition und Rekombination von Schemata und Versatzstücken der gewählte Stoff neu im Sinne von ‚realistisch‘ interpretiert wird. Insofern muss das Spiel mit Intertextualität, das Fontane und Keller das Attribut ‚modern‘, Marlitt hingegen den Vorwurf des Konformismus einbrachte, in allen drei Fällen als selbstreflexives Moment gelten: Indem sich die AutorInnen bewährter kompositorischer Prinzipien bedienen, schaffen „sie sich einen akkreditierten Rahmen, innerhalb dessen mitunter erstaunliche Aufbrüche stattfinden“,64 ohne dass dabei die Funktion der Unterhaltung im System, die Erhaltung und Reproduktion der gesellschaftlichen Moral, beeinträchtigt würde.65 Wie die Gemeinsamkeiten, so lassen sich auch die Differenzen polemisch zuspitzen: Dem künstlichen happy end steht das künstliche bad end gegenüber, das bereits der sentimental-aufklärerische Roman Richardsons in seinen beiden Prototypen Pamela und Clarissa durchgespielt hat. Die Opposition von Freiheit und Determinismus offenbart sich selbst als trivial, wenn dem Glücksschema schlicht ein tragisches Schema gegenüber gestellt wird. Während Fontane den Status quo der standesgemäßen Ehe fixiert, dem individuelle Glücksansprüche geopfert werden müssen, und Keller vor allem die reine, unschuldige, absolute

64 Liebs, Wer hat Angst vor ‚Trivialliteratur‘?, S. 178. 65 Es gehört zu den vielen zeitgenössischen Kuriosa, dass ausgerechnet Fontane und Keller ihren Freund und Kollegen Heyse immer wieder zur moralischen Ordnung rufen und Konformität sowie Konstruktivität seiner Texte einfordern. Spies hat in seiner äußerst instruktiven Analyse der Briefwechsel gezeigt, dass die beiden in einer Manier, die sonst gerne der Gartenlaube-Redaktion zugeschrieben wird, gegen Heyses vorsichtige Grenzverschiebungen auf der geltenden Sitte und der Familie als ‚Keimzelle des Staates‘ beharren sowie die Rücksicht aufs Publikum einklagen, so dass es Heyse ist, der dagegen die Freiheit der Kunst verteidigen muss. Vgl. Spies, Ein bürgerlicher Großschriftsteller, S. 221-227.

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Liebe vor den bösen Blicken der Gesellschaft retten will, inszeniert Marlitt die utopische Erfüllung weiblicher Ansprüche: auf Bildung wie auf eine Liebesheirat. Vor diesem Hintergrund muss die Frage, welche Texte sich eigentlich ‚kritischer‘ verhalten, neu gestellt werden: diejenigen, die der Selbstinszenierung der bürgerlichen Gesellschaft als naturgegebene Ordnung folgen, die fatalistisch hingenommen werden muss, oder diejenigen, für die diese Ordnung ein Eingreifen gerade auch der weiblichen Individuen herausfordert und insofern Auswege bereithält, die das individuelle – weibliche (!) – Glück ermöglichen. Im Unterschied zu den sehr traditionellen weiblichen Gestalten bei Keller und Fontane besitzen Marlitts Frauenfiguren erhebliche Attraktivität für das weibliche Publikum, sofern sie nicht mehr vom Mann erlöst werden, sondern sich selbst erlösen. Damit bricht Marlitt auf höchst populäre – d.h. verständliche und zugängliche – Weise den mythischen Bann um das Frauenschicksal, der bei Fontane und Keller fixiert wird. Diese wichtige Umschrift hat aufgrund ihrer erwiesenen Breitenwirkung – „es heißt, kaum eine Frau habe damals nicht Marlitt gelesen“, von der Fontane-Leserin […] bis zur Arbeiterin“66 – nicht unwesentlich zum neuen Bild der Frau um 1900 beigetragen und wurde zum Gegenstand des gehässigsten und bösartigsten Spottes. Trotz dieser Übereinstimmungen, die in der gemeinsamen Verpflichtung der Massenkünste auf die Regeln des Massenmediensystems verankert sind, ist die Identifizierung der Signatur ‚Marlitt‘ mit trivialem Sentiment und Verfall der Literatur schon lange vor 1900 perfekt. Oskar Welten spricht bereits 1885 von den „männlichen und weiblichen Marlitts in modernem Kleid oder historischen Gewändern“, die „unseren Geschmack wie unseren litterarischen Markt beherrschen“,67 und der Kampf gegen die ‚Marlitteratur‘ wird zum Schlachtruf, durch den sich die literarische Moderne konstituiert.68 Von entscheidender Bedeutung für unseren Zusammenhang bleibt dagegen, dass das, was an Autoren wie Keller oder Fontane, aber auch an Storm, Raabe oder Meyer gerühmt wurde und wird – ihre Gabe zur detaillierten Beschreibung und zum mikroskopischen Blick – um die Jahrhundertwende aus literarhistorischer Sicht nicht nur einer weiblichen Position zugeordnet, sondern auch als Qualitäts66 Becker, Frauenlektüre, S. 163. 67 Oskar Welten: Unsere ästhetische Empfindlichkeit als Ausdruck des Verfalls unseres Geschmacks, in: Die Gesellschaft 1 (1885) 26, S. 492-495, hier: S. 493. 68 Der Terminus ‚Marlitteratur‘ stammt dabei ausgerechnet von Paul Heyse, der sich hier vergeblich durch Abgrenzung zu retten versucht; am Ende wird er neben Marlitt zum Hauptfeind der selbsternannten Modernen, an dem die neue Grenze exekutiert wird. Vgl. ausführlich Kap. VII.1.

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merkmal betrachtet wurde: „Vor den Männern haben die Schriftstellerinnen eines voraus, was ihnen gerade in der Gegenwart besonders zugute kommt: die schärfere Beobachtung des scheinbar Nebensächlichen, der kleinen Züge in der menschlichen Außen- und Innenwelt.“69 Dieser Tatbestand hat für Eduard Engel – wie vor ihm schon für Robert Prutz – im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen nichts Anstößiges und führt ihn deshalb konsequent zu einem bemerkenswerten Resümee, das vor allem vor dem Hintergrund der misogynen Attacken von Modernisten aller Couleur einigermaßen überrascht: „In den Schriftstellerkreisen weiß man, daß für die Erzählungskunst kein Rangunterschied mehr zwischen den schreibenden Männern und Frauen besteht, ja daß es jetzt einige Roman- und Novellendichterinnen gibt, denen kaum einer der männlichen Erzählungsmeister überlegen ist. Nachdrücklich muß auch dem Irrtum entgegengetreten werden, es ständen die Frauen in der Kunst des Stils oder in der Handhabung einer reinen Sprache hinter den Männern zurück, die doch meist studiert haben. Im Gegenteil, mit Ausnahme einiger Verfertigerinnen literarischer Handarbeiten, die noch nicht einmal erwähnt zu werden brauchen, schreiben unsere ernst zu nehmenden Erzählerinnen besser als die meisten Erzähler, unvergleichlich besser als sehr viele überlegen auf alle schreibenden Frauen hinabsehenden Männer der Wissenschaft.“70

69 Eduard Engel: Geschichte der Deutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart, Bd. II: Von Goethe bis in die Gegenwart, 2. Aufl. Leipzig, Wien 1907, S. 1086. 70 Ebd., S. 1085.

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3. Grotesker Realismus? Raabe „Über den Marktplatz zu schweifen, / Durch die Gassen zu streifen, / Licht aus Schatten zu greifen, Das ist Dichterberuf! –“1

Während Fontane um seine „Dichterbeweisführung vor anderen“ bemüht ist und Marlitt sich dieses Problem gar nicht erst stellt, baut Wilhelm Raabe die im Massenmediensystem ohnehin nur simulierte Aura des Dichterberufs in seinen Texten systematisch ab und bekennt sich auch privat zur „Trivialität des Daseins“ jenseits aller Dichterallüren. Er nimmt sein Schreiben wie Marlitt als Arbeit wahr, für die er entsprechend bezahlt werden will, feiert Dienstjubiläen und den Eintritt in den Ruhestand, als ginge er einem ganz gewöhnlichen bürgerlichen Beruf nach. Seine Polemik gegen die „Litteratur-Unsterblichkeitsansprüche“2 vieler Kollegen zieht ihre Energie aber nicht, wie bei Fontane, aus persönlichen Enttäuschungen, sondern aus dem Literaturverständnis Raabes, der höchst selbstreflexiv der Tatsache Rechnung trägt, dass Literatur, auch seine eigene, im System der Massenmedien generiert wird und Kategorien wie geniale Autorschaft, Werk und Originalität nur noch kompensatorische Funktion erfüllen. Raabe, der im Unterschied zu Fontane über keine nennenswerte Medienmacht verfügt, weil er durch die Tatsache, dass er weder als Kritiker noch im Literatenbriefwechsel gefragt ist, aus dem theoretischen Diskurs über Literatur praktisch heraus fällt,3 reflektiert sein Literaturverständnis deshalb fast ausschließlich in seinen belletristischen Texten: So, wenn sich der fingierte Chronist in der Chronik der Sperlingsgasse „wenig um den schriftstellerischen Kontrapunkt bekümmer[t]“ (BA 1, 15) oder wenn der Dichter in den Keltischen Knochen „leider Krautworst“ heißt und aus Hannover stammt; wenn der „Meister-Autor“ sich als „dilettierender Novellist“ entpuppt und auch

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Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke, Bd. 20, im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. v. Karl Hoppe, Göttingen 1969, S. 337 (im Text mit Sigle BA, Band- und Seitenzahl). BA E 3, 420, 449; zu Raabes Idiosynkrasie gegen die simulierte DichterAura vgl. Eckhardt Meyer-Krentler: Stopfkuchen – Ein Doppelgänger. Wilhelm Raabe erzählt Theodor Storm, in: JbRG 1987, S. 179-204. Vgl. hierzu auch den Brief an Edmund Sträter vom 24.3.1890, in dem Raabe in Bezug auf den Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Emil Kuh bemerkt, „zu welchem Narren ein trefflicher, würdiger, lieber Autor werden kann, wenn er brieflich von sich selbst redet. Man verhandelt eben nicht über ‚Pole Poppenspäler‘ wie über Faust und Hamlet.“ (BA E 2, 278) Vgl. Meyer-Krentler, Stopfkuchen, S. 189.

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Eberhard aus Pfisters Mühle sich als „Sonntags-Schriftsteller“ versteht oder wenn die ‚Helden‘ aus Der Lar nicht Gonzago oder Babtista heißen, sondern Blech und Kohl.4 Vor allem gegen den Genie- und Künstlerkult im Wilhelminischen Reich opponiert Raabe. Die Heroisierung der Klassik wird deshalb konsequent ironisiert5 und das Verhältnis von Original und Nachahmung neu figuriert: „das Genie macht die Fußtapfen, und das nachfolgende Talent tritt in dieselben hinein, tritt sie aber schief.“ (BA 12, 55) Als ‚Talent‘ jenseits von Genie und Dilettantismus bekennt sich Raabe zur Dichtung als Handwerk, das vor allem solide ausgeführt und seine beiden Zwecke – die Unterhaltung des zerstreuten Publikums und den Unterhalt des Berufsautors – garantieren muss. Eine Form, in der die Spuren des Originals ‚schief getreten‘ werden, bildet der digressive Erzählstil in der Tradition Sternes, Jean Pauls oder Heines, der auch Raabes groteskes Erzählspektakel Stopfkuchen charakterisiert. An diesem Roman soll im Folgenden exemplarisch die Verschränkung von Literatur in Massenmedien und Massenmedien in Literatur rekonstruiert werden.6 Vom Realismus unter dem Aspekt des Grotesken zu handeln, erscheint zunächst als contradictio in adjecto, insofern sich das realistische Programm – Wahrscheinlichkeit des Dargestellten, Wahrhaftigkeit der Figuren, Ordnung des Sozialen – nur schwer mit jenem Kalkül der Verzerrung und Entstellung verbinden lässt, welches das Groteske charakterisiert.7 Seine Spur, die seit der Renaissance die ‚klassische‘ Kunstentwicklung maßgeblich irritiert, bricht jedenfalls mit der Spätromantik

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Vgl. hierzu den instruktiven Aufsatz von Dieter Arendt: KünstlerFigurationen im Werk Wilhelm Raabes oder: „Er war überhaupt keine ausgesprochene Künstlernatur“, in: JbRG 1987, S. 46-83. Sehr hübsch in diesem Zusammenhang Rektor Fischarths Vision vom dichterischen Olymp ebenso wie der Vergleich zwischen ‚Schreib- und Hundwut‘ im Dräumling (vgl. auch ebd., S. 62f.). Zur folgenden Analyse vgl. bereits Manuela Günter: Mund-Art. Grotesker Realismus in Wilhelm Raabes „Stopfkuchen“, in: kultuRRevolution 48, 2 (2004), S. 11-19; Dies.: Raabes Stopfkuchen. Zum Verhältnis von Körpergedächtnis und Medien in der frühen Moderne, in: Bettina Bannasch / Günter Butzer (Hg.): Übung und Affekt. Formen des Körpergedächtnisses, Berlin, New York 2007, S. 99-119. Dagegen ist in anderen ‚Realismen‘ das Groteske fest verankert, man denke nur an Hugo, Balzac oder Flaubert, an Dickens oder Melville, an Gogol oder Gontscharow. Zumindest in Bezug auf die Figuren gibt es hierzu eine komparatistische Untersuchung. Vgl. Andrea Hochheimer: Groteske Figuren in der Prosa des 19. Jahrhunderts. Ihre ästhetischen und poetologischen Funktionen, München 1996.

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nicht ab, um dann in der Moderne wieder zu beginnen.8 Sie lässt sich vielmehr über Biedermeier und Vormärz in den Realismus hinein verfolgen.9 Entschärft wurde die groteske Irritation im 19. Jahrhundert von den Zeitgenossen wie von den Literarhistorikern durch deren Integration in das Konzept des Humors, der – im Unterschied zur zersetzenden (romantischen) Ironie – „das Unvernünftige vernünftig“ mache.10 Während das Groteske in der bekannten Definition Wolfgang Kaysers durch den Einbruch des Unheimlichen charakterisiert ist,11 betont Michail Bachtin mit dem Moment des Lachens dessen subversives und kreatives Potential.12 Es geht in Bachtins Version des Grotesken nicht wie bei Kayser um die Erzeugung einer entfremdeten, sondern einer ‚umgestülpten‘ Welt, die aber ebenfalls durch Ambivalenz charakterisiert ist: „Der Sinn, der sich nicht auf ein Zentrum zurückführen läßt, der exzentrische Sinn, verweist immer auf ein anderes, indem er Identität verweigert, schließt er Alterität ein.“13 Als Konzept der Überschreitung wird das Groteske bei Bachtin zu einer „Apotheose des Körpers“.14 Das groteske Körper-Drama steht dabei in starkem Kontrast zum abgeschlosse8

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Von einer Kontinuität geht auch Gerhart von Graevenitz aus, allerdings unter der Klammer der Allegorie. Vgl. ders.: Der Dicke im schlafenden Krieg. Zu einer Figur der europäischen Moderne bei Wilhelm Raabe, in: JbRG 1990, S. 1-21, hier: S. 18ff. Dagegen hat Christoph Zeller die Allegorie als typisches Merkmal für Raabes Erzählweise herausgestellt. Vgl. ders.: Allegorien des Erzählens. Wilhelm Raabes Jean-Paul-Lektüre, Stuttgart 1999. Angefangen bei Jeremias Gotthelf, Adalbert Stifter, Karl Immermann, Georg Büchner oder Eduard Mörike bis hin zu Otto Ludwig, Wilhelm Busch und auch Wilhelm Raabe. Vor allem in Bezug auf den scheinbar ganz unverdächtigen Gottfried Keller gibt es schon seit geraumer Zeit überzeugende Untersuchungen. Vgl. Lee B. Jennings: Gottfried Keller and the Grotesque, in: Monatshefte 50 (1958), S. 9-20, wiederabgedruckt in Otto F. Best (Hg.): Das Groteske in der Dichtung, Darmstadt 1989, S. 260-277, hier: S. 270 u. 276, Anm. 11; zu Keller vgl. auch Wolfgang Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken in Gottfried Kellers „Der Schmied seines Glückes“, Konstanz 1989. So Prutz schon 1839 in den Hallischen Jahrbüchern 2 (1839), Sp. 2379. Wolfgang Kayser: Das Groteske in Malerei und Dichtung, Reinbek 1960, bes. S. 82-94, hier: S. 86. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, aus dem Russischen u. mit einem Nachwort v. Alexander Kaempfe, Frankfurt/M. 1990, S. 28. Renate Lachmann: Vorwort, in: Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt/M. 1987, S. 7-46, hier: S. 34. Ebd., S. 9.

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nen und unvermischten, funktionalen Körper, der sich zur Heroisierung eignet. Eine bedeutungsvolle und sinnhaltige Entzifferung eines solchen Körpers erscheint unmöglich, weil seine ambivalente Konstitution die Vermittlung der Gegensätze ausschließt. Ein ‚Sinn‘ der Zeichen lässt sich von den grotesken Körpern nicht ablösen. Es sind vor allem diese unlesbaren Körper-Zeichen, in denen sich Oben und Unten, Heiliges und Profanes, Innen und Außen mischen. Von großer Bedeutung für den grotesken Effekt ist das Moment der „Erwartungsenttäuschung“, die jedoch nicht vollständig sein darf; sie muss vielmehr „Form im geformten Zustand ihrer Auflösung sein“.15 Damit wird der Welt erneuernde Aspekt des Grotesken aber auch als Affirmation eben dieser Welt interpretierbar, befindet es sich durch die „Produktion von Unentscheidbarkeit und Unbestimmbarkeit“ doch stets „zugleich diesseits und jenseits der Grenzen seiner kulturellen Formation“.16 Raabe markiert in seinem Roman Stopfkuchen17 eine solche grenzgängerische Körperpoetik, die mit Rabelais nicht beginnt und mit Kafka nicht endet. Während groteske Motive in vielen seiner Romane zitiert werden,18 lässt sich im Stopfkuchen das Text strukturierende Verfahren selbst als grotesk bezeichnen. Auf diese Weise treten mediale Entdifferenzierungsprozesse – von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wie auch von Zeitschrift und Buch, Information und Literatur – in den Blick. Es ist tatsächlich verblüffend, wie umfassend Raabes Roman, den der Autor für seinen besten hielt und den er zugleich als „eines der unverschämtesten Bücher“ bezeichnete, „die jemals geschrieben worden

15 Carl Pietzcker: Das Groteske, in: Otto F. Best (Hg.): Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1989, S. 85-102, hier: S. 88. 16 Peter Fuß: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 12f. 17 Wilhelm Raabe: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte, in: Sämtliche Werke, Bd. 18, im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. u. bearb. v. Karl Hoppe, 2. durchges. Aufl. Göttingen 1969, S. 5-207 (im Text mit Sigle S und Seitenzahl). 18 Zum Grotesken bei Raabe vgl. Son-Hyoung Kwon: Wilhelm Raabe als Schriftsteller des Grotesken. Zum Hochzeitsfest in „Christoph Pechlin“ und dem Plünderungsfest in „Die Akten des Vogelsangs“, in: JbRG 1999, S. 71-94. Dagegen beharrt der überwiegende Teil der Forschung im Anschluss an Wolfgang Kayser auf dem ‚Humoristen‘ Raabe und folgt damit dem Deutungsparadigma des ‚Realismus‘. So auch Maurice Haslé, der entgegen seines eindeutigen Befundes auch für Stopfkuchen eine humoristische Lektüre vorschlägt. Vgl. ders.: Der Verdauungspastor. MagenSprache und peristaltische Schreibweise in Raabes „Stopfkuchen“, in: JbRG 1996, S. 92-113, hier: S. 92.

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sind“,19 in Kategorien des Grotesken beobachtet werden kann. Das beginnt mit dem doppeldeutigen Titel, der auf etwas Essbares verweist und zugleich den Helden des Romans bezeichnet, setzt sich im merkwürdig zweigeteilten Untertitel einer See- und Mordgeschichte fort und wird in der Figurenkonstellation des gegensätzlichen Doppelgängers, der Profanierung in einer parodia sacra und vor allem auch in der hypertrophen Leiblichkeit des Titelhelden unterstrichen. Weder fehlt der subversive Effekt – die Umstülpung von Ordnung und die Verkehrung der Machtverhältnisse durch Schaumanns Eroberung der Roten Schanze und erfolgreiche Re-Formulierung der ‚Mordgeschichte‘ – noch auch die unheimliche Komponente, wenn ‚Frau Fama‘ das Medium wechselt.20 Doch der Nachweis des Grotesken kann nicht nur zur Bestätigung der ‚Modernität‘ des Romans führen. Vielmehr wird sich zeigen, dass die Reflexion auf die eigene Medialität wichtiger Bestandteil massenmedial generierter Literatur ist. Exzessiv spielt Raabes Roman mit der grotesken Tradition von „Literaturpersonen und -geschichten“ (S 139) und verwickelt das Publikum in ein literarisches Ratespiel, bei dem sich zeigt, wer außer dem Seegeschichten-Erzähler Eduard sich noch zu den Gebildeten zählen darf (vgl. S 196). Zugleich haben diese Allusionen substituierende Funktion, indem sie den Fortgang der Erzählung durch die Anspielung auf eine andere Erzählung einfach ersetzen. So tritt an die Stelle einer ausführlichen Schilderung der Hochzeit zwischen Schaumann und Tine, die nach der umständlichen Eroberungsgeschichte eigentlich den krönenden Triumph darstellen müsste, das Fest des Camacho aus Don Quichotte. Der überaus weitschweifigen Narration des Mordgeschichten-Erzählers Stopfkuchen wird damit fast unmerklich eine andere zur Seite gestellt, die fast ausschließlich über solche radikalen Abbreviaturen agiert. Noch der Akt des Essens selbst, der im Zentrum der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Groteske steht, wird aufs Zitat reduziert: als Verweis auf das Kochbuch der Henriette Davidis und natürlich auf Rabelais, dessen Romantitel vom riesigen Mund (Gargantua) und vom grausamen Magen (Pantagruel) als Motto des Stopfkuchen gelten kann. Schließlich erweist sich auch die Verdoppelung der Erzählfigur als Zitat, wird doch im dicken Stopfku-

19 Karl Hoppe: Kommentar zu Stopfkuchen, in: Wilhelm Raabe, Sämtliche Werke, Bd. 18, S. 419-463, hier: S. 432. 20 „Daher rührt auch das Unheimliche des Gerüchts: Seine Erzählung findet in sich selbst ihren Halt und berichtet zugleich von einem anderen.“ HansJoachim Neubauer: Fama. Eine Geschichte des Gerüchts, Berlin 1998, S. 15.

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chen und im dürren Eduard die mittelalterliche Opposition von Karneval und Fasten aufgerufen.21 Neben der grotesken Romantradition finden sich vielfältige Anspielungen sowohl auf die kanonisierten Klassiker – etwa durch das Namenszitat ‚Eduard‘ aus Goethes Wahlverwandtschaften – wie auch auf die zeitgenössische Unterhaltungsliteratur: auf August Platens Lustspiel Die verhängnisvolle Gabel, Karl Immermanns Münchhausen, die Märchen Andersens und der Gebrüder Grimm, und nicht zuletzt auf die eigenen Romane.22 Dieses Spiel mit Allusionen und Zitaten macht aus dem Roman-Körper gleichfalls einen ‚Stopfkuchen‘,23 in den auch vieles von dem ‚gestopft‘ wurde, was am Ende eines Jahrhunderts massenmedialer Produktion und Verbreitung von Literatur ihre Formen bestimmt – von der Kriminal- zur Kolonialgeschichte, vom historischen zum Familienroman –, bis am Ende auch der realistische Roman, wie der Protagonist, „als Form im geformten Zustand [seiner] Auflösung“ erscheint.24 Das Groteske wird durch dieses Textverfahren gleichsam von der motivischen auf die strukturelle Ebene verschoben, der Roman-Körper gerät zum unförmigen und hybriden Monstrum, dessen Inhalte bereits selbst zu 21 Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 53; Graevenitz, Der Dicke. 22 So schreibt Eduard sein ‚Logbuch‘ an Bord der „Leonhard Hagebucher“ und zitiert damit aus dem Afrika-Roman Abu Telfan, und der polyphage Titelheld mit seinem priesterlichen Gebaren kann durchaus als selbstironischer Kommentar zum Hungerpastor gelesen werden. Vgl. Johannes Graf/Gunnar Kwisinski: Heinrich Schaumann, ein Lügenbaron? Zur Erzählstruktur in Raabes „Stopfkuchen“, in: JbRG 1992, S. 194-213. 23 Die Semantik von ‚Stopfkuchen‘, ursprünglich das Reststück des Teigs, in den übrig gebliebene Rosinen, Butter usw. ‚gestopft‘ wurden, wird im Roman in alle Richtungen strapaziert. Als Schimpfname für eine Person, in die etwas eingefüllt wird und die selbst Essen und Tränen in sich hineinstopft, ebenso wie für eine, die anderen ihre Geschichten aufpfropft. 24 Horst Denkler hat die enorme Variationsbreite der Zitatpraxis im Werk Raabes zusammengefasst: „Neben verdeckten Übernahmen und Motivvariationen finden sich ausgewiesene Zitate als rhetorischer Schmuck, in Kommentarfunktion, als Beschreibungshilfe, zur Stimmungsanzeige, als Argumentationsstütze, für Kontrastzwecke, als Mittel zur Horizonterweiterung, im Dienste der Leseraktivierung usw. Außerdem werden große und kleine Schriftsteller der Vergangenheit als Beispiel, Muster, Vorbild, Freund, Tröster, Zeuge, Parteigänger, Eideshelfer, Retter, Führer, Erlöser, aber auch als Gegenpol, Negativfigur, Antiheld herbeigerufen, teilen die Figuren mit anderen Autoren das gleiche Inspirationserlebnis und lesen, kennen, sprechen, notieren sie deren Texte, die Raabe für sie aufgeschrieben hat.“ Horst Denkler: Wilhelm Raabe. Legende – Leben – Literatur, Tübingen 1989, S. 189.

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Sprichwörtern und Redensarten geronnen und in dieser Form jederzeit und willkürlich abrufbar sind. „Indem wir einen Ausdruck zitieren, gebrauchen wir ihn nicht, sondern wir erwähnen ihn.“25 Diese Verweisfunktion impliziert, dass die Zitate keine tiefenstrukturelle Semantik im Sinne eines interpretationsbedürftigen Kontextes entfalten, sondern dass sie – neben der Zurschaustellung von ‚Bildung‘ – vor allem dazu dienen, den Erzählfluss in Gang zu halten. Von einem „Gattungszitat“ lässt sich zwar im Fall Stopfkuchen nicht sprechen, weil das Groteske der abgeschlossenen Kontur einer Gattung entbehrt. Die Verweise auf Rabelais, dessen opus magnum als prototypische Verwirklichung des grotesken Romans gilt, können aber allemal als ‚Formzitate‘ gelesen werden, deren kritischen Impuls Peter Kuon festgehalten hat: „Im Zitat werden die gedanklichen Voraussetzungen einer Gattung aufgedeckt, die Schwachstellen des Gattungssystems bloßgelegt, strukturelle und funktionale Veränderungen benannt und mögliche Problemlösungen und Entwicklungstendenzen vorweggenommen.“26 Das bedeutet, dass der realistische Roman hier die Probe aufs Exempel macht und seine immer schon bedrohten Außenseiten – die groteske Verkehrung als Außenseite der realistischen Darstellung und der populäre Unterhaltungsroman als Außenseite des realistischen Romans – in die eigene Konstruktion integriert. Der Roman-Körper verdaut Literatur, wie Stopfkuchen Geschichte(n): Mit großem Appetit vertilgt dieser neben prähistorischen Funden die ‚historischen Schinken‘ des alten Schwartner [sic!] über den Siebenjährigen Krieg zusammen mit den Lebensgeschichten Tines und Eduards und den kulinarischen Schätzen der Roten Schanze. Sein Stoffe wechselndes Erzählen setzt buchstäblich körperliche Energie frei, die er direkt in Bewegung transformiert – am Ende des Tages wandert der vorher fast Unbewegliche mit Eduard ins Dorf. Offenbar geht es also weniger um den „Zusammenhang von Eßakt und Zeichenbildung“27 als um dessen krude Materialität, sofern den Verdauungsorganen die Funktion zukommt, Körper und Welt miteinander zu verbinden. „Sie machen deren Substanzen zur Innenwelt unseres Körpers. Im Prozeß der Verdauung 25 Andreas Böhn: Formzitate, Gattungsparodien, ironische Formverwendung im Medienvergleich, in: Ders. (Hg.), Formzitate, Gattungsparodien, ironische Formverwendung. Gattungsformen jenseits von Gattungsgrenzen, St. Ingbert 1999, S. 7-57, hier: S. 12. 26 Peter Kuon: Gattung als Zitat. Das Paradigma der literarischen Utopie, in: Christian Wagenknecht (Hg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1986, S. 309-325, hier: S. 321. 27 Gerhard Neumann: Das Essen und die Literatur, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 12 (1982), S. 173-190, hier: S. 174.

