Neuzeit und Aufklärung: Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie [Reprint 2010 ed.] 9783110831894, 9783110018257

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Neuzeit und Aufklärung: Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie [Reprint 2010 ed.]
 9783110831894, 9783110018257

Table of contents :
Einleitung
I. TEIL: VERNÜNFTIGE SELBSTÄNDIGKEIT
1. Antike (erste) Aufklärung
§ 1 Die Entdeckung der Vernunft
1.1 Geschichtslose Anfänge und die Tugenden des Vernünftigen
1.2 Thaletische Geometrie
1.3 Das Ideal einer beweisenden Wissenschaft (Theoretische Philosophie)
1.4 Homo faber und homo sophistes (Praktische Philosophie)
1.5 Methodisches Denken
§ 2 Die veränderte Lage
2.1 Griechische Aufklärung
2.2 ‚Griechische‘ und ‚neuzeitliche‘ Vernunft
2.3 Die hellenistische Desorientierung der Vernunft
2.4 Die christliche Desorientierung der Vernunft
2. Neuzeitliche (zweite) Aufklärung
§ 3 Die wiederholte Entdeckung
3.1 Aufklärung (historische Kennzeichnungen und Eigennamen)
3.2 Das Selbstverständnis der zweiten Aufklärung
3.3 Periodisierungsfragen
3.4 Kants Definition von Aufklärung
3.5 L'esprit géométrique
§ 4 Vorgeschichte und Anfang des neuzeitlichen Denkens (Anfang der Neuzeit)
4.1 Formen frühneuzeitlicher Selbständigkeit — Vernunft in polemischem und in kritischem Verstande
4.2 Kopernikus
4.3 Luther
4.4 Humanismus und Renaissance
4.5 Der Anfang der Neuzeit
§ 5 La Nuova Scienza
5.1 Protophysik und empirische Physik
5.2 Die Tradition der Werkstätten. Tartaglia
5.3 Die Tradition der Schulen
5.4 Fallrinnenexperiment und Paduaner Aristotelismus
5.5 Oresme und die Calculatores
5.6 Nominalismus
II. TEIL: VERNUNFT UND ERFAHRUNG
1. Der euklidische Aufbau der neuzeitlichen Physik
§ 6 Axiomatisierung
6.1 Der Zusammenhang von Wissenschaftstheorie und Wissenschaft
6.2 Axiomatische Theorie der Bewegung
6.3 Die Fallgesetze
6.4 Rationale Mechanik
§ 7 Das Experiment und die Rettung der Phänomene
7.1 Noch einmal: Protophysik und empirische Physik
7.2 Archimedische Statik
7.3 Axiomatische Astronomie
2. Umbau und Interpretation
§ 8 Kalkülisierung
8.1 Die Aufgabe der Wissenschaftsgeschichtsschreibung
8.2 ,Natürliche‘ und ,erzwungene‘ Bewegungen
8.3 Galileis Trägheitsbegriff
8.4 Galileis Kraftbegriff
8.5 Newtons Kraftbegriff und die Axiomatisierung der klassischen Mechanik
8.6 Das Gravitationsgesetz
8.7 Analytische Physik versus synthetische Physik (von Newton zu Lagrange)
8.8 Der analytische Wissenschaftsbegriff
§ 9 Physik und Metaphysik
9.1 Das naive Interesse an der Physik
9.2 Kosmologie
9.3 Physik und (englischer) Empirismus
9.4 Physik und (Cartesischer) Rationalismus
9.5 Metaphysik der Natur
§ 10 Fortschritt und Utopie
10.1 Definition des Fortschritts
10.2 Die neuzeitliche Entdeckung des Fortschritts (Theoretische Sicherheit und poietisches Können)
10.3 Das Schicksal der praktischen Vernunft (Seelenphysik)
10.4 Definition der Utopie
10.5 Bacons atlantische Idylle und science fiction
10.6 Utopie und praktische Vernunft
III. TEIL: METHODISCHE VERNUNFT
1. Das Problem des methodischen Anfangs
§ 11 Erkenntniskritik
11.1 Das Problem des methodischen Anfangs (Konstruktion versus Deskription)
11.2 Cogito ergo sum
11.3 Cartesische Subjektivität (das rationalistische Mißverständnis)
11.4 Ideenmetaphysik (Descartes, Locke)
11.5 Erfahrung als begriffsfreie Basis (das empiristische Mißverständnis)
11.6 Der Hauptsatz einer vorkritischen Sprachphilosophie
§ 12 Kunstsprache und Logikkalkül
12.1 Das psychologistische Mißverständnis (mentaler Rationalismus)
12.2 Lingua universalis (Sprache im 17. und 18. Jahrhundert)
12.3 Die Idee der Kunstsprache von Lull bis Leibniz
12.4 Characteristica universalis
12.5 Von der ars combinatoria zum calculus ratio-cinator (arithmetischer und algebraischer Logikkalkül)
12.6 Das Leibnizprogramm und seine Geschichte
2. Das kritische und das spekulative Interesse der Vernunft
§ 13 Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)
13.1 Kalkül und Begründung
13.2 Pascals Theorie des axiomatischen Verfahrens
13.3 Der logische Sinn des Satzes vom Grunde
13.4 Grund, Ursache, Ziel
13.5 Die Rolle vollständiger Begriffe in Leibnizens Theorie der Begründung
§ 14 Logik und Metaphysik
14.1 Physikalischer Atomismus
14.2 Das Labyrinth des Kontinuums (Infinitesimalmathematik und Monadentheorie)
14.3 Der Begriff der individuellen Substanz
14.4 Die logische Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffes mit Hilfe einer Theorie vollständiger Begriffe (Monade und Begriff)
14.5 Der Perzeptionensatz der Monadentheorie
14.6 Logischer Atomismus
§ 15 Das Ende der Metaphysik
15.1 Metaphysik als Naturanlage?
15.2 Von den ,ersten Gründen‘ zum synthetischen Apriori
15.3 Der dialektische Schein
15.4 Transzendentale Analytik
15.5 Der kritische Weg ist allein noch offen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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NEUZEIT UND AUFKLÄRUNG

J Ü R G E N MITTELSTRASS

NEUZEIT UND AUFKLÄRUNG STUDIEN ZUR ENTSTEHUNG DER NEUZEITLICHEN WISSENSCHAFT UND PHILOSOPHIE

W DE

G WALTER DE GRUYTER · BERLIN · NEW YORK

1970

ISBN 3 11 0018250

© 1970 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göscfaen'sdie Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp. Berlin 30 (Printed in Germany) Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. OTme ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Oskar Zach oHG, Berlin 31 Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin

FÜR RENATE

Vorwort Das vorliegende Buch enthält mit den Paragraphen l bis 13 meine Erlanger Habilitationsschrift. Diese wurde im Winter 1968/1969 von der Philosophischen Fakultät in Erlangen angenommen und in den folgenden Monaten um die Paragraphen 14 und 15 sowie Hinweise auf neuere Literatur ergänzt. Ein Besuch der Bibliotheken Londons und Oxfords im September 1969 führte darüber hinaus zu einer Verbreiterung der Basis wissenschaftshistorischer Thesen, die der zweite Teil des Buches enthält. Dieser Besuch wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft großzügig unterstützt, der ich hierfür meinen Dank sage. Das Interesse an der Geschichte des Denkens und ihrer Überwindung durch methodische und praktische Vernunft danke ich meinen akademischen Lehrern Wilhelm Kamiah und Paul Lorenzen. Beide haben das Manuskript gelesen und seine Fertigstellung für den Druck durch zahlreiche Verbesserungsvorschläge gefördert. Dieses Buch wendet sich, im Rahmen einer kritischen Analyse der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft, gegen eine für die Neuzeit bisweilen charakteristische Monologisierung des Denkens. Es wurde selbst nicht monologisierend geschrieben, sondern in ständiger Diskussion mit den Angehörigen, Dozenten und Studenten, des Erlanger Philosophischen Seminars. Mein besonderer Dank gilt dabei Peter Janich, Kuno Lorenz und Christian Thiel. Ohne ihren Rat und ihre Belehrung hätte das Buch in dieser Form nicht geschrieben werden können. Erlangen, im Dezember 1969

Jürgen Mittelstraß

Inhalt Einleitung

l

L TEIL: VERNÜNFTIGE SELBSTÄNDIGKEIT 1. Antike (erste) Aufklärung § l Die Entdeckung der Vernunft

15 15

1.1 Geschichtslose Anfänge und die Tugenden des Vernünftigen

15

1.2 Thaletische Geometrie

18

1.3 Das Ideal einer beweisenden Wissenschaft (Theoretische Philosophie)

33

1.4 Homo faber und homo sophistes (Praktische Philosophie)

38

1.5 Methodisches Denken

50

§ 2 Die veränderte Lage 2.1

Griechische Aufklärung

54 54

2.2 jGriechische' und neuzeitliche* Vernunft

58

2.3 Die hellenistische Desorientierung der Vernunft .

65

2.4 Die christliche Desorientierung der Vernunft . . .

76

2. Neuzeitliche (zweite) Aufklärung

87

§ 3 Die wiederholte Entdeckung

87

3.1 Aufklärung (historische Kennzeichnungen und Eigennamen)

87

3.2 Das Selbstverständnis der zweiten Aufklärung . .

90

3.3 Periodisierungsf ragen

104

Inhalt

3.4 Kants Definition von Aufklärung 3.5 L'esprit geometrique

113 121

§ 4 Vorgeschichte und Anfang des neuzeitlichen Denkens (Anfang der Neuzeit) 132 4.1 Formen frühneuzeitlicher Selbständigkeit — Vernunft in polemischem und in kritischem Verstande

132

4.2

136

Kopernikus

4.3 Luther

143

4.4 Humanismus und Renaissance

149

4.5 Der Anfang der Neuzeit

156

§ 5 La Nuova Scienza

167

5.1 Protophysik und empirische Physik

167

5.2 Die Tradition der Werkstätten. Tartaglia

175

5.3 Die Tradition der Schulen

179

5.4 Fallrinnenexperiment und Paduaner Aristotelismus 182 5.5

Oresme und die Calculatores

188

5.6

Nominalismus

193

II. TEIL: VERNUNFT UND ERFAHRUNG 1. Der euklidische Aufbau der neuzeitlichen Physik § 6 Axiomatisierung

207 207

6.1 Der Zusammenhang von Wissenschaftstheorie und Wissenschaft

207

6.2 Axiomatische Theorie der Bewegung

212

6.3 Die Fallgesetze

226

6.4 Rationale Mechanik

232

Inhalt

XI

§ 7 Das Experiment und die Rettung der Phänomene 236 7.1 Noch einmal: Protophysik und empirische Physik

236

7.2 Archimedische Statik

243

7.3 Axiomatische Astronomie

250

2. Umbau und Interpretation § 8 Kalkülisierung 8.1 Die Aufgabe der Wissenschaftsgeschichtsschreibung

264 264 264

8.2 ,Natürliche' und ,erzwungene' Bewegungen . . . 268 8.3 Galileis Trägheitsbegriff

273

8.4

282

Galileis Kraftbegriff

8.5 Newtons Kraftbegriff und die Axiomatisierung der klassischen Mechanik 287 8.6 Das Gravitationsgesetz

290

8.7 Analytische Physik versus synthetische Physik (von Newton zu Lagrange) 294 8.8 Der analytische Wissenschaftsbegriff § 9 Physik und Metaphysik

306 309

9.1 Das naive Interesse an der Physik

309

9.2

312

Kosmologie

9.3 Physik und (englischer) Empirismus

319

9.4 Physik und (Cartesischer) Rationalismus

327

9.5 Metaphysik der Natur

336

§ 10 Fortschritt und Utopie

341

10.1 Definition des Fortschritts

341

10.2 Die neuzeitliche Entdeckung des Fortschritts (Theoretische Sicherheit und poietisches Können) 346

XII

Inhalt

10.3 Das Schicksal der praktischen Vernunft (Seelenphysik) 358 10.4 Definition der Utopie

364

10.5 Bacons atlantische Idylle und science fiction . . . 366 10.6 Utopie und praktische Vernunft

371

III. TEIL: METHODISCHE VERNUNFT l. Das Problem des methodischen Anfangs § 11 Erkenntniskritik

377 377

11.1 Das Problem des methodischen Anfangs (Konstruktion versus Deskription) 377 11.2 Cogito ergo sum

382

11.3 Cartesische Subjektivität (das rationalistische Mißverständnis)

388

11.4 Ideenmetaphysik (Descartes, Locke)

397

11.5 Erfahrung als begriffsfreie Basis (das empiristische Mißverständnis) 400 11.6 Der Hauptsatz einer vorkritischen Sprachphilosophie § 12 Kunstsprache und Logikkalkül

411 413

12.1 Das psychologistische Mißverständnis (mentaler Rationalismus) 413 12.2 Lingua universalis (Sprache im 17. und 18. Jahrhundert) 419 12.3 Die Idee der Kunstsprache von Lull bis Leibniz . . 425 12.4 Characteristica universalis

435

12.5 Von der ars combinatoria zum calculus ratiocinator (arithmetischer und algebraischer Logikkalkül) 440 12.6 Das Leibnizprogramm und seine Geschichte . . . 448

Inhalt

XIII

2. Das kritische und das spekulative Interesse der Vernunft 453 § 13 Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung) . 453 13.1 Kalkül und Begründung

453

13.2 Pascals Theorie des axiomatischen Verfahrens . . 457 13.3 Der logische Sinn des Satzes vom Grunde

460

13.4 Grund, Ursache, Ziel

463

13.5 Die Rolle vollständiger Begriffe in Leibnizens Theorie der Begründung

469

§ 14 Logik und Metaphysik 14.1 Physikalischer Atomismus

477 477

14.2 Das Labyrinth des Kontinuums (Infinitesimalmathematik und Monadentheorie) 489 14.3 Der Begriff der individuellen Substanz

502

14.4 Die logische Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffes mit Hilfe einer Theorie vollständiger Begriffe (Monade und Begriff) 506 14.5 Der Perzeptionensatz der Monadentheorie . . . . 514 14.6 Logischer Atomismus

522

§ 15 Das Ende der Metaphysik

528

15.1 Metaphysik als Naturanlage?

528

15.2 Von den ,ersten Gründen* zum synthetischen Apriori

535

15.3 Der dialektische Schein

555

15.4 Transzendentale Analytik

569

15.5 Der kntische Weg ist allein noch offen

578

Literaturverzeichnis

587

Personenregister

628

Sachregister

640

Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. L Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren?

Einleitung Beinahe so alt wie das vernünftige Denken selbst ist der hübsche Einfall, die Vernunft mit dem Staunen beginnen zu lassen. Als Gegenstände dieses Staunens kamen, wie es sich für eine archaische Zeit gebührt, zunächst vor allem astronomische Dinge wie Sonne und Mond infrage, heute, so möchte man meinen, ist es die Geschichte dieses Denkens selbst, die zum Staunen Anlaß gibt. Vor allem die Geschichte, die am ergebnisärmsten zu sein scheint: die Geschichte der Philosophie. Denn hier gehört das Sonderbare zum Alltäglichen. Das Denken, mit sich allein gelassen, an Fragen interessiert, die oft niemanden anders als den, der sie stellt, interessieren, schafft sich neben den Wissenschaften einen freien Raum, in dem jederzeit alles noch einmal möglich zu sein scheint. Der Anspruch, den es dabei stellt, nämlich fundamentaler zu sein als das ,inhaltlichec, mit Einzelwissenschaften befaßte Denken, steht dabei oft in groteskem Gegensatz zu den eigenen Leistungen, die zu beurteilen es wiederum niemandem als sich selbst zubilligen möchte. Die Mannigfaltigkeit philosophischer Standpunkte, Systeme und Schulen ist so betrachtet eher das Eingeständnis der Unfähigkeit, sich miteinander auf gewisse Fragen einigen und dabei auch die Mittel bereitstellen zu können, mit denen ihre Beantwortung zu einem kontrollierbaren Geschäft würde. An dieser Stelle setzt Aufklärung ein. Aufklärung, nicht allein verstanden als Gegenbewegung zu autoritär gewordenen Traditionen, sondern ebenso als kritischer Einspruch gegenüber einer wachsenden Disziplinlosigkeit des Denkens. Als Einspruch also gegenüber der Entartung des Denkens zu bloßer Spiegelfechterei und Selbstbefriedigung, dem nach außen hin so anspruchsvoll anmutenden, in Wahrheit jedoch armen philosophischen' Reden über Dinge, die weder der Mann auf der Straße noch der Wissenschaftler mehr als seine eigenen Dinge wiederzuerkennen vermag. Der esoterische Zug, den das Denken, gerade auch das vernünftige (auf Argumentation hin angelegte) Denken, von Anfang an besitzt, ist keine Auszeichnung, um die man sich bemühen müßte, er ist vielmehr eine Folge jener Disziplinlosigkeit, in der sich Mißverständnisse selber reproduzieren, und schließlich der verzweifelte Wunsch, so zu tun, als ob man sich wenigstens selbst versteht, Schulen l

Mittelstrass, Neuzeit und Aufklärung

2

Einleitung

und Traditionen schafft. Der Pluralismus, vom politischen Denken der Gegenwart zur Tugend erhoben, hat so in der Geschichte des philosophischen Denkens seine eigene Karikatur schon hinter sich, Selbständigkeit, verstanden als Verzicht auf eine in methodischer Disziplinierung anzustrebende gemeinsame Basis von Handeln und Denken, ist unvernünftig. Der Wunsch nach Aufklärung darf insofern immer als der Wunsch nach einer vernünftigen Selbständigkeit verstanden werden, in der sich das Denken weder auf fremde noch auf eigene Autorität beruft. Es gewinnt diese Selbständigkeit vielmehr in einer immer als gemeinsame Bemühung aufgefaßten und praktizierten Anstrengung, in der methodische Dinge (weil sie allein die genannte Disziplinierung tragen können) am Anfang stehen und als Ergebnisse nur solche Sätze bezeichnet werden dürfen, die von allen Beteiligten nach wiederholter Prüfung übernommen werden können. Daß dies keine überflüssigen Bemerkungen sind, macht wiederum die gegenwärtige Situation besonders deutlich. In einer Situation nämlich, in der jeder ausdrücklich für sich in Anspruch nimmt, vernünftig und aufgeklärt zu sein, in der der Vorwurf, nicht zu den Vernünftigen und Aufgeklärten zu gehören, nach wie vor zu den schwerwiegendsten Vorwürfen gehört, die dem neuzeitlichen* Menschen gemacht werden können, scheint die Möglichkeit, daß man sich durch Denken, durch den Gebrauch der Vernunft, auch in philosophischen* Dingen zu einigen vermag, nahezu in Vergessenheit geraten zu sein. Der Ruf nach ,kritischer Rationalität', ,rationaler Diskussion', ja nach einer neuen Aufklärung bleibt eine modische Angelegenheit, solange er die Voraussetzungen des Denkens nicht erreicht, d.h. solche Beweggründe wie Bedürfnisse oder Interessen, auf die man sich auch hier noch zu berufen pflegt, selbst nicht mehr erörtert werden. Genau diese sind es nämlich, bei denen pluralistische Konzepte verfangen, Aufklärung schon realisiert erscheint, wenn jeder weiß, woran er ist, und Vorkehrungen getroffen sind, die ein erzwungenes Überwiegen einzelner Gründe verhindern. Doch das ist zu wenig. Ein pragmatischer Kompromiß, der nur das eigene Handeln und Denken vor fremdem Handeln und Denken zu schützen sucht, ohne es selbst verändern zu wollen, kann noch nicht als vernünftige Selbständigkeit ausgegeben werden. Er läßt die eigene Autorität außer acht, auf die sich das Denken meist dann zurückzuziehen weiß, wenn fremde Autoritäten ihren Einfluß verlieren, um selbst nun, an monologische Verhältnisse allzusehr gewöhnt, monologisch zu sprechen.

Einleitung

3

Aufklärung im recht verstandenen Sinne aber ist kein monologisches Geschäft, auch wenn das Selber-Denken ihre Losung bleiben soll. Was gegenüber fremder Autorität gilt, gilt auch gegenüber der eigenen: vernünftige Selbständigkeit ist ohne kritische Distanz, ohne permanente Argumentation nicht möglich, wobei das Mit-sich-selber-Argumentieren, das Selber-Denken, nur eine Sonderform des Mit-anderen-Argumentierens, des Mit-anderen-Denkens, der Monolog lediglich eine momentane Verlegenheit des Dialogs ist. Daß alle als Gesprächspartner zuzulassen sind, daß es hier keine Auszeichnung des einen vor dem anderen gibt, vielmehr nur noch die Auszeichnung des besseren Arguments vor dem schlechteren, ist darum auch das wichtigste und zugleich durchschlagendste Kennzeichen von Aufklärung, ohne das jeder noch so gut gemeinte Versuch, , vernünftig* miteinander zu reden, ein bloß verhüllter Monolog bleibt. Nun kennzeichnen (a) die Praxis einer sich ihrer methodischen Mittel stets aufs neue versichernden Argumentation, also die Praxis einer methodischen Vernunft, und (b) die Praxis des stets Mit-anderenDenkens, also die Praxis einer dialogischen Vernunft, entsprechend der Intention derer, die an dieser Praxis beteiligt sind, nicht erst Aufklärung (als einen historisch und systematisch ausgrenzbaren Teil der Philosophie), sondern Philosophie überhaupt. Philosophie, wie sie getrieben werden sollte. Im systematischen Kontext werden damit die Ausdrücke ,Aufklärung* und ,Philosophie* synonym, im historischen Kontext führt diese Synonymität zur Unterscheidung von philosophischen und unphilosophischen (philosophielosen) Epochen. So berechtigt eine derartige Unterscheidung auch hinsichtlich des mit ihr artikulierten kritischen Interesses ist, sie bringt für den Historiker die erhebliche Schwierigkeit mit sich, beständig mit einem größeren Rest begrifflich fertigzuwerden. Die Vorteile aber sind gering und wiegen diese zusätzliche Schwierigkeit nicht auf: die Geschichte des Denkens um einer gesuchten vernünftigen Selbständigkeit willen in einen philosophischen und einen unphilosophischen (philosophielosen) Teil zerlegen (ein Geschäft, das seines eigenen philosophischen* Anspruchs wegen natürlich seinerseits methodisch und dialogisch betrieben werden müßte), bedeutet, diese Geschichte übersichtlich machen; eben dies leistet aber auch schon die Unterscheidung zwischen Aufklärung (methodisch bzw. dialogisch gewordener Vernunft) und Philosophie (die, auch historisch, Aufklärung einschließt, aber eben nicht nur als Aufklärung beschreibbar ist), ohne daß man die überlieferte Terminologie unnötigerweise zu weit abändert

4

Einleitung

und sich dabei dem Vorwurf aussetzt, dogmatisch schon entschieden zu haben, was aus der Geschichte des im engeren Sinne nicht einzelwissenschaftlichen Denkens zur Philosophie gehöre und was nicht. Diese Diskussion sollte, und zwar nicht nur aus historischen, sondern auch aus systematischen Gründen, nicht neben der Geschichte des Denkens, sondern mit ihr geführt werden. Sie neben dieser Geschichte führen, würde heißen, den Dialog auf die gerade Lebenden beschränken, was für die Philosophie unter den eben genannten Gesichtspunkten nichts anderes als eine partielle Rückkehr zum Monolog wäre. Es empfiehlt sich also nicht nur wegen historischer Rücksichtnahmen, sondern auch wegen eines systematischen Interesses bei der (im folgenden weiter präzisierten) Unterscheidung von Philosophie und Aufklärung (als einem Teil der Philosophie) zu bleiben. Als Realisierung von methodischer und dialogischer Vernunft ist Aufklärung nicht an historisch frühere Exempel von Aufklärung gebunden. Das wird erneut in der gegenwärtigen Diskussion deutlich, in der dem wiedererwachten Interesse an einer neuen Aufklärung eine oft seltsam anmutende Teilnahmslosigkeit des Historikers gegenübersteht. Das 17. und 18. Jahrhundert, das ,Zeitalter der Vernunft', wie seine philosophischen Wortführer es nannten, ist nicht zuletzt durch den Fleiß seiner Biographen beinahe schon zu einer Idylle geworden, einer ungewöhnlichen zwar, weil es hier immerfort um Vernunft geht, gleichwohl zu einem Stück Vergangenheit, in dem sich bald nur noch ein antiquarisches Interesse, mit allenfalls freundlichem Verständnis für gewisse hochgestimmte Erwartungen, auskennen wird. Der Feuilletonist hat sein übriges getan. Er, der es sich mit der Historie stets leicht macht, mehr auf die eigene Brillanz der Gedankenführung als auf Gerechtigkeit gegenüber fremden Bemühungen bedacht ist, hat das Klischee eines rüden Rationalismus, eines naiven Dilettantismus erzeugt, der lediglich in ironischer Rückwendung ein wenig Zustimmung verdient. Daß er gerade damit gewissen Tendenzen des 18. Jahrhunderts selbst so ähnlich wird, übersieht er zumeist. Aus der Sicht eines neuen Voltaire, aus der Sicht eines illusionslosen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts wie aus der Sicht eines zeitlosen Dorfpfarrers muß das 17. und 18. Jahrhundert, als ein Zeitalter der Aufklärung betrachtet, in der Tat höchst unvorteilhaft erscheinen. Aber ist dies die richtige Art, sich mit früherem Denken zu beschäftigen? Und wenn nicht, ist gerade ein vergangenes »Zeitalter der Vernunft' gut aufgehoben bei einem Historiker, der nun ohne die Ambitionen eines Voltaire, eines auf Geschiehtslosigkeit be-

Einleitung

5

dachten Intellektuellen und eines Dorfpfarrers aus purem Interesse an der Geschichte über kleine und große Leute schreibt? Vermutlich nicht. Die ,Objektivität' eines Historikers (zugestandenermaßen eines Mannes, den es so gar nicht gibt) hat, angewendet auf die Geschichte des Denkens, die fatale Eigenart, früheres Denken in einer viel nachdrücklicheren Art zur Vergangenheit werden zu lassen, als es der bloß zeitliche Abstand sonst mit sich zu bringen pflegt. Der Kant, dessen „Kritiken" man liest, ist ein anderer Kant, als ihn die historische Kant-Philologie vor Augen führt; mit dem einen läßt sich, wenn auch unter begreiflichen Schwierigkeiten, die der Tod des Dialogpartners mit sich bringt, noch argumentieren, der andere ist allenfalls ein antiquarisches Vergnügen. In den folgenden Paragraphen einer ihrem Gegenstande nach historischen Arbeit soll argumentiert werden. Mit dem Interesse an Aufklärung, an einer vernünftigen Selbständigkeit, die nicht mehr das Geheimnis eines einzelnen, des ,weisen Mannes', sondern ein gemeinsames Vermögen ist, wird ein Stück bereits zu realisieren versuchter Aufklärung betrachtet, wird durch ein systematisches Interesse gerechtfertigt oder verworfen, was als Wunsch nach vernünftiger Selbständigkeit und was als diese Selbständigkeit selbst im 17. und 18. Jahrhundert aufgetreten ist. Beabsichtigt ist damit ein Stück philosophierender Geschichtsschreibung, die nicht dem schlichten Aufweis dessen, was war, dienen soll, sondern ein dem Historiker sonst fernliegendes Engagement, ein philosophisches Engagement, voraussetzt und insofern immer über eine mit dem vergangenen Denken gemeinsame Sache spricht, auch dann, wenn sie dem Anschein nach nur über dieses Denken spricht. Daß eine Geschichtsschreibung dies tun kann, liegt natürlich in erster Linie daran, daß die Geschichte des Denkens, verstanden als die Geschichte des vernünftigen, selbst argumentierenden, und d.h. wiederum begründenden Denkens (von diesen Bestimmungen wird noch wiederholt die Rede sein), im Gegensatz etwa zur politischen Geschichte (nicht der Geschichte des politischen Denkens!) in ihren einzelnen Schritten nicht in jedem Falle unwiederholbar ist, ja oft ohnehin nur das schlecht verborgene Gerüst ,neuenc Denkens bedeutet. Da es in der Geschichte des Denkens, zumal in der Geschichte des im engeren Sinne philosophischen Denkens, zumeist um Behauptungen geht, die ihrerseits keine situationsabhängigen Sätze sind, erfolgt die Wiederholung hier schlicht mit einer nicht nur referierten, sondern für das eigene Denken selbst übernommenen

6

Einleitung

Behauptung. Sofern es sich dabei aber um Behauptungen, ganz gleich ob diese lediglich referiert oder als übernommene Behauptungen auftreten, handelt, die nicht belanglos sind, sondern als Antworten auf Fragen aufgefaßt werden können, die auch ein gegenwärtiges Denken bewegen (man nehme nur die beiden Fragen Kants ,was soll ich (sollen wir) tun?' und ,was kann ich (können wir) wissen?'), verdienen, ja verlangen sie sogar eine kritische Diskussion. Im anderen Falle nimmt der Philologe dem Philosophen das Denken aus der Hand; aus Einsichten werden Lesarten. Die Geschichte des Denkens, nicht nur die Geschichte einer Aufklärung, vertreten durch die Behauptungen derer, die sich in ihr zu Worte gemeldet haben, gehört in diesem Sinne nicht auf den Schreibtisch eines Historienschreibers, sondern in ein collegium philosophicum, aus dem sie dann als kritisch geprüfte, stets nur in einzelnen Stücken bewahrte Geschichte, nicht mehr als bloß erzählte Geschichte, ihren Weg in die Philosophiegeschichtsbücher gehen mag. Daß dies selbst für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung gelten darf, wenn diese sich nur recht versteht, wird eigens begründet werden (§ 8). Mit anderen Worten: ein interesseloses und dadurch vermeintlich schon ,objektives' Nachzeichnen der Geschichte des Denkens ist nicht nur (und das gilt eigentlich für jede Form ernstzunehmender Geschichtsschreibung) eine blanke Illusion, es mißversteht auch seine eigentliche Aufgabe und sein eigenes Können. Da es — das sollte zumindest seit Hegel geläufig sein — in der Geschichtsschreibung des Denkens die Vernunft stets mit sich selbst zu tun hat, wäre jede nicht argumentierende, nicht philosophierende Geschichtsschreibung des Denkens eine selbst unvernünftige Geschichtsschreibung. Die hier begonnenen Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie sollen ein Beispiel dieser philosophierenden Geschichtsschreibung sein. Warum gerade Studien zum 17. und 18. Jahrhundert, wurde schon gesagt: aus Interesse an Aufklärung, aus Interesse an einer vernünftigen Selbständigkeit. Und um diese geht es dem neuzeitlichen Denken von Anfang an. Die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts, die im folgenden als die zweite Aufklärung bezeichnet wird, weil ihr mit dem griechischen vernünftigen Denken bereits Aufklärung vorausgeht, ist keine Episode innerhalb des beginnenden neuzeitlichen Denkens, dieses beginnt vielmehr selbst als Aufklärung; die Geschichte der zweiten Aufklärung ist die Geschichte des entstehenden neuzeitlichen Denkens. Gemeint ist damit wiederum nicht nur die Ge-

Einleitung

7

schichte der neuzeitlichen Philosophie, sondern ebenso die Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft, im engeren Sinne: die Geschichte der neuzeitlichen Physik. Ein neues Denken (neu, weil es erstmals wieder ausdrücklich Aufklärung intendiert) setzt sich hier zunächst überhaupt als Physik durch; was dann als eine neue Philosophie aufzutreten sucht, ist bereits eine Antwort auf physikalisches Denken. Allerdings nun auch nicht in der Weise, wie man den Zusammenhang von Physik und Philosophie im 17. und 18. Jahrhundert sonst darzustellen pflegt (sich damit gleichzeitig von der Verpflichtung befreiend, auch die Geschichte der Physik schreiben zu müssen), nämlich als partielle Abhängigkeit eines sonst autonomen philosophischen Denkens von einem autonomen physikalischen Denken. Neuzeitliches Denken ist vielmehr seinem eigenen Selbstverständnis nach, und dabei nicht nur einem älteren Philosophiebegriff folgend, immer beides, Physik (d.h. exakte Naturwissenschaft) und Philosophie, Physik nur eine andere Art, Philosophie zu treiben. Wer dies außer acht läßt, macht es sich in einer Darstellung des beginnenden neuzeitlichen Denkens nicht nur zu leicht, er übersieht auch, daß es die neuzeitliche Wissenschaft (Physik) selbst ist, mit der neuzeitliches Denken, seiner Tendenz nach immer Aufklärung, beginnt. Darum: Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, und darum: .Neuzeit und Aufklärung'. Der Redlichkeit halber sei vermerkt, daß diese Studien zunächst nur als eine Arbeit über den Anfang der neuzeitlichen Wissenschaft (Physik) begonnen wurden. Obgleich dieser Anfang zu den bevorzugten Themen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung gehört, ist sein Zustandekommen noch immer kontrovers, muß als weitgehend ungeklärt gelten, welche Rolle hierbei das herkömmliche Akademische* Denken einerseits und ein handwerkliches, unakademisches Können andererseits spielten. An dieser Stelle die richtigen Unterscheidungen zu treffen, die rechten Akzente zu setzen, ist darum eine nach wie vor reizvolle Aufgabe, durch eine Klärung der Aufgaben von Wissenschaftsgeschichtsschreibung wiederum davor bewahrt, nur als ein bloßes Herumkramen in einer längst verlassenen Kinderstube zu erscheinen. Tatsächlich erweist sich jedoch ein solches Vorhaben bald als unbefriedigend, sofern eben mit der Geschichte der beginnenden neuzeitlichen Wissenschaft (Physik) im Grunde nichts anderes als die Geschichte des beginnenden neuzeitlichen Denkens selbst geschrieben wird, dieses Denken aber schon in seinem Anfang differenzierter ausfällt, als es die Wissenschaftsgeschichtsschreibung allein zu erfassen vermag. Um nicht erneut in den erwähnten Feh-

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ler zu verfallen, beginnendes neuzeitliches Denken sorgsam nach Physik und Philosophie zu unterscheiden, sind damit aus einer Monographie über den Anfang der neuzeitlichen Physik Studien über die Entstehung des neuzeitlichen Denkens (Wissenschaft und Philosophie) geworden. Daß hier von Studien die Rede ist, soll deutlich machen, daß keine umfassende Darstellung der zweiten Aufklärung, des neuzeitlichen Denkens im 17. und 18. Jahrhundert, beabsichtigt ist. Im Rahmen einer philosophierenden Geschichtsschreibung sind ,Gesamtdarstellungen' kein erstrebenswertes Ziel, weil diese Form der Geschichtsschreibung im Gegensatz zu einer bloß erzählenden Geschichtsschreibung stets von gezielten Interpretationen Gebrauch macht und nicht Vollständigkeit sondern Rezension der Historie der systematischen Reflexion dient. Eine solche Reflexion weiß, daß sie Geschichte hat, und sie befaßt sich mit dieser Geschichte in variierenden Ausschnitten, nicht um aufs neue von ihr abhängig zu werden, sondern, und sei es aus Fehlern und Mißverständnissen allein, zu lernen. Die Annahme, auf jeden Fall klüger zu sein als ein vergangenes Denken, ist schon der Versuch, sich selbst als Autorität zu erklären, die Annahme, weniger klug als dieses Denken zu sein (zum Ausdruck gebracht durch Anschluß an früheres Denken), dagegen der Versuch, Autoritäten nur anderswo zu suchen. Beides führt an vernünftiger Selbständigkeit vorbei und beides reproduziert, in der Beschäftigung mit vergangenem Denken, lediglich bloße Geschichte: der um jeden Preis Klügere, weil er Geschichte nur als Arsenal von Irrtümern sehen kann, der allzu Traditionsbewußte, weil er, und das muß gerade in seinem Falle zunächst gewiß seltsam klingen, Geschichte nicht einmal versteht. Er nimmt sie als ein Stück Gegenwart, was sie nicht ist, und schreibt sie als ein Stück Wahrheit, was sie allenfalls als beurteilte Geschichte, also aus jener kritischen Distanz einer philosophierenden Geschichtsschreibung gesehen, werden kann. Geschichtsbücher der Philosophie, Prototypen einer ,Gesamtdarstellunge, haben die fatale Eigenart, in diesem Sinne meist unverstandene, weil lediglich erzählte, nicht beurteilte Geschichte zu enthalten. Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund, der gegen eine Gesamtdarstellung, eine neue ,Philosophie der Aufklärung' (Cassirer) spricht, auch wenn dieser gewiß nicht allzusehr ins Gewicht fällt und eher zur internen Diskussion der Fachhistoriker als zur Diskussion über Geschichte in einem allgemeineren Sinne gehört. Gesamtdarstellungen erzeugen häufig historische Gebilde, die ein faktisches Geschehen über gewisse Zeiträume hinweg an ,Originalität* und ,Individualität* bei weitem über-

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treffen. Sie wirken ,zeitalterbildendc, was wiederum keineswegs etwas Übles ist, sondern gerade zum Geschäft des Historikers gehört (§ 3). Je umfassender oder Allgemeiner' dabei eine Darstellung ist, desto individueller grenzt sie historisches Geschehen aus, je spezieller sie wird, desto unschärfer erscheinen dagegen jene Grenzen, die eine periodisierende Geschichtsschreibung, auch die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in der Regel bevorzugen. Das bedeutet aber, daß allgemeine Darstellungen meist zu schnell, spezielle Darstellungen meist zu langsam an ihr Ziel, das Verstehen historischer Zusammenhänge, kommen. Hier wird nun versucht, einen mittleren Weg einzuschlagen. Es soll keine ,lückenlosec Darstellung gegeben, es sollen aber auch nicht bloß Mosaiksteinchen zusammengetragen werden, die irgendwann einmal, kunstvoll durch einen fleißigeren Autor mit anderen Steinchen vereinigt, ein vollständiges Bild der zweiten Aufklärung, des neuzeitlichen Denkens im 17. und 18. Jahrhundert, ergeben könnten. Gegen beides spricht, was zuvor über die Aufgaben einer philosophierenden Geschichtsschreibung gesagt wurde. Denen zufolge genügt es, von Fall zu Fall zwischen einer allgemeineren und einer spezielleren Darstellung zu entscheiden, wobei dann jedesmal die speziellere Darstellung die eigentliche Begründungslast (für historische Behauptungen) trägt, die allgemeinere Darstellung den Rahmen setzt, in dem argumentiert wird, oder auch schnell zu einem Ende bringt, worüber zu argumentieren (aus angegebenen Gründen) in diesem Zusammenhang nicht lohnt. So dienen allgemeinere Darstellungen z. B. der Bestimmung einer ersten Aufklärung innerhalb des griechischen Denkens, womit zugleich die Redeweise von einer zweiten Aufklärung, dem Denken des 17. und 18. Jahrhunderts, gerechtfertigt wird (§ 1), der Kritik ,hellenistischen' und »christlichen* (patristisch-scholastischen) Denkens, die plausibel macht, warum erneut Aufklärung notwendig wurde (§ 2), der Charakterisierung der zweiten Aufklärung selbst (§3) sowie Datierungsfragen, die den Beginn des neuzeitlichen Denkens betreffen (§ 4). Andere haben, über Beispiele bereits wieder ins Detail führend, die vor-neuzeitliche Geschichte exakter Naturwissenschaft (§ 7), die Begriffe des Fortschritts und der Utopie in beginnender Neuzeit (§ 10) sowie Ergebnisse methodologischer Reflexionen zum Gegenstand, deren Diskussion vielleicht am deutlichsten Aufgaben und wiederholte Mißverständnisse von Aufklärung vor Augen führen (§11). Speziellere Darstellungen dienen z.B. dem Zustandekommen der neuen Physik Galileis (§ 5), deren methodo-

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logischem Aufbau (§6) bis hin zur Physik Newtons und Lagranges und einem in diesem Stück Geschichte erfolgenden Wechsel des physikalischen WissenschaftsbegrifFs (§ 8). Studien zur Geschichte der Logik im weiteren Sinne sind, wie im Falle einer neuen Deutung des ,cogito ergo sum', in anderen Paragraphen eingeschlossen (hier §11) oder, wie im Falle des Satzes vom Grunde (gemeint ist eine Theorie der Begründung), Gegenstand gesonderter Fragestellungen (hier §13). Von Logik im engeren Sinne ist, anschließend an das Kunstsprachenprogramm der frühen zweiten Aufklärung, im Zusammenhang mit Leibnizens Bemühungen um einen Logikkalkül die Rede (§ 12). Daß diese Bemühungen ihrerseits wiederum Bestandteil einer umfassenden Neubegründung der theoretischen Philosophie sind, zeigt dann Leibnizens Weg von einem physikalischen zu einem logischen Atomismus (§14). Kants Weg von den ,ersten Gründen' einer dogmatischen metaphysischen Tradition zum synthetischen Apriori einer Kritik der reinen Vernunft, auf dem theoretische Philosophie im herkömmlichen Sinne allmählich zur Wissenschaftstheorie im modernen Sinne wird, schließt sich an (§ 15). Methodische Vernunft findet in der zweiten Aufklärung ihre exemplarische Realisierung in einer Kritik der reinen Vernunft. Die Gliederung in einen in erster Linie systematischen Betrachtungen über vernünftige Selbständigkeit sowie Epochisierungsfragen zu neuzeitlichem Denken und zweiter Aufklärung gewidmeten Teil (I Vernünftige Selbständigkeit), einen physikalischen Teil (II Vernunft und Erfahrung) und einen methodologischen Teil (III Methodische Vernunft) gibt diesem Nebeneinander von allgemeinerer und speziellerer Darstellung einen nun auch wieder aus der Sicht einer philosophierenden Geschichtsschreibung gesehen naheliegenden Zusammenhang. Das neuzeitliche Denken gewinnt in der Auseinandersetzung mit früherem Denken sein besonderes Profil, es findet seine Sicherheit zum ersten Male in der Physik und nimmt diese bereits errungene Sicherheit zum Anlaß, in methodologischen Erwägungen, die vom naiven Physikalismus (§ 9) bis hin zur Begründung der neuzeitlichen Gestalt der formalen Logik (Leibniz) und einer allgemeinen Theorie der Erfahrung (Kant) reichen, vernünftige Selbständigkeit nun auch unabhängig von speziellen Fachbereichen in der Disziplinierung des Denkens selbst zu suchen. Daß hier zuerst von Physik und dann erst von Methodologie die Rede ist, geschieht aus historischen Gründen (das neuzeitliche Denken beginnt mit der neuzeitlichen Physik), doch handelt es sich in diesem Falle um Physik, die ihren neuartigen Charakter in erster Linie wiederum gerade methodologischen

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Einsichten verdankt; die aus systematischen Gründen angezeigte Reihenfolge von 1. (allgemeiner) Methodologie und 2. Physik ist innerhalb des physikalischen Denkens selbst durchaus gewahrt. Andererseits ist diese Gliederung unvollständig, worüber auch der Umstand, daß es sich hier ausdrücklich um Studien handelt, nicht hinwegtäuschen soll. Es fehlt das, systematisch gesehen, wichtigste Stück: die praktische Philosophie (Ethik und politische Theorie). Da die Vernunft selbst ein praktisches Vermögen des Menschen ist, die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft bereits auf dem Boden einer vernünftigen Praxis (erst nachträglich geschieden in Wissenschaft und ,Lebenskunst') erfolgt, muß auch jede Form von vernünftiger Selbständigkeit in erster Linie immer praktisch sein, ist Aufklärung neben einer methodischen Disziplinierung des Denkens Sache des praktischen* Denkens, d.h. einer praktischen Philosophie, in deren Rahmen vernünftige Selbständigkeit lehrbar wird. Von dieser Aufgabe ist zwar an einigen Stellen bereits die Rede {§ l, §2, §10, §13, §15; §10 gehört im strengen Sinne nicht zum theoretischen', sondern zum ,praktischen' Teil), doch steht eine detaillierte Untersuchung, die auch die Geschichtsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert zu ihrem Gegenstand haben müßte, noch aus. Im Anschluß an die vorliegenden Teile I—III (theoretische Philosophie) verlangt die praktische Philosophie eine recht selbständige Darstellung, wenn sich dabei auch bald zeigen wird, daß gerade die Kenntnis der theoretischen Philosophie der zweiten Aufklärung, einschließlich deren physikalischer Teile, wichtige historische Erläuterungsfunktionen erfüllt. Der Abschnitt über Fortschritt und Utopie (§10) ist bereits ein Beispiel hierfür. Eine entsprechende Darstellung befindet sich in Vorbereitung. Mit ihr soll insbesondere beurteilt werden, wie man sich in den zwei ersten Jahrhunderten neuzeitlichen Denkens, ein Stück historischer Terminologie wieder aufnehmend, das Verhältnis von Wille und Vernunft dachte. Unter dem Gesichtspunkt der gesuchten vernünftigen Selbständigkeit mußte es damals ebenso wie heute darum gehen, beide ,Titel* wieder miteinander zu verbinden, d.h. auf Seiten der Vernunft ein praktisches Engagement herbeizuführen und auf Seiten des Willens die intellektuelle (vernünftige) Selbstüberwindung zu lehren. Solange die Vernunft (in einem sehr alltäglichen Sinne) interesselos und der Wille unvernünftig bleibt, besitzt das Denken nicht einmal mehr die Chance, das Leben zu bestimmen, also gerade das zu tun, um dessentwillen es ,vernünftig' heißen darf.

I. TEIL Vernünftige Selbständigkeit

1. Antike (erste) Aufklärung 5 l Die Entdeckung der Vernunft 1.1 Gesdiiditslose Anfänge und die Tugenden des Vernünftigen Anfänge üben eine eigentümliche Faszination auf den Beteiligten oder Zurückschauenden aus, und zwar insbesondere dann, wenn sie nicht innerhalb ,natürlich' verstehbarer Regelmäßigkeiten erfolgen, sondern Bestandteile des ,freien' menschlichen Handelns sind. Und diese Faszination ist um so größer, je umfassender schließlich das so Begonnene den Handlungsspielraum des Menschen selbst bestimmt und dabei den Charakter des Alltäglichen, ja mitunter sogar Unwiderruflichen annimmt. Zu diesen Anfängen, die, selbst im menschlichen Handeln gründend, menschliches Handeln entscheidend bestimmen sollten, gehören auch der Anfang der Philosophie und der Anfang der Wissenschaft. Philosophieren und Wissenschaft-Treiben sind ersichtlich keine Handlungen, die, nach ihrem ,Sitz im Leben' befragt, in einem strengen Sinne ebenso selbstverständlich und unerläßlich wären wie etwa Essen, Trinken und Schlafen, Handlungen also, die der Befriedigung sogenannter natürlicher Bedürfnisse dienen. Es handelt sich vielmehr um geschichtlich entstandene Handlungen, wobei hier mit geschichtlich' im Gegensatz zu »natürlich* lediglich zum Ausdruck gebracht werden soll, daß diese Handlungen von dem über seine natürliche Bedürftigkeit hinaus tätigwerdenden Menschen hervorgebracht werden. Das bedeutet aber, daß die Möglichkeit dieser Handlungen, in deren Vollzug der Mensch seither nach seiner eigenen Verwirklichung sucht, ausdrücklich erst einmal entdeckt werden mußte, und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft genau dort zu suchen ist, wo diese Entdeckung erfolgte. Genauer betrachtet handelt es sich dabei um ein und dieselbe Entdeckung, denn ,Grund* der Möglichkeit von Philosophie und ,Grundc der Möglichkeit von Wissenschaft ist in gleicher Weise die Entdeckung der Vernunft. Diese bedeutsame Entdeckung, die man den Griechen zugesprochen hat, ohne daß bisher jedoch Einhelligkeit darüber bestünde, worin sie nun eigentlich genauer besteht, hat zugleich ihren Charakter des Unwiderruflichen

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Die Entdeckung der Vernunft

auf Philosophie und Wissenschaft übertragen. Denn sowohl Philosophie als auch Wissenschaft, in einer Form, von der noch zu reden sein wird, lassen sich seither, wie die Vernunft selbst, allenfalls auf eine unvernünftige, den Menschen seiner kreatürlichen Verlegenheit erneut preisgebende Weise wieder aus der Welt schaffen. So verstanden, nämlich als die Frage nach der Entdeckung der Vernunft, hat die Frage nach dem Anfang von Philosophie und Wissenschaft auch für den heute Philosophierenden oder Wissenschaft Treibenden ihre kritische Bedeutung behalten. Sie verdient darum auch immer wieder aufs neue gestellt zu werden. Dem möglichen Einwand, eine derartige Bemühung bringe wenig ein, weil Anfänge dieser Art innerhalb ihrer mannigfachen geschichtlichen Bezüge niemals hinreichend deutlich dargestellt werden könnten, und es darum in jedem Falle sinnvoller sei, sich gleich gewissen ,höheren Stufen' zuzuwenden1, läßt sich dabei verhältnismäßig leicht begegnen. Gewiß, jeder, den nicht ausschließlich antiquarisches Interesse zum Studium von Vergangenem führt, wird sich alsbald solchen ,höheren Stufen' zuwenden, doch handelt es sich eben bei den hier interessierenden Anfängen charakteristischerweise nicht um nur schwer erkennbare, in ihre Vorformen grundsätzlich beliebig weit zurückverfolgbare ,Stufen', sondern — wie sich zeigen läßt — mit der Entdeckung der Vernunft um deutlich von allem Vorausgehenden unterschiedene, ja in gewissem Sinne selbst sogar geschichtslose Schritte von ,höchster' Bedeutung. Es geht dabei nämlich nicht um irgendein Datum allein, sondern um eine jederzeit wiederholbare Entdeckung, die überall dort erfolgt, wo sich der Mensch seiner eigentümlichen Freiheit bewußt wird und im Bewußtsein dieser Freiheit zu philosophieren' beginnt. Nun wird man kaum bestreiten wollen, daß die Beantwortung der Frage nach der erstmaligen Entdeckung der Vernunft maßgeblich davon abhängen wird, was man selbst unter , Vernunft' oder einer ,vernünftigen* 1

So z. B. F. Nietzsche in pointierter Formulierung: „Die Fragen nach den Anfängen der Philosophie sind ganz gleichgültig, denn überall ist im Anfang das Rohe, Ungeformte, Leere und Häßliche, und in allen Dingen kommen nur die höheren Stufen in Betracht" (Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Werke in drei Bänden, ed. K. Schlechta, München 1956 [im folgenden kurz Werke], III, S. 355). Allerdings denkt Nietzsche hierbei an ein allmähliches Hervortreten der Philosophie im Rahmen einer prinzipiell offenbar beliebig weit zurückverfolgbaren Kulturgeschichte des Menschen. So verstanden ist die Frage nach dem Anfang — Nietzsche spricht charakteristischerweise von Anfängen — der Philosophie (und der Wissenschaft) aber nicht nur .gleichgültig', sondern im Hinblick auf die auch dieser Bemerkung zugrunde liegende unscharfe Verwendung des Ausdrucks philosophic' sogar sinnlos.

Gesdiichtslose Anfänge und die Tugenden des Vernünftigen

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Handlung verstehen möchte. Insbesondere die Philosophiegeschichtsschreibung zeigt denn auch, daß sich hierbei durchaus verschiedene Standpunkte einnehmen lassen, die dann ihrerseits zu einer unterschiedlichen Datierung des Anfangs der Philosophie und folglich auch, im Rahmen der hier vorgeschlagenen Betrachtungsweise, zu einer unterschiedlichen Datierung der Entdeckung der Vernunft führen. Und doch ist das Problem einer verbindlichen Bestimmung dieser Anfänge — für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung gilt dasselbe wie für die Philosophiegeschichtsschreibung — nicht so hoffnungslos, wie es mit dem Hinweis auf verschiedene Standpunkte, deren scheinbare Beliebigkeit und scheinbare Unhintergehbarkeit gerade das moderne Denken oft nur allzu bereitwillig hinnimmt, erscheinen mag. Erforderlich ist in erster Linie eine gründliche Besinnung auf die Erscheinungsformen des Vernünftigen (die Praxis der Vernunft), wobei in dem Umstand, daß diese Besinnung ihrerseits schon vernünftig sein muß, nicht etwa eine fatale, im Grunde nur geschichtlich wieder auflösbare Zirkelhaftigkeit zum Ausdruck kommt, sondern ganz im Gegenteil ein ausgezeichneter Ausgangspunkt für eine derartige Bemühung sichtbar wird. Die Forderungen, die man an eine solche Besinnung stellen wird, und die im folgenden ,ideal' genannt werden, weil es nicht auf das Maß ihrer Realisierung ankommen soll, werden sich nämlich schließlich als die die Vernunft selbst bestimmenden Forderungen erweisen, womit zugleich gezeigt wäre, daß das bisherige geschichtliche Schicksal der Vernunft es keineswegs unmöglich macht, hinter dieses Schicksal und damit an seinen Anfang zurückzukehren. Wie diese idealen Forderungen insgesamt auszusehen hätten, kann und muß hier im einzelnen nicht dargestellt werden; jedenfalls genügen folgende Forderungen, die nicht unbillig anmuten werden und auch kaum sofort als selbst bereits geschichtlich bedingte Forderungen aufgefaßt werden können, um die Frage nach dem Anfang der Vernunft auf eine legitime Weise erneut stellen zu lassen. Man wird zunächst einmal verlangen wollen, daß jede Behauptung, ob sie nun in Form von Überlieferungen oder Lehrmeinungen oder in Form von in bestimmten Situationen geäußerten Überzeugungen vertreten wird, prinzipiell der Überprüfung bedarf und dabei nach der Angabe ihrer zureichenden1 Gründe beurteilt wird. Als zureichend sollen dabei nur solche Gründe bezeichnet werden, die ihrerseits einer uneingeschränkten Prüfung offenstehen und die gewünschte Begründung tatsächlich, d.h. wiederum ohne Rückgriff auf Ungeprüftes (intersubjektiv noch nicht bestätigte Annahmen) zu leisten imstande sind. Ziel einer jeden Erörterung, die sich um eine der2 Mittelstrass, Neuzeit und Aufklärung

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artige Klärung von Behauptungen bemüht, soll weiterhin eine letzthinnige Übereinstimmung, orientiert am Leitfaden der besseren Einsicht, sein. Als überlegene Tugend dessen, der hier als ,vernünftig' bezeichnet werden soll, tritt damit die Unermüdlichkeit in der Suche nach dem, ,wie es nun wirklich ist' oder ,wie es nun wirklich sein soll', neben die zuvor genannte Redlichkeit der Begründungsbemühung. Welche Mittel dabei jeweils zur Verfügung gestellt werden können, um jene ,bessere Einsicht' kontrollierbar zu erzeugen und über ,zureichende Gründe' selbst begründend zu reden, ist dann bereits eine theoretische Fragestellung, die ohne eine schon geübte (wenn auch theoretisch noch nicht reflektierte) Praxis vernünftigen (der Tendenz nach vernünftigen) Handelns gar nicht auftreten würde. Sie dient selbst der zusätzlichen Sicherung einer Praxis, die der Isolierung praktischer' Handlungsteile in einem ,nur noch* theoretischen Reden, wenngleich als gemeinsame Praxis diese Isolierung immer, nämlich in Richtung auf InterSubjektivität, antizipierend, schon vorausgeht. Beantwortet wird diese Fragestellung schließlich in einer Theorie der Begründungs verfahren. 1.2 Thaletische Geometrie Beide Tugenden des Vernünftigen, (noch vor aller theoretischen Isolierung) als Forderungen an das Behaupten, also an spezielle sprachlich artikulierte Handlungen, formuliert, wären nun in der Geschichte des Denkens, dessen , vernünftiger* Ursprung hier betrachtet werden soll, kaum wirklich wirksam geworden, wenn sie nicht von vornherein in dem Bewußtsein einer einmal entdeckten, nur vom Menschen selbst zu verantwortenden Verläßlichkeit des Wissens hätten vertreten werden können. Solange die Annahme einer totalen Abhängigkeit von nicht kontrollierbaren, ja nicht einmal verstehbaren, weil als schlechthin willkürlich empfundenen Mächten das Denken des Menschen bestimmt, müssen diese Tugenden im Grunde als unerheblich, wenn nicht sogar als gänzlich überflüssig erscheinen. Denn eine solche Annahme läßt allenfalls heroische Auflehnung als eine minimale Form menschlicher Selbständigkeit zu, nicht aber das ruhige Bestehen auf Gründen und ihrer fortdauernden Rechtfertigung. Um diese, sagen wir ruhig, ,aufgeklärte' Haltung möglich zu machen, bedurfte es darum auch eines Beispiels, in dem die genannte Verläßlichkeit des Wissens zum Ausdruck kam. Und dieses Beispiel, das damit an den Anfang der Entdeckung der Vernunft, so wie sie hier verstanden wird, rückt, läßt sich nun in der Art jener Sätze

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wiedererkennen, mit denen die griechische Geometrie gleich zu Beginn bei Thaies gegenüber der bis dahin in Mesopotamien und Ägypten praktizierten Geometrie ihre charakteristische Wendung vollzieht. Thaies' Stellung innerhalb der Philosophiegeschichtsschreibung ist von jeher umstritten, weil einerseits nur geringe Stücke seiner Lehre überliefert sind und andererseits selbst diese Überlieferung, gelegentlich bis hin zur völligen Leugnung ihrer Rechtmäßigkeit, bezweifelt wird.* In der Regel wird dabei sorgsam zwischen mathematisch bzw. astronomisch relevanten Teilen und den im eigentlichen Sinne philosophischen' Errungenschaften dieser Lehre unterschieden3, womit schließlich nur die Sätze, daß die das Wasser4 und alles voller Götter sei ( )8, als philosophische Sätze übrigbleiben. Den mathematischen Sätzen wird in diesem Zusammenhang kaum eine Bedeutung zugemessen, * Einen radikalen Versuch in dieser Richtung unternimmt D. R. Dicks, Thaies, The Classical Quarterly 53 (1959), S. 294—305. Auffallend ist, wie vorsichtig sich bereits Aristoteles gelegentlich ausdrückt, wenn er auf Thaletische Lehrstücke zu sprechen kommt (vgl. Met. A 3.984a2, de caelo B 13.294a29, de an. A 2.405al9—21); schriftliche Äußerungen des, wie er ausdrücklich hervorhebt, Archegeten der Philosophie (Met. A 3.983b20—21) lagen ihm, wenn es sie überhaupt gegeben haben sollte, offenbar nicht vor. Seine Bemerkungen stellen dessenungeachtet nach wie vor eine wichtige Quelle für die Rekonstruktion des Thaletischen Denkens dar, zumal Aristoteles, wie W. K. C. Guthrie mit Nachdruck hervorgehoben hat (Aristotle as a Historian of Philosophy: Some Preliminaries, The Journal of Hellenic Studies 76 [1956], S. 35—41; vgl. ders., A History of Greek Philosophy I-, Cambridge 1962 ff., I [The Earlier Presocratics and the Pythagoreans], S. 39 if.), wesentlich sorgfältiger referiert und dabei Referiertes von Erschlossenem trennt, als H. Cherniss (Aristotle's Criticism of Presocratic Philosophy, Baltimore 1935, S. 347 ff.; ders., The Characteristics and Effects of Presocratic Philosophy, Journal of the History of Ideas 12 [1951], S. 319—345, bes. S. 319—323) und im Anschluß an diesen J. B. McDiarmid (Theophrastus on the Presocratic Causes, in: Harvard Studies in Classical Philology 61 [1953], S. 85—156, bes. S. 85—93) behauptet hatten. Für Diogenes Laertius (1,13) ist Thaies dann ,nur noch' der Lehrer Anaximanders, anders als bei Aristoteles wird nicht mehr er selbst, sondern sein .Schüler', zusammen mit Pythagoras, für die Begründung der Philosophie verantwortlich gemacht (zustimmend H. Cherniss, The Characteristics and Effects of Presocratic Philosophy, a.a.O., S. 323). Als einem der sogenannten Sieben Weisen (Diog. Laert. 1,22; sein Name tritt in allen Listen zusammen mit Bias, Pittacus und Solon auf; vgl. Diog. Laert. I, 47) fällt ihm damit nurmehr noch die Rolle eines praktisch und politisch überaus versierten Mannes (vgl. Dikaiarch bei Diog. Laert. I, 40; Cicero de rep. I, 7) mit einem gewissen Interesse für Mirabilia zu. Auf die praktisch-politische Wirksamkeit des Thaies (vgl. etwa Arist. Pol. A 11.1259a5—21, wo auf seine Geschäftstüchtigkeit hingewiesen, und Herodot I, 170, wo sein Rat zum politischen Zusammenschluß der lonier erwähnt wird) weisen denn auch D. R. Dicks (a.a.O., S. 298) und L. Robin (La grecque et les origines de l'esprit scientifique, Paris 19632, S. 27) in diesem Zusammenhang hin; das Interesse an Mirabilia betont O. Gigon (Der Ursprung der griechischen Philosophie von Hesiod bis Parmenides, Basel 1945, S. 51 ff.).