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werden diese in körpereigene Substanzen und in Energie umgewandelt. Der Rest wird ausgeschieden.“28 Es findet also somatisch wie narrativ ein Stoff-Wechsel statt, wobei sich das, was einverleibt wird, fundamental von dem unterscheidet, was entäußert wird. Ausgangspunkt für diesen Austausch mit der Welt ist der Mund, wo sich eben nicht nur Nahrungsbedürfnis und Libido im Oraltrieb treffen, sondern wo auch das Erzählen seinen anatomischen Ort hat. Der grotesken Leiblichkeit des dicken und faulen, des gefräßigen und geschwätzigen Protagonisten Heinrich Schaumann, dessen Umfang „von Augenblick zu Augenblick mehr über jeglichen Rahmen hinaus [schwoll]“ (S 157), steht die nicht minder groteske Körperlosigkeit des Antagonisten Eduard gegenüber. Während das Lebensmotto des einen – „Friß es aus und friß dich durch“ (S 114) – den Magen als zentrales Erkenntnismedium ausweist, der im „behaglichsten Moment des Verdauungsprozesses“ (S 79) Geschichten buchstäblich ausscheidet,29 bleiben diese für den flüchtenden Eduard unverdaulich. Er vermag sie nur zu aufzuschreiben, sofern er sich der Speise enthält, sein Zustand während der Niederschrift auf hoher See ist einer der Indigestion (vgl. S 73). Das Verhältnis Stopfkuchens zu Eduard wird mehrfach als eines wechselseitiger Inkorporation beschrieben. Auf den ersten Blick ist es der mündliche Erzähler Stopfkuchen, der sich der Geschichte Eduards bemächtigt und diese in einer Weise reformuliert, dass sie für Eduard unkenntlich und unheimlich wird,30 wobei deren ‚Wahrheit‘ unüberseh-

28 Christoph Wulf: Magen. Libido und Communitas – Gastrolatrie und Askese, in: Claudia Benthien/Ders. (Hg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbek 2001, S. 193-207, hier: S. 196. 29 Diese Ausscheidungen verlaufen nicht nur über den Magen, sondern auch über die Haut, dasjenige Organ, an dem Körper und Welt sich berühren: „Doch ich schweife ab – der warme Tag öffnet einem so angenehm alle Poren des Leibes und der Seele.“ (S 121) 30 Gegen die Interpretation des Protagonisten als moderner Künstler-Detektiv (vgl. Ulf Eisele: Der Dichter und sein Detektiv. Raabes „Stopfkuchen“ und die Frage des Realismus, Tübingen 1979) wurden in jüngster Zeit ernsthafte Bedenken angemeldet und Indizien dafür gesammelt, dass Schaumann seine Geschichte von Störzers Täterschaft schlicht erfindet und dass er mithin nicht als Nachfahre Sherlock Holmes’ gelten könne, wohl aber als Nachkomme Baron Münchhausens. Darauf verweist nicht zuletzt die Anrede Tines als Emerentia, diejenige Figur, die in Immermanns Roman mit großer Hingabe Münchhausens fantastische Geschichten anhört. Vgl. Graf/ Kwisinski, Heinrich Schaumann, S. 207.

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bar selbst als Effekt gewalttätigen Erzählens inszeniert wird.31 Stopfkuchens Narration setzt körperliche Realitäten in die Welt, die von den Körpern der anderen Besitz ergreifen: „So wahrscheinlich bald nach Mitternacht hatte ich mich ganz in des Dicken Stelle, das heißt seine Haut versetzt, das heißt war in dieselbe hineinversetzt worden.“ (S 197) Doch das ist nur die eine Seite. Schließlich schreibt Eduard die von Stopfkuchen mündlich erzählte Geschichte und müsste damit im Grunde die Macht über die Erzählung erlangen. Auch dieser Prozess wird als Anverwandlung im Sinn einer Einverleibung behauptet und die geschriebene Geschichte als ein „längst vergessener und verdaueter Schinken, und wenn auch in Burgunder“ (S 59f.) bezeichnet. Die Übernahme der Verdauungsmetapher für die Erzählung Eduards insinuiert, dass dieser entgegen aller „wohltätigen Gewalttaten“ Stopfkuchens doch seine eigene, zu Beginn des Romans bereits resümierte Version in die Fremde hinüberretten kann. Die Möglichkeit einer schriftlichen Rettung der eigenen Erinnerung vor dem alles verschlingenden mündlichen Erzähler wird durch den Medienwechsel noch unterstützt, denn Eduard ist ja keineswegs Stopfkuchens „Phonograph“, der blind aufschreibt, was ihm dieser erzählt. Wenn er in seiner Niederschrift scheinbar keinen gedanklichen Abstand zu Stopfkuchens Erzählung gewinnt, so könnte dies auch als Distanz interpretiert werden, die sich in der souveränen Übertragung vom Mündlichen ins Schriftliche dokumentiert. Im Übergang von der „fließenden Rede“ Stopfkuchens zum „gefrorenen Text“32 Eduards würde der Angriff auf die „idyllische Rustizität und kleinbürgerliche Enge“ (S 207) pariert, so dass die Idylle am Ende doch nicht als schriftliches Fossil in den Pitaval, sondern als Beute nach Afrika gebracht würde. In diesem Zusammenhang wären auch die Essens-, Verdauungs- und Ausscheidungsmetaphern zu funktionalisieren, denn diese „überbrücken die kategorialen Gegensätze medialer Systeme“.33 Über Essens- und Verdauungsmetaphern wird in Raabes Roman sowohl der erzählerische Stoffwechsel Stopfkuchens als auch der wiederum einen Stoffwechsel mit sich bringende Medienwechsel von Mündlichkeit in Schriftlichkeit durch Eduard vermittelt, ohne dass aber die schriftliche Form den Sieg davontrüge. Zwar suggeriert der Rahmen, in dem Eduard scheinbar sou31 Vgl. Claudia Liebrand: Wohltätige Gewalttaten? Zu einem Paradigma in Raabes „Stopfkuchen“, in: JbRG 1999, S. 84-102, hier: S. 92. 32 Vgl. Kelber, The Oral and the Written Gospel, S. 44. 33 Horst Wenzel: Die ‚fließende‘ Rede und der ‚gefrorene‘ Text. Metaphern der Medialität, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1997, S. 481503, hier: S. 500.

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verän agiert, die gewohnte Erzählhierarchie, doch diese erweist sich auf den zweiten Blick als Schein, denn seine Version lässt nicht die geringsten Spuren einer Übertragung, etwa durch Überführung der Erzählerrede in die dritte Person, erkennen. Die spatiale und temporale Distanzierung des Erzählvorgangs, die durch Eduards Flucht und die mehrwöchige Seereise behauptet wird, ist im Text nicht umgesetzt. Vielmehr erfüllt die Erzählung fast alle Merkmale des skaz: ein Ich-Erzähler, der die Adressaten seiner Erzählung direkt anspricht, die Verwendung des Präsens als Nulltempus der Erzählerrede, die allokutionalen Merkmale der Vokativ-, Interrogativ- und Imperativkonstruktionen, die Pseudodialoge, die die Erzählung in Gang halten, die Expressivität des Sprechakts, der durch Ausrufe, rhetorische Fragen, Unterbrechungen, Kommentare und vor allem durch Digressionen und Wiederholungen charakterisiert ist, und nicht zuletzt die semantischen Merkmale eines deutlich subjektiven Urteils des Erzählers über die Welt.34 Als „mitteilender Monolog narrativen Typs“35 scheint Stopfkuchens Rede mit dem Begriff des skaz exakt beschrieben zu sein. Denn das Bemerkenswerte besteht nach Vinogradov eben darin, dass diese Form simulierter Mündlichkeit in Intonation, Lexik und Syntax oft an der Schriftsprache orientiert ist, dass viele ihrer Formen sekundären Ursprungs sind. Der Effekt des skaz als perfekte (schriftliche) Simulation mündlicher Rede besteht darin, die Differenz von mündlicher und schriftlicher Erzählung zu verbergen, womit aber auch die Suprematie der einen über die andere unkenntlich wird. Diese Grenzverwischung lässt sich in Raabes Roman vor allem an den wenigen, deutlich typographisch markierten Bruchstellen zeigen, in denen See- und Mordgeschichte sich kurzfristig trennen, um dann ganz unmerklich wieder miteinander zu verschmelzen. Stopfkuchen kann sich mit der gewaltigen Wucht seiner endlosen Rede zwar der Lebensgeschichte Eduards bemächtigen, doch er vermag diese eben gerade nicht für sich zu behalten. Und Eduard bekommt seine eigene Geschichte zwar für eine schriftliche Version zurück, bleibt darin aber voll und ganz den Ausscheidungen Stopfkuchens verpflichtet. Während der eine alles hineingefressen, aber kaum je etwas ausgeschieden hat, darüber fett geworden ist und am Ende in einer monströsen Logorrhöe alles auf einmal von sich geben muss, weiß Eduard die Macht, die in

34 Vgl. Viktor Vinogradov: Das Problem des Skaz in der Stilistik [1925], in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und der Theorie der Prosa, München 1969, S. 170-207, hier: S. 170ff. 35 Ebd., S. 185.

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der Verschriftung im Sinne einer gelungenen Verdauung besteht, in keiner Weise zu nutzen, sein Text bleibt der mündlichen Erzählung hörig. Die Auffassung, dass Eduard im Sinne einer diätetischen Verarbeitung auf Kosten Schaumanns das letzte Wort behält, lässt sich am Text nicht belegen.36 Fast ununterscheidbar und doch unversöhnlich bleiben die beiden Fassungen der Erzählung stehen, aber nicht neben-, sondern ineinander, so dass Stopfkuchen bis zum Ende rücksichtslos weitschweifig in seiner „Schöne-Geschichten-Erzählungsweise“ (S 183) verharrt, während Eduard diese aufzeichnet, aber in dem unerschütterlichen Bewusstsein, damit seine eigene Version des Geschehens zu erfinden: „Schön Wetter auf See! Wie hätte ich mein Garn aber auch so fortspinnen dürfen, wie es eben geschehen ist, wenn dem nicht so gewesen wäre?“ (S 113) Entsprechend der grotesken Romanstruktur setzt sich die Ambivalenz vom ungelösten Problem mündliche/schriftliche Erzählung bis in die doppelte Genrebezeichnung hinein fort. Letztlich erzählt Raabe weder eine Seenoch eine Mordgeschichte. Die Erwartung eines Kolonialromans, der sich vor allem auch im Publikationsorgan des Stopfkuchen, in der Deutschen Roman-Zeitung, großer Beliebtheit erfreute,37 wird ebenso desavouiert wie diejenige der Kriminalgeschichte, die in Stopfkuchens Version zum Fake gerät. Aus Afrika erfahren wir nichts (S 72), und die Aufklärung eines Mordes wird uns auch nur versprochen. Die Verklammerung der beiden populären Genres im symmetrischen Untertitel bewirkt aber „eine unaufhörliche semantische Kippbewegung oder Semiose: Semantisierung innerhalb der einen Logik bewirkt Desemantisierung in der anderen und umgekehrt.“38

36 Von einer diätetischen Verarbeitung der mündlichen Erzählung durch die schriftliche und damit von einer Entscheidung der Ambivalenz geht dagegen Claus-Michael Ort aus. Vgl. ders.: ‚Stoffwechsel‘ und ‚Druckausgleich‘. Raabes „Stopfkuchen“ und die ‚Diätetik‘ des Erzählens im späten Realismus, in: JbRG 2003, S. 21-43, hier: S. 27. 37 Der Roman entstand zwischen 1888 und 1890; Erstdruck in: Deutsche Roman-Zeitung (Berlin), 28 (1891), Nr. 1-6. Hier erschienen u.a. die äußerst populären Kolonial- und Abenteuerromane Frieda von Bülows und Karl Mays. Zur Lektüre des Romans als Travestie auf die populären Kriminalund Kolonialgeschichten vgl. ausführlich Wolfgang Struck: See- und Mordgeschichten. Zur Konstruktion exotischer Räume in realistischen Erzähltexten, in: JbRG 1999, S. 60-70. 38 Susi Kotzinger: Arabeske – Groteske: Versuch einer Differenzierung, in: Dies./Gabriele Rippl (Hg.), Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, Konferenz des Konstanzer Graduiertenkollegs „Theorie der Literatur“, veran-

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Nur an den Schnittstellen wird die ‚Zweistimmigkeit‘ der Erzählung offenkundig.39 Dabei ist der ‚Kampf‘ zwischen Eduard und Stopfkuchen auch einer um die ‚wahre‘ Version der Geschichte, wobei Wahrheit deutlich als Effekt einer rhetorischen Inszenierung ausgestellt wird. Doch diese ‚Wahrheit‘ bleibt auf der Kippe, sie ist der Erzählung nicht zu entnehmen. Zur kompetenten Beurteilung der Frage Schaumanns, „ob du deine, seine oder meine Geschichte für die wichtigere hältst“, ist Eduard nicht fähig, seinen Kopf vermag er nicht „aus der Geschichte zu ziehen“ (S 200). Die Konkurrenz der beiden Erzähler und damit die Medienkonkurrenz bleiben unentschieden, die Kippbewegung erhält die Ambivalenz aufrecht und setzt eine Entscheidung aus. In der ambivalenten Doppelrede behaupten sich beide Versionen, zugleich heben sie sich wechselseitig auf. Wer genau die Geschichte erzählt, bleibt so verborgen, wie Anfang und Ende in den unmöglichen Figuren M. C. Eschers. Statt von einem diätetischen Modell sollte deshalb von einem Erzählexperiment ausgegangen werden, das in seiner zyklischen Offenheit die Ursprungslosigkeit von Erzählung einzuholen versucht. Bevor nämlich Eduard Stopfkuchen erzählen, also den Anfang des Romans schreiben kann, hat Stopfkuchen bereits Eduard erzählt und ihn in dieser Erzählung seiner Macht beraubt – das Ende setzt den Anfang immer schon voraus. Am Ende „verduftet“ der eine, während der andere als Pünktchen am Horizont verschwindet. Die Schrift hat keine Macht der Verarbeitung, sie bleibt „bloßer Chorus in der Tragödie“, während der SchöneGeschichten-Erzähler Stopfkuchen, als Regisseur erscheint und es gönnerhaft dem Freund überlassen kann, „so viele Begleitstrophen und Begleitgegenstrophen zu der Geschichte [zu singen]“, wie er wolle (S 167). Auch die Rahmenerzählung markiert keinen orientierenden Einstieg, sondern den Ausstieg des Erzählers aus seiner Geschichte. Der Name Eduard ist nur noch literarische Reminiszenz und eignet sich nicht zur Autorschaft. Wie die schreibenden Frauen der ‚Goethezeit‘ verfügt er nur über einen Vornamen: „Eduard nanntest du, freilich vor Jahren, einen Freund, wenn er auch kein junger Baron war“ (S 53), wie umgekehrt der Rufname Stopfkuchen eine Erfindung Eduards ist. Der Schiffsboden als Ort der „ungewohnten Federarbeit“ (S 8) schwankt, die Schrift entstellt sich zum ‚Kajüten-Gekritzel‘ (S 8) und die mündlichen Quellen – Schaumann ebenso wie Störzer – erweisen sich als absolut unzuverlässig, eine nachträgliche Autorisierung durch souveräne Aneignung der fremden Erzählungen bleibt aus. Von Werkherrschaft kann bei Eduard keine

staltet im Oktober 1992, Amsterdam, Atlanta 1994, S. 219-228, hier: S. 221. 39 Vgl. S 3, 101, 118, 145, 162.

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Rede sein, sein ‚Logbuch‘ ist zur orientierenden Navigation gänzlich ungeeignet; es richtet sich ausdrücklich nicht an ein Publikum, sondern wird zur „reinen Privatsache“ deklariert (S 207, 8); Eduards Schreiben bleibt „ohne besondre Berechtigung“. Dies gilt aber auch für Stopfkuchens Erzählung, sofern auf sie sämtliche Bestimmungen zutreffen, die die Klatschrede charakterisieren: „Kumulation von Repetition und Information“,40 Einheit von Botschaft und Akt, gezielte Adressierung an eine bestimmte soziale Gruppe sowie die triadische Figuration von Produzent, Objekt und Rezipient, bei der das Objekt immer abwesend ist und alle drei im Verhältnis wechselseitiger Bekanntschaft stehen.41 „Geklatscht wird – lege artis – nur über Freunde und Bekannte und nur mit Freunden und Bekannten“,42 und die Mitwisserschaft schlingt ein egalitäres Band um die Akteure, sofern der Klatschrezipient immer schon potentieller Klatschproduzent ist. Auch das spätere Klatschobjekt Störzer (das das Klatschobjekt Quakatz aus seiner dominanten Position verdrängt) trägt wenigstens mittelbar zum Klatsch bei, indem es in seiner Funktion als Postbote und Zeitungsausträger diesen zirkulieren lässt. Der Klatschproduzent Stopfkuchen muss einerseits dafür sorgen, dass der Klatsch nicht auf ihn selbst zurückschlägt, und zum anderen, dass er von der nur ihm zur Verfügung stehenden intimen Information über Störzer möglichst lange verfügt, denn je schneller und freizügiger er sein privilegiertes Wissen weitergibt, „um so rascher verliert es auch seinen Wert“.43 Die Weitschweifigkeit und die Vorsicht, mit der Stopfkuchen bei seiner Geschichte zu Werke geht, verdanken sich also den Gesetzen einer genuin weiblich codierten Kommunikationsform, die wie Eduards Schreiben ohne Legitimation, deren Wirksamkeit aber unvergleichlich viel größer ist. Die Erkenntnis, dass sich die beiden Erzähler „nicht nur wechselseitig als solche, sondern ebenso – und zwar wechselseitig – als ‚Helden‘ im narratologischen Sinn zur Verfügung stehen“,44 korrespondiert mit derjenigen der grundlegenden Medialität des Erzählens, bei dem der Bezug 40 Otto F. Best: Der Dialog, in: Klaus Weißengerber (Hg.), Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa, Tübingen 1985, S. 89-104, hier: S. 103. 41 Jörg Bergmann: Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion, Berlin, New York 1987, S. 61ff. 42 Ebd., S. 96. 43 Ebd., S. 79; zur Herleitung aus gossip, commère usw. vgl. ebd., S. 75ff., zum Waschplatz als symbolisierungsfähiger Entstehungsort vgl. ebd., S. 86f. 44 Brigitte Dörrlamm: Gasthäuser und Gerüchte. Zu integrativer Polyphonie im Werk Wilhelm Raabes, Frankfurt/M. u.a. 2003, S. 160.

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auf den Rezipienten stets deutlich betont wird. Die verschiedenen Erzählstimmen – vor allem Eduard und Stopfkuchen, aber auch Störzer – berichten immer nur, was andere ihnen erzählt haben: Störzer zeigt sich als begeisterter Leser Le Vaillants, Eduard ist enthusiastischer Verehrer Störzers und zugleich gequältes Opfer der Erzählrede Stopfkuchens, während dieser wiederum Störzers Geschichte anhört. Zugleich erscheint Medialität in der narrativen Metalepse grotesk entstellt: Stopfkuchen erzählt Eduards Lebensgeschichte, die vor der mündlichen Wiedergabe aber schon aufgeschrieben ist, ohne dass der Schreiber das, was er geschrieben hat, bereits wissen kann, weil ihm dieses im Laufe dessen, was er schreiben soll, erst erzählt werden muss. Die symbolische Ortlosigkeit und zyklische Offenheit dieser mise en abyme korreliert der prinzipiell offenen und diffusen Kommunikationsstruktur des Gerüchts, das gleichfalls Anfang und Ende des Romans markiert.45 Schaumann, Tine und Quakatz sind am Beginn des Romans vereint als Objekte von Klatsch und Gerüchten, während Störzer und mit ihm Eduard als Boten von Gerichtspost und Zeitungen wesentlich dazu beitragen, dass die Gerüchte um die Rote Schanze nicht verstummen. Doch während Eduard Stopfkuchens Geschichte – ebenso wie Störzer die unterhaltenden Reiseberichte Le Vaillants aus dem Inneren Afrikas – nur wiederholend kolportiert, kommuniziert Stopfkuchen als „Poet ersten Ranges“ (S 117) eine höchst originelle, geradezu märchenhafte Neuigkeit46 und erweist damit die universelle Benutzbarkeit der Gerüchtestruktur: Weil jeder es gewesen sein kann, kommt eben auch der Briefträger in Frage, obwohl dieser eingestandenermaßen über den Tod Kienbaums gar nichts Bestimmtes zu sagen vermag, weil er diesem gar nicht beigewohnt hat. Störzers angebliches Geständnis (vgl. S 186) des angeblichen Mordes wird von Schaumann in der Schlüssellochperspektive dargeboten. Durch die mimetische Darstellung in erlebter Rede und den Verzicht auf Inquitformeln erreicht er den höchst dramatischen Effekt eines intimen Geständnisses, bei dem Stopfkuchen jedoch die Regie führt.47 Ein ähnlich kunstvolles Arrangement bietet Stopfkuchen mit der Auflösung der Mordgeschichte im Gasthaus „Brummersumm“, das als Nachrichtenbörse und Gerüchteküche auch onomatopoetisch den Ausgangspunkt nicht nur für die schriftliche, sondern auch für die mündliche

45 Vgl. ebd., S. 145. 46 Dass Stopfkuchen ‚Märchen‘ erzählt, wird vor allem in der literarischen Genealogie deutlich, in die er sich selbst einstellt: neben Daniel Defoe und Ferdinand Freiligrath die Gebrüder Grimm und Hans Christian Andersen. (S 117) 47 Vgl. dazu auch Dörrlamm, Gasthäuser und Gerüchte, S. 150f.

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Verbreitung darstellt und wie die Periodika Anfangs- und Endpunkt des Romans markiert. „‚Da bin ich doch neugierig!‘ sagte der ganze Brummersumm“, (S 14) wo Eduard seit seiner Kindheit Stammgast ist (S 12) und gleich nach seiner Ankunft einkehrt. Auch die Auflösung findet an diesem Ort statt, wo Schaumann in Gestalt der Bedienung Meta gezielt ‚Publikum‘ einbezieht und dieses auffordert, „die Ohren und nachher den Schnabel“ weit aufzusperren (S 182).48 Auffällig häufig und dezidiert versichert sich Schaumann in der Folge der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner Zuhörerin, die er auserkoren hat, seine Geschichte zu verbreiten. Diese Erweiterung seiner Zuhörerschaft garantiert, dass der Klatsch, der stets nur für eine begrenzte Gruppe Relevanz besitzt, zum unkontrollierbaren und anonymen Gerücht wird. Indem er seine ‚wilde‘ Erzählung der Kellnerin überantwortet, setzt er „eine fortlaufende Kette solcher gleichsam durch elektrische Reizung miteinander verbundener Ringe von Gesprächen dieser Art“ in Gang.49 „‚O Gott, o Gott, Herr Schaumann, aber ich habe ja alles mit angehört! Ist es denn möglich? Und die Herren da drinnen! Darf es denn jetzt jeder wissen? Darf auch ich jetzt alles den Herren heute abend sagen?‘ ‚Alles mein Kind.‘“ (S 194) Der Mechanismus des Gerüchts als Hören-Sagen, das in der Abbreviatur ‚Kienbaum‘ die gesamte Erzählung durchzieht und als anonymes, kollektives Phänomen ohne Urheber zur Darstellung gelangt, wird im Roman präzise reflektiert, indem Stopfkuchen gegen das alte Gerücht ein neues in Umlauf bringt und damit die Funktionsweise dieser wilden, anonymen und kollektiven Literatur sichtbar macht. Eine aussagelogische Unterscheidung in ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ wäre zwar prinzipiell möglich, geht aber an der Struktur des Gerüchts – dass die Leute sagen, dass die Leute es sagen – grundsätzlich vorbei, weshalb Dementis in der Regel auch nicht funktionieren. Während im Klatsch, der immer mindestens zwei Anwesende voraussetzt, eine Gegenrede sehr wohl Erfolg haben kann, führt die „vervielfältigte Abwesenheit“ des Gerüchts zur Ablösung vom Sprecher und damit auch vom Garanten der ‚Wahrheit‘: „Nur mehr zufällig wird dieser oder jener zum austauschbaren Träger des Geredes. Nicht nur die, von denen die Rede ist, sind nicht da, auch die angeblichen Zeugen des Geschehens fehlen, und schließlich klafft dort eine Lücke, wo die literarische Konvention den Agenten der jeweiligen Replik erwartet. Diese vervielfältigte Abwesenheit macht das Hörensagen aus. Wo alles Zitat ist – das Geschehen, die Zeugen, der Sprecher –, entfaltet das Gerüchtemedium seinen

48 Vgl. auch S 167, 168, 171, 181f. 49 Hans-Joachim Neubauer: Wildes Erzählen. Von der Magie der Gerüchte, in: Neue Rundschau 107 (1996) 2, S. 64-76, hier: S. 64.

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Schirm des totalen Anonymats. Was ihn gespannt hält, ist die zunehmende Dynamik einer reizintensiven Nachricht.“50

Damit aus Gerede Nachricht wird, bedarf es eines Bürgen, erst dann kann die anonyme Kette des Hörensagens, die alle Unterschiede des Niveaus wie auch der Echtheit der Rede ignoriert, in Gang kommen. Der Freund Sichert wird dann Eduard sagen, Meta habe gesagt, Schaumann habe gesagt, Störzer habe gesagt … (vgl. S 198) – und Eduard wird exakt dies schreiben, so dass wiederum unklar bleibt, ob Stopfkuchen oder er selbst Ursache des Gerüchts über Störzer ist. Durch seine Berufung auf das Zeugnis Störzers jedenfalls verwischt Schaumann die Spuren, die auf ihn selbst zurückweisen. Seine Position als Klatsch-Kolporteur erscheint geradezu perfekt: Er ist jedermann im Dorf bekannt und doch auf seiner Roten Schanze so unnahbar, dass mit Überprüfungen und Nachfragen nicht gerechnet werden muss. Georg Stanitzek hat ausgeführt, dass literarische Kommunikation im Sinne einer ‚Musenkette‘ auf die unentstellte Weitergabe von Sinn und Bedeutung durch die Verpflichtung auf Wörtlichkeit, Buchstäblichkeit und Quellentreue angewiesen ist, während im Medium des Gerüchts die Botschaft grundsätzlich verzerrt erscheint.51 Abbildungen zeigen Fama, die mythologische Göttin des Gerüchts, mit unzähligen Ohren, Augen und Mündern, und Ovid beschreibt den Ort, an dem Fama wohnt, als einen mit „tausend Zugängen“ und „unzähligen Luken“, die nie geschlossen werden und aus denen es „ganz aus klingendem Erz“ tönt.52 Wahres und Falsches vermischen sich unauflösbar, und mit jeder Weitergabe wird eine neue Geschichte erfunden. Die Erzählung verändert also permanent ihre Gestalt, und dieser Prozess ist unkontrollierbar. Zugleich stellt diese Form von Nachricht eine unverzichtbare Informationsquelle dar, auch für diejenigen, die deren Funktionieren durchschaut haben. Als

50 Neubauer, Fama, S. 156. 51 Georg Stanitzek: Fama/Musenkette. Zwei klassische Probleme der Literaturwissenschaft mit den Medien, in: Ders./Wilhelm Voßkamp (Hg.), Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaft, Köln 2000, S. 135-150, hier: S. 138; zu einer ausführlichen Interpretation der Fama als modernes Kommunikationsparadigma vgl. auch Pompe, Zeitung/Kommunikation, S. 185191. 52 Nicht Fama, sondern der Ort gibt „die Stimmen und, was es hört, wiederholt es. […] Scharen erfüllen die Halle; da kommen und gehn, ein leichtes/ Volk, und schwirren und schweifen, mit Wahrem vermengt, des Gerüchtes / tausend Erfindungen und verbreiten ihr wirres Gerede.“ Ovid: Metamorphosen, übers. v. Erich Rösch, Zürich, München 1988, 12. Buch, V. 39ff., S. 301.

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„Resonanzkörper, der sich selbständig gemacht hat“, lässt sich Fama „als frühe Allegorie der Autonomie von Kommunikation lesen“.53 Während die LITERATUR nach dem Modell der Bibelexegese „die Weitergabe oder das Durchhalten von individuell-authentischem Sinn“ garantiert und in der platonischen Vorstellung von der Musenkette sich der poetische Geist unverfälscht erhält, sofern die eigene Medialität verleugnet wird,54 erprobt Raabe, wie schon 1876 in seinem Roman Horacker, in Stopfkuchen erfolgreich das Alternativmodell: die schöpferische Kraft der anonymen, kollektiven, Sinn entstellenden und verschiebenden Fama, wobei die Zeitungen und Zeitschriften deren modernen Ort darstellen, insofern sie die erforderliche Durchlässigkeit garantieren. Auch hier erklingt es vielstimmig, ohne dass die einzelnen Stimmen besonders autorisiert wären; auch die Zeitschriften wiederholen das Gehörte, vermengen Wahres und Falsches und generieren so Information, an der niemand vorbeikommt, denn „was wir über unsere Gesellschaft […] wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ (RM 9) Schließlich werden auch die Sparten der Zeitschriften von „Scharen“ gefüllt, die, wie Kellers Beschreibung in den Mißbrauchten Liebesbriefen eindrücklich zeigt, „ein leichtes Volk“ darstellen, das es mit der Wahrheit wie mit der Kunst nicht so genau nimmt. „Alles, wo es geschehe, wie weit es entfernt sei, von dort erspäht man’s; ein jeder Laut dringt hin zu Hohl seiner Ohren“.55 Es existiert mithin nichts, was den Zeitschriften entgeht und von ihnen nicht – entstellt – wiederholt würde, so wie es auch keine Ruhe gibt, denn Schweigen bedeutete das Ende massenmedialer Kommunikation. Zeitungen und Zeitschriften stehen dementsprechend am Anfang und am Ende des Romans und bilden zusammen mit Klatsch und Gerücht den medialen Rahmen zwischen Mündlichkeit und Schrift. So wird Eduard schon zu Beginn als interessierter Zeitungsleser beschrieben (S 29), und aus der Zeitung erfährt Stopfkuchen lange vor dessen Besuch von der Ankunft Eduards. Schließlich liegen bei der Rückkehr der beiden Protagonisten in die Stadt „die auswärtigen Zeitungen vom gestrigen Tage nebst dem heutigen ‚Abendblatt‘ der städtischen Presse“ (S 165) bereit. Auch fehlt nicht der Hinweis, dass der Landbriefträger als Bindeglied zwischen beiden neben der Post immer auch Zeitschriften, „Gartenlauben und Modezeitungen“ (S 19) ausgeliefert habe. Der Postbote als Katalysator von Massenkommunikation inkorporiert gleichsam deren zentrale Elemente ‚Wiederholung‘ und ‚Neuigkeit‘ und trägt nicht nur zur Kol-

53 Stanitzek, Fama/Musenkette, S. 137, 138. 54 Ebd., S. 139f. 55 Ovid, Metamorphosen, S. 301.

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portage von Gerüchten, sondern auch massiv zur Distribution massenmedialer Wirklichkeitskonstruktionen bei. All das kann als Indiz gewertet werden, dass am Ende auch das von Stopfkuchen verbreitete Gerücht massenmedial verschriftlicht und dann auf jeden Fall ein unkontrollierbares Publikum erreichen wird, denn unentbehrlich ist „die Mitwirkung der Massenmedien, wenn es um die weite Verbreitung, um die Möglichkeit anonymer und damit unvorhersehbarer Kenntnisnahme geht“. (RM 183) Sie verbinden Aktualität mit einem Minimum an Dauer und einem Maximum an Verbreitung, die dem mündlichen Gerücht letztlich so nicht beschieden ist: „das erkundete Mündliche, das vorübergehende, wilde Erzählen steht immer im Modus der Aktualität. Es überdauert jedoch nur in dem, was ihm unidentisch ist, in Texten, in schriftlichen oder anderen materiellen Zeugnissen unterschiedlichster Art.“56 Durch diesen Medienwechsel aber – das zeigt Raabes Roman eindrucksvoll – besteht die Möglichkeit, das Gerede als Ausschnitt aufzubewahren und damit eine neue Erzählung in Gang zu setzen. Demgegenüber lässt der schriftliche Text Eduards keine große Wirkung erwarten, diese wird vielmehr unter mehrfachen Vorbehalt gestellt: „Wie aber würden sich meine Nachbarn […] wundern, wenn sie das lesen könnten, so sie es in die Hände kriegten.“ (S 8; vgl. auch 200) Es geht also offenbar nicht bloß um die Medienkonkurrenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sondern diese wird modifiziert: Die Literarisierung im privaten Tagebuch Eduards, das bestenfalls im beschränkten Medium Buch veröffentlicht werden könnte, steht der Verbreitung mittels periodischer Printmedien weit nach. Diese machen ihre Wahrheit – wie Stopfkuchen – selbst und bringen sie mit derselben Zielsicherheit und Wirksamkeit wie jener unter die Leute. Interessant erscheint nicht, was wahr, sondern was neu ist. Die Lücken, die sich innerhalb der Auflösung des vermeintlichen Mordes zeigen, sind nicht nur Resultat einer Erzählökonomie, die auf spannende Fortsetzungen berechnet ist, sie entspringen vielmehr der Struktur des Gerüchts selbst. Dass dabei aus einer potenziellen, in psychischer Notwehr erfolgten ‚Körperverletzung mit Todesfolge‘ ein kaltblütiger Mord wird, liegt ebenfalls in der Struktur des Gerüchts, dessen Nachrichten eine bestimmte Reizintensität aufweisen müssen. Schon Baltasar Gracián wusste, dass Fama eine „Schwester der Giganten“ ist und stets nur das monströse, sensationelle Ereignis adelt.57

56 Neubauer, Fama, S. 13. 57 „Die Fama war und ist noch die Schwester der Giganten: stets folgt sie dem Übermäßigen, den Ungeheuern, oder den Wundern, dem Gegenstand des Abscheues, oder des Beifalls.“ Baltasar Gracián: Hand-Orakel und Kunst

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Wie das Publikum die Fortsetzungsromane in den Periodika oftmals geradezu verschlungen hat, so ‚schluckten‘ die Zeitschriften eine Unmenge von Romanen und Novellen. Bereits die Zeitgenossen entdeckten die Eignung von Speisemetaphern für das Verhältnis der Literatur zu den neuen Verbreitungsmedien: „[…] ich weiß noch nicht wie ich’s anfange, all die Journale zu füttern, die mit offnen Mäulern um mich herumstehen und Nahrung begehren. [...] ich werde ausgemostet vor der Zeit.“58 Wie Graevenitz ausgeführt hat, haben sich die Familienzeitschriften als „,Gedächtnisbücher für Kultur und Bildung‘ verstanden und präsentiert“,59 insofern sie Strukturen der vormodernen Memoria modernisierten und für die industrialisierte Produktion und Distribution von Texten aufbereiteten. Träger des kulturellen Gedächtnisses zu sein wird mithin ausgerechnet von den äußerst vergesslichen Massenmedien beansprucht, die doch ihrer Struktur nach nichts anderes leisten, als beständig Information in Nichtinformation zu verwandeln, schließlich herrscht zwischen „Neuheit und Vergessen […] eine starke Korrelation: Neuheit ist das Werkzeug des Vergessens und setzt das Vergessen gleichzeitig voraus.“60 Aus Wahrheit wird Neuigkeit, die selbst keinen Bestand hat, sondern im nächsten Augenblick bereits veraltet und auf ihren materiellen Träger reduziert wird. „Sind die Zeitungen und illustrierten Blätter gelesen und zerlesen, so werden sie von den Materiellen der Gesellschaft zu Fidibus, von den Spiritualisten zu Gedächtnisfetzen zerschnitten.“ (BA 2, 54) Der – im 19. Jahrhundert üblichen – Letztverwertung von Periodika als Toilettenpapier steht die ‚spirituelle‘ Variante gegenüber, die auch Raabe des Öfteren wählte: die Bewahrung in ‚Aus-Schnitten‘, die dann wieder zu neuen Geschichten anregen – nicht als Weitergabe von Sinn, sondern als ‚stille Post‘, bei der es nicht auf die verbreitete Botschaft, sondern auf die Aufmerksamkeit gegenüber deren medialen Entstellungen ankommt. Auch dem grotesken Erzählspektakel Stopfkuchen gehen solche Ausschnitte voraus. Im Nachlass des passionierten Zeitungslesers Raabe, der selbst nie fester Mitarbeiter eines Periodikums war, finden sich zwei Zeitungsnotizen, die offenbar die Vorlage für die ‚Mordgeschichte‘ lieferten. Die erste stammt aus dem Braunschweiger Tageblatt vom 3. September 1875. Darin verwahrt sich ein offenbar Unschuldiger öfder Welt-Klugheit, dt. v. Arthur Schopenhauer, hg. v. Carlos Marroquin, 2. Aufl. Leipzig 1992, S. 12. 58 Ottilie Wildermuth an Justinus Kerner, Brief v. 28.1.1857, in: Adelheid Wildermuth (Hg.), Briefwechsel zwischen Justinus Kerner und Ottilie Wildermuth 1853-1862, Heilbronn 1927, S. 128. 59 Graevenitz, Memoria und Realismus, S. 283. 60 Esposito, Soziales Vergessen, S. 30.

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fentlich gegen das Gerücht, er habe einen Schweinehändler auf einer Geschäftsreise ermordet. Auch hier hält sich, wie im Falle des Bauern Quakatz, das Gerücht jahrelang, und der wirkliche Mörder bleibt unentdeckt. Die andere Notiz stammt aus den Münchner Neuesten Nachrichten, die im September 1888 den Tod des pensionierten Postboten Josef Scharl anzeigen und dabei auf die Weltumrundung hinweisen, die dieser im Laufe seiner sechsundzwanzig Dienstjahre zu Fuß hinter sich brachte.61 Raabe entnimmt also sowohl den Plot seiner Kriminalerzählung als auch dessen vermeintlich wahren Täter der Presse und speist solche „vermischten Nachrichten“ in die Literatur ein. „Der kaum überprüfbare Wahrheitsgehalt solcher Meldungen verleiht ihnen eine große Nähe zu den Romanerfindungen. Entsprechend vielfältig sind auch die Möglichkeiten der Anknüpfung bzw. Überschneidung zwischen Nachrichten dieser Art und Roman.“62 Schließlich wurde der Roman selbst in einem Periodikum publiziert. Zunächst von der Zeitschrift Vom Fels zum Meer abgelehnt, vermutlich auch, weil Raabe sich jegliche Änderungen „dem lieben Publikum zuliebe“ verbat,63 erschien der Roman, nach einer schnellen Einigung, ab November 1890 in sechs Folgen in der Deutschen Roman-Zeitung. Der Kommentar Karl Hoppes in der Braunschweiger Ausgabe verzeichnet zwischen Manuskript und Zeitschriftendruck verschiedene Eingriffe, diese beziehen sich aber nicht auf Umfang oder Komposition, sondern betreffen vor allem sprachliche Normierungen, die der Setzer in Übereinstimmung mit den Rechtschreibreformen am Text des erklärten Reformgegners Raabe vornahm. Der Autor selbst monierte verschiedentlich die zerstückelte Wahrnehmung im Vorabdruck, vergaß jedoch nie dessen Lukrativität. In unserem Zusammenhang ist besonders von Bedeutung, dass die Druckstöcke mit „der großen Corpus-Schrift“64 für den Zeitschriftendruck vom Janke-Verlag zugleich auch für die erste Buchausgabe verwendet wurden. Denn das nivellierte die Hierarchie von Vorabdruck und Buch, das fast zeitgleich mit der ersten Folge im November 1890 erschien und sich nur noch durch die Isolierung und die Bindung vom Abdruck in der Roman-Zeitung unterschied. Die mediale Differenz zwischen Buch und Zeitschrift wird jetzt also in die andere Richtung überschritten – mit dem an der Zeitschrift orientierten Buchformat ver61 Vgl. Hoppe, Kommentar, S. 421ff. 62 Bachleitner, Feuilletonroman, S. 17. Auch das historische Wissen um die Geschichte der Roten Schanze im Siebenjährigen Krieg sowie Nachrichten über den Mammutfund bei Wolfenbüttel verdanken ihre Literarisierung vorheriger massenmedialer Verbreitung. Vgl. Hoppe, Kommentar, S. 423f. 63 Hoppe, Kommentar, S. 428. 64 Ebd., S. 436.

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zichtet man auf die Distinktion gegenüber dem abgewerteten Vorabdruck. Die Karriere des „Romanfabrikanten“ und echten Vielschreibers Wilhelm Raabe, der im Laufe seiner ‚aktiven Dienstzeit‘ nicht weniger als 68 Romane und Erzählungen verfasste (von denen bis auf sieben alle zuerst in Zeitschriften publiziert wurden65), verdankte sich, wie diejenige Marlitts und Fontanes, in vollem Umfang den in der zweiten Hälfte boomenden periodischen Printmedien und ihrem schier unstillbaren Bedarf nach erzählender Literatur. Sie verlief, betrachtet man die konstanten Möglichkeiten zum Vorabdruck in den verschiedensten Familien-, Rundschau- und Romanzeitschriften, ziemlich kontinuierlich, daran änderten Krisen und Zerwürfnisse mit einzelnen Verlegern oder Proteste von ZeitschriftenleserInnen ebenso wenig wie die Tatsache, dass Raabe von der Literaturkritik nahezu „todtgeschwiegen“ wurde: „Nehmen Sie zum Exempel die ‚Grenzboten‘, das Leib- und Herzblatt der gebildeten deutschen liberalen Bourgeoisie. Die redigirte bis 1870 Herr Gustav Freytag. Für Alles hat er ein Wort und seine Schreiber gehabt. Doch von der Chronik bis zum Schüdderump, von 1856 bis 1870, ist mein Name nicht ein einziges Mal in dem Blatt genannt worden. Ebenso war es mit den Preußischen Jahrbüchern u.s.w. Nur der brave Gottschall hat unter ‚Belletristik‘ in seinen Blättern für litterarische Unterhaltung manchmal ein Wort, ein Taufwort für ein neues todtgeborenes Schriftkind von mir übrig gehabt.“ (BA E 2, 490)

Aufgrund der Tatsache, dass Literaturkritik und literarische Produktion vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte radikal entkoppelt waren, konnte Raabe trotz solchen Boykotts immer weiter produzieren – weil er zu allen Zeiten seine Texte (mehr oder weniger) lukrativ an Zeitschriften verkaufen konnte, die von der Kritik unabhängig agierten. Die vor allem für die 1870er und frühen 80er Jahre geltende „schleppend-zögerliche Nachfrage nach seinen Werken“66 änderte nichts daran, dass er für die Zeitschriften seit den Erfolgen von Chronik der Sperlingsgasse und Der Hungerpastor als (mal mehr, mal weniger begehrter) Name galt, mit dem sich später sogar werben ließ. Ganz selbstbewusst setzte Raabe deshalb zuweilen auch hinsichtlich des eigenen Nachruhms auf den schon beschriebenen Medienwechsel: „Es ist doch auch viel schöner, wenn ein Autor am Ende seiner Laufbahn von Mund zu Mund volksthümlich wird, als wenn das von Blatt zu Blatt geschieht […].“67

65 Vgl. die Aufstellung bei Koller, Raabes Verlegerbeziehungen, S. 209-214. 66 Denkler, Wilhelm Raabe, S. 59 (Hervorhebung M.G.). 67 BA E 2, 353.

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Die Legende vom verkannten Dichter lässt sich deshalb ebenso wenig halten wie diejenige vom begrenzten Publikum. Denn bemerkenswert ist nicht die immer wieder betonte Tatsache, dass die Bucherfolge zu Lebzeiten wie bei Fontane mäßig waren, als vielmehr diejenige, dass eben nicht nur die „ebenso gutgemeinte wie gutgemachte Unterhaltungsliteratur“ der Frühphase,68 sondern auch noch die verschrobensten Texte des späten Raabe in Zeitschriften publiziert werden konnten, weil sie offenbar als Unterhaltung funktionierten. Bei den vielfältigen Problemen Raabes mit Verlegern und Redakteuren ging es mitnichten um den Zusammenstoß von „Profitkalkulation und Kunstbewußtsein“,69 stattdessen handelte es sich um divergierende Profitkalkulationen einerseits und unterschiedliche Vorstellungen von literarischen Texten andererseits. Die im Laufe der Jahre steigenden Honorare empfand Raabe als Bestätigung seiner Arbeit,70 und es ist vor diesem Hintergrund gerade kein „glücklicher Zufall, daß sich Raabe auch ohne Rentenversicherung auf das Altenteil zurückziehen konnte.“71 Auch die poetologische Isolierung des Autors zum abseitigen ‚Original‘ funktioniert nicht. Das Verklärungsparadigma des Realismus teilt Raabe ebenso wie die Wirkungsabsicht der Periodika, „ein wenig Sonnenschein in einen grauen Lebenstag leuchten“ zu lassen (BA E 2, 295). Dabei ist er sich, wie die übrigen ‚Realisten‘ auch, stets bewusst, dass er als Autor die ‚schöne‘, d. h. verklärte Wirklichkeit erst herzustellen hat.72 Schließlich stellt der Markt auch für den Fall gründlicher Zerwürfnisse, wie 1884 mit Adolf Glaser, dem Redakteur von Westermann’s Monatsheften, immer auch Alternativen bereit, die eine weitere Existenz

68 Denkler, Wilhelm Raabe, S. 151f. 69 Ebd., S. 144. 70 „Unter manchem Schenkenzeichen haben heiter wir gesessen / Und des Lebens ep’sche Breite an dem Honorar gemessen […].“ (BA 20, S. 407) 71 Eckhardt Meyer-Krentler: „Wir vom Handwerk“. Wilhelm Raabe als Berufsschriftsteller, in: Harro Segeberg (Hg.), Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes ‚Arbeit‘ in der deutschen Literatur (1770-1930), Dokumentation einer interdisziplinären Tagung in Hamburg vom 16.-18. März 1988, Tübingen 1991, S. 204-229, hier: S. 211. Vehement verwahrt sich Raabe 1896 gegen die öffentliche Stilisierung zum verarmten Poeten. Vgl. ebd., S. 210. 72 Noch das Credo des späten Raabe wiederholt die Distanzierung von einer ‚naturalistischen‘ „Schilderung der Wirklichkeit“, die „höchstens nur ein interessantes Lesewerck“ sein könne. Dagegen propagiert er die Verklärung des Realschönen: „Hole ich das Bleibende aus der Tiefe, so hebe ich es über die tagtägliche Realität; ich gebe ihm das auf dem Blatt und es hat durch sich selbst Gültigkeit über den Tag hinaus.“ (BA E 5, 427)

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als ‚Berufsschriftsteller‘ garantieren. Die Medien zeigen sich im letzten Jahrhundertdrittel so differenziert, dass sie ganz flexibel auf die unterschiedlichsten Angebote reagieren können. Als 1885 nach dem Vorabdruck von Unruhige Gäste in der Gartenlaube LeserInnen protestieren,73 kann Raabe auf altbewährte Kontakte zurückgreifen. So erscheint das gesamte Spätwerk ab Stopfkuchen in der von Otto Janke gegründeten Deutschen Roman-Zeitung, die schon ihren ersten Jahrgang am 1. Januar 1864 mit dem Hungerpastor eröffnet hatte.74 Janke gründet 1851 die Berliner Muster- und Modenzeitung, die unter dem Titel Victoria zu einer der bedeutendsten ihrer Zeit wird und ganz selbstverständlich auf das weibliche Publikum zugeschnitten ist. Neben den Frauen entdeckt er früh auch die Jugend als Publikum und ruft 1856 die erfolgreiche Jugendzeitschrift Puck ins Leben. Sein überaus erfolgreiches Projekt einer reinen Romanzeitung kann als Radikalisierung des Konzepts der Literaturverbreitung durch Zeitschriften betrachtet werden. Seine Spezialität ist die Neuheit – im Sinne einer Konzentration auf deutsche ‚Originalromane‘, womit die französischen und englischen Übersetzungen aus ihrer, noch von Prutz beklagten, marktbeherrschenden Stellung endgültig verdrängt werden. Die Bandbreite der AutorInnen, die hier veröffentlichen, hat durchaus repräsentativen Charakter: neben Raabe Balduin Möllhausen und Fanny Lewald, Wilhelm Jensen und Louise von François, Mathilde Raven, Paul Heyse, Felix Dahn, Friedrich Spielhagen, um nur einige zu nennen. Jankes Blatt enthält in jedem Jahrgang zwei nebeneinander laufende Romane und eine eigene Rubrik Kleine Roman-Zeitung – später Feuilleton und dann Beiblatt – mit vermischten Aufsätzen und Notizen aller Art.75 Damit vergrößert Janke gleichsam die Sparte Literatur, die die Familienzeitschriften trotz des enormen Potentials nur en passant anbieten. Ob aber Romanzeitung, Familienblatt oder Rundschau – Zeitschriften versorgen den überwiegenden Teil der am Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend alphabetisierten Bevölkerung mit Literatur und gewöhnen sie durch die bunte Mischung auch an Erzählexperimente, die den vertrauten Rahmen verlassen. Während das Literatursystem mit seinem Kommunikationsmedium Werk/Buch nur einen eng begrenzten Kommunikationsradius aufbaut, weil mit der ‚niedrigen‘ Literatur auch deren Leserschaft sowie die in diesem Bereich angesiedelten Lektürepraktiken inkriminiert werden, eröffnet der Zeitschriftenkontext ganz neue Möglichkeiten des Zugangs zur und des freien Umgangs mit Literatur.

73 Vgl. Koller, Wilhelm Raabes Verlegerbeziehungen, S. 179. 74 Der Hungerpastor entstand 1862/63 (Erstdruck in Deutsche RomanZeitung 1. Jg. Nr. 1-12, Nov. 1863-März 1864). 75 Vgl. http://www.roman-zeitung.de/ueb/ueb.htm, aufgerufen 25.11.2005.

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GROTESKER REALISMUS? RAABE

Untersuchungen darüber, wie die ZeitschriftenleserInnen die höchst unterschiedlichen Texte im Kontext Zeitschrift tatsächlich wahrnahmen, gibt es bis heute leider nicht. Unhaltbar erscheint aber eine Argumentation, die die Lektüren vorab sorgfältig sortiert in die unaufmerksame, zerstreute, auf Behaglichkeit, Idylle und Humor fixierte und an Unterhaltung interessierte einerseits und in die professionelle, die die parodistische Selbstreflexivität und die experimentelle Erzählweise Raabes u.a. erkennt und entsprechend würdigt.76 Die beliebte literaturwissenschaftliche Trennung in Oberfläche und Tiefe, Schein und Sein, ‚eigentlich‘ und ‚uneigentlich‘ muss an einem Autor wie Raabe, der seinen Roman reichlich selbstironisch „ein wenig allegorisch oder symbolisch“ nannte, scheitern.77 Tatsächlich bedient er die Unterhaltungsbedürfnisse des Publikums, und in der Tat parodiert er diese oft im selben Akt – zusammen mit den „Lektürebedürfnissen der ‚gehobenen‘ Leserschaft“.78 Deshalb entbehrt die Unterstellung, dass, von „wenigen kongenialen Lesern“ abgesehen, der „oberflächlichen Unterhaltungsleserschaft – vor allem den Romanzeitschriftenlesern, zu 90 % Frauen“79 – das Sensorium für die Komplexität der Erzählweise fehlte, jeder empirischen Grundlage, waren sie es doch, die durch ihre Kaufentscheidungen die schriftstellerische Existenz Raabes überhaupt erst ermöglichten.80 Dagegen lässt sich einwenden, dass der ‚eigentliche‘ Raabe nur eine nachträgliche literaturwissenschaftliche Erfindung ist, an deren Entstehung er selbst eifrig mitwirkte, sofern auch er, wie seine Romanfigur aus Horacker, „die Welt in dem Wahne“ lässt, „daß er sich auch heute – jetzt einer großen literarisch-dichterisch-philologischen Lebensaufgabe hingebe […]“, während er sich „von neuem mit den ‚Blättern für literarische Unterhaltung‘ aufs Sofa [legte].“ (BA 12, 304) In diesem Kontext bekommt die Rede von der Subversion eine neue Dimension: Mit Hilfe der Unterhaltung und ihrer Medien desavouiert Raabe den autonomen Kunstbegriff, der im 19. Jahrhundert nur noch ein verschlepptes Relikt, eine liebe Gewohnheit darstellt. An die Stelle des „ästhetischen Dampfes“ setzt er eine Wirkungsästhetik, die Texte auf die LeserInnen hin öffnet, damit diese „ihr Teil heraus- und hineindenken, heraus- und hineinempfinden und ihr Spiel damit treiben können“.81 Die76 Vgl. zu dieser Argumentation Meyer-Krentler, Wir vom Handwerk, S. 220. 77 So Raabe in einem Brief an den ‚professionellen Leser‘ Paul Gerber vom 9.1.1893 (BA E 2, 340 [Hervorhebung M.G.]; vgl. auch BA E 2, 287). 78 Meyer-Krentler, Wir vom Handwerk, S. 221. 79 Ebd., S. 222. 80 Vgl. zu diesem Argument bereits Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898, Stuttgart 1962, S. 93. 81 Denkler, Wilhelm Raabe, S. 154.

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ses Spiel ist von der Sinn entziffernden Hermeneutik mit ihrem Rückschluss auf den Autor, die das autonome Kunstwerk seinen Lesern abverlangt, weit entfernt. Es integriert vielmehr über die Praxis der Allusion und des Zitats sämtliche Literatur – von der kanonischen Weltliteratur über die deutschen Klassiker bis hin zu den zeitgenössischen Unterhaltungs- und Kolportageromanen82 – in den Horizont massenmedialer Kommunikation. Neben der Struktur stiftenden Funktion des Zitats, die in Stopfkuchen aufgezeigt und die auch für viele andere Romane Raabes längst nachgewiesen wurde, hat dieses noch eine andere wichtige Funktion: Es schärft „dem Leser ununterbrochen ein, daß er nichts anderes als Literatur vor Augen hat.“83 An die Stelle von Novalis’ ästhetizistischem „Poesie ist Poesie“ tritt bei Raabe ein tautologisches ‚Literatur ist Literatur‘, denn: „Die Welt ist viel trivialer, als sie sich dieselbe vorstellen.“84

82 Zum Phänomen des Kolportageromans im 19. Jahrhundert vgl. Schenda, Volk ohne Buch; Günter Kosch/Manfred Nagl: Der Kolportageroman. Bibliographie 1850-1960, Stuttgart, Weimar 1993. 83 Denkler, Wilhelm Raabe, S. 191. 84 Wilhelm Raabe: Aphorismus, zit. n. Karl Hoppe: Wilhelm Raabe. Beiträge zum Verständnis seiner Person und seines Werkes, Göttingen 1967, S. 100.

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VII. M O D E R N E R E S T I T U T I O N E N

UM

1900

1. Naturalismus, Ästhetizismus „Du lieber Gott wo ist man noch sicher vor den Schriftstellerinnen?“1 „Die Axt muß mörderisch übers Gestrüpp.“2

Während die klassisch-romantische Autonomieästhetik mit der Abgrenzung der Kunst vom Dilettantismus Autorschaft gegen die immer schon in den periodischen Printmedien generierte Unterhaltung wie auch die um 1800 auf den Markt drängenden schreibenden Frauen als männliche reservierte und die ‚Werke‘ erfolgreich gegen ihre Verbreitungsmedien isolierte, erweist sich im 19. Jahrhundert, dass literarisches Schreiben unter den Bedingungen sich ausdifferenzierender Massenmedien zunehmend weiblich codiert wird. Gleichzeitig bleibt die männliche Position ‚Kunst‘ vakant – sie soll um 1900 wieder besetzt werden. Dabei sind die Rahmenbedingungen günstig, erfährt doch der bis zur Reichsgründung stagnierende Buchmarkt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen deutlichen Aufschwung: Der Anteil der belletristischen Titel an der gesamten Buchproduktion steigt zwischen 1890 und 1908 um 5 %, die Zahl der Zeitschriften verdreifacht sich fast, insbesondere die Literaturzeitschriften nehmen überproportional zu. Der Buchhandelsumsatz verzehnfacht sich zwischen 1875 und 1913, wobei vor allem die 1887 gegen den boomenden Kolportage- und Bahnhofsbuchhandel durchgesetzte „Preisbindung die Literaturversorgung und die Existenz von Sortimentsbuchhandlungen im ganzen Reich“ sichert.3 Insgesamt

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Marie von Ebner-Eschenbach an Julius Rodenberg, Brief v. 29.7.1897, in: Nachlaß Julius Rodenberg, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar. Hermann Bahr: Die Moderne [1890], in: Gotthart Wunberg (Hg.), Die Literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1971, S. 52-55, hier: S. 54. Stephan Füssel: Das Autor-Verleger-Verhältnis in der Kaiserzeit, in: YorkGothart Mix (Hg.), Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 18901918 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahr-

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nimmt um 1900 der Einfluss der Familien- und Rundschauzeitschriften ab, ihre Auflagen fallen im Vergleich zu steigenden Buchauflagen, das Buch wird tendenziell wieder zum wichtigsten Kulturträger. Dadurch geht aber auch die Basis für ein abgesichertes Berufsschriftstellertum, über die Raabe, Fontane, Marlitt u.a. noch verfügten, um 1900 tendenziell verloren. Die zunehmende wirtschaftliche Konkurrenz der Zeitschriften verschärft die Praxis des unbezahlten Nachdrucks, die juristisch durch das Urheberrechtsgesetz von 1901 nur mühsam eingedämmt werden kann.4 Durch die Ausdifferenzierung wird Unterhaltungsliteratur tendenziell in die Massenmedien eingeschlossen, während die Autoren der Moderne auf die Verbreitungsmedien des Literatursystems verwiesen werden: kleine, kurzlebige Zeitschriften, die keine Honorare bezahlen können, oder Verlage, die für einen Bogen der Buchauflage nur einen Bruchteil der populären Zeitschriften gewähren.5 Am Ende des Jahrhunderts erscheint der gesellschaftliche Status der AutorInnen in vielerlei Hinsicht prekär: „Die Stellung eines Schriftstellers ist miserabel. […] Die, die mit Litteratur und Tagespolitik handeln, werden reich, die, die sie machen, hungern entweder oder schlagen sich durch. Aus diesem Geld-Elend resultiert dann das Schlimmere: Der Tintensklave wird geboren. Die für ‚Freiheit‘ arbeiten, stehen in Unfreiheit und sind trauriger dran, als der mittelalterliche Hörige.“6 Die forcierten Distinktionsanstrengungen in den modernistischen und avantgardistischen Bewegungen im Wilhelminismus durch die Erhöhung des Innovationsdrucks und die Instaurierung von Originalität machten einerseits LITERATUR wieder von Literatur unterscheidbar; auf der anderen Seite füllten die Massenmedien ihre Sparte Unterhaltung zunehmend mit mehr und anderem als belletristischen Texten. Die modernistischen Ansätze registrierten die Desavouierung der Literatur, die in derjenigen des Schriftstellers zum Ausdruck gelangte, mit Recht als medial induzierten gender trouble. Die misogynen Attacken, die dieser Diagnose entsprangen und in denen sich medizinische, ästhetische und gesellschaftspolitische Diskurse überlagerten, wurden in der Forschung vielfach analysiert und müssen an dieser Stelle nicht detail-

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hundert bis zur Gegenwart, Bd. 7), München, Wien 2000, S. 137-154, hier: S. 138. Ebd., S. 140. Der Durchschnitt lag bei 30-60 Mark pro Bogen, was besonders für die Lyriker zu prekären wirtschaftlichen Notsituationen führte. Sie reagierten 1902 mit der Gründung der ersten Autoren-Gewerkschaft. Vgl. ebd., S. 141. [Theodor Fontane]: Die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers, in: Das Magazin für Litteratur 60 (1891) Nr. 52, S. 819.