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sie werden in die Wissenschaftsgeschichte verwiesen und rücken hier insbesondere in der Frage, wann die Mathematik erstmals als reine ,Theoria' auftritt, an die Seite von Sätzen, die pythagoreischen Ursprungs sein 3

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Traditionsbildend hat sich hier zweifellos die der Darstellung in Met. A zugrunde liegende Aristotelische Betrachtungsweise ausgewirkt, wonach die Thematisierung der Frage nach einer causa materialis allein schon den philosophischen Charakter des Thaletischen Denkens ausmachen soll. Vgl. in diesem Zusammenhang etwa auch Hegels pointierten, ganz aristotelisch klingenden Hinweis auf „das spekulative Wasser" (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, I—XXVI, ed. H. Glockner, Stuttgart 1927—1939 [im folgenden kurz Werke], XVII, S. 217). Mathematische und astronomische Sätze scheinen hier nicht hinzugehören. Arist. Met. A 3.983b20—21; dazu die Nachricht, daß nach Thaies die Erde auf dem Wasser ruhe: Met. A3.983b21—22; de caelo B13.294a28—31. Vermutlich hat Thaies mit diesen Bemerkungen die These vertreten wollen, daß ursprünglich alles Wasser war und erst allmählich aus dem Wasser unsere Welt entstand; nur so lassen sich jedenfalls beide Bemerkungen ohne Schwierigkeiten miteinander verbinden. Vgl. G. Patzig, Die frühgriechische Philosophie und die moderne Naturwissenschaft, Neue Deutsche Hefte 7 (1960—1961), S. 310; H. Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 19622, S. 298 f.; W. Bröcker, Die Geschichte der Philosophie vor Sokrates, Frankfurt/M. 1965, S. 11 f. Einen Schritt weiter gehen noch H. Cherniss und G. S. Kirk/J. E. Raven, wenn sie nun den Satz, daß die das Wasser sei, ausdrücklich als selbständige Aristotelische Paraphrase des Thaletischen Satzes, daß die Erde auf dem Wasser ruhe, auffassen (H. Cherniss, a.a.O., S. 321; G. S. Kirk/J. E. Raven, The Presocratic Philosophers, Cambridge 1962, S. 90 f., S. 97). Dazu wieder die Kritik Guthries an Cherniss (Aristotle as a Historian of Philosophy: Some Preliminaries, a.a.O., S. 38). Auf orientalischen Einfluß macht U. Kölscher aufmerksam (Anaximander und die Anfänge der Philosophie, Hermes 81 [1953], S. 257—277, 385—418); vgl. G. S. Kirk/J. E. Raven, a.a.O., S. 90 ff., P. Seligman, The Apeiron of Anaximander, London 1962, S. 140 S.

* Arist. de an. A 5.411a7—8 (vgl. Plat. Nom. 899b8—9); dazu wiederum die Nachricht über den Magnetstein: de an. A2.405al9—21. Die häufig in diesem Zusammenhang vorgenommene Etikettierung Thaletischer Lehren als ,Hylozoismusc oder ,Panpsychismus' ist gänzlich irreführend. Das Apophthegma zeugt wohl in erster Linie von einem neuartigen Vertrauen in die Wohlordnung der Welt, die nun — in einem verständlichen Bilde — als vom .Göttlichen* durchzogen aufgefaßt wird (Heraklits Bemerkung „Tretet ein, auch hier sind Götter", Arist. de part. an. A 5.645al7—21, stellt zweifellos eine geistreiche Anspielung auf dieses Apophthegma dar; vgl. G. Patzig, a.a.O., S. 310). Den Hinweis auf eine .Beseelung' des Magnetsteins wird man dagegen als einen naheliegenden, speziellen Erklärungsversuch auffassen dürfen, der weder die Aristotelische Spekulation vorwegnimmt, noch zusammen mit dem ersten Satz zu der stoisch beeinflußten Version einer ,Allbeseelung' der Welt (so Aet. 17,11; Cicero de nat. deor. 110, 25 = Die Fragmente der Vorsokratiker, I—III, ed. H. Diels/W. Kranz, Dublin/Zürich 1966« [= 1951«] [im folgenden kurz VS], 11A23) Anlaß gibt. Vgl. B. Snell, Die Nachrichten über die Lehren des Thaies und die Anfänge der griechischen Philosophie- und Literaturgeschichte, Philologus 50 (1944), S. 170 ff.; W. Jaeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953, S. 31 ff., S. 228, Anm. 10.

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sollen." Was dabei mit dem Auftreten der Mathematik als ,Theoria' gemeint ist, führt nun aber — einmal abgesehen von dieser speziellen Prioritätsbetrachtung, die hier im Hinblick auf die allein interessierende sachliche Frage nach dem Wie eines solchen theoretischen' Aufbaus vernachlässigt werden kann — genau auf eine gerade auch im philosophischen Sinne eminent wichtige Unterscheidung, nämlich die zwischen praktischen und theoretischen Sätzen. Die Thaies zugeschriebenen Sätze sind, um es vorwegzunehmen, im Sinne dieser Unterscheidung, theoretische Sätze, und eben diese Eigenschaft ist es auch, die ihnen ihren exemplarischen Charakter im Zusammenhang mit der Frage nach der Verläßlichkeit des Wissens verleiht. Um aber zu verstehen, was damit gemeint ist, empfiehlt es sich zunächst, diese Sätze kurz genauer zu betrachten. Es sind dies die folgenden elementar-geometrischen Sätze: Der Kreis wird durch jeden seiner Durchmesser halbiert.7 Die Scheitelwinkel sich schneidender Geraden sind gleich.8 Die Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck sind gleich.9 Zwei Dreiecke, die in einer Seite und den anliegenden Winkeln übereinstimmen, stimmen in allen Stücken überein.10 (5) Der Peripheriewinkel im Halbkreis ist ein rechter." (1) (2) (3) (4)

* Als altpythagoreisch gilt seit O. Becker (Die Lehre vom Geraden und Ungeraden im Neunten Buch der Euklidischen Elemente, Quellen und Studien zur Geschichte der Mathematik, Astronomie und Physik B 3 [1936], S. 533—553) die bei Euklid IX, 21—34 aufgehobene „Lehre vom Geraden und Ungeraden". Zur Kritik dieses Datierungsversuches neuerdings W. Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962, S. 410 ff. 7 Procli Diadochi in primum Euclidis elementorum librum commentarii, ed. G. Friedlein, Leipzig 1873, S. 157, 10—13. 8 Procl. in Eucl. 299,1—5 Friedlein (Eudem Fr. 135, ed. F. Wehrli, Die Schule des Aristoteles VIII, Basel 1955). 9 Procl. in Eucl. 250,20—251,2 Friedlein. 10 Procl. in Eucl. 352,14—18 Friedlein (Eudem Fr. 134 Wehrli). Auch die Sätze (1) und (3), bei deren Referat sich Proklos nicht ausdrücklich auf Eudem beruft, sind vermutlich auf dessen Autorität hin angeführt. Gegen die Vermutung, daß damals schon Eudems Schriften nicht mehr vorlagen (vgl. P. Tannery, La geometric grecque, Paris 1887, S. 71 ff.), spricht bereits, daß sich noch Simplikios direkt auf Eudem zu berufen vermag (in Arist. Phys. I 2 comment. 60, 27—30 Diels [Comm. in Arist. Graeca IX, Berlin 1882]). Vgl. die abgewogene Darstellung bei A. Frajese, Talete di Mileto e le origini della geometria greca, Bolletino della unione matematica italiana 4 (1941), S. 54 f.; desgleichen Th. Heath, The Thirteen Books of Euclid's Elements, I—III, Dover Publications 1956 (Nachdruck der 2. Aufl. Cambridge 1926), I, S. 36; B. L. van der Waerden, Erwachende Wissenschaft, Basel/Stuttgart 1956, S. 143 f.

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Sieht man einmal von der schwierigen Frage der Authentizität der Thales-Überlieferung ab und begnügt sich mit dem Hinweis, daß diese Überlieferung immerhin bis ins 5. Jahrhundert zurückreicht12 und sich gerade für die Frühdatierung der angeführten geometrischen Sätze gute Gründe beibringen lassen13, so ist an diesen Sätzen vor allem hervorzuheben, daß ihre Formulierung keinen speziellen Problemstellungen Rechnung trägt, sondern allgemein gewissen Eigenschaften von Figuren gilt. Von diesen Eigenschaften läßt sich, wie heute praktisch jeder Untertertianer weiß, auch unabhängig von faktisch durchgeführten Konstruktionen sinnvoll reden, insofern nämlich derartige ,Sätze über Winkel* oder ,Sätze über Verhältnisse im Kreis' etwas mitteilen, was jeder Konstruktion individueller Figuren noch vorausgeht. Solche Sätze, die man dann 11

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Diog. Laert. I, 24—25. Die Überlieferung ist zweifelhaft, da sich Diogenes Laertius hierbei nur auf das Zeugnis der im 1. vorchristlichen Jahrhundert schreibenden Pamphile zu stützen vermag und Euklid diesen Satz (III, 31) mit Hilfe des Satzes von der Winkelsumme im Dreieck (I, 32) beweist, der seinerseits von Eudem erst den Pythagoreern zugeschrieben wird (Procl. in Eucl. 379, 2—16 Friedlein; Eudem Fr. 136 Wehrli). Immerhin konnte Th. Heath nachweisen, daß sich der infragestehende Satz auch ohne den Winkelsummensatz beweisen läßt und folglich auch sachlich nichts gegen seine Frühdatierung spricht. Th. Heath, A History of Greek Mathematics, I—II, Oxford 1921, I, S. 136 f. Vgl. B. Snell, a.a.O., S. 177ff., der Hippias als Zwischenquelle zu ermitteln sucht (Diog. Laert. I, 24). Daß auch die Überlieferung der mathematischen Sätze über Hippias erfolgt sein kann, darauf macht im Anschluß an Snell W. Burkert aufmerksam (a.a.O., S. 395, Anm. 114). Burkert erwähnt dabei einige Stellen bei Aristophanes (nub. 177 ff., 201 ff.; av. 995 ff.), die bei Diels/Kranz nicht aufgeführt sind, aber überaus deutlich machen, wie selbstverständlich man damals geometrische Dinge mit dem Namen des Thaies verband (D. R. Dicks, a.a.O., S. 294, Anm. 3, führt weiterhin Plautus, Captivi 274, an). Positiv beurteilt die Überlieferung auch St. OsViecimski, Thaies — The Ancient Ideal of a Scientist, in: Charisteria Thaddaeo Sinko, Warszawa 1951, S. 229—253. So unterscheidet Eudem ausdrücklich Originales von Erschlossenem (Procl. in Eucl. 352,16—18 Friedlein) und notiert mit anstelle des sonst üblichen für die Bezeichnung gleicher Winkel altertümlichen Sprachgebrauch (Procl. in Eucl. 251, l—2 Friedlein). In der Mathematikgeschichtsschreibung wird die Frühdatierung zumeist als hinreichend gesichert akzeptiert. Vgl. Th. Heath, a.a.O., I, S. 128 ff.; K. v. Fritz, Die APXAI in der griechischen Mathematik, Archiv für Begriffsgeschichte I (1955), S. 77 ff.; A. Szabo, Wie ist die Mathematik zu einer deduktiven Wissenschaft geworden?, Acta Antiqua 4 (1956), S. 130 ff.; B. L. van der Waerden, a.a.O., S. 143 f.; O.Becker, Das mathematische Denken der Antike, Göttingen 1957, S. 37 ff. Skeptisch äußern sich J. Burnet, Early Greek Philosophy, London 19304, S. 45, im Anschluß an ihn E. Frank, Plato und die sogenannten Pythagoreer, Halle 1923, S. 361 f. (Anm. 201), A. Frajese, a.a.O., S. 57 ff.; zurückhaltend auch W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy I, S. 53 f. Von lediglich praktisch-empirischen Kenntnissen nach Art babylonischer und ägyptischer Verfahren innerhalb der Geometrie sprechen im Hinblick auf Thaies z. B. L. Robin, a.a.O., S. 45; D. R. Dicks, a.a.O., S. 301 ff.; G. S. Kirk/J. E. Raven, a.a.O., S. 84.

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im Anschluß an die Platonische Terminologie auch als Sätze über ,ideale Gegenstände' bezeichnen kann, sind, soweit sich das bis heute sagen läßt, in der vor-Thaletischen Geometrie unbekannt gewesen.14 Sie wurden jedenfalls nicht eigens formuliert, sondern gingen in Form von Konstruktionsanweisungen oder Regeln in die Darstellung individueller Aufgaben ein. So wurde etwa faktisch bereits in altbabylonischer Zeit nach dem sogenannten Pythagoreischen Lehrsatz verfahren, wie sich aus einzelnen Aufgaben, deren Lösung auf die Berechnung der zweiten Kathete in einem rechtwinkligen Dreieck hinausläuft, deutlich ersehen läßt, doch gibt es bisher nicht das geringste Anzeichen dafür, daß dieser Satz auch unabhängig von derartigen praktischen Aufgaben jemals allgemein als Satz über Hypotenusenquadrat und Kathetenquadrate formuliert worden wäre.15 Gegenüber den in dieser Weise praktischen' Sätzen der vor-Thaletischen Geometrie — praktisch dabei auch insofern, als sich die mit ihnen verbundenen Aufgaben jeweils aus sehr nützlichen Zwecken wie etwa der Praxis der Feldereinteilung ergaben1* — lassen sich die angeführten Thaletischen Sätze darum auch als theoretische Sätze bezeichnen. Als solche sind sie zugleich generelle Sätze, nämlich Sätze über alle möglichen (d. h. konstruierbaren) geometrischen Figuren, und zeugen darin von jener ,zweckfreien' Betrachtungsweise, welche die Idee der Wissenschaft in ihrer griechischen' Realisierung dann in so charakteristischer Weise bestimmt hat.17 Durch die Formulierung dieser generellen Sätze gewinnt, so darf man anknüpfend an die vorausgegangenen Bemerkungen sagen, das Denken erstmals jene Sicherheit, die den weite14

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Vgl. O. Neugebauer, The Exact Sciences in Antiquity, Providence 19572, S. 48, 146; A. Szabo, a.a.O., S. 115; O. Becker, a.a.O., S. 11. Solche Formulierungen sind allerdings für die indische Sakralgeometrie bezeugt; vgl. Äpastamba-Sulva-Sütra 1,4; 1,5; 111,9 (sanskrit und deutsch von A. Bürk, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 55 [1901], S. 543—591 [Einleitung und Text], hier S. 578 f., und 56 [1902], S. 327—391 [Übersetzung], hier S. 328 f. und S. 336). Das Alter dieser Formulierungen ist jedoch ungewiß (zurückgehen sollen sie auf das 8. Jahrhundert, überliefert sind sie aus dem 5./4. Jahrhundert); ein Zusammenhang von Satz und Beweis, wie er für die griechische Mathematik dann charakteristisch werden sollte (darüber weiter unten), läßt sich nicht nachweisen. Vgl. Th. Heath, a.a.O., I, S. 145 ff. Vgl. Herodot II, 109. Vgl. die genealogische Skizze in Met. A 1.981b20ff., mit der Aristoteles schon für die ägyptische Mathematik plausibel zu machen sucht, was in Wahrheit erst für die griechische Entwicklung gilt. Die eigentümliche Vorliebe der griechischen Mathematikgeschichtsschreibung, die Ursprünge der eigenen Geometrie nach Ägypten zu verlegen (babylonischer Einfluß bleibt seltsamerweise unerwähnt), kommt z. B. auch bei Herodot II, 109 und Procl. in Eucl. 64,16—65, 7 Friedlein, deutlich zum Ausdruck.

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Die Entdeckung der Vernunft

ren Gang der Vernunft in Philosophie und Wissenschaft auszeichnet und zugleich den vielgepriesenen Übergang vom Mythos zum Logos verständlich macht.18 Auch bei den »philosophischen* oder .wissenschaftlichen' Sätzen der vorsokratischen Denker über das Seiende als Ganzes19 handelt es sich nämlich bezeichnenderweise um generelle Sätze. Genau diese ihre Eigenschaft ist denn auch gemeint, wenn man üblicherweise im Anschluß an Aristotelischen Sprachgebrauch vom ,Denken des Allgemeinen* spricht und erklärt, daß in ihm die wissenschafts- und philosophiebildende Eigenart des griechischen Denkens zum Ausdruck komme. Während man sich dabei in der Regel aber auf einen solchen Hinweis beschränkt, um sogleich auf das mit jenen Sätzen im speziellen Behauptete einzugehen, also die Frage undiskutiert läßt, woher dieses Denken seine Sicherheit in generellen Sätzen gewinnt, läßt sich jetzt gerade an diesem entscheidenden Punkt mehr sagen. Wenn es nämlich zutrifft, daß Thaies oder ein anderer Grieche um -600 (auf die Person kommt es nicht an) ,Sätze über Winkel* oder ,Sätze über Verhältnisse im Kreis' aufgestellt und in dieser Tätigkeit eine sinnvolle Möglichkeit, Geometrie zu treiben, erkannt hat, dann darf in dieser neuartigen Geometrie auch das auslösende Moment für die mit generellen Sätzen operierenden naturphilosophischen Bemühungen der Vorsokratiker gesehen werden. Allerdings verschiebt sich damit zunächst nur die Frage nach dem Woher derartiger 1B

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Diese Meinung vertritt auch L. Rougier, wenn er schreibt: „C'est avec la creation de la g ometrie d ductive que le mot raison a pris un sens chez les Grecs, au Ve siecle avant notre ere" (L'evolution du concept de raison dans la pensee occidentale, Dialectica 11 [1957], S. 306). Allerdings denkt er dabei nur an pythagoreische Mathematik — er selbst spricht sogar von pythagoreischer Geometrie (!) —, Thaies werden auch in seiner Darstellung (wie bei Robin, Dicks und Kirk/Raven; vgl. oben S. 22, Anm. 13) lediglich praktisch-empirische, von den Babyloniern übernommene Kenntnisse zugeschrieben (ebd.). Jeder Hinweis auf Thaletische Mathematik fehlt bei J. Stannard, Method and Logic in Presocratic Explanation, in: Contributions to Logic and Methodology in Honor of J. M. Bochenski, ed. A.-T. Tymieniecka, Amsterdam 1965, S. 107—131; unter den hervorgehobenen Errungenschaften vorsokratischen Denkens erscheinen auch .Generalization' sowie .Inference', .Evidence' und .Guarantee' (wovon noch zu reden sein wird) als Geschenk der Kosmologie. Die Frage, ob es sich hierbei in erster Linie um .wissenschaftliche' oder um .philosophische' Sätze handelt, ist für dieses Denken ganz unangemessen. Wo diese Frage dennoch gestellt und zu beantworten versucht wird, führt sie nur in unbefriedigender Weise zu extremen Positionen, wie sie etwa von Theodor Gomperz und John Burnet auf der einen und von Martin Heidegger auf der anderen Seite vertreten werden. Dasselbe gilt für die Unterscheidung zwischen .philosophischen* und .theologischen' Sätzen; vgl. G. Vlastos, Theology and Philosophy in Early Greek Thought, The Philosophical Quarterly 2 (1952), S. 97—123.

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Sätze. Denn wenn sich als Vorbild dieser naturphilosophischen Sätze nun auch jene elementar-geometrischen Sätze anführen lassen, so wird man jetzt doch fragen wollen, wie es zu der Entdeckung eben solcher geometrischer Sätze, deren Möglichkeit bislang nicht gesehen worden war, gekommen ist. Diese Frage wiederum ist nicht leicht zu beantworten. Da man sich auf Zeugnisse nicht berufen kann, ist man, wenn man sich nicht von vornherein mit der Feststellung des Faktums dieser Entdeckung begnügen will, auf reine Vermutungen angewiesen. Eine solche Vermutung, die nicht mehr bezweckt, als den Übergang von praktischen Sätzen zu theoretischen Sätzen innerhalb der Geometrie sachlich plausibel zu machen, wäre etwa die folgende. Als Beispiel sei die zuvor schon erwähnte implizite Verwendung des sogenannten Pythagoreischen Lehrsatzes in altbabylonischer Zeit gewählt. Sie kommt z.B. in der Lösung folgender Aufgabe zum Ausdruck (das Semikolon stellt ein Sexagesimalkomma dar — ,0;m' bezeichnet m Sechzigstel): „Ein Balken ist 0;30 lang. Oben ist er 0;6 herabgekommen. (Wie weit hat er sich entfernt) von unten?"20. Diese Aufgabe wird gelöst, indem praktisch in einem rechtwinkligen Dreieck mit der Hypotenuse l - h = 0;6

l = 0;30

to

Text BM 85196 — Mathematische Keilschrifttexte, I—III, ed. O. Neugebauer, Berlin 1935/37 (Quellen und Studien zur Geschichte der Mathematik, Astronomie und Physik A 3,1—III), II, S. 44 Nr. 9 (Text), S. 47 f. (Übersetzung). Von unverändertem Verfahren zeugt der mehr als 1000 Jahre jüngere Text BM 34568, a.a.O., III, S. 16 Nr. 12 (Text), S. 18 (Übersetzung); auch hier läßt sich keinerlei Anzeichen dafür finden, daß in der babylonischen Geometrie irgendwann einmal theoretische Zusammenhänge ausdrücklich zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht wurden, also etwa versucht wurde, den .Pythagoreischen' Lehrsatz zu .beweisen'. Die Kenntnis eines Verfahrens zur systematischen Erzeugung von pythagoreischen Zahlen, die aus dem berühmten Text .Plimpton 322' (Mathematical Cuneiform Texts, ed. O. Neugebauer/A. Sachs, New Haven 1945, S. 38 ff.) hervorgeht und auf die

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Die Entdeckung der Vernunft

1 = 0;30 zunächst die eine Kathete h = 0;30—0;6 = 0;24 bestimmt und daraufhin die zweite Kathete ,nach Pythagoras', nämlich unter 2 2 Anwendung der Formel x=}/l — h , berechnet wird. Die Lösung lautet dann x = 0; 18. Bei dieser Lösung wird nun offenkundig nicht davon Gebrauch gemacht, daß es sich hier um einen schrägstehenden Balken und nicht etwa um ein gespanntes Seil handelt. D.h. von dem Material des betrachteten Gegenstandes wird faktisch ganz abgesehen, nicht dagegen von seiner möglichen Eigenschaft, gerade oder krumm zu sein. Es kommt im Sinne der gestellten Aufgabe und ihrer Lösungsanweisung vielmehr genau darauf an, daß es sich um einen geraden Gegenstand handelt, wie auch die Flächen, auf denen sich der Balken bewegt, ,gerade', nämlich eben, und zueinander senkrecht sein müssen. Hat man das aber einmal deutlich erkannt, so liegt bereits die Einsicht nahe, daß bei der Lösung derartiger Aufgaben statt der angeführten Gegenstände überhaupt nur relevante Eigenschaften betrachtet werden. Die eigentliche Entdeckung der Möglichkeit theoretischer Sätze bestünde dann entsprechend darin, diese Eigenschaften auch völlig unabhängig von speziellen ,Trägern' zum Gegenstand geometrischer Überlegungen zu machen, was zunächst durchaus auch so geschehen kann, daß man gewisse Sätze, die man jetzt formuliert, etwa im Hinblick auf das hier herangezogene Beispiel noch als Sätze über alle Balken oder Mauern, insofern diese gerade sind, auffaßt. Der entscheidende Schritt hin zu generellen Sätzen ist auch hier schon vollzogen. Mit anderen Worten: Die Entdeckung der Möglichkeit theoretischer Sätze könnte hervorgegangen sein aus einer Reflexion auf das Funktionieren jener ,Rezepte', nach denen innerhalb der babylonischen Geometrie spezielle Aufgaben gelöst worden sind. Ein solcher Hinweis muß zwar um der historischen Redlichkeit willen mit einem Fragezeichen versehen werden, er dürfte aber dennoch geeignet sein, das sachliche Verständnis jener Entdeckung, ihres möglichen Zustandekommens und ihrer Bedeutung, zu fördern. Die naturphilosophischen Sätze der Vorsokratiker über alles Seiende lassen sich damit in ihrer eigentümlichen Form, nämlich als generelle Sätze, auf dem Hintergrund des in der Geometrie vollzogenen H. Geridke (Über den Unterschied von griechischer und vorgriechischer Mathematik, Gymnasium 67 [1960], S. 126) in diesem Zusammenhang hinweist, kann als Indiz für die Existenz eines Beweises dieses Lehrsatzes nicht in Anspruch genommen werden. Es handelt sich bei diesem Verfahren um eine zahlentheoretische Einsicht, die von einer geometrischen Deutung durchaus unabhängig ist.

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Übergangs von praktischen zu theoretischen Sätzen befriedigend verstehen, ohne daß dies etwa die Behauptung nach sich ziehen müßte, sie seien im einzelnen unmittelbar auf geometrische Überlegungen rückführbar. Es genügt vielmehr für die Beantwortung der Frage, woher das vorsokratische Denken seine Sicherheit in generellen Sätzen gewinnt, der Hinweis auf den hierfür exemplarischen Charakter der Thaletischen Geometrie und deren sachlich durchaus verstehbaren, wenn auch historisch im einzelnen nicht mehr nachweisbaren Schritt von der bloßen Regelanwendung zur reinen ,Theoria'. Der Vergleich mit der Geometrie zeigt aber auch, daß sich die in der Geometrie soeben erst entdeckte Vernunft mit der Aufstellung jener spekulativen Sätze über alles Seiende in gewissem Sinne sofort schon übernimmt, insofern nämlich derartige Sätze wie »alles ist Wasser' (Thaies) oder ,alles ist Luft' (Anaximenes), nur durch vage Analogien und Vergleiche gestützt und damit ohne einen geeigneten Begründungszusammenhang, nichts anderes als kühne Behauptungen bleiben. Man könnte sie darum auch an die Seite jener sinnlosen metaphysischen Sätze über die Beschaffenheit der (physikalischen) Welt, nämlich daß diese etwa räumlich endlich oder (aktual) unendlich sei, stellen, die Kant im Antinomienkapitel der „Kritik der reinen Vernunft" attackiert, doch würde man damit ihrer tatsächlichen Bedeutung im Rahmen des gerade erst entstehenden vernünftigen Denkens nicht gerecht werden. Entscheidend für ein angemessenes Verständnis dieses Denkens ist eben weniger dasjenige, was da im einzelnen behauptet wird, als vielmehr die Art, wie es behauptet wird. Und diese Art und Weise ist es im wesentlichen, die von einer nun als vernünftig interpretierbaren Selbständigkeit zeugt. Versteht man diese vernünftige Selbständigkeit in der Weise, wie das bisher unter Hinweis auf den exemplarischen Charakter der Geometrie geschah, so lassen sich jetzt auch Versuche zurückweisen, die den Ursprung dieser Selbständigkeit mehr in der politisch-ökonomischen Sonderstellung loniens und der geistigen Beweglichkeit seiner Bewohner sehen" oder überhaupt schon den um -700 schreibenden Dichter Hesiod für den Schritt vom Mythos zum Logos verantwortlich machen wollen.22 11

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Vgl. z.B. G. Sarton, A History of Science, Cambridge Mass. 1952, S. 162; W. Perpeet, Vom Ursprung der Philosophie oder über eine spezifische Differenz zwischen Denken und Dichten, in: Der Mensch und die Künste. Festschrift für H. Lützeler, Düsseldorf 1962, S. 63. Am stärksten betont wird die vermeintliche Gründerrolle Hesiods von O. Gigon, a.a.O., S. 13 ff., und zwar unter Hinweis auf dessen Anspruch, erstmals die Wahrheit zu lehren, sowie dessen Thematisierung der Frage nach dem Ursprung und dem

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Die Entdeckung der Vernunft

Prosperität und Urbanität mögen zwar ein außerordentlich günstiger Hintergrund für jene vernünftige Selbständigkeit gewesen sein, können deren Zustandekommen aber nicht ,erklärenc, weil sie sich in diesem Zusammenhang nicht einmal als notwendige, geschweige denn hinreichende Bedingungen auffassen lassen. Anders steht es mit dem Hinweis auf Hesiod. Dessen belehrendes Auftreten im Namen einer , Wahrheit', die bewußt gegen die überkommenen Vorstellungen von den Göttern und damit gegen die mythische Welt der homerischen Epen ausgespielt wird28, seine Spekulation über den Ursprung, in der sich theogonische Gesichtspunkte mit kosmogonischen Gesichtspunkten verbinden24, und schließlich die in der „Theogonie" im Rahmen des streng eingehaltenen genealogischen Schemas zum Ausdruck kommende Tendenz zur Vollständigkeit lassen tatsächlich die Vermutung zu, daß hier der entscheidende Schritt über den Mythos hinaus schon getan ist. Und doch wird man wohl dem eigentümlichen Charakter der Bemühungen Hesiods eher gerecht, wenn man in ihnen mit W. Jaeger lediglich eine „Synthese der mythischen Überlieferung"25 sieht, die in gewissem Sinne, nämlich im Hinblick auf ihre methodische Konsequenz und ihr selbstbewußtes Konstruieren genealogischer Beziehungen, sogar als „rational" bezeichnet werden könnte26, deren neuartiges Auftreten aber im Grunde in einer nach wie vor mythischen Umstilisierung der überkommenen mythischen Spekulation beruht." Das Modell von Zeugung und Geburt etwa bleibt, wie dies für ein mythisches Denken charakte-

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Ganzen; in einem späteren Werk (Grundprobleme der antiken Philosophie, Bern/ München 1959) hebt Gigon in diesem Zusammenhang die Fragen nach dem Anfang, dem Ganzen und der Ordnung hervor (S. 30 ff.). Zurückhaltender, jedoch gleichfalls unter bewußter Auszeichnung Hesiods: H. Diller, Hesiod und die Anfänge der griechischen Philosophie, Antike und Abendland 2 (1946), S. 140—151; im Anschluß an Diller vgl. auch W. Jens, Das Begreifen der Wahrheit im frühen Griechentum, Studium Generale 4 (1951), S. 241 f. Weiterhin H. T. Wade-Gery, Essays in Greek History, Oxford 1958, S. l ff.; G. Patzig, a.a.O., S. 304 ff. Theog. 27 f.; vgl. Erga 9 f. Theog. 116 ff. W. Jaeger, a.a.O., S. 29. So W. Jaeger, ebd. Auf diesen, leicht irreführenden Ausdruck läßt sich aber auch verzichten, desgleichen auf den Ausdruck .quasirationalistic', den G. S. Kirk/J. E. Raven wählen (a.a.O., S. 72). Diese Meinung vertreten: E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung I, Leipzig 19237 (ed. W. Nestle), S. 67 ff.; W. K. C. Guthrie, Orpheus and Greek Religion, London 1935, S. 83 f., S. 105 f.; ders., In the Beginning, London 1957, S. 15; G. Vlastos, a.a.O., S. 103 f.; W. Jaeger, a.a.O., S. 26; K. v. Fritz, Der Beginn universalwissenschaftlicher Bestrebungen und der Primat der Griechen, Studium Generale 14 (1961), S. 548; G. S. Kirk/J. E. Raven, a.a.O., S. 8.

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ristisch ist, an die unbedenkliche Einführung von Personifikationen gebunden, es wird bei Hesiod nirgends, wie dann später bei den vorsokratischen Denkern, zum Vehikel einer allgemeinen Betrachtung über ^erden' und , Vergehen'. Der unbestrittenen Selbständigkeit Hesiods innerhalb des mythischen Denkens vergleichbar, wenn auch von anderer Art, sind im übrigen Tendenzen, die in der griechischen Lyrik des 7./6. Jahrhunderts auftreten. Auch Archilochos von Paros, Mimnermos von Kolophon oder die Sappho lassen eine Selbständigkeit erkennen, die sich aus dem mythischen Wir der ,alten' Welt bereits gelöst, jedoch ähnlich Hesiod die ruhige Gewißheit der Vernunft noch nicht gewonnen hat.28 Die bisherige Lage wird als unbefriedigend empfunden, sie wird, jedenfalls in der Lyrik, aber gerade deswegen auch erlitten, weil sie in Wahrheit noch gar nicht überwunden ist und hinter dem Verlust der ursprünglichen Geborgenheit im Mythos nur wieder eine vergleichbare mythische Geborgenheit gesucht wird.89 Diese vermag die Vernunft jedoch gerade nicht zu geben. Wo im vorsokratischen Denken schließlich eine wahrhaft vernünftige Selbständigkeit auftritt, wird darum auch der Mythos radikaler preisgegeben als ihn die neue Selbständigkeit in Lehrgedicht und Lyrik preiszugeben vermochte. Gleichwohl soll nun nicht behauptet werden, daß es nicht sinnvoll wäre, die eigentümliche Selbständigkeit Hesiods und der älteren Lyrik vom mythischen Denken deutlich abzuheben. Es soll aber offenbleiben, ob darin schon ,Anfänge' oder , Vorformen' der Vernunft gesehen werden müssen." Auf jeden Fall wird es immer darauf ankommen, die 28

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Bei Archilochos tritt etwa das in der Liebe leidende Ich zum ersten Male hervor; vgl. 104 D., 112 D. (D. = Anthologia Lyrica Graeca, I—II, ed. E. Diehl, Leipzig 1925), vgl. B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 1946, S. 66; daneben .revolutionärer Zynismus' (F. Wehrli, Die menschliche Verantwortung in der archaischen Dichtung der Griechen, in: Acta Congressus Madvigiani II, Copenhagen 1958, S. 180, unter Hinweis auf 6 D.)· Der pessimistische Grundzug dieser älteren Lyrik kommt vielleicht am deutlichsten bei Mimnermos zum Ausdruck, der wie Semonides (29 D.) den Blättervergleich des bekannten Iliasverses (II. 6,146) bringt (2 D.). An Archilochos schließt Sappho in ihren Liebesliedern an; vgl. 2 D., 67 D.; dazu A. Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, Bern/München 1963*, S. 167; B. Snell, a.a.O., S. 67 f. Sappho glaubt sich trotz aller Gebrochenheit der unmittelbaren Lebensbezüge nach wie vor in der (bergenden) Hand der Götter; vgl. B. Snell, a.a.O., S. 78. Auf die Rolle Hesiods als Vorläufer des ionischen Denkens suchte insbesondere F. M. Cornford immer wieder hinzuweisen; vgl. Principium Sapientiae. A Study of the Origins of Greek Philosophical Thought, Cambridge 1952, S. 187 ff. Er geht allerdings zu weit, wenn er dabei das vernünftige Denken der Griechen implizit in den Darstellungen Hesiods bzw. in gewissen religiösen Strömungen schon enthalten

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Unterscheidungen so zu treffen, daß nicht schließlich eine leere Vertauschbarkeit von jinehr-oder-weniger-mythisch' und ,mehr-oder-weniger-vernünftig' die Unterscheidung von ,mythischc und ,vernünftig' selbst sinnlos macht. Desgleichen trifft es zu, daß biomorphe, soziomorphe und technomorphe Auffassungen, die im besonderen Maße das mythische Denken charakterisieren, keineswegs mit der Entdeckung der Vernunft sofort überwunden wären. Sie begleiten vielmehr das vernünftige Denken noch lange Zeit hindurch31 und verlieren ihren Einfluß auf dieses Denken im Grunde erst dann, als sie innerhalb der Platonischen Philosophie bewußt als Kunstmittel der Darstellung eingesetzt werden, dem äußeren Eindruck nach paradoxerweise also noch an Bedeutung zu gewinnen scheinen. Das wechselhafte Schicksal des vorsokratischen vernünftigen Denkens gerade hinsichtlich dieser seiner ständigen Bedrohung durch mythische Vorstellungsformen soll hier nicht weiter verfolgt werden. Der Hinweis auf den exemplarischen Charakter der Thaletischen Geometrie muß vielmehr genügen, um den sicheren Anfang, den dieses Denken genommen hat, darzulegen. Neben dem erstmaligen Auftreten genereller Sätze ist dabei im Hinblick auf die zuvor genannten Tugenden vernünftigen Denkens weiterhin hervorzuheben, daß Thaies seine Sätze ausdrücklich bewiesen haben soll.32 Auch hierbei handelt es sich um die Entdeckung einer Möglichkeit, die keineswegs so selbstverständlich ist, wie sie bereits den griechischen Geometern selbst gewesen sein mag. Diese Möglichkeit ist in der vor-Thaletischen Geometrie ebenfalls unbekannt.33 Ihre erste Erwähnung gerade im Zusammenhang mit dem ersten Auftreten genereller Sätze deutet denn auch darauf hin, daß beide Entdeckungen offenbar miteinander zusammenhängen. Wer generelle Sätze in der Geometrie aufstellt, muß — so könnte man sich in diesem Zusammenhang ausdrücken — zusätzlich noch etwas tun, um einsichtig zu machen, wovon

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sieht; vgl. insbesondere: From Religion to Philosophy, London 1913, S. 124 ff.; Was the Ionian Philosophy Scientific?, The Journal of Hellenic Studies 62 (1942), S. 7. E. Topitsch, Vom Mythos zur Philosophie. Vorphilosophische Grundlagen philosophischer Probleme, Studium Generale 11 (1958), S. 12—29. Procl. in Eucl. 157,10—11 Friedlein, zu Satz (1). Der Gedanke, geometrische Sätze müßten erst bewiesen werden, bevor man sie in Form von Lösungsanweisungen bestimmten Aufgaben beifügen konnte, läßt sich in der vorgriechischen Mathematik nicht nachweisen. Bezeichnenderweise hat denn auch die babylonische Geometrie verschiedentlich mit falschen Formeln, etwa bei der Berechnung von Kegel- und Pyramidenstumpf (B. L. van der Waerden, a.a.O., S. 120 ff.) gearbeitet, und sie konnte dies unbefangen tun, da diese Formeln für die Praxis immer noch hinreichend brauchbare Resultate lieferten.

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berhaupt die Rede ist. Der Platonische Hinweis darauf, da es sich hier um S tze ber ideale Gegenst nde handelt, gen gt ja allein noch nicht, um ihren Sinn schon erkennen zu lassen. Dazu bedarf es vielmehr gewisser Handlungen, die sich an wirklichen' Gegenst nden, n mlich Darstellungen von Figuren, vornehmen lassen und etwa durch ,Erzeugung* von Evidenzen jedermann in die Lage versetzen, diese S tze seinerseits zu bernehmen. Diese Vermutung wird in hohem Grade best tigt durch die Thaletische Form des Beweisganges selbst, soweit diese sich noch aus Euklid und Proklos erschlie en l t.34 Aufschlu reich ist in diesem Zusammenhang vor allem das bei Euklid als siebtes Axiom aufgef hrte sogenannte Kongruenzaxiom: „Was einander deckt, ist einander gleich"." Obgleich sich mit Hilfe dieses Axioms Ungenauigkeiten in den Gleichheitsdefinitionen h tten vermeiden lassen, macht Euklid von ihm in auffallender Weise wenig Gebrauch38, und dies nun offenbar deswegen, weil mit dem Aufeinanderklappen von Figuren ,Bewegung' benutzt wird. Ein solches Verfahren verleiht diesem Axiom wiederum innerhalb des Aufbaus der Euklidischen Geometrie einen ungew hnlich jempirischen' Charakter und zeugt hierin offenbar von einer lteren Beweisstufe. Diese Vermutung l t sich durch Proklos best tigen und, was das Entscheidende ist, zugleich mit Thaletischen Beweisversuchen in Verbindung bringen. Unmittelbar im Anschlu an seine, wohl auf Eudem zur ckgehende Mitteilung, da Thaies den Satz von der Halbierung des Kreises durch seine Durchmesser bewiesen habe, erw hnt Proklos n mlich f r diesen Satz einen solchen Klappbeweis37, was dessen archaischen Charakter aufs beste illustriert und zugleich Thaletischen Ursprung sehr wahrscheinlich macht. Dabei mu dieser Beweis keineswegs so jempirisch' aufgefa t werden, wie es im Hinblick auf Euklid naheliegen mag. Als Verfahren kommen hier vielmehr auch einfache Symmetriebetrachtungen an Hand der sogenannten Thaletischen Grundfigur, eines Rechtecks mit Diagonalen und umschriebenem Kreis, in Frage, die erkennen lassen, da gewisse Homo'* Eine ausf hrlichere Darstellung des Folgenden habe ich bereits an anderer Stelle gegeben: Die Entdeckung der M glichkeit von Wissenschaft, Archive for History of Exact Sciences 2 (1962—1966), S. 414 ff. 35 τα έφαρμόζοντα έπ' άλληλα ίσα άλλήλοις εστίν, Opera omnia, I—IX, ed. J. L. Heiberg/H. Menge, Leipzig 1883—1916, I, S. 10. ** K. v. Fritz, Die APXAI in der griechischen Mathematik, a.a.O., S. 76 f. Das Axiom wird lediglich beim Beweis dreier S tze, darunter des ersten Kongruenzsatzes (I, 4), benutzt. " Procl. in Eucl. 157, 17—158, 2 Friedlein.

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Die Entdeckung der Vernunft

genitätsforderungen am Objekt erfüllt sind. Der Hinweis auf ein Klappverfahren brächte dann nur auf mehr handgreifliche' Art zum Ausdruck, was sich auch schon unmittelbar als Symmetrie dieser Figur einsichtig machen läßt.38 Die in der Mathematikgeschichtsschreibung vielfach angebotene Alternative, Thaies könne seine Sätze entweder durch ein rein empirisches Verfahren oder unter Rückgriff auf andere Sätze bewiesen haben, eine Alternative, die ihrerseits zu der fatalen Konsequenz führt, Thaies in diesem Punkte entweder wieder völlig auf die Seite einer .empirischen' Geometrie nach babylonischem Muster zu rücken oder ihm ganz im Gegenteil sogar schon ein erst sehr viel später nachweisbares methodisches Bewußtsein zuzusprechen, läßt sich damit ohne weiteres vermeiden.39 Es sieht vielmehr so aus, als ob wir in der Thaletischen Geometrie mit ihren theoretischen Sätzen und ihren Beweisenden' Symmetriebetrachtungen ein Stück logikfreier Elementargeometrie vor uns hätten, eine Geometrie, die zwar generelle Sätze aufstellt, diese Sätze aber noch nicht unter Rückgriff auf andere Sätze zu beweisen sucht. 38

Als erster hat B. Russell darauf aufmerksam gemacht, daß das -Verfahren auch im Sinne des modernen Kongruenzbegriffes geometrischer Figuren aufgefaßt werden kann (Artikel: Geometry, non-Euclidean, Encyclopaedia Britannica, 10. Aufl. Bd. 28 [= Suppl. Bd. 4 der 9. Aufl.], London 1902, S. 671), eine Anregung, die dann von Th. Heath aufgenommen wurde (The Thirteen Books of Euclid's Elements I, S. 227). Von Symmetriebetrachtungen im erwähnten Sinne sprechen auch: O. Becker/J. E. Hofmann, Geschichte der Mathematik, Bonn 1951, S. 45; O. Becker, a.a.O., S. 39. '· Empirische Verfahren in einem sehr unbestimmten Sinne vermuten, wie bereits erwähnt, J. Burnet, E. Frank, L. Robin, D. R. Dicks und G. S. Kirk/J. E. Raven (vgl. oben S. 22, Anm. 13), indem sie von der zweifelhaften Annahme ausgehen, daß man im anderen Falle bereits euklidischen Aufbau unterstellen müsse. Ähnlich argumentiert O. Neugebauer, wenn er auf dem Hintergrund einer scharfen Unterscheidung zwischen nicht-axiomatischen (empirischen) und axiomatischen Verfahren

Das Ideal einer beweisenden Wissenschaft (Theoretische Philosophie)

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1.3 Das Ideal einer beweisenden Wissenschaft (Theoretische Philosophie) Die Einsicht, daß man geometrische Sätze auch mit Hilfe anderer Sätze beweisen kann, und damit erste Anzeichen in Richtung auf einen axiomatischen Aufbau der Geometrie lassen sich, offenbar unter eleatischem Einfluß40, bei dem durch seine Möndchenquadraturen, d.h. die Quadraturen krummliniger Figuren, hervorgetretenen Mathematiker Hippokrates von Chios nachweisen.41 Das axiomatische Verfahren gewinnt seither zunehmend an Bedeutung und läßt bald jene jthaletische* Möglichkeit der Geometrie gänzlich in Vergessenheit geraten, indem jetzt auch deren Sätze ,axiomatisch' gedeutet werden. Die Geometrie beginnt sich nun in einer sehr entschiedenen Weise als ,Theoria' zu verstehen, nämlich als eine Reihe von Sätzen, die in bestimmter geordneter Weise voneinander logisch abhängig sind und, abgesehen von gewissen ersten Sätzen, dadurch bewiesen werden, daß man einzelne Sätze als

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die mathematische Thaiesüberlieferung als „totally unhistorical" (a.a.O., S. 147 f.) bezeichnet. Annahmen, die in der Darstellung der Thaletischen Sätze auf ein ,axiomatisches' Verfahren hinzudeuten scheinen, lassen sich jedoch leicht eliminieren, ohne daß nunmehr nur noch der babylonische Weg der Geometrie übrigbliebe. So heißt es gelegentlich, daß der Beweis des Satzes über die Gleichheit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck (Satz 3) unter anderem vom Satz über die Halbierung des Kreises durch den Durchmesser (Satz 1) Gebrauch mache, indem von der Annahme ausgegangen werde, daß die gemischtlinigen Halbkreiswinkel im Kreis einen festen Wert besitzen (vgl. z. B. O. Becker, a.a.O., S. 38 f.). Gerade dieser Basiswinkelsatz (von dem im übrigen keineswegs sicher ist, daß Thaies ihn überhaupt bewiesen hat; Proklos weiß hierüber nichts zu berichten; Procl. in Euch 250,22 Friedlein) läßt sich aber eben auch schon durch einfache Symmetriebetrachtungen beweisen, indem man etwa .zeigt', daß das gleichschenklige Dreieck in bezug auf die Winkelhalbierende symmetrisch ist. Auch ein von Aristoteles (An. pr. A 24.41b 13—22) überlieferter Beweis dieses Satzes, der explizit von der erwähnten Annahme ausgeht, dürfte nach Th. Heath (Mathematics in Aristotle, Oxford 1949, S. 23 f.) ursprünglich ein Klappbeweis gewesen sein. Vgl. auch Th. Heath, The Thirteen Books of Euclid's Elements I, S. 252 ff. — Von einem vermeintlich rein empirischen Charakter des Klappverfahrens spricht insbesondere A. Szabo, a.a.O., S. 132; vgl. ders., Die Grundlagen in der frühgriechischen Mathematik, Studi italiani di filologia classica 30 (1958), S. 18; , als mathematischer Terminus für „beweisen", Maia. Rivista di letterature classiche N. S. 10 (1958), S. 116. Zu dieser vor allem von A. Szabo vertretenen These sowie im Zusammenhang damit zur Frage des historischen Primats von Logik oder Mathematik vgl. meine oben S. 31, Anm. 34, erwähnte Arbeit, S. 418 ff. Hippokrates hat, wie Proklos nach Eudem berichtet (Procl. in Eucl. 66,7—8 Friedlein), geschrieben, er hat sich, wie es, wiederum nach Eudem, bei Simplikios (Simpl. in Arist. Phys. 12 comment. 61,5—7 Diels; Eudem Fr. 140 Wehrli) heißt, eine gemacht und zum Beweise eines Satzes andere Sätze herangezogen.

3 Mittelstnss, Neuzeit und Aufklärung

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Die Entdeckung der Vernunft

logische Folgerungen anderer, bereits gesicherter S tze aufweist. Sieht man hier einmal von der besonderen Problematik jener als erster ausgezeichneten S tze ab, so d rfte damit auch endg ltig deutlich geworden sein, wieso es gerechtfertigt ist, gerade in der Geometrie die Manifestation jener Verl lichkeit des Wissens zu sehen, die der vern nftigen Selbst ndigkeit des vorsokratischen Denkens ihre Sicherheit gibt. Und mehr noch. Der ,theoretischec Aufbau der Geometrie, mit den Mitteln des generellen Satzes, des Beweises und des logischen Schlie ens, wird ber das vorsokratische Denken hinaus zum Vorbild wissenschaftstheoretischer Betrachtungen, wie sie insbesondere Platon und Aristoteles anstellen, und damit nun auch expressis verbis zur Richtschnur ,exakten' Denkens schlechthin. Um die Linie gleich durchzuziehen: Aristoteles entwirft in den „Zweiten Analytiken" seine Beweisende Wissenschaft* (αποδεικτική επιστήμη), die mit dem Anspruch auftreten soll, gewisserma en das Modell jeder zuk nftigen strengen Wissenschaft zu sein, zweifellos auf das exemplarische Vorgehen einer axiomatischen Theorie hin. Auch diese »Wissenschaft* wird als ein Zusammenhang von S tzen dargestellt, die untereinander durch logische Abh ngigkeiten ausgezeichnet sind und deren formales Beweismittel der Syllogismus sein soll.42 Dabei wendet sich Aristoteles aber um eben jener Redlichkeit der Begr ndungsbem hung willen, die dem vern nftigen Denken eigent mlich ist, nun insbesondere gerade denjenigen S tzen zu, die, auch in seinem Entwurf durch Syllogismen nicht mehr beweisbar, unbewiesen als sogenannte erste S tze am Anfang stehen. Ein Beweisverzicht, wie er hier unvermeidbar zu sein scheint, bedeutet nach Aristoteles nicht, da man es sich jetzt auch im Hinblick auf die Annahme solcher erster S tze, im Sinne etwa einer ,konventionalistischen' Behandlung, einfach machen k nne. Vielmehr soll gerade deren Annahme ausdr cklich begr ndet werden, was wiederum dem Aristotelischen Vorschlag entsprechend durch επαγωγή, durch Induktion, wie man mit allem Vorbehalt hinsichtlich der modernen Verwendung dieses Terminus bersetzen darf, geschehen kann.48 Unter επαγωγή ist hier so etwas wie der R ckgriff auf ein Wissen verstanden, das der Mensch ,immer schon' besitzt, sofern er n mlich als ein ,immer schon* handelndes und ,immer schon' sprechendes 42 43

An. pr. A 4.25b30; An. post. A 2.71bl7—18 etc. An. post. A1.71a6; B 19.100b3—5 etc.; Hinweis auf die Unterscheidung von άπόδειξις (bzw. συλλογισμός) und επαγωγή im Sinne einer vollst ndigen Disjunktion: An. post. A18.81a38—81bl; An. pr. B23.68bl3—14. Vgl. K. v. Fritz, Die επαγωγή bei Aristoteles, M nchen 1964 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, philos.-hist. Kl. 1964, Heft 3).

Das Ideal einer beweisenden Wissenschaft (Theoretische Philosophie)

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Wesen, mehr oder weniger bewu t, nach ,allgemeinen' Regeln verf hrt. Nach Aristoteles macht die Vernunft (νους) von diesen Regeln Gebrauch, indem sie diese zun chst einmal als in der Erfahrung (εμπειρία) bereitliegende Einsichten explizit formuliert, um sie dann in Form jener ersten S tze der im weiteren syllogistisch aufgebauten , Wissenschaft* voranzustellen.** Es scheint, da sich Aristoteles mit der exemplarischen Konzeption einer Beweisenden Wissenschaft1 im Rahmen seiner wissenschaftstheoretischen Betrachtungen zufriedengegeben und nicht weiter versucht hat, diese Konzeption der Darstellung seiner eigenen wissenschaftlichen Bem hungen zugrunde zu legen. Man k nnte darin eine f r Aristoteles vermeintlich typische Abkehr von urspr nglich st rker platonisch beeinflu ten Entw rfen sehen*5, doch lassen sich hier anstelle solcher entwicklungsgeschichtlicher Gesichtspunkte durchaus auch systematische Gr nde anf hren. So mag etwa ein syllogistisches Verfahren, wie es die „Zweiten Analytiken" im brigen auch nur u erst skizzenhaft enthalten, durchaus geeignet sein, methodische Begr ndungszusammenh nge innerhalb einer Wissenschaft darzulegen, Demonstriert' wird dabei aber immer nur generelles Wissen, ohne da damit auch schon s mtliches individuelle Wissen eingeschlossen w re. Als Mittel spezieller Forschungen, insbesondere im Bereich der empirischen Wissenschaften, ist dieses Verfahren folglich nicht hinreichend und tritt darum auch bei Aristoteles in entsprechenden Zusammenh ngen entweder gar nicht oder nur am Rande auf. F r sich genommen stellt es jedoch den konsequenten und durch die weitere philosophische Entwicklung des Aristoteles keineswegs berholten Versuch dar, methodische Einsichten der Geometrie im Rahmen einer allgemeineren Methodologie nutzbar zu machen. 44

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Vgl. An. post. B19.99B34 ff. Aristoteles gibt sich hier allerdings mit dem Hinweis auf die ,Lebensweltc noch nicht zufrieden. Er sucht vielmehr das hier wirksame Wissen auch noch seiner Herkunft nach zu analysieren, indem er es als das in einer .einfachen Erfahrung' (μία εμπειρία) verborgene Allgemeine (καθόλου) auf die Verm gen der .Erinnerung' (μνήμη) und der .Wahrnehmung' (αίσθησις) zur ckf hrt. Dieses Verfahren ist jedoch u erst problematisch, wenn man es so verstehen wollte, wie es die Tradition — vor allem innerhalb des Empirismus — getan hat. Denn dann droht mit dem Versuch, durch .wissenschaftliche' Analysen noch hinter die ,Lebenswelt' zu kommen, die Ordnung von .vorwissenschaftlichem' und »wissenschaftlichem' Wissen umgekehrt zu werden. Es bedarf allerdings wohl eigener Untersuchungen dar ber, ob Aristoteles mit seiner offenbar recht .sensualistischen' oder .psychologistischen' Ausdrucksweise f r dieses Mi verst ndnis selbst schon verantwortlich gemacht werden kann. Den ,Platonismus' der „Zweiten Analytiken" betont insbesondere J. H. Randall, Jr., Aristotle, New York I960, S. 32 ff.

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Die Entdeckung der Vernunft

Der »sichere Gang', den die Vernunft innerhalb der griechischen Geometrie angetreten hatte und der Aristoteles in den „Zweiten Analytiken" bewog, seine Beweisende Wissenschaft* auf geometrische Verfahren hin zu entwerfen, hat bekanntlich schon den Aufbau der Platonischen Philosophie maßgeblich beeinflußt. So gehört nach Auskunft der „Politeia" die Geometrie neben Arithmetik, Astronomie und Musik (gedacht ist hier an eine rationale Harmonielehre) zu den besonderen Mathemata einer von Platon vorgeschlagenen ,idealen' Pädagogik, wobei es gerade wieder der diesen Disziplinen gemeinsame ,theoretischef Charakter sein soll, der eine solche Auszeichnung rechtfertigt.46 Der Einsatz dieser ungewöhnlich anspruchsvollen Mittel wird dabei verständlich, wenn man das Ziel dieser Pädagogik ins Auge faßt. Sie soll, zunächst im Rahmen der Erziehung der Philosophenkönige, eine ,Umkehr der Seele* aus ihrer natürlichen Befangenheit zu umsichtiger Lebensführung (in Platonischer Terminologie: aus der Welt des ,Werdens* zur Welt der ,Wahrheit* und des ,Seins'47) bewerkstelligen, und dies bedeutet nach Platons Überzeugung nichts anderes, als daß sie die Vernunft auf ihren Weg zu bringen hat. Es geht also, mit anderen Worten, im Rahmen dieser Pädagogik in erster Linie um den wiederholbaren Anfang der Vernunft; um diesen Anfang zu provozieren, werden Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik als Beispiele bereits geglückter Realisierungen der Vernunft aufgewiesen und einem zukünftigen ,Erziehungsprogramm* eingegliedert. Dies bedeutet nun aber im Falle der Geometrie zugleich nichts anderes, als daß bei der pädagogischen Bemühung um den Anfang der Vernunft von genau jener Möglichkeit Gebrauch gemacht werden soll, die der hier vorgeschlagenen Darstellung nach auch historisch gesehen am Anfang der Entdeckung der Vernunft steht! Aus Platons , auf geklärter* Sicht gesehen dürfte diese ,Datierung* also jedenfalls gerechtfertigt sein. Die Auszeichnung der angeführten Mathemata im Rahmen einer jidealen* Pädagogik erfolgt dabei keineswegs unkritisch unter bloßem Hinweis auf ein faktisch bereits praktiziertes Verfahren. Platon macht vielmehr zuvor ausdrücklich auf gewisse Unklarheiten bei der bisherigen 48

Der Zusammenschluß dieser vier .exakten' Wissenschaften zum später sogenannten Quadrivium geht wohl auf den direkten Bildungseinfluß der Akademie (so W. Burkert, a.a.O., S. 399 f.) und nicht, wie es die Tradition zumeist darstellt (vgl. Procl. in Eucl. 35,21 ff. Friedlein), auf pythagoreische Ursprünge zurück (so B. Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Berlin 1924 [Philologische Untersuchungen 29], S. 77 ff.). « Pol. 525c5—6; vgl. 521 c.