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liert rekonstruiert werden.7 Ich möchte im Folgenden nur die wichtigsten Argumentationsfiguren skizzieren, um zu zeigen, dass es tatsächlich um die (modifizierte) Wiederherstellung der Paradigmen von 1800 geht und dass auch jetzt das Vergessen der medialen Basis der LITERATUR von einem aggressiven gendering flankiert wird: ‚Moderne‘ bedeutet in erster Linie eine geschlechterdifferente Codierung der Literatur – LITERARISCH ist auch künftig, was ‚männlich‘ ist, alles andere gilt als ‚weiblich‘. „Die Rhetorik der Moderne beerbt und aktualisiert uralte Bestände der abendländischen Geschlechtermythologie. In dieser Mythologie ist das Differenzierende männlich, das Entdifferenzierende weiblich codiert. […] Als Chiffre für Entdifferenzierung ist das ‚Weibliche‘ exakt an den Krisenpunkt der symbolischen Ordnung der Moderne gebannt – eine Ordnung, die wie jede andere auf der Gewährleistung von Differenzen beruht.“8

Während Urte Helduser in ihrer Studie zwischen „einer Repräsentation der Moderne durch ein Weiblichkeitsbild, den Geschlechterkonnotationen der Moderne und den Konstruktionen von Geschlecht im Diskurs der Moderne“ unterscheidet,9 soll es zum Schluss vor allem um die spezifisch modernistische Verbindung von Geschlecht und Medien gehen, denn es ist nicht nur das Bild der emanzipierten Frau als Schriftstellerin‚ das die Wut der männlichen Kollegen auf die ‚Blaustrümpfe‘ entfacht, es ist vielmehr deren erfolgreiche Liaison mit den periodischen Printmedien, die den Furor hervorruft und die, wie schon um 1800, mit Prostitution in Verbindung gebracht wird. August Strindberg hat die Konkurrenzsituation unmissverständlich klargestellt: 7

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Vgl. zuletzt Urte Helduser: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900, Köln, Weimar, Wien 2005. Sie bietet auch eine ausführliche Forschungsdiskussion. Albrecht Koschorke: Die Männer und die Moderne, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam, Atlanta 2000, S. 143-162, hier: S. 152. Helduser, Geschlechterprogramme, S. 4 (Hervorhebung im Original); zu den verschiedenen Forschungspositionen vgl. exemplarisch Rita Felski: The Gender of Modernity, Cambridge/Mass., London 1995; Jacques Le Rider: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krise der Identität, Wien 1990; Cornelia Klinger: Aesthetics, in: Alison M. Jaggar (Hg.), A Companion to Feminist Philosophy, London, Walden/Mass. 1998, S. 343-352; Sandra Gilbert/Susan Gubar: No Man’s Land I. The Place of the Woman Writer in the Twentieth Century. The War of the Words, New Haven u.a. 1987.

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„In Deutschland, wo das Männlichkeitsgefühl noch lebendig ist, sind die Frauen aus dem Arbeitsmarkt hinausgeworfen worden, als sie während der Kriegsdienstjahre des Mannes die Gelegenheit wahrnahmen und ihm die Stellen wegnehmen wollten. Der einzige Punkt, wo sie hineingekrochen sind, ist die Literatur. Sechshundert Schriftstellerinnen […] überschwemmen die Zeitschriften und Zeitungen mit schlechten Fortsetzungsromanen und bringen auf diese Weise junge Schriftsteller um die Gelegenheit, ihre ersten Probestücke zur publizieren. Und der Kampf ist nicht gleich, da die meisten dieser Schriftstellerinnen Männer hinter sich haben, die sie ernähren. Trotz dieser günstigen Umstände für die Frauen haben sie keinen einzigen großen Namen in der Literatur hervorgebracht, wenn es ihnen auch gelungen ist, durch ihre chinesische Konkurrenz [sic!] das Aufkommen eines großen männlichen deutschen Schriftstellers zu verhindern.“ 10

In solchen Äußerungen tobt nicht nur das Ressentiment, es wird ein regelrechter Verdrängungswettbewerb beschrieben, bei dem die Frauen zwar – verkehrte Welt – die Ökonomie auf ihrer Seite hätten, aber strukturell und grundsätzlich den Dichtern nicht zu einer qualitativen Konkurrenz werden könnten: Frauen „überschwemmen“, während Männer dichten. Diese argumentative Offensive durchzieht den gesamten literarischen Diskurs um 1900. Im Kampf gegen „die überlebte Epigonenklassizität, gegen das sich spreizende Raffinement und gegen den blaustrumpfartigen Dilletantismus [sic!]“ erscheint die Wiederbelebung einer Literaturkritik unabdingbar, die sich vom Geschmack des Publikums und dem verderblichen Einfluss der Familienzeitschriften gelöst hat.11 Die ‚diskursive Explosion‘ von Geschlecht in den verschiedensten Kontexten ist also Ausdruck der Marginalisierungserfahrung des männlichen Autors sowie der Versuch, die populäre Literatur und ihre AutorInnen neuerlich auszugrenzen, indem das Literatursystem erfolgreich vom System der Massenmedien differenziert wird. So eröffnet Georg Michael Conrad das erste Heft der Gesellschaft 1885: „Emanzipation der periodischen schöngeistigen Literatur und Kritik von der Tyrannei der ‚höheren Töchter‘ und der ‚alten Weiber‘ beiderlei Geschlechts; sie will mit jener geist- und freiheitsmörderischen Verwechslung von Familie 10 August Strindberg: Die Frauenfrage im Licht der Evolutionstheorie [1888], in: Werke, Bd. 5: 1887-1888, hg. v. Wolfgang Butt, Frankfurt/M. 1984, S. 610-633, hier: S. 633. 11 Eugen Wolff: Zehn Thesen [1888], in: Erich Ruprecht (Hg.), Literarische Manifeste des Naturalismus 1880-1892, Stuttgart 1962, S. 141-142, hier: S. 142. Es ist signifikant, dass diese Thesen ausgerechnet in der dezidiert antipopulären Allgemeinen Deutschen Universitätszeitung veröffentlicht wurden.

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und Kinderstube aufräumen, wie solche durch den journalistischen Industrialismus, der nur auf Abonnentenfang ausgeht, zum größten Schaden unserer nationalen Litteratur und Kunst bei uns landläufig geworden ist. Wir wollen die von der spekulativen Rücksichtnehmerei auf den schöngeistigen Dusel, auf die ‚gefühlvollen‘ Lieblingsthorheiten und moralischenVorurteile der sogenannten ‚Familie‘ (im weibischen Sinne) arg gefährdete Mannhaftigkeit und Tapferkeit im Erkennen, Dichten und Kritisieren wieder zu Ehren bringen.“12

Die Angriffe auf die „geheiligte Backfisch-Litteratur“ und die „angestaubte phrasenselige Altweiber-Kritik“ transportieren die Vorstellung ästhetischer und moralischer Depravation. Gegen Lüge, Schein, Schwäche und falsche Moral sollen die Werte der Wahrheit, Authentizität, Potenz und Virilität gestellt werden; gegen die triviale und sentimentale Unterhaltung soll die Literatur als „ächte“, „natürliche“ und last but not least „deutsche“ wiederauferstehen – als „Vorarbeiter und Muster menschlicher Kultur“.13 Wenn die Naturalisten versuchen, über eine radikale Literaturkritik das Literatursystem gegen das Mediensystem in Stellung zu bringen, dann müssen sie vor allem die Opposition zum Feuilletonismus schärfen, den sie in der Gestalt Paul Lindaus personifiziert sehen. Die Attacken gegen die ‚weibische‘ Literatur werden grundsätzlich mit solchen gegen die dekadente Kritik verbunden, die das subjektive Empfinden anstelle verbindlicher Kunstgesetze propagiere und ihre zentrale Aufgabe – die Erziehung des Publikums zur wahren Kunst – grob vernachlässige.14 Das kulturelle Chaos, das aus der feuilletonistischen Rehabilitierung des Geschmacks und der Symmetrie zwischen Publikum und Literaturkritik resultiere, könne nur durch die Wiederherstellung des Kritikers als Experte und Autorität beseitigt werden, der außerhalb des Publikums stehe. Ziel sei es, dass die Kritik wieder ihre Funktion im Literatursystem übernehme und, statt wie im Mediensystem im Dienst der Lesenden zu agieren, ihren Dienst für das Werk versehe – durch die Herstellung von Anschlusskommunikationen auf der Basis ästhetischer Normen, aus denen erst wirklich neue, ‚moderne‘ Werke hervorgingen. Der Kritiker gerät zum „Geburtshelfer des heroisierten Künstlers“,15 die Kritik wird zum Motor ästhetischer Innovation erklärt, weshalb sie „zuallererst eine Kritik

12 Georg Michael Conrad: Zur Einführung, in: Die Gesellschaft 1 (1885) 1, S. 1-3, hier: S. 2. 13 Alle Zitate vgl. ebd. 14 Vgl. Heinrich u. Julius Hart: Kritische Waffengänge. Zweites Heft: Für und gegen Zola, Leipzig 1882, S. 17. 15 Berman, Literaturkritik, S. 225.

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der feindlichen Kritiker [war], und kaum eine sachliche Auseinandersetzung mit Gegenwartsautoren“.16 Der Kampf gegen die von der feuilletonistischen Kritik unterstützte, gemeine, lüsterne und schamlose Unterhaltungsliteratur geht einher mit der massiven Thematisierung von Männlichkeit und mündet in der Formulierung eines Epochenbruches, der den Sinn für wahre Kritik und echte Poesie wiedererwecken müsse. Der überkommenen ‚weiblichen‘ Literatur wird, in markiger Sturm-und-Drang-Rhetorik, eine künftige ‚männliche‘ entgegengestellt. Da diese Denkfigur aber bereits im Realismus ihre Probe nicht bestanden hat und die männliche Erneuerung ausgeblieben ist, wird nunmehr das Innovationsprinzip als endloser Progress radikalisiert: „Denn an keine Formel, auch an die jüngste nicht, ist die unendliche Entwicklung menschlicher Cultur gebunden.“17 Man begehrt „keineswegs einen neuen Stil, sondern neue Stoffmassen, neues Blut, überhaupt eine völlige Auffrischung von Literatur und Leben“.18 Nicht mehr Transzendenz, Ewigkeit oder Totalität heißt die Zauberformel, sondern Wahrheit der Natur, der ein ‚neuer‘, ‚wahrer‘ Realismus antwortet. Dieser wird mit Verve propagiert, wobei, gerade in der Gruppe um die Zeitschrift Gesellschaft, das Neue dieses Realismus das Alte ist, so wenn Wilhelm Bölsche der Welt klarmacht, „daß der Realismus in Wahrheit der höchste, der vollkommene Idealismus ist, indem er auch das Kleinste hinaufrückt in’s Licht des großen Ganzen, in’s Licht der Idee.“19 Diese traditionelle Verklärungspoetik muss ohne jeden Hinweis auf den poetischen Realismus auskommen, wird doch Modernität gleichzeitig zum Programm und zum Kampfbegriff erhoben, der die Abgrenzung von einer Generation leisten soll, welche an der wichtigen Unterscheidung von LITERATUR und Literatur versagt hat.20 „The autonomy of

16 Ebd., S. 222; zur Differenzierung der naturalistischen Positionen wie auch zur Ästhetisierung der Literaturkritik bei Kerr u.a. vgl. ebd. S. 222ff. 17 Otto Brahm: Zum Beginn, in: Freie Bühne für modernes Leben I, 1 (1890), S. 1. 18 Samuel Lublinski: Die Moderne. Geistige Struktur um 1890 [1904], in: Gotthart Wunberg (Hg.), Die Literarische Moderne, S. 188-213, hier: S. 188. 19 Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik [1887], mit zeitgenössischen Rezensionen und einer Bibliographie der Schriften Wilhelm Bölsches, neu hg. v. Johannes Braakenburg, Tübingen 1976, S. 64; vgl. auch Karl Bleibtreu: Revolution der Litteratur [1886], hg. v. Johannes Braakenburg, Tübingen 1976, S. 31. Wobei die ‚Idee‘ fortan unter völkischen Vorzeichen stand. 20 Zur Semantik vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche

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the modernist art work, after all, is always the result of a resistance, an abstention, and a suppression – resistance to the seductive lure of mass culture, abstention from the pleasure of trying to please a larger audience, suppression of everything that might be threatening to the rigorous demands of being modern and at the edge of time.“21 Unerlässlich erscheint dabei die ästhetische (Wieder-)Aneignung des Neuheitsgebots jenseits der Aktualitätsforderung der Zeitschriften. In der Koppelung von Zeitbegriff und ästhetischer Norm zu einem verschärften Innovationsdruck vereinen sich die ‚Modernen‘ in einem Gestus wechselseitiger Überbietung, der per se mit Verwerfungen des Nicht-Modernen als des Unzeitgemäßen wie des Modischen als des Zeitgeistigen verbunden ist. Das Pathos der Modernität, die vor allem in der „Zersetzung tradierter Semantiken“ besteht,22 nimmt dabei eschatologische Züge an, wenn Bahr davon spricht, „dass es tagen wird nach dieser entsetzlichen Finsternis und dass die Kunst einkehren wird bei den Menschen – an diese Auferstehung, glorreich und selig, das ist der Glaube der Moderne.“ [sic!]23 Diese religiöse Rhetorik verdeckt, dass es bei der Ausdifferenzierung des Literatursystems um das Vergessen seiner medialen Basis geht. Konsequent durchgeführt hat dieses Vergessen Stefan George mit seiner ästhetizistischen Restaurierung des autonomen Paradigmas. Seine Blätter für die Kunst, in denen er sein Kunst-für-die-Kunst-Programm entwickelt, situiert er dezidiert abseits der Verbreitungsmedien. Seine Publikationsstrategie beschreibt er selbst als den paradoxen Versuch, an die Öffentlichkeit zu treten, ohne sich öffentlich zu machen. Die Blätter erscheinen in bewusst niedriger Auflage im Selbstverlag, in asketischer Abstinenz von aller buchkünstlerischen Illustration, und werden zunächst

Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93-131; zum Epochenbegriff vgl. vor allem Jörg Schönert: Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne, in: Christian Wagenknecht (Hg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986, Stuttgart 1988, S. 393413. 21 Andreas Huyssen: After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism, Basingstoke 1986, S. 55. 22 Horst Thomé: Modernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siècle, in: York-Gothart Mix (Hg.), Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus, S. 15-27, hier: S. 17. Thomé benutzt den Begriff ‚Semantiken‘ in Luhmanns Sinn als „Begriffsvorrat einer Gesellschaft“ bzw. als Menge der erhaltenswerten Sinnprämissen, die Kommunikationen anschließbar machen. 23 Bahr, Die Moderne, S. 52.

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nur privat unter Freunden und Mitarbeitern verteilt. Jeder Leser ist als potentieller Autor zu Beiträgen eingeladen mit dem Ziel symmetrischer persönlicher Interaktion, in der sich die Distinktion zwischen Genie und Handwerk offenbare: „In den ‚Blättern‘ weiss jeder was er ist. hier wird der scharfe unterschied gezeigt zwischen dem geborenen werk und dem gemachten. hasser der ‚Blätter‘ ist jeder dem es darum zu thun ist diesen unterschied zu verwischen …“24 Exklusivität wird gegen Vermassung, enge Bindung an die Zeitschrift gegen promisken Gebrauch gesetzt. Der esoterische Zirkel der Blätter erhebt sich zum Refugium der Einheit von Dichter und Werk, die das Dichten wieder zur göttlichen Inspiration stilisiert. Der George-Kreis beerbt, wie die Rilke-Gemeinde, die Dichtergedichte des 19. Jahrhunderts, insofern er als deren „Verwirklichung“, „als Umsetzung des Topos in Lebensform“ begriffen werden muss.25 Die massive Auratisierung des Dichtertums geht nicht nur mit der Abwehr der Professionalisierung des Schriftstellerberufs einher, sondern entfaltet zugleich eine alternative Medienstrategie, die Esoterik und den Wunsch nach Publizität miteinander verbindet. Das Publikum wird nicht mehr durch spannende Erzählungen, sondern durch persönlichen Kontakt ans Medium gebunden, während die Autoren durch ihre exklusive Verpflichtung und das ausdrückliche Verbot anderweitiger Publikation überhaupt erst den Umfang von 32 Druckseiten garantieren. Darüber hinaus nutzt George die Zeitschrift professionell für den Vorabdruck seiner Gedichte, wodurch die Blätter „zugleich als Werbefläche für seine Buchpublikationen genutzt werden“.26 Backfische, Salondamen, Blaustrümpfe und alte Weiber – von der Projektion einer unbedarften naiven Leserin zur Projektion der berechnenden und kastrierenden Schriftstellerin, von der Jungfrau zur Jungfer werden alle möglichen Weiblichkeitsimagines in die Verwerfung einbezogen, die entsprechenden Karikaturen sind aus den zeitgenössischen Periodika nicht wegzudenken. Gleichzeitig bedienen Projektionen des nackten weiblichen Körpers – als Kindfrau, Vamp und Hure – um 1900 erotische Phantasmen mit dem Ziel, ein ‚männliches‘ Lesepublikum für die Zeitschriften zu gewinnen. Dabei geht es ausdrücklich nicht um biologische Männer und Frauen – weder auf der Rezeptionsseite noch auf der der Produktion. Adressiert werden die zahllosen Denunziationen viel24 Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, 2. erg. Aufl. München, Düsseldorf 1953, S. 160 (Hervorhebung im Original). 25 Heinz Schlaffer: Das Dichtergedicht im 19. Jahrhundert. Topos und Ideologie, in: JbdSG 10 (1966), S. 297-335, hier: S. 334. 26 Günter Butzer/Manuela Günter: Literaturzeitschriften der Jahrhundertwende, in: York-Gothart Mix (Hg.), Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus, S. 116-136, hier: S. 124.

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mehr an die „schnellfertigen Fabrikanten männlichen und weiblichen Geschlechts“, an die „stilistische schwächliche Fraubasereien männlicher und weiblicher Erzählhandwerker“.27 Auch die unzähligen Aufrufe zur nationalen Erneuerung der Literatur richten sich – wenn auch nicht gerade im männerbündischen George-Kreis – ausdrücklich an beide Geschlechter.28 Als Protagonist einer effeminierten Literatur gilt den ‚Modernen‘ neben Marlitt vor allem Paul Heyse. Gegen den „Damenpoeten“ machen die so genannten Jungen energisch Front, er steht exemplarisch für eine vom Markt korrumpierte, ästhetisch trivialisierte, weibische Journalliteratur.29 Diese neue Einschätzung eines „weiche[n], weibliche[n] Zug[es] in Heyse’s dichterischen Physiognomie“30 ist durchaus erklärungsbedürftig. Seit 1850 erschienen circa 160 Novellen, Dutzende von Dramen, acht Romane, Gedichtbände, Märchen, Essays, Literaturkritiken sowie zahlreiche Übersetzungen aus dem Italienischen.31 Heyse hatte Teil an den wichtigen gattungstheoretischen und poetologischen Diskussionen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und stand im Zentrum eines umfangreichen Netzes brieflicher Kommunikation, die den gesamten Zeitraum und fast alle Protagonisten des Poetischen Realismus umspannte. Er galt als Förderer und Ratgeber für junge Autoren und Autorinnen und setzte neue Maßstäbe in der Produktion von literarischem Erfolg. Im Unterschied zu Marlitt, die ihre Popularität mit derjenigen ihres Verbreitungs-

27 Gerhard von Amyntor: Frauenlob. Historischer Roman, 2 Bde., Leipzig 1885, S. 163, 167. 28 So macht Gerhard von Amyntor sich und seinen Kollegen Mut: „Die deutsche Litteratur des nächsten Jahrhunderts wird eine nationale sein, oder sie wird sich jedes Einflusses auf die Massen entschlagen müssen. […] Diese nationale Litteratur wird nur von einigen Männern, von ganzen Männern, oder ausnahmsweise von einigen wenigen zeugungskräftigen Mannweibern erschaffen werden; eine Frauenlitteratur von und für Frauen geschrieben, wie sie bei uns leider heute ins Kraut schießt, wird keinen Beifall mehr finden.“ Gerhard von Amyntor: Die Zukunft der deutschen Litteratur, in: Kurt Grottewitz (Hg.), Die Zukunft der deutschen Litteratur im Urteil unserer Dichter und Denker. Eine Enquête, Berlin 1892, S. 40-41, hier: S. 40 (Hervorhebung im Original). 29 Vgl. Bleibtreu, Revolution der Litteratur, S. XI-XII, 14, 24, 43, 52, 72, 77, 86f., zu Heyse S. 69, zu Marlitt S. 21; vgl. auch Karl Bleibtreu: Schlechte Gesellschaft. Realistische Novellen, Leipzig 1886. 30 Eugen Wolff: Geschichte der deutschen Literatur in der Gegenwart, Leipzig 1896, S. 182. 31 Vgl. Wolfgang Rath: Die Novelle. Konzept und Geschichte, Göttingen 2000, S. 244.

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mediums verknüpfte (und im Übrigen keine Dichterbriefe wechselte), gelang es Heyse, die Aura autonomen Dichtertums perfekt zu inszenieren und mit umfassender massenmedialer Präsenz zu verbinden. Exemplarisch für die Anerkennung der Zeitgenossen sei an dieser Stelle wiederum das Urteil des Freundes Fontane zitiert, der bereits 1853 prophezeite: „wenn unter allen jungen Poeten einer ist, den die Götter zu etwas Höchstem und Größtem bestimmten, so ist er’s.“32 Heyse realisiert also, was Fontane an seiner Zunft bemängelt: Er schreibt nicht nur Literatur, er repräsentiert vor allem den ‚Dichter‘, und dieser Habitus macht ihn zum Kristallisationspunkt einer literarischen Strömung, die in erster Linie am Verlust auratischen Dichtertums laboriert. Denn der Dichter, das zeigen die proliferierenden Dichtergedichte ebenso wie die Parodien auf Dichterfiguren, ist am Ende des 19. Jahrhunderts vollends „zur lächerlichen, anachronistischen oder angestrengten Attitüde“ herabgesunken.33 Erst Autoren wie George, Rilke, Hofmannsthal, Hauptmann oder Thomas Mann gelingt es, die Positure des Dichters als Führer und Prophet wiederzubeleben, obgleich deren wiedergängerische Goethe-Inszenierungen zumindest aus heutiger Sicht nicht weniger kurios erscheinen müssen als diejenigen Heyses oder Geibels. Mit der von ihm so titulierten ‚Marlitteratur‘ hatte der Klassizist Heyse in seinem Selbstverständnis nichts gemein, er sah sich vielmehr in den Fußstapfen Goethes.34 Darüber hinaus ließ er sich – mehr als andere

32 Fontane, Unsere lyrische und epische Poesie, S. 255. Die heimliche Verachtung, die nur in Briefen Fontanes Dritten gegenüber zum Ausdruck kommt, gründet vor allem im Neid auf den erfolgreichen Kollegen. Spies resümiert dieses merkwürdige Verhältnis: Heyse „genießt seine öffentlich anerkannte Vortrefflichkeit, indem er privatim immer wieder versucht, diesen ins Schlepptau des eigenen Erfolgs zu nehmen, und dabei weder mit Tat noch mit Rat spart. Der dergestalt mit Wohlwollen Bedachte [Fontane, M.G.] kann und will auf diese Förderung nicht verzichten, kann sich daher auch nicht entschließen, seine prinzipiellen Einwände offen auszusprechen, und rechnet diesen Selbstzwang dem Förderer als dessen charakterliches Defizit an.“ Spies, Ein bürgerlicher Großschriftsteller, S. 217. 33 Rolf Selbmann: Dichterberuf. Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Darmstadt 1994, S. 132. 34 Die Anspielungen und Andeutungen, die ihn als Goethe-Nachfolger legitimieren sollen, ziehen sich durch die gesamte Biographie – bis hin zur Italienreise – wie auch durch die biographische Selbstdarstellung, die stark an Dichtung und Wahrheit erinnert. Vgl. hierzu auch Klaus Jeziorkowski: Der Virtuose des Durchschnitts. Der Salonautor in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel Paul Heyse, in: Irmela Schneider

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Kollegen – auf die neuen literarischen Entwicklungen ein. Das bezeugt die Forderung nach einer ‚starken Silhouette‘ ebenso wie die Anlage der Novellen als experimentelle Versuchsanordnungen, in denen wie unter isolierten Laborbedingungen die menschlichen ‚Naturgesetze‘ entwickelt werden sollten.35 Die naturalistische Verwerfung Heyses als Autor ist deshalb nicht nur aus dem Aufstand der ‚Jungen‘ gegen das „literarische Leitfossil der Epoche“36 zu erklären, sondern geht mit demjenigen gegen das Journalgenre Novelle einher, für das der Name Heyse am Ende des Jahrhunderts gleichsam als Synonym stand. Mit seiner eher beiläufig entwickelten, vor allem in der Einleitung zu seinen Novellensammlungen formulierten ‚Novellentheorie‘ gelang es ihm, die Novelle als literarisches Genre zu etablieren und damit die Regeln des Massenmediensystems als Regeln des Literatursystems auszugeben. Zwar erinnert er in der Einleitung den „Ursprung“ der Novelle als „einfachen Bericht eines merkwürdigen Ereignisses“, weswegen ihr „ein gewisses Schutzrecht für das bloß Thatsächliche, das schlechthin Erlebte“ bleibe, zugleich ignoriert er aber deren Bedingtheit durch die periodischen Printmedien, indem er sie im Epos zu fundieren sucht.37 Ausgestattet mit einer immensen Medienmacht kanonisiert er ein Novellen-Verständnis, das deren ‚Herkunft‘ in alten Traditionen statt in neuen Techniken verortet. „In 46 Bänden trägt Heyse zusammen, was seiner Meinung nach ‚Novelle‘ heißen darf, unbelastet von jeder Rücksicht darauf, welche Bezeichnung die Originale tragen.“38 Die periodischen Printmedien sinken in dieser Erfolgsgeschichte zur äußerlichen und zufälligen Bedingung einer innerliterarischen Entwicklung herab, die von Boccaccio und Cervantes begründet wurde und über Goethe und Tieck bis in die Gegenwart reicht. Während Fontane auf den neuen Zeitgeist äußerst sensibel reagiert und seine Novellen kurzerhand in Romane umbenennt, versucht Heyse dem Zeitgeist eine Konstruktion der Novelle zu diktieren, die auch das eigene Schreiben werkfähig macht. Diese „gattungstheoretischen Anstrengungen [führen] geradezu zwangsläufig zur Verdrängung des medialen Aspekts: weil medienspezifische Bedingungen nur als Gattungstrübung verstanden werden. Der Prototyp einer Novelle, den Heyse konstruiert, ist ein gelehrtes Schreibtischprodukt, hilflos gegenüber der histori-

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(Hg.), Die Rolle des Autors. Analysen und Gespräche, Stuttgart 1981, S. 33-44, hier: S. 43f. Vgl. Paul Heyse: [Einleitung]. Deutscher Novellenschatz, hg. v. Paul Heyse u. Hermann Kurz, Bd. 1, München 1871, zit. n. RG 371. Jeziorkowski, Der Virtuose des Durchschnitts, S. 36. Heyse, Einleitung, S. 370, 371; vgl. auch Rath, Novelle, S. 244. Meyer, Novelle und Journal, S. 41.

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schen Realität. Der journalistischen Praxis, den faktischen Interessen der Leser und Verleger, der Vielfalt der literarischen Produktion.“39

Durch die Festlegung auf ein Schema (Falkenmotiv, Silhouette usw.) löst Heyse das höchst variable Genre aus dem Journalkontext heraus und hypostasiert bestimmte Eigenschaften zur literarischen Gattung, die dem „Bericht über sittlich-existentielle Neuheiten“40 verpflichtet ist. In diesem Sinne wird es auch verständlich, dass nicht etwa Fontane oder Raabe die großen Skandale des poetischen Realismus verursachten, sondern Heyse, für den Konflikt, Skandal und Tabubruch zum Genre selbst gehörten.41 Das bedeutet nicht, dass er danach nicht wieder Ordnung geschaffen hätte: Auch Heyses Realismus zielt „auf die Einheit von Individuum und Gesellschaft“.42 Das Phänomen Heyse kann in der Tat als „Wunder des Durchschnitts“ gelten, schaffte er doch gleichsam die Quadratur des Kreises: mit Massenproduktion erfolgreich die Position des ‚Dichterfürsten‘ zu besetzen, zugleich enorme Popularität sowie Spitzenhonorare zu erzielen, dabei die ganze Bandbreite der periodischen Presse – über diverse Tageszeitungen bis zur Gartenlaube und zur Deutschen Rundschau – praktisch alle führenden Familien- und Rundschauzeitschriften sowie Kalender, Almanache und Anthologien zu bedienen und das Resultat am Ende doch als ‚Werk‘ zu definieren. Eben dieses Wunder – die massenmediale Simulation von LITERATUR – erregte am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem deshalb Anstoß, weil sie ihre medialen Bedingungen nicht wirklich vergessen machen konnte. Was der medienversierte Heyse angesichts der rasanten Veränderungen verpasste, war der rechtzeitige und glaubhafte Wechsel des Verbreitungsmediums. Die kühne massenmediale Simulation ästhetischer Autonomie blieb den Albertis, Conrads, Bleibtreus, Harts etc. nicht verborgen. Im Interes-

39 Ebd., S. 41f. 40 Rath, Novelle, S. 245. 41 Mit der sittlich freizügigen Darstellung in Kinder der Welt löste Heyse einen literarischen Skandal aus, der schließlich zum Ende der Haude- und Spenerschen Zeitung führte, wo Heyses Roman im Jahr 1873 vorabgedruckt wurde. Vgl. auch die Zensur seiner Moralischen Novellen durch die Dichterkollegen (vgl. Spies, Ein bürgerlicher Großschriftsteller, S. 221ff.); zur eigenen literarischen Moral vgl. seine Selbstrechtfertigung: „An Frau Toutlemonde in Berlin“, in: Paul Heyse: Moralische Novellen, 8. Sammlung, Berlin 1869, zit. n. RG 372-377, wobei er die Reproduktion der Moral selbstbewusst mit unmerklichen Grenzverschiebungen verbindet (ebd., S. 376f.). 42 Rath, Novelle, S. 249.

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se einer Ausdifferenzierung des Literatursystems mit einem stabilen Code wurde Heyse, der mit seiner jüdischen Herkunft auch noch die antisemitischen Ressentiments der Gegner auf sich zog, als effeminierter Dilettant schlechthin diskriminiert. Er galt als korruptes, triviales und sentimentales ‚Litteraturweib‘, das dem Geschmack der (weibischen) Massen huldigte und die LITERATUR modisch prostituierte. Das Unrecht dieses Erfolgs schrie buchstäblich zum Himmel, wurden doch „Männer, die fernab vom Lärm des Marktes den innersten Eingeweiden ihres Wesens Originalschöpfungen in blutender Frische entreißen“, nicht nur nicht gelesen, sondern auch noch „von naseweisen Impotenten bekrittelt“.43 Angesichts solchen Märtyrertums konnten ökonomischer und publizistischer Erfolg nur mit dem Verdikt der Hurerei belegt werden. So echauffiert sich Conrad Alberti über „die unwürdigste Art der Kriecherei gegen das Publikum, der Hingabe an den Tagesgeschmack, dem Haschen nach dem Sensationellen, nur auf Kosten der Kunst ein paar Thaler mehr in der Tasche zu sammeln, wodurch sich der Schriftsteller zur geistigen Hure für das Publikum macht.“44 Für Alberti ist es ursächlich der schlechte Geschmack bourgeoiser und anderer Frauen, der den Niedergang der Literatur verursacht, die „Kriecherei“ der AutorInnen erst die Reaktion.45 Diese in jedem Sinn tadelnswerte Zeitgemäßheit trägt den Namen Mode, sie ist es, von der sich die Moderne abgrenzen muss.46 Während Mode nämlich (Geschlechts-) Körper in den Mittelpunkt stellt, eskamotiert ‚Moderne‘ diesen aus ihrem Gesichtskreis: der männliche Körper ist der „geschlechtsneutrale universelle Zylinder-Körper“.47 Die sinnlichen Reize des Konsums, die in der Mode systematisch mit der Formierung von Geschlechtskörpern verbunden werden, bestimmen das Begehren der (weiblichen) Masse, wohingegen individuelle Männlichkeit gerade in der Uniformität ihren

43 Bleibtreu, Revolution der Literattur, S. 72. 44 Conrad Alberti: Natur und Kunst. Beiträge zur Untersuchung ihres gegenseitigen Verhältnisses [1890], Leipzig o. J., S. 202. 45 Vgl. Conrad Alberti: Die Frau und der Realismus, in: Die Gesellschaft 6 (1890), S. 1022-1030. 46 Zu dieser Argumentationsfigur vgl. schon die Verachtung der zeitgenössischen Literatur z.B. bei Julian Schmidt, der in seinen Grenzboten – vergeblich – gegen die „Lectüre der Modejournale und die Fabrik von Sonetten an Blaustrümpfe“ kämpft. Schmidt, Die Märzpoeten, S. 81. 47 Sabina Brändli: „… die Männer sollten schöner geputzt sein als die Weiber“. Zur Konstruktion bürgerlicher Männlichkeit im 19. Jahrhundert, in: Thomas Kühne (Hg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt/M., New York 1996, S. 101118, hier: S. 114f.

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Ausdruck findet. „Der bürgerliche Mann bewies durch seinen grauen Anzug, daß er den Niederungen der Geschlechtlichkeit und Bedürftigkeit entwachsen“48 war, während die Frauen, so sie der Mode ausschließlich auf dem Gebiet der Kleidung huldigten, konforme Weiblichkeit ausstellten. Damit ist ein weiteres Paradox formuliert: Die Masse sucht in der Mode wie in den Massenkünsten die sichtbaren Zeichen der Andersheit, die jedoch aus der Sicht der Hüter der modernen Kunst gerade nicht zur Individualisierung, sondern zur Standardisierung führt.49 Letztlich verschärft sich für die ‚Modernen‘ das Problem, vor dem schon die Poetischen Realisten standen: Ein adäquates, ernsthafträsonierendes statt amüsiert-konsumierendes Publikum für eine ‚männliche‘, ‚nationale‘ Dichtung gibt es nicht. Der Aufbruch erfordert also nicht nur das Ringen um eine dauernde Literatur gegen das ephemere „Mode-Geschmier“, sondern auch dringend die Rekrutierung einer „männlichen Leserwelt“50 jenseits der (weiblichen) Massen, denn, so konstatiert wiederum Alberti: „Mit Literatur hatten sich von 70-84 außer alten Frauen und jungen Mädchen oder Gymnasiasten nur wenige reife ernste Männer beschäftigt.“51 Da die weibliche Lektüre seit 1800 als körperlicher Akt definiert ist – dispers, ungeregelt, regressiv und wahllos – desavouiert sie damit den ästhetischen Charakter der Literatur. „This uncritical devouring of fiction is a disturbing and threatening phenomenon because it negates the autonomy of the literary artifact; lacking any reference for the auratic status of the artwork, female desire collapses existing forms

48 Ebd., S. 115. 49 Zur Codierung der Masse als ‚weiblich‘ vgl. Ute Gerhard: Die Masse als Weib. Kollektivsymbolische Verfahren als Strategien des politischen und literarischen Diskurses im 19. Jahrhundert, in: Annegret Pelz (Hg.), Frauen, Literatur, Politik, Hamburg 1988, S. 145-153. „Die Effekte einer solchen Kodierung […] werden erst auf dem Hintergrund der ‚Hysterisierung des weiblichen Körpers und der Frauen‘ durch die Sexualisierungsstrategie des bürgerlichen Familialismus erklärbar, durch die jegliche nichtfamilialistische Weiblichkeit als anormal ausgegrenzt und pathologisiert wird.“ Ebd., S. 148. Die Masse in diesem Sinne ist, wie das (hysterische) Weib, wesentlich subjektlos und deshalb leicht erregbar, willensschwach, reizbar, extrem in den Reaktionen. 50 Falk Schupp: Zu früh! Warnungstafeln für galoppierende Fortschrittsgeister [1891], in: Gotthart Wunberg (Hg.), Das Junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887-1902, Bd. 1, Tübingen 1976, S. 173-181, hier: S. 178. 51 Alberti, Natur und Kunst, S. 98.

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of cultural distinction and differentiation and hence negates the specificity and value of the aesthetic.“52

Diese destruktive Form der Rezeption spiegelt sich in der literarischen Produktion: „Unsere Literatur ist mit geringen Ausscheidungen zu einer bloßen Frauen-, ja vielleicht Mädchenliteratur geworden.“53 Wer dagegen wirklich und definitiv ‚männliche‘ Literatur produziert, wissen die Modernen eigentlich selbst nicht so genau. Zwar ist man sich weitgehend einig, dass August Strindberg zum Männlichsten gehört, was die moderne Literatur der Jahrhundertwende zu bieten hat, doch darüber hinaus wird es schwierig, und die vielen wechselseitigen Beschimpfungen zeigen, dass der gender trouble durch die hektische Thematisierung von Männlichkeit erst recht eskaliert. „Die Schwierigkeiten, die Geschlechtsunterschiede in der Kunst zu fixieren, sind schon deshalb so gross, weil […] es leider Geschlechtsverschiebungen giebt, zumal in der unkontrollierbaren Sphäre des Geistigen, die alle hierauf bezügliche Streitfragen so leicht verwirren. Es ist eben nicht Jeder ein Mann, der Hosen und Wamms trägt […]. Das Weib lügt sich schliesslich geradezu zum Manne herauf […].“54

So wird nicht nur Heyse, der Polemiker gegen die ‚Marlitteratur‘, Opfer der Denunziationen, auch Nietzsche, der selbst höchst aggressiv gegen Wagner als hysterischen Schauspieler „femini generis“ vorgeht und eine männliche Erneuerung der Kultur fordert, gilt den ‚Jungen‘ als feminisiert.55 Am Ende ‚frisst die Revolution ihre eigenen Kinder‘, wenn dem so genannten konsequenten Naturalismus und seinen Protagonisten Hauptmann, Holz und Schlaf ex post die Männlichkeit abgesprochen und 52 Felski, Gender of Modernity, S. 86. Das berühmt-berüchtigte Beispiel für eine solche Lektüre entstammt – naturgemäß – selbst der Literatur: Madame Emma Bovary. 53 H. u J. Hart, Kritische Waffengänge, S. 53. Paul Ernst untermauert dies knapp zehn Jahre später: „Noch bis zu der Zeit der Gutzkow und Laube hatten die Männer lebhaften Antheil an der Literatur genommen; jetzt schwand das Interesse bei den Männern, und das Publikum rekrutirte sich aus Weibern. Die Literatur war so schlecht geworden, daß nur noch die Weiber an ihr Geschmack fanden, und weil nur noch die Weiber an ihr Geschmack fanden, wurde sie noch schlechter.“ Paul Ernst: Die neueste literarische Richtung in Deutschland, in: Die neue Zeit 1891, zit. n. Helduser, S. 101. 54 Leo Berg: Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst, München 1892, S. 221. 55 Vgl. Helduser, Geschlechterprogramme, S. 51f.

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die gesamte Bewegung kurzerhand exkommuniziert wird, indem ihr pauschal ein femininer, passiver Zug bescheinigt wird. Insbesondere ihre ‚Modernität‘ – etwa das Fehlen einer organisierenden Erzählstruktur oder der Mangel ästhetischer Transzendenz – gerät ihnen aus Sicht der noch Moderneren zum Verhängnis. Die daraus resultierende Einschätzung ist an Skurrilität kaum zu überbieten: „Der Naturalismus stellt sich dem Leben völlig passiv gegenüber. Er gleicht dem Schwamme, der so viel aufsaugt als er irgend fassen kann und auf einen Druck das Wasser wieder von sich gibt. […] Er bedeutet die Herrschaft des Weibes in der Literatur. Jede Schriftstellerin ist Naturalistin.“56 Es ist gerade die Vielstimmigkeit des Diskurses über Geschlecht, an dem erstmals auch Autorinnen beteiligt sind, die die Verwirrung heillos potenziert: Von der aggressiven Verwerfung alles ‚Weiblichen‘ in den differenztheoretischen Konzepten des Naturalismus über Androgynitätsmodelle, in denen männliche und weibliche Elemente gemischt auftreten, bis hin zum ‚Paradigmenwechsel‘ in der „Wiener Moderne“, wo einer degenerierten Männlichkeit eine natürliche, gesunde ‚Weiblichkeit‘ gegenübergestellt wird, die der männliche Künstler usurpiert,57 werden alle Facetten ausgeschöpft. Der Wechsel von Effeminierung, Androgynisierung und Feminisierung erweist durch die Austauschbarkeit letztlich aber gerade nicht die Tauglichkeit, sondern die Untauglichkeit der Geschlechterdifferenz zur Stabilisierung des literarischen Codes. Es handelt sich dabei in der Tat um eine epistemologische „Krise der Unterscheidungen“.58 Die literarische Moderne zerfällt in viele kurzlebige – modische – Ismen. Deshalb muss die Unterscheidung männlich/weiblich bei der Erneuerung des Genie/Dilettantismus-Schemas zum einen durch die Opposition gesund/krank bzw. fruchtbar/unfruchtbar, zum anderen durch nationale bzw. rassistische Differenz gestützt werden. In der chauvinistischen Moderne wird das männlich-gesunde Germanische gegen das überkultiviert-dekadente Französische ebenso in Stellung gebracht wie bereits gegen das trivial-kulturlose Amerikanische und gegen das ‚entartete‘ Jüdische.59 Der Effekt ist durchaus paradox: Durch die aggressive 56 Hans Landsberg: Die moderne Literatur, Berlin 1904, S. 21f. 57 Während Autorinnen von den Naturalisten nur in besonderen Ausnahmefällen gewürdigt werden, äußert sich die Wiener Kritik auffällig oft positiv über ‚Frauenliteratur‘ – aber nur, wenn sie als solche gekennzeichnet ist und mithin ihre Sonderstellung selbst ausweist. Vgl. hierzu Brigitte Spreitzer: Texturen. Die österreichische Moderne der Frauen, Wien 1999. 58 Koschorke, Die Männer und die Moderne, S. 150. 59 Zur konstitutiven Funktion des Rassendiskurses für die literarische Moderne vgl. Sander Gilman: Jewish Self-Hatred, Anti-Semitism and the ‚Hidden Language of the Jews‘, Baltimore 1986; Sander Gilman: Rasse, Sexualität

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Positionierung von Männlichkeit wird die asymmetrische Geschlechterdifferenz symmetrisiert. Symmetrische Differenzen sind aber keine mehr, sie verlieren ihre distinktive Funktion. Deshalb kommt der Unterscheidung literarisch/nichtliterarisch nun zunehmend die Aufgabe zu, die Unterscheidung männlich/weiblich zu stabilisieren.

und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur, Reinbek 1992; Christl Griesshaber-Weninger: Rasse und Geschlecht. Hybride Frauenfiguren in der Literatur um 1900, Köln, Wien 1999.

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2. Nietzsches Fall Wagner „Das wäre ja lächerlich, wenn es nur Männer gäbe.“1

Während für den Gartenlaube-Erfinder Ernst Keil, der als Protagonist eines mit Hilfe belletristischer Literatur erfolgreich ausdifferenzierten Mediensystems als Schreckbild der ‚Modernen‘ schlechthin gelten kann, „alles, was reine Kunst ist und nicht unmittelbar zweckdienlich […] eigentlich vom Übel“ ist,2 kämpft Nietzsche mit aller ihm zur Verfügung stehenden rhetorischen Gewalt gegen die überwältigende Macht der Massenmedien. Nietzsches Unzeitgemäßheit kollidiert mit der erfolgreichen Produktion von Zeitgemäßheit durch Keil und all diejenigen, die sich im Rahmen Realismus/Unterhaltung/Zeitschriften eingerichtet haben.3 Dass diese am Ausgang des Jahrhunderts als ‚effeminierte Massenkultur‘ diskriminiert wird, hat die kurze Skizze der naturalistischen Positionen gezeigt. Nietzsche wiederum macht seine ästhetizistische Kritik vor allem an der Figur Richard Wagners fest. In seiner Rekonstruktion einer ‚trivialen Moderne‘ schreibt er eine Verfallsgeschichte hoher Kunst, die wiederum mit einem Medium verbunden wird: dem Theater. Interessant dabei ist, wie Wagner im Laufe weniger Jahre vom Heros des männlichen Künstlers zur hysterischen Schauspielerin mutiert. Im vierten Stück der Unzeitgemäßen Betrachtungen aus dem Jahr 1876 anlässlich der Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses entwickelt Nietzsche an Wagner sein emphatisches Kunstprogramm, wobei die wechselseitige Abhängigkeit von Autor und Publikum noch als selbstverständlich gilt, denn damit „ein Ereignis Größe habe, muss zweierlei zusammenkommen: der grosse Sinn Derer, die es vollbringen und der grosse Sinn Derer, die es erleben.“4 Die künstlerische Tat wird zum Ereignis nur, wenn sie mit einer entsprechenden Empfänglichkeit rechnen kann. Bildet das Publikum also den ersten Unwahrscheinlichkeitsfaktor für das Gelingen von Kunst, so das Medium den zweiten. Denn letzteres

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David Günter in einem Gespräch am 15.08.2004. Ernst Keil, zit. n. Sybille Obenaus: Literarische und politische Zeitschriften 1848-1880, Stuttgart 1987, S. 16. Damit korrespondiert eine höchst „unbedarfte Publikationsweise“, die die Wirkungslosigkeit Nietzsches zementiert. Vgl. Helmstetter, Kunst nur für Künstler. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth [1876], in: Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 429-510, hier: S. 431 (im Text mit Sigle RW und Seitenzahl).

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ist verantwortlich für die „reine“ und „unentstellte“ Wiedergabe des Werks. Um diese zu garantieren, muss das Medium selbst in die Autorität des Künstlers übergehen, da nur er den wahren Sinn zu vermitteln vermag. Bayreuth kann mithin als Antwort auf ein Problem der Kunst selbst gelten, das im 19. Jahrhundert in den verschiedenen Gebieten unterschiedlich virulent wird: die Trennung von ‚Werk‘ und seinem Verbreitungsmedium, die es Dritten erlaubt, wiederum zwischen den Autor und sein Werk zu treten. Wie die Herausgeber und Redakteure der Zeitschriften so stehen auch die Regisseure und Intendanten nämlich immer schon im Verdacht, die integrale Werkgestalt zu veruntreuen. 1876 ist das Bayreuther Publikum für Nietzsche noch „anschauenswerth“, denn es handelt sich um den ernsten, kontemplativen, mithin männlichen Zuschauer, der die Kunst zu würdigen weiß und der deshalb – wie der Künstler – unzeitgemäß ist: „sie haben anderswo ihre Heimath als in der Zeit und finden anderwärts sowohl ihre Erklärung als ihre Rechtfertigung.“ (RW 432f.) Nur einer solchen Wahrnehmung offenbart sich das künstlerische Ereignis – im Sinne radikaler Neuheit, die auf keiner Tradition beruht und deshalb auch nicht Resultat einer Entwicklung ist. „Von einem solchen Unternehmen, wie dem Bayreuther, gab es keine Vorzeichen, keine Uebergänge, keine Vermittelungen; den langen Weg zum Ziele und das Ziel selber wusste Keiner ausser Wagner. Es ist die erste Weltumsegelung im Reiche der Kunst: wobei, wie es scheint, nicht nur eine neue Kunst, sondern die Kunst selber entdeckt wurde.“ (RW 433, Hervorhebung M.G.) Augenscheinlich geht Nietzsche in dieser frühen Schrift noch von der Möglichkeit einer gelungenen Einheit von Medium und Kunst aus. An die Stelle der Erneuerung tritt die „Wiederauferstehung“, womit das Publikum als Jüngerschar und Wagner als Messias der Kunst figurieren (RW 434). Die eschatologische Metaphorik wird mit den Attributen des Wahren, Siegreichen und Fruchtbaren verknüpft. Geweihte Zuschauer und ein sich opfernder Künstler finden zusammen im „Schauspiel aller Schauspiele“ (RW 449), dem Gesamtkunstwerk des „dithyrambischen Dramatikers“, der zugleich „den Schauspieler, Dichter, Musiker umfasst“ (RW 467). Doch diese Harmonie erscheint bereits verdächtig, und Nietzsches Wagner muss auf die Einsicht in die problematische Natur der Effekte reagieren, welche die große Oper produziert und sie in gefährliche Nähe zu jenen Massenkünsten rückt, von denen es sich um jeden Preis zu unterscheiden gilt: Der „um sich greifende Rausch der Gemüther“ einer „grossen Menge“ wirkt im Falle der Opern Wagners zwar subjektiv noch als „ehrlicher“ und „selbstloser“ „Wiederhall seines eigenen Erfahrens und Fühlens“ (RW 473), ‚objektiv‘ jedoch stellt sich dieser Weg als fataler Irrtum heraus – Wagner begreift „den modernen Erfolg, das moderne 305

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Publikum und das ganze moderne Kunst-Lügenwesen. Indem er zum Kritiker des ‚Effectes‘ wurde, durchzitterten ihn die Ahnungen einer eigenen Läuterung.“ (RW 474) Es zeichnet nach Nietzsche in dieser Betrachtung den Heros Wagner aus, der Verführung der ‚Menge‘ und der Mode nicht erlegen zu sein, sondern rechtzeitig im „Volk“ den wahren Künstler und das wahre Publikum zugleich entdeckt zu haben. „Denn wenn irgend Etwas seine Kunst gegen alle Kunst der neueren Zeiten abhebt, so ist es Diess: sie redet nicht mehr die Sprache der Bildung einer Kaste, und kennt überhaupt den Gegensatz von Gebildeten und Ungebildeten nicht mehr.“ (RW 503) In Wagners Werk scheint zumindest kurz auf, was Nietzsche sich unter Kunst vorstellt: Sie soll ‚das Volk‘ ein- und dabei doch ‚die Masse‘ ausschließen; sie soll die Ausdifferenzierung der Kunst vorantreiben und doch deren Dichotomien entdifferenzieren. Die Wirkungen dürfen nicht aus Effekten resultieren, sondern werden als Ergebnis der revolutionären Einheit von ‚Volk‘ und ‚Künstler‘ begriffen. Das geniale Werk, das dieser Einheit entspringt, findet sein Telos im „Mythus“. Dieser „Mythus“ aber, und hier manifestiert sich Nietzsches Zeitgenossenschaft, „war tief erniedrigt und entstellt, zum ‚Märchen‘, zum spielerisch beglückenden Besitz der Kinder und Frauen des verkümmerten Volkes umgeartet, seiner wundervollen, ernst-heiligen Mannes-Natur gänzlich entkleidet […]. Hier hörte der Künstler deutlich den Befehl, der an ihn allein ergieng – den Mythus in’s Männliche zurückzuschaffen und die Musik zu entzaubern, zum Reden zu bringen […[.“ (RW 477)

Die Abkehr von der effekthascherischen, oberflächlichen (weiblichen) Oper und die Hinwendung zum tiefgründigen mannhaften (Musik-) Drama, das Einheit, Harmonie und Totalität garantiert und dessen Schöpfung mit der Entdeckung des ‚Volkes‘ einhergeht, wird allerdings begleitet vom Los, das alle wahren Künstlergenies ereilt: die Vereinsamung, das Missverständnis, die Verflachung und Entstellung, die durch den „Jubel aufgeregter Massen“ ebenso befördert werden wie durch den Missbrauch des Mediums Theater als „gähnender Rachen der unersättlichen Langeweile und Zerstreuungs-Gier“, der regelmäßig und mit wohldosierten Portionen allgemein schmackhafter Kost gefüttert werden will. Deshalb „schnitt und hackte [man] sich seine Werke, Dank den gebildeten Kapellmeistern, geradewegs zur Oper zurecht […].“ (RW 482) Auch im Bereich der Musik obsiegt also, sofern man auf das Medium des Theaters angewiesen ist, das Gesetz der Serialisierung, das durch Vervielfältigung die Wirkungen auf sensationelle Effekte reduziert und durch Wiederholung die Mittel und Kunstgriffe des Genies abnützt (vgl. RW 497). Damit aber wird die Aufmerksamkeit vom Kunstwerk ab- und auf das 306

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Medium hingelenkt, was aus ästhetizistischer Sicht die ‚Todsünde‘ darstellt: „so erfand er [Wagner, M.G.] den Gedanken von Bayreuth“ (RW 483), doch auch dieser Versuch einer Rettung der Kunst erweist sich für Nietzsche am Ende als Illusion, da die erzwungene Einheit von Kunst und Medium letzteres gerade nicht zugunsten der Kunst vergessen lässt, sondern sich vielmehr als Spektakel mit eigenen Regeln geltend macht. Die Wiederbelebung der klassischen Dichotomie durch die hierarchische Unterscheidung von männlichem (autonom schöpfendem) Genie und weiblichem (nachahmendem, dilettierendem) Talent wird bei Nietzsche durch die Unterscheidung des Künstlers als des Gebenden und des Laien als des Reizbaren untermauert. Der Wunsch nach einer Erneuerung der Kultur geht auch bei ihm mit dem massiven Einsatz der Geschlechterdifferenz einher. Gegen die ‚Effeminierung‘ und ‚Kastration‘ der Kunst in einer ‚weibischen Massenkultur‘ setzt Nietzsche auf die Verbindung von Virilität, Fertilität und Potenz, durch die allein der ‚Krieg‘ zwischen Massenkultur und Kunst gewonnen werden könne. Doch bereits wenige Jahre später fungiert Wagner – nicht zuletzt aufgrund seiner wachsenden Popularität – in diesem Szenario nicht mehr als siegreicher Held, sondern als Schlüsselgestalt des Verfalls, durch die „die Modernität ihre intimste Sprache [redet]“.5 Wagner gilt nicht länger als ultimativer Schöpfer des ultimativen Gesamtkunstwerks, sondern als Prototyp effeminierter Dekadenz: „Wagner est une névrose.“ (FW 22) Seine Kunst erscheint aus der Perspektive der späten 1880er Jahre als Symptom eines fortschreitenden Kulturverfalls. Dekadenz bedeutet für Nietzsche vor allem die prinzipielle Unfähigkeit zum ‚Werk‘: „Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt. –“ (FW 27) Nietzsches paradoxes Ideal einer nicht populären Volkskunst teilt mit der autonomen Ästhetik die Ganzheit der „organischen Gestalt“. Dagegen schaffe Wagner nur „kleine Einheiten“, und „liebenswürdig“ ist er deshalb nur „in der Erfindung des Kleinsten, in der Ausdichtung des Détails“ (FW 28). Als „grösster Miniaturist“ erweist sich Wagner ganz als Zeitgenosse des 19. Jahrhunderts und seiner als weiblich codierten, weil theatralischen Kunst, 5

Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888], in: Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 9-53, hier: S. 12 (im Text mit Sigle FW und Seitenzahl). Mit dem Ideal der Unzeitgemäßheit lässt sich ein positiver Begriff des Modernen (der immer auch den zeitlichen Index mit sich führt) nur schwer verbinden, deshalb wird er bei Nietzsche fast immer negativ gebraucht (gegenteilige Äußerungen, die die eigene Position einbeziehen und dadurch die Kritik unterlaufen, gibt es bei Nietzsche bekanntlich immer).