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Behandlung mathematischer Grundbegriffe aufmerksam und sucht diese selbst durch einen geeigneten Vorschlag zu beheben. Genauer handelt es sich bezeichnenderweise auch hier wieder insbesondere um geometrische Grundbegriffe, wenn es an der betreffenden Stelle heißt, daß die Mathematiker neben dem Geraden und Ungeraden „die Figuren und die drei Sorten von Winkeln" voraussetzen, „als ob sie dies schon wüßten", und es nicht für nötig halten, „sich selbst oder anderen darüber Rechenschaft zu geben".48 In diesem Zusammenhang ist von „Voraussetzungen" ( ) die Rede, eine Ausdrucksweise, die den modernen Leser eine Diskussion von Sätzen erwarten läßt. Und doch ist in der Platonischen Kritik nicht das axiomatische Verfahren selbst, sondern ein allzu ungenaues Sprechen von nicht-empirischen Gegenständen gemeint. Platon sieht ganz richtig, daß die Frage, wovon denn in den generellen Sätzen der Geometrie überhaupt gesprochen wird, nach wie vor nicht recht beantwortet ist, und sucht denn auch im folgenden mit seinem Hinweis auf die Idealität dieser Gegenstände erstmals eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu geben." Ob seine Antwort in dieser Form wirklich schon genügt, kann hier dahingestellt bleiben. Daß sich Aristoteles später in diesem Punkte wieder gegen Platon wendet, zeigt zumindest, daß sie noch nicht hinreichend deutlich formuliert ist.50 Was die im eigentlichen Sinne systematischen Aussagen der Platonischen Philosophie selbst betrifft, so dürfte dem Hinweis auf die Idealität geometrischer Gegenstände im übrigen weitaus größere Bedeutung zukommen, als der bisher betrachtete didaktische Zusammenhang erkennen läßt. Vieles spricht nämlich dafür, daß die gesamte Konzeption der (klassischen) Ideenlehre bereits dieser sehr speziellen Einsicht im geometrischen Bereich folgt und nicht etwa umgekehrt diese Einsicht erst ermöglicht hat. In der Tat ist es ja durchaus sinnvoll, in jeweils praktisch 48

Pol. 510c/d. « Pol. 510d, Slid; vgl. 527b. 50 Platon sucht offenbar die Mathemata als eine bestimmte Sorte von Ideen hinzustellen, ohne daß ihm dies, wie insbesondere die Aristotelischen Berichte über derartige Versuche zeigen (z.B. Met. A6.987bl4—18; B1.995bl5—18; B2.997a35—b3; Kl. 1059b3—8), wirklich einleuchtend gelungen wäre. Die Aristotelische Polemik gegenüber Platon stützt sich dann auf den Verdacht, es könne sich bei der Platonischen Formulierung mathematischer Ideen um Existenzbehauptungen im Sinne einer naiven Zweiweltentheorie handeln. Dieser Verdacht ist jedoch kaum gerechtfertigt, und der Aristotelische Vorschlag, unter den geometrischen Gegenständen jeweils mögliche, wenn auch nie restlos realisierte Formen wirklicher Gegenstände zu verstehen, läßt sich denn auch sachlich gesehen ohne weiteres mit der Platonischen Sprechweise, die den nicht-empirischen Charakter dieser Gegenstände unterstreicht, vereinbaren.

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hergestellten geometrischen Figuren immer nur mehr oder weniger zureichende Realisierungen (,Abbilder') geometrischer Ideen (,Urbilder*) zu erblicken und folglich geometrische Aussagen nach Art der Thaletischen generellen Sätze als Aussagen über eben diese Ideen aufzufassen. Die Frage, was man hier genauer mit Ideen meint, bedarf dabei zwar immer noch einer präzisen Beantwortung, doch ist allein schon die Unterscheidung zwischen praktisch hergestellten und ,theoretisch gemeinten* Figuren für sich genommen so plausibel, daß man verstehen kann, wieso Platon eine solche Unterscheidung als fundamental betrachten konnte und sie in dieser Form offenbar auch auf andere Bereiche, z. B. den der (moralischen) Normen, ausgedehnt hat. Seine Vorliebe für Beispiele aus der Geometrie bestätigt diese Annahme. So demonstriert z.B. das mathematische Kunststück, das im „Menon" mit einem Sklaven angestellt wird51, nicht etwa nur die Rolle der ,Erinnerung' im Aufbau des Wissens, sondern eben auch die Existenz ,ideeller' Zusammenhänge, ein Ergebnis, das dann sofort für die Erörterung der Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend in Anspruch genommen wird. Wo Platon dabei äußerst metaphorisch von einem ,zweiten Leben* redet, in dem der Mensch diese Zusammenhänge ursprünglich einmal ,geschaut' hat52, wird Aristoteles später, wie bereits erwähnt, wesentlich nüchterner von der ,Erfahrung* des immer schon handelnden und immer schon sprechenden Menschen reden. l .4 Homo faber und homo sophistes (Praktische Philosophie) Es könnte aufgrund der bisherigen Darstellung der Eindruck entstanden sein, als sollte hier nur aufs neue die These vertreten werden, wonach die Entdeckung der Vernunft mit der Entdeckung von Wissenschaft identisch sei. Sicher wird man in diesem Zusammenhang von Wissenschaft sprechen dürfen, zumal wenn dies, wie hier, nicht schon im Hinblick auf naturphilosophische Spekulationen, sondern ausschließlich im Rahmen der Geometrie geschieht, doch läßt sich die im griechischen Denken errungene vernünftige Selbständigkeit nun auch nicht einfach durch so etwas wie ihre Tendenz zur Wissenschaftlichkeit im modernen Sinne erklären. Schon die Rolle, welche die Mathemata, die ,exakten* Wissenschaften, in Platons »idealer* Pädagogik spielen, macht dies exemplarisch deutlich. Die Vernunft auf ihren Weg zu bringen, hat 51

Men. 82b9—85b7. « Men. 85dl2 ff.

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nach Platon (und hierin ist er sich mit Aristoteles einig) nicht etwa den Sinn, erneut lediglich Wissenschaft möglich zu machen, sondern in letzter Instanz zu Handlungen zu befähigen, die — ganz im Gegensatz zu den theoretischen Absichten der angeführten Mathemata — einen eminent praktischen Charakter besitzen: die Philosophenkönige sollen nicht Forschungszentren, sondern Staaten leiten. Der hierin zum Ausdruck kommende Primat der praktischen Philosophie vor der theoretischen Philosophie, eine Unterscheidung, von der noch zu sprechen sein wird, zeigt damit, daß sich die Rede von einer vernünftigen Selbständigkeit nun gerade auch dort bewähren muß, wo von Wissenschaft im engeren Sinne einmal abgesehen werden kann. Dabei ist es keineswegs notwendig, gleich auf dem Niveau der Platonischen oder Aristotelischen Philosophie zu argumentieren. Schon eine kurze Vergegenwärtigung dessen, was der Mythos eigentlich leistet, macht vielmehr deutlich, daß Wissenschaft allein hier noch keine befriedigende Alternative darstellt. Jeder Mythos, gleichviel in welcher geschichtlichen Gestalt man ihn betrachten möchte, läßt sich als eine Interpretation der menschlichen Situation im ganzen auffassen, er dient, und wenn in noch so primitiver Form, in erster Linie immer dem Leben, sei es nun etwa zu dessen kultischer oder auch alltäglicher Orientierung. Er bietet mit anderen Worten Regeln an, die nicht so sehr erklären sollen, was etwa auch in einer vom Menschen und seiner unmittelbaren Handlungssphäre mehr abgerückten Weise einer Erklärung zu bedürfen scheint, sondern die anzugeben suchen, wie die Menschen leben können, ja wie sie, sei es unter Hinweis auf elementare moralische Einsichten oder auch nur aus faktischen* Gründen gegenüber den Göttern, leben sollen. Der Schritt vom Mythos zum Logos ist darum zunächst auch nichts anderes als Preisgabe einer unmittelbar verständlichen, weil im Grunde immer mit den Maßstäben der eigenen Bedürftigkeit gemessenen Welt. Damit droht jetzt aber auch beständig ein eigentümlicher »Verlust der Mitte', insofern es nämlich keineswegs immer gelingt, das aus seinen ursprünglichen, naiven Vorstellungsformen freigekommene Denken wieder auf seinen ,Sitz im Leben' zurückzubiegen. Solange dabei noch anthropologische Modelle, wie bereits erwähnt, das Denken wesentlich mit beeinflussen, tritt dieser Charakterzug des vernünftig gewordenen Denkens zwar noch nicht in seiner, dem neuzeitlichen Menschen dann gewohnten Schärfe auf, er ist aber latent immer vorhanden und führt etwa in der (jüngeren) Sophistik zu der bekannten Entartung der Vernunft als einer nunmehr willkürlich manipulierbaren /Technik'.

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Gegen eine solche Gefährdung, die somit bereits zu den Folgen der neuen Selbständigkeit gehört, ist mit Wissenschaft wenig getan. Es bedarf hier vielmehr einer prinzipiellen Besinnung darüber, wie sich der Mensch auf dem Boden einer zunehmend fortschreitenden Emanzipation von mythischen Vorstellungsformen in seinen Handlungen verstehen soll. Auch wenn diese Handlungen nun etwa in einem ausgezeichneten Sinne darin bestehen, Geometrie zu treiben oder spekulative Sätze über das Seiende im Ganzen aufzustellen, ist diese Besinnung keineswegs überflüssig; sie tritt hier vielmehr als die Frage nach dem menschlichen Fundament des Wissens auf und ist in dieser Weise auch von Platon und Aristoteles später so verstanden worden. Auch die gesamte Diskussion über die problematische Ordnung von praktischen und theoretischen Handlungen spiegelt somit die Situation des nachmythischen Menschen, der sich gewissermaßen zunächst einmal an den Rand seiner ursprünglichen Existenz gedrängt sieht und nun versuchen muß, von diesem Rande her seine Mitte erneut zu gewinnen. Wo dieser Versuch gelingt, hat sich der Mensch in seiner Wurzel als homo faber begriffen, als ein Wesen nämlich, das mit seinen Handlungen selbst schon die Bedingungen herstellen muß, unter denen menschliches Leben wahrhaft möglich ist. Wo er mißlingt, droht dagegen von nun an immer die Gefahr der eigenen Fehleinschätzung als eines homo sophistes, als eines Wesens, das seine Lebensformen auf dem Hintergrund einer immer noch als ,natürlich' aufgefaßten Bedürftigkeit beliebig, und d. h. unter bewußter Mißachtung der Frage nach einer wahren Möglichkeit des Menschen, produzieren* zu können glaubt. Der erste, der eine derartige Besinnung auf das menschliche Fundament vernünftiger Selbständigkeit mit Nachdruck gefordert und darin sogleich zum Maßstab philosophischer Glaubwürdigkeit schlechthin gemacht hat, war Sokrates. Dessen so schlicht anmutende Bemerkung, er wisse nur, daß er nichts wisse53, ist bereits als Gegenzug gegen eine sich auf dem Boden jener Selbständigkeit einstellende naive Sicherheit gemeint, indem sie nun in geradezu provokatorischer Weise wieder hinter das selbstbewußte Wissen der Sophisten tritt und die Frage nach der Möglichkeit des Wissens erneut in aller Schärfe stellen läßt. Die ,ethische' Wendung, die das Denken in der Sokratischen Eingrenzung dieses Wissens auf die Bestimmbarkeit einer praktischen* Arete ( 53

Apol. 21 d.

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)54 nimmt, zeugt dabei nicht etwa von einer bloßen Interessenverlagerung von der ,Natur* auf den ,Menschen', als würde hier lediglich einmal das Thema gewechselt, sie darf vielmehr als der Ausdruck genau jener Einsicht gewertet werden, daß selbst die Orientierung der Vernunft in theoretischen Bereichen nicht wirklich befriedigend gelingen kann, so lange nicht auch ihre praktische Orientierung gelingt. Und wenn in diesem Zusammenhang nun gerade die Sophisten attackiert werden, so darum, weil diese mit dem Anspruch auftreten, eine solche Orientierung bereits leisten zu können. Obgleich der Platonische Sokrates diesen Anspruch als ungerechtfertigt zurückweisen kann, wird man sich doch davor hüten müssen, die Sophistik in Bausch und Bogen als eine verhängnisvolle, jeder philosophischen Bemühung im eigentlichen Sinne zuwiderlaufende Bewegung abzutun. Die Platonische Karikatur der Sophistik, die wohl die wirkungsvollste Diskreditierung darstellt, welche die Philosophiegeschichte kennt, trifft im Grunde nur auf die jüngeren Vertreter dieser, historisch gesehen nicht einmal sehr profilierten Gruppe zu. Und selbst hier ist noch gewisse Vorsicht geboten; denn was die etwa von Thrasymachos, Kallikles oder Euthydemos vertretenen Meinungen betrifft, so kommen als Quelle eben nur die Platonischen Dialoge selbst in Betracht, womit zumindest eine durch diese Literaturgattung nahegelegte Überzeichnung wahrscheinlich ist. Immerhin läßt sich, sicher nicht zuletzt auch gerade wegen dieser möglichen Uberzeichnung, eindeutig sagen, gegen welche systematischen Positionen Sokrates bzw. der in Sokratischem Namen schreibende Platon in der Explikation der eigenen Überzeugung vorgehen. Es sind dies insbesondere (a) die anthropologische Behauptung einer als ,natürlich' ausgegebenen Ordnung von Bedürfnissen und Wünschen, die ihrerseits durch den willkürlichen Einsatz technischer Mittel befriedigt werden können, und (b) die vor allem unter megarisdiem Einfluß vertretene erkenntnistheoretische Behauptung einer Ununterscheidbarkeit von Wahr und Falsch. Beide Behauptungen, zumindest in dieser radikalen Form, sind kaum mit Protagoras oder Gorgias, den wichtigsten Vertretern der älteren Sophistik, zusammenzubringen. Dem entspricht, was Platon selbst z. B. über die seiner Meinung nach durchaus konventionellen moralischen Ansichten des Protagoras und der älteren Sophisten gelegentlich 54

Arist. de part. an. A1.642a28—31; vgl. Met. A6.987bl—2. Zur Sokratesdoxographie bei Aristoteles vgl. den gleichnamigen Aufsatz von O. Gigon, Museum Helveticum 16 (1959), S. 174—212.

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zu beriditen weiß55, und indirekt schließlich auch sein Versuch, Protagoras auf dem Umweg einer Interpretation des berühmten homomensura-Satzes schließlich doch noch auf den in beiden Behauptungen enthaltenen sophistischen* Subjektivismus und Relativismus festzulegen.58 Vieles spricht denn auch dafür, daß diese älteren Sophisten, zu denen man insbesondere noch (den Mathematiker!) Hippias von Elis" und Prodikos zählen mag88, keine wurzellosen Neuerer und ,Trugbildner'59 waren, die im Sinne einer schlechten' Aufklärung die bereits errungene Selbständigkeit nur dazu benutzt hätten, auf ihr die Diktatur des Individuums zu errichten. Man wird ihnen vielmehr weit eher gerecht, wenn man sie als Männer bezeichnet, die mit einer zweifellos ungewohnten Nüchternheit, ja Kaltschnäuzigkeit in einer von der politischen Wende zur Demokratie bestimmten Epoche ehrwürdige Denkformen und Traditionen zum Gegenstand öffentlicher, im wesentlichen der Ausbildung von Politikern dienender Diskussionen machten. Das Unbehagen, das ihr selbstbewußtes Auftreten in konservativen Kreisen 55

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Prot. 333c; Men. 91e; Pol. 492a—493a; vgl. K. v. Fritz, Art. Protagoras, Paulys Realencyclopädie der classisdien Altertumswissenschaft, G. Wissowa u. a. (im folgenden zitiert als RE nach Band und Erscheinungsjahr), RE XXIII.l (1957), Sp. 917. Theait. 166dl—8 (vgl. Arist. Met. 4.1007 18—25; Sext. Emp., Hyp. Pyrr. I, 216). Insbesondere K. v. Fritz (a.a.O., Sp. 913 ff.; Der Beginn universalwissenschaftlicher Bestrebungen und der Primat der Griechen, a.a.O., S. 581 f.) hat darauf hingewiesen, daß dieser Satz ursprünglich keineswegs ,relativistisdi', sondern im Namen des gesunden Menschenverstandes als Protest gegenüber solchen ,Theorien' gemeint war, die zwischen einer ,wahren' und einer ,scheinbaren' Welt zu unterscheiden suchten. Eine ,wahre' Welt ließe sich, so lautete in der Tat die (berechtigte) These der Sophistik, selbst wenn es sie gäbe, von der wirklichen Welt nicht unterscheiden. Hippias wird die Angabe einer ebenen Kurve zugeschrieben, die später unter dem Namen Quadratrix zur Quadratur des Kreises benutzt wurde. Mit ihr werden zum ersten Male andere Kurven als nur Kreise und Geraden zum Gegenstand geometrischer Untersuchungen gemacht. Vgl. B. L. van der Waerden, a.a.O., S. 240 f., S. 314 ff. Hippias vertritt also gewissermaßen die Thaiestradition innerhalb der sonst im wesentlichen nur an politischer Theorie interessierten Sophistik (vgl. Plat. Prot. 318d—e; Hipp. mai. 285b—d; J. S. Morrison, The Origins of Plato's Philosopher-Statesman, The Classical Quarterly 52 [1958], S. 203 f.). Allerdings werden ihm von Platon (Prot. 337c7—d7; vgl. Xenoph. Mem. IV4.5 ff. = VS 86A14) gerade auch im Bereich der politischen Theorie Meinungen zugeschrieben, die ihn eng mit der anarchischen Naturrechtslehre des Sophisten Antiphon (VS 87B44) und damit wiederum mit den radikalen Tendenzen der späteren Sophistik in Verbindung bringen. Protagoreische Gedanken bewahren zumindest teilweise auch die (VS 90) und der Anonymus lamblichi (VS 89) auf. — Die hier getroffene Unterscheidung zwischen älteren und jüngeren Sophisten bzw. älterer und jüngerer Sophistik entspricht nicht ganz der üblichen, etwa bei Diels/Kranz zugrunde gelegten Eintei-

Homo faber und homo sophistes (Praktische Philosophie)

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hervorrief, hat dabei offenbar niemals die Form ausdr cklicher Mi billigung angenommen80, wie auch die Bezeichnung σοφιστής selbst nicht etwa schon etwas Absch tziges enthielt, sondern im Gegenteil ihren Tr ger sogar in die N he der ,Sieben Weisen* r ckte, bei denen es sich, in recht unterschiedlicher Zuordnung, charakteristischerweise in erster Linie immer um M nner von hervorragendem politisch-praktischen K nnen handelte." Als eigentliche ,Gegenspieler' Sokrates' und Platons kommen damit also in Wahrheit wohl nur die j ngeren Sophisten in Frage. Erst sie scheinen die beiden angef hrten Behauptungen mit all ihren ,subjektivistischen' und Relativistischen' Konsequenzen vertreten und damit eine Entwicklung eingeleitet zu haben, in der sich die neue Selbst ndigkeit in einer unheilvollen Weise gegen sich selbst zu richten beginnt. Was jene anthropologische Behauptung mit ihrem dogmatischen Gegen ber von ,Natur' und ,Technik' betrifft, so hat ihr Sokrates die These entgegengestellt, da der Mensch gerade nicht wisse, wessen er ,von Natur aus' bedarf, und darum auch die praktische Orientierung mit Hilfe ,moralischer' Regeln etc. keine Sache der technischen' Befriedigung nat rlicher* Bed rfnisse und W nsche sei.82 Der Hinweis auf eine »naturgem e' Ordnung, mit dem etwa in der politischen Argulung, sie lie e sich jedoch unter Hinzunahme weiterer Gesichtspunkte mit dieser durchaus vereinen. M Als solche werden sie von Platon im „Sophistes" (266d5 ff.) bezeichnet. 80 Die in der Antike vielfach erw hnte Nachricht ber einen Asebieproze gegen Protagoras (ca. 422/1), der zu dessen Flucht aus Athen gef hrt habe (Sext. Emp. adv. math. IX, 56 f.; Diog. Laert. IX.50.54; Cicero de nat. deor. 1,23.63) geht, wie J. Burnet (Greek Philosophy. Thaies to Plato, London 1914, S. 112) und K. v. Fritz (RE XXIII.1 [1957], Sp. 910 f.) hervorgehoben haben, m glicherweise auf mehrere Verwechslungen zur ck. Platon berichtet ausdr cklich, da Protagoras immerfort, „bis auf den heutigen Tag" hohes Ansehen genossen habe (Men. 91e). ei Vgl. die detaillierte Darstellung bei W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy III (The Fifth-Century Enlightenment, 1969), S. 27 ff. Isocr. Antid. 268 nennt Gorgias in einer Liste των παλαιών σοφιστών, die ζ. B. auch Parmenides und Empedokles einschlie t (vgl. E. R. Dodds, Plato. Gorgias, A Revised Text with Introduction and Commentary, Oxford 1959, S. 73). Seinen negativen Sinn erhielt der Titel σοφιστής vermutlich erst um die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert. Platon und Isokrates bezeichneten wechselseitig den anderen als Sophisten, sich selbst als Philosophen (vgl. J. S. Morrison, a.a.O., S. 218; W. Burkert, Platon oder Pythagoras? Zum Ursprung des Wortes „Philosophie", Hermes 88 [I960], S. 159—177). « Vgl. W. Kamiah, Sokrates und die Paideia, Archiv f r Philosophie 3 (1951), S. 277 bis 315. Der Gegensatz von φύσις und τέχνη in diesem Zusammenhang ist nicht erst eine Sokratisch-Platonische Erfindung, obgleich insbesondere das τέχνη-Motiv in den Dialogen eine ungew hnlich charakteristische Rolle spielt. Gegen ber M. Pohlenz (Das zwanzigste Kapitel von Hippokrates de prisca medicina, Hermes 53 [1918],

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mentation der (jüngeren) Sophistik immer wieder das sogenannte Recht des Stärkeren gegen demokratische Regeln ausgespielt wurde68, legitimiert nach Sokrates weder bestehende noch gewünschte Ordnungen. Auf dem Hintergrund einer mangelhaften Unterscheidung zwischen Handlungen, die — mit Platon zu reden — das gemeinsam ,Gute' betreffen, und solchen Handlungen, die zunächst einmal nur wie Essen, Trinken und Schlafen die individuelle Existenz ermöglichen (in diesem Zusammenhang wird man dann in der Tat ja auch von natürlichen' Bedürfnissen sprechen dürfen), korrumpiert dieser Hinweis vielmehr jede Art von praktischer Vernunft, indem er sie nur als Mittel zur Realisierung unreflektierter Wünsche betrachten läßt. Demgegenüber ist die praktische Vernunft für Sokrates wie auch für Platon und Aristoteles gerade nicht bloß technisches Mittel in einem quasi biologisch aufgefaßten Prozeß64, sondern genau die Instanz, vor der sich auch solche Positionen wie die sophistische Verkürzung praktischer Ordnungen auf das Schema von Natur und Technik noch zu rechtfertigen haben. Das sokratische Nichtwissen richtet sich in diesem Punkte also einerseits gegen ein sehr bestimmt auftretendes, wenngleich rechtbesehen auch unbegründetes Wissen, es enthält aber andererseits gerade in dieser negativen Formulierung auch schon das gichtige* Wissen, sofern jetzt nämlich rechtverstanden nur noch der gemeinsamen umsichtigen Beratschlagung überlassen sein kann, welcher Vorschlag ,in Wahrheit* nun die gesuchte praktische Orientierung leistet. Daß man , Natur aus' nicht weiß, wessen man bedarf und was man daher tun soll, ist bereits eine ,unüberholbare' Einsicht, auf die gestützt die vernünftige Selbständigkeit des nachmythischen Menschen nun auch vor einer Verkehrung der praktischen Vernunft in sophistische Technizität sicher sein kann.65 Solange diese S. 396—421) und W. Jaeger (Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, I—III, Berlin 1934—1947, II, S. 27 ff.), die Platon in der -Diskussion von Hippokrates abhängig sehen, und H. Diller (Hippokratische Medizin und attische Philosophie, Hermes 80 [1952], S. 385—409), der umgekehrt Hippokrates von Platon beeinflußt glaubt, weist F. Heinimann mit guten Gründen auf eine gemeinsame sophistische Quelle hin (Eine vorplatonische Theorie der , Museum Helveticum 18 [1961], S. 105—130). Schon Protagoras dürfte, was an dieser Stelle wichtig ist, von einer , wenn auch sicher noch nicht in bewußter Korrespondenz zu einer .fordernden' , gesprochen haben (Prot. 319a4; für Demokrit belegt bei Plut. adv. Colot. 1126A; vgl. F. Heinimann, a.a.O., S. 110, Anm. 24). •s Vgl. die Kallikles-Szene im „Gorgias" (482c4—484c3). 64 Biologische Gesichtspunkte überwiegen erstmalig in der Argumentation des Sophisten Antiphon (VS 87B44 [Frg. B]). es Die .sophistische' Variante der Sokratisdien Einsicht formuliert, unter Aufnahme skeptischer Formulierungen Demokrits, Metrodor von Chios: „Niemand von uns

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Einsicht lebendig bleibt, kommt sie in dem Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen Vernunft deutlich zum Ausdruck und zeugt darin von der, wie dargestellt, notwendigen Bemühung um die Wiedergewinnung einer in der Wendung vom Mythos zum Logos freigewordenen und vom theoretischen Logos allein nicht mehr erreichbaren ,Mitte* menschlicher Existenz. Man wird in der Annahme sicher nicht fehlgehen, daß Sokrates das eigentliche Ziel seiner protreptischen Gespräche, mit denen er einem »göttlichen Auftrag' zu folgen glaubte", ausschließlich in dieser Wiedergewinnung, und d. h. eben in der praktischen Orientierung des Menschen gesehen hat und jegliche Art von theoretischer Bemühung dabei für unwesentlich erachtete. Die diese Bemühung zum Ausdruck bringenden Mathemata mögen für ihn lediglich so etwas wie bloße Bildungsgüter gewesen sein, deren sich die von ihm bekämpfte sophistische Erziehungspraxis zu ihren Zwecken bediente. Uneingestanden argumentiert Sokrates damit aber schließlich selbst noch auf dem Boden der Sophistik, insofern diese nun in der Tat unter den Mathemata nichts anderes als ein bloßes Können und damit wieder ,Technik' in einem weiteren Sinne verstanden hat. Diese Betrachtungsweise wiederum wird den mit der Thaletischen Geometrie begonnenen theoretischen Bemühungen schwerlich gerecht, die ihrerseits ja als spezielle Formen vernünftigen Handelns aufgefaßt werden dürfen und folglich auch geeignet sind, in einer auf das richtige Verständnis menschlicher Handlungen gerichteten Reflexion als Beispiele einer bereits realisierten Möglichkeit des Vernünftigen herangezogen zu werden. Daß sie in genau dieser Funktion, im Rahmen nämlich des schon erwähnten didaktischen Zusammenhangs, bei Platon auftreten, unterstreicht diesen Gesichtspunkt aufs deutlichste und läßt zugleich die souveräne Art erkennen, in der Platon unter strikter Wahrung der fundamentalen Sokratischen Einsicht nun wieder an die Einholung des von Sokrates selbst noch beiseite gelassenen, von den Mathemata repräsentierten vernünftigen Wissens geht. Es würde hier zu weit führen, die gesamte praktische Philosophie Platons nun auf ihr Sokratisches Element hin zu befragen und des weiteren ihr Verhältnis zu den in den Dialogen enthaltenen Formen theoreweiß etwas, nicht einmal eben das, ob wir wissen oder nicht wissen, noch wissen wir vom Nichtwissen und Wissen, daß es ist, noch überhaupt, ob etwas ist oder nicht ist* (VS 70B1). In dieser ,erkenntnistheoretischen' Wendung stellt der Satz nur noch eine belanglose Spitzfindigkeit dar. ·· Apol. 21aff.; vgl. Diog. Laert. II, 23; Plut. adv. Colot. 1118C (Reise nach Delphi).

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tischen Philosophierens eingehend zu prüfen. Im Rahmen dieser einleitenden Skizze, der es allein auf gewisse Grundzüge jener erstmals im griechischen Denken gewonnenen vernünftigen Selbständigkeit ankommt, müssen in diesem Zusammenhang vielmehr einige wenige Bemerkungen genügen. So läßt sich etwa die Formulierung einer ,Idee des Guten', wie sie in der „Politeia" auftritt, durchaus als Beantwortung der im Sokratischen Sinne gestellten Frage Platons nach dem gemeinsam Guten auffassen, ohne daß eine derartige Fixierung der geschilderten Sokratischen Einsicht zuwiderlaufen müßte. Charakteristischerweise wird nämlich auch hier von einer näheren Bestimmung dieser ,Idee' bewußt abgesehen" und statt dessen im Rahmen des ,Sonnengleichnissesie8 lediglich auf ihre überragende Stellung innerhalb des Ideenkosmos hingewiesen. Eine inhaltliche Deutung dieser ,Idee* wird also nicht gegeben und ist auch an anderer Stelle von Platon niemals versucht worden. Dagegen kann man nun aber die Gesamtkonzeption eines ,idealenc Staates, wie sie der gleichnamige Dialog ja darstellt, selbst bereits als einen Vorschlag betrachten, der angeben soll, wie unter dem latenten Gesichtspunkt der Frage nach dem gemeinsam Guten eine umfassende politische Ordnung aussehen könnte. Diese Ordnung sucht dabei gleichzeitig anzugeben, was für den einzelnen das jeweils ,Gute' sei, ohne auch hier — und darin kommt eben wieder der Sokratische Zug dieses ganzen Entwurfs zum Ausdruck — nach Art etwa Antiphons von irgendwelchen als ,natürlich' ausgegebenen Bedürfnissen oder Wünschen Gebrauch zu machen. Daß dieser ,ideale' Staat recht totalitäre Züge trägt, worauf vor allem in der angelsächsischen Platonliteratur der letzten Jahre polemisch immer wieder hingewiesen wurde'9, und darum auch unter freundlicheren Umständen als den offenbar vorausgesetzten wenig Aussicht hätte, wirklich als ,ideal' bezeichnet zu werden, wird man nicht bestreiten wollen. Aber auf diesen Gesichtspunkt kommt es auch gar nicht so sehr an. Entscheidend ist vielmehr, daß sich der Platonische Vorschlag zum ersten Male auf dem Boden der von Sokrates angeregten Frage nach dem gemeinsam 87 88

Pol. 506d8—e3. Pol. 506e3—509blO. Das berühmteste Votum in dieser Richtung stammt von K. R. Popper, The Open Society and its Enemies, I—II, London 19624, I, bes. S. 86 ß. In ähnlichem Sinne hatten sich vorher schon ausgesprochen: R. H. S. Grossman, Plato Today, New York 1939, S. 128 ff.; B. Russell, History of Western Philosophy, London 196l2, S. 125 ff., ders., Philosophy and Politics, in: B. Russell, Unpopulär Essays, London 1950, S. 16 ff. Vgl. R. Bambrough, Plato's Modern Friends and Enemies, Philosophy 37(1962), S. 97—113.

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Guten bewegt und nun allein unter der Voraussetzung diskutiert wird, sich gegenüber dieser Frage rechtfertigen zu lassen. Schon der Gedanke, die Realisierung der beschriebenen Staatsidee von dem Auftreten wahrer Philosophenkönige abhängig zu machen, zeigt, daß diese Voraussetzung ernst genommen wird.70 Sie konnte, so wird man sagen dürfen, durchaus auch zu einer Revision des ursprünglichen Vorschlags führen, zumal ja nirgends gesagt wird, was die ,Idee des Guten', in deren Namen die Philosophenkönige handeln sollen und nach Voraussetzung handeln werden, des näheren sei.71 Der ,ontologisierende* Stil der gesamten Darstellung, in der sich der praktische' Sinn der ,Idee des Guten' als einer über die einzelnen moralischen Ideen noch hinausgehenden Forderung7* mit dem Versuch einer theoretischen' Begründung aller Ideen im Rahmen der (klassischen) Ideenlehre auf eine schwer durchschaubare Weise verbindet, mag zwar gelegentlich über diese Unentschiedenheit hinwegtäuschen, hebt sie sachlich gesehen aber nicht auf. Wenn man gleichwohl nun gerade in diesen ,ontologisierenden' Bemühungen die entscheidenden Auskünfte über die ,Idee des Guten' sehen wollte, so wäre der von Aristoteles gegenüber Platon erhobene Vorwurf, er suche praktische Einsichten noch theoretisch zu begründen73, nicht 70

Pol. 473b ff. Vgl. R. Bambrough, a.a.O., S. 105. Dementsprechend sollte die .Bekehrung' des Tyrannen Dionysios (Epist. VII, 328aff.; Diog. Laert. III, 21) nach Platons Wunsch genau in der in der „Politeia" vorgezeichneten .pädagogischen' Weise erfolgen (Plut. Dion 13, 4) und ein Philosophenkönigtum, bzw. die „Umwandlung der Tyrannis in gesetzliches Königtum" (H. Berve, Dion, Wiesbaden 1956 [Abhandlungen der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, geistes- u. sozialwiss. Kl., Jg. 1956, Nr. 10], S. 35), zum Ziele haben. Auch die weitere politische Tätigkeit der Akademie (vgl. Plut. adv. Colot. 1126 CD; dazu O. Gigon, Platon und die politische Wirklichkeit, Gymnasium 69 [1962], S. 208 ff.) muß man wohl unter diesem Gesichtspunkt verstehen. 71 Auffallend ist in diesem Zusammenhang auch das Fehlen jeglicher gesetzmäßiger Vereinbarungen. Noch im „Politikos" heißt es, daß Gesetze in gewissem Sinne überflüssig seien, da man billigerweise nicht fordern könne, daß sich der Staatsmann (gemeint ist wieder der Philosophenkönig) ähnlich wie ein Arzt auch wider bessere Einsicht an seine eigenen, irgendwann einmal getroffenen Verordnungen halten müsse (294d ff.). Von einer umfangreichen Gesetzgebung ist erst in den „Nomoi" die Rede, die unter ausdrücklichem Hinweis auf die Vorzüge des ersten Entwurfs der „Politeia" (Nom. 739a ff.) nun einen .zweitbesten' Entwurf bieten. Vgl. H. Herter, Platons Staatsideal in zweierlei Gestalt, in: Der Mensch und die Künste. Festschrift für H. Lützeler, Düsseldorf 1962, S. 177—195. « So jedenfalls deutlich in Pol. 504d—505a. Vgl. R. C. Cross / A. D. Woozley, Plato's Republic. A Philosophical Commentary, London 1964, S. 260. 73 Besonders in Eth. Nie. A6.1096all—1097al4; vgl. Magna mor. Al.ll82a23—30, wo ausdrücklich in diesem Zusammenhang auf die .theoretischen' Fragen gewidmete Vorlesung hingewiesen wird.

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von der Hand zu weisen. In der Tat läßt sich bei Platon bisweilen von solchen Versuchen sprechen, in denen die Ordnung von praktischer Vernunft und theoretischer Vernunft, wie sie bisher beschrieben wurde, wieder auf den Kopf gestellt wäre, doch tut man gut daran, sie nicht als die ultima ratio Platons in dieser Sache zu betrachten. Sie zeugen vielmehr lediglich von den Schwierigkeiten, die sich der Bemühung, zum ersten Male eine derartige Ordnung vorzuschlagen, fast zwangsläufig entgegenstellen mußten und die schließlich bis auf den heutigen Tag nicht wirklich befriedigend geklärt sind. Auch Aristoteles selbst leistet eine solche Klärung noch nicht, obgleich er strenger noch als Platon zwischen praktischer und theoretischer Vernunft zu unterscheiden sucht.74 Er begnügt sich nämlich in diesem Punkte schließlich mit einem bloßen Nebeneinander unter deutlicher Bevorzugung der theoretischen Vernunft75, ohne daß diese Entscheidung jedoch irgendeine Bedeutung für den faktischen Aufbau der praktischen Philosophie hätte. ,Ethik' und jPolitik* sind für Aristoteles vielmehr im strengen Sinne praktische Disziplinen, deren Ziel ( ) ausdrücklich nur das Handeln ( ) selbst und nicht 74 irgendeine Erkenntnis ( bzw. ) ist. Er geht dabei zum Beispiel so weit, sogar eine Reflexion über Tapferkeit oder Gerechtigkeit als im Grunde nicht zur praktischen Philosophie gehörig zu betrachten, da man, wie es einmal heißt, hier ja nicht wissen möchte, was Tapferkeit oder Gerechtigkeit sei, sondern selbst tapfer oder gerecht sein wolle.77 Mit dieser scharfen Formulierung, das ist leicht zu erkennen, wendet sich Aristoteles natürlich wieder gegen typisch Sokratisch-Platonische Frageweisen, in denen er bereits ein falsches theoretisches Interesse zu erkennen glaubt. Paradoxerweise läßt er damit aber selbst nur wieder eine theoretische' Diskussion moralischer Grundbegriffe für nötig erscheinen. Denn wenn es nicht mehr Aufgabe der praktischen Philosophie sein soll, etwa über Tapferkeit oder Gerechtigkeit in der Weise nachzudenken, wie das Sokrates und Platon taten, dann muß diese Aufgabe, sofern sie überhaupt noch einen Sinn haben sollte, offenbar nun erst recht der theoretischen Philosophie zufallen; eine dritte Möglichkeit kennt auch Aristoteles nicht. 74

Top. Z6.145al5—16; Met. E1.1025b25; Met. K7.1063b36ff.; Eth. Nie. Z5.1140a24 —b8. 74 Vgl. Eth. Nie. Zl3.1145a6—11; dazu J. H. Randall, Jr., a.a.O., S. 78 f. 7 « Eth. Nie. A3.1095a5—6; vgl. B2.1103b26—29 und K10.1179a35—b4. 77 Eth. Eud. A5.1216b21—25. Dem entspricht die Bemerkung über .Tugend' im allgemeinen in Eth. Nie. B2.1103b26—29.

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Man wird diese Schwierigkeiten, die innerhalb des Aristotelischen Entwurfs einer praktischen Philosophie auftreten, ohne da sie als solche explizit hervorgehoben werden, auf die noch ungen gende methodische Sicherheit zur ckf hren d rfen, von begr ndeten (und also auch begr ndbaren) Einsichten auch dann noch sprechen zu k nnen, wenn es sich nicht um theoretische Einsichten im strengen Sinne handelt. Terminologische Bestimmungen etwa der Art, da sich praktische Einsicht' (φρόνεσις) nicht mit »intuitiver Einsicht' (νους), die ihrerseits die ,ersten' S tze einer theoretischen Wissenschaft* (επιστήμη) liefern soll, verbinden lasse und sich ,theoretische Einsicht* (σοφία) allein auf die Durchf hrung von theoretischer Wissenschaft' beschr nke78, stehen dieser Sprechweise bereits im Wege, weil sie unter praktischer Einsicht* allenfalls so etwas wie ,gesunde Lebenserfahrung' erwarten lassen.79 Da dies jedoch nicht der wahren Aristotelischen berzeugung entspricht, machen andere Bemerkungen deutlich, in denen von einem ,richtigen Logos* die Rede ist, dem ,tugendhafte' Handlungen zu folgen haben.80 Unter diesem ,Logos* sind zweifellos vern nftig begr ndbare ,Regeln' verstanden, die als moralische Normen dazu dienen sollen, menschliches Verhalten auf ein als ,gut* ausgewiesenes Ziel hin festzulegen, und die in dieser Form etwa auch dem sogenannten praktischen Syllogismus* zugrunde liegen.81 Da diese Regeln ihrerseits zuvor eine gemeinsame Verst ndigung dar ber erfordern, was als ,gut* zu gelten habe, sollte dabei nicht so sehr als Zeichen mangelnder ,Exaktheit' gegen ber den in den theoretischen* Wissenschaften realisierten Regeln angesehen werden — eine Darstellung, der Aristoteles h ufig selbst zuneigt82 —, sondern in ganz anderer Weise wieder als Zeichen der fundamentalen Sokratischen Einsicht, wonach in der Verst ndigung ber das gemeinsam 78 79 80

81

82

Eth. Nie. Z3.1139bl4ff. Vgl. Eth. Nie. B1.1103al7—18 etc. Eth. Nie. B1.1103B33; vgl. B6.1106b36—1107a2. Dazu W. D. Ross, Aristotle, London 19495, S. 215 f.; H. H. Joachim, The Nicomachean Ethics, ed. D. A. Rees, Oxford 1951, S. 163—167 (Anmerkungen zu Buch Zl.ll38bl8 ff. [μεσότης-Lehre]). Stellen bei F. Dirlmeier, Nikomachische Ethik, Berlin 1956 (Aristoteles. Werke in deutscher bersetzung, ed. E. Grumach, VI), S. 440 f. Vgl. Eth. Nie. Z1.1138bl8—2.1139al7; H3.1147a24—1147b5 (W. D. Ross, a.a.O., S. 216). Zur eigent mlichen Verwendung des Ausdrucks .praktischer Syllogismus', d. h. der Aristotelischen Redeweise von Pr missen (in diesem Falle einem generellen und einem singularen Satz), aus denen mit der Konklusion nicht wiederum ein Satz, sondern eine Handlung (!) folgt, vgl. de mot. an. 7.701a7—bl; de an. T9.434al6—21. Vgl. Eth. Nie. A1.1094bll—14; B2.1103b34—1104a3.

4 Mittelstrass, Neuzeit und Aufkl rung

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Gute die eigentliche Aufgabe und Würde der praktischen Philosophie liegt. Der ,richtige Logos', die angemessene, moralisches Verhalten einsichtig vorschreibende Regel, wie man darum auch sagen kann, besitzt in den ethischen Schriften des Aristoteles genau diese ,sokratische' Funktion, insofern nämlich ,Tugendc auch nach Aristotelischer Ansicht nichts ist, was dem Menschen , Natur aus* zukäme oder durch Hinweis auf c ein ,natürliches Verhalten zu rechtfertigen wäre.883 l

1.5 Methodisches Denken Der Versuch, eine vernünftige Orientierung sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht zu geben, hat innerhalb der Platonischen und Aristotelischen Philosophie zu einem eindrucksvollen Ergebnis geführt. Gestützt auf den sicheren Anfang, den das vernünftige Denken mit der Thaletischen Geometrie genommen hatte, und auf die Sokratische Einsicht in die Situation des nachmythischen Menschen gelingt, zumindest für einen geschichtlichen Augenblick, die Antwort auf die Frage, wie sich der Mensch in seinen Handlungen verstehen soll. Daß diese Antwort, allein schon im Hinblick auf die Differenzen, die zwischen Platon und Aristoteles sogleich auftreten, manche Schwierigkeit enthält und insbesondere auch in der nach wie vor nicht recht geklärten Ordnung von praktischer und theoretischer Philosophie noch unbefriedigend bleibt, soll nicht bestritten werden. Worauf es aber bei der Formulierung jener im griechischen Denken erstmals errungenen vernünftigen Selbständigkeit ankommt, ist weniger die Weise, wie sich diese Selbständigkeit im einzelnen artikuliert, als vielmehr der Umstand, daß sie auf Unterscheidungen beruht, die sich wie die Unterscheidung zwischen praktischen und theoretischen Handlungen jederzeit rechtfertigen lassen. Und mehr noch. Diese Selbständigkeit beginnt nun mit Platon und Aristoteles ausdrücklich auch auf ihre methodischen Voraussetzungen zu reflektieren, indem einerseits die eigenen Verfahren auf ihre ,Begründungc hin überprüft und andererseits Mittel bereitgestellt werden, die ein gegründetes' Argu83

Eth. Nie. B1.1103al4ff. W. G. Rabinowitz (Ethica Nicomachea III—6: Academic Eleatism and the Critical Formulation of Aristotle's Discussion of Moral Virtue, in: Aristote et les problemes de methode, Louvain-Paris 1961, S. 273—301) vermutet, daß sich Aristoteles mit seinem Hinweis, daß Tugend dem Menschen nicht , Natur aus' zukommt, gegen eleatische Positionen innerhalb der Akademie wendet. Dies ist möglich und ließe sich auch mit der hier vertretenen Ansicht verbinden. Zweifelhaft ist dagegen seine Bemerkung, daß auch die Redeweise vom (deren ,akademischer' Charakter nicht bezweifelt werden kann) in dieser Weise aufzufassen sei.

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mentieren ermöglichen sollen. Im , der explizit formulierten Verpflichtung, durch Angabe und Diskussion von ,zureichenden Gründen* Rechenschaft abzulegen über jede Behauptung, die man selbst vertreten möchte, und in der Betonung einer gemeinsamen, dialogischen Bemühung um eine Klärung dessen, was jeweils in Frage steht84, werden dabei in einer nunmehr theoretischen, auf begriffliche Isolierung praktischer' Handlungsteile bedachten Wendung genau jene Forderungen zu erfüllen versucht, die hier zu Beginn als ,ideale', die Vernunft selbst bestimmenden Forderungen bezeichnet wurden. Ohne nur wieder in die selbstgefälligen eristischen Kunststückchen sophistischer Argumentationsweisen zu verfallen, die mehr um ihrer selbst willen denn als ein Mittel, zu wahrer Übereinstimmung zu gelangen, geübt wurden, entdeckt das Denken mit Platon und Aristoteles ein für allemal im methodisch geordneten Vorgehen seine , vernünftige* Möglichkeit. Dieses Verfahren wird jetzt gesondert, und d. h. unabhängig von bestimmten inhaltlichen Aussagen, thematisiert, womit zugleich sprachliche Gebilde in den Vordergrund der Betrachtung rücken: es sind Sätze, die behauptet, und wiederum Sätze, die zu ihrer Begründung angeführt werden. Nun hatte schon Sokrates mit seinem hartnäckigen Fragen nach dem, was man eigentlich meint, wenn man bestimmte Wörter benutzt, die Aufmerksamkeit auf die Sprache gerichtet, doch geschah dies gleichsam noch ohne weiterreichende methodische Absichten jeweils nur im Rahmen konkreter Fragestellungen. Immerhin war damit aber zumindest implizit die Frage nach den sprachlichen Grundlagen des Denkens gestellt, eine Frage, die Platon nun im Rahmen einer ersten sprachphilosophischen Bemühung im „Kratylos" souverän aufgreift, indem er ausdrücklich den rechten Gebrauch der Wörter (er selbst spricht von ,Namen', , gemeint sind Eigennamen unter Einschluß prädikativer Bestimmungen) zum Gegenstand einer längeren Untersuchung macht. Daß diese Untersuchung hinsichtlich ihrer ursprünglichen Zielsetzung ergebnislos verläuft und in der Diskussion zweier extremer Positionen nur eine Unterscheidung einzuführen scheint, die später als nominalistische bzw. realistische Sprachauffassung noch so viel Verwirrung stiften sollte, 84

Vgl. Lach. 187c—e, Prot. 336c, Theait. 177b etc. Die Forderung nach einer gemeinsamen Untersuchung ( ) tritt insbesondere in den frühen Dialogen immer wieder hervor (Charm. 158d8 ff., Prot. 330b; vgl. Nom. 633a etc.), sie darf als genuin Sokratisch gelten; vgl. W. K. C. Guthrie, The Greek Philosophers from Thaies to Aristotle, London 1950, S. 75. Zur Unermüdlichkeit vgl. Prot. 333b, Pol. 445b, 349a, etc.

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schmälert ihre Bedeutung nicht. Über den Aufweis scharfsinniger sprachphilosophischer Unterscheidungen hinaus läßt sich nämlich zeigen, daß Platon selbst beide Auffassungen, die nomin alistische wie die realistische Auffassung, für verfehlt gehalten hat und sein ganzes Bemühen in diesem Dialog dahin geht, lediglich den Ausgangspunkt einer sprachphilosophischen Betrachtung zu markieren, der diese, schon damals naheliegenden Auffassungen85 vermeiden läßt.8' Nicht so sehr an ihren praktischen Ergebnissen als vielmehr an ihrer klaren Aufgabenstellung gemessen, stellt diese Bemühung darum wieder einen entscheidenden Anfang dar, insofern nämlich nun die gesuchte Verläßlichkeit des Denkens bewußt auf ihre sprachlichen Bedingungen hingewiesen wird. Diese Formulierung kann sich zwar zugegebenermaßen nicht auf den Platonischen Wortlaut berufen, entspricht aber durchaus der Intention auch anderer Untersuchungen innerhalb der Dialoge. Nur so läßt sich z. B. auch jene Theorie der Wahrheit und Falschheit von Sätzen verstehen, die Platon, wiederum zum ersten Male, im „Sophistes" entwickelt.87 Diese Theorie, die sich im Dialog explizit gegen sophistische Positionen und damit gegen die zuvor genannte erkenntnistheoretische Behauptung einer Ununterscheidbarkeit von Wahr und Falsch richtet, ist nicht als irgendein zusätzliches Forschungsergebnis, sondern als deutliche Grundlegung für ein methodisches Denken verstanden. Tatsächlich gelingt Platon denn auch mit dieser Theorie, gleichsam in einem ersten Anlauf, die Klärung einer Frage, die zu den Prolegomena der Logik gehört und deren Beantwortung eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein wirklich gesichertes methodisches Fortschreiten innerhalb jeder begründenden Argumentation darstellt. Kein Wunder, daß Platon darum auch nicht zuletzt auf Grund eben dieser Überlegungen, in denen etwa das ,ontologische' Nichtseiende als ,logisch' Falsches einen verständlichen Sinn erhält88, 85

86 87

88

Nämlich als .sprachphilosophische' Varianten des älteren Gegensatzes von ; und ; vgl. F. Heinimann, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des S.Jahrhunderts, Basel 1945, S. 156 ff., vgl. S. 52 f. Deutlich sind in diesem Zusammenhang etwa bei Protagoras (Plat. Prot. 322a5—6) und im Anschluß an diesen bei Demokrit (VS 68B5; vgl. B26) Ansätze einer ,konventionalistischen' Sprachauffassung greifbar. Vgl. auch P. M. Gentinetta, Zur Sprachbetrachtung bei den Sophisten und in der stoisch-hellenistischen Zeit, Diss. Zürich, Winterthur 1961. Vgl. K. Lorenz/J. Mittelstraß, On Rational Philosophy of Language. The Programme in Plato's Cratylus Reconsidered, Mind 76 (1967), S. l—20. Vgl. hierzu K. Lorenz/J. Mittelstraß, Theaitetos fliegt. Zur Theorie wahrer und falscher Sätze bei Platon (Soph. 25Id—263d), Archiv für Geschichte der Philosophie 48 (1966), S. 113—152. Vgl. W. Kamiah, Platons Selbstkritik im Sophistes, München 1963 (Zetemata 33).

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die bisherige Tradition des vernünftigen Denkens als ein bloßes ,Geschichten-Erzählen' bezeichnen kann.89 Was diese Tradition vom Platonischen Philosophieren unterscheidet, ist in der Tat neben ihrem unangemessen monologischen Charakter90 ihre mangelnde methodische Rechtfertigung, wenn man auch hier wieder von der Mathematik, speziell der Geometrie, absieht, die — wie dargestellt — im Beweis sehr bald schon über ein geeignetes Mittel der Begründung verfügt. Sofern dieses Mittel später bei der Rechtfertigung eines Satzes in dem methodischen Rückgriff auf andere Sätze besteht, mag die Mathematik auch wieder das Vorbild jener großartigen Bemühung gewesen sein, in der es Aristoteles in den „Ersten Analytiken" gelingt, gleich für eine ganze Klasse von Sätzen, nämlich die der generellen und partikularen Sätze einschließlich deren Verneinungen, anzugeben, wann zwei Sätze Gründe, und zwar formale Gründe, für einen dritten Satz sind. Um eine Übersicht über diese speziellen Begründungszusammenhänge, eben die Syllogismen, zu gewinnen, bedient sich Aristoteles dabei — gegenüber seinen Bemühungen in den „Zweiten Analytiken" nun gleichsam auf der ersten Reflexionsstufe — wieder der axiomatischen Methode. Es wird der Versuch gemacht91, alle gültigen Syllogismen auf zwei, nämlich ,Barbara* und ,Celarent', die ihrerseits als evident betrachtet werden, zurückzuführen, wobei allerdings rechtbesehen die Hilfsmittel zur Beurteilung eines solchen Verfahrens noch nicht hinreichend zur Verfügung stehen.98 Sieht man jedoch hiervon einmal ab, so stellt die Aristotelische Syllogistik für die angegebene Klasse von Sätzen eine Theorie des logischen Schlusses dar, mit der nun auch die Logik im engeren Sinne ihren Anfang nimmt. Diese Theorie gehört aber zugleich auch mit den hier nur kurz angedeuteten Bemühungen Platons, die zum Teil als zu den Prolegomena der Logik gehörig bezeichnet wurden, in die 89 90

91

9

Soph. 242c ff. Vgl. Soph. 243a7—bl. Derselbe Vorwurf trifft die bei Aristoteles, Met. B4.1000a9—11. Zum .dialogischen' Charakter Sokratisch-Platonischen Philosophierens vgl. oben S. 51, Anm. 84. Vgl. G. Patzig, Die Aristotelische Syllogistik. Logisch-philologische Untersuchungen über das Buch A der „Ersten Analytiken", Göttingen 1963* (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philol.-hist. Kl., 3. Folge, Nr. 42), S. 137 ff. Verschiedene systematische Rekonstruktionen der Aristotelischen Syllogistik (J. Lukasiewicz, Aristotle's Syllogistic from the Standpoint of Modern Formal Logic, Oxford 19572; P. Lorenzen, Formale Logik, Berlin 1966s [Sammlung Göschen Bd. 1176/1176a], S. 15 ff.) machen denn auch explizit z. B. von .alle P sind P' (P a P) als einem Axiom Gebrauch.

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umfassendere Geschichte der seither mit wechselndem Erfolg immer wieder aufs neue gestellten Aufgabe, dem vernünftigen Denken zu methodischer Sicherheit zu verhelfen. In diesem Sinne handelt es sich denn auch bei derartigen ,sprachphilosophischen' oder ,l°gischen< Betrachtungen tatsächlich um nichts anderes als um ein ,Organon' des vernünftigen Denkens, nicht also lediglich um Teilbereiche der theoretischen Philosophie selbst. Es werden hier gerade nicht nur neue Möglichkeiten innerhalb eines durch sein Gegenüber, die praktische Philosophie, hinreichend genau bestimmten Bereiches aufgegriffen, sondern Mittel bereitgestellt, deren sich sowohl die theoretische als auch die praktische Vernunft um ihrer eigenen Durchsichtigkeit und Glaubwürdigkeit willen bedienen sollen. Diese Durchsichtigkeit und Glaubwürdigkeit besitzt das griechische Denken, so wie es hier einleitend in wenigen, vielleicht aber seinen wichtigsten Zügen dargestellt wurde, in einem hohen Maße. Die Entdeckung der Vernunft erfolgte, wenn diese Darstellung zutrifft, in einer nicht nur historisch verstehbaren, sondern auch systematisch vollziehbaren Weise, insofern sie sich — über alle inhaltlichen Unterscheidungen hinaus — durchaus als schrittweise Realisierung der anfangs angeführten ,idealen* Forderungen an ein als vernünftig ausgegebenes Denken auffassen läßt. Die vernünftige Selbständigkeit, von der dabei immer wieder die Rede war, ist in diesem Sinne denn auch nicht lediglich etwas historisches', nämlich ein Stück aus der Geschichte des europäischen Denkens, sie zeugt vielmehr von der in gewisser Weise geschichtslosen Möglichkeit des Menschen, sich in einer Welt ohne ,natürliche' oder jübernatürliche' Zeichen vertrauensvoll einzurichten.

§ 2 Die veränderte Lage 2.1 Griechische Aufklärung Die Entdeckung der Vernunft hat, wie gezeigt werden konnte, im griechischen Denken zu einer neuartigen Selbständigkeit geführt, die als vernünftige Selbständigkeit sowohl gegen den mythischen Schein absoluter menschlicher Ohnmacht als auch gegen den sophistischen Schein absoluter menschlicher Eigenmächtigkeit auftritt. Auf dem Boden der einmal entdeckten Vernunft weiß der Mensch nunmehr, daß er (gegen

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den mythischen Schein) seine Zwecke rechtfertigen kann, und daß er sie darüber hinaus (gegen den sophistischen Schein) rechtfertigen muß, wenn anders er nicht seine eben erst errungene Selbständigkeit zugunsten unreflektierter Interessen wieder aufs Spiel setzen will. Wo letzteres geschieht, d. h. wo die zuvor angeführten Tugenden des Vernünftigen, also die Redlichkeit der Begründungsbemühung und die Unermüdlichkeit der gemeinsamen Suche nach dem gemeinsam Guten, wieder preisgegeben werden, weil sie entweder zu nichts zu führen scheinen oder bereits, in verkürzter Form, als erfüllt gedacht werden, verliert die mit dem griechischen Denken beschriebene Selbständigkeit ihren vernünftigen oder, wie wir auch sagen wollen, ihren aufgeklärten Charakter. Die sophistische Fehleinschätzung menschlichen Könnens steht zwar in direktem Gegensatz zur mythischen Einstellung1 und ist darin selbst eine Folge der im griechischen Denken entdeckten Vernunft, sie ist jedoch nicht immer Ausdruck dieser Vernunft selbst, da diese genaugenommen Gegensatz beider, sowohl der mythischen als auch der sophistischen Einstellung, ist. Gegenüber dem Vorschlag, anstelle von vernünftiger auch von ,aufgeklärter' Selbständigkeit des griechischen Denkens zu sprechen, lassen sich nun gewiß Bedenken geltend machen. In der Tat entspricht diese Bezeichnung kaum dem üblichen Verständnis von griechischer Aufklärung, sofern man es nicht überhaupt vorzieht, einen solchen Ausdruck hier ganz zu vermeiden. Wo er in der Literatur auftritt, dient er in der Regel entweder zur Charakterisierung der schon recht früh, bei Xeno1

Die mythische Einstellung kennt wohl in der Hybris des einzelnen ein extremes Verhalten, das Selbständigkeit in dem hier verstandenen Sinne irgendwie schon vorauszusetzen scheint, doch bleibt dieses Verhalten selbst noch unmittelbar an mythischen Ordnungen orientiert (vgl. Od. 17, 487, wo und .mythische' einander gegenüberstehen; aufgegriffen als, immer noch .mythischer', Gegensatz von Hybris und Dike in Solons „Eunomia", Fr. 5, 9 f. D.; voraus geht Hesiod, Theog. 901 if., wo Eunomia neben Eirene als Schwester der Dike erscheint; zu vgl. F. Heinimann, a.a.O., S. 64, 70). Hybris ist in diesem Zusammenhang nichts anderes als Ausdruck eines, immer scheiternden, Versuches, zu prüfen, ,wie weit man gehen kann', gemessen an geltenden ,mythischen' Vorschriften, die sagen, ,wie weit man gehen darf. Die ursprüngliche Ordnung wird darum auch in der Hybris nicht eigentlich in Frage gestellt, sondern weit eher erprobt, sie setzt sich, bei Homer ebenso wie etwa bei Aischylos und Sophokles, immer durch, indem sie die revoltierende .Selbständigkeit' des einzelnen vernichtet (vgl. oben S. 18). Hybris gehört damit in Wahrheit zu den Spielregeln der mythischen Existenz selbst, sie setzt diese Regeln nicht außer kraft, wie dies im Rahmen einer vernünftigen Selbständigkeit — und natürlich auch in der sophistischen Einstellung — dann geschieht.