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was durch die Charakterisierung Wagners als „unvergleichlicher Histrio“ noch unterstrichen wird. In ihm verbinden sich nach Nietzsche Schauspielerei und Detailmalerei zu einer populären Massenkunst, die ganz auf Effekte der Rührung und des Rausches ausgerichtet ist. „Nochmals gesagt, Wagner konnte nicht aus dem Ganzen schaffen, er hatte gar keine Wahl, er musste Stückwerk machen, ‚Motive‘, Gebärden, Formeln, […] – er musste grundsätzlich deshalb das ‚es bedeutet‘ in den Vordergrund bringen.“ (FW 35) Mit der Ausstellung von Bedeutung, die die Meisterschaft „des ganz Kleinen“6 in opulenten Großinszenierungen revidiert, steht Wagners Musikdrama aber nicht mehr als einmaliges, der ästhetischen Form huldigendes und mithin unzeitgemäßes Kunstereignis in der Welt, sondern teilt mit seiner Tendenz zu „vielen interessanten Attitüden“ (NW 419) die Zeitgenossenschaft moderner Unterhaltung. Für Nietzsche ist Wagners Popularität, die er in der frühen Schrift noch als unverschuldetes Missverständnis interpretiert, der Grund, den Verfall einer ganzen Kultur zu beklagen: „dass in Niedergangs-Culturen, dass überall, wo den Massen die Entscheidung in die Hände fällt, die Echtheit überflüssig, nachtheilig, zurücksetzend wird.“ (FW 37) Das 19. Jahrhundert als „Zeitalter der nachgemachten Originalität“, „der diplomatischen Kunstfertigkeit“,7 das seinen pöbelhaften Lärm maskiere und kostümiere, habe die Voraussetzungen für die Produktion und Rezeption authentischer Kunst desavouiert. Dem entsprächen Kommunikationsverhältnisse, die dem „Bedürfnissystem nach Anpassung und Entlastung, Aufreizung und Verdrängung nicht nur entgegenkomm[en], sondern es geradezu an den Bedingungen technisierter und mediatisierter Kultur ausrichte[n] und es an sie binde[n].“8 Mit Rekurs auf die LesesuchtDebatten um 1800 fasst Nietzsche diese Kommunikationsformen der Masse als körperliche Reaktionen der Ansteckung, auf die die Rezipien-

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Friedrich Nietzsche: Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen [1888], in: Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 413-445, hier: S. 418 (im Text mit Sigle NW und Seitenzahl). Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1880-82, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 9, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 401, 429. Renate Reschke: „Pöbel-Mischmasch“ oder vom notwendigen Niedergang aller Kultur. Friedrich Nietzsches Ansätze zu einer Kulturkritik der Masse, in: Norbert Krenzlin (Hg.), Zwischen Angstmetapher und Terminus. Theorien der Massenkultur seit Nietzsche, Berlin 1992, S. 14-42, hier: S. 17.

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ten mit Suchtverhalten antworten. Diese süchtige Abhängigkeit von der massenmedialen „Kunst des Tages“9 konstatiert Nietzsche allenthalben: „Die allgemeine Vergröberung des europäischen Geistes, ein gewisses täppisches Geradezu, welches sich gerne als Geradheit, Redlichkeit oder Wissenschaftlichkeit rühmen hört: das gehört der Herrschaft des Gedankens des demokratischen Zeitgeistes und seiner feuchten Luft: noch bestimmter – es ist die Wirkung des Zeitungslesens … bei weitem das Meiste, was gelesen wird, ist Zeitung oder Zeitungs-Art.“10

Die periodischen Printmedien substituieren Wissen durch Information und erzwingen Aufmerksamkeit, indem sie „dem groben, überarbeiteten, überreizten Geist“ durch immer neue Reize Nahrung geben und „immer mehr Nerven an Stelle des Fleisches“ (FW 47) anbieten. Der „PöbelMischmasch“ habe die unangenehme Eigenschaft, mit seinem mangelnden Sinn für Hierarchien diese nachhaltig außer Kraft zu setzen. Infolge der nivellierenden Tendenz zur Mediokrität werde der Geistesaristokratie durch die Masse der Boden entzogen, denn durch ihre passive Form- und Beeinflussbarkeit bilde letztere – im Unterschied zum Phantasma des ‚Volkes‘ – kein ‚satisfaktionsfähiges‘ Gegenüber, das den heroischen Einzelnen zu spiegeln und ihm so überhaupt erst zur Existenz zu verhelfen vermöge. Der Künstler als der große Einzelne werde von der Masse systematisch und strukturell in seiner Eigentümlichkeit missachtet. Das Theater als der Ort, an dem sich die verdächtigen Massen vergnügen, figuriert in Nietzsches Argumentation – wie die Familienzeitschriften bei den Naturalisten – als das Medium, in dem hohe Kunst zwangsläufig zur „Massen-Kunst“ degeneriere, für die der wahre Künstler nur „tiefen Hohn“ übrig habe (NW 419). „Theater ist: immer nur ein Unterhalb der Kunst, immer nur etwas Zweites, etwas Vergröbertes, etwas für die Massen Zurechtgebogenes, Zurechtgelogenes! […] Das Theater ist ein Massen-Aufstand, ein Plebiscit gegen den guten Geschmack […].“ (FW 42) Gerade hier nämlich findet jene folgenreiche Verwechslung zwischen wahrem Künstlertum und „frechem Dilettantismus“ statt, den die anmaßenden „Kunst-Idioten“ als Genialität missverstehen (FW 42). Als schauspielernder Popularisator des schlechten Geschmacks und Wegbereiter des Dilettantismus sei Wagner Verführer zu einer kran-

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Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1869-1874, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 7, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 814. 10 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1884-1885, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 11, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 440.

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ken Sinnlichkeit, die den ‚Geist‘ entnerve und die ‚Männlichkeit‘ vergessen lasse (FW 43). Wie eine Droge wirke Wagner rauschhaft und zugleich infektiös vor allem auf Jünglinge (die noch keine Männer sind) und Frauen (die keine Männer sind). Wagners Publikum ist wie das der Familienzeitschriften ‚weiblich‘: „Wagner hat das Weib erlöst; das Weib hat ihm dafür Bayreuth gebaut.“ (FW 44) Bayreuth sei nicht länger der ‚Gedanke‘, der vor der Popularisierung bewahren soll, sondern der populäre Abgrund, in dem die Menge gewonnen, der Geschmack aber verdorben werde (FW 42). Der entmannte Wagner und sein weibliches Publikum träfen sich in der Feier einer Musik, die auf Lüge, Täuschung, Suggestion und Schauspielerei basiere. „Die Gefahr der Künstler, der Genie’s […] liegt im Weibe: die anbetenden Weiber sind ihr Verderb. Fast Keiner hat Charakter genug, um nicht verdorben – ‚erlöst‘ zu werden, wenn er sich als Gott behandelt fühlt: – er condescendirt alsbald zum Weibe.“ (FW 18) Der Autor kann sich also nicht länger auf die ‚liebende Leserin‘ verlassen, da diese gerade nicht mehr, wie in der phantasmatischen Konstruktion um 1800, mit ihrer Spiegelung den männlichen Künstler als geniales Subjekt erschafft und ihn so die Medialität seines Werks vergessen lässt, sondern erwiesenermaßen promisk mit Verbreitungsmedien aller Art verkehrt. Die ‚Leserin‘ bildet nicht mehr, wie um 1800, die Voraussetzung der Kunst, sondern deren strikten Gegensatz. Vor diesem Hintergrund schließt Andreas Huyssen: „Nietzsche’s ascription of feminine characteristics to the masses is always tied to his aesthetic vision of the artistphilosopher-hero […]. And then Wagner, the theatre, the mass, woman – all become a web of signification outside of, and in opposition to, true art.“11 Erfolg (bei den weiblichen Massen) wird zum größten Problem des künstlerischen Heros und führt zur panischen Angst vor Vereinnahmung, Anpassung und Beifall von der falschen Seite. Indem Huyssen aber das Problem nicht prinzipiell im Wunsch nach Distinktion und Hierarchie, sondern ausschließlich im diesen begleitenden gendering situiert, übersieht er, dass die Grenzziehung „between genuine art and inauthentic mass culture“12 ohne dieses gendering gar nicht funktioniert, dass Geschlechterdifferenz von Anfang an die Funktion hat, diese labile Grenze zu stabilisieren. Die Dichotomisierung ist von der Geschlechterdifferenz nicht zu trennen. Und was verworfen wird, sind nicht primär die ‚Frauen‘ oder das ‚Weibliche‘, sondern die so codierten Verbreitungsmedien, nach denen frau so süchtig werden kann, dass die ‚Wirklichkeit‘ wie auch das Kunstwerk demgegenüber keine Chance haben.

11 Huyssen, After the Great Divide, S. 51. 12 Ebd., S. 52.

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Der Vorwurf, den Nietzsche an Wagner richtet und ihn zu seinem „Antipoden“ werden lässt, liegt in der Inszenierung des Mediums Theater als Massenspektakel, das sich als große Kunst maskiert. Die realistische Einheit zwischen dem Autor und seinem Publikum, die in der Moderne suspekt wird, steht unter Verdacht, auch wenn sich Wagner bemüht, dieses Publikum als ein besonderes, esoterisches vom sonstigen ‚Theaterpöbel‘ abzugrenzen. Medien aber müssen für einen emphatischen Kunstbegriff ganz vergessen werden, das Publikum soll die Trennung des ‚Werks‘ vom Verbreitungsmedium jederzeit vollziehen können. Im anderen Fall verbindet es sich eben, wie es als Kennzeichen ‚weiblicher‘ Lektüre seit 1800 beschrieben wird, mit dem Medium zu unkontrollierbaren körperlichen Akten. Diese bilden freilich das Gegenteil von dem, was Nietzsche unter dionysischer Lust versteht, bei der die Lust der Körper an den Medien in eine an den Werken verwandelt und auf diese Weise in die Kunst eingetragen wird. Mit Massenkunst verbindet Nietzsche zwei prominente Schreckgespenster: Demokratie auf der einen, Frauenemanzipation auf der anderen Seite. Letztlich bedroht die amorphe, hysterische, suggestible, unbeherrschbare und unberechenbare Masse durch die Tatsache, dass sie offenbar doch nicht so leicht formbar ist, wie es sich der Künstler-Heros vorstellt, denn sie macht ihre Ansprüche immer wieder gegen die Ansprüche der Kunst geltend. Gegen den zerstreuenden Konsum der süchtigen Literaturweiber fordert Nietzsche deshalb eine „Kunst für Künstler, nur für Künstler!“ (NW 438) Damit wird die Paradoxierung des Kunstsystems auf die Spitze getrieben: Es geht nicht um die Herstellung persönlicher (authentischer) Interaktion zwischen Künstler und Publikum gegen die anonyme Kommunikation der Massenmedien, sondern um die Austreibung des Publikums, das immer an die mediale Existenzweise von Kunst erinnert.

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3. Franziska zu Reventlows Gelächter „Alle wirkliche Dichtung ist Männerdichtung.“1

Zentrales Anliegen der naturalistischen wie der ästhetizistischen Positionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind die Restitution der Akteursfiktion ‚Autor‘ und des Kommunikationsmediums ‚Werk‘ sowie die authentische Inszenierung der anonymen Kommunikation als persönliche Interaktion mit einem den Autor spiegelnden liebenden Publikum, wie sie in Bayreuth oder auch im George-Kreis besonders deutlich hervortritt. Nietzsches ästhetizistische Selbstreferentialisierung versucht, zusammen mit dem Publikum das Medienbewusstsein aus der Kunst zu verbannen. Dagegen stellen die Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Forderung nach Rückführung der Kunst ins Leben, die mit einer deutlichen Erhöhung des Innovationsdrucks im Sinne einer permanenten Revolutionierung des künstlerischen Prozesses verbunden wird wie auch mit einem „universalistischen, gleichermaßen neuschaffenden wie vernichtenden Blick, den die Avantgardisten über Kunst und Leben schweifen lassen, um beide zu verändern.“2 Dabei dient vor allem das Manifest einer ‚herrischen‘ Dekretierung des ‚Neuen‘. Die Attraktivität dieses Genres, aus dem Bereich der Politik importiert, besteht in seiner Performativität: „Der Referent wird [im Akt der Unterzeichnung, M.G.] zum gleichen Zeitpunkt produziert, wie er als Identität vorausgesetzt wird.“3 Das Manifest erlaube, so Hahn, eine Geste der Selbstermächtigung, die nur im Akt selbst erscheint und im Übrigen nicht von einem intakten Subjekt ausgehen muss. Als Anweisung, Provokation, Aufruf und/oder Forderung legitimiert das Manifest den Autor, ein Manifest zu unterschreiben. Die Nähe zum politischen Dekret gestattet die Formulierung eines Anspruches, wonach „der Kunst eine führende, ja souveräne Rolle bei der Neugestaltung des Lebens“ zukomme.4 Anderer1

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Laura Marholm: Die Frauen in der skandinavischen Dichtung, in: Manfred Brauneck/ Christine Müller (Hg.), Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880-1900, Stuttgart 1987, S. 624-626, hier: S. 624. Wolfgang Asholt/Walter Fähnders: Einleitung, in: Dies. (Hg.), Der Blick vom Wolkenkratzer, S. 9-25, hier: S. 10. Torsten Hahn: Avantgarde als Kulturkampf. Das Manifest als Medium artistischer Politik, in: Hartmut Kircher/Maria KlaĔska/Erich Kleinschmidt (Hg.), Avantgarden in Ost und West. Literatur, Musik und Bildende Kunst um 1900, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 23-36, hier: S. 29. Hubert van den Berg: Zwischen Totalitarismus und Subversion. Anmerkungen zur politischen Dimension des avantgardistischen Manifestes, in:

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seits ist dieser grundsätzliche Anspruch immer schon religiös konnotiert, sofern das Manifest „unter den Bedingungen einer modernen, säkularen Gesellschaft essentielle Botschaften zu vermitteln sucht, die in ihrer Gewichtigkeit religiösen Textsorten zuzuordnen sind.“5 Mit Politik und Religion treten in der Form des Manifestes ‚Umwelten‘ der Kunst ins System ein und produzieren Irritationen, die die Ausdifferenzierung vorantreiben. „Der avantgardistische Impetus einer Aufhebung der Trennung von Produzent und Rezipient (Autor und Publikum) sowie das Postulat, daß ‚jede/r‘ ein Künstler sei“,6 realisieren sich in der Performativität des Manifests ebenso wie in der programmatischen Anknüpfung an die neuen visuellen Medien Fotografie und Film. Im Unterschied zum Modernismus der Naturalisten oder Nietzsches soll der Angriff auf die ‚bürgerliche Kultur‘ nicht mehr gegen, sondern im Schulterschluss mit der Massenkultur gelingen.7 Dabei lassen sich drei Strategien feststellen: zum einen die Aufnahme des Alltagslebens in die Kunst, die mit der Destruktion des traditionellen Werkbegriffs einhergeht, zum zweiten die Politisierung der künstlerischen Arbeit, die mit der Adressierung an ein veränderungsfähiges Subjekt verbunden ist, und drittens die Integration der Kunst in den industriellen Reproduktionsprozess, wobei gerade die Unterwerfung unter die technisch-industrielle Rationalität die künstlerische Produktivität freisetzen soll.8 Die Autonomie des Kunstwerks wird durch die Konstruktion der Wirklichkeit der Kunst als transgressives Projekt preisgegeben zugunsten der vollen Autonomie des künstlerischen Prozesses. Es geht allemal um die Gewinnung interessanter Medium/FormDifferenzen, die zu flüchtigen und augenblickshaften, aber doch ‚ir-

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Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.), „Die ganze Welt ist eine Manifestation“. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste, Darmstadt 1997, S. 58-80, hier: S. 63. Wolfgang Müller-Funk: Prophetie und Ekstase. Avantgarde als säkulare Erweckungsbewegung, in: Cornelia Klinger/Ders. (Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, München 2004, S. 27-52, hier: S. 30. Vgl. Fähnders, Projekt Avantgarde, S. 87. Nicht nur die Avantgarden, auch die periodischen Printmedien um 1900 radikalisieren das Neuheitsgebot, wie etwa Georg Hirths Die Jugend: Sie programmieren Neuheit als das biologisch Junge. Vgl. Linda KoreskaHartmann: Jugendstil – Stil der ‚Jugend‘. Auf den Spuren eines alten, neuen Stil- und Lebensgefühls, München 1969, S. 38. Vgl. hierzu Michael Müller: Avantgarde, Subjekt und Massenkultur, in: Klinger/Müller-Funk (Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, S. 171-180, hier: S. 173.

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gendwie‘ echten und ‚irgendwie‘ auch absoluten, auf jeden Fall höchst originellen ‚Kunstwerken‘ führen. Walter Fähnders hat im Anschluss an Peter Bürger9 gezeigt, dass die historischen Avantgarden sich ganz romantisch als Projekt bestimmen, das sich trotz und wegen seiner Prozessualität als vollendet setzt.10 Aktion, Manifest und Happening als Inszenierungsformen von Literatur, die die Verbreitungsmedien des 19. Jahrhunderts hinter sich gelassen haben,11 ist gemeinsam, dass sie durch ihre Fähigkeit zur Überschreitung noch der ureigensten Prämissen die Aufmerksamkeit von den Medien ihrer Verbreitung ab- und auf das nur noch blitzartige Erscheinen des Werkes hinlenken. Die permanente Revision dieses Prozesses ‚Avantgarde‘ erreicht dabei ein Tempo, das eine genussvolle Verbindung mit diesen Medien nicht mehr gestattet. Erst das Kino als bedeutsamste Form der Massenkünste im 20. Jahrhundert ermöglicht eine solche wieder. Wie vor ihm nur die Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts erreicht es eine nachhaltige Entdifferenzierung von Kunst und Massenkultur und damit ein homogenes, klassenübergreifendes Publikum, dem es um die Nutzung des Mediums und nicht um Autornamen und Werktitel geht. Die Avantgarden eignen sich aber auch das Kino zu anderen Zwecken an: Sie wollen Kunst produzieren jenseits der bürgerlichen Kunst. Deshalb führen die inhaltliche Animation der Avantgarden durch die Massenmedien wie auch die deutliche Anlehnung an deren industrielle Produktions- und Distributionsweisen nicht zu einer Entdifferenzierung des Kunstsystems, im Gegenteil: „Avant-garde art is, among other things, expressly designed to be the antithesis of mass art. […] Mass art and avant-garde art are conceptually antithetical in such a way that the identity of the one depends upon the contrast to the other.“12 Während Massenkünste auf universelle Zugänglichkeit setzen und sich permanent ihres Publikums versichern müssen, geht es der Avantgarde gerade um die Störung des Zugangs – das Publikum bleibt, allen Absichtserklärungen zum Trotz, auf esoterische Zirkel beschränkt. Gerade weil die Avantgarde aber die Technologien der Verbreitungsmedien wie auch andere „Umwelten“ des Kunstsystems zur Gewinnung von Medium/Form-Differenzen absorbieren kann, vermag sie diese wirksam vergessen zu lassen.

9 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974. 10 Vgl. Fähnders, Projekt Avantgarde, S. 69. 11 Auch wenn das erste futuristische Manifest Marinettis 1909 im Pariser Figaro erschien, so ist hier doch die Funktionalisierung des Massenmediums im Dienste des Kunstsystems vorrangig. 12 Noël Carroll: A Philosophy of Mass Art, Oxford 1998, S. 243.

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Manifest, Aktion, Happening bieten gerade als Provokation von Medienereignissen die Möglichkeit autonomer Selbstschöpfung in Zeiten, in denen deren Voraussetzungen vollständig abhanden gekommen sind. Sie programmieren Kunst als Provokation, Bruch und Innovation. Auch damit wird die System/Umwelt-Differenz mobilisiert, jedoch wiederum nicht im Sinne des „Projekts einer Entdifferenzierung von Kunst und Nichtkunst“,13 wie sie im 19. Jahrhundert durch die Überlagerung der LITERATUR durch die Massenmedien zu beobachten ist, sondern im Sinne der Gewinnung dieser Differenz als Stoff und Form zugunsten der Ausdifferenzierung eines stabilen Kunstsystems.14 „Die Reflexion auf den Unterschied zwischen Realität und Kunst wird zu einem entscheidenden Unterscheidungsmerkmal von Kunst und Realität.“15 In der Tat haben die Avantgarden die Kunstkommunikation nicht abgeschafft, sondern deren Prozessieren für lange Zeit konsolidiert. Gerade in der ständigen Drohung des Endes als Rückseite ihres ‚Präsentismus‘ und ihrer Zukunftsorientierung offenbart sich das Konzept der Avantgarde als äußerst stabil, und am Ende erweist sich „dieses schier endlose Enden und permanente Scheitern […] als (Über-)Lebensweise und Erfolgsrezept“.16 Auch die Verabschiedung des Autors zugunsten der Gruppe, die allemal vom genialen Künstlerheros angeführt wird, die Ablösung der „organischen Einheit“ durch das Fragment17 sowie die Proklamation einer Überwindung der Trennung in elitäre und Massenkultur formieren das Kunstsystem paradoxerweise so, dass es sich langfristig vom System der Massenmedien abzugrenzen versteht. Gerade durch die umfassende Mobilisierung der Kunst/Umwelt-Differenz erreichen die Avantgarden das Ziel, das seit 1800 zur Disposition steht: die Untrennbarkeit von Werk und Verbreitungsmedium, das jetzt nicht mehr unsichtbar sein soll, son-

13 Plumpe, Epochen moderner Literatur, S. 215. 14 Naturgemäß sind solche Generalisierungen, gerade für das komplexe Feld der Avantgarde(n), höchst problematisch, betrachtet man das wissenschaftliche Schreibprogramm des frühen Surrealismus oder auch die Unsinnsaktionen der Dadaisten. Dennoch wird hier eine Interpretation vorgeschlagen, wonach in allen avantgardistischen Strömungen der „bürgerlichen Kunst“ nicht Nicht-Kunst, sondern Anti-Kunst entgegengestellt wird, in der es letztlich vor allem um eine radikalere Distinktion geht. 15 Jäger, Die Avantgarde, S. 234. „Für die Geschichtsschreibung der Avantgarde bedeutet dies, daß sie nicht als Stilepoche, sondern als Institutionalisierung der Dauerreflexion über Kunst behandelt werden sollte […].“ Ebd., S. 236. 16 Cornelia Klinger/Wolfgang Müller-Funk: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Das Jahrhundert der Avantgarden, S. 9-23, hier: S. 10. 17 Vgl. Asholt/Fähnders, Einleitung, S. 15.

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dern ausgestellt wird. Die Störung, die „das Kopieren des Manifestierens ins Kunstsystem“18 erzeugt, sowie die damit verbundene Transgression führen nicht zum Abbruch der Kommunikation, sondern ermöglichen neue Anschlüsse. Bei allen Unterschieden, die die Ismen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts kennzeichnen, kann man von einem avantgardistischen Diskurs insofern ausgehen, als sich über alle Differenzen hinweg ein Ensemble diskursiver Praktiken beschreiben lässt, das bestimmt, wer überhaupt zur Rede über „die neue Ästhetik“ oder „den neuen Menschen“ autorisiert ist.19 Futurismus, Dadaismus, Surrealismus oder Expressionismus haben nicht nur einen bestimmten exklusiven Gestus gemein; von einem Diskurs kann auch gesprochen werden „im Hinblick auf das Objekt, das dieser Diskurs produziert, nämlich das Neue und den Bruch, und dann im Hinblick auf seine Aussagemodalitäten und Subjektpositionen. Innerhalb der gewiß großen Bandbreite der Möglichkeiten dominiert im Diskurs der Avantgarden jene Subjektposition, die Autorschaft, diskursive Autorität, Männlichkeit, Heterosexualität und männerbündische Gruppensolidarität zur Voraussetzung hat.“20

Auch den historischen Avantgarden ist eine Geschlechterdifferenz eingeschrieben, sofern es, wie in der literarischen Moderne, um die Wiederherstellung des ramponierten männlichen Autors gegenüber seiner ‚dekadenten Verweiblichung‘ geht. Im Zentrum avantgardistischer Literatur steht – das demonstriert besonders eindrücklich die futuristische Figur des Künstlerkriegers – der männliche Künstler selbst,21 in dessen Werken „der phantasmatische Charakter der männlichen Autorposition und damit auch des mit ihm transportierten Anspruchs auf universelles Kulturschöpfertum besonders eindringlich zur Schau gestellt wird.“22 Avant-

18 Hahn, Avantgarde als Kulturkampf, S. 33. 19 Birgit Wagner: Subjektpositionen im avantgardistischen Diskurs, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.), Der Blick vom Wolkenkratzer, S. 163182, hier: S. 177. 20 Ebd. 21 Eindrucksvoll nachgewiesen hat dies Annette Keck: „Avantgarde der Lust“. Autorschaft und sexuelle Relation in Döblins früher Prosa, München 1998. 22 Doerte Bischoff: „Dieses auf die Spitze getriebene Mannestum“, in: Kathrin Hoffmann-Curtius/Silke Wenk (Hg.), Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Beiträge der 6. KunsthistorikerinnenTagung, Tübingen 1997, S. 60-72, hier: S. 62. Bischoff hat anhand des proliferierenden Ausstoßes an Kriegsgedichten quer durch die Reihen der

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gardistische Autorschaft lässt sich in Kategorien Luce Irigarays beschreiben als ‚Spekula(risa)tion‘, d.h. als Projektion eines vom Körper unabhängigen, sich selbst im Geiste zeugenden Subjekts, das sich in der Spiegelung seines weiblichen Negativs beständig reproduziert.23 Tatsächlich wird ja das Weibliche für die Avantgarden umso wichtiger, je erfolgreicher die Frau aus dem autoerotischen Akt künstlerischer Selbstzeugung herausgedrängt wird.24 Demgegenüber profiliert Irigaray den Begriff der Mimesis als parodistischen Modus, mit Hilfe dessen die misogynen Stereotypen zum Nutzen einer neuen Version von Autorschaft destruiert werden können. „Es existiert, zunächst vielleicht, nur ein einziger ‚Weg‘, derjenige, der historisch dem Weiblichen zugeschrieben wird: die Mimetik. Es geht darum, diese Rolle freiwillig zu übernehmen. Was schon heißt, eine Subordination umzukehren in Affirmation, und von dieser Tatsache aus zu beginnen, jene zu vereiteln. Während diese Bedingung zurückzuweisen für das Weibliche darauf hinausläuft, den Anspruch zu erheben, als (männliches) ‚Subjekt‘ zu sprechen […]. Mimesis zu spielen bedeutet also für eine Frau den Versuch, den Ort ihrer Ausbeutung durch den Diskurs wiederzufinden, ohne sich darauf einfach reduzieren zu lassen. Es bedeutet […], sich wieder den ‚Ideen‘ […] zu unterwerfen, so wie sie in/von einer ‚männlichen‘ Logik ausgearbeitet wurden; aber, um durch einen Effekt spielerischer Wiederholung das ‚erscheinen‘ zu lassen, was verborgen bleiben mußte: die Verschüttung einer möglichen Operation des Weiblichen in der Sprache. Es bedeutet außerdem, die Tatsache zu ‚enthüllen‘, daß, wenn die Frauen so gut mimen, dann deshalb, weil sie nicht einfach in dieser Funktion aufgehen.“25

Mimetik impliziert dabei nicht nur eine Zurückweisung, sondern auch eine Umwertung des Diskurses der Misogynie. Zunächst maskiert sich die weibliche Rede, indem sie den Diskurs der Herren nachahmt; auf der zweiten Stufe wird die Nachahmung zur Parodie, d.h. die Anpassung er(mehr oder weniger) angesehenen Schriftsteller dokumentiert, dass die hier ausgestellte Auflösung der traditionellen Autorfunktion – die Texte sind ja gerade nicht individuell, sondern gleichen sich wie ein Ei dem anderen – bestens mit einem Schreibgestus harmoniert, der diese Position in der pathetischen Beschwörung des Künstlers als geistiger ‚Krieger‘ bzw. ‚Führer‘ erneut bekräftigt. Vgl. ebd., S. 63. Selbstverständlich sind derlei Radikalisierungen auf Expressionismus und Futurismus beschränkt, während sich Dadaismus und früher Surrealismus strikt gegen den Krieg wandten. 23 Luce Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt/M. 1980. 24 Besonders eindringlich in André Bretons Nadja. 25 Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979, S. 78.