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phanes*, greifbaren und später insbesondere von der Sophistik aufgenommenen Religionskritik3, oder er wird direkt anstelle von ,Sophistik' als Eigenname einer bestimmten Epoche griechischen Denkens verwendet. In letzterem Falle hat man dabei sowohl die Bildungsbewegung des 5. Jahrhunderts als auch die vor allem für die jüngere Sophistik charakteristische (scharfe) Kritik an allem Überkommenen im Auge.4 Schließlich gibt es noch den Versuch, praktisch die gesamte Geschichte des griechischen Denkens als die Geschichte einer griechischen Aufklärung * VS 21B11.14.15.16 (Kritik am .theologischen' Anthropomorphismus); dazu Arist. Poet. 25.1460B35—1461al, Rhet. B23.1399b6—8; Cic. de divin. 13,5 (= VS 21A52); Diog. Laert. IX, 18; Aet. 5.1.1 (= VS 21A52). Vgl. G. Dodds, The Greeks and the Irrational, Berkeley 1951, S. 181; O. Gigon, Die Theologie der Vorsokratiker, in: Entretiens sur PAntiquite Classique I, Genf 1952, S. 141 ff.; W. Jaeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953, S. 50 ff.; G. S. Kirk/ J. E. Raven, a.a.O., S. 168 ff.; W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy I, S. 370 ff. 8 Vgl. J. Burnet, Greek Philosophy. Thales to Plato, London 1914, S. 32 ff.; M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, I—II, München 19552, I, S. 767 ff.; ferner G. Krüger, Geschichte und Tradition, Stuttgart 1948 (Lebendige Wissenschaft 12), S. 26 f. (= G. Krüger, Freiheit und Weltverwaltung. Aufsätze zur Philosophie der Geschichte, München 1958, S. 92 f.), ders. Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des Platonischen Denkens, Frankfurt 19482, S. 109. Krüger hebt dabei hervor, daß „die Tradition der Aufklärung im Griechentum" schließlich weniger von dem „kulturphilosophischen Räsonnement der Sophisten" als vielmehr durch den »Materialismus' Leukipps und Demokrits bestimmt wurde. „Von ihnen haben die Epikureer, die im Hellenismus die Aufklärung vertreten haben, alle Grundanschauungen übernommen" (Grundfragen der Philosophie. Geschichte Wahrheit Wissenschaft, Frankfurt 1958, S. 102; vgl. S. 129 und : Einsicht und Leidenschaft, S. 107 f.). — Zur ,sophistischen' Religionskritik vgl.: Protagoras bei Euseb. praep. evang. XIV 3, 7; Diog. Laert. IX, 51 (= VS 80B4, Anfang der Schrift über die Götter; vgl. Plat. Theait. 162d); Prodikos bei Sext. Emp. adv. math. IX, 18; Philod. de piet. 9, 7 p. 75G.; Cic. de nat. deor. 1,42.118 (= VS 84B5); Thrasymachos bei Hermias Alex, in Plat. Phaedr. 192 Ast (ed. P. Couvreur, Paris 1901, S. 239, 21—24 [= VS 85B8]); Kritias bei Sext. Emp. adv. math. IX, 54 ( = VS 88B25). Daneben die psychologisch-physiologische Erklärung ( -These) Demokrits, die alle sophistischen Theorien über die Entstehung der Religion, insbesondere die des Kritias, stark beeinflußt haben dürfte. Sext. Emp. adv. math. IX, 19 (= VS 68B166); Plut. Quaest. conv. VIII 10.2.734F—735C, V 7.6.682F—683A (= VS 68A77); dazu Hermipp. de astrol. 116,122 (ed. G. Kroll/P. Viereck, Leipzig 1895, S. 26, 13—15 [= VS68A78]) und Clem. Alex. Strom. V 87, 3 (ed. O. Stählin, I— IV, Leipzig 1905—1936, II, S. 383, 25—29 [= VS 68A79]); Lukrez de rer. nat. III, 978 ff., und V, 1169 ff. geben ebenfalls, über epikureische Traditionen, Ansichten Demokrits wieder. Vgl. W. Jaeger, a.a.O., S. 196 ff. 4 Vgl. E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung I, ed. W. Nestle, Leipzig 1920«, S. 1287 ff.; W. Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, ed. H. Heimsoeth, Tübingen 195715, S. 56 ff. (,Die anthropologische Periode'), genannt werden hier neben den Sophisten auch die Sokratiker als Träger der griechischen Aufklärung; K. Schilling, Weltgeschichte der Philosophie,

Griechische Aufklärung

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zu schreiben5, ein Versuch, der aber von vornherein daran leidet, besonders unterscheidungsarm zu sein. Sieht man darum auch von diesem Versuch einmal ab, so dürfte deutlich sein, daß sich die Rede von einer griechischen Aufklärung an dem, was man gemeinhin unter ,neuzeitlicher' Aufklärung versteht, orientiert und dabei vor allem den radikalen, den polemischen und den vermeintlich immer ein wenig ,oberflächlichen' Charakter ,aufklärerischer' Bestrebungen betont.8 Der Einwand gegen die hier vorgeschlagene Terminologie würde demnach lauten, daß sie unangemessen sei, nämlich falsche Akzente setze, indem sie etwa die in der Platonischen Philosophie zum Ausdruck kommende vernünftige Selbständigkeit gerade mit Positionen verwechseln lasse, gegen die sich diese Selbständigkeit ausdrücklich wendet.7 In diesem Punkte kommt es Berlin 1964, S. 159, S. 230 ff. Bei Th. Gomperz (Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken Philosophie, I—III, Leipzig 1903—19092,1, S. 219 ff.) wird das gesamte 5. Jahrhundert direkt als ,Zeitalter der Aufklärung' bezeichnet, dem neben den Sophisten auch die Mediziner und Atomisten sowie Thukydides angehören sollen; ähnlich K. Joel, Geschichte der antiken Philosophie I, Tübingen 1921, S. 482 ff., und A. Lesky, a.a.O., S. 374 ff. 5 W. Nestle, Die Entwicklung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates, Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum 4 (1899), S. 177—203 (unter Gliederung in eine religiös-philosophische, eine naturwissenschaftliche und eine historisch-politische Aufklärung); ders., Art. Aufklärung, in: Reallexikon für Antike und Christentum, I-, Stuttgart 1950 ff., I, Sp. 938—954; ein wenig differenzierter in: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 19422, S. 260 f., S. 486 ff. (Akzent auf .ionischer' und .sophistischer' Aufklärung), und: Griechische Geistesgeschichte von Homer bis Lukian, Stuttgart 19442, S. 222 ff. (Hervorhebung der .religiösen' Aufklärung). Vgl. ferner J. Geffken, Die griechische Aufklärung, Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum 51 (1923), S. 15—31. * Vgl. O. Gigon, Art. Aufklärung, in: Lexikon der alten Welt, Zürich/Stuttgart 1965, Sp. 397—398. Gigon gibt zunächst in einleuchtender Weise vier verschiedene Begriffe von Aufklärung an, je nachdem welche Form „die Beziehung zwischen Einsicht und Tradition" annimmt: „(a) die sachliche Widerlegung des Falschen durch nachweisbar Richtiges, (b) die aggressive Destruktion von Torheit und Aberglaube, (c) die Auswertung der Tradition durch Umdeutung, die sie als eine rudimentäre Vorform philosophischer Einsicht erläutert, (d) die Respektierung der Tradition als eines Faktors, auf den aus pädagogischen und sachlichen Gründen nicht verzichtet werden kann" (Sp. 397). Als .Aufklärung im strengen Sinne' wird dann lediglich (b) bezeichnet, „wo die destruktive Polemik alle ändern Motive überdeckt" (ebd.). 7 Vgl. etwa G. Krüger, der Platons Polemik gegen die Sophisten als Polemik gegen Aufklärung schlechthin auffaßt und die von Platon selbst vertretene Position dann als .religiöse Humanität' oder .religiöse Metaphysik' kennzeichnet; vgl. Abendländische Humanität. Zwei Kapitel über das Verhältnis von Humanität, Antike und Christentum, Stuttgart 1953, S. 37, S. 89; Geschichte und Tradition, S. 27 (= Freiheit und Weltverwaltung, S. 93). Als Vertreter der Aufklärung treten in diesem Zusammenhang bei Krüger z. B. Pausanias, Eryximachos und Agathon auf; Einsicht und Leidenschaft, S. 102, S. 282; vgl. Einleitungen zur Artemis-Ausgabe der

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nun aber sehr genau auf die Unterscheidungen an, welche man treffen will. Zweifellos kann man diejenigen Positionen, mit denen sich Platon auseinandersetzt, also im wesentlichen wieder die Sophistik, kritisch, wenn auch nicht immer ohne Beifall, als ,AufkIärung* bezeichnen und sich zur Charakterisierung des Platonischen Standpunktes anderer Gesichtspunkte bedienen. Man kann aber auch zwischen einer ,guten' und einer schlechten* Aufklärung unterscheiden und erstere dann z.B. im Platonischen Denken, letztere in jener naiven Sicherheit realisiert sehen, die alsbald auf dem Boden der vernünftigen Selbständigkeit, als deren von nun an immer mögliche Verkehrung, entsteht. Damit wäre etwa auch die (historische) Sophistik keineswegs von vornherein als Verkehrung einer ursprünglicheren vernünftigen Selbständigkeit diskreditiert, vielmehr hätte man auch hier von Fall zu Fall erst zu entscheiden, ob man von ,guter* oder schlechter' Aufklärung sprechen will. Beide Vorschläge, denen jeweils verschiedene Begriffe von Aufklärung zugrunde liegen, sind vertretbar, ohne daß sich sogleich verbindlich entscheiden ließe, welcher der angemessenere sei. Wenn hier die Unterscheidung zwischen einer ,guten* und einer schlechten* Aufklärung vorgezogen wird, so in der Hoffnung, daß sie sich gerade auch im Hinblick auf die ,zweite* Aufklärung, die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts, als besonders geeignet herausstellen möge. Was dabei unter einer ,guten* Aufklärung verstanden werden soll, wurde im Hinblick auf das griechische Denken exemplarisch im vorausgegangenen Paragraphen darzustellen versucht. 2.2 jGriechische* und neuzeitliche* Vernunft Die gegebene Darstellung der griechischen Aufklärung legt nun aber auch, über die spezielle Einschätzung der geschilderten vernünftigen Selbständigkeit als einer aufgeklärten Selbständigkeit hinaus, die Frage nahe, wie es denn mit der so häufig hervorgehobenen Unterscheidung von griechischem und neuzeitlichem Denken oder griechischer und neuzeitlicher Vernunft steht. Obgleich der Versuch, eine solche Frage zu beantworten, an dieser Stelle zweifellos verfrüht wäre, da bislang ja nur vom griechischen, nicht aber vom neuzeitlichen Denken die Rede war, dürfte immerhin aus dem bisher Gesagten schon deutlich geworden sein, Werke Platons: Die Werke des Aufstiegs, Zürich 1948, S. XXIII; Der Staat, Zürich 1950, S. 33 ff. O. Gigon, a.a.O., Sp. 398, führt in demselben Sinne Thrasymachos und Kallikles aus „Politeia" und „Gorgias" an. Vgl. auch W. Kamiah, a.a.O., S. 295, 311.

.Griechische' und .neuzeitliche' Vernunft

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daß diese Unterscheidung vermutlich nicht sehr pointiert ausfallen wird. Der Hinweis auf den in gewissem Sinne geschichtslosen Charakter der (griechischen) Entdeckung der Vernunft, der in ihrer Wiederholbarkeit zum Ausdruck kommt, sowie die Darstellung der aus dieser Entdeckung hervorgegangenen (griechischen) Selbständigkeit, die ihrerseits wieder durch wiederholbare Einsichten getragen wird, lassen eher erwarten, daß auch das neuzeitliche Denken, sofern es nicht lediglich eine Variante der Schlechten* Aufklärung sein sollte, nur auf demselben Wege weiterschreiten wird, den das griechische Denken einmal eingeschlagen hatte. In der Tat soll hier, wovon schon die Ausdrucksweise einer ,ersten' und einer ,zweiten' Aufklärung zeugt, der Versuch gemacht werden, griechisches und beginnendes neuzeitliches Denken unter Hervorkehrung gemeinsamer prinzipieller Einsichten wieder enger zusammenzurücken als dies, auch bei Beachtung einer im europäischen Denken niemals gänzlich versiegten Tradition griechischen Denkens, gewöhnlich geschieht. Dort wo von einer charakteristischen Verschiedenheit griechischen und neuzeitlichen Denkens die Rede ist, wird zumeist etwa folgendermaßen argumentiert: Das griechische Denken hat die einzigartige Stellung des ,Erkennenden* zum ,Erkannten' (dem Gegenstand der Erkenntnis) noch nicht entdeckt, ,in aller Unschuld* glaubt es sich beständig geleitet von einer ,unverrückbaren' Ordnung der Dinge, die ihrerseits in der Ordnung des Denkens ihre unproblematische Entsprechung findet. Eine solche Entsprechung wird dagegen problematisch im neuzeitlichen Denken. Ordnung der Dinge und Ordnung des Denkens fallen jetzt auseinander, bis nur noch die Ordnung des Denkens übrigbleibt, die sich die Dinge als ihren unverstandenen ,Rest* zur beliebigen Verfügung hält. Mit anderen (ebenfalls geläufigen) Worten: während griechisches Denken ausgezeichnet ist durch sein Vertrauen in die Verläßlichkeit des Seienden, findet neuzeitliches Denken sein Vertrauen allein noch in der Verläßlichkeit der Vernunft — Rezeptivität und Spontaneität werden zu Termini, die nicht nur in systematischer Absicht zwei unterschiedliche Seiten der Vernunft bezeichnen, sondern darüber hinaus in historischer Absicht dazu dienen, griechisches und neuzeitliches Denken in jeweils spezifischer Eigenart auseinanderzuhalten.8 8

Eine derartige Unterscheidung ist insbesondere von G. Krüger wiederholt in eindrucksvoller Weise vertreten worden. Unter Hinweis auf die ursprüngliche Nähe des griechischen Denkens zur .Sinnlichkeit' (Grundfragen der Philosophie, S. 75) und den neuzeitlichen Primat der (nunmehr monologischen) Vernunft vor dem Verstand (a.a.O., S. 102; vgl. Abendländische Humanität, S. 89 f.) spricht Krüger hier von .rezeptiver Einsicht' einerseits und .spontaner Reflexion' andererseits (Die

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Nun soll gar nicht behauptet werden, daß es nicht sinnvoll wäre, nach charakteristischen Unterschieden auch des griechischen und des neuzeitlichen Denkens zu suchen; nur darf eine derartige Bemühung nicht zur Verkennung ebenfalls vorhandener und, wie es scheint, sogar weitaus wichtigerer Gemeinsamkeiten führen. So ist es etwa zweifellos richtig, daß das griechische Denken jene hartnäckige Reflexion des Denkenden über sich selbst, die in der Neuzeit zur Entdeckung des ,Selbstbewußtseins* und damit zum Subjektivismus' in seinen verschiedenen Spielarten führt, nicht kennt", doch wäre es falsch, daraus einen prinzipiellen Unterschied zu konstruieren. Eine solche Konstruktion könnte vor allem dazu verleiten, in der griechischen Vernunft, die den eigentlichen Schritt zum Selbstbewußtsein noch nicht vollzogen zu haben scheint, lediglich eine mehr oder weniger naive Vorstufe der sich selbst wissenden neuzeitlichen Vernunft zu sehen. Schon die vorausgegangenen Überlegungen machen aber deutlich, daß eine derartige Einschätzung dem griechischen Denken in seiner vernünftigen Selbständigkeit kaum gerecht würde, zumal ja auch dieses Denken, insbesondere in der Skepsis des 4. und S.Jahr-

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Bedeutung der Tradition für die philosophische Forschung, Studium Generale 4 [1951], S. 326 [= Freiheit und Weltverwaltung, S. 224]; vgl. Abendländische Humanität, S. 93), oder einfach auch von .Einsicht' bzw. .Nachdenken'. Seiner Meinung nach beruht die neuzeitliche Philosophie auf dem, der griechischen Vernunft gänzlich fremden „Vorrang des Nachdenkens vor der Einsicht, auf der Spontaneität der Vernunft" (Grundfragen der Philosophie, S. 129); „Nachdenken, das ist jetzt nicht mehr das Nachziehen gegebener Linien, weder ein Sichführenlassen vom Zusammenhang der Dinge, noch ein Voraussetzen und Anerkennen seiner, noch ein Sich-Entscheiden für ihn. Es ist jetzt das uns schon bekannte, spontane Erdenken" (a.a.O., S. 132). Kein Zweifel, daß Krüger damit wesentliche Züge des neuzeitlichen Denkens, insbesondere in dessen propagandistischer Selbstdarstellung seit Descartes trifft, die Frage ist nur, ob man es hier wirklich mit einer vertretbaren Alternative zu tun hat. Wenn ein .Sichführenlassen vom Zusammenhang der Dinge' nämlich tatsächlich bedeuten sollte, daß das Denken „den Grund seiner Möglichkeit ... im Seienden vorfinden muß" (a.a.O., S. 262), eine derartige .Begründung' nicht selbst leisten kann, so klingt dies ja zunächst nicht weniger illusionär wie jene vermeintliche Abkehr vom .Seienden'. Es dürfte folglich allein schon deswegen ratsam sein, eine Darstellung zweier zentraler Abschnitte in der Geschichte des Denkens besser nicht von vornherein so pauschal mit dieser systematisch schwer vertretbaren Alternative zu belasten. Dazu wieder G. Krüger: Abendländische Humanität, S. 22, vgl. S. 34; Grundfragen der Philosophie, S. 108; Einsicht und Leidenschaft, S. 108, S. 173 f. Maßgebend auch in Krügers Darstellung bleibt dabei der Cartesische .Subjektivismus', mit dem verglichen in der Tat alle früheren Formen von .Innerlichkeit', ob man hierbei nun an Augustin oder schon an Sokrates denken mag, als bloße Vorstufen erscheinen müssen (vgl. den wichtigen Aufsatz: Die Herkunft des philosophischen Selbstbewußtseins, Logos 22 [1933], S. 225—272 [= Freiheit und Weltverwaltung, S. 11—69]).

,Griechischec und .neuzeitliche' Vernunft

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Hunderts, auf sich selbst und seine Leistungsfähigkeit zu reflektieren beginnt, indem es geltendes Wissen als Scheinwissen oder doch zumindest als noch nicht hinreichend begründet erweist. Diese, im strengen Sinne Sokratisch-Platonische Position wird durch die neuzeitliche Vernunft keineswegs überholt, die praktisch natürlich auch nur so verfahren kann, daß sie in eigener methodischer Disziplinierung Meinungen oder als festes Wissen ausgegebene Sätze auf ihre Berechtigung hin prüft. Wenn sie dabei immer wieder auf den Vollzug dieser Prüfung selbst reflektiert und gleich zu Beginn mit Descartes ausdrücklich ein monologisches Ego konstruiert, das als ein autonomes Subjekt diesem Vollzug zugrunde liegen soll, so muß dies keineswegs gleich als ein prinzipieller Fortschritt über das griechische Denken hinaus aufgefaßt werden. Die Cartesische Konstruktion eines erkenntnistheoretischen Subjekts läßt sich vielmehr sogar in gewisser, später noch darzustellender Weise als ein höchst zweifelhafter Versuch erweisen, den gar nicht erst unternommen zu haben dann eher ein Verdienst des griechischen vernünftigen Denkens wäre. Entsprechend könnte denn auch die angegebene Unterscheidung zwischen griechischem und neuzeitlichem Denken unter Umständen bewußt als Basis einer ausdrücklichen Kritik am neuzeitlichen Denken selbst benutzt werden.10 Dieses Denken, so lautete dann etwa die Argumentation, täuscht sich radikal, wenn es vermeint, als ,reines Selbstbewußtsein* quasi ohne die Welt, und damit auch ohne die anderen Menschen, anfangen zu können. Im Gegenteil. Die Welt — hieße es nun — ist nichts, was erst mitsamt den Bedürfnissen und deren Befriedigung produziert* werden könnte, sie geht vielmehr, wie der Behaup-

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Wie sehr Krüger dabei selbst auf dem Boden jener neuzeitlichen Unterscheidung von ,Welt' und ,Ich' argumentiert, zeigt seine folgende Bemerkung: „Keine Welterkenntnis ohne Selbsterkenntnis. Der griechische Philosoph hat die Welt nur entdeckt, weil er sich selbst entdeckt hat, und alle Mängel seiner Welterkenntnis gehen auf Mängel seiner Selbsterkenntnis zurück" (Grundfragen der Philosophie, S. 105). Anstelle von mangelnder .Selbsterkenntnis' sollte man an dieser Stelle denn auch besser von einem noch nicht immer hinreichend klaren methodischen Aufbau des Wissens sprechen. Auf diesen Gesichtspunkt kommt es im Grunde in jeder erkenntnistheoretischen Betrachtung allein an, wogegen eine Unterscheidung wie die zwischen ,Welt' und ,Ich' häufig nur von dem Versuch zeugt, nachträglich gewissermaßen .Bedingungen' für einen solchen Aufbau des Wissens anzugeben. Dies ist ja in der Tat auch die eigentliche Absicht, die G. Krüger in seinen erwähnten Veröffentlichungen verfolgt. Eine systematisch gerechtfertigte, sich dieser .historisierenden' Unterscheidung im wesentlichen nur als Vehikel bedienende Darstellung von .vernehmender' und .profaner' Vernunft findet sich in W. Kamlahs Anthropologie (Der Mensch in der Profanität. Versuch einer Kritik der profanen durch vernehmende Vernunft, Stuttgart 1949).

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tung nach auch die Bedürfnisse selbst, dem Individuum als gemeinsame Welt', und damit als eine Welt, wie sie dem griechischen Denken gerade selbstverständlich erschien, immer schon voraus. In dieser Kritik der neuzeitlichen Vernunft wäre damit aber genau das getroffen, was hier als schlechte' Aufklärung bezeichnet wurde. In der neuzeitlichen radikalen Individualisierung (Monologisierung) der Vernunft wiederholt sich nur in modifizierter Form, was als naive Sicherheit und scheinbare sophistische Überlegenheit schon im griechischen Denken die einmal gewonnene vernünftige Selbständigkeit wieder zu gefährden begann. Für den Versuch aber, zwischen griechischem und neuzeitlichem Denken in der angeführten Weise zu unterscheiden, bedeutet das nun, daß dieser Versuch offenkundig auf Seiten des neuzeitlichen Denkens in erster Linie immer mit ,schlechter' Aufklärung rechnet, daß er darum aber auch sofort als Versuch einer prinzipiellen Unterscheidung hinfällig werden wird, wenn es gelingt, wie schon für das griechische Denken so auch hier ,schlechte' Aufklärung gewissermaßen als defizienten Modus einer vorausgegangenen oder gleichzeitigen ,guten' Aufklärung darzustellen. Der ohnehin, größerer Deutlichkeit wegen, sehr pointiert formulierte mögliche Vorschlag, einerseits von einem charakteristischen Vertrauen in die Verläßlichkeit des Seienden und andererseits von einem ebenso charakteristischen Vertrauen in die Verläßlichkeit der Vernunft zu sprechen, erweist sich damit endgültig als zu artifiziell. Systematisch läßt sich zeigen, daß die beiden, hierin scheinbar deutlich voneinander geschiedenen Standpunkte überdies miteinander verträglich sind. Denn auch ein sogenanntes Vertrauen in die Verläßlichkeit des Seienden wird sich, wenn es Ausdruck einer ,guten' Aufklärung sein sollte, ,vernünftig' artikulieren, d. h. es wird sich z. B. unter jene Forderungen stellen, die als ,ideale' Forderungen an das Behaupten explizit formuliert wurden. Es manifestiert sich, mit anderen Worten, also ebenfalls in Sätzen und müßte sich auch wie jenes scheinbar so andere Vertrauen der Vernunft gegenüber in eigenen Sätzen rechtfertigen, weil ,das Seiende' selbst natürlich nicht spricht. Wenn es dabei diesem ,Seienden' schon zuzuschreiben suchte, was sonst als eine Eigenschaft des ,vernünftigen' Logos auftritt, nämlich daß es verläßliches Wissen gibt, so dürfte dies weit eher eine bloße fa9on de parier als Ausdruck einer wirklich fundierten Unterscheidung sein. Auf jeden Fall hätte man es hier mit einem zusätzlichen Schritt zu tun, der selbst gar kein neues Wissen darstellt, sondern lediglich einen früheren, nun wirklich entscheidenden Schritt noch zu interpretieren suchte, nämlich die Begründung wirklichen Wissens im Rahmen

.Griechische* und .neuzeitliche' Vernunft

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jener exemplarisch für das griechische Denken schon skizzierten , vernünftigen' Selbständigkeit. Anders formuliert wird man sagen dürfen, daß sich einer ,guten' Aufklärung im Grunde immer dieselben Fragen stellen. Es sind dies, in der Ausdrucksweise Kants, vor allem die Fragen ,was kann ich (können wir) wissen?' und ,was soll ich (sollen wir) tun?', wobei sich ein aufgeklärtes Denken gerade dadurch auszeichnet, daß es mit diesen Fragen selbst seine eigenen Voraussetzungen noch kritisch zu erreichen sucht. Unter solchen Voraussetzungen sollen dabei alle diejenigen Handlungen verstanden sein, die bereits zu mutmaßlichem Wissen (Meinungen) und eigenem Verhalten geführt haben und nun zukünftiges Wissen und Verhalten ,dogmatisch' zu bestimmen pflegen, d. h. Motive für zukünftiges Handeln liefern. Wo Handlungen Ausdruck derartiger ,Gewohnheiten' sind, wurden darum auch die angeführten Fragen in dieser Schärfe entweder niemals gestellt oder werden sie nun unter Inanspruchnahme scheinbar ein für allemal gerechtfertigter Positionen bereits als beantwortet angesehen. In ersterem Falle begibt sich das Denken seiner eigentlichen Möglichkeit, nämlich jeden seiner Schritte rechtfertigen zu können, in letzterem Falle täuscht es sich über seine in Wahrheit niemals delegierbare Verpflichtung, jeden seiner Sätze selbst rechtfertigen zu müssen. Erneut treten damit mutatis mutandis der mythische und der sophistische Schein als Bedrohung einer wahren vernünftigen Selbständigkeit hervor. Der mythische Schein verbirgt zwar nun nicht mehr die Möglichkeit einer vernünftigen Rechtfertigung, aber er läßt sie überflüssig erscheinen; der sophistische Schein leugnet nicht mehr die Notwendigkeit einer solchen Rechtfertigung, aber er leistet sie nicht selbst. Es bedarf dabei kaum mehr besonderer Erwähnung, daß die ,gute' Aufklärung im griechischen Denken sich tatsächlich eben dadurch auszeichnet, daß sie die Fragen nach dem, was man wissen kann, und dem, was man tun soll, ausdrücklich gestellt und in der Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie zur Grundlage aller eigenen Bemühungen gemacht hat. Darüber hinaus beginnt sie, das auch später immer wieder begegnende Problem der Reihenfolge beider Fragen zu diskutieren, und erkennt, welche Bedeutung dabei im ganzen gesehen einer methodischen Disziplinierung des Denkens zukommt. Was bleibt also, so möchte man meinen, für eine neue Aufklärung anderes zu tun, als diese Fragen und ihre Diskussion in methodischer Strenge wieder aufzunehmen und damit wirklich genau den Weg weiterzugehen, den eine frühere Aufklärung schon einmal eingeschlagen hatte? In der Tat

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wird man, auf dem Hintergrund des bisher Gesagten, so sprechen dürfen und auch kaum davor zurückscheuen, eine derartige Kontinuität zu behaupten. Das soll wiederum aber nicht heißen, daß eine neue Aufklärung, wenn sie als ,gute' Aufklärung dargestellt werden kann, nur eine Wiederholung oder bloße Fortsetzung eines vorangegangenen Denkens, das in dieser Weise schon gefragt und zu antworten gesucht hatte, sein müßte. Dies läßt sich schon dadurch zum Ausdruck bringen, daß jene zuvor herausgestellte Durchsichtigkeit und Glaubwürdigkeit des griechischen Denkens unabhängig von allem ,Inhaltlichen* behauptet werden kann. Es sind, mit anderen Worten, in erster Linie eben gar nicht einzelne Sätze, die hier als vorbildlich gelten sollen, sondern vorbildlich ist die methodische Rechtschaffenheit, mit der sie, sofern sich dies zeigen läßt, gewonnen wurden. Fortsetzung dieses Denkens wäre in diesem Sinne nichts anderes als Disziplinierung des eigenen Denkens. Auch die allem vernünftigen Denken zugrunde liegenden Fragen nach dem, was man wissen kann, und dem, was man tun soll, aber tragen nun, ebenso wie ihre partiellen Beantwortungsversuche, ,Zeichen* einer veränderten geschichtlichen Situation. Dies mag zunächst merkwürdig klingen; zumal dann, wenn man unterstellt, daß es sich tatsächlich immer um die ,gleichen' Fragen handelte. Gemeint ist folgendes: Behauptungen, also etwa solche, die als Antworten .gleicher' Fragen auftreten, tragen immer auch einer besonderen geschichtlichen Situation, der Situation des Sprechenden oder Schreibenden, Rechnung, ohne daß man natürlich gleich in einer solchen Situation schon ihren ,Grund' sehen müßte. Gerade diese Behauptungen aber (in der Regel sehr komplexe Vorschläge oder ,Theorienc, auf jeden Fall größere Satzzusammenhänge) bilden den besonderen, sich immer wieder ändernden Kontext jener wiederholten Fragen. Das heißt: auch ihrem Wortlaut und ihrer Intention nach ,gleiche' Fragen werden, und sei es nur akzidentell, durch den Kontext der ihnen schon vorausgegangenen Antworten bestimmt. Wer also um 1800 nach dem, was man wissen kann, und dem, was man tun soll, fragt, der mag dies nicht anders tun als einer, der bereits um -400 so fragte, aber seine Situation ist eine völlig andere geworden. Und diese veränderte Situation ist es nun auch im wesentlichen, durch welche sich erste und zweite Aufklärung voneinander unterscheiden. Einige wenige Bemerkungen müssen im folgenden genügen, um den Gang der Vernunft auf ihrem Weg zwischen erster und zweiter Aufklärung darzustellen. Dieser Gang ist vor allem durch zwei Ereignisse be-

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stimmt, nämlich einerseits durch die Desorientierung und schließliche Auflösung des griechischen Denkens in Hellenismus und Spätantike und andererseits durch das Auftreten des Christentums. Beide Ereignisse haben ihre eigene umfassende Geschichte, deren Kenntnis, soweit erforderlich, an dieser Stelle, wo es weniger auf Vollständigkeit der Historie als auf das in dieser Historie beschlossene Schicksal der Vernunft ankommen soll, einmal vorausgesetzt werden darf. 2.3 Die hellenistische Desorientierung der Vernunft Charakteristisch für das griechische Denken nach Platon und Aristoteles ist, im Rahmen der bisherigen Unterscheidungen, das Auseinandertreten von praktischer und theoretischer Philosophie. Während im Platonischen und Aristotelischen Denken gerade die Verbindung der Fragen nach den Bedingungen des richtigen Handelns und den Bedingungen des wahren Redens gesucht und deren Reihenfolge diskutiert wurde, wendet sich nun in dem Maße, in dem Akademie und Peripatos ihre führende Rolle an die jüngeren Schulen der Stoiker, Epikureer und Skeptiker verlieren, praktisches Philosophieren mehr und mehr gegen jede Form theoretischer Bemühungen. Selbst ein Peripatetiker wie Dikaiarch aus Messene glaubt in diesen Bemühungen nunmehr nur noch ein Beispiel ,nutzloser' Gelehrsamkeit zu sehen11, eine Darstellung, die gegenüber den insbesondere unter Speusipp und Xenokrates in der Akademie vorherrschenden theoretischen Spekulationen sogar noch gerechtfertigt sein mag, die in ihrer dogmatischen Zuspitzung aber auch die positive Aufgabe theoretischer Betrachtungen im Platonisch-Aristotelischen Sinne wieder preisgibt. Dabei soll nicht übersehen werden, daß die stoische und epikureische Philosophie in ihrem Bemühen, dem Denken jenseits aller spekulativen Verfälschung wieder zu seiner ursprünglichen Beziehung zu praktischen Handlungen und Zielen zu verhelfen, gerade auf Sokrates zurückgreift, also in einer, über Antisthenes und Aristipp zum Teil auch historisch 11

Cic. ad Att. II 16, 3 (= Fr. 25, ed. F. Wehrli, Die Schule des Aristoteles I, Basel 1944). Dikaiarchs polemisch gehaltene Kritik an Theophrasts Bevorzugung des Bios Theoretikos gegenüber dem Bios Praktikos wendet sich offenkundig schon gegen Platon und Aristoteles selbst; vgl. Diog. Laert. I, 40 (= Fr. 30 Wehrli; Sokrates und die Sieben Weisen als vorbildliche .Praktiker'), Codex Vaticanus 435 (ed. H. v. Arnim, Ineditum Vaticanum, Hermes 27 [1892], S. 119 f. [= Fr. 31 Wehrli]; dazu W. Spoerri, in: Gnomon 30 [1958], S. 189 f.), Porph. de abst. IV, 2 (Opuscula, ed. N. Nauck, Leipzig 1886*, S. 228 f. [= Fr. 49 Wehrli]).

5 Mittelstrass, Neuzeit und Aufklärung

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Die veränderte Lage

nachweisbaren Verbindung zur Sokratisdien Schule" genau dort zu beginnen sucht, wo zum ersten Male von einer wirklichen Einsicht in die Situation des handelnden Menschen gesprochen werden kann.18 Und doch holt dieser Versuch einer fundamentalen Neubesinnung den positiven Platonischen und Aristotelischen Beitrag im Ergebnis nicht mehr ein und fällt damit im Grunde hinter das schon Erreichte wieder zurück. Dies gilt insbesondere von der Schule Epikurs, in der mit der unter ky12

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Der Sokratiker (Xen. Mem. Ill 11, 17; symp. IV 44 und VIII 4—6; Diog. Laert. VI, 2 etc.) Antisthenes gilt über seinen Schüler (vgl. Plut. Quaest. conv. II 1.7.632E) Diogenes von Sinope als Begründer der kynischen Philosophie. Zenon von Kition, Begründer der stoischen Philosophie, hatte zunächst Krates von Theben, einen Sdiüler (Diog. Laert. VI, 85) des Diogenes gehört, bevor er sich dem Megariker Stilpon, der selbst in der Ethik einen gemäßigten Kynismus vertrat, anschloß (Diog. Laert. VII,2; nach Diog. Laert. VI, 76, hatte Stilpon selbst noch Diogenes gehört). Eine vergleichbare Verbindung zwischen dem Sokratiker (Diog. Laert. 11,47.65; Plut. de curiosit. 2.516C; vgl. Arist. Rhet. B23.1398b29—31 etc.) Aristipp und Epikur läßt sich nicht nachweisen (als Epikurs .Lehrer' treten der Platoniker Pamphilos [Cic. de nat. deor. I 26,72; Diog. Laert. X,14] und der Demokriteer Nausiphanes [Sext. Emp. adv. math. 1,3; Diog. Laert. IX,69] auf), doch ist der sachliche Zusammenhang zwischen Epikureischer Ethik und kyrenaischen Lehren evident. Auch der auf Euseb. praep. evang. XIV 18,31 f., zurückgreifende Versuch, erst Aristipps Enkel gleichen Namens für die Ausbildung der kyrenaischen Philosophie verantwortlich zu machen (zustimmend E. Schwartz, Ethik der Griechen, Stuttgart 1951, S. 181; vgl. G. Giannantoni, I Cirenaici. Raccolta delle fonti antidie. Traduzione e studio introduttivo, Firenze 1958, S. 11 if.), zumindest zwischen Aristipp und Kyrenaikern deutlich zu unterscheiden (vgl. C. J. Classen, Aristippos, Hermes 86 [1958], S. 182), leugnet die Verbindung zwischen Epikureern und kyrenaischer Philosophie nicht; in der Wendung, daß diese Philosophie im Grunde überhaupt erst in der Auseinandersetzung mit Epikureischem Gedankengut (Annikeris, dazu Strab. XVII.22) zustandegekommen sei (vgl. K. v. Fritz, Art. Theodoros, RE VA, 2 [1934], Sp. 1827 f.), bestätigt er sie sogar ausdrücklich. Angesichts der durchaus glaubwürdigen Berichte über Aristipps Begründerrolle (vgl. Diog. Laert. 11,86) dürften schließlich auch wirklich stichhaltige Gründe dafür, daß er selbst mit der eigentlichen kyrenaischen Lehre nichts zu tun habe und folglich auch nicht als ,sokratischer Ahnherr' der kyrenaisch-epikureischen Ethik auftreten kann, schwerlich beizubringen sein. Vgl. O. Gigon, Sokrates. Sein Bild in Dichtung und Geschichte, Bern 1947, S. 299 f.; A. Lesky, a.a.O., S. 547 f.; vermittelnd F. Wehrli, in: Gnomon 31 (1959), S. 412—415 (Rezension Giannantoni). Sokrates gilt alsbald, und zwar nicht nur innerhalb der sokratischen Literatur, als exemplarischer Philosoph schlechthin; sein ,Weg in die Philosophie', wie ihn insbesondere die Erzählung vom Chairephon-Orakel (Apol. 20dff.; Xen. Apol. 14 f.) wiederzugeben sucht, wird zum beliebten Vorbild philosophischer Selbstdarstellungen. Vgl. O. Gigon, Antike Erzählungen über die Berufung zur Philosophie, Museum Helveticum 3 (1946), S. l—21; A. Dihle, Studien zur griechischen Biographie, Göttingen 1956 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philol.-hist. Kl., 3. Folge Nr. 37), S. 13 ff. Worin dagegen das Exemplarische des Sokratischen Philosophierens nun genauer besteht, darüber konnte man sich bekanntlich schon unter den Sokratikern nicht einig werden. Vgl. O. Gigon, Sokrates, S. 69 ff. (,Die Sokratesdichtung').

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renaischem Einfluß (Aristipp) erfolgten Verkürzung der Frage nach dem gemeinsam Guten zur Frage nach dem individuellen Guten schon im Ansatz eine Einsicht preisgegeben wird, die sich in der Platonisch-Aristotelischen Fortbildung des Sokratischen , Wissens' gerade als fundamental erwiesen hatte.14 Der jetzt vertretene Primat der praktischen Philosophie gegenüber der theoretischen Philosophie ist folglich nicht nur deswegen so unbefriedigend begründet, weil er in einer schlichten Geringschätzung aller theoretischen Bestrebungen allzu leicht gewonnen wurde15, sondern weil nun auch in der Darstellung der praktischen Philosophie selbst das vermeintliche Ideal einer bedürfnislosen Unabhängigkeit des 14

15

Die gesamte Epikureische Lustlehre trägt, ebenso wie die kyrenaische, deutlich individualistische Züge. Dies liegt schon in ihrem Ausgangspunkt begriffen: nicht eine Diskussion darüber, was unabhängig von unreflektierten .Erfahrungen' als wahres ,Gut' zu gelten habe, wird gesucht, sondern im Gegenteil die von allen vernünftigen Eingriffen losgelöste »Erfahrung* selbst. Entscheidend ist nicht eine normative .Begründung' der ,Lust€ (ihre Bestimmung durch Vernunft), sondern ihre jaktisdhe Erfüllung (vgl. Brief an Menoikeus bei Diog. Laert. X.128 f. [= H. Usener, Epicurea, Leipzig 1887, S. 62,23—63,8]). Der bedarf es dabei lediglich, um diese Erfüllung auch tatsächlich zu gewährleisten (vgl. Diog. Laert. X.132 [= S. 64,12 ff. Usener]). Lust ( ) ist damit immer Lust des einzelnen, privates Wohlergehen, ihm werden alle ,intersubjektiven' Beziehungen untergeordnet — so die Freundschaft (vgl. Diog. Laert. X,120 [= Fr. 540 Usener]; positiver Cic. de fin. I 20,69 f.), die menschliche Gemeinschaft schlechthin (vgl. Fr. 523 ff. Usener), die politische Betätigung (Diog. Laert. X,119 [= Fr. 8 Usener]). Nur persönliches Interesse oder persönlicher Ehrgeiz, etwa in der Politik, rechtfertigen ein aus dem privaten Bereich scheinbar heraustretendes Engagement (vgl. Plut. de tranquill, an. 2.465F [= Fr. 555 Usener]). Zur Epikureischen Ethik im ganzen vgl. C. Bailey, The Greek Atomists and Epicurus, New York 1928, S. 482 ff.; W. Schmid, Art. Epikur, in: Reallexikon für Antike und Christentum V (1962), Sp. 719 ff. (dort auch weitere Literatur). Vgl. Cic. de fin. II 4, 12 (= Fr. 227 Usener); Sext. Emp. adv. math. 1,1; Diog. Laert. X,6. Epikurs Mißtrauen gegenüber jeglicher Bildung endet zumeist in deren völliger Preisgabe, nicht mit dem Versuch einer kritischen Rekonstruktion. Zu den .mathematischen Wissenschaften' vgl. Cic. de fin. I 21,71 f. (= Fr. 227 Usener); Plut. contr. Ep. beat. 13.1095C (= Fr. 5 Usener); zur Logik (bzw. Dialektik) Cic. de fin. I 7,22, und 19,63 (= Fr. 243 Usener); Diog. Laert. X.31 (= S. 105,10 ff. bzw. Fr. 257 Usener). Eine Ausnahme macht die Physik (Cic. de fin. I 19,63 [= Fr. 243 Usener]; vgl. de fin. I 6,17), insofern von ihr, in Fortführung des Atomismus Demokrits, vor allem Argumente gegen religiösen Aberglauben, aber auch gegen .theologische' Sätze wie die stoische Annahme einer göttlichen erwartet werden (Diog. Laert. X,76 f. [= S. 27 f. Usener]), und auch der Tod im Rahmen einer atomistischen Hypothese seinen Schrecken zu verlieren scheint (vgl. Diog. Laert. X.65 [= S. 21,8 ff. Usener]; X.124 ff. [= S. 60,15 ff. Usener]; X.139 [= S. 71 Usener]; Plut. contr. Ep. beat. 8.1091 Ff. [= Fr. 384 Usener]). Theoretische Erwägungen werden also allenfalls auf Grund ihres vermeintlich praktischen Nutzens zugelassen, jede Bemühung im Sinne einer .reinen Theoria' scheidet dagegen als nutzlos aus. Vgl. C. Bailey, a.a.O., S. 234 f.

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Die ver nderte Lage

einzelnen der gemeinsamen Verst ndigung ber das, was zu tun sei, vorgezogen wird. Weniger einseitig und weit mehr wieder auf die bei Platon und Aristoteles schon einmal gewonnene urspr ngliche Einheit der philosophischen Bem hung gerichtet ist der stoische Beitrag in dieser Frage. Dem hier auf kynischem Einflu beruhenden Gedanken der Unabh ngigkeit des einzelnen wird nun im Kosmopolitismus aller seine individualistische Sch rfe genommen und wird auch das Verh ltnis von praktischer und theoretischer Philosophie auf dem Hintergrunde jener bekannten Einteilung der Philosophie in Logik, Ethik und Physik" weitaus berzeugender zu kl ren versucht, als dies innerhalb des radikaleren Epikureismus geschehen konnte. Und dennoch verhindert auch hier letztlich eine eigent mliche Verschr nkung von Ethik und Physik, in der theoretische Erw gungen ber die ,Natur* und praktische Erw gungen ber menschliches Handeln sich gegenseitig st tzen sollen, eine wirklich vertretbare Ordnung von praktischer und theoretischer Philosophie." 18

17

Diog. Laert. VII.39; Sext. Emp. adv. math. VII,16f.; eine f r Kleanthes bezeugte Einteilung in sechs Disziplinen (Dialektik Rhetorik Ethik Politik Physik Theologie; Diog. Laert. VII,41) l t sich mit der sonst blichen Dreiteilung verbinden. Das ομολογουμένως ζην (τούτο δ' εστί καθ' ένα λόγον και σύμφωνον ζην) (Stob. Eel. II 75,11—13 Wachsmuth [= J. v. Arnim, Stoicorum veterum fragmenta, I—IV, Leipzig 1905—1924, I, 179]) wird in der Stoa bekanntlich als ομολογουμένως τη φύσει ζην interpretiert. Ob dieser Zusatz bereits auf Zenon selbst zur ckgeht (so nach Diog. Laert. VII.87) oder erst von Kleanthes getroffen wurde (vgl. Stob. Ecl. II 76,3 ff. Wachsmuth [= Stoic, vet. frag. 111,12]), ist nicht recht klar, doch entspricht diese Wendung der bald herrschenden Meinung (vgl. Stob. Ecl. II 77, 16 ff. Wachsmuth [= Stoic, vet. frag. 111,16]). Die Aufforderung, ,der Natur entsprechend' zu leben (Diog. Laert. VII.88.94; Cic. de fin. Ill 7,26 etc.), d. h. nach dem zu streben, was ,von Natur aus' gut ist (Cic. de fin. Ill 5,17; 6,20 etc.), richtete sich dabei einerseits an den einzelnen als Glied einer gr eren Gemeinschaft, entsprach aber andererseits auch der These einer ,Gesamtnatur' oder .Weltvernunft', von der zu reden dann Sache der ,Physik' ist (Diog. Laert. VII,88; Plut. de comm. not. 23.1069F etc.; zur sogenannten stoischen Telosformel und Oikeiosis-Lehre vgl. M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, G ttingen 1948, S. 111 ff.). Von einer theoretischen' Besch ftigung mit der .Natur' wird damit nicht mehr lediglich, wie im Epikureismus, ein .praktischer Nutzen', sondern begr ndende Einsicht in die Situation des vern nftig handelnden Menschen erwartet. Entsprechend tritt die Physik zwar einerseits als .Hilfsdisziplin' der Ethik auf (vgl. Chrysipp bei Plut. de Stoic, rep. 9.1035C [= Stoic, vet. frag. 111,68]; vgl. 2.1033D [= Stoic, vet. frag. III.702]), macht ihr aber andererseits als umfassendere »Theorie' zugleich auch den Primat im Grunde wieder streitig (vgl. die unterschiedliche Auskunft der Gleichnisse ber die Ordnung der drei Disziplinen; Diog. Laert. VII,40; Sext. Emp. adv. math. VII,17ff.). Zur stoischen Physik: S. Sambursky, Das physikalische Weltbild der Antike, Stuttgart/Z rich 1965, S. 182 ff. (dieser Darstellung liegt ein fr heres Werk des Autors zugrunde: Physics of the Stoics, London 1959).

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Audi bleibt es, bei Chrysipp etwa ebenso wie bei den Vertretern der sogenannten mittleren und jüngeren Stoa, bei einer, für die nach-Aristotelische Zeit so überaus charakteristischen Absage an jede Form von ,reiner Theoria'18 — womit wiederum nur deutlich wird, daß es nun offenbar nicht mehr recht gelingt, auch im ,Theoretisieren' eine begründbare Weise vernünftigen menschlichen Handelns zu sehen. Im Skeptizismus schließlich, von Pyrrhon über die neuere Akademie bis hin zu Ainesidemos, dehnt sich diese Absage auf alles Wissen aus, indem nun dessen prinzipielle Unzuverlässigkeit behauptet wird. Die Argumentation stützt sich hierbei zumeist entweder auf eine bloße Kritik der sinnlichen Vernehmensweisen, erreicht also den theoretischen Aufbau des Wissens überhaupt nicht (!), oder gibt sich schon mit einem Auf weis faktischer Meinungsverschiedenheiten, die als unüberbrückbar gelten, zufrieden.19 Gerade dieser skeptische Aufweis, dem kein Versuch einer erneuten Begründung des Wissens mehr folgt, zeigt denn auch, daß das griechische Denken sein ursprüngliches Vertrauen in die Verläßlichkeit des Wissens, mit dem es begonnen hatte, wieder verloren hat. Unterschiede zwischen den Schulen werden nicht mehr zu verstehen und zu überwinden versucht, sondern, wie z.B. in Ciceros Anschluß an die neuere Akademie (Karneades, Philon von Larissa) besonders deutlich, als offenkundiger Beweis für die Unfruchtbarkeit derartiger philosophischer Bemühungen überhaupt aufgefaßt.20 Auch dieser Skeptizismus beruft sich dabei wieder 18

19

M

Vgl. Chrysipp bei Plut. de Stoic, rep. 2.1033D (= Stoic, vet. frag. 111,702). Die Logik wird dagegen weiterhin im Aristotelischen Sinne, trotz aller Unterschiede, als instrumentum aufgefaßt. Gegenüber der Aristotelischen axiomatischen Darstellung der Syllogismen zielen die megarisch-stoischen Bemühungen erstmals auf eine Kalkülisierung der gesamten Aussagenlogik. Monographische Zusammenfassung der fragmentarischen Überlieferung bei B. Mates, Stoic Logic, Berkeley 1953 (University of California Publications in Philosophy 26); vgl. W. Kneale/M. Kneale, The Development of Logic, Oxford 1962, S. 113 ff. Zur skeptischen Argumentation vgl. die Darstellung bei Diog. Laert. , —88, die vermutlich auf den des Theodosius (Arzt aus der Empirikerschule) beruht (dazu K. v. Fritz, Art. Pyrrhon, RE XXIV [1963], Sp. 99 ff.); ferner — zur pyrrhonischen Kritik des Wissens — Aristokles bei Euseb. praep. evang. XIV 18,1—4 (unter Berufung auf Pyrrhons Schüler Timon von Phleius), und Timon bei Diog. Laert. IX,105.114. Die Argumentation bleibt auch innerhalb der akademischen Skepsis im wesentlichen unverändert (vgl. Cic. de orat. III 18,67), sie wendet sich hier mit Arkesilaos vor allem gegen den stoischen Dogmatismus (vgl. Cic. Acad. I 12,44; Sext. Emp. adv. math. VII.153 ff.), ebenso wie Ainesidemos und die jüngere Skepsis später unter Rückgriff auf pyrrhonische Traditionen wiederum gegen dogmatische Tendenzen der Akademie selbst (Antiochos) vorgehen. Vgl. A. Goedeckemeyer, Die Geschichte des griechischen Skeptizismus, Leipzig 1905; L. Robin, Pyrrhon et le scepticisme grec, Paris 1944. Acad. II 48,147.

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Die veränderte Lage

auf Sokrates", sieht aber ebensowenig wie schon der Epikureismus die Möglichkeit einer konstruktiven Weiterführung der Sokratischen ,Skepsis' im Platonisch-Aristotelischen Sinne und nimmt bezeichnenderweise auch nicht einmal zur Kenntnis, daß die theoretische Philosophie, sofern sie sich unmittelbar in einzelwissenschaftlichen Bemühungen darstellt, gerade in hellenistischer Zeit mit Euklid, Aristarch, Eratosthenes, Archimedes, Apollonios und Hipparch ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat.*2 Kein Zweifel, daß nicht kritische Prüfung und Bewahrung, sondern resigniertes Preisgeben des bisherigen, zum Teil kontroversen Wissens diese Epoche griechischen Denkens charakterisiert und folglich auch dessen faktische Auflösung bedeutet. Dieser Auflösung versuchen zwar noch einmal Neupythagoreismus und Neuplatonismus unter Aufnahme starker religiöser Züge entgegenzutreten, doch folgen auch diese mehr konservativen Bemühungen in ihrer Vernachlässigung methodischer und wissenschaftlicher Gesichtspunkte nur wieder der allgemeinen Tendenz ihrer Zeit, indem sie zugleich in spekulativer Absicht gerade jene im Grunde unfruchtbaren Versuche weiterführen, die schon in der unmittelbaren Nachfolge Platons das Schicksal der Akademie bestimmten.23 S1

il

43

So insbesondere Arkesilaos, der Begründer der sogenannten mittleren (oder zweiten) Akademie (zu den antiken Unterscheidungen verschiedener .Akademien' vgl. O. Gigon, Zur Geschichte der sogenannten neuen Akademie, Museum Helveticum l [1944], S. 62 f.): Cic. de orat. III 18,67; de nat. deor. I 5,11; de fin. I 1,2; Plut. adv. Colot. 26.1121 F. Cicero schließt sich diesem akademischen Selbstverständnis ausdrücklich an, ohne dem, was etwa Arkesilaos und Karneades unter .sokratischem' Philosophieren verstanden, wesentlich neue Gesichtspunkte hinzuzufügen. Vgl. dazu W. Burkert, Cicero als Platoniker und Skeptiker. Zum Platonverständnis der .Neuen Akademie', Gymnasium 72 (1965), S. 175—200, bes. S. 185 f. Neben schlichter Ignoranz hat hier zweifellos innerhalb der skeptischen Tradition von Pyrrhon bis hin zu Sextus Empiricus auch jene eigentümliche Vorliebe für das Argument gegen die Verläßlichkeit der sinnlichen Vernehmensweisen eine Rolle gespielt. Mit diesem Argument schien über die Möglichkeit begründbarer Aussagen über die (physikalische) Welt bereits von vornherein entschieden zu sein, ohne daß man sich erst mit den Ergebnissen etwa der Physik oder der Astronomie glaubte auseinandersetzen zu müssen. In diesem Sinne ist etwa auch für Cicero Physik in erster Linie eine ,obskure' Veranstaltung (de orat. I 15,68; vgl. W. Burkert, a.a.O., S. 193 ff., dort auch weitere Stellenangaben), obgleich er ihr andererseits, als einem Teil der traditionellen .theoretischen' Bemühungen, die einem .Weisen' wohl anstehen mögen, auch seinen Beifall nicht versagt (vgl. Tusc. V 24,69; de fin. IV 5,12; ferner rep. I 17,27; de nat. deor. I 3; dazu O. Seel, Cicero. Wort Staat Welt, Stuttgart 1961«, S. 378 ff.). Auf den Zusammenhang von älterem Platonismus und Neuplatonismus ist wiederholt, insbesondere in den Arbeiten Ph. Merlans und C. J. de Vogels, hingewiesen worden; vgl. Ph. Merlan, Beiträge zur Geschichte des antiken Platonismus, Philologus 89 (1934), S. 35—53, 197—214; From Platonism to Neoplatonism, Den Haag I960*; C. J. de Vogel, On the Neoplatonic Character of Platonism and the

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Dem Aristotelismus ist, im Gegensatz zum Platonismus in der Antike, eine solche spekulative Erneuerung erspart geblieben. Er sollte erst später wieder, in seiner arabischen und scholastischen Renaissance, das Platonic Character of Neoplatonism, Mind 62 (1953), S. 43—64; A la recherche des etapes precises entre Platon et le Neoplatonisme, Mnemosyne IV 7 (1954), S. Ill— 122; La theorie de chez Platon et dans la tradition platonicienne, Revue Philosophique 84 (1959), S. 21—39. — Eine umfassende Darstellung bietet jetzt H. J. Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam 1964. Krämer weist in einer sorgfältigen Rekonstruktion der Systementwürfe Speusipps (S. 207 ff.) und Xenokrates' (S. 21 ff.) den innerakademischen Ursprung neuplatonischer Lehren nach, wobei nun gerade diese Rekonstruktion unmißverständlich, wenngleich auch vom Autor selbst so sicherlich nicht beabsichtigt, zeigt, in welch phantastische Spekulationen sich platonisches Denken alsbald verliert. Besonders deutlich wird diese Entwicklung wieder in dem Versuch einer theoretischen Fundierung der praktischen Philosophie (Speusipp; vgl. Krämer, a.a.O., S. 212 ff.), der nunmehr anscheinend konkurrenzlos das akademische Denken beherrscht. Man wird deshalb aber auch Krämers weiterer These, daß dieses Denken seinen Rückhalt schon in Platons (esoterischem) Philosophieren selbst findet (zuerst in: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philos.-hist. Kl., Jg. 1959, 6. Abh.), weiter ausgeführt von K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 1961), kaum vorbehaltlos zustimmen können, denn hier wird wieder auf den Kopf gestellt, was sich als Einsicht in die Ordnung von theoretischer und praktischer Philosophie für Platons (exoterisches) Philosophieren im allgemeinen nachweisen läßt. Jener von Krämer und Gaiser schon als Platonisch bezeichnete »innerakademische' Entwurf überragt zwar alles Schriftliche, das wir von Platon besitzen, an spekulativer Geschlossenheit, läßt aber umgekehrt jene methodische Durchsichtigkeit vermissen, die im Sinne der hier vorgeschlagenen Darstellung gerade die Höhe Platonischen Philosophierens ausmacht. Die bisherige Diskussion über die Bedeutung dieser innerakademischen Lehre ist zudem, auf Seiten der beiden genannten Autoren jedenfalls, belastet durch die unbefangene Übernahme traditioneller Sprechweisen. Als Instrument der .Erklärung' sind diese Sprechweisen aber gänzlich ungeeignet, sie setzen schon voraus, was erst verstanden werden will — in diesem Falle also die platonische Schultradition. Mit anderen Worten: wenn auch Philosophiegeschichtsschreibung kritische Bewahrung zu leisten hat, d. h. imstande sein muß, ihre Beurteilungen gegenüber einem wachen philosophischen Interesse zu vertreten, so wird man sagen dürfen, daß dies im Falle der .geschriebenen' Lehre Platons seit langem mit einigem Erfolg, im Falle einer .ungeschriebenen' Platonischen Lehre aber bisher wenig überzeugend geschehen ist (vgl. meine Gaiser-Rezension: Ontologia more geometrico demonstrata, Philosophische Rundschau 14 [1967], S. 27—40). Wer darum auch die antike Geschichte des Platonismus über Xenokrates und Speusipp hinaus unmittelbar auf Platons authentische Lehrmeinung zurückführen will, der muß zunächst einmal die philosophische Glaubwürdigkeit der .geschriebenen' Platonischen Lehre, sofern sie jener .ungeschriebenen' Lehre nicht entspricht, entkräften. So lange dies nicht gelingt, bleibt dieser Platonismus von Speusipp bis hin zu Plotin in seiner spekulativen Gestalt ein Stück Metaphysik, dessen Verfasser gewissermaßen in der falschen Vorlesung Platons gesessen haben.