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weist sich als vorgetäuscht. Im dritten Schritt schließlich, in dem, was Irigaray mimétisme nennt, vermag die weibliche Rede sich zur eigenen Freude die Attribute des verworfenen Anderen anzueignen und im Prozess dieser Aneignung mit neuer Bedeutung zu versehen (selbstverständlich durchläuft nicht jede weibliche Rede alle Stufen, die verschiedenen Modi gelten für unterschiedliche Texte). Irigarays Verfahren beschreibt ziemlich präzise die Funktionsweise der Parodien und Satiren Fanny Reventlows, die zeigen, dass auf die Differenzierungskrise der Moderne nicht nur mit markigem oder melancholischem Pathos, sondern auch mit schallendem Gelächter reagiert werden konnte.26 Reventlow nimmt die paradoxe und aggressive Diskursivierung von Geschlecht um 1900 auf, in der das Weibliche als absolute Natürlichkeit und absolute Künstlichkeit erscheint, das abwechselnd gelöscht oder vereinnahmt wird und in jedem Fall zur Autorschaft ungeeignet ist, und treibt sie mimetisch auf die Spitze. Damit antwortet sie auf die modernistischen und avantgardistischen Konstruktionen des Dichterpropheten bzw. des Künstlerkriegers. In ihrer spielerisch-destruktiven Arbeit an den Repräsentationen der Geschlechter löst sie die ‚Natur des Weibes‘ bzw. das ‚Wesen des Mannes‘ in Maskeraden und Posen auf. Literarische Autorschaft – und zwar nicht nur männliche, sondern auch weibliche und nicht zuletzt die eigene – sowie ihr Pendant, das Werk, fallen dem destruktiven Impuls der Parodie zum Opfer; propagiert wird Unterhaltung, Genuss und körperliche Befriedigung. Es fällt dabei auf, dass Reventlow mit dieser Subversion von Autorschaft wie auch mit ihrer textuellen Inszenierung des Lebens als Kunstwerk zwar zentrale avantgardistische Kriterien erfüllt, in diesem Kontext aber stets nur als schmückendes Beiwerk wahrgenommen wird. Eine Antwort könnte darin liegen, dass Attribute wie ‚modern‘ oder ‚avantgardistisch‘ für Texte mit weiblicher Signatur ebenso undenkbar sind wie ‚klassisch‘ oder ‚romantisch‘.27 Reventlow kündigt alle stillschweigenden Vereinbarungen über Literatur und Geschlecht auf. Mit äußerster Indiskretion richtet sie ihr Augenmerk auf die geschlechterdifferenten Codierungen von Autorprojektionen, Genres und literarischen Traditionen. Mit der Wahl disqualifizierter Genres aus dem 18. Jahrhundert wie Amoureske, Brief- oder Tagebuchroman situiert sie sich jenseits des modernistischen wie auch des avantgardistischen Diskurses, in dem beispielsweise Carl Einstein 1912 fordert: „Liebesgeschichten haben nur Sinn für von Jugend an kastrierte,

26 Die Selbstironie ist den Avantgarden zwar grundsätzlich immanent, doch sie überzeugt nur im Dadaismus. 27 Ausnahmen wie Else Lasker-Schüler bestätigen nur die Regel.

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schwer Frauenleidende Personen. […] Wer aus der Empfindung schafft, ist meist auf die Liebe, das Weib usw. angewiesen. Ich hingegen schlage eine Literatur für differenzierte Junggesellen vor […].“28 Die Eliminierung der Liebesgeschichte als Voraussetzung für die Erneuerung der LITERATUR impliziert auch die Austreibung der Unterhaltung und die exklusive Abgrenzung, denn „Zeugungsakt resp. Beischlaf“ können schließlich „von jedem einigermaßen realisiert werden“.29 Dagegen wählt Reventlow ausgerechnet das verpönte Thema der Journalliteratur, den Kampf der Geschlechter, und stellt ihn schonungslos aus: in höchst amüsanten, unprätentiösen ‚Romänchen‘, die in dieser Formatierung keinerlei Anspruch darauf erheben, ‚Werk‘ zu werden. In diesen treibt sie ihr böses Spiel mit den Topoi der zeitgenössischen Literaturkritik, in denen dem Publikum „hie und da zwischen dem Modell eines neuen Huts und dem Originalschnittmuster eines Kleides ein kleines Gedicht und ein schlechter Roman“ gefällt.30 Auch Reventlows Protagonistinnen ziehen den Hut und das Kleid in jedem Fall noch dem männlichsten Kunstwerk vor und die offene Prostitution, die auf ihre Kosten kommt, der versteckten ehelichen. Ganz unbekümmert verweigern sie den Dichtern und Künstlern, die die Romane und Novellen bevölkern, die liebende Spiegelung, indem sie sie in ihr eigenes narzisstisches Szenario integrieren. Was die ‚Frau‘ bei Reventlow – und das ist ausdrücklich keine ‚neue‘ – am ‚Mann‘ einzig interessiert, ist seine Tauglichkeit für das erotische Spiel, und da erweisen sich gerade die Dichter in der Regel als klägliche Versager. Der Sammelname ‚Paul‘ für ein lustiges, aber belangloses Erlebnis oder die Einteilung der Männerwelt in „Dauersachen mit Finanzhintergrund“ und „elegante Begleitdoggen“31 schließen den Raum hermetisch ab gegen Männerphantasien. Männlichkeit existiert nur in der weiblichen Vorstellung, wird zu deren Effekt. Mit großem Vergnügen setzt Reventlow die männlichen Phantasmen über Weiblichkeit literarisch in Szene. Zunächst scheint sie mit ihren 28 Carl Einstein: Über den Roman [1912], in: Werke, Bd. 1, hg. v. Rolf-Peter Baacke, Berlin 1980, S. 146-149, hier: S. 148; vgl. hierzu Sabine Kyora: Junggesell(inn)en-Ästhetik: Carl Einstein – Gertrude Stein, in: Annette Keck/Dietmar Schmidt (Hg.), Auto(r)erotik. Gegenstandslose Liebe als literarisches Projekt, Berlin 1994, S. 85-101. 29 Einstein, Über den Roman, S. 147. 30 Paul Schettler: Frauen in der Dichtung [1895/96], in: Erich Ruprecht/Dieter Bänsch (Hg.), Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890-1910, Stuttgart 1970, S. 555-562, hier: S. 557. 31 Franziska Gräfin zu Reventlow: Von Paul zu Pedro. Amouresken, in: Gesammelte Werke in einem Band, hg. v. Else Reventlow, München 1925, S. 917-991, hier: S. 958, 940 (im Text mit Sigle PP und Seitenzahl).

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Heldinnen sämtliche misogynen Stereotypen von Möbius bis Weininger zu reproduzieren. Bei genauerer Lektüre erweist sich dies aber selbst als Maskerade. Wie in ihren auf den ersten Blick skandalösen politischen Texten potenziert sie auch in ihren Romanen die traditionelle Geschlechteropposition, um deren Lächerlichkeit vorzuführen. In ihrem 1899 in Oscar Panizzas Zürcher Diskußionen erschienenen Aufsatz Viragines oder Hetären ereifert sie sich gegen die Zumutung einer grundlegenden Gleichheit von Mann und Frau, gegen die sie die ‚natürliche‘ Differenz des männlich-aktiven und des weiblich-passiven Geschlechts geltend macht. Dabei legt sie ganz nebenbei den Mann auf sein biologisches Geschlecht fest, sofern nämlich die „geschlechtliche Attacke […] die Urleistung des Mannes“ sei, in welcher „das Wesen und die Stellung des Mannes“ begründet liege.32 Unter dem Vorwand der Reproduktion des Differenzmodells bestimmt sie den Mann als Geschlechtswesen – ein Vorrecht, das bisher fester Bestandteil der Begründung von Weiblichkeit war. Dieser ersten Subversion folgt unmittelbar eine weitere, ist es doch eine zutiefst und ausschließlich hedonistische Position, von der aus Reventlow die Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter ablehnt. Das vorrangige Ziel liegt nicht in der Mühsal von Bildung und Arbeit, sondern im Müßiggang eines guten Lebens, der mit sämtlichen bürgerlichen Zuschreibungen gebrochen hat. Es besteht zum überwiegenden Teil in der Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse, zu denen es Unterhalt und Unterhaltung braucht.33 Für die Entsagungen im Falle einer Mutterschaft muss die Frau schon vorsorglich entschädigt werden, denn diese „ist nicht zur Arbeit, nicht für die schweren Dinge der Welt geschaffen, sondern zur Leichtigkeit, zur Freude, zur Schönheit. – Ein Luxusobjekt in des Wortes schönster Bedeutung, ein beseeltes, lebendes, selbstempfindendes Luxusobjekt, das Schutz, Pflege und günstige Lebensbedingungen braucht, um ganz das sein

32 Franziska Gräfin zu Reventlow: Viragines oder Hetären, in: Autobiographisches, hg. v. Else Reventlow, München, Wien 1980, S. 468-481, hier: S. 471f. (im Text mit Sigle VH und Seitenzahl). Der Titel stammt von Panizza, Reventlows Version lautete: „Was Frauen ziemt“. 33 Fast immer wird in der Rezeption unterschlagen, dass sich diese luxuriösen Forderungen ausdrücklich nur auf die bürgerlichen, d.h. materiell abgesicherten Frauen beziehen: „Das Streben, die Frauen der arbeitenden Klasse aus ihrer Misere zu befreien, ihnen bessere Lebensbedingungen, höhere Löhne zu schaffen, sich der Kinder und Wöchnerinnen, besonders der unehelichen, anzunehmen, alles das ist der sogenannte berechtigte Verkehr der ganzen Bewegung, der wohl kein vernünftig und human denkender Mensch seine Anerkennung versagen wird.“ (VH 470)

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zu können, das es eben sein kann. […] Wir sind dazu da, es gut zu haben und uns nicht beklagen zu müssen.“ (VH 478)

Reventlows Invektive richtet sich gegen eine langweilige und unerotische Welt. Dagegen positioniert sie die Hetäre, die sich davor hütet, „Romantik und schauervolle Wirklichkeit zu verwechseln“ (PP 920), und die sich gegenüber den Erziehungsversuchen, Bildungsanstrengungen und Lektüreempfehlungen ihrer Liebhaber als vollkommen resistent erweist.34 Ihre wahre Größe liegt darin, dass sie ‚nein‘ sagen kann (HD 821). Sie verweigert es mithin, sich in die literarische Kommunikation einspannen zu lassen, und beansprucht weder als Rezipientin noch als Produzentin Anerkennung in einer Sphäre, deren Regeln die bürgerliche Langeweile perpetuieren. Reventlows Hetäre hat „von Natur keine Prinzipien“.35 Damit reproduziert sie einen zentralen zeitgenössischen Topos, der nicht erst seit Nietzsche als wesensmäßige Bestimmung des ‚Weibes‘ gilt: „Wehe, wenn erst das ‚Ewig-Langweilige am Weibe‘ – es ist reich daran! – sich hervorwagen darf! Wenn es seine Klugheit und Kunst, die der Anmuth, des Spielens, Sorgen-Wegscheuchens, Erleichterns und Leicht-Nehmens, wenn es seine feine Anstelligkeit zu angenehmen Begierden zu verlernen beginnt! […] Nichts ist von Anbeginn an dem Weibe fremder, widriger, feindlicher als Wahrheit, – seine große Kunst ist die Lüge, seine höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit.“36

Offenbar jedoch, und das stellen die politisch so inkorrekten Inszenierungen Reventlows schonungslos aus, gehört sich für weibliche Rede nicht das, was die männliche für sich beansprucht: Der Gestus des Manifests – herrische Dekretierung – bleibt unverfügbar. Die Differenz beider Thematisierungen von Weiblichkeit als lügenhafter Schein ist enorm: 34 „Zum Beispiel, als Sie verlangten, ich sollte Hölderlins Hyperion lesen – oder wollen Sie immer noch nicht zugeben, daß Ihr Ansinnen deplaciert war. Im Süden und wenn man gerade romantisch aufgelegt ist – mit Vergnügen. Aber bei dem Regen und unter diesen Umständen […].“ (PP 921) 35 Franziska Gräfin zu Reventlow: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil, in: Gesammelte Werke in einem Band, S. 705-827, hier: S. 759 (im Text mit Sigle HD und Seitenzahl). Das gilt nicht nur für Maria und Susanna aus Herrn Dames Aufzeichnungen, sondern ebenso für die Ich-Erzählerinnen aus Der Geldkomplex oder Von Paul zu Pedro. 36 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, 2. durchges. u. erw. Aufl. München 1988, S. 171.

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Während der männlichen Rede wenn nicht offene Zustimmung zuteil, so doch mindestens ein geheimer wahrer Kern zugestanden wird, irritiert die weibliche Rede aufs Äußerste, stellt sie doch nicht nur unverschämte Forderungen auf, sondern lässt darüber hinaus keinen Raum für alternative Entwürfe von Weiblichkeit oder für männliche Phantasie. Das Skandalon der politischen Rede Reventlows besteht in der eigenmächtigen Rekonstruktion des Geschlechterverhältnisses. Ihr destruktiver Impuls richtet sich dabei nicht nur gegen die repressiven wilhelminischen Normen und Werte, vielmehr weitet dieser sich Schwindel erregend auch auf die vermeintlichen Alternativen aus. In ihren literarischen Texten, die vor allem aus der Not entstehen, den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn zu verdienen,37 bemüht sich Reventlow, jeden Verdacht von Literarizität zu zerstreuen. Dies gelingt zum einen durch die Wahl abgewerteter Genres, zum zweiten durch die Themenwahl der Liebesgeschichten und zum dritten durch deren Modellierung als ‚Schlüsselliteratur‘: „Die Wahl der Schlüsselromanform […] bedeutet weniger Rücksichtnahme auf die dargestellten Personen als künstlerische Absicht mit dem Ziel, den Genuß des Lesers um die Freude am Erkennen der Vorbilder zu erhöhen. Entscheidendes Kriterium des Schlüsselromans, der zugleich ver- und enthüllt, ist die Wiedererkennbarkeit von historisch-authentischen Personen, Zuständen und Ereignissen.“38

Der Schlüsselroman lenkt die Aufmerksamkeit vom Werk ab und auf die erzählte Geschichte und steht damit immer schon im Kontext der Trivialität, insofern er die Lüftung intimer Geheimnisse verspricht. Und als ob das nicht ausreichte, um ‚Werk‘ zu vermeiden, dementiert Reventlow bei jeder Gelegenheit den Anspruch auf Autorschaft. So können Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadt-

37 Den überwiegenden Teil ihres Lebensunterhalts bestritt sie durch regelmäßige Übersetzungen aus dem Französischen für den Verlag Albert Langen. Für dessen Satirezeitschrift Simplicissimus lieferte sie aber auch diverse satirische Beiträge, darunter vor allem viele Witze, das Stück für 5 Mark. Bereits der erste Beitrag dieser Art, die Novelle Das jüngste Gericht, provozierte einen literarischen Skandal, der mit Konfiszierung der Ausgabe wegen Gotteslästerung endete. Vgl. auch Brigitta Kubitschek: Franziska Gräfin zu Reventlow. Leben und Werk (1871-1918), in: Arno Bammé u.a. (Hg.), Zu früh zum Aufbruch? Schriftstellerinnen im Nordfriesland der Jahrhundertwende, Bredstedt 1996, S. 135-164, hier: S. 149ff. 38 Johannes Székely: Franziska Gräfin zu Reventlow. Leben und Werk, mit einer Bibliographie, Bonn 1979, S. 77.

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teil, die 1913 im Verlag Albert Langen erschienen sind, als Roman über einen Roman gelesen werden, der keiner sein will. Den Aufzeichnungen lag das Projekt des Schwabinger Beobachters zugrunde,39 der, im Frühjahr 1904 in drei Nummern erschienen, von Reventlow, Franz Hessel, Roderich Huch und Oscar Schmitz verfasst war und die massenmediale Öffentlichkeit des Mediums ‚Zeitung‘ suspendierte, indem er „halböffentlich nur bestimmten Personen zuging, die selbst die Urbilder der darin entworfenen Figuren waren.“40 Das „Versepos“ Schwabinger Beobachter, in dem die „Enormen“ gezwungen werden, ihre eigene „Enormität“ zu beobachten, entpuppt sich als Parodie auf Georges Blätter für die Kunst, die als das zeitgenössische Medium exklusiver Selbstverständigung über LITERATUR gelten müssen. Die Inszenierung der Identifikation von Autor und Werk bei den so genannten Kosmikern um Ludwig Klages, Alfred Schuler, Karl Wolfskehl und Stefan George wird persifliert zugunsten der Erkenntnis einer Identität von Autor und Pose.41 Der reinen Geste des männlichen „MeisterAutors“, von dem Herr Dame zwar schon gehört, aber noch nichts gelesen hat, wird ein Schreiben gegenübergestellt, das vom Geschlecht her zweideutig, vom Genre her trivial bleibt und damit das Ziel ‚Werk‘ negiert. Die Beobachtungen aus dem Zeitungsprojekt bedürfen für die Umarbeitung zu einem Roman der Einsetzung einer narrativen Instanz, die „hinter den verworrensten Widersprüchen doch noch irgendwo Klarheit“ (HD 740) zu vermitteln vermag. Zwar wird das Tagebuch, das der Erzähler führt, mit dem Hinweis, dass auch das „beste Vorbild für jeden jungen Deutschen“ – Goethe – „stets Tagebücher geführt habe“, als Ort der Stilbildung angepriesen, doch der Erzähler weist derlei weit von sich: „Was sollen mir derartige Hinweise? Ich habe gar keine Anlage zum Größenwahn – ich bin nur ein ‚belangloser‘ junger Mensch und heiße Dame und kann nicht aus meiner Biographie heraus.“ (HD 769f.) Das 39 Franziska Gräfin zu Reventlow/Franz Hessel: Schwabinger Beobachter, in: Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. 5, hg. u. mit einem Nachwort v. Baal Müller, Oldenburg 2004, S. 227-245. 40 Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur, Tübingen 2004, S. 191. 41 „Die Betroffenen sollen sehr entsetzt gewesen sein, als sie herausbekamen, daß die Haupttäterin die allseits umschwärmte Reventlow war; denn sie hatte das affektierte Getue derart lächerlich gemacht, daß von Weihe und Gloria noch Jahre später einiger Respekt abgebröckelt war.“ Erich Mühsam: Unpolitische Erinnerungen, in: Gesamtausgabe, Bd. 4: Prosaschriften II, hg. u. mit Anmerkungen v. Günther Emig, Berlin 1978, S. 115.

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Tagebuch führt nicht zu LITERATUR, sondern verbleibt im Vorhof der Kunst: Wie das ‚Leben‘ vom Erzähler immer nur gesucht und nicht gefunden wird, bis er bei einem Unglück ums Leben kommt, so gehen die stets vorläufigen ‚Aufzeichnungen‘ wie eine heiße Kartoffel von Hand zu Hand. Vom Verfasser werden die ‚Papiere‘, wie die umständliche „Vorrede einer Vorrede“ (HD 707) erläutert, einem ominösen Wir zur Verfügung gestellt, das sich selbst ausschließlich als Plural begreift: „Wie armselig, wie vereinzelt, wie prätentiös und peinlich unterstrichen steht das erzählende oder erlebende ‚Ich‘ da – wie reich und stark dagegen das ‚Wir‘. […] Wir brauchen keinen Zusammenhang, – wir sind selbst einer.“ (HD 707) „Wir“ reicht wiederum die Aufzeichnungen an einen nicht minder ominösen „Freund und Gönner“ weiter, der gleichfalls mit ihnen nach Belieben verfahren soll, denn: „Was damit geschehe, sei ihm ganz gleichgültig, wir möchten es je nachdem weitergeben, verschenken, vernichten oder veröffentlichen.“ (HD 709) Während Herausgeberfiktionen traditionell, wenn auch noch so ironisiert, die Aufgabe erfüllen, die Literatur als Auftrag, sei es eines Subjekts, sei es der ‚Geschichte‘ zu legitimieren, wird in diesem Fall der Auftrag durch die dezidierte Gleichgültigkeit des Auftraggebers gleich mehrfach dementiert. Diese Gleichgültigkeit fügt sich perfekt in die impassibilité des Verfassers, dessen Wesen als „eine gewisse betrübte Nachdenklichkeit oder nachdenkliche Betrübtheit“ beschrieben wird, das „Parfüms und schöne Taschentücher“ liebt (HD 708). Dass seine Erzählung von „eigentümlichen Menschen“ und „eigentümlichen Dingen“ (HD 709) nicht den Status literarischer Eigentümlichkeit erlangt, hat seine Ursache nicht zuletzt im Namen des Verfassers, der zur Autorschaft vollkommen untauglich ist, denn „wie kann man Herr Dame heißen?“ (HD 712) Dieses namentliche Zwittertum verhindert Autorschaft und bürgerliche Existenz, es verurteilt dazu, ein Verurteilter zu sein, und der Herzenswunsch Dames besteht dementsprechend darin, „man könnte seinen Nachnamen für alle Zeiten kassieren“ (HD 734).42 42 Die Konstruktion des „Herrn Dame“ trägt allerdings der Tatsache Rechnung, dass es sich bei diesem Roman um eine männlich-weibliche Kooperation handelt: Viele Passagen, die die theoretischen Zusammenhänge vermitteln, stammen zum Teil wörtlich von dem befreundeten Philosophen Paul Stern: „Schwabing rückt vor. Stern, können Sie mir nicht ein kleines Gespräch über schwarze und weiße Magie machen und etwas allgemein Orientierendes über Kreis und Meister?“ Franziska zu Reventlow an Paul Stern, Brief v. 14.6.1912, in: Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. 4: Briefe 1890-1917, mit einem Nachwort hg. v. Martin-M. Langner, Oldenburg 2004, S. 581.

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Mit großem Interesse und unverhohlener Freude beobachtet der Text sein eigenes Nichtzustandekommen – in den eingeschobenen Kommentaren des ‚Wir‘, die Fehler und Inkonsequenzen der mangelnden Fertigstellung zuschreiben, wie auch durch Dame selbst, der sich nicht nur um den ‚Faden‘ der Handlung sorgt, sondern auch um die Vermittlung der „seltsamen und umfangreichen Gedankenwelt“. Doch am Ende obsiegt auch hier Dames Gleich-Gültigkeit: „und wer nicht dazu gewillt ist, der möge das Buch ruhig aus der Hand legen oder es mit einem anderen vertauschen.“ (HD 746)43 Am Ende ist es nicht nur der eigene Dilettantismus, sondern vor allem auch die Tatsache, dass die zu erzählende Geschichte keine Pointe hat, die das Scheitern vollendet: „Mein Roman, – ich fürchte, er wird nie geschrieben werden. Es bedürfte wohl einer geübteren Hand als der meinen, um aus dem, was ich hier erlebte und erleben sah, eine nur halbwegs zusammenhängende Handlung zu gestalten. Und selbst, wenn ich es könnte, – es kommt mir vor, als ob der Leser sich um den Höhepunkt der Handlung, den er doch dazu mit gutem Recht erwartet, betrogen fühlen würde. Denn eben dieser Höhepunkt ist nie gekommen, – es war alles schon vorher zu Ende.“ (HD 824)

Den verbindlichen Maßstab für das Gelingen einer Erzählung bildet der ‚Höhepunkt‘, der Interesse weckt und Spannung erzeugt – eine Geschichte ohne Höhepunkt ist den LeserInnen nicht zuzumuten. Diese Absage an modernistisches Erzählen korrespondiert mit der Parodie auf die Helden des Schwabinger Kosmiker-Kreises, gesehen durch die naiven Augen Dames. Dabei ist es vor allem das Modell der Schlüsselliteratur, das gegen die modernen wie avantgardistischen Kunstprogramme in Stellung gebracht wird.44 Während etwa das handverlesene Publikum an 43 Vgl. dagegen die Inszenierung von Schrift als Verlautbarung durch die Enormen: „Das Schreiben war in altrömischen Lettern auf Pergament gemalt und mit einer purpurnen Schnur umwunden, an welcher ein umfangreiches Wachssiegel hing. Überreicht wurde es von einem Soldaten, den Delius in Ermangelung eines römischen Söldners aus der städtischen Kaserne geholt hatte.“ (HD 819) 44 Gertrud Rösch hat gezeigt, dass die Durchsetzung der Schlüsselliteratur um 1900 eng mit der Selbstlegitimierung der Literaturwissenschaft sowohl in ihrer empiristischen (Scherer) als auch in ihrer hermeneutischen (Dilthey) Variante verflochten ist. Dabei geht es um ein Deutungsmodell, „das einerseits die Biographie als maßgeblichen Einfluß herausstellte, aber andererseits auf einer Differenz zwischen Faktum und Fiktion beharrte.“ Rösch, Clavis Scientiae, S. 182; zum literaturwissenschaftlichen „Kurzschluß von Leben und Werk“ bei Scherer, Dilthey u.a. vgl. auch Hans-Martin Kruckis: Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19. Jahrhun-

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den Inszenierungen des ‚Meisters‘ dessen Genie selbst als Kunst bewundern soll, können die LeserInnen des Romans hinter den platten Anspielungen die realen Figuren entdecken und sich über die Inszenierungen und Stilisierungen amüsieren. „Den Meister sah ich zum erstenmal aus der Nähe, als Cäsar in weißer Toga und mit einem goldenen Kranz um die Stirn“ (HD 781), während Delius dem Ich-Erzähler imponiert, weil er „so selbstverständlich die sonderbarsten Sachen sagt. Es kommt gar nicht darauf an, ob er von seinem Schneider redet oder von Urschauern.“ (HD 778) Dagegen sucht Hallwig „möglichst viele kosmische Substanzen um sich zu sammeln – kreiert Sonnenknaben, Hetären und Priesterinnen […].“ (HD 803) Das ‚Geheimnis‘, das seine Gehilfen um den Meister machen, wird so aufbereitet, dass dahinter die Geste und die Pose als wesentliches Kennzeichen von Genialität zum Vorschein kommt – „das Wirkliche erscheint an sich schon komisch und so amüsant, daß es der Fiktion im strengen Sinne gar nicht mehr bedarf.“45 Reventlow muss im Grunde nur ihr Leben erzählen, und schon befindet sie sich inmitten der kuriosesten Parodie. Auf diese Weise wird auch das hermeneutische Paradigma ad absurdum geführt: Die Lesenden werden zwar dazu aufgerufen, hinter den nur leicht verhüllten Namen die realen Personen zu suchen (und sich über diese zu amüsieren), doch die Illusion, vom ‚Werk‘ auf den ‚Autor‘ Rückschlüsse ziehen zu können, wird enttäuscht – der Autor ist eine Autorin, die gar keine sein will. Die entschlüsselnde Lektüre führt nicht zur Fixierung eines literarischen Autors, sondern zum Bild einer leichtlebigen Kurtisane, die sich ziemlich dilettantisch nicht um Ruhm, sondern um Geld sorgt: Sie „liebt die Enormen, und sie liebt uns – sie liebt überhaupt alles, aber man sieht es nicht gerne, daß sie so universell ist […].“ (HD 735) Noch deutlicher formuliert findet sich die Absage an ein schöpferisches Dichtertum in dem 1916 erschienenen Briefroman Der Geldkomplex, wo Reventlow die Erkenntnisse der Psychoanalyse über den dark continent dreist materialistisch umkehrt und die weibliche Neurose statt auf einen Kastrations- auf einen Geldkomplex zurückführt. Im Streit mit einer frauenbewegten Dame verteidigt die Protagonistin den eigenen Dilettantismus vehement gegen den Verdacht des ‚Schöpfertums‘.

dert, in: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 1994, S. 550-575, hier: S. 573. 45 Irmela von der Lühe: Mythos zu Lebzeiten? Selbst- und Fremdbilder in den Briefen und Briefromanen Franziska zu Reventlows, in: Anita Runge/Lieselotte Steinbrügge (Hg.), Die Frau im Dialog. Studien zu Theorie und Geschichte des Briefes, Stuttgart 1991, S. 125-146, hier: S. 140.

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„Du weißt ja, Maria, ich kann das nun einmal nicht vertragen und habe gegen das bloße Wort eine förmliche Idiosynkrasie. So fuhr ich denn auch diesmal auf wie von sechs Taranteln gestochen und sagte: Nein, ich sei gar nichts. Aber ich müsse hier und da Geld verdienen und dann schreibe ich eben, weil ich nichts anderes gelernt habe. Gerade wie die Arbeitslosen im Winter Schnee schaufeln – sie sollte nur einen davon fragen, ob er sich mit dieser Tätigkeit identifizieren und sein Leben lang mit ‚Ah, Sie sind Schneeschaufler‘ angeödet werden möchte.“46

Mit solchen Statements bedient Reventlow alle Schreckgespenster, die in der Moderne über schreibende Frauen entfaltet werden. Die Befriedigung durch geistige Betätigung kennt die Protagonistin nur vom Hörensagen, „geistige Arbeit“ hält sie „für vollends ruinös und schrecklich“ und Schreiben gilt nur dem Gelderwerb: „was mich selbst in solchen Fällen aufrecht erhält, ist ausschließlich der Gedanke an das Honorar.“ (GK 842)47 Literarische Autorschaft wird desavouiert – an die Stelle des Anspruchs auf Beteiligung und Anerkennung tritt die Idiosynkrasie dagegen. Denn wenn die Avantgarden „das Skalpell führen“ und sich „durch Schnitte von Traditionen und Moden abtrennen“,48 dann findet Reventlow mit ihren Figuren diese schmerzhaften Eingriffe einigermaßen unappetitlich. Der avantgardistische Gründungsmythos vom reinen Anfang, das Bedürfnis nach dem weißen, unbeschriebenen Blatt, verspricht das Recht der Erstsignierung. Die ‚Beschriftung‘ ist Aufgabe des Künstlerkriegers, der auf diese Weise das von den realistischen ‚Litteraturweibern‘ des 19. Jahrhunderts unrechtmäßig okkupierte Terrain zurückerobern muss. Statt diese reinigende Geste nachzuvollziehen, die Literatur als autonome restituieren soll, weist Reventlow den priesterlichen wie den kriegerischen Gestus moderner wie avantgardistischer Literatur als lächerliche Attitüde zurück: „Dem Schmerzensmann stehen keine Schmerzensfrauen gegenüber.“49 Die moderne Krise des Subjekts wie die

46 Franziska Gräfin zu Reventlow: Der Geldkomplex. Roman, in: Gesammelte Werke in einem Band, S. 829-915, hier: S. 841f. (im Text mit Sigle GK und Seitenzahl). 47 Auch Reventlows eigenem Schreibprozess liegt keine Vision nach literarischer Selbstverwirklichung zugrunde. Schon der erste Roman Ellen Olestjerne entsteht einzig aus der Hoffnung auf eine bequeme Einnahmequelle. Vgl. auch von der Lühe, Mythos zu Lebzeiten, S. 131. 48 Juliane Vogel: Cutting. Schnittmuster weiblicher Avantgarde, in: Thomas Eder/Klaus Kastberger (Hg.), Schluß mit dem Abendland! Der lange Atem der österreichischen Avantgarde, Wien 2000, S. 110-131, hier: S. 110. 49 Ebd., S. 122.