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Denken bestimmen, ohne dies jedoch auch hier in einer wesentlich anderen als seiner ursprünglichen Form zu tun. Eine unmittelbare Fortführung der Aristotelischen Philosophie hat es, von manchem, wie z. B. Strabon, beklagt24, über die zumeist auf Ergänzung bedachten Bemühungen Theophrasts und Stratons hinaus kaum gegeben.28 Statt dessen entwickelt sich eine Gelehrsamkeit, die mehr und mehr in historischen und philologischen Darstellungen ihre nach-Aristotelische Aufgabe sieht und schließlich in die nur noch kommentierende Tätigkeit späterer Peripatetiker mündet. Diese Tätigkeit setzt ein mit der Publikation der Aristotelischen Schriften durch Andronikos von Rhodos2* um -50, wird aufgenommen von Peripatetikern wie Boethos von Sidon und Ariston von Alexandreia, fortgeführt von Peripatetikern der Kaiserzeit wie Aspasios und Adrastos, bis schließlich Alexander von Aphrodisias die Reihe der wirklich großen aristotelischen Kommentatoren eröffnet. Man darf in dieser Kommentierung wiederum ein glänzendes Beispiel methodisch-kritischer Bemühungen sehen, wie sie das griechische Denken seit seinem Anfang in vielfältiger Weise auszeichnet, man wird aber auch darin, daß dieses Denken nunmehr in einer bloß wiederholenden Darstellung früherer Leistungen schon sein Genüge findet, erneut ein Zeichen schwindender Kraft und fehlenden Selbstvertrauens erkennen dürfen, das somit bestätigt, was sich auch in anderer Form schon nachweisen ließ. Zweifelnd und beschreibend verliert das griechische Denken (sofern es nicht in spekulativen Entwürfen nach zweifelhafter Erneuerung sucht) seine selbstgesetzte Aufgabe, vernünftige Selbständigkeit wahrhaft zu begründen, wieder aus dem Auge. Wollte man nach Gründen jener, hier nur in groben Umrissen skizzierten Desorientierung und Auflösung griechischen Denkens in Hellenismus und Spätantike suchen, so wird man in erster Linie den Blick wieder auf die Situation der Philosophie zu richten haben, wie sie Platon 24 25

26

Strab. XIII 1,54. Bei Theophrast findet sich unter anderem neben einer ausführlichen Diskussion der Aristotelischen Syllogistik auch eine Darstellung hypothetischer Syllogismen, welche die megarisch-stoische Aussagenlogik vorbereitet haben soll (vgl. I. M. Bochenski, La Logique de Theophraste, Fribourg 1947 [Collectanea Friburgensia XXXII]). Theophrasts Nachfolger Straton wird insbesondere wegen seiner kritischen Selbständigkeit gerühmt (vgl. Plut. adv. Colot. 14.1115B), die sich denn auch im Rahmen der Physik etwa im Umbau der Aristotelischen Theologie und Teleologie deutlich äußert (F. Wehrli, Die Schule des Aristoteles V, Basel 1950, F. 32 if.). Plut. vit. Süll. 26; Porph. vit. Plot. 24. Simplikios (in Arist. Cat. comment. 21,22; 26,17; 30,3; 159,32 etc. Kalbfleisch [Comm. in Arist. Graeca VIII, Berlin 1907]) erwähnt mehrfach einen Kommentar des Andronikos zu den „Kategorien".

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und Aristoteles geschaffen hatten. Wenn es nämlich zutrifft, daß dieser Niedergang nicht zuletzt durch das Auseinandertreten von praktischer und theoretischer Philosophie gekennzeichnet ist, eine Entwicklung, die allem Anschein nach unmittelbar nach Platons Tode, wenn nicht schon zuvor, in der Akademie einsetzte, dann liegen seine Gründe auch bereits in diesem altakademisch-Aristotelischen Denken selbst beschlossen. In der Tat darf man behaupten, daß die Problematik der Ordnung von praktischer und theoretischer Philosophie, so sehr sie auch in später niemals wieder zurückgewonnener Nüchternheit diskutiert wurde, im Grunde sowohl in Platonischer als auch in Aristotelischer Darstellung ungelöst, oder doch zumindest nicht hinreichend deutlich formuliert blieb. So wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich, von Aristoteles ausdrücklich kritisiert, bei Platon gelegentlich durchaus der Versuch erkennen läßt, praktische Einsichten theoretisch zu begründen, und andererseits auch Aristoteles selbst es zumeist bei einem bloßen Nebeneinander praktischer und theoretischer Bemühungen bewenden läßt. Raum für einseitige Entscheidungen, sei es, daß jene Ordnung nun geleugnet oder, im Primat der theoretischen Vernunft, auf den Kopf gestellt werden konnte, blieb in jedem Falle und wurde auch, wie dargestellt, sogleich von den Nachfolgern beansprucht. So wird man denn sagen können, daß diese Denker die wirklich relevanten, von Platon und Aristoteles erstmals deutlich gesehenen Aufgaben nicht fortzubilden verstanden, nicht aber, daß sie darin schon an einem exemplarisch geglückten Vorschlag vorbeigegangen sind. In einem weiteren Sinne aber zerbricht die Einheit der philosophischen Bemühung nicht nur an dem Spielraum, den ihr die Platonische und Aristotelische Diskussion in dieser Frage ließ, sondern auch an dem ungelösten Gegensatz von Platon und Aristoteles selbst. Wie immer man diesen Gegensatz betrachten will — vieles spricht dafür, daß er im Grunde mehr auf Mißverständnissen als auf der Explikation zweier grundsätzlich verschiedener Standpunkte beruht" —, für die Folgezeit blieb entscheidend, daß sich Platon und Aristoteles in wesentlichen Punkten zu widersprechen schienen, und Nachfolge darum zunächst einmal Parteinahme für den einen oder den anderen bedeuten mußte. Wo sie, eben auf Grund des ungelösten Gegensatzes beider, verweigert wurde, geschah dies begreiflicherweise im Rahmen neuer Schulgründungen, mit 27

Vgl. etwa den Hinweis auf die sachliche Verträglichkeit der Platonischen und Aristotelischen Bemerkungen zum Problem der .Existenz' mathematischer Gegenstände, oben S. 37, Anm. 50.

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denen man jetzt dem scheinbar fruchtlosen Streit der Archegeten zu begegnen suchte, ohne ihn, was hier die eigentliche Aufgabe gewesen wäre, damit in einsichtiger Weise beilegen zu können. Entsprechende Versuche, an denen es dabei, insbesondere im neuplatonischen Denken (Ammonios Sakkas28) nicht gefehlt hat, blieben entweder oberflächliche Harmonisierung oder, wie schon bei Antiochos29 und, zumindest der Tendenz nach, auch bei Poseidonios (im Anschluß an Panaitios), eklektisches Stückwerk. Die Geschichte derartiger, zum Teil niemals wirklich ausgeführter Bemühungen reicht dann, in neuplatonischer vorneuzeitlicher Tradition, weiter über Boethius30 bis hin zu Pico della Mirandola, der zeit seines Lebens an einem Werk „De concordia Platonis et Aristotelis" schrieb.81 Um hier wirklich zu einer Überwindung der zwischen Platon und Aristoteles aufgetretenen sachlichen Schwierigkeiten beizutragen, hätte es einer vergleichbaren Ursprünglichkeit des Denkens, einer, für alle ,Späteren* immer schwer erreichbaren Distanz gegenüber früheren, nunmehr geschichtlich wirksamen Unterscheidungen bedurft, und hierzu waren, wie die Geschichte zeigt, die unmittelbaren Erben der Platonisch-Aristotelischen Philosophie offenbar ebensowenig imstande wie ihre späten Erneuerer. Platonismus und Aristotelismus werden damit, über alle gegenläufigen partiellen Neubesinnungen hinaus, zum Schicksal der Epigonen; ihr dogmatisch weitergeführter Gegensatz trägt aber auch im griechischen Denken, dem dieser Gegensatz noch kein »historisches* Faktum, sondern beunruhigende Unentschiedenheit des eigenen Anfangs ist, entscheidend zu der schon erwähnten Desorientierung und Auflösung bei. Weiterhin wird diese Entwicklung gefördert durch die im Hellenismus erfolgende politische Dezentralisierung des griechischen Denkens, das nun vor allem in Alexandrien und Rom eine neue Heimat findet.92 Es stößt dabei vielfach auf fremde Traditionen, gegenüber denen es sich zwar in der Regel zu behaupten vermag, die aber umgekehrt auch nicht ohne Rückwirkung auf seine nunmehr weltbürgerliche Gestalt blei28

28 30 31

Vgl. Hierokles (Sdiüler Plutarchs) bei Photios Bibl. cod. 251, S. 461a24 ff. Bekker. Dazu H.-R. Schwyzer, Art. Plotinos, RE , (1951), Sp.477ff.; K.-O. Weber, Origenes der Neuplatoniker. Versuch einer Interpretation, München 1962 (Zetemata 27), S. 52 ff. (Versuch einer positiveren Beurteilung). Cic. Acad. I 4,17; 6,22; II 5,15; de fin. V 5,14 etc. Vgl. G. Luck, Der Akademiker Antiochos, Bern/Stuttgart 1953 (Noctes Romanae 7), S. 21 ff. De interpr. II 2,3.79 f. Meiser (Comment, in libr. Arist. . , —II, Leipzig 1877/80). „Nullum est quaesitum naturale aut diuinum in quo Aristoteles & Plato sensu & re non conueniant, quamuis uerbis dissentire uideantur"; Conclusiones paradoxae (1), Opera omnia, I—II, Basel 1601, I, S. 56.

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ben konnten. In gewissem Sinne kann man dabei eben Alexandrien und Rom als die beiden Pole bezeichnen, um die sich dieses Denken nun formiert. Ohne nur das Schlagwort von der ,Hellenisierung des Orients* und der ,Orientalisierung des Hellenischen' zu wiederholen", das allzu leicht die westliche Komponente dieser Bewegung vernachlässigen läßt, kann man zur Charakterisierung des alexandrinischen Poles sagen, daß hier das griechische Denken ungewöhnlich starke religiöse Züge annimmt. Diese Wendung bedeutet zwar noch nicht ohne weiteres seine ,Orientalisierung'84, hebt es aber deutlich von jener pragmatischen Wendung ab, die das griechische Denken um seinen römischen Pol vollzieht. Philon und Cicero mögen als die Repräsentanten beider Richtungen angesehen werden35, wobei nicht vergessen werden soll, daß Alexandrien für lange Zeit gerade auch der Mittelpunkt nüchterner fachwissenschaftlicher Bemühungen bleibt, indem es der theoretischen Philosophie im weiteren Sinne, von Euklid bis hin zu Ptolemaios, eine einzigartige 32

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Vgl. H. Bengtson, Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit, München 1965s (Handbuch der Altertumswissenschaft 111,4), S. 443 ff.; W. Theiler, Die Wandlung des griechischen Denkens, in: Historia Mundi 4 (1956), S. 3778.; W. W. Tarn, Hellenistic Civilisation (in Zusammenarbeit mit G. T. Griffith), London 19523, S. 268 ff. E. Norden, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, Stuttgart 1913, S. 112; aufgegriffen von J. Geffken, Der Ausgang des griechischrömischen Heidentums, Heidelberg 1929, S. 225. Bereits Droysen selbst hat im Rahmen seines Epochisierungsvorschlags — unter Fehldeutung von Act. Apost. 6,1 — die Rolle einer Verbindung von Griechischem und Orientalischem stark hervorgekehrt; J. G. Droysen, Geschichte des Hellenismus, I—III, Gotha 1877/782, III, S. 353; vgl. ders., Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, ed. R. Hübner, München 19583, S. 370, 425. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser These vgl. R. Laqueur, Art. Hellenismus, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, I—V, Tübingen 1927—1931*, II (1928), Sp. 1781 ff.; H. Herter, Hellenismus und Hellenentum, in: Das neue Bild der Antike I, ed. H. Berve, Leipzig 1942, S. 334—353; H. Bengtson, a.a.O., S. 289 f. So hat Krämer mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß nicht nur die Logos-Theologie etwa bei Philon, Clemens und Origenes in erster Linie griechische Traditionen im Anschluß an altakademische Lehren weiterführt (Der Ursprung der Geistmetaphysik, S. 264 ff.), sondern auch die Gnosis (zumal im Valentianismus) entgegen ihrer sonst vorherrschenden Einschätzung als eines rein religionsgeschichtlichen Phänomens „ein wichtiges Zwischenglied in der vom älteren zum neueren Platonismus reichenden Tradition" ist (a. a. O., S. 263). Den in Rom lehrenden Plotin wird man als den eigentlichen Repräsentanten des Ammonioskreises (dazu wieder Krämer, a.a.O., S. 293) und im Hinblick auf seine Abhängigkeit von pythagoreisierenden, der Gnosis nahestehenden Schulen (Numenios von Apameia, vgl. Porph. vit. Plot. 17; 18,2) der alexandrinischen Richtung zuweisen dürfen.

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Die ver nderte Lage

Heimstatt bietet", und umgekehrt auch das r mische Denken griechischer Provenienz, etwa mit Seneca, Epiktet und Marc Aurel, sich in zunehmendem Ma e religi sen Tendenzen ffnet. So konvergieren denn schlie lich sowohl die Endphasen stoischen, epikureischen und skeptischen Denkens als auch die spekulative Synthese des Neuplatonismus in einer dem griechischen Denken urspr nglich fremden religi sen Innerlichkeit und schaffen hierin eine ungemein g nstige Voraussetzung f r die mit der Apologetik nunmehr einsetzende und die folgenden Jahrhunderte in einzigartiger Weise bestimmende ,christliche Philosophie*. 2.4 Die christliche Desorientierung der Vernunft In der Apologetik, d. h. in der Auseinandersetzung mit dem durch griechische Traditionen bestimmten ,heidnischen* Denken, beginnt christliche Fr mmigkeit zum ersten Male, nach einer mit den apostolischen V tern zun chst einmal abgeschlossenen Gemeindephase, zu philosophieren. Der von allen Apologeten, mit Einschlu Tertullians vertretene Anspruch, im Namen der »wahren Philosophie' schlechthin zu sprechen37, findet dabei seinen Halt in der berzeugung, da auch diese christliche Fr mmigkeit vern nftig, d.h. vern nftig artikulierbar sei. Eine solche berzeugung l t zwar, wie die Geschichte des christlichen Denkens dann alsbald zeigen wird, noch manche Modifikationen zu, erkl rt aber auch den f r das gesamte europ ische Denken schlie lich so 36

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Zentrum seit -280 ist hier das von Ptolemaios I Soter nach akademisch-peripatetischem Vorbild (Demetrios von Phaleron) gegr ndete Museion. Vgl. M ller-Graupa, Art. Museion, RE XVI.l (1933), Sp. 801 ff.; E. A. Barber, Alexandrian Literature, in: The Cambridge Ancient History VII, Cambridge 1928, S. 248 ff., und, im selben Band, (W. H. S. Jones)/Th. L. Heath, Hellenistic Science and Mathematics (V. Alexandria: Euclid, Aristarchus, Archimedes, Apollonius of Perga), S. 297 if. So insbesondere Justin, Dial. c. Tryph. 8; vgl. Dial. c. Tryph. 2; I. Apol. 44; Euseb. Hist. eccl. IV 11,8; ferner Tatian, Orat. 31 f., 42. Bei Clemens von Alexandrien und Origenes erscheint die Philosophie bereits mehr in der Rolle einer .Wegbereiterin' (vgl. Clem. Strom. I 5.28,3; I 16.80,6; VI 6.44,1; VI 17.153,1 etc.), doch steht ihr mit der christlichen (ihrer Herkunft nach stoischen) Weisheit (σοφία) ein nicht weniger .philosophisches' Ziel gegen ber (ή σοφία δε επιστήμη θείων και ανθρωπίνων και των τούτων αίτιων, Clem. Strom. I 5.30,1). Tertullians philosophiefeindliche Polemik (de praescript. haeret. 7; de an. 3 etc.) ist in erster Linie gegen eine vermeintlich stets .h retische' Neigung der Vernunft (insbesondere in deren historischer Gestalt) gerichtet, schlie t aber die Forderung nach einer .vern nftigen' Darstellung auch christlicher Positionen nicht aus. Diese Darstellung soll lediglich in den Grenzen des Glaubens erfolgen, womit — im terminologischen Rahmen von fides, ratio und auctoritas — nichts anderes als die .lateinische' Geschichte .christlichen Philosophierens' beginnt. Vgl. O. Bardenhewer, Geschichte der altkirchlichen Literatur, I—III, Freiburg 1902, II, S. 339 ff.; R. Seeberg, Lehrbuch

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entscheidenden und in dieser Form ganz einzigartigen Übertritt christlicher Frömmigkeit aus dem Bereich reiner Religionsgeschichte in den Bereich der Philosophiegeschichte. Im Grunde wird dieser schwerwiegende Schritt, der zwar niemals zu einer völligen Aufhebung einfacher christlicher Religiosität führt, ihr aber im Rahmen der ,Theologie* ein ihrem Ursprünge nach fremdes, philosophisches* Gegenüber verschafft, schon von den Apologeten selbst vollzogen, da ,christliches' Philosophieren im apologetischen Sinne ja nicht nur bedeuten soll, sich auf eine vernünftige Argumentation einlassen, sondern — am deutlichsten etwa bei Origenes38 — auf eine zusammenhängende Darstellung der christlichen ,Lehre* selbst zielt. Diese Darstellung erfolgt dabei, wiederum am prägnantesten bei den Alexandrinern, in unbefangener Übernahme einer Terminologie, die in der griechischen Philosophie, zumal des Neuplatonismus, selbst schon eine keineswegs immer glücklich verlaufene (das soll heißen: kritisch bewahrte) Geschichte hat, und unter ,aufgeklärtem* Gebrauch der Allegorese gegenüber einer ihrerseits ,aufgeklärten', vor allem von Kelsos gegen die christliche Religiosität ins Feld geführten Mythenkritik.39 Man hat in diesem Zusammenhang häufig von einer ,Hellenisierung des Christentums* gesprochen40, die mit der Apologetik beginnt und sich im Grunde in der Verbindung von mythischer Religiosität und seinem Ursprünge nach griechischem Denken in der historischen Gestalt des Christentums bis in unsere Tage hinein fortsetzt. Diese Sprechweise ist gewiß zutreffend, sofern sie genau jene Verbindung im Auge hat, nur scheint sie dabei im Vorgange der Hellenisierung schon etwas vorauszusetzen, das doch erst Produkt dieses Vorganges selbst ist, nämlich ,das Christentum*. Denn was als Hellenisierung in den Schriften

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der Dogmengeschichte, I—IV, Leipzig 1922», I, S. 365 ff.; W. Jaeger, Early Christianity and Greek Paideia, Cambridge Mass. 1961, S. 26 ff. — Der in der Apologetik und auch später noch (Augustin) häufige Hinweis, schon Platon sei im Grunde ein jChrist', dürfte im übrigen weniger ein taktischer Zug gewesen sein, der einen potentiellen Gegner zum Verbündeten macht, als vielmehr Ausdruck der wohl ehrlich gemeinten Überzeugung, sich mit den besten Traditionen des Denkens in Einklang zu befinden. De principiis, ed. P. Koetsdiau (Origenes Werke, I—XII, ed. P. Koetschau u. a., Leipzig 1899—1955, V, Leipzig 1913 [Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte 22]). Vgl. W. Kamiah, Christentum und Geschichtlichkeit. Untersuchungen zur Entstehung des Christentums und zu Augustins »Bürgerschaft Gottes', Stuttgart 1951*, S. 91; W. Jaeger, a.a.O., S. 46 ff. So vor allem A. v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, I—III, Tübingen 1909—19104, I, S. 121 ff. und öfter, bes. S. 349 f.; vgl. W. Jaeger, a.a.O., S. 4 ff.

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Die veränderte Lage

der Apologeten greifbar wird, ist keine partielle, philosophische Umbesetzung gewohnter Positionen, sondern geschichtlicher Anfang dessen, was man bis heute als ,das Christentum* zu bezeichnen pflegt.41 Erst jetzt wird, mit anderen Worten, aus einer bloßen Variante jüdischer Religiosität jene religio Christiana, die sich in deutlichem Unterschied nicht nur zu ,heidnischen', sondern auch zu Jüdischen* Auffassungen weiß.41 Kein Wunder also, daß auch in Zukunft christliches Denken so stark durch griechische Traditionen des Denkens beeinflußt wird, es ist, in seiner geschichtlichen Gestalt, durch die Begegnung mit diesen Traditionen entstanden und wird diese Begegnung etwa im Platonismus Augustins (einem Platonismus, der mittlerweile selbst schon seine ,christliche* Geschichte innerhalb der neuplatonischen Bewegung hat) oder im Aristotelismus Thomas von Aquins auf eine jeweils besondere Weise lediglich wiederholen. Was dabei christliches Denken gleichwohl maßgeblich von griechischem Denken unterscheidet — wenn man hier einmal von dessen hellenistischer Geschichte absieht und allein diejenigen Linien verfolgt, die zuvor unter dem Stichwort der Entdeckung der Vernunft hervorgehoben wurden —, sind in erster Linie gewisse Grundunterscheidungen, wie die zwischen Glauben und Wissen, und eine dem bisherigen vernünftigen Denken zunächst ganz fremde theologische Thematik. Das soll wiederum nicht heißen, daß das griechische Denken, bevor es in seine hellenistische Geschichte trat, ,theologische* Fragen (im weitesten Sinne) und vergleichbare Formen von Religiosität nicht gekannt hätte. So ist etwa in den Platonischen Dialogen häufig im Zusammenhang kosmologischer oder ethischer Fragestellungen von einem ,Gott* (oder ,Göttern') die Rede48, doch weiß sich der vernünftige Glaube des Platonischen Sokrates an ,den Gott* immer mit der eigenen, im Gespräch gerechtfertigten Entscheidung im Einklang und wäre es Platon niemals eingefallen, einen Dialog über die Absichten ,Gottes* mit der Welt zu schreiben. Der Demiurg im „Timaios" ist ein sympathischer, ins Gewaltige gesteigerter 41

Vgl. W. Kamiah, a.a.O., S. 99. Von bewußter Selbständigkeit zeugt neben dem Ausdruck ,religio Christiana' (Tertullian) insbesondere die verbreitete Bezeichnung der Christen als ,genus tertium' (dem Sinne nach erstmalig im Petruskerygma, bei: Clem. Strom. VI 5.41); dazu A. v. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, I—II, Leipzig 19153, I, S. 263 ff. Der Ausdruck tritt zuerst, in Absetzung von jüdischer Religiosität, bei Ignatius von Antiodiien auf (Magn. 10,1.3; Rom. 3,3; Philad. 6,1); vgl. Act. Apost. 11,26. « Vgl. F. Solmsen, Plato's Theology, Ithaca/New York 1942; W. K. C. Guthrie, The Greeks and their Gods, London 1950, S. 333 ff.

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Die christliche Desorientierung der Vernunft

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Handwerker, der alles darein setzt, die Welt so zweckmäßig und schön wie möglich zu machen, aber kein aus dem »Verborgenen* nach einem ,unergründlichen' Ratschluß handelnder christlicher Gott. Ob dieser Demiurgengott , verborgen' oder nicht, »unergründlich' oder nicht handelt, eine Frage, welche die christliche Theologie ja nicht erst seit Luther beschäftigt44, hat weder Platon noch Aristoteles beunruhigt, wie überhaupt, pointiert formuliert (und zweifellos nicht ganz im Einklang mit entsprechenden Platonischen und Aristotelischen Bemerkungen), Theologie bei beiden Denkern gewissermaßen immer als Hilfswissenschaft' auftritt: sie liefert im Bereich der Kosmologie, Aristotelisch gesprochen, einen ,ersten Beweger* und im Bereich der Ethik, Platonisch gesprochen, mit einer ,göttlichen* Idee des Guten ein oberstes Postulat.45 Was nun jene Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen betrifft, so gehört auch sie nicht erst einer späteren Entwicklung an. Die Formel ,credo ut intelligam* Augustins46 (seit Anselm von Canterbury47 zum scholastischen Einmaleins gehörend) legt vielmehr eine Reihenfolge fest, die bereits in der apologetischen Darstellung christlicher Überzeugungen, so vor allem bei Tertullian48, geläufig ist und hier etwa die 44

Die alt- und neutestamentliche, immer auf die Erwartung konkreten Handelns bezogene Redeweise von einem ,verborgenen Gott' (Deuterojes. 45,15; Rom. 11,33 ff.; 1. Kor. 2,7 ff. etc.) verbindet sich bei den Apologeten mit spezifisch griechischen, seit Xenophanes üblichen Spekulationen über die .Eigenschaften Gottes' (vgl. Aristid. Apol. 1,4 f.; Just. I. Apol. 13; II. Apol. 6; Tat. Orat. 4; Theoph. ad Autol. I 3 f.; II 3; Iren. adv. haeres. IV 20,4 etc.). Die Verbindung bleibt auch späterhin gewahrt, wobei nun, zumal in der Scholastik, zusätzliche Betrachtungen, etwa über den .Willen Gottes' (vgl. Thomas, Summ, theol. I qu. 19 art. 4), eine Rolle spielen. Luther sucht dagegen in seiner pointierten Gegenüberstellung von ,deus absconditus' und ,deus revelatus' dem biblischen Sinn derartiger Redeweisen wieder stärker gerecht zu werden (Werke. Kritische Gesamtausgabe, I—, Weimar 1883 ff., [im folgenden kurz WA], XVIII, S. 684 f., S. 689 [de serv. arbit.], XLII, S. 295 [Genesis-Vorles.]). 45 Vgl. oben S. 47. " In Joh. Ev. tract. 40,9 („credimus ... ut cognoscamus, non cognoscimus ut credamus"); serm. 43,4.7 („crede ut intelligas"); vgl. de vera rel. 24,45; de Hb. arbit. II 2,6; in Joh. Ev. tract. 27,7 etc. 47 Proslog, l (Migne, Patrol. Lat. 158,227Bf.); medit. 21 (Patrol. Lat. 158.816C); cur deus homo 1,2 (Patrol. Lat. 158.362B). Ein bei Anselm häufiges sola ratione (monolog. l [Patrol. Lat. 158, 145A]; 33 [Patrol. Lat. 158,188B]; cur deus homo 1,20 [Patrol. Lat. 158.393B]; 11,11 [Patrol. Lat. 158.412B]; vgl. de fid. «in. 4 [Patrol. Lat. 158,272B ff.] etc.) soll nicht die behauptete Priorität des Glaubens wieder in Frage stellen, sondern gegenüber einer theologischen Opposition für den Geltungsanspruch spezieller Überlegungen (Gottesbeweise etc.) werben. Zur bewußten Abhängigkeit von Augustin vgl. monolog. praefat. (Patrol. Lat. 158, 143C f.). 48 Vgl. oben S. 76, Anm. 37.

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bekannte Kritik Galens, eines Zeitgenossen des Kelsos und Irenäus, auf sich zieht.49 In dieser Kritik, mag sie nun selbst mit brauchbaren Unterscheidungen arbeiten oder nicht, macht sich noch einmal jene griechische Selbständigkeit geltend, die im vernünftigen Zugriff keine Ausspaarungen billigen wollte und darum auch, in der Terminologie Kants, lieber die Religion in den Grenzen der Vernunft als umgekehrt die Vernunft in den Grenzen der Religion sah. Eine derartige antithetische Ausdrucksweise entspricht allerdings auch mehr der späteren, scholastischen Diskussion; auf die Patristik bezogen dramatisiert sie nur, was hier noch ganz selbstverständlich erschien: die ruhige Gewißheit des Glaubens einerseits und die ,rationale' Darstellung einer durch Schriftzeugnis und fromme Spekulation repräsentierten ,Lehre* andererseits. Mit anderen Worten: man hält zwar für das eigene Sprechen gegenüber allem heidnischen Denken den Anspruch aufrecht, vernünftig zu sein, doch versteht man darunter in erster Linie nur die Möglichkeit, den eigenen, sich allmählich formierenden Lehrbestand in der Sprache des überkommenen Denkens auszudrücken, nicht aber eine vernünftige Wiederholung auch jener ersten, noch im Bereich jüdischer Religiosität vollzogenen Schritte. Regula fidei und langsam fortschreitende, mit Athanasius zumindest für den Westen zu einem gewissen Abschluß kommende Kanonbildung grenzen hier einen Bereich religöser Gewißheit aus, der von der Vernunft nicht mehr verantwortet wird. Der Schwierigkeit, jenen Schriftenkanon als nicht mehr preisgebbares Fundament zu rechtfertigen, begegnet man dabei nicht, indem man ihn etwa als nachweisbar besten Vorschlag im erweiterten Rahmen einer praktischen Philosophie darzustellen sucht, was etwa so geschehen könnte, daß man in erster Linie immer von einem exemplarischen Handeln, nämlich ,Gottes* oder Jesus', spräche und diese Sprechweise dann seinerseits in einer systematischen Betrachtung über Ziele und Grenzen menschlichen Handelns einsichtig zu rechtfertigen suchte. Statt dessen weist man, einem religiösen Topos folgend, auf seine allen anderen Sätzen und Schriften scheinbar überlegene ,Herkunft', nämlich als ,o£Fenbartes' Wissen, hin.50 Diese Darstellung wendet sich 19

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Zusammenstellung der hier in Frage kommenden Texte bei R. Walzer, Galen on Jews and Christians, Oxford 1949, S. 14 f.; vgl. W. Jaeger, a.a.O., S. 32. Innerhalb der apologetischen Praxis spielt dieser Hinweis von Anfang an eine wichtige Rolle; vgl. z.B. Athenag. suppl. pro Christ. 9; Iren. adv. haeres. II 28,2; III 16,2; dazu August, endiirid. I 4; de consens. evang. I 35,54; epist. ad cath. de sect, donat. (de unit, eccl.) 11,28 etc. Den scholastischen, hier unverändert gebliebenen Standpunkt in dieser Frage bringt Thomas prägnant zum Ausdruck: „auctor sacrae Scripturae est Deus", summ, theol. I qu. l art. 10; vgl. I qu. I art. 8 ad 2.

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zwar niemals, audi später nicht, schlechthin gegen die Forderung, irgendwelche als Wissen ausgegebene Sätze stets einsichtig zu begründen, nur bleiben auch hier wieder gerade die ersten Schritte von einer solchen Forderung verschont. Die scholastische, etwa von Hugo v. St. Victor und Thomas v. Aquin betont vertretene Unterscheidung von , vernünftig' und ,übervernünftig' (also nicht etwa ,unvernünftig')51 täuscht an dieser Stelle über die eigentlichen Schwierigkeiten nur hinweg. Denn auch diese Unterscheidung muß sich ja vernünftig vertreten lassen, und wie kann sie dies, wenn mit ihr die Vernunft gerade entmündigt werden soll. Neben derartigen Unterscheidungen, die einem beibehaltenen religiösen Interesse in dessen vermeintlicher Unhintergehbarkeit" zu entsprechen suchen, ist es nun aber vor allem die christliche Thematik selbst, welche diesem Denken seinen besonderen Charakter verleiht. Im Vordergrund stehen von Anfang an das Trinitätsproblem und seine Weiterführung im Rahmen der Christologie, Fragen also, die einerseits ihre Motivation ausschließlich in religiösen Traditionen finden, andererseits aber auch erst aufzutreten pflegen, wenn diese Traditionen nicht mehr unmittelbar nur fortgesetzt, sondern selbst zum Gegenstand eines von praktischer Religiosität wieder mehr abrückenden Denkens werden. Was als Beziehung zwischen ,Gott', ,Sohn* und ,heiligem Geist' im Anschluß an den liturgischen Gebrauch triadischer Formeln im „Neuen Testament"43, zunächst noch unbefangen metaphorisch verstanden werden konnte54, 51

Hugo v. St. Victor, de sacr. I 3,30 (Patrol. Lat. 176,231Cff.); vgl. M. Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, I—II, Freiburg 1909/1911, II, S. 282; Thomas v. Aquin, de verit. I qu. 14 art. 10 ad 7; summ, theol. I qu. I art. 5. Diese Unterscheidung ist ihrem Sinne nach im Grunde so alt wie das .credo ut intelligam', d. h. auch sie geht bis auf die Apologetik zurück (insbesondere Tertullian, vgl. de bapt. 2; de carne Chr. 5; vielfach mißverstanden im Sinne der Formel ,credo quia absurdum', vgl. oben S. 76, Anm. 37). M Als unhintergehbar gilt ein Interesse, sofern es sich dogmatisch als ein .natürliches* Bedürfnis versteht und von anderen, auch denen, die dieses Interesse nicht oder nicht mehr teilen, als solches (und sei es nur für andere) akzeptiert wird. Das sogenannte .religiöse Interesse* oder .religiöse Bedürfnis* wird dementsprechend bis auf den heutigen Tag als Gegenstand der Anthropologie aufgefaßt, und zwar in erster Linie immer einer philosophischen (der Behauptung nach nicht-empirischen) Anthropologie, nicht einer hütorisAen Anthropologie, die statt immerfort vom Wesen des Menschen (einem der Behauptung nach unverrückbaren Bedürfnis- und Wertgefüge) zu sprechen, die (historische) Entstehung und Entwicklung von Bedürfnissen und Wertvorstellungen unter bestimmten soziologischen Bedingungen behandelt. » Mt. 28,19; 2. Kor. 13,13. M Vgl. Ignat. Eph. 9,1: Christus als Hebebaum, der .heilige Geist' als Seil, beide dazu dienend, zugerichtete Steine, die Gläubigen nämlich (vgl. 1. Petr. 2,5) auf den Bau .Gottes* zu befördern. 6 Mittelstrais, Neuzeit und Aufklärung

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Die veränderte Lage

wird nun in einer auf terminologische Fixierung bedachten Darstellung christlicher ,Lehre* problematisch und drängt auf Ausgleich in einer philosophischen Sprache, die zu allem Unglück wieder nur die Sprache neuplatonischer Spekulation ist. Diese Sprache beherrscht in einer origenistischen Färbung nicht zuletzt auch die dogmatischen Formulierungen des Nicänums und, über die Kappadokier55 und Augustin hinaus, die des Athanasianums. In der Homousie des Sohnes, d.h. der Auf f assung einer substantiellen* Einheit von , Vater' und ,Sohn', und der Augustinischen Lehre des ,Hervorgehens' von ,heiligem Geist' aus , Vater' und ,Sohn'5e verbinden sich in einer für das christliche Denken nunmehr charakteristischen Weise Zeugungsmetapher und ouaia(substantia)Spekulation und werden darin zur Grundlage einer Theologie, die eher die Sorgen einer zeitgenössischen spekulativen Philosophie als die einer praktischen Religiosität zu teilen scheint. Sofern man weiterhin davon ausgehen darf, daß auch der Glaube vor allem nach einer Orientierung im Handeln sucht und für diese Orientierung theologische Fragen wie die soeben erwähnten keine Rolle spielen, da ihre Erörterung im Grunde gar nicht in der Lage ist, praktisches Handeln zu fundieren, bedeutet die mit den Apologeten einsetzende Theologisierung einfacher Frömmigkeit jetzt nichts anderes als deren Theoretisierung, womit sich christliches Denken in einer befremdlichen Weise nicht etwa als praktische Philosophie, wie man erwarten sollte, sondern als theoretische Philosophie zu etablieren beginnt.57 Natürlich geschieht dies auch wieder nicht im wahrhaft strengen Sinne. So ist etwa die christliche Sündenund Gnadenlehre zweifellos Ausdruck einer ursprünglich überaus praktischen' Fragestellung, nämlich der nach der Möglichkeit ,schuldhafter' (jschuldfreier') Handlungsformen und einer Rechtfertigung von Handlungen überhaupt, doch wird man auch hier wieder sagen müssen, daß z.B. der Pelagianismusstreit, der Augustin 418 als Sieger sieht, und der dabei immer im Hintergrund stehende Gedanke der Prädestina55

M

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W. Jaeger spricht nicht zu Unrecht von einem .Christian neoclassicism' (a.a.O., S. 75), mit dem Gregor von Nazianz, Basilius von Cäsarea und Gregor von Nyssa den unbefangen hellenisierenden Tendenzen der Alexandriner (Clemens, Origenes) zusätzliche Geltung verschaffen. De trin. V 11,12; XV 17,29; 26,47; in Joh. Ev. tract. 99,6; epist. 170,4 etc. Zur Homousie bei Augustin vgl. de trin. VII 6,11; VIII 1,2. Auch nach Seeberg ist der ,trinitarische Gedanke' hier „letztlich zu einer unfruchtbaren theoretischen Idee" geworden (Lehrbuch der Dogmengeschichte II, S. 150; vgl. S. 310).

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tion kaum die geeignete Form dafür gewesen sind, wie man über menschliches Handeln und seine Motivationen sprechen sollte. Die Schwierigkeit, mit der man es in derartigen Überlegungen zu tun hatte, ohne sie als solche jedoch recht eigentlich zu erkennen, hängt insbesondere damit zusammen, daß hier immer Sätze über alle möglichen Handlungen formuliert werden sollen, und zwar wiederum theoretische', nicht etwa nur ,empirische' Sätze. Die Grenzen menschlichen Handelns werden dabei gewissermaßen niemals von ,innen', in einer Betrachtung möglicher Handlungszusammenhänge selbst, sondern immer von ,außen', nämlich durch Erwägungen zu bestimmen versucht, die einen ganz anderen Kontext als den einer gemeinsamen Verständigung über Ziele und Zwecke menschlicher Handlungen zu verlangen scheinen. Eine Lehre von ,Gott', nicht eine Lehre vom Menschen tritt hier begründend auf, womit dann nicht zuletzt auch jene eigentümliche Tendenz christlichen Denkens in Richtung auf ein theoretisches Philosophieren zusammenhängt. Dieses Philosophieren, das dabei immer in einer schlichten Frömmigkeit und später vor allem im Mönchtum ein unphilosophisches Komplement besitzt, prägt sich etwa in der (scholastischen) Diskussion über die Eigenschaften Gottes, im fruchtlosen Geschäft der Gottesbeweise und insbesondere in der leeren Pracht der analogia-entis-Spekulation aus, in der die Aristotelische Verklammerung von Theologie und Ontotogie noch einmal eine unerwartete Erneuerung findet. Nun mag es immerhin möglich sein, auch in solchen theoretischen Erwägungen noch Motivationen aufzuweisen, die christliches Denken in seiner geschichtlichen Gestalt schließlich doch wieder als eine besondere Form praktischen' Philosophierens verstehen lassen. Denn wenn dieses Denken für sich in Anspruch nimmt, eine Antwort auf die Frage, ,wie es um den Menschen bestellt sei', zu wissen, dann muß diese Antwort am Ende auch in irgendeiner Weise ,praktisch' ausfallen, d. h. neues Handeln ermöglichen. Tatsächlich geht es denn auch ,dem Christentum', zumal in seiner philosophierenden Gestalt, von Anfang an um den Aufweis eben dieser Ermöglichung — was man wiederum so verstehen darf, daß hier nach wie vor allein über den Menschen, wenn auch auf einer gewiß ungewöhnlichen Ebene, gesprochen wird. Nicht vom Menschen in seinem faktischen, sondern seinem geforderten Wesen wäre demnach in dieser Theologie die Rede, wobei etwa die Frage, welche Forderungen sich billigerweise an den Menschen, d. h. sein Handeln, stellen lassen und welche Forderungen gestellt werden müssen, damit gemeinsames Handeln wahrhaft möglich wird, aufgefaßt wäre als die Frage ,was will 6'·

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Gott mit uns?'. Nun würde es zweifellos zu weit führen, in dem hier interessierenden Zusammenhang eine solche Interpretation, die manchen modernen Entwicklungen, insbesondere innerhalb der protestantischen Theologie (im Anschluß an Bultmann) nahestünde und Theologie schließlich als besondere Form einer philosophischen (nicht-empirischen) Anthropologie verstehen ließe, schon auf die vorneuzeitliche christliche Philosophie und Theologie hin zu versuchen. Ein derartiger Versuch, in dessen Rahmen selbst die scholastische Diskussion der Eigenschaften »Gottes* als begrenzte Diskussion ,menschlicher' Tugenden aufzufassen wäre, müßte ohnehin immer damit rechnen, die tatächlichen Intentionen derer, die dieses Denken repräsentieren, zu verfehlen. Dies bedeutete dann allerdings nicht, daß sich dieses Denken nicht doch in irgendeiner Weise so verstehen ließe, wohl aber, daß es sich in seinen Repräsentanten primär nicht so verstanden wissen wollte. Die besondere Lage, die mit dem Eintritt christlicher Frömmigkeit in die Philosophiegeschichte geschaffen wurde, kommt nun aber nicht allein in einer, dem griechischen Denken zunächst fremden und gegenüber einer hier nur in aller Kürze angedeuteten Interpretation eigentümlich sperrigen Thematik zum Ausdruck, sondern auch darin, daß sich christliches Denken alsbald mit politischer Macht verbindet. Es findet seinen Rückhalt in Kirche und ,Schulen' und erfährt hier eine Institutionalisierung, wie sie innerhalb des europäischen Denkens bisher ohne Beispiel war. Eine sorgsam immer wieder aufs neue bestimmte Zuordnung von Glauben und Wissen umschreibt dabei in dogmatischer Absicht den Spielraum, der einer Beantwortung jener Fragen nach den Bedingungen des Wissens und den Bedingungen des richtigen Handelns noch offensteht, tritt also schon an einer Stelle Begründend' auf, wo es im griechischen Sinne gerade erst um die Möglichkeit von praktischer und theoretischer Begründung selbst gehen sollte. Kein Wunder, daß deshalb auch die zweite Aufklärung in weitaus stärkerem Maße als die erste religionskritische Züge zeigt, ohne dabei — entgegen einer weitverbreiteten Ansicht — selbst etwa von Grund auf unreligiös zu sein. Der Atheismus, wie ihn z.B. Lamettrie und Holbach vertreten, ist — sogar noch innerhalb der französischen Variante der Aufklärung — für das 17. und 18. Jahrhundert weit weniger charakteristisch als der Versuch, einer »natürlichen Religion* gegenüber dem dogmatischen und politischen Übergewicht der Kirche freien Raum zu schaffen. Noch Kants Kritik am statutarischen Kirchenglauben' weist in diese Richtung" und nimmt dabei Gedanken auf, die schon von Voltaire und Rousseau,

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den englischen Deisten (Herbert von Cherbury, Toland etc.) und der ohnehin ihrem Charakter nach frommen deutschen Aufklärung (Leibniz, Reimarus etc.) vertreten wurden. Was immer dabei auch unter ,natürlicher Religion* verstanden werden mochte, ihr Programm wandte sich in erster Linie niemals gegen ,die Religion* selbst, d. h. eine Frömmigkeit, die von nun an für eine Weile zwischen schlichtem Glauben und kunstvoller Theodizee einen ,moralisdien* Weg zu gehen suchte5*, sondern gegen eine autoritätsgläubige und von Autoritäten, nicht zuletzt der ,Schrift* selbst, beherrschte Tradition. Dabei erhält der Versuch, dem Denken im Rahmen einer zweiten Aufklärung erneut zu einer vernünftigen Unbefangenheit und Ursprünglichkeit zu verhelfen, eine charakteristische Nuance noch dadurch, daß er — im Unterschied zur griechischen Aufklärung — gegenüber einer Tradition erfolgt, die selbst erst auf dem Boden vernünftigen Denkens entstanden ist und diese Herkunft, zumindest auf ihrer philosophierenden Seite, auch niemals verleugnet hat. Die innerhalb der protestantischen Theologie seit Luther geübte Diffamierung der Vernunft, die nicht zuletzt gerade diese Herkunft zugunsten einer erneuerten ,urchristlichen* Frömmigkeit wieder zu annullieren sucht, bildet in diesem Falle nur eine extreme, im Grunde illusionäre Ausnahme. Denn dieser Versuch verwechselt nicht nur in seiner an sich verständlichen Frontstellung gegenüber allem Dogmatismus von ,Kirche* und ,Schulen* Vernunft mit .schlechter* Aufklärung, er verbietet sich strenggenommen auch selbst den Mund. Darüber hinaus korrespondiert hier dem ,sola fide* nur wiederum ein dogmatisches ,sola scriptura', das alle Selbständigkeit im bisher berührten Sinne von vornherein auszuschließen scheint. Kein 58

s
die Subjunktion ,wenndann', > die gr er-Beziehung, ^ die definitorische quivalenz, ε die Kopula ,istc darstellt und v, μ und ρ Indizes f r Zeiten sind) lassen sich die beiden Definitionen wie folgt wiedergeben: DI : Bewegung ε gleichf rmig ^ / \

. tv = ΐμ -» sv = 5μ .

(gleiche Indizes besagen: die in der Zeit t v zur ckgelegte Strecke s v )

D -_

· ·

'/ A

v>

\\ Λ

γν ^ γ Λ ν ^> Λ..

· folgt dann logisch / \ tv>

n mlich AI.

. tv > ίμ -> Sv > 5μ -

V

Da D> bei Galilei nicht ausdr cklich neben DI angegeben wird, schw cht die Behauptung, da A! aus DI logisch folge, nur geringf gig ab. Die Weise, in der diese Behauptung getroffen wird, macht deutlich, da allgemein bekannte Definitionen wie D> offenbar nicht eigens unter den Pr missen aufgef hrt werden sollen. Sie werden vielmehr als bekannt vorausgesetzt. Ein wenig anders verh lt es sich bei AH- Auch ΑΠ, wo im Gegensatz zu AI nicht von Zeiten auf Strecken, sondern umgekehrt von Strekken auf Zeiten geschlossen wird, folgt nicht ohne eine zus tzliche Annahme aus DI. In diesem Falle handelt es sich jedoch nicht nur um eine weitere, als bekannt vorausgesetzte Definition (erneut wird auch hier von D> Gebrauch gemacht), sondern um eine Erg nzung von DI selbst. Damit An aus DI logisch folgt, mu DI lauten: „Ich nenne diejenige Bewegung gleich oder gleichf rmig, bei der die in irgendwelchen gleichen Zeiten vom bewegten K rper zur ckgelegten Strecken untereinander gleich sind und bei der gleiche Strecken in gleichen Zeiten zur ckgelegt werden". D.h. DI mu symmetrisch sein; anstelle der Subjunktion -» mu die Bisubjunktion ä = b (7) a = b -» a b (8) aä4:res wäre (8) demnach wiederzugeben durch Vx. a ( )

81 82 83

a(x).

schriebenen „Discours de Mitaphysique" darstellen; vgl. L. Couturat, a.a.O., S. 344 f.; G. H. R. Parkinson, a.a.O., S. XXVI); in denselben Zusammenhang gehören neben C. 259—264 auch einige spätere, vermutlich um 1690 entstandene Arbeiten: Principia Calculi rationalis, C. 229—231; Primaria Calculi Logici fundamenta, C. 235—237 (dazu C. 232—235); Fundamenta Calculi Logici, C. 421—423. Vorwiegend syllogistischen Studien sind gewidmet: Mathesis Rationis, C. 193—206; De formis syllogismorum Mathematice definiendis, C. 410—416; eine unter dem Titel „Definitioncs Logicae" (nach J. E. Erdmann, G. W. Leibniz, Opera philosophica, Berlin 1840, S. 100) bekannte Studie, Philos. Schriften VII, S. 208—210; Difficultates quaedam Logicae (benannt nach den ersten Worten), Philos. Schriften VII, S. 211—217; vgl. C. 292—321. Datierungsfragen, diskutiert von K. Dürr (Leibniz' Forschungen im Gebiet der Syllogistik, S. l if.), R. Kauppi (a.a.O., S. 195 ff.) und F. Schmidt (G. W. Leibniz, Fragmente zur Logik, ausgew., übers, u. erläut., Berlin 1960 [im folgenden zitiert als Schmidt], S. 516 ff.), sind zusammenfassend behandelt bei G. H. R. Parkinson, a.a.O., S. L ff., dessen sorgfältiges Referat der „Generales Inquisitiones" in diesem Zusammenhang besondere Beachtung verdient (a.a.O., S. XXVI ff.). C. 232 (1690). A.a.O., S. 5 (Manuskript), unter Hinweis auf C. 259,261. C. 394 f.

Von der ars combinatoria zum calculus ratiocinatoi

447

In einer zweiten Interpretation, bei der die Termini nicht als Begriffe, sondern als Aussagen gedeutet werden84, die Inklusion zwischen Begriffen also die Implikation zwischen Aussagen darstellt, vertritt ,Ensc den Wahrheitswert Verum, von Leibniz auch, wegen der hier verwendeten intensionalen Sprechweise, als possihile bezeichnet.85 Extensional entspricht dem Ens, wie ebenfalls notiert wird, necessarmm: ä c Ens < ac necessarium [anstelle von: Ens c a]. Eine zusätzliche Erweiterung des algebraischen Kalküls erfolgt schließlich im Rahmen eines ,Plus-Minus-Kalküls', ursprünglich mit der Überschrift versehen „Non inelegans specimen demonstrandi in abstractis"8', und eines ,Plus-Kalküls'87, die zugleich das anspruchsvollste Ergebnis der Leibnizschen Bemühungen um einen Logikkalkül sind. Im Gegensatz zu allen bisherigen Kalkülisierungsversuchen, in denen eine intensionale Interpretation der Beziehung von Begriffen untereinander im Vordergrund stand, handelt es sich im Falle des ,PlusMinus-Kalküls' um einen reinen Klassenkalkül und damit um eine Dualisierung der Thesen des ursprünglichen algebraischen Kalküls. Das bedeutet, daß statt einer Formel wie a c= b ac c —» a^bc nun die Formel ac b c c: b -» a v cc b auftritt und der Kalkül folgerichtig um eine neue Prädikatkonstante Nihil (für non-Ens) ergänzt wird. Der ,Plus-Kalkül' stellt demgegenüber einen abstrakten Kalkül dar, der, wie Leibniz explizit bemerkt, sowohl extensional als auch intensional gedeutet werden kann.88 In der nun vorgeschlagenen Notation wird dabei die Adjunktion im ,Plus-Minus-Kalkül' durch +, die Adjunktion bzw. (je nach Interpretation) die Konjunktion im ,Plus-Kalkül* durch © wiedergegeben und = (sunt idem bzw. eadem sunt) durch oo oder x> ersetzt (* durch non A oo B oder non A B): „ A + BooL significat A inesse 89 ipsi L vel contineri". Daß + bzw. 0 im ,Plus-Kalkül' sowohl die Adjunktion als auch die Konjunktion bedeuten kann, erschwert natürlich die Lektüre, doch 84

85

86 87 88 89

,A est B' bedeutet dann ,A infert B' oder ,B sequitur ex A' (vgl. C. 407). In C. 259—264 heißt es: „Et cum dico A est B, et A et B sunt propositiones, intelligo ex A sequi B ... Itaque cum dicimus Ex A est B sequitur E est F, idem est ac si diceremus A esse B est E esse F" (C. 260; dazu L. Couturat, a.a.O., S. 355; N. Rescher, a.a.O., S. 10). C. 261. Philos. Schriften VII, S. 228—235; vgl. C. 250—252, 264—270. Philos. Schriften VII, S. 236—247. Philos. Schriften VII, S. 240. Philos. Schriften VII, S. 229 (hier kann + natürlich auch als Konjunktion gelesen werden).

448

Kunstsprache und Logikkalkül

läßt sich grundsätzlich von Fall zu Fall jeweils entscheiden, was gemeint ist. Setzt man z. B. in A0BooL für A , vernünftig', für B ,Lebewesen' und für L ,Mensch', so kann zwar A0B (intensional) vernünftiges Lebewesen und (extensional) die Klasse jener Gegenstände bedeuten, denen , vernünftig' oder ,Lebewesen* (oder auch beides) zukommt, doch ist auf Grund der üblichen Definition von Mensch selbstverständlich nur die intensionale Interpretation in diesem Falle zutreffend. Tatsächlich kommt auch bei Leibniz einmal die ungewöhnliche ,extensionale' Redeweise von Mensch vor. In einer Randbemerkung zum ,Plus-Minus-Kalkül' heißt es, daß Affen unvernünftige Menschen sind, was bei der üblichen Definition von Mensch ein logischer Widerspruch wäre. Mensch bedeutet an dieser Stelle: vernünftig v Lebewesen.80 Neben der Adjunktion tritt innerhalb des ,Plus-Minus-Kalküls' im Unterschied zum ,Plus-Kalkül' die Subtraktion "-, wiedergegeben durch — (gelegentlich auch )91, auf: „Si sit L—AooN, significatur L esse continens, a quo si detrahas A, residuum sit N".92 Danach gilt A—B = C genau dann, wenn A = B + C gilt und B und C zueinander fremd sind. Die Relation der Fremdheit | (incommunicantia sunt) wird damit ebenfalls (zusammen mit der Prädikatkonstanten Nihil) neu eingeführt; sie besteht, wenn a b = non-Ens (Nihil). Daß diese Relation hier tatsächlich erforderlich ist, läßt sich leicht dadurch verdeutlichen, daß aus A + C = L keineswegs schon L—A = B folgt. Sind A und B nämlich miteinander verträglich (compatibilia sunt oder communicantia sunt), d. h. haben sie einen gemeinsamen Teilbegriff, etwa C, dann folgt aus A + B = L nicht L—A = B, sondern L—A = B—C. Erst wenn A und B nicht miteinander verträglich sind, d. h. zwischen ihnen die Relation | besteht, folgt auch L—A = B.93 Daß A—B = C genau dann gilt, wenn A = B + C gilt und B und C zueinander fremd sind, ist daher eine der Thesen des Kalküls: a L- b = c * - > a = b v c A b | c . 12.6 Das Leibnizprogramm und seine Geschichte Mit seinen logischen Studien, die hinsichtlich der Vielfalt ihrer methodischen und inhaltlichen Ansätze über das hier Geschilderte im übrigen weit hinausgehen, hat Leibniz den für sein wissenschaftstheoreti90 91

92 93

Philos. Schriften VII, S. 232 f. Vgl. C. 251 f. Philos. Schriften VII, S. 229. Vgl. C. I. Lewis, a.a.O., S. 16 ff.; W. Kneale/M. Kneale, a.a.O., S. 340. Ein instruktives Beispiel findet sich in C. 251 f.

Das Leibnizprogramm und seine Geschichte

449

sches Gesamtkonzept wichtigen Nachweis geliefert, daß das Programm eines bloß schematischen Operierens mit Begriffen durchführbar ist. Zusammen mit dem Infinitesimalkalkül, einem Spezialfall der arithmetischen Kalkülisierung bestimmter geometrischer Aufgaben wie etwa der Tangentenbestimmung, stellt der Leibnizsche Logikkalkül insofern auch das bereits geleistete Stück dieses Programms dar. Und in dieser Form, so zeigt sich alsbald innerhalb der Geschichte der Logik (und der Physik, wie man im Blick auf die analytischen Systeme des 18. Jahrhunderts sagen darf), hat dieses Programm auch eine Zukunft. Die Orientierung am Modell der Algebra (im nachhinein gesehen der Entwicklung der modernen formalen Logik eher hinderlich als förderlich) bleibt dabei ebenfalls bis ins 19. Jahrhundert hinein maßgebend; den völligen Mangel einschlägiger Publikationen auf Seiten Leibnizens ersetzt zunächst eine Briefwechseltradition, an deren Anfang insbesondere die Korrespondenz zwischen Leibniz, Oldenburg und Tschirnhaus steht. Und mehr noch. Mit der Dualisierung des algebraischen Kalküls im Rahmen des ,Plus-Minus-Kalküls' hat Leibniz, wie bereits bemerkt, den ersten Schritt von einer (intensionalen) BegrifFslogik zu einer Klassenlogik getan. Dieser Schritt ist zwar ohne historischen Einfluß geblieben — G. Ploucquet, J. H. Lambert und G. F. Castillon setzen zunächst noch die für Leibnizens Denken im ganzen gesehen charakteristisch gebliebene intensionale Deutung logischer Kalküle fort —, doch verbindet er sich später mit den Arbeiten A. de Morgans und G. Booles, in denen das jLeibnizprogramm'94, hier verstanden als das Programm einer Kalkülisierung der Logik, auf nunmehr klassenlogischer Grundlage erstmals in größerem Umfang, wenn auch innerhalb einer ausschließlich mathematischen Tradition, erfüllt erscheint. Nun ist bekannt, daß weder mit der Algebraisierung der Logik noch mit dem Wechsel von einer (intensionalen) Begriffslogik zur Klassenlogik schon das letzte Wort bei der Bemühung um einen vollständigen Logikkalkül gefallen ist. Frege erkennt vielmehr, daß sich die logischen Beziehungen zwischen Aussagen nicht auf solche beschränken lassen, die in einer Arithmetik mit 0 und l (wie in der Booleschen Algebra) repräsentiert werden können, und quantorenlogische Erörterungen die bisherige Orientierung an algebraischen Strukturen als inadäquat erweisen. Er zieht daraus die richtige Konsequenz, formale Logik in94

Vgl. H. Scholz, Leibniz, Jahrbuch der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Leipzig 1942, S. 205—249 (= Mathesis universalis, S. 128—151).

29 Mittelstrass, Neuzeit und Aufklärung

450

Kunstsprache und Logikkalkül

haltlich nicht mehr als einen Teilbereich der Mathematik zu verstehen und damit auch die historische Bindung an die Mathematik wieder zu lösen. Schröders „Algebra der Logik" stellt den letzten Versuch dar, diese Bindung beizubehalten; seine und Booles Algebraauffassung kollidiert mit Freges Kalkülauffassung. Wenn man so will, steht damit Leibniz gegen Leibniz, ein ,Leibnizprogramm', wie es sich auch Frege bewußt zu eigen macht, gegen ein allzu selbständig gewordenes Instrumentarium.05 Damit ist schon angedeutet, daß die mit Frege vollzogene und sich (bereits bei Russell) durchsetzende Lösung der Logik von der algebraischen Struktur keine prinzipielle Revision der Leibnizschen Bemühungen bedeutet. Ohnehin, um in der eben benutzten Metapher fortzufahren: Steht Leibniz gegen Leibniz, so weiß man wenigstens von vornherein, wer im ausgetragenen Konflikt der Sieger ist; er wird Leibniz heißen. Wenn Frege Leibniz richtig verstanden hat, und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, so handelt es sich hier, in der Abkehr von einem zu95

Schröder knüpft wiederholt in historischen Bemerkungen an Leibnizsche Gedanken an, wobei er sich in der Regel auf A. Trendelenburg (Historische Beiträge zur Philosophie, I—III, Berlin 1846—1867) beruft; vgl. Vorlesungen über die Algebra der Logik, I—III, Leipzig 1890—1905 (Nachdruck New York 1966), I, S. 94 f. Unter Hinweis auf die „rechnerische Behandlung der logischen Materie" wird die Linie von Leibniz über Lambert und Ploucquet zu Boole gezogen (a.a.O., S. 119). Frege wiederum weiß sehr genau zwischen seiner eigenen und Booles Position innerhalb des ,Leibnizprogramms' zu unterscheiden, wobei ihm Peanos ,Begriffsschrift' als zusätzliches Kontrastmittel dient: „Boole's Logik ist Logik und nichts als dies. Nur auf die logische Form kommt es ihr an, gar nicht darauf, einen Inhalt in diese Form zu gießen, und das grade ist die Absicht des Herrn Peano. In dieser Hinsicht steht sein Unternehmen meiner Begriffsschrift näher als der Logik von Boole. In andrer Hinsicht kann man auch eine engere Verwandtschaft zwischen der Boole' sehen Logik und meiner Begriffsschrift anerkennen, sofern nämlich der Hauptnachdruck auf das Schließen fällt, was in der Peano'schen rechnenden Logik weniger betont wird. Mit Leibnizschen Ausdrücken kann man sagen: Boole's Logik ist ein calculus ratiocinator, aber keine lingua characterica, die Peano'sche mathematische Logik ist in der Hauptsache eine lingua characterica, daneben auch ein calculus ratiocinator, während meine Begriffsschrift beides mit gleichem Nachdrucke sein soll" (Über die Begriffsschrift des Herrn Peano und meine eigene, Berichte über die Verhandlungen der Königl. sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, math.-phys. Kl. 48, Leipzig 1896, S. 370 f. [= G. Frege, Kleine Schriften, ed. I. Angelelli, Darmstadt 1967 — im folgenden kurz Kleine Schriften —, S. 227]; vgl. Über den Zweck der Begriffsschrift, Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft 16 [1883], Suppl.-Heft I, S. l f. [= G. Frege, Begriffsschrift und andere Aufsätze, ed. I. Angelelli, Hildesheim 19642, S. 98]). Die Bezeichnung ,lingua characterica' ist ein Stilfehler der Leibniztradition; vgl. Ch. Thiel, a.a.O., S. 9; G. Patzig, Leibniz, Frege und die sogenannte „lingua characteristica universalis", Studia Leibnitiana. Supplemcnta III, Wiesbaden 1969, S. 103—112.

Das Leibnizprogramm und seine Geschichte

451

nächst algebraischen Verständnis der formalen Logik, bereits um Interna des ,Leibnizprogrammse, nicht mehr um die Frage, ob es überhaupt durchführbar ist oder nicht. Diese Frage hat schon Leibniz selbst in einem ersten Anlauf positiv beantworten können, und eine von ihm nicht mehr überschaubare Entwicklung hat seine Antwort nur aufs neue bestätigt. Dieser Erfolg kann gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier, gemessen an den ursprünglichen Plänen Leibnizens, nur ein kleiner Schritt getan wurde. Vor allem Leibniz selbst dürfte kaum mit dem zufrieden gewesen sein, was innerhalb der eigenen Bemühungen allmählich als der erste praktikable Entwurf eines Logikkalküls entstand. Neben gewaltigen Inhaltsverzeichnissen zu einer scientia generalis verrät dies vor allem eine Passage aus einem Empfehlungsschreiben an den Herzog Johann Friedrich von Hannover (Oktober 1671), die noch einmal das gesamte Kunstsprachenprogramm jener Zeit umreißt: „In Philosophia habe ich ein mittel funden, das jenige was Cartesius und andere per Algebram et Analysin in Arithmetica et Geometria gethan, in allen seienden zuwege zu bringen per Artem Combinatoriam, welche Lullius und P. Kircher zwar excolirt, bey weiten aber in solche deren intima nicht gesehen. Dadurch alle Notiones compositae der ganzen Welt, in wenig simplices als deren Alphabet reduciret, und aus solches alphabets combination wiederumb alle dinge, samt ihren theorematibus, und was nur von ihnen zu inventiren müglich ordinata methodo mit der zeit zu finden ein weg gebahnet wird".96 Es wäre müßig, wollte man dem nachgehen, was Leibniz im Jahre 1671 tatsächlich an begründeten Ergebnissen vorweisen konnte; es genügt der Hinweis auf den Stand seiner Forschungen um das Jahr 1690, um deutlich zu machen, daß auch hier ein wissenschaftliches Programm seine Realisierung lediglich propagandistisch' antizipiert. Nun sind Empfehlungsschreiben ohnehin, zumal wenn man sie für sich selbst verfaßt, der geleisteten Arbeit stets voraus. Dies gehört gewissermaßen schon zum Begriff der Empfehlung, hat jedoch für den Betroffenen den Nachteil, daß er später an fremden oder auch eigenen Erwartungen gemessen wird, eine Veranstaltung, die dann um so unvorteilhafter ausfällt, je weiter das tatsächlich Geleistete von den Erwartungen entfernt bleibt. Im Falle Leibnizens bewahrt allerdings der logische und mathematische Sachverstand vor allzu voreiligen Beurteilungen in 96

29*

Akad.-Ausgabe II l, S. 160.

452

Kunstsprache und Logikkalkül

dieser Richtung. Zwar ist es richtig, daß Leibniz mehr wollte, daß sich innerhalb seines Kunstsprachenprogramms mit der Kalkülisierung im Grunde nur ein Hilfsmittel verselbständigt hat, ursprünglich dazu vorgesehen, im Rahmen einer umfassenden ars oder scientia (ars characteristica oder scientia generalis) Instrument exakter Forschung zu sein, doch ist das angegebene Programm in seiner damaligen Form ohnehin nicht erfüllbar. Und Leistungen soll man am Erreichbaren, nicht am Unerreichbaren messen. Leibniz selbst bleibt, in seinen Absichten beim Wort genommen, ein ungeeigneter Maßstab für die Leibniz-Kritik. Das Kunstsprachenprogramm der zweiten Aufklärung hat also im Gegensatz zur Erkenntnistheorie jener Zeit tatsächlich ein bedeutsames Ergebnis zustande gebracht: es führt zu einem Logikkalkül und damit zur formalen Logik im modernen Sinne. Demgegenüber bleibt jedoch andererseits die fundamentalere Frage nach dem Anfang des Wissens, gestellt als die Frage nach einer elementaren Methodologie — nach neuerer Einsicht nur in Form einer sprachtheoretischen Bemühung möglich — unbeantwortet bzw. genügen die versuchten Antworten nicht, um auch hier von ersten Ergebnissen sprechen zu können. Die Vermutung, mit Hilfe einer lingua universalis, welche die Vorzüge einer allgemeinen Gelehrtensprache und einer Präzisionssprache zum Zwecke der Forschung in sich vereinigen müßte, könne zugleich das Problem des methodischen Anfangs bewältigt werden, ist unbegründet. Mit ihr täuscht man sich nur über eine nicht beliebig konstruierbare Reihenfolge elementarer Schritte hinweg. Die methodische Vernunft bleibt damit ein Abenteuer, das nur in recht speziellen Fällen, im Falle der Logik auf einer bereits hochtheoretischen Ebene, zu einem guten Ende führt. Wo man, wie Leibniz mit seinem Logikkalkül, einen Faden der Ariadne (filum Ariadnes)97 für weiterreichende Aufgaben gefunden zu haben glaubt, erweist sich dieser Faden als zu kurz. 97

Vgl. Brief aus dem Jahre 1677 an J. Gallois, Akad.-Ausgabe II l, S. 381. In einem Entwurf zu einer Enzyklopädie-Einleitung kommt der propädeutisdie Wert, den sich Leibniz von seiner Logik versprach (und sicher nicht unberechtigt, wenn hierunter mehr als Kalkültheorie zu verstehen wäre), noch deutlicher zum Ausdruck: „Privatim autem tempus est ut Analytices periti absolvant Logicam particularibus inquisitionibus dirigendis aptam, seu FILUM COGITANDI. Nam cum tanta sit hodie praeclararum cogitationum materia, superest tantum ut illis detur forma. FILUM autem COGITANDI voco Methodum quandam facilem et certam, quam sequendo, sine agitatione mentis, sine litibus, sine formidine errandi, non minus secure procedamus, ac si, qui in labyrintho filum habet Ariadnaeum" (C. 420).

2. Das kritische und das spekulative Interesse der Vernunft 13 Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung) 13.1 Kalkül und Begründung Kalküle dienen der Kontrolle inhaltlichen Schließens. Sie sind Hilfsmittel des exakten Denkens, dazu verwendet, Begründungen (Beweise) schematisch nachzubilden. Als ein schematisches bzw. formales Verfahren verleihen sie dem inhaltlichen Denken in seinen einzelnen schließenden Schritten eine Sicherheit, die dieses in der Beschränkung auf nicht formale sprachliche Mittel allein niemals erreichen könnte. Andererseits bedeutet dies aber auch, daß Kalküle, wenn man einmal davon absehen wollte, daß sie in jedem besonderen Fall formale Abbilder inhaltlicher Schlußweisen sind, selbst sinnlos werden. Die Vermutung, Kalküle hätten mit inhaltlichem Denken nichts zu tun, ist nicht weniger irreführend wie die Annahme, Kalküle könnten an die Stelle inhaltlichen Denkens treten, d. h. dieses ersetzen. Weder Leibniz, der in diesem Zusammenhang ausdrücklich von einem filum cogitandi1 spricht, um so den instrumentellen Charakter eines Logikkalküls zu unterstreichen, noch die moderne Kalkültheorie haben dies außer acht gelassen. Dabei mag es wohl in modernen Überlegungen gelegentlich so aussehen, als ob Kalküle zwar inhaltliches Denken nicht ersetzen sollen, dieses jedoch im Rahmen einer Kalkülisierung selbst unerheblich sei. Maßgebend für diesen Eindruck ist eine gegenüber älteren Kalkülisierungsprogrammen veränderte Auffassung von der Rolle inhaltlichen Denkens. Während man früher im allgemeinen davon ausging, daß dieses Denken der Kalkülisierung vorausgehe, d. h. hier immer schon bestimmte Interpretationen (»Bedeutungen' von Grundzeichen) gegeben sein müßten, begnügt man sich nun mit einem informellen Hintergrund; man weiß, was man kalkülisieren will, setzt jedoch keine vollständigen Interpretationen mehr voraus. Das bedeutet aber wiederum 1

C.420.

454

Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)

nur einen graduellen Unterschied zu früheren Auffassungen; inhaltliches Denken fällt auch hier nicht fort, sondern muß in Form einer zumindest intendierten Interpretation beibehalten werden. Man könnte dabei auch von einer unvermeidbaren Teilinterpretation von Kalkülen sprechen, insofern nämlich z.B. die logischen Partikeln wie (und), v (oder), —> (wenn ... dann), / \ (alle) und v (einige), aber auch ein Relationsprädikator wie ,identischc, stets interpretiert sind.2 Wo hingegen eine vollständige Interpretation schon vorliegt, alle Elemente des Kalküls einschließlich seiner Umformungsregeln gedeutet sind, spricht man (in synonymer Verwendung der Termini ,kalkülisieren' und ,formalisieren') von einer formalisierten Sprache oder einem Kodifikat.3 Damit wird zugleich deutlich, daß die Leibnizsche Kalkülauffassung unterscheidungsärmer als die moderne Auffassung ist. Dies ist zwar hinsichtlich des Abstandes von Begründer und moderner Reflexion im allgemeinen nicht erstaunlich, betrifft in diesem Falle aber bereits recht fundamentale Dinge. Die Schwierigkeit, zwischen dem Projekt einer characteristica universalis und dem Kalkülprojekt (zu dem die ars combinatoria am Ende führt) systematisch einleuchtende Grenzen zu ziehen, liegt ja nicht nur daran, daß das erstgenannte Projekt über programmatische Erklärungen kaum hinauskam, sondern gerade auch daran, daß auf dem Hintergrund neuerer Unterscheidungen eine characteristica universalis offenbar eine formalisierte Sprache werden sollte, Kalküle wiederum wegen ihrer starken Bindung an inhaltliches Denken ein Stück formalisierte Sprache bleiben mußten. Der Mangel liegt hier zweifellos 2

3

Hierzu findet sich bereits bei Frege ein klares Votum: „Uneingeschränkt formal . . . ist die Logik gar nicht. Wäre sie es, so wäre sie inhaltlos. Wie der Geometrie der Begriff Punkt angehört, so hat auch die Logik ihre eigenen Begriffe und Beziehungen, und nur dadurch kann sie einen Inhalt haben. Diesem ihrem Eigenen gegenüber verhält sie sich nicht formal . . . Der Logik gehören z. B. an, die Verneinung, die Identität, die Subsumtion, die Unterordnung von Begriffen. Und hierbei duldet die Logik keine Vertauschung. Man wird in einem Schlüsse zwar Karl den Großen durch Sahara, den Begriff König durch Wüste ersetzen können, sofern die Wahrheit der Prämissen dadurch nicht aufgehoben wird; aber man wird so die Beziehung der Identität nicht durch das Liegen eines Punktes in einer Ebene ersetzen dürfen. Denn von der Identität gelten logische Gesetze, die als solche nicht unter den Prämissen aufgezählt zu werden brauchen, und diesen würde auf der ändern Seite nichts entsprechen" (Über die Grundlagen der Geometrie, Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 15 [1906], S. 428 [= Kleine Schriften, S. 322]). Vgl. R. Carnap, Logische Syntax der Sprache, Wien 1934; A. Church, Introduction to Mathematical Logic I, Princeton 1956, S. 2; H. A. Schmidt, Mathematische Gesetze der Logik I (Vorlesungen über Aussagenlogik), Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. XI.

Kalkül und Begründung

455

in einer nicht hinreichend strengen Unterscheidung zwischen inhaltlich und bloß formal. Da Leibniz gerade erst damit beginnt, logische Systeme so zu bilden, daß sie verschiedene Interpretationen zulassen (in diesem Falle intensionale wie extensionale Deutungen möglich werden, Terme sowohl Begriffe als auch Aussagen darstellen können), tritt dieser Unterschied im Rahmen seiner Kalkülisierungsversuche nur am Rande, im Rahmen seines weiter gefaßten Kunstsprachenprogramms überhaupt nicht auf. Ein weiteres Indiz für die bei Leibniz noch recht enge Bindung von formaler und inhaltlicher Betrachtungsweise ist die Verwendung einer Terminologie, die sonst der Beschreibung deduktiver Systeme dient. Auch im modernen Sinne versteht man zwar unter einem deduktiven System nichts anderes als einen speziellen Kalkül, doch spricht man erst dann anstelle von Ausdrucksbestimmungen (für Grundzeichen, Terme und Formeln eines Kalküls) von Begriffen bzw. Sätzen und anstelle von Umformungsbestimmungen (für Elemente des Kalküls) von einem Deduktionsgerüst, und insofern auch von Axiomen und Schlußregeln, wenn man es nicht mehr mit einem bloßen Formalismus, sondern einer formalisierten Sprache zu tun hat.4 Wie die Beispiele gezeigt haben, faßt demgegenüber Leibniz die Anfänge eines Kalküls von vornherein als Axiome, die Umformungsbestimmungen bzw. Umformungsregeln von vornherein als Schlußregeln auf, d. h. er unterscheidet nicht zwischen einem bloß formalen Aufbau eines Kalküls einerseits und dessen inhaltlichen Interpretationen andererseits. Das schließt nun aber nicht aus, auch im Falle eines Leibnizschen Kalküls von einem formalen Mittel der Begründung zu sprechen. Auch hier werden inhaltliche Schlußweisen formal nachgebildet, wird schematisch operiert, und macht es im Ergebnis nichts aus, daß die Bindung an inhaltliche Schlußweisen nicht erst nachträglich, in einem methodisch zweiten Schritt, vollständig erfolgt, sondern in der Regel von Anfang an gegeben ist. Die Rolle von Kalkülen als eines Kontrollverfahrens für inhaltliches Schließen wird auf diese Weise nur um so deutlicher, ihr Charakter eines Hilfsmittels wird unterstrichen. Dabei handelt es sich wiederum nicht nur um irgendein Hilfsmittel, das dem inhaltlichen Denken von Seiten der Logik zusätzlich zur Verfügung gestellt wäre, sondern um eine fundamentale Erweiterung der formalen Logik selbst. Faßt man die formale Logik als Theorie des for4

Dazu A. Church, a.a.O., S. 47 ff.

456

Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)

malen Begründens auf, so beschränkte sich diese Theorie bislang im wesentlichen auf die Frage, wann für eine bestimmte Klasse von Sätzen, nämlich die der generellen und partikularen Sätze einschließlich ihrer Verneinungen, zwei Sätze formale Gründe eines dritten Satzes heißen durften.5 D.h. unter einer Theorie des formalen Begründens war stets Syllogistik zu verstehen, was zugleich eine Beschränkung auf ganz bestimmte Schlußformen bedeutete. Wie weit diese Beschränkung ging, läßt sich z. B. schon dadurch illustrieren, daß in der Syllogistik folgende Schlußform nicht vorkommt: S

T Es handelt sich hier um die sogenannte Abtrennungsregel, auch modus ponens genannt, die als eine elementare Regel zu den häufigsten Schlußformen innerhalb eines Logikkalküls gehört. Daß diese Formen andererseits recht kompliziert sein können und Kalküle darüber hinaus ohnehin nur in selbst schon hochtheoretischen Betrachtungen (also etwa innerhalb der Mathematik) Anwendung finden, besagt nichts über die Bedeutung dieses erweiterten Verfahrens, eine Bedeutung nämlich, die zunächst einmal nur die Konstruktion von Begründungszusammenhängen selbst und nicht so sehr deren Praktikabilität auch über besondere wissenschaftliche Erfordernisse hinaus betrifft. Wer sich für Begründungen interessiert, weil er sie als den wesentlichen Bestandteil einer vernünftigen Selbständigkeit erkennt, dem kann auch eine Theorie des Begründens nicht gleichgültig sein, und sei es die Theorie des formalen Begründens, in der lediglich die logische Form von Aussagen eine Rolle spielt. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt erneut Leibnizens Bemühungen um einen Logikkalkül, dann wird man sie zwar immer noch als recht spezielle Bemühungen beurteilen, dabei jedoch nicht übersehen, daß es hier gerade um das Generalthema jedes aufgeklärten Denkens geht. Wenn es eine Verpflichtung zur Begründung gibt6, die Aufforderung zur Begründung ein Satz der formalen Ethik ist7, dann gehört auch die Logik als die Theorie des Begründens, einschließlich der formalen Logik als der Theorie des formalen Begründens, zu den Lehrstücken 5 0 7

Vgl. oben S. 53. Vgl. oben S. 1 13 ff. K. Lorenz, Die Ethik der Logik, in: Das Problem der Sprache (ed. H.-G. Gadamer), S. 81—86.

Pascals Theorie des axiomatisdien Verfahrens

457

der Philosophie. Und dies nicht in der Weise, wie etwa Ästhetik noch immer zu den Lehrstücken der Philosophie gehören mag, sondern als ein Teil der Sprachphilosophie, die ihrerseits, wie betont, Grundlegung der Philosophie selbst ist. Anstelle von Philosophie ließe sich dabei natürlich auch vom vernünftigen Denken sprechen, da es bei alledem nicht um die Philosophie als ein besonderes Fach, sondern um die allem vernünftigen Denken gemeinsame Bemühung um methodische Vernunft geht. Nicht nur die Philosophie, jedes Denken, das auf die methodische Durchsichtigkeit seiner Schritte bedacht ist, wird nach dem Maße seiner (auch theoretisch reflektierten) Begründungsleistung gemessen. Der Philosophie fällt dabei nur deswegen eine besondere Rolle zu, weil sie im Gegensatz zu anderen Disziplinen stets auf der Metastufe, niemals auf einer elementaren Objektstufe spricht, in diesem Falle nicht das faktische Begründen, sondern eine Theorie des Begründens ihre Aufgabe ist. Auf der Objektstufe würde sie selbst zu einer speziellen Wissenschaft; spräche sie von der Natur anstatt von der Physik, würde sie selbst Physik, spräche sie vom Recht anstatt von der Rechtswissenschaft, würde sie selbst zur Rechtswissenschaft. So verstanden aber ist die Philosophie eine formale Wissenschaft und formale Logik schon deswegen ein besonders reiner Teil ihres Systems. 13.2 Pascals Theorie des axiomatischen Verfahrens Die Reflexion auf Begründungszusammenhänge im 17. und 18. Jahrhundert wäre dennoch unzureichend charakterisiert, wenn man sagen wollte, sie befände sich von Anfang an auf dem neuzeitlichen Weg zur formalen Logik. Dagegen spricht nicht nur, daß sie in dieser Form erst bei Leibniz beginnt und dann zunächst, von der traditionellen Lehrform der Logik unbeachtet, eine Domäne der Mathematiker bleibt, sondern auch die hinsichtlich des methodischen Selbstverständnisses der neuen Physik naheliegende intensive Diskussion über axiomatisdie Verfahren. Diese Diskussion wird, abgesehen von gewissen Ansätzen bei Leibniz, unabhängig vom Kalkülisierungsprogramm geführt, ja sie erreicht bei Pascal noch vor der Formulierung eines solchen Programms ihre für das gesamte 17. und 18. Jahrhundert maßgebliche Form. Pascal hatte 8 Regeln für das axiomatisdie Verfahren formuliert (seit 1776 in den Auflagen der ,Logik von Port-Royal* berücksichtigt) und dabei zugleich noch einmal das methodische Selbstverständnis eines ,Axiomatikers' ungewöhnlich prägnant artikuliert. Die Regeln lauten:

458

Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)

„Regies pour les definitions. — 1. N'entreprendre de definir aucune des dieses tellement connues d'elles-memes, qu'on n'ait point de termes plus clairs pour les expliquer. 2. N'admettre aucun des termes un peu obscurs ou equivoques, sans definition. 3. N'employer dans la definition des termes que des mots parfaitement connus, ou deja expliques. Regies pour les axiomes. — 1. N'admettre aucun des principes necessaires sans avoir demande si on l'accorde, quelque clair et evident qu'il puisse etre. 2. Ne demander en axiomes que des choses parfaitement evidentes d'elles-memes. Regies pour les demonstrations. — 1. N'entreprendre de demontrer aucune des choses qui sont tellement evidentes d'elles-memes qu'on n'ait rien de plus clair pour les prouver. 2. Prouver toutes les propositions un peu obscures, et n'employer a leur preuve que des axiomes tres evidents, ou des propositions deja accordees ou demontrees. 3. Substituer toujours mentalement les definitions a la place des definis, pour ne pas se tromper par Pequivoque des termes que les definitions ont restreints."8 Diese Regeln sind in dem Bewußtsein formuliert, daß es unmöglich ist, alles zu definieren und alles zu beweisen (a tout definir et ä tout prouver)9. Das wäre, wie Pascal mehrfach nachdrücklich betont, die ,wahre Methode', der gegenüber nun der empfohlene Rückgang auf primitive Terme (mots primitifs)10 und klare, d. h. evidente Sätze (principes clairs)11 lediglich als ein Notbehelf, daneben aber auch als Ausdruck der menschlichen Ohnmacht erscheint. Da er andererseits nach Voraussetzung (!) über die ,wahre Methode' keine anderen Angaben zu machen vermag als die, daß jedenfalls Gott über sie verfüge, bleibt es in diesem Falle bei einer Feststellung, aus der nichts folgt. Sieht man von ihr ab, so ist mit den angeführten Regeln die herkömmliche Auffassung von den methodischen Besonderheiten des axiomatischen Verfahrens jedenfalls zutreffend wiedergegeben. Sie ist auch schärfer umrissen, als dies sonst anderswo der Fall ist, doch wäre es ein Irrtum, zu glauben, sie hätte deshalb auch schon an methodischer Klarheit gewonnen. 8

9 10 11

De l'esprit geometrique et de l'art de persuader, OEuvres, S. 356 f. Folgende Regeln werden dabei zusätzlich noch als unbedingt notwendig (d'une necessite absolue) ausgezeichnet: bei den Definitionen (2) und (3), bei den Axiomen (2) und bei den Beweisen (2) und (3); a.a.O., S. 357. Vgl. J. J0rgensen, a.a.O. I, S. 70 f. A.a.O., S. 349. A.a.O., S. 350. Ebd.

Pascals Theorie des axiomatischen Verfahrens

459

Mit seiner Forderung nach Evidenz der ersten Sätze (Axiome) bleibt Pascal recht gesehen Cartesianer, auch wenn er sich sonst von Descartes' Methodologie zu distanzieren sucht; sein Hinweis auf einen vermeintlich unumgänglichen Begründungsverzicht gegenüber ersten Sätzen sowie ,ersten* Definitionen, die konsequenterweise als völlig willkürlich (tres libres)12 bezeichnet werden, läßt ihn darüber hinaus als Vorläufer einer axiomatischen Auffassung erscheinen, wie sie später etwa Hubert vertreten hat. So ist es denn auch nicht weiter erstaunlich, daß ein der Hilbertschen Auffassung so nahestehender Mann wie Scholz in der methodologischen Ergänzung der ,Unbeweisbarkeitc von Axiomen durch die ,Undefinierbarkeit' ihrer spezifischen Terme Pascals entscheidende wissenschaftstheoretische Leistung sehen konnte.13 Dabei zieht Pascal an dieser Stelle in Wahrheit nur Schwächen der bisherigen Diskussion auf sich. Descartes' Rückzug auf eine methodisch nicht weiter kontrollierbare Evidenz von Sätzen wird bestätigt, wobei wiederum außer acht bleibt, was schon Aristoteles betont hatte: daß nämlich Axiome zwar unbeweisbar seien, eben weil sie Anfänge eines Systems von beweisenden Schritten sind, sich ihre Annahme aber gleichwohl begründen lasse. Dieser wichtige Zusatz, der den Angelpunkt einer methodischen Rechtfertigung des gesamten axiomatischen Verfahrens darstellt, fehlt. Desgleichen tritt auch in der Beurteilung der Definitionen und damit der Grundbegriffe eines Systems nur wieder ein alter Fehler auf: Pascal hält im Grunde die Definition für das einzig relevante Mittel, zu elementaren Bausteinen zu kommen. Pascals methodologische Einsichten sind im Falle des axiomatischen Verfahrens damit wenig zuverlässig. Seine Formulierung dieses Verfahrens läßt es, systematisch gesehen, kritikbedürftiger erscheinen, als es in Wahrheit ist. Der (von Scholz applaudierte) Versuch, aus Unzulänglichkeiten eine Tugend zu machen, scheitert. Und noch im Rahmen kritischer Bemerkungen über die vermeintliche Sicherheit des axiomatischen Verfahrens, wie er es selbst dargestellt hat (einbezogen in die ihrerseits einsichtige Kritik an einem häufig fehlgeleiteten Wissenschaftsenthusiasmus jener Zeit), dient Pascal seiner Etablierung mit dem Hinweis, daß es sich durch kein besseres Verfahren ersetzen lasse. Wenn man so will, machen sich also jene Bemerkungen selbst überflüssig. Erst Hilfskonstruktionen 12 13

A.a.O., S. 349. H. Scholz, Pascals Forderungen an die mathematische Methode, in: Festschrift zum 60. Geburtstag von A. Speiser, Zürich 1945, S. 26 (= Mathesis universalis, S. 121).

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Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)

wie die eines Gottes, der eine bessere Geometrie und eine bessere Physik treiben könne, als der Mensch je in der Lage sei, geben ihnen nach Pascals Darstellung den erforderlichen kritischen Rückhalt; doch wer möchte schon ernsthaft behaupten, daß dies legitime Mittel der Wissenschaftskritik sind. Eine allgemeine Betrachtung über die Endlichkeit des Menschen (von der zu reden strenggenommen auch nur gegenüber allzu unvernünftig gesteigerten Erwartungen sinnvoll ist), keine Betrachtung über Methodenfragen im engeren Sinne, bildet — charakteristisch insbesondere für die unter dem Titel „Pensees" zusammengefaßten späten Fragmente14 — den Ausgangspunkt Pascalscher Kritik, wobei es schließlich auch diese Kritik selbst ist, die ihre historische Wirkungslosigkeit erklärt. Nun ist, ganz gleich auf welchem Niveau die Diskussion geführt sein mag, auch das axiomatische Verfahren schon eine sehr spezielle Antwort auf die Frage, wie man Beweise führen, allgemeiner: wie man begründen soll. Wenn es innerhalb der zweiten Aufklärung gelegentlich so aussieht, als wären Geometrie und Physik, die diesem Verfahren in ihrem Aufbau folgen, nicht nur besonders klare Beispiele für exaktes Denken, sondern auch Beispiele dafür, wie ein methodischer Aufbau gleich welcher Disziplin, wenn sie nur Anspruch auf Exaktheit erhebt, auszusehen habe, dann ist das eine Behauptung, die weder durch vorgeführte Begründungsbemühungen noch durch elementarere Betrachtungen über das Begründen eingelöst werden. Der Mangel an schlichten Betrachtungen über das Begründen, d.h. eine Diskussion der Frage, wann Argumente überhaupt Begründungen heißen dürfen und wann nicht, ist dabei auch unabhängig von der Rolle axiomatischer Verfahren besonders auffallend für eine Zeit, die zurecht in der geleisteten Begründung ein Maß für vernünftige Selbständigkeit sah. Allerdings fehlen derartige Betrachtungen nicht völlig; und wieder ist es in erster Linie Leibniz, der wie in der Logik im engeren Sinne, nämlich der formalen Logik, so nun auch hier, der Logik im weiteren Sinne, mit Hegel gesprochen, die erforderliche Anstrengung des Begriffs auf sich nimmt. 13.3 Der logische Sinn des Satzes vom Grunde Unter dem Titel des Satzes vom Grunde hat Leibniz diskutiert, was hier mit vergleichsweise schlichten Betrachtungen gemeint ist. Und 14

Vgl. insbesondere Nr. 199 (= Nr. 72 der Brunschvicg-Edition, Paris 1904), CEuvres, S. 525 ff. (über die beiden Unendlichkeiten, zwischen die der Mensch mitsamt seinem Wissen gestellt sei).

Der logische Sinn des Satzes vom Grunde

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er hat, so lautet nun die Behauptung, die im folgenden noch näher erläutert und ihrerseits begründet werden soll, zunächst einmal nichts anderes mit diesem seltsam sperrigen Titel ausdrücken wollen. Wer, wie das für viele Leibniz-Interpreten (in der Regel kenntnisreiche Philosophiehistoriker) schon nahezu selbstverständlich geworden ist, von vornherein an dieser Stelle mit Ontotogie rechnet (die Fangfrage lautet dann: ,warum ist etwas und nicht vielmehr nichts?'), verlegt sich selbst den Weg zu einer auch systematisch verstehbaren Erläuterung. Unklare Unterscheidungen wie die Unterscheidung zwischen einem ,Seinsprinzipe und einem ,Erkenntnisprinzipf, dazu gedacht, verschiedenen Intentionen des genannten Satzes gerecht zu werden, vergrößern nur die Verwirrung; Leibniz wird (dieser Verdacht läßt sich nur schwerlich beruhigen) mit den sprachlichen Mitteln einer Tradition gemessen, der er selbst systematisch überlegen war. Das bedeutet andererseits nicht, daß Leibniz an dieser Verwirrung unschuldig wäre. Zahllose Hinweise auf den Satz vom Grunde — hier z.B. einer der letzten aus dem 5. Schreiben an Clarke: „Ce principe est celuy du besoin d'une Raison süffisante, pour qu'une chose existe, qu'un evenement arrive, qu'une verite ait lieu"15 — sind ohne eine nähere Erläuterung kaum zu verstehen. Daß diese jedoch auf die erwähnte Unterscheidung von ,Seinsprinzip' und ,Erkenntnisprinzipc hinauslaufen muß, ist eine Behauptung, die man jedenfalls solange zurückstellen sollte, als man sich nicht um eine logisch befriedigendere Erläuterung bemüht hat. Daß diese möglich ist, zeigt der folgende Versuch; ob sie alles (gemeint ist alles, was hier überhaupt an Äußerungen Leibnizens noch in Frage kommt) erklärt, ist eine Frage, die sich glücklicherweise keinem Interpreten vernünftig stellen läßt. In seiner kürzesten und zugleich prägnantesten Formulierung lautet der Satz vom zureichenden Grunde (principium rationis sufficientis), auch einfach Satz vom Grunde genannt: nihil est sine ratione. Er findet sich in dieser Formulierung an zahlreichen Stellen des Leibnizschen Werkes, zum ersten Mal in der Schrift „Theoria motus abstracti" (l670/71 )1 . 15 16

Philos. Schriften VII, S. 419. Theoria Motus Abstracti seu Rationes Motuum universales, a sensu & Phaenomenis independentes (Mainz 1671), Akad.-Ausgabe VI 2, S. 268. Vgl. Philos. Schriften VII, S. 301; C. 11 (1676); C. 25 (Scientia Media, November 1677); C. 515 (Introductio ad Encyclopaediam arcanam); Elementa verae pietatis, sivc de amore Dei super omnia: G. W. Leibniz, Textes inedites, ed. G. Grua, Paris 1948 (im folgenden zitiert als Grua), S. 13; ferner Grua 267 (De existentia [1676?]); Grua 268 (Conversatio

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Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)

Leibniz setzt hier den von ihm als principium nobilissimum17 bezeichneten Satz als bereits bekannt voraus und bemerkt lediglich, daß von diesem auch der Satz, daß das Ganze größer als seine Teile sei, ,abhinge'.18 Wie das zu verstehen ist, erfährt man an dieser Stelle nicht, doch dürfte zunächst wenigstens dies gemeint sein, daß selbst ein Satz wie das 8. Euklidische Axiom noch gegründet* werden kann.™ Das ,nihil est sine ratione* brächte dann aber so viel wie die Aufforderung zu einer solchen Begründung zum Ausdruck, und unter ,Abhängigkeit' des zu begründenden Satzes von einem Satze, der diese Aufforderung enthält, hätte man darüber hinaus die Erklärung zu verstehen, daß ein Satz wie das genannte Axiom auch begründet werden muß. D. h. das hier erwähnte principium nobilissimum bestünde in nichts anderem als der Verpflichtung, gewisse Sätze (hier einen Satz der Geometrie) zu begründen. Natürlich ist dies zunächst wenig mehr als eine kühne Vermutung, eine Vermutung, die sich an dieser Stelle auf keine weiteren Erläuterungen zu stützen vermag und zudem schon dem schlichten Wortlaut des Satzes vom (zureichenden) Grunde nicht zu entsprechen scheint. Mit dem ,nihil est sine ratione' ist, so möchte man sagen, eine Behauptung

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cum Domino Stenonio de Übertäte [27. November 1677]); Grua 287 (De libertate [1680—1682?]); et al. Daneben: ,le Grand principe' (Principes de la Nature et de la Grace, fondes en Raison [1714] § 7, G. W. Leibniz, Principes de la Nature et de la Grace, fondes en Raison. Principes de la Philosophie ou Monadologie, ed. A. Robinet, Paris 1954 [im folgenden kurz Robinet], S. 45 [= Philos. Schriften VI, S. 602]; vgl. S.Schreiben an S. Clarke, Philos. Schriften VII, S. 393); ,le grand principe du pourquoy' (Brief vom 7. Dezember 1711 an N. Hartsoeker, Philos. Schriften III, S. 530); ,le axiome fundamental' (Nouveaux Essais II 21 § 13, Akad.-Ausgabe VI 6, S. 179; vgl. C. 11); ,principium generalissimum' (Brief vom 22. Juli 1687 an O. Mencke, den Herausgeber der „Acta Eruditorum", Akad.-Ausgabe I 4, S. 645). Zur genaueren Bezeichnung als Satz vom zureichenden Grunde vgl. G. H. R. Parkinson, Logic and Reality in Leibniz's Metaphysics, Oxford 1965, S. 63. Dasselbe soll für den Satz ,Gleiches zu Gleichem addiert gibt Gleiches' gelten, C. 514. Daß dies so ist, läßt sich durch Stellen belegen, in denen begriffliche Bestimmungen über ,Teil' und .Ganzes' getroffen werden. Aus diesen Bestimmungen folgt der Satz, daß das Ganze größer als seine Teile sei, logisch (und insofern er logisch aus anderen Bestimmungen folgt, soll dann eben bedeuten, daß er vom Satz vom Grunde .abhängt'): „generaliter si A non est B et B non est A, et primitiva est haec: A est L et B est L idem esse quod C est L, dicitur C totum, A (aut B) pars" (Generales Inquisitiones de Analysi Notionum et Veritatum § 76, C. 377); vgl. Philos. Schriften VII, S. 245 (räumliches Enthaltensein), Schmidt 481 ([Ph. VII B IV, 13r—14r; um 1695] Verhältnis .unvermittelter' [analytischer] und vermittelter' [synthetischer] Sätze).

Grund, Ursache, Ziel

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aufgestellt, die strenggenommen selbst noch einer Begründung bedarf, und keine Forderung erhoben, über deren Tragweite man allenfalls streiten könnte, die es darüber hinaus aber einfach zu erfüllen gelte. In der Tat greift diese Vermutung weit voraus. Sie soll erst im folgenden, verstanden nun als eine These über den Satz vom zureichenden Grunde, genauer dargestellt werden und dabei, in historischer Absicht, die Bedeutung der Leibnizschen Überlegungen in diesem Punkte sowie, in systematischer Absicht, den Sinn vor Augen führen, den ein Satz vom Grunde für alles Denken, das sich , vernünftig' wird nennen dürfen, besitzt. 13.4 Grund, Ursache, Ziel Ausführlichere Formulierungen des Satzes vom Grunde finden sich bei Leibniz unter anderem in der „Monadologie" und in den „Prinzipien der Natur und der Gnade". So heißt es in den Paragraphen 31 und 32 der „Monadologie": „Nos raisonnemens sont fondes sur deux grands PrincipeSy celuy de la contradiction en vertu duquel nous jugeons Faux, ce qui en enveloppe, et vrai ce qui est oppose ou contradictoire au faux. Et celui de la raison süffisante, en vertu duquel nous considerons qu'aucun fait ne S9auroit se trouver vrai, ou existent, aucune Enonciation veritable, sans qu'il y ait une raison süffisante pour quoi il en sok ainsi et non pas autrement. Quoi que ces raisons le plus souvent ne puissent point nous etre connües."20 Ähnlich lautet die Bemerkung über den Satz vom Grunde in Paragraph 7 der „Prinzipien". Sie besagt dort, „que rien ne se fait sans raison süffisante, c'est-a-dire, que rien n'arrive sans qu'il seroit possible a celui qui connoitroit asses les choses, de rendre une Raison qui suffise pour determiner, pourquoi il en est ainsi, et non pas autrement".21 Auf den ersten Blick könnte es so erscheinen, als ob hier unter dem Satz vom Grunde nichts anderes verstanden wäre als ein Prinzip der Kausalität. Er würde besagen, daß sich alles, was ,existiertc oder ,geschieht', als Wirkung einer Ursache auffassen lasse, die aufzuweisen der Satz vom Grunde als Forderung enthielte. Tatsächlich legen auch manche andere Formulierungen eine solche, sich am physikalischen' Schema von causa und eifectus orientierende Deutung nahe. Leibniz selbst betont wiederholt, daß das ,nihil est sine ratione' ,im gewöhnlichen Verstande' auch als ,nihil fit sine causa' bezeichnet werde, und gibt dabei 20 21

Robine: S. 89 (= Philos. Schriften VI, S. 612). Robinet S. 45 (= Philos. Schriften VI, S. 602).

464

Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)

zu erkennen, daß eine solche Formulierung seiner Auffassung des Satzes vom Grunde keineswegs zuwiderläuft.22 Und doch würde man Leibniz mißverstehen, wollte man aus derartigen Bemerkungen eine bewußte Einschränkung des Satzes auf einen physikalisch interpretierten KausalitätsbegrifF herauslesen. Diese Einschränkung ist charakteristisch für Kants Formulierung eines ,Grundsatzes der Kausalität' in der „Kritik der reinen Vernunft"23, entspricht jedoch nicht, wie Kant selbst später zu erkennen gibt24, der Leibnizschen Intention. Für Leibniz ist das Kausalitätsprinzip, etwa im Sinne Kants, ein Spezialfall des Satzes vom Grunde, es bringt lediglich zum Ausdruck, wie man in der Physik nach ,Gründenc suchen soll. Entsprechend tritt in den Leibnizschen Schriften neben einem synonymen Sprachgebrauch von ,ratioc und ,causa* (im Sinne der aristotelisch-scholastischen Tradition) auch ein strengerer, unterscheidender Gebrauch dieser Termini auf, der dann bereits die neuzeitliche, ,physikalistische' Auffassung von causa enthält. So lautet z. B. eine Formulierung des Satzes vom Grunde in der „Theodizee", „daß niemals etwas ohne eine Ursache (cause) oder zumindest einen bestimmenden Grund (raison determinante) geschieht"25; causa, als ratio in natura, ist ratio realis, so wird an anderer Stelle definiert26, womit wiederum deutlich wird, daß im unterscheidenden Gebrauche ratio als Oberbegriff zu causa (im physikalischen Sinne) auftritt. 22

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„Itaque duo sunt prima principia omnium ratiocinationum, Principium nempe contradictionis, quod scilicet omnis propositio identica vera et contradictoria ejus falsa est; et principium reddendae rationis, quod scilicet omnis propositio vera, quae per se nota non est, probationem recipit a priori, sive quod omnis veritatis reddi ratio potest, vel ut vulgo ajunt, quod nihil fit sine causa", Specimen inventorum de admirandis naturae Generaiis arcanis, Philos. Schriften VII, S. 309; vgl. Philos. Schriften VII, S. 301; Brief vom 4./14. Juli 1686 an A. Arnauld, Philos. Schriften II, S. 56 f. (= Leibniz. Discours de Metaphysique et Correspondance avec Arnauld, ed. G. le Roy, Paris 1957 [im folgenden kurz Le Roy], S. 121 f.); Essais de Theodicee, Philos. Schriften VI, S. 127; C. 519. Daß dabei keine wichtigen, gleich noch zu präzisierenden, Unterscheidungen außer acht gelassen werden, zeigt folgender Hinweis: „la cause dans les choses repond a la raison dans les verites. C'est pourquoy la cause meme est souvent appellee raison, et particulierement la cause finale" (Nouveaux Essais IV 17 § 3, Akad.-Ausgabe VI 6, S. 475). Vgl. G. Martin, Leibniz. Logik und Metaphysik, Berlin 19672, S. 16 f.; ferner unten S. 550, 554. Über eine Entdeckung, nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, B 119 ff. (Weischedel III, S. 369 f.). Philos. Schriften VI, S. 127; vgl. die bereits angeführte (oben S. 461) Formulierung aus dem 5. Schreiben an Clarke, Philos. Schriften VII, S. 419. Philos. Schriften VII, S. 289. Vgl. De rerum originatione radicali (23. November 1697), Philos. Schriften VII, S. 302; Conversatio cum Domino Stenonio de übertäte, Grua 269; dazu G. H. R. Parkinson, a.a.O., 65 f.

Grund, Ursache, Ziel

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Doch nicht nur diese Überlegungen zeigen, daß mit den , Vernunfterkenntnissen' (raisonnemens), die auf dem Satz vom Grunde beruhen sollen, keineswegs allein ,physikalische' Sätze gemeint sind. Ausdrücklich heißt es einmal, daß sich „ein großer Teil der Metaphysik (gemeint ist eine rationale Theologie), der Physik und der Ethik" auf diesem Satze ,errichten* lasse27, und unter den Beispielen für eine solche Verwendung kommen denn auch neben physikalischen Sätzen (wie dem 1. Archimedischen Postulat über das Gleichgewicht)28 und dem vielbemühten Esel Buridans20 Erörterungen über Handlungen und deren Motivationen vor. Einer mittelalterlichen Vorliebe folgend, ist dabei in erster Linie immer von Gottes Handeln die Rede, und zwar genauer davon, ob dieses göttliche Handeln in einer vernünftigen, und als solcher auch erkennbaren Absicht, oder aber in einem nicht weiter als vernünftig ausgezeichneten, bloßen Willen beruhe. So hatte im Rahmen der Kontroverse zwischen Leibniz und Clarke letzterer in seiner zweiten Entgegnung erklärt, daß ein zureichender Grund dafür, warum etwas eher so als anders ist, häufig nur im bloßen Willen Gottes gesucht werden könne.30 Dies würde jedoch, so lautet dagegen Leibnizens Antwort, bedeuten, daß Gott „etwas will, ohne daß es für seinen Willen einen zureichenden Grund gäbe", womit zugleich unterstellt wäre, daß Gott auch unvernünftig handeln könnte.31 Weniger theologisch gewendet lautet hier die Leibnizsche These, formuliert im vierten Brief, daß „ein einfacher Wille ohne irgendein Motiv (ein bloßer Wille)" eine Fiktion 27

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Philos. Schriften VII, S. 301. Vgl. 2. Schreiben an Clarke, Philos. Schriften VII, S. 356; Specimen inventorum de admirandis naturae Generaiis arcanis, Philos. Schriften VII, S. 309 (Mechanik); Confessio Philosophi (1673), ed. O. Saame (Gottfried Wilhelm Leibniz, Confessio Philosophi. Ein Dialog. Kritische Ausgabe mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar, Frankfurt 1967), S. 78 (Ethik). 2. Schreiben an Clarke, Philos. Schriften VII, S. 356; vgl. Philos. Schriften VII, S. 301. Dazu F. Kambartel, Der Satz vom zureichenden Grunde und das Begründungsproblern der Mechanik, Zeitschrift für philosophische Forschung 20 (1966), S. 458 ff. Essais de Theodicee, Philos. Schriften VI, S. 129 f.; vgl. Brief vom 19. Dezember 1707 an P. Coste, Philos. Schriften III, S. 402 f. Dazu G.Martin, a.a.O., S. 12 f.; ferner (zur Geschichte dieses .philosophischen' Esels) N. Rescher, Choice without Preference. A Study of the History and of the Logic of the Problem of „Buridan's Ass", Kant-Studien 51 (1959/60), S. 142—175. Philos. Schriften VII, S. 359. Philos. Schriften VII, S. 365. Leibniz hat sich nicht nur gegen ein solch naives Sprechen über ,Gottes' Handeln und Motive gewandt, sondern selbst innerhalb der herkömmlichen Alternative von voluntaristischer und intcllektualistischer .Theologie' Partei ergriffen: „Deus nihil vult sine ratione" (Bodemann, S. 61; vgl. Essais de Theodicee, Philos. Schriften VI, S. 450).

30 Mittelstrass, Neuzeit und Aufklärung

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Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)

sei31, auch Handlungen sich also auf ihre ,Gründe', sprich Motive, hin befragen lassen müssen. In welchem Sinne einige dieser Handlungen dann auch , vernünftig' heißen dürfen, deutet eine andere Bemerkung aus der Schrift „De contingentia" (ca. 1686) an. „Wie sich Gott", so heißt es hier, „selbst entschlossen hat, niemals zu handeln, es sei denn gemäß den wahren Gründen der Weisheit (secundum sapientiae rationes veras), so hat er vernünftige Wesen (creaturas rationales) geschaffen, auf daß sie niemals handeln, es sei denn gemäß den vorwiegenden Gründen, nämlich solchen, die zur Wahrheit tendieren oder es zu tun scheinen, und die an Stelle der Vernunft stehen (secundum rationes praevalentes seu inclinantes veras vel apparentes, vicarium rationis)".83 Hier wird, wiederum in theologischer Ausdrucksweise, ein deutlicher Zusammenhang gesehen zwischen ,vernünftig' und einem Handeln nach ,wahren Gründen'; die Frage ist nur, wann Gründe überhaupt in diesem Zusammenhang als ,wahre Gründe' gelten sollen. Wenn der Satz vom (zureichenden) Grunde, nunmehr auch auf Handlungen angewendet, zu , Vernunfterkenntnissen' führen soll, dann offenbar in diesem Falle zur Erkenntnis jener ,wahren Gründe', für die es nun, zur Unterscheidung von anderen ,Gründen', die Handlungen bestimmen mögen, ein Kriterium zu finden gilt. An dieser Stelle empfiehlt es sich, einen Moment innezuhalten und zur besseren Orientierung folgende, bereits verwendete, terminologische Bestimmung zu treffen. ,Vernunfterkenntnisse' werden in Sätzen formuliert. Dabei mögen Sätze, die Erkenntnisse über menschliches Handeln enthalten, praktische Sätze heißen, und zwar ganz im Sinne Kants, insofern sie ihrerseits menschliches Handeln bestimmen sollen. Sätze hingegen, die in dieser Weise nicht unmittelbar dazu dienen, menschliches Handeln zu bestimmen, jedoch ebenfalls Erkenntnisse formulieren, mögen theoretische Sätze heißen, womit im übrigen natürlich nur die traditionelle Einteilung der Philosophie in einen praktischen und einen theoretischen Zweig wiederholt ist. Worauf es dabei in diesem Zusammenhang ankommt, ist die jetzt mögliche Feststellung, daß der Satz vom Grunde nach Leibniz sowohl auf theoretische als auch auf praktische Sätze anwendbar ist: theoretische wie praktische Sätze sollen nach ihren Gründen beurteilt werden können. 32 33

Philos. Schriften VII, S. 371. Grua 305.

Grund, Ursache, Ziel

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Nun ist es gewiß sinnvoll, im Falle theoretischer Sätze von Gründen zu sprechen, die, jetzt ebenfalls als Sätze formuliert, die Annahme anderer Sätze rechtfertigen sollen. So lassen sich etwa physikalische Sätze über irgendwelche Ereignisse dadurch rechtfertigen, daß man andere Sätze angibt, welche die Gründe dieser Ereignisse, ihre Ursachen, anzuführen suchen. Ein wenig anders ist dies jedoch im Falle der praktischen Sätze. Von Gründen zu reden, hat hier nur insofern Sinn, als damit Ziele gemeint sind (,Zielec hier synonym mit »Zwecken* aufgefaßt), nach denen menschliches Handeln ausgerichtet ist oder ausgerichtet werden soll. Diese Ziele werden in praktischen Sätzen als Zielsetzungen formuliert, und sie allein sind es auch, die praktische (menschliches Handeln bestimmende) Sätze rechtfertigen können. Es empfiehlt sich also, ein wenig genauer unterscheidend zu sagen, daß der Satz vom Grunde, auf theoretische Sätze angewendet, die Angabe von Gründen, auf praktische Sätze angewendet, die Angabe von Zielen erwarten läßt. Traditionell ausgedrückt: der Satz vom Grunde schließt in seiner Leibnizschen Formulierung sowohl ein Kausalprinzip (selbst Spezialfall eines allgemeineren Begründungsprinzips) als auch ein Finalprinzip ein. Es ließe sich fragen, ob man dann nicht besser überhaupt von zwei Prinzipien sprechen sollte, von denen das eine die Rechtfertigung theoretischer, das andere die Rechtfertigung praktischer Sätze beträfe. Tatsächlich unterscheidet ja auch Leibniz, wiederum im eingeschränkten Sinne, zwischen einem Kausalprinzip und einem Finalprinzip; dies aber mit der besonderen Pointe, daß sich beide, im Satz vom Grunde zusammengefaßt, sowohl auf physikalische Ereignisse als auch auf menschliche Handlungen anwenden lassen.34 So treten bekanntlich Naturgesetze im Rahmen seiner theoretischen Philosophie als Extremalprinzipien auf, d. h. der Kosmos wird als ein Resultat von Handlungen aufgefaßt, die sich ihrerseits, entsprechend dem bisher Gesagten, in bestimmten Zwekken oder Zielen manifestieren. Bevorzugtes Beispiel ist das sogenannte Fermatsche Prinzip, welches besagt, daß ein Lichtstrahl zwischen zwei Punkten immer den Weg zurücklegt, der sich in kürzester Zeit zurücklegen läßt.35 Der Lichtweg ist, mit anderen Worten, allein durch seinen 34

„Philosophia est complexus Doctrinarum universalium opponitur Historiae quae est singularium. Partes habet duas, Philosophiam theoreticam et philosophiam practicam. Philosophia theoretica exponit rerum naturas, practica exponit rerum usus ad obtinendum bonum malumque evitandum. Ita fit ut eadem bis occurrere possint, tum ratione suae causae efficientis in priore parte, tum ratione finalis in posteriore", C. 524 f.

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Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)

Endpunkt bestimmt, und das Licht wird dabei, wie ein eiliger, aber vernünftiger Wanderer, keineswegs immer den geometrisch kürzesten Weg gehen, um sein Ziel möglichst schnell zu erreichen. Worauf es dabei in dieser finalen Darstellung ankommt, ist, daß hier immer mehrere Möglichkeiten, im angeführten Beispiel: mehrere mögliche Lichtwege zwischen zwei Punkten, unterstellt werden und die Realisierung gewisser Möglichkeiten dann als das Ergebnis einer final bestimmten, wenn auch zugleich immer kausal erklärbaren Auswahl gedeutet wird.39 Und wie sich physikalische Ereignisse verstehen lassen, als ob sie selbst zielgerichtete, von einem Weltbaumeister so gewollte Handlungen wären, so ist es nun umgekehrt auch im Falle menschlicher Handlungen sinnvoll, nicht nur nach ihren Zielen, sondern auch nach einem sie bestimmenden Kausalnexus zu fragen. Wer etwa einen Kanal bauen will und damit, wie sich Leibniz gerne auszudrücken pflegt, daran geht, Gottes Werke, in diesem Falle seine Flüsse, ,im Kleinen' nachzubauen37, dessen Handlungen werden nicht nur durch seine Ziele (z. B. die Herstellung eines Schiffahrtsweges) bestimmt, sondern des weiteren auch dadurch, welche Wirkungen gewisse Handlungen (etwa bei der Begradigung natürlicher' Wasserläufe) hervorrufen. Es ist damit also durchaus sinnvoll, gelegentlich theoretische und praktische Betrachtungsweisen im Hinblick auf ein und denselben Gegenstand miteinander zu verbinden, und d. h., um mit Leibniz selbst zu reden, in der Anwendung des Satzes vom Grunde sowohl nach einer ,theoretischen' causa efficiens als auch nach einer praktischen' causa finalis (,causa' hier wieder synonym mit ,ratio') zu fragen.38 Im gesonderten Falle soll natürlich nicht schon die Angabe von irgendwelchen Gründen und Zielen genügen, entscheidend ist vielmehr der Aufweis von wahren Gründen und von, wie wir jetzt sagen wollen, guten Zielen. Eingeschränkt zunächst auf den Aufweis wahrer Gründe, und hier wiederum exemplifiziert am Aufweis wahrer Ursachen, bedeutet dies, daß Ursachen genau dann wahre Ursachen heißen 35

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Discours de Metaphysique (1686) §22, Philos. Schriften IV, S. 448 (= Le Roy, S. 60); vgl. Remarques sur l'abrege de la vie de Mons. des Cartes, Philos. Schriften IV, S. 318, und: De rerum originatione radicali, Philos. Schriften VII, S. 304. Vgl. Unicum Opticae, Catoptricae et Dioptricae Principium (Acta Eruditorum l [1682], S. 185—190), G. W. Leibnitii Opera omnia, I—VI, ed. L.Dutens, Genf 1768 (im folgenden zitiert als Dutens), III, S. 146 f.; Principes de la Nature et de la Grace § 11, Robinet, S. 51 (= Philos. Schriften VI, S. 603). Principes de la Nature et de la Grace § 14, Robinet, S. 57 (= Philos. Schriften VI, S. 604 f.). Vgl. wieder C. 525.

Die Rolle vollständiger Begriffe in Leibnizens Theorie der Begründung

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sollen, wenn sie ihrerseits begründet sind und das zu erklärende Ereignis zur Folge haben. Die Frage ist, was hier mit ,zur Folge haben* gemeint ist. Die Antwort Leibnizens lautet, daß sich im begründeten Falle der Satz, der das Ereignis aussagt, als logische Folge desjenigen Satzes darstellen läßt, der die Ursache aussagt. Wenn also, um ein Beispiel zu bringen, s derjenige Satz ist, der ein Ereignis formuliert, nach dessen Ursache gesucht wird, so folgt dieser Satz logisch aus einem anderen Satz, etwa seQ, wenn P seinerseits logisch aus Q folgt. Der »begründende' Satz s Q muß dabei selbst schon ,aus Vernunftgründen' gesichert sein, es darf sich hier also, in Leibnizens Ausdrucksweise, um keinen kontingenten Satz handeln. Ein kontingenter Satz, d. h. ein Satz, für den es noch keine apriorische Begründung gibt, würde das Begründungsproblem nur verschieben, die Frage nach den wahren Ursachen würde an die Prämissen des begründenden Satzes zurückgegeben. 13.5 Die Rolle vollständiger Begriffe in Leibnizens Theorie der Begründung Vorausgesetzt nun, der Satz, der die Ursache aussagt, sei wahr, d. h. es gäbe für ihn eine apriorische Begründung, so stellt er nach Leibniz den vollständigen Begriff desjenigen Individuums (oder individuellen Ereignisses) dar, das in den angeführten Elementarsätzen durch den Eigennamen s vertreten war. Unter einem vollständigen Begriff im Leibnizschen Sinne hat man dabei einen Begriff zu verstehen, der äquivalent ist mit der Konjunktion aller einem Individuum zukommenden Prädikatoren.3' Mit anderen Worten: der in der zugehörigen vollständigen Kennzeichnung gegebene komplexe Prädikator bezeichnet den sogenannten vollständigen Begriff des gekennzeichneten Individuums, wobei es im übrigen erforderlich ist, beim Übergang von irgendeinem vollständigen Begriff zur vollständigen Kennzeichnung eines Individuums die Existenz dieses Individuums nachzuweisen. Denn im vollständigen Begriff allein, wie ihn Leibniz versteht, ist nur die Eindeutigkeit, nicht schon die Existenz enthalten.40 30

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Discours de Metaphysique §8, Philos. Sdiriften IV, S. 433 (= Le Roy, S. 43): „nous pouvons dire que la nature d'une substance individuelle ou d'un estre complet, cst d'avoir une notion si accomplie qu'elle soit süffisante ä comprendre et ä en faire deduire tous les predicats du sujet a qui cette notion est attribuee"; vgl. § 14, Philos. Schriften IV, S. 440 (= Le Roy, S. 50), ferner Brief vom 4./14. Juli 1686 an A. Arnauld, Philos. Schriften II, S. 49 (= Le Roy, S. 115), und C. 520. Schmidt 480 (Ph. VII B IV, 13r—14r [um 1695]).