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Krise der Kunst bleiben, verlängert man diese Gedanken auf die Textpraxis Reventlows, das Problem des Mannes, des Künstlers. „‚Man‘ tut doch schließlich in erster Linie, was einen freut, und weil es einen freut. Und das ist natürlich jedesmal etwas anderes. Es kann wohl manchmal Liebe und ‚große Leidenschaft‘ sein, aber ein andermal – viele, viele andere Male ist es nur Pläsier, Abenteuer, Situation, Höflichkeit [...]. Jede einzelne Spielart hat ihre besonderen Reize, und das Ensemble aller dieser Reize dürfte man wohl Erotik nennen.“ (PP 925f.)

Statt sich über ‚Schnitte‘ von der Tradition zu verabschieden, wozu selbst wieder ein Autor-Projekt im Sinne der ‚Führer‘, ‚Propheten‘ und ‚Meister‘ der Moderne nötig wäre, nutzt Reventlow die Liebesgeschichte zur Kolportage solcher längst vergessenen Neuheiten.50 Sie „schreibt Briefe und Briefromane, um sich im Schreiben und als Schreibende zu amüsieren“.51 Dabei wird die Ausstellung authentischer Innerlichkeit in persönlicher Interaktion in jeder nur erdenklichen Weise konterkariert. „Bei den ersten Jugendlieben schrieb ich immer ein pathetisches Datum: sieben Uhr morgens – die Vögel zwitschern schon vor meinem Fenster; ob sie wirklich zwitscherten, weiß ich heute nicht mehr zu sagen, aber es machte sich so hübsch.“ (PP 922) Pathos und Sentiment, die Ingredienzien des Liebesbriefes, werden ebenso bloßgestellt wie das unbedingte ‚Wahr-Sagen‘, das noch Storm von seiner Braut forderte. „Der Brief oder das Tagebuch sind nicht nur typische Publikationsformen des Neuen, sie sind zugleich Medien des Geheimnisses“52 – nicht mehr einer ‚weiblichen Seele‘, sondern männlicher Befindlichkeiten. Das Medium Brief tritt nicht in seiner Funktion der Herstellung intimer Interaktion, sondern in seiner Beteiligung an der Herstellung anonymer Kommunikation ins Bewusstsein. Dementsprechend geben ihre Protagonistinnen weder ein verlässliches Äußeres zu sehen, noch ein authentisches Inneres: Weiblichkeit ist Maskerade.53 Weibliches Begehren wird als kühle und egozentrische Rechnung einer Hetäre ausgestellt, die froh ist, „wenn sie [die

50 Ein vergleichender Blick auf Lasker-Schülers Der Malik zeigt, dass die Form des Briefromans zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr unterschiedlich genutzt wurde. Während Reventlow tatsächlich das Populäre der Form profilierte, bemühte sich Lasker-Schüler um eine ‚Modernisierung‘ des Genres im Sinne der ästhetischen Ansprüche der literarischen Moderne. 51 Von der Lühe, Mythos zu Lebzeiten, S. 142. 52 Andree, Archäologie der Medienwirkung, S. 260f. 53 Vgl. Joan Riviere: Womanliness as a masquerade (1929), in: Athol Hughes (Hg.), The Inner World and Joan Riviere. Collected Papers 1920-1958, mit einem Vorwort v. Hanna Segal, London, New York 1991, S. 90-101.

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Männer, M.G.] sich nicht scheiden lassen wollen, um einem ‚fürs Leben anzugehören‘“ (PP 920), und die ihr „Leben lang allen menschlichen und seelischen Konflikten gewachsen [war], nur den wirtschaftlichen nicht.“ (GK 837) Der voyeuristische Blick, der die Rezeption des empfindsamen Briefromans steuert, kommt nicht mehr auf seine Kosten, die Unschuld ist schon vor Beginn der Erzählung gefallen. In der Entfesselung der seelenlosen, aber doch charmanten Hexe, die das Prinzip instrumenteller Rationalität verstanden hat und an ihren männlichen Liebhabern exekutiert, usurpiert Reventlow das Bild der femme fatale – den Liebling der männlichen Kunst – für ein weibliches Schreiben. Ihre ‚feindliche Übernahme‘ der bildlichen Funktionen des Weiblichen führt zu auch für heutige Lektüren noch überraschenden Wendungen: Sie sabotiert die berühmten weiblichen Pflichten und arrangiert ihre Protagonistinnen als genusssüchtige Waren, die sich selbst tauschen und die nichts weniger ersehnen als ‚Bildung‘ und ‚Autorschaft‘. Die ‚inakzeptablen‘ literarischen Texte, nicht rubrizierbar unter einen der diversen Ismen nach 1900, ersetzten schon Reventlows Zeitgenossen durch ein ‚akzeptables‘ Zeichen – das des unkonventionellen Lebens.54 Dagegen wurde und wird ihrer Literatur die Aufladung als kulturell bedeutsames und mithin kanonfähiges Zeichen verweigert.55 Franziska zu Reventlow gilt stilistisch nicht als Autorin der Moderne und keinesfalls wird sie den Avantgarden zugerechnet, obgleich sie deren Kriterien sehr weitgehend erfüllt. Das Mittel der Provokation durch den radikalen Bruch mit Konventionen und Traditionen beherrscht sie ebenso souverän wie die Figur der Überschreitung; die Überwindung der Trennung in elitäre und populäre Literatur erreichen ihre Brief- und Tagebuchromane, ihre Novellen und Erzählungen mit geradezu rücksichtsloser Leichtigkeit; die Forderung nach einer Rückführung von Kunst in Leben scheint ihr geradezu eine Selbstverständlichkeit. Deshalb sind die hermeneutischen Lektüren, die vom ‚Werk‘ aufs Leben und zurück schließen, in diesem Fall so langweilig wie unergiebig. Dem herrischen Gestus, der im Genre des Manifests ebenso zum Ausdruck kommt wie in der albernen Wichtigtuerei des „Meister-Autors“, verweigert Reventlow die Anerkennung, denn „was habe ich davon, wenn ich abends dionysisch herumrase – mir wie ein Halbgott vorkomme und am nächsten Morgen doch wieder 54 An diesem Mythos hat sie selbst kräftig mitgewirkt, doch nicht ohne ihn selbstironisch zu dementieren. Vgl. von der Lühe, Mythos zu Lebzeiten, S. 142. 55 Die biographistische Sekundärliteratur zu Reventlow liefert bis heute ein überaus trauriges Zeugnis, dass diese Form der Substitution denen, die in bester Absicht eine Verschollene zu erinnern meinen, nicht bewusst ist. Vgl. Keck/Günter, Weibliche Autorschaft und Literaturgeschichte, S. 207f.

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mit der Trambahn in mein Bureau fahren muß […].“ (HD 758) Ihre Texte bleiben deshalb trotz intensiver Verstrickung in deren Kreise vom Treiben der Modernisten und Avantgardisten aller Couleur unbeeindruckt. Eine Literaturkritikerin der Weltbühne hat diese sehr spezielle Form der Neuheit 1925 erkannt: „zunächst bleibt uns dies Neue ein wenig fremd, weil es die Identität von Buch und Persönlichkeit vermissen läßt.“56 Diese Identität ist es aber, die auch und gerade in der Moderne aus Texten Werke macht, die die Kommunikationen im Literatursystem garantieren.

56 Martha Maria Gehrcke: Ernst Reventlows Schwester, in: Die Weltbühne 22, 1 (1926), S. 702.

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VIII. R E S Ü M E E „Wenn ich sage, daß Franz Werfel Kitsch ist, dann muß ich zugeben, daß Edgar Wallace auch Kitsch ist. (Aber das kann mich doch höchstens abhalten, den Werfel zu lesen. Den großen Wallace laß ich mir doch nicht nehmen!)“1

Mit der Ausdifferenzierung des Literatursystems um 1800, von der empfindsamen Erfindung einer weiblichen Natur sekundiert, wird genussvolles Lesen, das sich nicht in den Sphären des Literatursystems und seiner Offerten bewegt, als minderwertig, nutzlos oder gar gefährlich ausgegrenzt, während Schreiben mit weiblicher Signatur als das ‚Andere der Kunst‘ im Verdacht steht, Affären mit Medien einzugehen und grundsätzlich dem Dilettantismusverdikt unterliegt. Zugleich wird diese Tatsache in der Basisfiktion von der Geschlechtsneutralität wie in der Medienvergessenheit des Literatursystems eskamotiert. Während in jener die männliche Autorität der Literatur universalisiert und mithin ‚neutralisiert‘ erscheint, verschmilzt in dieser Literatur so mit dem Medium Buch, dass dieses als ‚Naturform‘ der Literatur erscheint, die selbst nicht mehr thematisiert werden muss. Der Perspektivenwechsel vom Kunst- aufs Mediensystem und die daraus resultierende Entkoppelung des Literaturbegriffs von der Buchkultur konnte diese Momente deutlich machen. Es hat sich gezeigt, dass die Semantiken funktionaler Differenzierung – Gleichheit, Freiheit, universale Inklusion – nicht gleichgültig sind gegenüber der Geschlechterdifferenz, dass diese sich vielmehr auch im Literatursystem parasitär an den asymmetrischen Code – aus unserer Sicht am plausibelsten: literarisch/nichtliterarisch bzw. LITERATUR/Literatur – anlagert, um diesen zu stabilisieren: LITERATUR im Sinne der autonomen Autor/WerkEinheit wird um 1800 wie um 1900 männlich codiert. Die Frage, wie es der Geschlechterdifferenz gelingt, sich „unter Bedingungen stabil, also: asymmetrisch zu halten, unter denen sie im Hin-

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Bertolt Brecht: [Was halten Sie für Kitsch?], in: Gesammelte Werke, Bd. 18: Schriften zur Literatur und Kunst I, Frankfurt/M. 1967, S. 34f.

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blick auf die primäre Differenzierungsform dysfunktional ist“,2 ließ sich nicht hinreichend mit dem Verweis auf die Wahrnehmung sichtbarer Männer und Frauen beantworten. Zwar lebt die Persistenz der Unterscheidung von der Erinnerung an eine vermeintlich selbstevidente ‚Körpernatur‘, doch zugleich wird diese Natur durch „hegemonial codierte Gender-Unterscheidungen“ erst als männliche und weibliche erzeugt.3 Es ist also nicht die Unterscheidung in ‚Männer‘ und ‚Frauen‘, die das Argument stützt, sondern diejenige von männlich und weiblich, die getrennt von biologischen Geschlechtskörpern funktioniert: Das Weibliche ist keine Frau. Eine Ordnungsfunktion als „cultural genitals“4 in der anonymen, körperlosen Kommunikation kann Geschlechterdifferenz nur übernehmen, weil sie sich von den sichtbaren Körpern gelöst hat und die Positionen jederzeit überkreuz zugeschrieben werden können, so dass am Ende mit Annette von Droste-Hülshoff dem ‚Litteraturweib‘ Heyse „einer der ersten deutschen Dichter“ gegenübersteht. Auf der anderen Seite begründet die vermeintliche Geschlechtsneutralität der anonymen Kommunikation das Bedürfnis, die Anonymität programmatisch durch die Simulation privater Interaktion zu kaschieren, sei es im Literatursystem durch die Konstruktion der Akteursfiktion Autor/liebende Leserin oder in den Zeitschriften durch diejenige der ‚Familie‘, in deren Rahmen AutorInnen, Herausgeber und LeserInnen eingespannt sind. Eine wichtige Funktion bei der Reduktion der Ungewissheit, wer eigentlich mit wem kommuniziert, kommt den Autornamen zu. Im Literatursystem sollen sie verhindern, dass sich die Liebe der Leserin aufs Medium selbst – Brief, Buch, Zeitschrift – richtet, was in den proliferierenden Kontexten der Journale nicht mehr funktioniert. Die autorlosen, weil von vielen AutorInnen geschriebenen Zeitschriften nötigen vielmehr zu promisken Affären mit dem Medium und erlauben eine ‚Lust am Text‘, die aus dem Kunstsystem ausgeschlossen werden muss.5 Auch in Bezug auf Massenmedien konnte also nicht von Geschlechtsneutralität ausgegangen werden. Zu fragen war deshalb „nach jenen Prozessen, die ein Medium zum Faszinosum machen, und wie die2 3 4 5

Nassehi, Geschlecht im System, S. 89. Stäheli, Who is at the Key?, S. 190. Suzanne J. Kessler/Wendy McKenna: Gender. An Ethnomethodological Approach, Chicago 1978, zit. n. Nassehi, Geschlecht im System, S. 99. Die hier exponierte Lust unterscheidet sich mithin fundamental von Barthes’ Konzept, in dem der Text des Kunstwerkes zum sinnlichen Körper und zum Objekt des Begehrens wird. Bei Barthes liegt auch ein ganz anderes gendering zugrunde: der (männliche) kunstsinnige Leser begehrt einen als weiblich (mütterlich) codierten künstlerischen Textkörper. Vgl. Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt/M. 1974, bes. S. 83 u. 56.

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ses Faszinosum wiederum geschlechtsspezifisch strukturiert wird.“6 Es zeigte sich, dass die Attraktivität bestimmter Medien – Brief, Almanach, Zeitschrift – in den Möglichkeiten ihrer affektiven Besetzung besteht. Dabei ging es um die Nutzung und den Genuss des Mediums selbst, nicht um Werke und nicht um Autoren, mithin nicht um Kunst. Und nicht nur beim Publikum, auch bei drei Schriftstellerinnen ließen sich solche affektiven Besetzungen nachweisen. Sie reichten, wie an Bettine von Arnims brieflichem Goethe-Denkmal gezeigt wurde, bis zu „regelrechten Liebesaffären“, in denen die weibliche Position dadurch eine Stimme erlangte, dass sie die Semantik weiblicher Empfänglichkeit schamlos ausnutzte und sich selbst zum Medium machte. Eine besonders innige Verbindung mit dem führenden Massenmedium des 19. Jahrhunderts vollzog Eugenie Marlitt, die der Gartenlaube buchstäblich ihr Leben verschrieb. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts störte dann Fanny Reventlow die Restituierung des Literatursystems durch die massive Erinnerung an Geschlechtskörper. In ihren textuellen Affären trieb sie ihr böses Spiel mit den realen Geschlechterverhältnissen und desavouierte so, was ihre Zeitgenossen verzweifelt zu erneuern suchten: Autor und Werk. Evident wurde in dieser mediengeschichtlichen Betrachtung der Literatur des 19. Jahrhunderts ferner, dass „die Dekonstruktion des Sinnzentrums ‚Autorschaft‘, die Liquidation von Originalität, Identität, Kohärenz und Kontinuität, die De-formation des ‚Werks‘“, die strategisch das Kunstwerk als Werk und damit als „Paradigma des Sinns in der Geschichte“ unterläuft,7 weniger ein Verdienst der literarischen Moderne als vielmehr der periodischen Printmedien des 19. Jahrhunderts darstellt, denen aus literaturwissenschaftlicher Sicht zwar immer alle negativen Verfallserscheinungen der Literatur, aber kein Anteil an dieser ‚Dekonstruktion‘ zugeschrieben wird. Schließlich hat sich gezeigt, dass die Zeitschriften an den Entwicklungen moderner Schreibweisen in vielerlei Hinsicht beteiligt waren: nicht nur durch die Tatsache, dass das Medium neue Formbildungen ermöglichte und beschränkte, sondern auch dadurch, dass es solche durch seine Nachfrage stimulierte, finanziell honorierte und ein großes Publikum dafür mobilisierte. Und es bleibt als Kuriosum festzuhalten, dass vor dem Hintergrund des noch eher moderaten gendering um 1800 und des aggressiven um 1900, mit dessen Hilfe in beiden Fällen der labile Code des Literatursystems im Interesse seiner Ausdifferenzierung gestützt werden sollte, sich die realistische Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als relativ behagliches Indifferenzphänomen von Kunst

6 7

Stäheli, Who is at the Key?, S. 191. Zons, Über den Ursprung des literarischen Werks, S. 126.

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und Unterhaltung darstellt, in dem die Literatur weiblich codiert ist und damit den Genuss von Medien – das ‚Romanelesen‘ – erlaubt. Darin eingeschlossen sind die erfolgreichen Autoren und Autorinnen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – Marlitt und Fontane, François und Spielhagen, Wörishofer und Raabe, Hillern und Storm, May und EbnerEschenbach et al. – mit allen von ihnen entwickelten erfolgreichen Genres.

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Siglenverzeichnis BA

Raabe, Wilhelm: Sämtliche Werke, im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. u. bearb. v. Karl Hoppe, 2. durchges. Aufl. Göttingen 1969. BA E Raabe, Wilhelm: Sämtliche Werke. Ergänzungsbände, im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. u. bearb. v. Karl Hoppe, 2. durchges. Aufl. Göttingen 1969. F Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie, in: Sämtliche Schriften, Abt. I, Bd. 7/1, hg. v. Albrecht Schöne, Frankfurt/M. 1994. FW Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 9-53. GB Arnim, Bettine von: Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, in: Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. Walter Schmitz u. Sibylle Steinsdorff, Frankfurt/M. 1992. GG Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 39, hg. v. Christoph Michel, Frankfurt/M. 1999. GK Reventlow, Franziska Gräfin zu: Der Geldkomplex. Roman, in: Gesammelte Werke in einem Band, hg. v. Else Reventlow, München 1925, S. 829-915. HD Reventlow, Franziska Gräfin zu: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil, in: Gesammelte Werke in einem Band, hg. v. Else Reventlow, München 1925, S. 705-827. HFA Fontane, Theodor: Sämtliche Werke, hg. v. Walter Keitel u.a., München 1964ff. ML Keller, Gottfried: Die mißbrauchten Liebesbriefe, in: Die Leute von Seldwyla, Zweiter Band, in: Sämtliche Werke, Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 5, hg. v. Walter Morgenthaler u.a., Zürich 2000, S. 97180. NW Nietzsche, Friedrich: Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 413-445. PP Reventlow, Franziska Gräfin zu: Von Paul zu Pedro. Amouresken, in: Gesammelte Werke in einem Band, hg. v. Else Reventlow, München 1925, S. 917-991. RG Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, Bd. 2: Manifeste und Dokumente, hg. v. Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger und Reinhard Wittmann, Stuttgart 1975.

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SIGLEN

RW

S

VH

ZL

Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1988, S. 429510. Raabe, Wilhelm: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte, in: Sämtliche Werke, Bd. 18, im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. u. bearb. v. Karl Hoppe, 2. durchges. Aufl. Göttingen 1969, S. 5-207. Reventlow, Franziska Gräfin zu: Viragines oder Hetären, in: Autobiographisches, hg. v. Else Reventlow, München, Wien 1980, S. 468-481. Stieler, Kaspar: Zeitungs Lust und Nutz, vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1695, hg. v. Gert Hagelweide, Bremen 1969.

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Verzeichnis der Zeitungen und Zeitschriften

Blätter für literarische Unterhaltung 1826-1898 Herausgeber/Redakteure: F. A. Brockhaus; ab 1835: Heinrich Brockhaus; ab 1854: Hermann Marggraff; ab 1864: Rudolf Gottschall Leipzig: F. A. Brockhaus Erscheinungsweise: werktäglich; ab 1830: täglich; ab 1849: werktäglich; ab 1851: wöchentlich Daheim Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen Oktober 1864-September 1944 Herausgeber/Redakteure: Robert König u. August Klasing; ab Jg. 1876/77: Robert König u. Theodor Hermann Pantenius Leipzig, Bielefeld: Velhagen und Klasing Erscheinungsweise: wöchentlich Deutsches Museum Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben 1851-1867 Herausgeber: Robert E. Prutz u. Wilhelm Wolfssohn; ab Okt. 1851: Robert Prutz; ab 1866: Robert Prutz u. Karl Frenzel Redakteure: Hermann Rost; ab 1853: Eduard Brockhaus Erscheinungsweise: vierzehntäglich; ab 1853: wöchentlich Deutsche Roman-Zeitung 1864-1925 Herausgeber: Otto Janke; ab 1870 Redakteur: Robert Schweichel Berlin: Otto Janke Erscheinungsweise: wöchentlich Deutsche Rundschau Oktober 1874-April 1942 Herausgeber: Julius Rodenberg. Berlin: Gebrüder Paetel Erscheinungsweise: monatlich

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ZEITUNGEN UND ZEITSCHRIFTEN

Die Gartenlaube Beiblatt zum Illustrierten Dorfbarbier; ab 1853: Illustriertes Familienblatt 1853-1937 Herausgeber/Redakteure: Ferdinand Stolle (eigentlicher Herausgeber und Redakteur: Ernst Keil); ab 1857: Ferdinand Stolle u. August Diezmann; ab 1862: Ernst Keil; ab 1878: Ernst Ziel; ab 1884: Adolf Kröner Leipzig: Ernst Keil; ab 1878: Ernst Keils Erben; ab 1884: Ernst Keils Nachfolger (= Gebr. Kröner) Erscheinungsweise: wöchentlich Die Grenzboten Blätter für Deutschland und Belgien; ab 1842: Eine deutsche Revue; ab 1844: Eine deutsche Revue für Politik, Literatur und öffentliches Leben; ab 1845: Zeitschrift für Politik und Literatur; ab 1871: Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst 1841-1922 Herausgeber/Redakteure: Ignaz Kuranda; ab 1848: Redakt.: Gustav Freytag u. Julian Schmidt; ab 1860: Herausg.: Gustav Freytag u. Julian Schmidt, Redakt.: Moritz Busch; ab 1866: Herausg.: Gustav Freytag; wechselnde Redakteure Brüssel: Deutsches Verlagscomptoír; Frankfurt/M.: Erscheinungsweise: wöchentlich Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst. Kritiken. Charakteristiken. Correspondenzen. Übersichten. 1838-1841 Herausgeber/Redakteure: Arnold Ruge, Theodor Echtermeyer Leipzig: Otto Wigand Erscheinungsweise: werktäglich Leipziger Illustrirte Zeitung 1843-1944 Herausgeber/Redakteur: Johann Jakob Weber Leipzig: Johann Jakob Weber Erscheinungsweise: wöchentlich Das Magazin für die Lit(t)eratur des In- und Auslandes Wechselnde Untertitel 1881-1890 Herausgeber: Joseph Lehmann; wechselnde Redakteure Leipzig, Berlin: Wilhelm Friedrich Erscheinungsweise: wöchentlich

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ZEITUNGEN UND ZEITSCHRIFTEN

Morgenblatt für gebildete Stände; ab 1837: Morgenblatt für gebildete Leser 1807-1865 Herausgeber: Johann Georg Cotta; wechselnde Redakteure Tübingen, Stuttgart: Cotta Erscheinungsweise: werktäglich; ab 1851: wöchentlich Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung 1848-1939 Herausgeber: Ernst Ludwig von Gerlach; 1881-1895: Wilhelm von Hammerstein Chefredakteur: 1848-1854: Hermann Wagener; 1854-1872: Tuiscon Beutner Berlin Erscheinungsweise: täglich Nord und Süd Eine deutsche Monatsschrift 1877/78-1922 Herausgeber: Paul Lindau; wechselnde Redakteure 1877/78 Berlin: Georg Stilke 1878-1890 Breslau: S. Schottländer Erscheinungsweise: monatlich Das Pfennig-Magazin der Gesellschaft zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse 1833-1842 Herausgeber ab 1834: F. A. Brockhaus Erscheinungsweise: wöchentlich Über Land und Meer Allgemeine Illustrierte Zeitung; ab 1888: Deutsche Illustrierte Zeitung 1858-1923 Herausgeber: Friedrich Wilhelm Hackländer; wechselnde Redakteure Stuttgart: Eduard Hallberger Erscheinungsweise: wöchentlich Unterhaltungen am häuslichen Herd 1852-1864 Herausgeber: Karl Gutzkow; ab 1863: Karl Frenzel Redakteure: Heinrich Brockhaus; ab 1858: Eduard Brockhaus Leipzig: Friedrich Arnold Brockhaus Erscheinungsweise: wöchentlich

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ZEITUNGEN UND ZEITSCHRIFTEN

Vom Fels zum Meer. Spemann’s Illustrirte Zeitschrift für das Deutsche Haus. 1881/82-1893/94 Herausgeber: Wilhelm Spemann Redakteur: Joseph Kürschner Stuttgart u.a. Erscheinungsweise: monatlich. Vossische Zeitung (Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen) 1704-1939 Herausgeber/Redaktion: wechselnd Berlin Erscheinungsweise: täglich Westermann’s illustrierte deutsche Monatshefte (Nummerntitel) Westermann’s Jahrbuch der Illustrierten Deutschen Monatshefte. Ein Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart (Bandtitel) 1856-1905/06 Herausgeber: Adolf Glaser (ungenannt); Redakteur: George Westermann; ab 1878: Herausgeber: Friedrich Spielhagen; Redakteur: Gustav Karpeles; ab August 1882: Herausgeber: Friedrich Spielhagen; Redakteur: Adolf Glaser Braunschweig: George Westermann Erscheinungsweise: monatlich

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Birgit Althans, Kathrin Audem, Beate Binder, Moritz Ege, Alexa Färber (Hg.)

Kreativität. Eine Rückrufaktion Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008 März 2008, 138 Seiten, kart., 8,50 € ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007) und Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

Lettre Ute Gerhard, Walter Grünzweig, Christof Hamann (Hg.) Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848 Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung

Vittoria Borsò das andere denken, schreiben, sehen Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft

Dezember 2008, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-966-4

Monika Leipelt-Tsai Aggression in lyrischer Dichtung Georg Heym – Gottfried Benn – Else Lasker-Schüler

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film September 2008, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-583-3

Evi Zemanek, Susanne Krones (Hg.) Literatur der Jahrtausendwende Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000 August 2008, ca. 450 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-924-4

Tom Karasek Generation Golf: Die Diagnose als Symptom Produktionsprinzipien und Plausibilitäten in der Populärliteratur Juli 2008, ca. 330 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-880-3

Manuela Günter Im Vorhof der Kunst Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert

Juni 2008, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-821-6

Juni 2008, 392 Seiten, kart., 37,80 €, ISBN: 978-3-8376-1006-2

Anja K. Johannsen Kisten, Krypten, Labyrinthe Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller März 2008, 240 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-908-4

Fernand Hörner Die Behauptung des Dandys Eine Archäologie März 2008, 356 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-913-8

Stefan Tigges (Hg.) Dramatische Transformationen Zu gegenwärtigen Schreibund Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater Februar 2008, 386 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-512-3

Juli 2008, 382 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-824-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Lettre Monika Ehlers Grenzwahrnehmungen Poetiken des Übergangs in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Kleist – Stifter – Poe 2007, 256 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-760-8

Stefan Hofer Die Ökologie der Literatur Eine systemtheoretische Annäherung. Mit einer Studie zu Werken Peter Handkes 2007, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-753-0

Margret Karsch »das Dennoch jedes Buchstabens« Hilde Domins Gedichte im Diskurs um Lyrik nach Auschwitz 2007, 388 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-744-8

Céline Kaiser Rhetorik der Entartung Max Nordau und die Sprache der Verletzung 2007, 242 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-672-4

Christina Burbaum Vom Nutzen der Poesie Zur biografischen und kommunikativen Aneignung von Gedichten. Eine empirische Studie

Vittoria Borsò, Heike Brohm (Hg.) Transkulturation Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt

2007, 374 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-770-7

2007, 272 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-520-8

Ulrike Bergermann, Elisabeth Strowick (Hg.) Weiterlesen Literatur und Wissen

Julia Freytag Verhüllte Schaulust Die Maske in Schnitzlers »Traumnovelle« und in Kubricks »Eyes Wide Shut«

2007, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-606-9

Arne Höcker, Oliver Simons (Hg.) Kafkas Institutionen 2007, 328 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-508-6

2007, 142 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-425-6

Sibel Vurgun Voyages sans retour Migration, Interkulturalität und Rückkehr in der frankophonen Literatur 2007, 322 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-560-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Lettre Thomas von Steinaecker Literarische Foto-Texte Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds 2007, 346 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-654-0

Peter Rehberg lachen lesen Zur Komik der Moderne bei Kafka 2007, 296 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-577-2

Thomas Gann Gehirn und Züchtung Gottfried Benns psychiatrische Poetik 1910-1933/34 2007, 240 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-651-9

Volker Georg Hummel Die narrative Performanz des Gehens Peter Handkes »Mein Jahr in der Niemandsbucht« und »Der Bildverlust« als Spaziergängertexte 2007, 220 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-637-3

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de