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Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)

In unserem Beispiel ist also das durch den Eigennamen s vertretene Individuum charakterisiert durch S, seinen vollständigen Begriff, den hier der Satz, der die Ursache angeben soll, enthält. Diese Charakterisierung läßt sich durch s e S zum Ausdruck bringen, wobei jetzt der Elementarsatz s ersetzt werden kann durch Derjenige Gegenstand, für den S gilt, ist Pc. s ist dann aber logisch äquivalent mit der generellen Aussage S a P, ,alle S sind Pc oder ,S ist P', und diese Aussage stellt wiederum in Leibnizens Terminologie nichts anderes als einen identischen Satz dar. Leibniz unterscheidet identische Sätze, z.B. generelle Sätze der Form A est A (animal est animal), die immer wahr, weil tautologisch, sind, von virtuell identischen Sätzen, z.B. partikularen Sätzen der Form A est B (animal est rationale), die sich ihrerseits jedoch durch den Aufweis, daß B in A ,enthalten* sei, in identische Sätze der Form AB est B (animal rationale est rationale) überführen lassen, und die dann natürlich auch immer wahr sind.41 Im Falle der generellen Aussage ,S ist P' enthält S per definitionem P als einen konjunktiven Bestandteil, womit es sich also um einen identischen Satz der Form AB est B handelt. $ stellt dagegen einen virtuell identischen Satz dar, der erst mit S für s, d. h. nach Ersetzung des Eigennamens durch einen vollständigen Begriff, in einen identischen Satz übergeht. Im Hintergrund steht natürlich die bekannte, von Leibniz immer wieder unterstrichene Theorie, wonach in jedem wahren Satz der Form S P der Prädikatbegriff P im Subjektbegriff S ursprünglich enthalten sei. Praedicatum inest subiecto lautet diese ,analytische' Theorie, auf eine kurze Formel gebracht, wobei es sich dann bei der inesse-Beziehung zwischen Subjekt- und Prädikatbegriff jedesmal um die, in der Syllogistik sogenannte konverse a-Beziehung zwischen Begriffen handelt, in der, mit Leibniz zu sprechen, aus der Form ,omne est ßc die Form ,ß inest omni a* wird.42 41 42

Vgl. C. 513 (Introductio ad Encyclopaediam arcanam), C. 519; dazu G.Martin, a.a.O., S. 34 ff. Dissertatio de arte combinatoria, Akad.-Ausgabe VI l, S. 183. Ausführlichere Darstellungen dieser .analytischen' Theorie bei B. Russell, A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz, London 19372, S. 8 ff.; R. Kauppi, a.a.O., S. 66 ff.; G. H. R. Parkinson, a.a.O., S. 5 ff. Der systematische Zusammenhang mit dem Satz vom Grunde kommt besonders deutlich in folgenden Worten zum Ausdruck: „Principium ratiocinandi fundamentale est, nihil esse sine rations, vel ut rem distinctius explicemus, nullam esse veritatem, cui ratio non subsit. Ratio autem veritatis consistit in nexu praedicati cum subjecto, seu ut praedicatum subjecto insit, vel manifeste, ut in identicis, veluti si dicerem: homo est homo, homo albus est albus:

Die Rolle vollständiger Begriffe in Leibnizens Theorie der Begründung

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Die Schwierigkeit nun, in diesem Zusammenhang mit der Annahme vollständiger Begriffe zu arbeiten, besteht darin, daß man im konkreten Falle über derartige Begriffe zumeist gar nicht verfügt. Dies gilt insbesondere von den schon erwähnten kontingenten Sätzen, die, im Gegensatz zu den sogenannten notwendigen Sätzen (deren Definition mit der ,analytischen' Definition wahrer Sätze zusammenfällt), weder von vornherein identische Sätze sind, noch sich in endlich vielen Schritten auf identische Sätze zurückführen lassen. Diese Unterscheidung zwischen notwendigen und kontingenten Sätzen, die sich bei Leibniz häufiger findet, bedarf jedoch sogleich einer korrigierenden Bemerkung. Gemeint ist hiermit nämlich nicht, daß sich kontingente Sätze niemals, sagen wir, in notwendige Sätze überführen ließen. Einer solchen These widerspricht bereits die wiederholte Erklärung, daß auch kontingente Sätze ,in Wahrheit', wenn auch nur vor einem besseren, ,göttlichen' Verstande, notwendige Sätze sind, und weiterhin der Hinweis, daß sich gerade auch kontingente Sätze, die zunächst nur a posteriori ,erkannt' werden43, a priori ,beweisen' lassen/4 In einer solchen Beweisführung werden diese Sätze dann gleichsam auf die andere Seite, die Seite der notwendigen Sätze, geschafft. Wenn es also heißt, daß sich kontingente Sätze im Unterschied zu den notwendigen Sätzen nicht in endlich vielen Schritten auf identische Sätze zurückführen lassen, so kann man das so verstehen, daß sich nicht alle Sätze über ein und dasselbe Individuum a priori beweisen lassen.45 Und sie lassen sich genau deswegen nicht alle beweisen, weil eben der vollständige Begriff eines Individuums (d. h. eines konkreten Gegenstands) faktisch niemals gegeben ist. Bei einer solchen Bemerkung handelt es sich wiederum natürlich um keine bloß empirische Feststellung über einen gegenwärtigen,

43 44

45

vel tecte, sed ita tarnen ut per resolutionem notionum ostendi nexus possit, ut si dicam novenarius est quadratus, nam novenarius est ter ternarius, seu est numerus ternarius in ternarium multiplicatus, ternarius in ternarium est numerus in eundem numerum, is autem est quadratus" (C. 11 [1676]). Grua 304 (De contingentia). „Constat ergo (weil nämlich, wie zuvor gesagt wird, in jedem wahren Satz der Prädikatbegriff im Subjektbegriff enthalten ist) omnes veritates etiam maxime contingentes probationem a priori seu rationem aliquam cur sint potius quam non sint habere. Atque hoc ipsum est quod vulgo dicunt, nihil fieri sine causa, seu nihil esse sine ratione", Philos. Schriften VII, S. 301; vgl. Brief vom 4./14. Juli 1686 an A. Arnauld, Philos. Schriften II, S. 62 (= Le Roy, S. 128). Zur weiteren Erläuterung des Sprachgebrauchs von ,notwendig' vgl. M. D. Wilson, On Leibniz' Explication of .Necessary Truth', Studia Leibnitiana. Supplementa III, Wiesbaden 1969, S. 50—63. Vgl. C. 388 f. (Generales Inquisitiones § 136).

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Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)

noch unvollkommenen Stand der Wissenschaft, sie formuliert vielmehr die prinzipielle Unabgeschlossenheit einer gesicherten Orientierung in der Welt. Eine Überführung kontingenter Sätze in identische oder notwendige Sätze, und das heißt eben: ihre apriorische Begründung, gelingt also im allgemeinen nur für einzelne Sätze. Betrachten wir als Beispiel wieder einen Elementarsatz der Form s P, der zunächst nur eine empirische Feststellung über ein Individuum mit dem Eigennamen s enthalten soll. Um diesen Satz auch apriorisch zu begründen, muß jetzt gezeigt werden, daß P im vollständigen Begriff von s als konjunktiver Bestandteil vorkommt. Da dieser Begriff seinerseits in seiner Totalität nicht gegeben ist, kann dies wiederum nicht ,direkt', durch die Angabe eines komplexen Prädikators geschehen. Man muß sich vielmehr nach anderen Begründungsmöglichkeiten umsehen, und eine Möglichkeit bestünde hier nun darin, nachzusehen, welche allgemeinen Sätze für s gelten und ob dabei der Fall durch diese Sätze gesichert ist, diese Sätze den Ausgangssatz 5 implizieren. Zu derartigen allgemeinen Sätzen gehören dabei z.B. auch solche klassischen Bestimmungen wie die von ,homo' als ,animal rationale'. Auf Grund dieser ,allgemeinen' Bestimmung wäre etwa der Elementarsatz ,Alexander ist vernünftig* a priori wahr, wenn nur festgestellt wäre, daß Alexander unter die Beispiele für den Prädikator ,Menschc fällt. Im Rahmen der Leibnizschen Terminologie erlaubt dieser Nachweis aber die Feststellung, daß im Falle von s P, mit s für ,Alexander£ und P für , vernünftig', P tatsächlich im vollständigen Begriff von s enthalten war, was sich wiederum durch (S0P)S wiedergeben läßt. Diese Schreibweise macht deutlich, daß der vollständige Begriff des Individuums s in zwei Bestandteile, So und P, zerlegt wurde, wobei So den nicht weiter bekannten ,Rest' des vollständigen Begriffs S darstellt. Zugleich wird in dieser Form des Beweises, für ,Alexander ist vernünftig', aber deutlich, daß zur Kennzeichnung eines Individuums, hier Alexanders, synthetische Bestimmungen nicht zugelassen werden sollen oder, um eine andere Unterscheidung Leibnizens heranzuziehen, hier von ,inneren', nicht von ,äußeren' Bestimmungen, von ,Mensch' und nicht etwa von ,König von Makedonien', Gebrauch gemacht wird. Theoretische Sätze werden also, das hat die Erörterung gezeigt, begründet, indem man sie in einem apriorischen Beweisgang als identische oder notwendige Sätze erweist. Auf den Satz vom Grunde bezogen, bedeutet dies aber, daß die Aussage ,es gibt einen zureichenden Grund

Die Rolle vollständiger Begriffe in Leibnizens Theorie der Begründung

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für einen Sachverhalt' äquivalent ist mit der Aussage ,der Satz, der diesen Sachverhalt darstellt, kann a priori bewiesen werden*. Daß ein entsprechender Beweis seinerseits in den Grenzen einer systematisch gesehen keineswegs unproblematischen Theorie von Wahr und Falsch gedacht ist, schränkt die Bedeutung dieses ,logischen' Sinnes des Satzes vom Grunde in keiner Weise ein. Denn formuliert als ,jeder wahre Satz ist begründbar' (omnis veritatis reddi ratio potest)48 sagt er in erster Linie etwas über eine Begründungsmöglichkeit aus und läßt sich dabei als invariant gegenüber bestimmten Begründungsformen auffassen. Auch gegenüber Leibnizens eigener Analytischer' Theorie. Aus der Fülle jener Bemerkungen, die den Satz vom Grunde mit seiner Theorie von Wahr und Falsch in Verbindung bringen, sei hier noch die folgende herausgegriffen: „Nichts ist ohne Grund, d.h. es gibt keinen Satz, in dem nicht irgendeine Verbindung des Prädikatbegriffes mit dem Subjektbegriff vorliegt oder der nicht a priori bewiesen werden kann".47 Dabei geht Leibniz gelegentlich sogar so weit, zu sagen, daß der Satz vom Grunde aus seiner Definition der Wahrheit ,folge'48, bzw. ebenso wie der Satz vom Widerspruch in dieser Definition ,enthalten' sei49, was man jedoch wiederum einfach so verstehen darf, daß von Wahr und Falsch zu sprechen nur im Zusammenhang einer Theorie des Begründens sinnvoll ist. Wie aber verhält es sich nun bei den praktischen Sätzen, die nicht durch die Angabe von Gründen im bisher betrachteten Sinne, sondern durch die Angabe von Zielen gerechtfertigt werden sollen? Oder anders ausgedrückt: es wurde gezeigt, wann (im theoretischen Falle) Gründe als wahre Gründe bezeichnet werden dürfen; die Frage ist jetzt, wann (im praktischen Falle) Ziele als gute Ziele gelten können. Dabei lassen sich sogleich Sätze der Art ,Alexander ist gerecht' oder ,diese Handlung ist gerecht', die ebenfalls praktisch heißen sollen, weil sie moralische Bewertungen enthalten, als unproblematisch eliminieren. Denn zur Rechtfertigung dieser Sätze im Leibnizschen Sinne genügt, was zur Rechtfertigung im theoretischen Falle gesagt worden war: man hat nach48

47

48 49

Philos. Schriften VII, S. 309 (Specimen inventorum de admirandis naturae Generalis arcanis). „Nisi haec propositio admittitur nihil esse sine ratione, seu nullam esse propositionem in qua non sit aliqua connexio praedicati cum subjecto, seu quae non probari possit a priori", Grua 287 (De libertäre). Brief vom 4./14. Juli 1686 an A. Arnauld, Philos. Schriften II, S. 56 (= Le Roy, S. 121 f.); C. 519. Essais de Theodicee, Philos. Schriften VI, S. 414.

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Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)

zusehen, ob der Prädikator ,gerecht' einerseits im vollständigen Begriff Alexanders, andererseits im vollständigen Begriff der gemeinten individuellen Handlung enthalten ist. Problematisch wird eine Rechtfertigung praktischer Sätze erst dann, wenn diese nicht Aussagen über bereits stattgefundenes Handeln, sondern Empfehlungen zu künftigem Handeln enthalten, und dabei diskutiert werden muß, was, um mit den angeführten Beispielen zu reden, überhaupt unter einem gerechten Menschen oder einer gerechten Handlung verstanden werden soll. Denn wenn in praktischen Sätzen empfohlen werden sollte, gerecht zu handeln (und ein gerechter Mensch wäre dann der, der diese Empfehlung befolgt), so wird es eben gerade darum gehen, was mit einer gerechten Handlung gemeint ist und welche Ziele sich zu ihrer Rechtfertigung angeben lassen. Und wie eine solche Rechtfertigung bei theoretischen Sätzen nur dadurch gelingt, daß nicht irgendwelche, sondern wahre Gründe angegeben werden können, so wird sie bei praktischen Sätzen nur dadurch gelingen, daß Ziele zugleich als gute Ziele erweisbar sind. Die Frage ist, wann ein Ziel gut genannt werden darf. Leibniz betont, daß als ,Maß des moralisch Guten', also dessen, was gut genannt werden darf, die ,Regel der Vernunft' zu betrachten sei.50 Damit ist zunächst einmal zum Ausdruck gebracht, daß auch bei der Frage von Handlungszielen eine vernünftige Verständigung immer möglich sein soll, weiterhin aber auch, daß im Rahmen dieser Verständigung als besser (im moralischen Sinne) zu gelten hat, was ,mehr 'Vernunft' auf seiner Seite hat, d. h. wofür sich die besseren Argumente beibringen lassen. Das Beibringen von Argumenten besteht aber wiederum gerade darin, zu zeigen, daß sich empfohlene Handlungen gegenüber anderen Handlungen als die besseren auszeichnen lassen, wobei dann zugleich die Ziele dieser besseren Handlungen als gute Ziele bezeichnet werden dürfen. Kriterium für Besser und Schlechter ist dabei in Leibnizsdier Terminologie der Gedanke der Aktualisierung einer Welt, welche die beste aller möglichen Welten genannt zu werden verdient. „Der Wille ist", so heißt es einmal in der „Theodizee", „im allgemeinen auf das Gute gerichtet, er soll auf die uns zustehende Vollkommenheit gehen."51 Die uns zustehende ,Vollkommenheit' aber konstituiert nichts anderes als eben jene , beste aller möglichen Welten', womit nun im Falle der Ziele gut genau jene sind, die diese ,Vollkommenheit' oder diese ,beste Welt' aktualisieren. Gemeint sind damit, anders ausgedrückt, wiederum solche Ziele, die eine, 50 31

Nouveaux Essais II 28 § 6, Akad.-Ausgabe VI 6, S. 250. Essais de Theodicee, Philos. Schriften VI, S. 122.

Die Rolle vollständiger Begriffe in Leibnizens Theorie der Begründung

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wie Leibniz sagt52, »moralische Welt* (un Monde Moral) errichten lassen, also das Gemeinwohl fördern, insofern sie von allen Beteiligten als ,gemeinsame' Ziele übernommen werden können. Und genau dann, wenn praktische Sätze mit ihren Zielsetzungen in dieser Weise von allen übernommen werden können, sollen diese Sätze gerechtfertigt heißen. Rechtfertigen bedeutet also im Falle praktischer Sätze: nachweisen, daß die in ihnen formulierten Ziele von allen übernehmbar sind. Nun sind, wie bereits früher deutlich wurde, Betrachtungen über , Vollkommenheit' auch im Rahmen theoretischer Sätze bei Leibniz keineswegs irrelevant. Die These von der besten aller möglichen Welten soll nicht nur für die ,moralische', sondern auch für die ,physische' Welt gelten, und sie stützt sich hier auf eben jene Formulierung von Extremalprinzipien, mit der finale Gesichtspunkte Eingang in einen zunächst scheinbar nur kausal bestimmbaren Bereich finden. Auch diese Extremalprinzipien haben im Sinne Leibnizens als Ausdruck der Vollkommenheit zu gelten und charakterisieren nunmehr eine Welt, wie sie, wiederum final gesprochen, offenbar besser nicht hätte gemacht werden können. Von daher erklärt sich, warum das principium rationis sufficientis bei Leibniz gelegentlich auch als principium melioris" oder principium perfectionis54 auftreten kann, ohne daß damit etwa von vornherein, wie oft vermutet wird, ein ursprünglich ,logisches' Unternehmen auf einmal ,ontologische' Züge annähme. Die Welt unter finalen Gesichtspunkten betrachten, heißt eben nur, sie betrachten, als ob sie von einem Weltbaumeister hergestellt wäre, um das so hergestellt Gei2

M

54

Principes de la Philosophie ou la Monadologie (1714) § 86, Robinet, S. 123 (= Philos. Schriften VI, S. 622). Vgl. Essais de Theodicee, Philos. Schriften VI, S. 44. Es sieht gelegentlich so aus (vgl. Essais de Theodicee, Philos. Schriften VI, S. 614; Discours de Metaphysique §13, Philos. Schriften IV, S. 438 f. [= Le Roy, S. 49]; S.Schreiben an Clarke, Philos. Schriften VII, S. 390), als sei dies die Fassung des Satzes vom Grunde, die nur für die kontingenten Sätze zutrifft, doch widerspricht das dem zuvor über den logischen Zusammenhang von notwendigen und kontingenten Sätzen Gesagten. Leibniz scheint an dieser Stelle zu keiner definitiven Erklärung gekommen zu sein (in C. 528 wird ein ,Principium convenientiae seu Lex Melioris' gesondert neben dem .Principium reddendae rationis' [zu dieser Formulierung unten S. 477] aufgeführt), was sich wiederum in der Leibniz-Interpretation, sofern der logische Sinn des Satzes vom Grunde im Vordergrund steht, in einer strikten Trennung des (logischen) principium rationis sufficientis von einem (ontologischen) principium melioris widerspiegelt; vgl. G. H. R. Parkinson, a.a.O., S. 105, 110 ff. Nach der hier versuchten Deutung ist eine Trennung in dieser Form aus methodischen Gründen nicht nötig. Grua 288 (De Übertäte).

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Der Satz vom Grund (Theorie der Begründung)

dachte dann seinerseits nach Analogie menschlicher Handlungen besser verstehen und damit auch begründen zu können. Erst wenn man in der umgekehrten Richtung zu gehen versuchte, nämlich aus einer schon begründeten Kenntnis der Welt auf einen Weltbaumeister schließen wollte, verschöbe sich der Sinn des Satzes vom Grunde. Es soll nicht behauptet werden, daß Leibniz diese Richtung nicht auch eingeschlagen hätte, wohl aber, daß er uns in der anderen Richtung vertrauter sein sollte." Bei dem Versuch, ihm in dieser anderen Richtung zu folgen, aber hat sich nun jene Vermutung bestätigt, die schon zu Beginn geäußert wurde. Sie lautete, daß der Satz vom Grunde, bezogen auf andere Sätze, die Möglichkeit einer Begründung dieser Sätze zum Ausdruck brächte, und daß, noch einen Schritt weiter, dort, wo von der Abhängigkeit eines Satzes vom Satz vom Grunde die Rede sei, nicht mehr nur die Möglichkeit, sondern sogar die Notwendigkeit einer solchen Begründung betont werde. Der erste Teil dieser, zunächst nur als Vermutung formulierten These läßt sich jetzt auf folgende Weise präzisieren: den Satz vom Grunde auf einen anderen Satz anwenden, heißt: diesen anderen Satz begründen. Genau dies hat die Erörterung bestätigt. Die Frage ist, ob sie auch den zweiten Teil der These bestätigt hat. Um diese Frage ebenfalls positiv zu beantworten, muß man sich klarmachen, was es überhaupt bedeutet, einen Satz in wissenschaftlicher Absicht, und diese Absicht wird auch in den Leibnizschen Überlegungen von vornherein unterstellt, zu begründen. Es bedeutet, seine Annahme zu rechtfertigen, wobei hier zwischen einer Rechtfertigung im Aufweis wahrer Gründe und einer Rechtfertigung im Aufweis guter Ziele, je nachdem, ob von theoretischen oder von praktischen Sätzen die Rede war, unterschieden wurde. Erst ein in dieser Weise begründeter bzw. gerechtfertigter Satz kann als , Vernunfterkenntnis' bezeichnet werden. Und eben dies ist natürlich auch mit den Leibnizschen Bemerkungen gemeint, daß ,unsere Vernunfterkenntnisse' nicht nur auf dem Satz vom Widerspruch, sondern auch auf dem Satz vom zureichenden Grunde beruhen, und daß es jene wahren Gründe bzw. guten Ziele sind, die ,an Stelle der Vernunft' stehen. Also können Sätze nicht nur begründet 55

Ausführlichere Hinweise auf derartige, methodisch nicht mehr begründbare Varianten des Satzes vom Grunde bei: H. Heimsoeth, Die Methode der Erkenntnis bei Descartes und Leibniz, Gießen 1912/1914, S. 209 ff., 241 ff.; R. Zocher, Zum Satze vom zureichenden Grunde bei Leibniz. Eine Problemstellung, in: Beiträge zur Leibniz-Forschung, ed. G. Schischkoff, Reutlingen 1947, S. 68—87; O. Saame, Der Satz vom Grund bei Leibniz. Ein konstitutives Element seiner Philosophie und ihrer Einheit, Mainz 1961, S. 31 ff., 35 ff.

Physikalischer Atomismus

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bzw. gerechtfertigt werden, sie müssen dies vielmehr auch, wenn sie in wissenschaftlicher Absicht formuliert sein wollen. Statt ,alle wahren Sätze sind begründbar' sollte es darum aber auch besser heißen ,alle Sätze, die in wissenschaftlicher Absicht formuliert sind, müssen begründet werden'. Der Satz vom Grunde enthält damit seinem recht verstandenen Sinne nach nicht nur eine Begründungsmöglichkeit, sondern eine Begründungsverpflichtung, er ist, um noch einmal mit Leibniz zu sprechen56, wahrhaft ein principium reddendae rationis.

14 Logik und Metaphysik 14.1 Physikalischer Atomismus Kant bezeichnet in der Einleitung zur „Kritik der reinen Vernunft" die Metaphysik als eine Naturanlage des Menschen. „Denn die menschliche Vernunft", so wird erläutert, „geht unaufhaltsam, ohne daß bloße Eitelkeit des Vielwissens sie dazu bewegt, durch eigenes Bedürfnis getrieben bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können."1 Kant bedauert den »bisherigen schlechten Fortgang' der Metaphysik, d. h. die Realisierung dieser Naturanlage in einem theoretischen Satzzusammenhang, und stellt seine berühmte programmatische Frage: ,Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?'2. Wer an dieser Stelle von Kant erfahren möchte, daß Metaphysik im klassischen Sinne, nämlich als eine Lehre vom Sein (bzw. Seienden), ihre systematische Berechtigung hat, wird jedoch enttäuscht (von dieser heilsamen Enttäuschung wird in § 15 ausführlich die Rede sein). Bereits die nähere Charakterisierung dieser „durch die Natur der menschlichen Vernunft unentbehrliche(n) Wissenschaft"3 durch die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori muß ernüchternd wirken, 50 1

2 3

Philos. Schriften VII, S. 309 (Specimen inventorum de admirandis naturae Generalis arcanis; zitiert in Anm. 22, oben S. 464); C. 525. Kritik der reinen Vernunft B 21; vgl. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (im folgenden kurz Prolegomena) § 57, A 168 f. (Weischedel III, S. 228 f.). Die ,Natur der Vernunft' treibt zu „dialektischen Versuchen der reinen Vernunft" (Prolegomena § 57, A 168 [Weischedel III, S. 228]), in denen wiederum die Grenzen der reinen Vernunft (hier Kritik, dort dialektischer Schein) genau bestimmbar werden. Kritik der reinen Vernunft B 22. Kritik der reinen Vernunft BIS.

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Logik und Metaphysik

wenn man, wie dies bisher durchaus zum Geschäft der Metaphysik gehörte, Auskünfte über das Sein (bzw. das Seiende) erwartete, nicht aber Auskünfte über den logischen Status gewisser Sätze, von denen es weiter heißt, daß sie erst die reine Mathematik und die reine Naturwissenschaft ermöglichten.4 Zwar verknüpft sich von Anfang an, seit jener im Grunde noch recht vorläufigen Aristotelischen Bestimmung einer ,ersten Philosophie', deren buchhändlerische Bezeichnung eben ,Metaphysik' lauten sollte, mit Metaphysik die Meinung, sie sei als eine Disziplin fundamentaler als jede andere Wissenschaft, fundamentaler auch als fachgebundene Methodologien, daß sie selbst noch etwas mit Methodologie zu tun habe, schien jedoch nahezu ausgeschlossen, zumindest ziemlich nebensächlich zu sein. Wo Kant Aufschlüsse über den theoretischen Charakter der reinen Mathematik erwartet, spricht die traditionelle Metaphysik über das Sein der Zahlen, über das Sein geometrischer Figuren5, wo Kant Aufschlüsse über den theoretischen Charakter der reinen Naturwissenschaft erwartet, spricht die traditionelle Metaphysik über das Sein der Natur, über das Sein der Welt.6 Sie erweist sich, und gerade dagegen wendet sich Kants zunächst so konservativ anmutende 4

Kritik der reinen Vernunft B 20. Die Einsicht, daß Zahlen Abstrakta sind, die allein durch gewisse Aussagen über Systeme von Gegenständen (Zählzeichen), Aussagen nämlich, die invariant sind in bezug auf Zählgleichheit, gewonnen werden, wird in Form einer Definition zum ersten Mal von G. Peano ausgesprochen (Le definizione per astrazione, Bolletino· della Mathesis NS 7 [1915], S. 106—120 [= Opere scelte II, Rom 1958, S. 402— 416]), Wenn zwischen je zwei Systemen einer gegebenen Klasse von Systemen die Relation .zählgleidi' besteht, gilt jedes System der Klasse als Darstellung oder Repräsentant einer Zahl. Hinter dem Begriff der Zahl steht also eine logische Konstruktion; ,metaphysische' Erörterungen, die eine derartige Konstruktion, nur weil hier von Handlungen, nicht vom Sein die Rede ist, zu übergehen suchen, sind sinnlos. Sie können sich nicht einmal auf Aristoteles berufen, der empfiehlt, statt zu fragen, ob die Gegenstände der Mathematik existieren, zu fragen, wie sie existieren (Met. M 1. 1076 a 35 ff.). — Von den geometrischen Figuren war bereits die Rede (oben S. 22 f., 36 ff.). Hier handelt es sich um Idealisierungen (Ideen), die in Form von Vorschriften die Konstruktion empirischer Figuren bestimmen. Statt von Abstraktion, wie bei den Zahlen, könnte man von Ideation sprechen, wobei es wiederum Handlungen, nämlich Handlungen an empirischen Gegenständen sowie die Formulierung von Vorschriften, sind, die den konstruktiven (operativen) Charakter auch der Geometrie hinsichtlich ihrer Gegenstände unterstreichen. Vgl. P. Lorenzen, Das Begründungsproblem der Geometrie als Wissenschaft der räumlichen Ordnung, Philosophia Naturalis 6 (1961), S. 415—431 (= P. Lorenzen, Methodisches Denken, Frankfurt 1968 [Theorie 2], S. 120—141). * Nicht zufällig ist Kosmologie der zentrale Teil der vor-neuzeitlichen Physik. Im Rahmen der neuzeitlichen Physik ist es dann Methodologie, die in den Vordergrund tritt, während kosmologische Aussagen bis auf den heutigen Tag den Cha- rakter spekulativer Vermutungen besitzen. 5

Physikalischer Atomismus

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Frage nach der wissenschaftlichen Möglichkeit der Metaphysik, im pejorativen Sinne als eine philosophische Argumentation, die mehr zu sagen vorgibt, als ein begriffliches Sprechen rechtfertigen kann. Von dieser Beurteilung der Metaphysik war bereits die Rede. Und zwar im Zusammenhang mit jener maßgebenden Rolle, welche die entstehende neuzeitliche Physik für die »aufgeklärte' philosophische Reflexion auf eine methodisch ausgewiesene vernünftige Selbständigkeit spielt. Aus Methodologie der Physik wird, verleitet durch die kosmologischen Randbemerkungen der Physiker, Metaphysik der Natur. Der methodische Impuls, der von der entstehenden neuzeitlichen Physik auf das neuzeitliche Denken wirkt, bedeutet keineswegs schon den Abschied vom ,metaphysischen' Denken; dieses hält sich vielmehr genau dort, wo es von jeher seine methodisch vermeintlich unanfechtbare Aufgabe sah: unter den Aussagen über die Welt. Sofern hierbei in erster Linie immer an Aussagen über die physikalische Welt gedacht wurde, spielt Metaphysik damit in der Neuzeit die Rolle der alten (vor-neuzeitlichen) Physik, die nicht, wie zuerst bei Galilei, Mechanik, sondern eine Lehre vom ,natürlichen' Verhalten der Körper war7, weiter. Als cosmologia generalis (Chr. Wolff) überlebt diese Physik das Ende der aristotelischscholastischen jNaturphilosophie', wobei es gerade die Wortführer einer neuen Philosophie bzw. einer neuen Wissenschaft, unter ihnen insbesondere Cartesianer, sind, die mit Behauptungen über den räumlichen und zeitlichen Charakter der (physikalischen) Welt sowie über deren materielle Beschaffenheit eine verlorene Sache, sei es aus bloßer spekulativer Neigung, sei es aus methodischer Naivität, weiterführen. Dabei ist es vor allem die Frage nach der materiellen Beschaffenheit der Welt, in metaphysischer Ausdrucks weise: die Frage nach den Grundelementen des Seins, die das unverändert wache kosmologische Interesse bestimmt. Und zwar keineswegs nur aus schlichter Gewohnheit, die wie so oft einem neuen Denken im Wege stünde. Der anachronistische Zug kosmologischen Denkens verbindet sich vielmehr mit einem wissenschaftlichen Interesse, das sich durch die Ziele auch der neuzeitlichen Physik rechtfertigen läßt. Erforderlich ist dabei nur, zwischen dem Aufbau der Physik als einer theoretischen Wissenschaft und physikalischen Sätzen über den Aufbau der (physikalischen) Welt zu unterscheiden. Diese Sätze sind es schließlich, die das Ziel der Physik als einer theoretischen Wissenschaft bestimmen, wobei andererseits die Frage, wie begründete 7

Vgl. oben S. 173 f.

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Logik und Metaphysik

Aussagen über die (physikalische) Welt möglich sind, nur durch den theoretischen Aufbau der Physik selbst beantwortbar ist. Dieser Aufbau muß also schon geleistet sein, d. h. es muß die Frage, wie empirische Physik möglich ist, beantwortet sein, bevor einzelne Aussagen über die (physikalische) Welt, hier über ihre materielle Beschaffenheit, tatsächlich in methodisch einsichtiger Weise, und das soll nun heißen: im Gegensatz zu methodisch ungesicherten kosmologischen Spekulationen, getroffen werden können. Was heute als sogenannte Festkörperphysik Bestandteil der modernen Physik ist, nämlich die Erklärung der Eigenschaften fester Körper, z. B. ihrer Temperaturleitfähigkeit oder ihrer ,atomaren' Struktur, ist im 17. und 18. Jahrhundert eine im allgemeinen methodisch noch unzureichend gesicherte Bemühung. Ihre protophysikalische Begründung (d. h. auch in diesem Fall: die Frage, wie hier gemessen werden soll) bleibt ungeklärt. Kosmologische Denkgewohnheiten haben damit ein leichtes Spiel: man übergeht entweder, wie in der Frage nach der räumlichen Endlichkeit bzw. Unendlichkeit der (physikalischen) Welt, überhaupt das Problem der Meßbarkeit (redet sich ein, man sei in diesem Fall auf eine messende Überprüfung, die natürlich auch gar nicht möglich ist, nicht angewiesen) oder geht, wie Descartes, von dem methodisch einsichtigen Verfahren, in der Physik alles auf die Messung geometrischer Größen zurückzuführen, zu der methodisch uneinsichtigen Behauptung über, die (physikalische) Welt sei selbst durch die geometrische Eigenschaft der Ausdehnung hinreichend bestimmt. Andere Behauptungen etwa über die Existenz bzw. Nicht-Existenz eines leeren Raumes oder über die korpuskulare Struktur der Materie haben zunächst denselben, methodisch unzureichend begründeten Charakter wie diese Cartesische, die neuzeitliche Diskussion über die ,Natur' der Körper eröffnende Behauptung. Derartige Behauptungen sollen, eben weil sie sich als Behauptungen über die ,Naturl der Körper oder über die ,Natur' der Welt nicht rechtfertigen lassen, metaphysische Behauptungen heißen. Ihre Einführung in die Physik stört deren rationalen Aufbau oder bedeutet eine höchst zweifelhafte Ergänzung empirisch kontrollierbarer Aussagen um empirisch nicht kontrollierbare (im günstigsten Fall: empirisch noch nicht kontrollierte) Aussagen. Der Versuch, derartige Aussagen (wie dies Descartes in seiner Kritik an Galilei vorgeschwebt haben muß) wiederum zu den protophysikalischen Sätzen einer physikalischen Theorie zu schlagen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Abgesehen davon, daß sich kein vernünftiger Vorschlag machen läßt, wohin z. B. im proto-

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physikalischen Aufbau der Mechanik ein Satz über die räumliche Endlichkeit bzw. Unendlichkeit gehören soll, handelt es sich hier nun einmal stets um empirische Aussagen, nämlich um Aussagen über die (physikalische) Welt, die der Bestätigung bedürfen — im angeführten Fall nicht einmal um eine generelle (empirische) Aussage. Mit anderen Worten: Kosmologie als eine nicht-empirische, der Physik womöglich noch voraufgehende Theorie, Metaphysik als Kosmologie, gibt es nicht und kann es nicht geben, weil kosmologische Sätze (a) der empirischen Kontrolle unterliegen und (b) Physik, auch in Form von Protophysik, schon voraussetzen. Zu den philosophischen Entwürfen des 17. und 18. Jahrhunderts, in denen der Schritt von einer Methodologie der Physik zur Metaphysik der Natur exemplarisch greifbar ist, gehört auch der ,kosmologische* Entwurf Leibnizens. Dessen Monadentheorie, die wohl den eigenwilligsten Versuch innerhalb der zweiten Aufklärung darstellt, auf dem Boden einer veränderten Auffassung von Theorie und Praxis der Wissenschaft dem spekulativen Interesse der Vernunft erneut Geltung zu verschaffen, ist (jedenfalls auf den ersten Blick) Metaphysik in dem hier definierten Sinne. Es werden elementare Bausteine, die Monaden, angeführt, und zwar mit der erklärten Absicht, nicht nur die Frage nach der materiellen Beschaffenheit der Welt, sondern darüber hinaus auch, cartesisch gesprochen, die kontroverse Frage nach dem Begriff einer res cogitans zu beantworten. Wenn sich diese Antwort eigentümlich fremd in dem durch die Entwürfe Descartes' und Lockes zunächst einmal abgesteckten erkenntniskritischen Rahmen des beginnenden neuzeitlichen Denkens ausnimmt, dann gerade dadurch, daß hier das spekulative Interesse der Vernunft die Grenzen des physikalischen Denkens bewußt überschreitet, der mit Descartes bereits dogmatisch artikulierte Anspruch physikalischen Denkens einer faszinierenden Architektonik des Gedankens weicht. Hier baut ein neuer Aristoteles. Und wie Aristoteles logische, physikalische und metaphysische' Erörterungen miteinander zu verbinden suchte, so nun auch Leibniz; nur daß jetzt anstelle der älteren Syllogistik logische und mathematische Kalküle, anstelle der Aristotelischen Physik die neuzeitliche Physik und deren, in den Aristotelischen „Mechanischen Problemen" ein wenig stiefmütterlich behandelte mechanische Probleme stehen. Die neue Metaphysik ist eine durch eben diese Entwicklung veränderte Metaphysik. Aber sie bleibt ein aristotelisches Kunststück, weil sie in dieser Veränderung den Anspruch weiterträgt, partikulares Wissen lasse sich in architektonischer 3l

Mittelstrass, Neuzeit und Aufklärung

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Weise auf ein fundamentales jkosmologisches' Wissen gründen. Die philosophiehistorische Einordnung der Leibnizschen Philosophie, gemeint ist die Monadentheorie, unter die sogenannten ,großen Systeme* des 17. und 18. Jahrhunderts trägt einem solchen Anspruch Rechnung, zeigt zugleich aber auch in eben dieser nachträglichen Evakuierung aus dem durchschnittlichen Denken jener Zeit, wie wenig es gelingt, diese Theorie noch mit einem kritischen Interesse der Vernunft, als das sich die neuzeitliche Vernunft selbst versteht, zu verbinden. Es soll nun an dieser Stelle in einer der vorausgegangenen Interpretation des Satzes vom Grunde vergleichbaren Bemühung versucht werden, die Monadentheorie so mit einer theoretisch begründbaren Konstruktion zu verbinden, daß sie ihren auf den ersten Blick gegebenen metaphysischen Charakter verliert, sich zumindest in wesentlichen Stücken als eine ihrer Absicht und ihrer Durchführung nach vernünftige Konstruktion begreifen läßt. Die Monadentheorie gehört zum Gesamtbild der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts; nicht weil sie eine besonders preziöse Variante einer sich auch gegen die neuzeitliche Kritik durchhaltenden spekulativen Philosophie ist, sondern weil sie in gewisser Weise ein Stück dieser neuzeitlichen Kritik selbst ist. Um dies zu zeigen, um unter anderem auch die Monadentheorie wieder aus den Händen derer zu nehmen, die sich ihrerseits nur ein spekulatives Vergnügen aus einer Beschäftigung mit ihr machen, ist es erforderlich, zunächst die Vorgeschichte dieser Theorie, die Geschichte einer, wie mir scheint, insgesamt gesehen vergeblichen Bemühung Leibnizens um die theoretische Konstruktion von elementaren Bausteinen zu betrachten. Diese Vorgeschichte beginnt dort, wogegen sich schließlich die ausgearbeitete Konzeption der Monadentheorie wendet, sie beginnt bei der Konstruktion eines physikalischen Atomismns. Leibniz hatte sich zunächst, wie er später selbst freimütig zu erkennen gibt, den kosmologischen Thesen Bacons und Gassendis angeschlossen.8 Seine Entscheidung für die ,mechanische Theorie' bedeutete nicht nur Parteinahme 8

Vgl. die autobiographischen Notizen in Briefen an S. Foucher (Paris 1675; Akad.Ausgabe II l, S. 247) und N. Remond (Juli 1714; Philos. Schriften III, S. 620 f.). In seinem Brief an Remond bemerkt Leibniz einschränkend zu Gassendi: „mais ses meditations me contentent moins a prosent qu'elles ne faisoient quand je commenfois a quitter les sentimens de l'Ecole, ecolier encore moy meme. Comme la Doctrine des Atomes satisfait ä l'imagination, je donnay fort la dedans, et le vuide de Democrite ou d'Epicure, joint aux corpuscules indomptables de ces deux auteurs, me paroissoit lever toutes les difficultes" (a.a.O., S. 620). Dazu W. Kabitz, Die Philosophie des jungen Leibniz. Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte seines Systems, Heidelberg 1909, S. 49 ff.

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für die neue Physik, sondern als Entscheidung gegen die Annahme ,substantieller Formen' zugleich schon den erklärten Anschluß an eine bestimmte Interpretation der (physikalischen) Welt. Sie bedeutete, wenn man den naiven, durch keinen theoretischen Kontext gestützten Atomismus Bacons und Gassendis einmal beiseite läßt, den Anschluß an die Tradition der Korpuskularphysik, vertreten etwa durch Boyle und Huygens, wobei sich Leibniz in der Frage eines leeren Raumes zwischen materiellen Atomen für eine Ätherhypothese entscheidet.9 Während er mit Huygens, aber auch Descartes, der Meinung ist, daß es elementare Bausteine der Materie, Korpuskeln oder Atome, gibt und diese Bausteine sich allein durch Größe, Gestalt und Bewegungszustand voneinander unterscheiden10, wendet er sich gegen die von Huygens vertretene ' Mit dieser Entscheidung korrigiert Leibniz seine ursprüngliche Annahme, mit den Grundbegriffen des Atoms und des leeren Raumes lasse sich eine befriedigende Erklärung der Körper und ihrer Bewegungen geben (autobiographisch: Systeme nouveau de la nature et de la communication des substances, aussi bien que de l'union qu'il y a entre l'ame et le corps [1695; im folgenden kurz Systeme nouveau], Philos. Schriften IV, S. 478). Eine solche Annahme muß zeitlich mit seinem Studium der Atomistik Gassendis zusammenfallen, bereits der Brief vom 20./30. April 1669 an J. Thomasius (publiziert in der Nizolius-Edition 1670) enthält hinsichtlich des Begriffs eines vacuum disseminatum (Gassendi) recht vorsichtige Formulierungen (Akad.-Ausgabe II l, S. 15). Die Ätherhypothese ist zuerst in der „Hypothesis physica nova" (1671) ausgeführt (Math. Schriften VI, S. 17—59), in der Abhandlung mit dem Titel „Tentamen de motuum coelestium causis", die 1689 in den „Acta Eruditorum" erschien, wird sie zur Erklärung der Keplerschen Astronomie herangezogen (Math. Schriften VI, S. 144—161). Noch in den Formulierungen der „Monadologie", lange nachdem Leibniz glaubte, durch sein ,Kontinuitätsprinzip' die atomistische Unterscheidung von Korpuskel und Raum endgültig überwunden zu haben, erkennt man die Sprache dieser Hypothese wieder („Car, comme tout est plein, ce qui rend toute la matiere liee, et comme dans le plein tout mouvement fait quelque effect sur les corps distans,...", Robinet, S. 107 [= Philos. Schriften VI, S. 617]); vgl. C. 521 (Primae veritates, ca. 1680/84): „videmus... in vase liquore pleno (quäle vas est totum Universum) motum in medio factum propagari ad extrema, licet magis magisque insensibilis reddatur, prout ab origine magis recedit" (derselbe Zusammenhang wie § 61 der „Monadologie"). 10 Vgl. Confessio naturae contra atheistas (1669), Akad.-Ausgabe VI l, S. 490 („omnia quoad ejus fieri possit, ex natura corporis, primisque ejus qualitatibus: Magnitudine, Figura et Motu deducenda esse" — unter Hinweis auf die .Korpuskularphilosophen' Galilei, Bacon, Gassendi, Descartes, Hobbes und Digby!); Brief vom 20./30. April 1669 an J. Thomasius (Akad.-Ausgabe II l, S. 15). Vgl. Huygens' .cartesische' Bemerkung, im Zusammenhang mit dem Problem der Gravitation, ebenfalls aus dem Jahre 1669: „Pour chercher une cause intelligible de la pesanteur il faut voir comment il se peut faire, en ne supposant dans la nature que des corps faicts d'une mesme matiere, dans lesquels on ne considere nulle qualite, ny inclination a s'approcher les uns des autres, mais seulement des differentes grandeurs, figures et mouvements" (CEuvres XIX, S. 631). 31*

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Annahme eines leeren Raumes, desgleichen gegen die Einführung der Härte als zusätzlicher korpuskularer Eigenschaft; schlägt sich also, wenn man so will, auf die Seite der Cartesianer. Dennoch fällt es schwer, Leibniz auch nur zeitweilig als einen Cartesianer zu bezeichnen. Autobiographische Bemerkungen bestätigen, daß seine Kenntnisse Descartes' anfänglich höchst oberflächlich waren11, ein genaueres Descartes-Studium wiederum mit einem kritischen Abrükken von atomistischen Positionen zusammenfällt. Als Leibniz den Cartesianismus näher kennenlernte, war er selbst bereits zu kritisch, um Cartesianer werden zu können. Die Reduktion der materiellen Welt auf reine Ausdehnung widersprach nicht nur dem ursprünglich vertretenen physikalischen Atomismus, sie läßt auch einen Begriff vermissen, der für Leibniz zunehmend an Bedeutung gewinnt: den (physikalischen) Begriif der Kraft. Dabei ist es keineswegs so, daß Leibniz in seiner Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus auch nur über Grundzüge einer Dynamik verfügte, die der cartesischen Physik entscheidend überlegen gewesen wäre. Ebenso wie in seiner Rechtfertigung gegenüber dem Vorwurf, ein Anhänger des Atomismus zu sein1*, verläßt sich Leibniz im Grunde nur auf Vermutungen, die in begrifflicher Klarheit als physikalische Sätze zu formulieren, ihm nicht oder nur recht unzureichend gelingt. 11

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Gegenüber Foucher gesteht Leibniz nodi 1675, vier Jahre nach dem Erscheinen der „Hypothesis physica nova" und der »Theoria motus abstracti", daß er die .metaphysischen und physikalischen Überlegungen' Descartes' zumeist nur aus populären Darstellungen kenne (Akad.-Ausgabe III, S. 247); andererseits betont er bereits 1669 in seinem Schreiben an Thomasius, daß er selbst kein Cartesianer sei (Akad.Ausgabe II l, S. 15), die Aristotelische „Physik" erscheint ihm von ihrer begrifflichen Seite her gesehen wichtiger als der Cartesische Beitrag (ebd.). Ein genaueres Descartes-Studium fällt in die Zeit seines Pariser Aufenthalts (März 1672 — September 1676); für die Intensität dieses nachgeholten Studiums spricht, daß sich Leibniz Zugang auch zu den von Clerselier verwahrten, später verlorengegangenen Manuskripten Descartes' verschafft und Auszüge anfertigt (vgl. Philos. Schriften IV, S. 276). Auf diesen Auszügen basiert später die Ausgabe Foucher de Careils (A. Foucher de Careil, GEuvres indites de Descartes, I—II, Paris 1859/60, I, S. 3 ff. [Cartesii Cogitationes privatae — annotees par Leibniz]). Vgl. D. Selver, Der Entwickelungsgang der Leibniz'schen Monadenlehre bis 1695, Philosophische Studien 3, ed. W. Wundt, Leipzig 1886, S. 233 ff.; eine umfassende, sich nicht auf das biographische Detail beschränkende Darstellung gibt Y. Beiaval, Leibniz critique de Descartes, Paris 1960. Vgl. sein ausführliches Schreiben an H. Fabri gleich nach seiner Rückkehr aus Paris Ende 1676, das noch einmal in kurzer Form die Grundthesen der „Hypothesis physica nova" enthält (Akad.-Ausgabe II l, S. 286—301); dazu den Brief vom 28. September 1686 an Arnauld, Philos. Schriften II, S. 66 (= Le Roy, S. 134 f.).

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Wo er glaubt, Descartes in einem entscheidenden Punkt seiner Physik widerlegt zu haben, beruht die gesamte Auseinandersetzung auf einem Mißverständnis. Leibniz nimmt an, daß Descartes' Überlegungen zur Bewegungsgröße (m v) den Versuch einer Definition der Kraft darstellen. Seine Kritik soll die Inadäquatheit des Cartesischen Kraftbegriffes herausstellen und zugleich als Grundlage einer neuen Dynamik dienen.18 Leibniz erkennt, daß sich viele Sachverhalte nicht durch den Begriff der Bewegungsgröße, d. h. durch den Impulssatz, erklären lassen (Beispiel: die Pendelbewegung hinsichtlich der Steighöhe). Daher auch die Wahl seines eigenen Beispiels14: er betrachtet zwei Körper m und 4m, die auf die Höhe 4h bzw. h gehoben werden. Seine Annahme beruht darin, daß in beiden Fällen die gleiche Kraft aufgewendet werden muß. Nach dem Fallgesetz erlangt nun der Körper m nach Durchfallen von 4h eine Geschwindigkeit v, die doppelt so groß ist wie die Endgeschwindigkeit des Körpers 4m nach Durchfallen von h. Diejenige Größe aber, die in beiden Fällen gleich ist, ist nicht das Cartesische m v, sondern wegen m · (2v)2 = 4m · (v)2 die ,Kraftc m v2 (später ,vis viva* genannt1*). Dies wiederum entspricht dem heutigen Begriff der kinetischen Energie18, die aus Definitionsgründen durch Integration den Fak13

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Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii et aliorum circa legem naturae, secundum quam volunt a deo eandem semper quantitatem motus conservari, qua et in re mechanica abutuntur, Acta Eruditorum 5 (1686), S. 161—163 (= Math. Schriften VI, S. 117—119, Beilage und Scholium S. 119—123). Vgl. De causa gravitatis, et defensio sententiae autoris de veris naturae legibus contra Cartesianos, Acta Eruditorum 9 (1690), S. 228—239 (= Math. Schriften VI, S. 193—203). Brevis demonstratio . .., Math. Schriften VI, S. 118; vgl. Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum (1692), Philos. Schriften IV, S. 370 ff. Specimen dynamicum pro admirandis naturae legibus circa corporum vires et mutuas actiones detegendis et ad suas causas revocandis, Acta Eruditorum 14 (1695), S. 149 (= Math. Schriften VI, S. 238): „Hinc Vis quoque duplex: alia elementaris, quam et mortuam appello, quia in ea nondum existit motus, sed tantum solicitatio ad motum, qualis est globi in tubo, aut lapidis in funda, etiam dum adhuc vinculo tenetur; alia vero vis ordinaria est, cum motu actuali conjuncta, quam voco vivam." (In einer Beilage zur „Brevis demonstratio", deren Formulierungen aus der Entstehungszeit des „Specimen dynamicum" stammen, finden sich die Ausdrücke ,potentia viva', .potentia mortua'; Math. Schriften VI, S. 120 f.). In der Leibnizschen Formulierung lautet das Ergebnis an dieser Stelle („Specimen dynamicum"): „Eodemque modo generaliter colligitur, vires aequalium corporum esse ut quadrata celeritatum, et proinde vires corporum in Universum esse in ratione composita ex corporum simplice et celeritatum duplicata" (Math. Schriften VI, S. 245). Im „Discours de Metaphysique" bringt Leibniz selbst in diesem Zusammenhang das Beispiel der Pendelbewegung (§17; Philos. Schriften IV, S. 442 [= Le Roy, S. 53]). »A regard de la physique, il faut entendre la nature de la force, toute differente du mouvement, qui est quelque chose de plus relatif. Qu'il faut mesurer cette force par

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tor 1/2 erhält. Das erwähnte Mißverständnis entsteht also lediglich dadurch, daß Leibniz in beiden Fällen, der Cartesischen Diskussion von m v und seiner eigenen von m v2, denselben Begriff der Kraft intendiert sieht. Tatsächlich handelt es sich um verschiedene Begriffe (bei Descartes wirkt die Kraft während einer Dauer, bei Leibniz längs eines Weges), die beide ihrerseits von dem üblichen Newtonschen Kraftbegriff (m b) verschieden sind.17 Was den Leibnizschen Kraftbegriff betrifft, so entspricht er in diesem Sinne dem modernen Begriff der Arbeit. Die historische Wirksamkeit dieser Auseinandersetzung aber liegt nun in erster Linie darin, eine auf einem Mißverständnis beruhende Kontroverse beträchtlichen Umfangs zwischen ,Leibnizianern' (unter ihnen Joh. Bernoulli, W. J. s'Gravesande, Chr. Wolff) und ,Cartesianern' (unter ihnen der Abbe de Catelan, P. J. S. Maziere, S. Clarke) ausgelöst zu haben.18 Sachlich gesehen geht es lediglich um die Leibnizsche Einsicht, daß die Erklärung, warum ein Körper so hoch steigt, wie er gefallen ist (Pendel), nicht schon durch m v (Impulssatz), sondern durch m v2 (Energiesatz) erfolgen kann. Doch diese jharmlose' Unterscheidung bleibt, Leibniz folgend, unbemerkt. Die Kontroverse nimmt 17

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la quantite de l'effect" (Brief vom 23. März 1690 an Arnauld, Philos. Sdiriften II, S. 137 [= LeRoy, S. 200]). Vgl. die sorgfältige Analyse bei M. Jammer, Concepts of Force. A Study in the Foundations of Dynamics, Cambridge Mass. 1957, S. 162 ff. In einer am 8. Januar 1692 an P. Pelisson gerichteten, von Foucher de Careil publizierten Version des „Essay de dynamique" (dazu P. Costabel, Leibniz et la dynamique. Les textes de 1692, Paris 1960, S. 15 ff.) findet sich die folgende, den terminologischen Spielraum klar umreißende Bemerkung: „Si quelqu'un veut donner un autre sens a la force, comme en effect on est assez accoustumo ä la confondre avec la quantite du mouvement, je ne veux pas disputer sur les mots, et je laisse aux autres la liberte que je prends d'expliquer les termes; c'est assez qu'on m'accorde ce qu'il y a de liel dans mon sentiment, scavoir que ce que j'appelle la force se conserve et non pas ce que d'autres ont appelo de ce nom: puisque autrement la nature n'observeroit pas la loy de Pogalite" entre l'effect et la cause, ..." (GEuvres de Leibniz, I—VII, ed. A. Foucher de Careil, Paris 1859—1875, I, S. 480). Vgl. Leibnizens Brief vom 28. November/8. Dezember 1686 an Arnauld, Philos. Schriften II, S. 78 ff. (= Le Roy, S. 147 ff.); zum Verlauf der Auseinandersetzung: R. Dugas, La mecanique au XVIIe stiele, Neuchätel 1954, S. 477 ff.; P. Costabel, a.a.O., S. 32 ff.; Th. L. Hankins, Eighteenth-Century Attempts to Resolve the Vis viva Controversy, Isis 56 (1965), S. 281—297 (J. le R. d'Alembert, W. J. s'Gravesande, R. Boscovich). Kant unternimmt noch 1746 den (methodisch unzureichenden, auf einer unzweckmäßigen Unterscheidung zweier Bewegungsformen basierenden) Versuch, zwischen Cartesianern und Leibnizianern zu vermitteln (Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise, derer sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedienet haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen, Königsberg 1746).

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eben jenen grundsätzlichen Charakter an, den ihr Leibniz selbst schon zu geben suchte, sie wird zur Kontroverse über die Existenz ,lebendiger Kräfte* innerhalb des mechanischen Weltbildes. Leibniz selbst hat den Ausgang dieser Kontroverse nicht abgewar1 tet. * Für ihn steht nunmehr fest, daß die elementaren Bausteine der (physikalischen) Welt primär durch den Begriff der lebendigen Kraft (vis viva) charakterisierbar sind.20 Daß in einer solchen Ausdrucksweise strenggenommen eine Metapher unbegründet in den Rang einer begründeten Behauptung gehoben wird, übersieht er. Dabei ist natürlich auch gleichgültig, ob im einzelnen von ,vis viva', von ,force primitive' oder ,conatus' die Rede ist. An den Wörtern liegt es nicht, wenn unklar bleibt, welche sachliche Bedeutung die Auszeichnung des Energiesatzes rechtfertigt. Andererseits trägt gerade die Verwendung eines Ausdrucks wie jConatus', den Leibniz von Hobbes übernimmt, der sich jedoch auch lf

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Die historische These, d'AIembert habe 1743 mit dem „Traite de dynamique" die Kontroverse beendet (so z. B. E. Mach, Die Mechanik, S. 289; H. Alexander in seiner Edition: The Leibniz-Clarke Correspondence, Manchester 1956, S. XXXI), ist korrekturbedürftig (vgl. L. L. Laudan, The Vis viva Controversy, a Post-Mortem, Isis 59 [1968], S. 131—143). D'AIembert sieht zwar richtig, daß hier im Grunde lediglich ein Streit um Worte vorliegt (,une dispute de mots', Traite de dynamique, Paris 1743, S. XXI [= CEuvres I, S. 400], vgl. Ausg. 1758, S. XXII; so auch schon W. J. s'Gravesande, Remarques sur la force des corps en mouvement, et sur de choc, Journal Litteraire 13 [1729], S. 197), doch machen neben Kants bereits erwähntem Versuch aus dem Jahre 1746 auch die Beiträge von P. R. J. Boscovich (De viribus vivis, Rom 1745), L. Euler (De la force de percussion et de sä verkable mesure, Memoirs de l'Acad6mie Royale des Sciences et des Beiles Lettres de Berlin 1745, Berlin 1746, S. 27—33) und J. T. Desaguliers (A Course of Experimental Philosophy II, Preface, S. V f. [= 17633, S. V f.]) deutlich, daß diese Einsicht, sofern sie zu jener Zeit überhaupt mit d'Alemberts Namen verbunden war (dazu L. L. Laudan, a.a.O., S. 140), zumindest erläuterungsbedürftig bleibt. Hinzu kommt, daß d'Alemberts eigener Vorschlag, die Kraft eines Körpers durch seine Fähigkeit, Hindernisse zu überwinden, zu messen, an entscheidender Stelle selbst lückenhaft ist. Da ihm eine ,abstrakte Betrachtung' der Masse nicht sinnvoll erscheint (a.a.O., S. XVIII [= CEuvres I, S. 399]), da er andererseits aber in seinen Beispielen ohne Zweifel von träger Masse spricht, bleibt die Frage unbeantwortet, wie anders als durdi die Fähigkeit, Hindernisse zu überwinden, sich träge Masse definieren läßt. „Dicam..., notionem viriurn seu virtutis (quam Germani vocant Kraffl, Galli la force) cui ego explicandae peculiarem Dynamices scientiam destinavi, plurimum lucis afferre ad veram notionem substantiae intelligendam. ... vis activa actum quendam sive continet, atque inter facultatem agendi actionemque ipsam media est, et conatum involvit", De Primae Philosophiae Emendatione, et deNotione Substantiae (Acta Eruditorum 13 [1694], S. 110—112, hier S. 111 f.), Philos. Schriften IV, S. 469. Vgl. Systeme nouveau (1695), Philos. Schriften IV, S. 478 (dazu den ersten Entwurf dieser im Juni 1695 im „Journal des Scavans" erschienenen Schrift, Philos. Schriften IV, S. 472); Brief vom 18. November 1698 an Joh. Bernoulli, Math. Schriften III, S. 552 f.

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bei Huygens findet, nur zur Verwirrung bei. Denn bislang ließ sich unter conatus sowohl potentielle Energie als auch Kraft (Gravitationskraft) verstehen; angerührt (aber nicht entschieden) war hiermit lediglich das Phänomen von Kräften in einem Zustand, in dem (noch) keine Bewegungen auftreten. Mit der Charakterisierung elementarer Bausteine durch eine ,lebendige* oder auch ,wirkende' Kraft (vis activa), die einerseits als vis primitiva individuelle Eigenschaft dieser Bausteine selbst (vis primitiva, quae in omni substantia corporea per se inest)21, andererseits als vis derivativa durch dynamische Wechselwirkung stets eingeschränkte Kraft ist22, scheint ein ,kosmologisches' Konzept erreicht zu sein, mit dem Leibniz, seiner Absicht entsprechend, glauben konnte, sowohl die von ihm kritisierten atomistischen Standpunkte (von Gassendi bis Huygens) als auch die Cartesische physikalische Reduktion im Begriff der res extensa überwunden zu haben. Tatsächlich tritt in diesem Zusammenhang der Ausdruck agens extensum als Definition des Körpers auf"; die klassischen Bestimmungen der Größe, der Gestalt und des Bewegungszustandes sind durch die Bestimmung einer wirkenden Kraft ergänzt. Doch auch diese Formulierung genügt Leibniz nicht, sofern es ihm um die Frage elementarer Bausteine geht. Wie er in einem Brief an Arnauld aus dem Jahre 1671 schreibt, gehört Ausdehnung nicht zum Wesen eines Körpers (corporis essentiam non consistere in extensione)84; daß sie 21

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M

Specimen dynamicum I, Math. Schriften VI, S. 236; vgl. Lettres et opuscules inodits de Leibniz, ed. A. Foucher de Careil, Paris 1854, S. 303: „L'essence des substances consiste dans la force primitive d'agir ou dans la loy de la sorte des changemens comme la nature de la s£rie dans les nombres" (Notiz zu einem Brief an S. Foucher vom 3. August 1693). „(Vis) derivativa, quae primitivae velut limitatione, per corporum inter se conflictus resultans, varie exercetur" (Specimen dynamicum I, Math. Schriften VI, S. 236; vgl. Brief vom 20. Juni 1703 an B. de Voider, Philos. Schriften II, S. 251). Die Unterscheidung zwischen einer vis primitiva und einer vis derivativa könnte mit Rücksicht auf eine weitere Brief stelle (21. Januar 1704 an B. de Voider, Philos. Schriften II, S. 262) in moderner Terminologie wiedergegeben werden durch das Begriffspaar Gesamtenergie — potentielle Energie; die vis derivativa tritt als Charakterisierung eines speziellen Zustandes durch Angabe der potentiellen Energie auf, während ,das Beharrende selbst' (ipsum persistens, ebd.) die während der Veränderung eines Systems gleichbleibende Gesamtenergie ist. „Notioni ... extensionis sive varietatis addenda actio est. Corpus ergo est Agens extensum: dici potent, esse substantiam extensam, modo teneatur omnem substantiam agere, et omne agens substantiam appellari" (Philos. Schriften VII, S. 326; vgl. Specimen dynamicum I, Math. Schriften VI, S. 235). Akad.-Ausgabe II l, S. 172; Brief an H. Fabri aus dem Jahre 1676, Akad.-Ausgabe II l, S. 300; vgl. die Kritik am Cartesischen Begriff der Ausdehnung: Addition a

Das Labyrinth des Kontinuums

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nicht Eigenschaft elementarer Bausteine sein kann, steht in der physikalischen Schrift „Theoria motus abstracti" aus dem gleichen Jahre. 14.2 Das Labyrinth des Kontinuums (Infinitesimalmathematik und Monadentheorie) Die „Theoria motus abstracti", die Leibniz zusammen mit einer „Hypothesis physica nova" betitelten Schrift veröffentlicht, enthält nach Euklidischem (protophysikalisdbem) Muster eine Liste von Definitionen, Axiomen (fundamenta praedemonstrabilia), Theoremen und allgemeinen wie besonderen Problemen. Die ersten vier Axiome lauten": (1) Im Kontinuum sind Teile wirklich gegeben (dantur actu partes in continue), (2) diese Teile sind wirklich unendlich (eaeque infinitae actu), (3) es gibt kein Kleinstes im Raum oder im Körper (nullum est minimum in spatio aut corpore), (4) es gibt Unteilbares oder Unausgedehntes (dantur indivisibilia seu inextensa). Satz (4) wird bewiesen, wobei in dem Beweis die unendliche Reihe l + */2 + *A + an Hand der geometrischen Überlegung auftritt, daß eine fortschreitende Halbierung einer Strecke AB keinen der Endpunkte erreicht. In jedem gegebenen Teilintervall läßt sich ein von den beiden Endpunkten verschiedener Punkt, nämlich der Mittelpunkt des Intervalls, konstruieren; die Endpunkte der Strecke, so schließt Leibniz, erweisen sich als unausgedehnt. Man hat es hier mit einer einfachen Kontinuumsbetrachtung zu tun, die noch keinen Zusammenhang mit einem kalkülmäßigen Verfahren erkennen läßt. Leibniz ist zu jener Zeit zwar mit der Indivisibelngeometrie Cavalieris vertraut2*, die jedoch ebenfalls nicht kalkülmäßig ausgearbeitet ist; seine Überlegungen bewegen sich auf dem Niveau der l'Explication du Systeme nouveau touchant l'union de Tarne et du corps, envoyee a Paris ä l'occasion d'un livre intitule* Connoissance de soy meme, Philos. Schriften IV, S. 589 (dieser Teil der Auseinandersetzung mit dem Benedektiner F. Lami trägt das Datum: 30. November 1702). » Akad.-Ausgabe VI 2, S. 264. ** Vgl. seinen Hinweis zu Ziffer (5) der ,Fundamenta praedemonstrabilia', Akad.Ausgabe VI 2, S. 265. Erst in Paris dürfte Leibniz jedoch auf Anregung von Huygens neben den mathematischen Werken Pascals, Fabris, Gregorius', Wallis', Descartes' und Sluses auch Cavalieris „Geometria indivisibilibus continuorum nova quadam ratione promota" (Bologna 1635, 16532) genauer studiert haben (vgl. den Entwurf eines Nachtrags zu einem Brief vom April 1703 an Jak. Bernoulli, Math. Schriften III, S. 73); seine Quelle für Kontinuumsbetrachtungen der erwähnten Art vor 1672 ist Th. Hobbes, De corpore II 8 ff. (Opera I, S. 96 ff.). Vgl. J. E. Hofmann, Leibniz* mathematische Studien in Paris, Berlin 1948, S. 5 (Leibniz zu seinem 300. Geburtstag, Lief. 4).

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Aristotelischen Kontinuumsbetrachtungen, ohne daß es ihm schon, wiederum vergleichbar mit der Aristotelischen Darstellung, auf irgendwelche formalen Konsequenzen angekommen wäre. So bleibt etwa der Unterschied zwischen dem arithmetischen und dem geometrischen Kontinuum unbeachtet; der Umstand, daß sich im angeführten Beispiel der Mittelpunkt eines Intervalls sowohl geometrisch konstruieren als auch arithmetisch, durch das sogenannte arithmetische Mittel, angeben läßt, spielt keine Rolle. Anders ausgedrückt: die Intention, die hinter diesen Überlegungen steht, ist selbst keine mathematische, sondern eine physikalische Intention. Leibniz formuliert (sicher auch hier wieder im Anschluß an aristotelische Traditionen) ein Kontinuitätsprinzip, welches besagt, daß sich jede gegebene Einteilung durch neue Einteilungen überschreiten läßt27, und wendet dieses Prinzip auf die Physik an. Das Ergebnis ist bereits in den Axiomen (3) und (4) vorweggenommen: es gibt keine materiellen (nämlich unter anderem auch durch die Eigenschaft der Ausdehnung bestimmten) elementaren Bausteine der materiellen Welt.28 27

28

„Lorsque la difference de deux cas peut estre diminue'e au dessous de toute grandeur donnde in datis ou dans ce qui est pose, il faut qu'elle se puisse trouver aussi diminuie au dessous de toute grandeur donnee in quaesitis ou dans ce qui en resulte, ou pour parier plus familierement: Lorsque les cas (ou ce qui est donne) s'approchent continuellement et se perdent enfin Tun dans l'autre, il faut que les suites ou evenemens (ou ce qui est demande) le fassent aussi. Ce qui depend encor d'un principe plus general, s?avoir: Datis ordinatis etiam quaesita sunt ordinata" (Lettre de M. L. sur un principe general utile a l'explication des loix de la nature par la consideration de la sagesse divine, pour servir le replique ä la reponse du R. P. D. Malebranche [1687], Philos. Schriften III, S. 52 [in lateinischer Version: Math. Schriften VI, S. 129]). In dieser Formulierung einer ,loy de la continuit£' (,lex continuationis'), die im Juli 1687 in den „Nouvelles de la republique des lettres" (im Rahmen einer vom Abb£ Catelan entfachten Auseinandersetzung über Leibnizens Descartes-Kritik [„Brevis demonstratio", 1686]) erscheint und auf die Leibniz später wiederholt verweist (vgl. Philos. Schriften IV, S. 375 [Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum], Math. Schriften VI, S. 249 f. [Specimen dynamicum II], Philos. Schriften VII, S. 279 [Tentamen Anagogicum], Math. Schriften IV, S. 105 [Brief vom 23. Mai 1702 an Varignon], Philos. Schriften IV, S. 568 [Reponse aux reflexions contenues dans la seconde Edition du Dictionnaire Critique de M. Bayle, article Rorarius, . . .]), tritt bereits der Begriff der Stetigkeit einer Funktion im modernen Sinne auf. Unter den gegebenen Größen sind hier die Werte einer freien Variablen zu verstehen, unter den abhängigen Größen die entsprechenden Funktionswerte. „Ex nostris quoque corporis viriumque notionibus id nascitur, ut quod in substantia fit, sponte et Ordinate fieri intelligi possit. Cui connexum est ut nulla mutatio fiat per saltum. Quo posito sequitur etiam, Atomos dari non posse" (Specimen dynamicum II, Math. Schriften VI, S. 248); vgl. C. 522 (Primae veritates): „non datur atomus" (komplementär: „non datur vacuum", C. 521). In einem zuerst von Samuel König veröffentlichten, an P. Varignon adressierten Brief über das

Das Labyrinth des Kontinuums

491

Für Leibniz mußte dieses Ergebnis, auf das er sich durch eine ,protophysikalische' Kontinuumsbetrachtung geführt sah, zusammen mit seiner Kritik am mechanistischen, in seinen Augen unbefriedigenden Begriff der Materie die alte Substanzenlehre, jene substantiellen Formen', von denen er sich als 15-jähriger in einem Wäldchen bei Leipzig verabschiedet hatte29, auf eine verblüffende Weise wieder aktuell werden lassen. Er selbst zieht denn auch bewußt die Parallele zu dieser Lehre, indem er Ausdrücke wie ,les formes substantielles* und ,les entelechies premieres'30 wieder aufgreift, um mit ihnen seinen veränderten Begriff elementarer Bausteine zu erläutern. „Or la multitude ne pouvant avoir sä realite que des unites rentables qui viennent d'ailleurs et sont tout autre chose que les points dont il est constant que le continu ne scauroit estre compose; done pour trouver ces unites reelles, je fus contraint de recourir a un atome formel, puisqu'un estre materiel ne sfauroit estre en meme temps materiel et parfaitement indivisible, ou doue* d'une veritable unite.31 II f allut done rappeller et comme rehabiliter les formes substantielles, si decriees aujourd'huy."32 Wenig später heißt es an derselben Stelle, daß die Annahme ,materieller Atome' der Vernunft widerstreite und diese daher durch die Annahme substantieller Atome', auch ,metaphysische Punkte' genannt, ersetzt werden müsse.83

M 30 31

32 33

Kontinuitätsprinzip wird der Zusammenhang von Geometrie und Physik, der in diesem Punkte nicht nur ein protophysikalischer Zusammenhang ist, sondern unmittelbar Aussagen über den Aufbau der (physikalischen) Welt zu erlauben scheint, wie folgt ausgedrückt: „L'universaliti de ce Principe dans la Geometrie m'a bientöt fait connoitre, qu'il ne sauroit manquer d'avoir lieu aussi dans la Physique: puisque je vois, que, pour qu'il y ait de la regle et de l'ordre dans la Nature, il est necessaire, que le Physique harmonic constamment avec le Geometrique; et que le contraire arriveroit, si la, la Gdomitrie demande de la continuation, le Physique souffroit une subite interruption" (E. Cassirer [Ed.], G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, I—II, übers, v. A. Buchenau, Hamburg 19668 [im folgenden kurz Cassirer, Hauptschriften], II, S. 556). Brief vom 10. Januar 1714 an N. Remond, Philos. Schriften III, S. 606. Systeme nouveau, Philos. Schriften IV, S. 478 f. Dieser Textstelle aus dem „Systeme nouveau" (publiziert am 27. Juni 1695 im „Journal des Scavans", S. 294—306) hat Leibniz später folgende Form gegeben: „... et sont tout autre chose que les points mathematiques qui ne sont que des extremites de Petendu et des modifications dont il est constant, que le continuum ne scauroit estre compose. Done pour trouver ces unites reelles, je fus contraint de recourir a un point reel et anime pour ainsi dire, ou a un Atome de substance qui doit envelopper quelque chose de forme ou d'actif, pour faire un Estre complet" (Philos. Schriften IV, S. 478 [dort beide Versionen]). Systeme nouveau, Philos. Schriften IV, S. 478 f. Systeme nouveau, Philos. Schriften IV, S. 482.

492

Logik und Metaphysik

Bei alledem ist im Grunde nur das Dilemma klar, in dem sich Leibniz sieht, sowie sein Versuch, diesem Dilemma durch eine theoretische Konstruktion (am greifbarsten noch in der Wendung ,formales Atom') zu entgehen. Weil ihm gerade das aber in physikalischen Kontexten nur sehr unvollkommen gelingt, ein spekulatives Interesse der Vernunft ihn vielmehr sofort unter Hinweis auf Beobachtungen holländischer Biologen mit alternativen Wendungen wie ,kleine Götter* oder jgeistige Automaten' spielen läßt34, bleibt auch die spätere Monadenkonzeption, sofern sie ihre Wurzeln in der schrittweisen Korrektur eines physikalischen Atomismus hat, methodisch unbefriedigend. Der Schritt von den ,materiellen Punkten' zu den »metaphysischen Punkten', so wie er hier beschrieben wird, ist methodisch nicht hinreichend ausgewiesen. Daran ändert sich auch nichts, nachdem die ursprüngliche Kontinuumsbetrachtung durch die Einführung exakter infinitesimaler Methoden ein mathematisch einwandfreies Fundament erhalten hat. Leibniz hatte vor dem ,Labyrinth des Kontinuums* gewarnt, das aus dem Begriff des Unendlichen entspringe35; seine Bewältigung des Begriffs des Unendlichen im Sinne eines stets nur potentiell (niemals aktual) gegebenen Unendlichen führt aus diesem Labyrinth heraus (ebenso wie schon Aristoteles39, wenn auch noch ohne weitergehende mathematische In34

85

88

Systeme nouveau, Philos. Schriften IV, S. 479 f., 485. Die Unterscheidung zwischen ,Natur-Monaden' und .Geist- (bzw. .Seelen-) Monaden', die hinter derartigen Betrachtungen steht (vgl. E. Heintel, Die beiden Labyrinthe der Philosophie I, Wien/ München 1968, S. 12 ff.), ist die Leibnizsche Version des Cartesischen Gegensatzes von res extensa und res cogitans. Der Versuch, diese Unterscheidung im Begriff der Monade als eine sekundäre Unterscheidung darzustellen, ist daher auch im Grunde nichts anderes als der Versuch einer Überwindung des Cartesischen Substanzen-Dualismus mit Cartesischen Mitteln. Daß dies jedoch nicht die einzige Antwort ist, die Leibniz auf das Cartesische Dilemma weiß, wird im folgenden noch gezeigt. Vgl. zunächst: Considerations sur la doctrine d'un Esprit Universel Unique (1702), Philos. Schriften VI, S. 533; Les Principes de la Philosophie ou la Monadologie S 64 ff., Robinet, S. 111 ff. (= Philos. Schriften VI, S. 618 f.); Brief vom 5. August 1715 an L. Bourguet, Philos. Schriften III, S. 581. De libertate (ca. 1679), Nouvelles lettres et opuscules inedits de Leibniz, ed. A. Foucher de Careil, Paris 1857 (im folgenden kurz F. de C., Nouvelles lettres), S. 180; Essais de Th^odic^e (Preface), Philos. Schriften VI, S. 29. Der Ausdruck jLabyrinth des Kontinuums' stammt von L. Fromond, auf dessen Buch (Labyrinthus; sive, de compositione continui über unus, Antwerpen 1631) Leibniz in einer programmatischen Notiz aus seinen Pariser Jahren verweist (11. Februar 1676; I. Jagodinskij, Leibnitiana. Elementa philosophiae arcanae de summa rerum, Kasan 1913, S. 36). Auf den sich Leibniz schon 1669 in seinem Brief an Thomasius in diesem Zusammenhang beruft (Akad.-Ausgabe II l, S. 16 f.). Die Aristotelische Kontinuumsbetrachtung findet sich in Phys. Z.; dazu W. Wieland, Die aristotelische Physik. Unter-

Das Labyrinth des Kontinuums

493

teressen, aus diesem Labyrinth gewiesen hatte), dodi tut sich, wie es scheint, von Leibniz zunächst unbemerkt, in der Verbindung mathematischer Aussagen über diff erentielle Größen mit physikalischen Aussagen über den elementaren Aufbau der Welt in diesem Falle nur ein neues Labyrinth auf.37 Das Labyrinth der Metaphysik. Man kann die Entstehung der modernen Infinitesimalmathematik als eine interne mathematische Entwicklung, als Kalkülisierung infinitesimaler Darstellungen in einer Theorie der Differentiation und Integration reeller Funktionen auffassen. Man kann diese Entwicklung aber auch, wie Leibniz dies z. B. schon in der „Theoria motus abstract!" selbst tut und wie die parallele Entwicklung der Fluxionsredmung durch Newton zeigt, von vornherein mit der Bewältigung mechanischer Probleme in Verbindung bringen. Die Tangentenbestimmung ebener Kurven wird als die Bestimmung der Geschwindigkeit einer Bewegung interpretiert, wobei die Steigung der Tangente die Größe der Geschwindigkeit angibt. Eine Tangentenbestimmung ebener Kurven durch kalkülmäßige Verfahren war bis dahin unbekannt. Man behalf sich zunächst noch, wie Torricelli, Roberval und Fermat, mit der sogenannten mechanischen Tangentenregel, die auf die Parallelogrammregel für die Addition von Geschwindigkeiten in der klassischen Physik hinausläuft. Ein durch Fermat verbessertes Verfahren zur Bestimmung der Maxima und Minima gewisser differenzierbarer Funktionen f(x) läßt dann zwar vermuten, suchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962, S. 278 ff.; P. Janich, Die Protophysik der Zeit, S. 158 ff. (in kritischer Auseinandersetzung mit W. Wielands Thesen). 37 „Hinc sequitur in omni particula universi contineri mundum infinitarum creaturarum. Non tarnen continuum in puncta dividitur, nee dividitur omnibus modis possibilibus; non in puncta, quia puncta non sunt partes, sed termini; non omnibus modis possibilibus, quia non omnes creaturae insunt in eodem, sed certus tantum earum in infinitum progressus" (C. 522 [Primae veritates]). Ganz anders, nämlich nunmehr methodisch bestimmt und gerade dort unterscheidend, wo in der vorausgegangenen Bemerkung vom Anfang der achtziger Jahre gerade nicht unterschieden wird, klingt später folgender Hinweis gegenüber de Voider: „Continuum nempe involvit partes indeterminatas, cum tarnen in actualibus nihil sit indefinitum, quippe in quibus quaecunque divisio fieri potest, facta est. Actualia componuntur ut numerus ex unitatibus, idealia ut numerus ex fractionibus: partes actu sunt in toto reali, non in ideali. Nos vero idealia cum substantiis realibus confundentes, dttm in possibilmm ordine partes actuates, et in actualium aggregato partes indeterminatas qttaerimus, in labyrinthum continui contradictionesque inexplicabiles nos ipsi induimus" (Brief vom 19. Januar an B. de Voider, Philos. Schriften II, S. 282 [Sperrung vom Verf.]). Das Labyrinth des Kontinuums ist in diesem Fall als die Folge einer methodisch ungeklärten Identifikation von mathematischen und physikalischen Aussagen erkannt.

Logik und Metaphysik

494

daß Grenzprozesse beabsichtigt sind, doch fehlt es auch hier noch an der Formulierung einer allgemeinen Methode für die Bildung der Ableitung.38 Durch die Lektüre von Pascals „Lettres"39 wird Leibniz 1673 auf die Entdeckung des sogenannten charakteristischen Dreiecks geführt40, die Einsicht nämlich, daß sich die Eigenschaften einer Kurve durch die Verhältnisse der Dreieckseiten infinitesimaler Dreiecke, deren Hypotenusen Tangenten an die Kurve sind, darstellen lassen.

B

^

Das infinitesimale Dreieck DEF ist dem aus Ordinate, Subtangente und Normale gebildeten Dreieck ABC ähnlich. Leibniz erkennt, daß sich diese von Pascal nur für den Kreis formulierte Beziehung zwischen Kurve und Tangente auf beliebige differenzierbare Funktionen anwenden läßt, wenn man den Radius AC durch die Kurvennormale ersetzt. Allerdings erlaubt diese geometrische Methode nur graphische Lösungen, weshalb auch Leibnizens eigentliche Leistung darin besteht, ein Verfahren, nämlich ein kalkülmäßiges Verfahren, entwickelt zu haben, das die Berechnung der Tangentensteigung aus der Funktion f selbst erlaubt. Mit Hilfe dieses Verfahrens läßt sich die Steigung der Tangente in einem Berührungspunkt P als Grenzfall der Steigung einer Sekante mit den M so

40

Vgl. G. Kropp, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, Mannheim 1969, S. 140 ff. Lettres de A. Dettonville ä M. de Carcavy contenent quelques unes de ses inventions de geom6trie, Paris 1659. Unter den hier veröffentlichten Schriften der „ des sinus du quart de cercle" (= CEuvres, S. 155—158), auf den sich Leibniz dann beruft. Vgl. D. Mahnke, Neue Einblicke in die Entdeckungsgeschichte der höheren Analysis, Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1925, physikal.math. Kl. Nr. l, Berlin 1926, S. 9; J. Guitton, Pascal et Leibniz. Etude sur deux types de penseurs, Paris 1951, S. 30 ff.

Das Labyrinth des Kontinuums

495

Schnittpunkten P und P' angeben, wobei der Grenzübergang darin besteht, daß P' mit P zusammenfällt. Gibt man die infinitesimalen Dreieckseiten bzw. A y durch ein Intervall h auf der x-Achse bzw. durch die Differenz der Funktionswerte an den Stellen und x + h an, so berechnet sich der Differentialquotient als Limes des Differenzenquotienten auf folgende Weise: df(x) Ay f(x + h)-f(x) — lim lim dx x-*· Obgleich beim Grenzübergang die Differenzen und A y verschwinden, muß der Quotient aus beiden einen wohldefinierten Wert haben, nämlich den der Steigung der Tangente. Und diese scheinbare Paradoxie ist es wohl, die Leibniz veranlaßt haben muß, seinen gegen den physikalischen Atomismus gerichteten physikalischen Grundbegriff des indivisibile bzw. inextensivum mit der Definition der Differentiale dx, d y in Verbindung zu bringen. Leibniz bedient sich nun mit Vorliebe der Terminologie seines 1684 zum ersten Mal in Grundzügen veröffentlichten Differential-Kalküls (calculus differentialis)41, wenn er in 41

Nova methodus pro maximis et minimis, itemquc tangentibus, quae nee fractas nee irrationales quantitates moratur, et singulare pro illis calculi genus, Acta Eruditorum 3 (1684), S. 467—473 (Math. Schriften V, S. 220—226). Die hier nur in aller Kürze (mit vielen Druckfehlern) wiedergegebenen Resultate gehen auf den Spätherbst 1675 zurück; desgleichen die später übliche Symbolik: Leibniz schreibt für das ,omn.lc Cavalieris , fl' (25. Oktober 1675; Briefwechsel, S. 154), für die inverse Operation zunächst ~-, dann d x („Idem est d

et ^, id est differentia inter duas

proximas", 11. November 1675; Briefwechsel, S. 163), „nempe ut f augebit, ita d minuet dimensiones. / autem significat summam, d differentiam" (29. Oktober 1675; Briefwechsel, S. 155). Die Bezeichnung .Integral' stammt von Joh. Bernoulli.

496

Logik und Metaphysik

physikalischen Kontexten zu erläutern sucht, was unter ,metaphysischen Punkten* (im Gegensatz zu ,materiellen Punkten') oder ,Monaden'" zu verstehen sei. Allerdings ist auch in diesem Fall der interpretatorische Wert solcher Bemühungen weitaus geringer, als Leibniz angenommen haben mag. Der Begriff des Differentials bleibt ungenügend bestimmt, auch wenn ausführlichere Erläuterungen, die ihrerseits schon Antworten auf Mißverständnisse sind, deutlich machen, daß Leibniz in der Frage, wie sich vernünftig von unendlich kleinen Strecken sprechen läßt, seinen Zeitgenossen begrifflich überlegen ist. „Mais il faut considerer...", schreibt er 1702 an Varignon, „que ces incomparables communs memes n'estant nullement fixes ou determine, et pouvant estre pris aussi petits qu'on veut dans nos raisonnemens Geometriques, fönt l'effect des infiniment petits rigoureux, puis qu'un adversaire voulant contredire a nostre enontiation, il s'ensuit par nostre calcul que l'erreur sera moindre qu'aucune erreur qu'il pourra assigner, estant en nostre pouvoir de prendre cet incomparablement petit, assez petit pour cela, d'autant qu'on peut tousjours prendre une grandeur aussi petite qu'on veut. ... D'oü il s'ensuit, que si quelcun n'admet point des lignes infinies et infiniment petites ä la rigueur metaphysique et comme des choses reelles, il peut s'en servir seurement comme des notions ideales qui abregent le raisonnement, semblables a ce qu'on appelle racines imaginaires dans Panalyse commune (comme par exemple }—2).a4S Gerade der Hinweis darauf, daß es sich bei der Bestimmung der Differentiale dx, dy um ein begriffliches Problem handelt, dessen Lösung allerdings erst später in einem exakten Begriff des Grenzwertes (A. L. Cauchy) und der Stetigkeit (R. Dedekind) erfolgt433, ist es denn auch, der in Leibnizens Augen die gesuchte Brücke zu den ^osmologischen' Sätzen seiner Physik schlägt. Differentiation und Integration erscheinen als Verfahren, deren Ziele, die Bestimmung der differentiellen Änderungen einer Funktion bzw. die Bildung der 4i

Zur Herkunft des Terminus .Monade' sowie zu seiner Verwendung im Leibnizsdien System seit 1696 vgl. die detaillierte Auskunft bei L. Stein, Leibniz und Spinoza. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Leibnizischen Philosophie, Berlin 1890, S. 194 ff. 43 Brief vom 2. Februar 1702 an P. Varignon, Math. Schriften IV, S. 92. 483 Dies geschieht in Gestalt einer Arithmetisierung dieser Begriffe; vgl. Ch. Thiel, Grundlagenkrise und Grundlagenstreit. Eine Untersuchung über das normative Fundament der Wissenschaften am Beispiel von Mathematik und Sozialwissenschaft, Erlanger Habilitationsschrift 1970, §3.1 (Ms. S. 113 f.); hier auch weitere Informationen zur Problematik unendlich kleiner Größen (Leibniz, Newton, Nieuwentijt), § 1.3 (Ms. S. 6 ff.).

Das Labyrinth des Kontinuums

497

Summe diiferentieller Größen, den Zielen ,kosmologisdier' Betrachtungen über den Aufbau der (physikalischen) Welt ähnlich sind. Die bewußt gesuchte Analogie hat den Zweck, im Kalkül etwas klarzumachen, was sich mit den zur Verfügung stehenden physikalischen* Mitteln allein nicht klarmachen läßt. Das bedeutet wiederum nicht, daß etwa die Bezeichnung der Monaden als ,hypostasierter Differentialien', der Welt als eines ,hypostasierten Integrals'44, oder die Bemerkung, daß „in dem inextensiv-intensiven Merkmal des Unendlichen das gesamte System der Monadologie gegründet" sei45, irgendeinen Erläuterungswert besäßen. Hier hilft ein bloßer Verbalismus über die eigentlichen Schwierigkeiten der Interpretation nur hinweg. Denn Schwierigkeiten bereitet nicht Leibnizens Erwartung, infinitesimale Betrachtungsweisen in der Mathematik seien auch für die Physik von Bedeutung, sondern die Art und Weise, wie sich diese Erwartung bereits ,kosmologisch' artikuliert. Sieht man davon einmal ab (und dies ist durchaus zu vertreten, weil es nicht die Aufgabe des Interpreten sein kann, einem Autor in begriffliche Unklarheiten, in die Spekulation zu folgen), so bleiben trotz mancher sprachlicher Verschränkungen Infinitesimalmathematik und Monadentheorie zwei verschiedene Dinge, die ihrem begrifflichen Aufbau nach nichts miteinander zu tun haben. Wenn Leibniz 1696 an Fardella schreibt: „haec nova inventa mathematica partim lucem accipient a nostris philosophematibus, partim rursus ipsis autoritatem dabunt"46, dann ist hier mit dem Hinweis auf seine Philosopheme nicht die Monadentheorie, sondern 44

45

46

B. Erdmann, Bericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für die Jahre 1888 und 1889 (4. Teil), Archiv für Geschichte der Philosophie 4 (1891), S. 324. Die (berechtigte) Kritik an K. Fischers Reduktion der Leibnizschen Philosophie auf Metaphysik im traditionellen (unkritischen) Sinne (K. Fischer, Gottfried Wilhelm Leibniz, München 18883) führt bei Erdmann zur metaphorischen Überlastung des oppositionellen Arguments. Später, in Kenntnis der Arbeiten Couturats, Russells und Cassirers, findet Erdmann zu einer abgewogeneren Beurteilung: Orientierende Bemerkungen über die Quellen zur Leibnizischen Philosophie, Sitzungsberichte der Königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1917, 2. Halbband, Berlin 1917, S. 658—667. Vgl. auch: J.Sturm, Die Infinitesimalgedanken in Leibnizens Metaphysik, Briesen 1907 (Beilage zum Programm des Königl. Realgymnasiums zu Briesen Westpr.), S. 8 ff.; ferner M. Tramer, Die Entdeckung und Begründung der Differential- und Integralrechnung durch Leibniz im Zusammenhange mit seinen Anschauungen in Logik und Erkenntnistheorie (Fragen aus der Funktionentheorie. Monade und Differential bei Leibniz), Diss. Bern 1906, S. 68 ff. H. Cohen, Das Prinzip der Infinitesimalmethode und seine Geschichte. Ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik, Berlin 1883, S. 77 (= ed. W. Flach, Frankfurt 1968, S. 130). Brief vom 3./13. September an M. A. Fardella, F. de C, Nouvelles lettres, S. 328.

32 Mittelstrass, Neuzeit und Aufklärung

498

Logik und Metaphysik

eine Kontinuumsbetrachtung gemeint, die in der erwähnten schlichteren Form den mathematischen Studien zur Infinitesimalmethode vorausgeht, andererseits aber durch eben diese Studien ein besseres theoretisches Fundament erhält. Bemerkungen, mit denen auf die systematische Reihenfolge von Geometrie, Mechanik und Metaphysik unter Berücksichtigung der eigenen Bemühungen angespielt wird, lassen sich ebenfalls auf recht unproblematische Weise begreifen. Der Satz, daß der Ursprung der Mechanik in der Metaphysik liege („la source de la Mecanique est dans la Metaphysique")47, gibt nur scheinbar der älteren metaphysischen Tradition recht. Denn der Weg zu einer ,solidenc Metaphysik führt nach Leibniz stets über die Geometrie48, weshalb denn auch an dieser Stelle unter Metaphysik nichts anderes als Protophysik verstanden ist. Die ,metaphysischen Gründe' (raisons metaphysiques) der Mechanik49 sind protophysikalische Sätze (das zeigt nicht zuletzt der Aufbau etwa der „Theoria motus abstracti" [1671] oder der „Dynamica de potentia et legibus naturae corporeae" [1689]), wobei der Geometrie die methodisch zentrale Rolle zufällt.50 Kein Wunder denn auch, daß Leibniz von seiner Metaphysik behauptet, daß sie mathematisch sei.51 Sofern hier protophysikalische Überlegungen gemeint sind, gibt er damit nur zu verstehen, daß er die methodischen Einsichten der neuzeitlichen Physik teilt; die Redeweise von ,metaphysischen Anfangsgründen' der Mathematik52 bedeutet dann wiederum nichts anderes als deren methodischen (euklidischen) Aufbau. Wer an dieser Stelle detailliertere Auskünfte über den Primat einer Lehre vom Sein bzw. Seienden (Metaphysik im klassischen Sinne) gegenüber physikalischen Untersuchungen erwartet (und 47

48 49 50

61 n

Brief vom 10. Januar 1714 an N.Remond, Philos. Schriften III, S. 607. Vgl. Discours de Atetaphysique §18, Philos. Schriften IV, S. 444 (= LeRoy, S. 55); Brief vom 14. Juli an Arnauld, Philos. Schriften II, S. 58 (= Le Roy, S. 123 f.); Brief vom 30. April 1687 an Arnauld, Philos. Schriften II, S. 98 (= Le Roy, S. 166); dazu ein Vorschlag zur Gliederung der .exakten' Disziplinen aus dem Jahre 1702, Math. Schriften VI, S. 100. Dissertatio exoterica de statu praesenti et incrementis novissimis deque usu Geometriae, Math. Schriften VII, S. 326. Brief vom 14. Juli 1686 an Arnauld, Philos. Schriften II, S. 58 (= Le Roy, S. 124). Vgl. Brief vom 3./13. Januar 1678 an (den Aristoteliker) H. Conring, Akad.-Ausgabe II l, S. 387 („Physica vero in tantum intelligibilis redditur, in quantum reducitur ad Geometriam"). Brief vom 27. Dezember 1694 an den Marquis de l'Hospital, Math. Schriften II, S. 258. Initia rerum mathematicarum metaphysica (nach 1714; Math. Schriften VII, S. 17— 29).

Das Labyrinth des Kominuums

499

das kann man eigentlich nur, wenn man selbst nicht verstanden hat, wie Physik als exakte Wissenschaft möglich ist, oder aber dieses Mißverständnis Leibniz unterstellt), wird enttäuscht. Trotz alledem läßt sich natürlich nicht leugnen, daß Leibniz eine Verbindung zwischen seiner Monadenkonzeption und seinen fachwissenschaftlichen Bemühungen gesehen hat und diese Verbindung einerseits in infinitesimalen Betrachtungen, andererseits in physikalischen Hypothesen über den Aufbau der (physikalischen) Welt auch gefunden zu haben glaubte. Während dabei jene infinitesimalen Betrachtungen im Grunde nicht mehr hergeben als die scheinbare Paradoxie, daß trotz Verschwinden s der Differenzen und y beim Grenzübergang der Quotient aus beiden einen wohldefinierten Wert besitzt, scheinen physikalische Betrachtungen der erwähnten Art einen revidierten Korpuskel-Begriff zu verlangen. Nicht so sehr für die physikalische Praxis, wie Leibniz zu verstehen gibt (hier kommt man z.B. mit Huygens' ,kosmologischen' Annahmen durchaus zurecht; „les regies du fini reussissent dans l'infini, comme s'il y avait des atomes"53), sondern um der theoretischen Klarheit physikalischer Begriffe willen. Und in diesem Rahmen läßt sich nun auch, einmal völlig abgesehen von allen Kontinuumsbetrachtungen, ver53

32»

Brief vom 2. Februar 1702 an P. Varignon, Math. Schriften IV, S. 93. Der Zusammenhang, in dem diese Bemerkung fällt, läßt besonders deutlich erkennen, welche Schwierigkeiten Leibniz eine methodisch klare Zuordnung von infinitesimalen Betrachtungsweisen und physikalischen Aussagen über den Aufbau der Materie macht: „Cependant on peut dire en general que doute la continuite est une chose ideale et qu'il n'y a jamais rien dans la nature, qui ait des parties parfaitement uniformes, mais en recompense le reel ne laisse pas de se gouverner parfaitement par l'ideal et l'abstrait, et il se trouve que les regies du fini reussissent dans l'infini, comme s'il y avait des atomes (c'est £t dire des elemens assignables de la nature), quoyqu'il n'y en ait point la matiere estant actuellement sousdivisee sans fin; et que vice versa les regies de l'infini reussissent dans le fini, comme s'il y avoit des infiniment petits metaphysiques, quoyqu'on n'en ait point besoin; et que la division de la matiere ne parvienne jamais a les parcelles infiniment petites" (ebd.). Vgl. Brief vom 14. Juli 1686 an Arnauld, Philos. Schriften II, S. 58 (= Le Roy, S. 123); desgleichen den Brief vom 28. November/8. Dezember 1686 ebenfalls an Arnauld, Philos. Schriften II, S. 78 (= Le Roy, S. 147; „Tous les phenomenes des corps peuvent estre expliques madiinalement ou par la philosophic corpusculaire"). Ferner: Brief vom 7. Juni 1698 an Joh. Bernoulli, Math. Schriften III, S. 499: „Fortasse infinita, quae concipimus, et infinite parva imaginaria sunt, sed apta ad determinanda realia, ut radices quoque imaginariae facere solent. Sunt ista in rationibus idealibus, quibus velut legibus res reguntur, etsi in materiae partibus non sint". Die hier getroffene Analogie zur Konstruktion imaginärer Zahlen ist sachlich unbefriedigend, weil völlig unklar bleibt, was an dieser Stelle als tertium comparationis dienen soll. Der Hinweis auf eine mögliche Bestimmbarkeit des .Realen' durch imaginäre Größen, d. h. deren Anwendbarkeit in der Physik, wiederholt nur die Ausgangsfrage.

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Logik und Metaphysik

muten, welchen Begriff Leibniz dabei im Auge hat. Es ist der Begriff des Massenpunktes. Leibniz besaß eine Definition der Masse, die der Newtonschen Definition in etwa entspricht und vermutlich auch in Kenntnis dieser Definition sowie unter Berücksichtigung der Überlegungen Keplers zustandegekommen ist.54 In physikalischen Erörterungen, z.B. bei der Frage, auf welcher Bahn ein schwerer Körper bei konstanter Vertikalgeschwindigkeit im Schwerefeld der Erde auf einen gegebenen Punkt hin fällt, d.h. der Bestimmung einer Kurve konstanten Abstiegs, treten dann Körper nur in Idealisierungen, als geometrische Punkte, auf; der modernen Terminologie zufolge ist nicht mehr von Massen, sondern von Massenpunkten die Rede/5 Mit der theoretischen Konstruktion von Massenpunkten, und das heißt eben: der Idealisierung von Körpern als geometrischen Punkten, wobei von deren Ausdehnung, nicht aber von deren Trägheit abgesehen wird, kann man Physik treiben, ohne daß damit gemeint wäre, Körper bestünden aus Massenpunkten. Eine solche Behauptung wäre sinnlos, weil der Begriff des Massenpunktes durch eine Beschränkung des Aussagenbereichs gebildet wird. Hebt man diese Beschränkung wieder auf, erhält man erneut Körper, aber keine Massenpunkte. Es sieht so aus, als ob Leibniz genau diesen, im Grunde einfachen, theoretischen Zusammenhang im Sinne hat, wenn er den Begriff des materiellen Atoms durch den Begriff des formalen Atoms (bzw. der Monade) ersetzt. Daß sich über die Bewegungen von Körpern nur dann 54

55

„Moles mobilium, vel ipsa mobilia, sunt in ratione composita voluminum et densitatum, seu extensionum et intensionum materiae" (Dynamica de potentia et legibus naturae corporeae Pars I, Sect. I, Cap. II, Prop. 3, Math. Schriften VI, S. 298). Leibniz war 1689 in Rom, während er am Manuskript der „Dynamica" arbeitete (vgl. Brief vom 8./18. März 1696 an Joh. Bernoulli, Math. Schriften III, S. 259 f.), durch die „Acta Eruditorum" (7 [1688], S. 303—315) über Erscheinen und Inhalt der „Principia" Newtons unterrichtet worden (vgl. Einleitung Math. Schriften VI, S. 10 ff.). Über die unterschiedlichen Formulierungen des Leibnizschen Massenbegriffs informiert M. Jammer, Concepts of Mass in Classical and Modern Physics, S. 76 if. De linea isochrona, in qua grave sine acceleratione descendit, et de controversia cum Dn. Abbate de Conti (Acta Eruditorum 8 [1689], S. 198), Math. Schriften V, S. 237; es handelt sich hier um den Spezialfall einer 1687 in den „Nouvelles de la Republique des lettres" von Leibniz veröffentlichten Problemstellung (Reponse de M. L. ä. la Remarque de M. l'Abbe D. C. contenue dans l'Article 1. de ces Nouvelles,.., Philos. Schriften III, S. 51); vgl. J. E. Hof mann, Über Jakob Bernoullis Beiträge zur Infinitesimalmathematik, Genf 1957, S. 16, 65 f.; ders., Leibniz als Mathematiker, in: Leibniz. Sein Leben, sein Wirken, seine Zeit, ed. W. Totok/C. Haase, Hannover 1966, S. 439. Zu den Folgen, die diese Idealisierung für den Funktionsbegriff der Analysis hatte, vgl. Ch. Thiel, a.a.O. § 3.1 (Ms. S. 119 f.).

Das Labyrinth des Kontinuums

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exakte Aussagen machen lassen, wenn man gar nicht mehr über konkrete Körper selbst, sondern über Idealisierungen redet, ist wieder nur scheinbar eine paradoxe Feststellung. Leibniz spricht in diesem Zusammenhang von einer ,Herrsdiaft der Vernunft'58, die sich über das jReelle', gemeint ist das zufällig Vorhandene, hinwegsetzt; man darf ergänzen: nicht um sich als spekulative Vernunft zu etablieren, sondern um Wissenschaft zu treiben. Gleichwohl ist gerade an dieser Stelle die Verführung durch Traditionen ontologischen Sprechens groß, und auch Leibniz scheint ihr nicht immer entgangen zu sein: begriffliche Unterscheidungen, mit denen man über Dinge spricht, werden innerhalb dieser Tradition als Unterscheidungen ,an den Dingen selbst' mißverstanden. Auf die Monadentheorie bezogen, wird aus der begrifflichen Unterscheidung zwischen Monade und (physikalischer) Erscheinung, in deren Rahmen natürlich auch der sonst so geheimnisvoll anmutende Begriff des phaenomenon bene jundatum eine schlichte Erklärung findet57, eine Unterscheidung zweier jSeinsbereiche' (in dem einen wohnen die Monaden, in dem anderen wir). Alle Schwierigkeiten, die sich mit der Interpretation der Monadentheorie verbinden, rühren, so scheint es, daher, daß es Leibniz selbst nicht gelingt, eine physikalische Konzeption von anderen Intentionen (darunter eben auch metaphysischen Intentionen im klassischen Sinne) freizuhalten, sich hier Begriffssysteme übereinanderschieben, die im Grunde nicht zueinander passen.558 5 57

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Brief vom 2. Februar 1702 an P. Varignon, Math. Schriften IV, S. 94. Die Physik hat es mit Gegenständen der Erfahrung (,Phänomenen') zu tun. Diese treten jedoch als Gegenstände der Physik bereits in theoretischen Zusammenhängen (,Fundierungszusammenhängen') auf; die Erfahrung, von der hier, etwa im Sinne Kants, die Rede ist, ist selbst schon theoretisch bestimmt. Mit anderen Worten: die Rede von (physikalischen) Phänomenen setzt immer einen theoretischen Zusammenhang voraus, das ,bene fundatum* ist, seiner Rolle im wissenschaftstheoretischen .System' entsprechend, nicht ontologisch (bezüglich Behauptungen über eine von vornherein existierende Gliederung der Welt), sondern methodologisch gemeint. Ein Hinweis auf Arithmetik und Geometrie (neben Dynamik) unterstreicht diesen Zusammenhang: „La matiere meme n'est pas une substance, mais seulement substcmtiatum, un Phenomene bien fonde, et qui ne trompe point quand on y procede en raisonnant suivant les loix ideales de l'Arithmetique, de la Geometrie et de la Dynamique etc." (Brief vom 6. Dezember 1715 an A. Conti, Briefwechsel, S. 265; vgl. Brief aus dem Jahre 1705 an B. de Voider, Philos. Schriften II, S. 276: „phaenomenon reale seu bene fundatum quod expectationem ratione procedentis non fallif). Z. B. heißt es in einem Brief aus dem Jahre 1716 an P. Dangicourt: „Les veritables substances ne sont que les substances simples ou ce que j'appelle Monades. Et je crois qu'il n'y a que de monades dans la nature, le reste n'etant que les phenomenes qui en resultent" (Erdmann, S. 745). Um diese Behauptung verstehen zu können,

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Logik und Metaphysik

14.3 Der Begriff der individuellen Substanz Bliebe es bei der geschilderten Auskunft, wäre die Rede von Monaden tatsächlich ein Stück erneuerter Metaphysik, die sich von älteren Bemühungen nur dadurch unterschiede, daß zu ihrer Begründung' auf protophysikalische Überlegungen neuer Art verwiesen würde. Doch so einfach, wie es noch die lapidaren Sätze aus den einleitenden Paragraphen der „Monadologie" erscheinen lassen, liegen die Dinge auch hier wieder nicht. Hätten wir nur diese Sätze, könnte man die Monadentheorie getrost vergessen; sie wäre (in Ermangelung methodisch begründeter Unterscheidungen) ebenso naiv wie die kosmologischen Teile der bisherigen metaphysischen Tradition. Aber wir haben mehr. Leibniz hat, gewissermaßen in einem zweiten Anlauf, versucht, der erwähnten Schwierigkeiten Herr zu werden, und zwar nicht durch erneute Reduktion seiner Bemühungen auf ursprüngliche, durch die Kritik am physikalischen Atomismus gekennzeichnete Intentionen, sondern durch eine methodisch völlig selbständige Besinnung auf den Begriff einer ,individuellen Substanz' (substance individuelle)59. Monaden sind, so lautet ein Hauptsatz des ,Systems' (ganz gleich, ob man es nun in der Formulierung des „Systeme nouveau" oder der „Monadologie" liest), individuelle, d.h. voneinander durch Benennung unterscheidbare, Substanzen. Die Frage, auf die es ankommt, ist nicht, was sich mit dem Begriff der Monade systematisch anfangen läßt, sondern wie es einsichtig gelingt, den Begriff der individuellen Substanz zu bilden. Charakteristischerweise beginnt denn auch Leibniz an dieser Stelle nicht mit der wiederholten Frage nach dem elementaren Aufbau der Körper, er empfiehlt vielmehr, bei dieser Bemühung den Begriff, ,den ich von mir selbst habe', zugrunde zu legen („pour jouger de la notion d'une substance individuelle, il est bon de consulter celle que j'ay de moy meme"80). Am Beispiel dessen, was man als Ich bezeichnet („k Texemple de ce qu'on appelle moy"81), soll deutlich werden, wie sich überhaupt von individuellen ,Einheiten' sprechen läßt. Wenn man so muß man ersichtlidi Philosophiegesdiidite (Geschichte der Metaphysik), nicht Methodologie der Physik treiben. Zum historischen Hintergrund derartiger Behauptungen vgl. G. Martin, Leibniz. Logik und Metaphysik, S. 170 ff. 5 * Systematisch eingeführt wird dieser Begriff im „Discours de M taphysique" (1686); L. Stein weist darauf hin, daß der auf 1683 datierte „Essay de dynamique" einen derartigen Begriff noch nicht enthält (Leibniz und Spinoza, S. 148). •° Brief vom 14. Juli 1686 an Arnauld, Philos. Schriften II, S. 52 (= Le Roy, S. 118). 61 Brief vom 28. November/8. Dezember an Arnauld, Philos. Schriften II, S. 76 (= Le Roy, S. 145); vgl. Brief vom 20. Juni 1703 an B. de Voider, Philos. Schriften

Der Begriff der individuellen Substanz

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will, madit Leibniz hier von dem Ergebnis der Zweifelsbetraditung Descartes' Gebrauch, das er unter Ergänzung von ,ego cogito (adeoque sum)' durch ,varia a me cogitantur"* (wodurch diese Betrachtung ihren monologischen Charakter verliert!) seiner methodischen Rolle nach akzeptiert. Worauf es dabei jedoch im Gegensatz zu Descartes ankommt, ist der Umstand, daß hier erst ein Begriff gewonnen werden soll, von dem Descartes, wenn er von res cogitans bzw. res extensa spricht, irrtümlich annimmt, daß er ihn schon hat: der Begriff der Substanz (substantia, res), hier der Begriff der individuellen Substanz. Mit anderen Worten: die Erörterung, die bisher eindeutig kosmologische Züge trug und bereits dadurch von vornherein einen spekulativen Charakter besaß, wird jetzt auf eine logische Ebene verlegt. Auf eine logische Ebene insofern, als es begrifflicher Verfahren bedarf, um die Redeweise von ,Einzeldingen' nicht mehr nur vorläufig, durch Exempel in einer schon verstandenen Redesituation, sondern methodisch gesichert (,zum ersten Mal') korrekt einzuführen. Im Grunde geht es schon im Realismus-NominalismusStreit um nichts anderes als um dieses Problem und beruht von Anfang an die relative Stärke der nominalistischen Position in diesem Streit eben darin, daß das Sprechen von Einzeldingen nicht trivial erscheint, sondern als an ein logisch-sprachphilosophisches Verfahren, das Verfahren der Individuation, gebunden erkannt wird. Leibniz teilt diese Einsicht, ohne deswegen etwa selbst schon ein Nominalist zu sein; seine Erörterung über den Begriff der individuellen Substanz ist ein neuer und zugleich seinen früheren Bemühungen methodisch überlegener Versuch, unterscheidbare Einheiten exakt zu bestimmen. Dabei liegt Leibniz natürlich daran, den einmal gewonnenen Ansatz, der mit der Wiedereinführung des Begriffs der substantiellen Form (bzw. des substantiellen Atoms) sein charakteristisches Aussehen bekommen hatte, nach Möglichkeit beizubehalten. Sein Wunsch ist, diesen vermeintlich schon aus physikalischen Gründen hinreichend gerechtfertigten Ansatz über eine logische Konstruktion zu bestätigen, nicht etwa, ihn im Verlauf einer solchen Konstruktion wieder preisgeben zu können. In diesem Punkte war für ihn die sachliche Beziehung beider Bemühungen ganz unproblematisch. Sucht man nach einer Bemerkung, die diesen Zusammenhang zum Ausdruck bringt, so läßt sich z.B. die folII, S. 251 („veluti Ego"); weitere Belege bei: R. Pflaumer, Zum Ich-Charakter der Monade, in: Studia Leibnitiana. Supplementa I, Wiesbaden 1969, S. 148—160. ·* Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum (1692), Philos. Sdiriften IV, S. 357.

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gende anführen: „il n'y a que les points metaphysiques ou de substance ... qui soyent exacts et reels, et sans eux il n'y auroit rien de reel, puisque sans les veritables il n'y auroit point de multitude."" Diese Bemerkung aus dem „Syst£me nouveau" scheint auf den ersten Blick (wegen des Gegensatzes von ,physischen' und metaphysischen' Punkten) Ausdruck einer naiven Zweiweltentheorie zu sein. Sie paßt sich in den ontologisierenden Stil der ganzen Abhandlung ein und wäre dennoch völlig unverständlich, wenn hier nicht nur den Wörtern, sondern auch der Sache nach in ontologischer Tradition argumentiert würde. Denn was soll es heißen, daß nur metaphysische (substantielle) Punkte »wirklich* sind und ohne sie als die ,wahren Einheiten' es nichts ,Wirklidies* und keine ,Vielfalt' gäbe, wenn nicht unter jenen metaphysischen Punkten begriffliche Einheiten verstanden wären, mit deren Hilfe Wirkliche' Gegenstände unterscheidend bestimmt werden können. Ohne die Konstruktion begrifflicher Einheiten läßt sich nun einmal über ,wirklidhe' Einheiten nichts sagen; die Individuation bleibt eine Leistung des begrifflichen Sprechens, auch wenn die normale Redesituation diese fundamentale Leistung nicht mehr ausdrücklich verlangt. Die Unterscheidung der Gegenstände und damit ihre individuelle Bestimmung gilt vielmehr in der Regel als bereits geleistet; mit welchen Mitteln, ist eine Frage, die nur den (Sprach-)Theoretiker (bzw. den Logiker) interessiert. Die Behauptung lautet an dieser Stelle, daß diese Frage Leibniz interessierte und daß eben sie es ist, die (zumindest auch) hinter dem ontologisierenden Stil jener zitierten Bemerkung und des Zusammenhangs, in den sie gehört, steht. Der „Discours de Metaphysique" bringt dann in diesem Punkte die gewünschte Klarheit, wobei der gegenüber dem begrifflichen Niveau des „Discours" ein wenig seltsam anmutende anachronistische Zug des „Systeme nouveau" daher rührt, daß beide Abhandlungen wohl im selben Jahr, nämlich 1686, entstanden, der stärker kosmologisch orientierte „Systeme nouveau" jedoch erst 1695 erschien." M M

Systeme nouveau, Philos. Schriften IV, S. 483. Die Bemerkung S. Fouchers nach dem Erscheinen des „Systeme nouveau" 1695, er kenne dieses System schon 10 Jahre (Objections de M. Foucher, Chanoine de Dijon, contre le nouveau Systeme de la communication des substances, dans une lettre ä l'auteur de ce Systeme 12 Septemb. 1695, Philos. Schriften IV, S. 487), bestätigt Leibniz mit einer kleinen Korrektur: es sind nicht 10, sondern 9 Jahre (Remarques sur les Objections de M. Foucher, Philos. Schriften IV, S. 490); der Beleg liegt vor: Extrait de ma lettre a M. Foucher, 1686 (Philos. Schriften I, S. 380—385; vgl. die sorgfältige Behandlung dieser Datierungsfrage bei L. Stein, a.a.O., S. 141 ff.).

Der Begriff der individuellen Substanz

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Der noch ein wenig zögernden Rehabilitation des Begriffs der substantiellen Form im „Systeme nouveau" sekundiert Leibniz im „Discours de Metaphysique" mit dem Begriff der individuellen Substanz. In beiden Fällen, und dies ist das Entscheidende, geht es um den Substanzbegriff: im „Systeme nouveau" wird er aus physikalischen Gründen gefordert und dabei auch gleich mit traditionellen Unterscheidungen in Verbindung gebracht, im „Discours de Metaphysique" wird er bestimmt. Wie wichtig diese (begriffliche) Bestimmung für Leibniz sein mußte, geht nicht nur aus seinen dynamischen Betrachtungen über eine ,vis viva* und deren Träger hervor, sondern auch aus der Absicht, diese Betrachtungen in verallgemeinerter Form auf folgende terminologische Bestimmung zu bringen6*: substantia res agens Im Begriff der Handlung, wie ihn insbesondere die späteren Entwürfe der Monadentheorie vor Augen führen, ist die Unterscheidung zwischen dem physikalischen Begriff einer (wirkenden) Kraft und dem anthropologischen Begriff der Tätigkeit bewußt aufgehoben: „La Substance est un Etre capable d'Action""' — wie von diesem Handlungsvermögen gesprochen werden soll, hängt von dem Kontext ab, den man wählt. Eine differenziertere Bestimmung der rechten Regelseite ( res agens) durch Angabe eines solchen Kontextes aber verlangt nun auch nach einer differenzierteren Bestimmung der linken Regelseite ( substantia), denn auch eine Differenzierung der rechten Regelseite führt nicht , selbst' schon zu einer Differenzierung der linken Seite. Insbesondere wird der Begriff einer individuellen Substanz, um den es geht, durch die angegebene Regel (einschließlich einer zusätzlichen Erläuterung des Handlungsbegriffs) nicht bestimmt; der Terminus ,individuelle Substanz* stammt aus einem anderen Zusammenhang bzw. verlangt nach einer von der erwähnten Regel unabhängigen Erörterung. Eben dies ist auch der Ausgangspunkt der entsprechenden Überlegungen im „Discours". w

M

„Quantum ego mihi notionem actionis perspexisse videor, consequi ex illa et stabiliri arbitror receptissimum philosophiae dogma, act/owes esse suppositorum; idque adeo esse verum deprehendo, ut etiam sit reciprocum, ita ut non tantum omne quod agit sit substantia singularis, sed etiam ut omnis singularis substantia agat sine intermissione, corpore ipso non excepto, in quo nulla unquam quies absoluta reperitur" (De ipsa natura sive de vi insita actionibusque Creaturarum, pro Dynamicis suis confirmandis illustrandisque [1698], Philos. Schriften IV, S. 509; vgl. Essais de Theodicee, Philos. Schriften VI, S. 350). Principes de la Nature et de la Grace, fond s en Raison § l, Robinet, S. 27 ( = Philos. Schriften VI, S. 598).

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Logik und Metaphysik

Nachdem zunächst aus kirchenpolitisch-theologischem Anlaß*7 von Handlungen Gottes die Rede war, und dabei schließlich die aufschlußreiche (systematisch leider nicht weiterverfolgte) Bemerkung fällt, es sei doch recht schwierig, Handlungen Gottes von Handlungen der »Geschöpfe* zu unterscheiden88, heißt es: „Or puisque les actions et passions appartiennent proprement aux substances individuelles (actiones sunt suppositorum), il seroit necessaire d'expliquer ce que c'est qu'une teile substance. " 14.4 Die logische Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffes mit Hilfe einer Theorie vollständiger Begriffe (Monade und Begriff) Bei der Rekonstruktion dessen, was Leibniz unter ,Substanz* und Individueller Substanz* versteht, ist es zweckmäßig, zunächst noch einmal kurz auf den Zusammenhang von analytischer Urteilstheorie und Begriffstheorie innerhalb der Leibnizschen Logik einzugehen. Die bereits erläuterte70 Unterscheidung zwischen identischen und virtuell identischen Sätzen besagt auf dem Hintergrund einer analytischen Definition der Wahrheit, daß in wahren Sätzen entweder der Subjektbegriff auf der Prädikatseite lediglich wiederholt wird (identischer bzw. tautologischer Fall) oder aber sich der Prädikatbegriif als ein ursprünglich im Subjektbegriff enthaltener Teilbegriff herausstellt (virtuell identischer Fall), was per analysin notionum71 gezeigt werden kann. Die analytische Urteilstheorie geht damit auf eine spezielle Begriffstheorie zurück. Im Rahmen dieser Begriffstheorie sind Begriffe in der Regel zusammengesetzte Begriffe, Kombinationen von Teilbegriffen. Ein instruktives Beispiel gibt Leibniz in den „Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis" (1684), wo es vom Begriff des regelmäßigen Tausendecks heißt, daß er die Teilbegriffe der Seite, der Gleichheit und der Zahl Tausend bzw. der dritten Potenz von Zehn enthalte.78 Die Analyse zusammengesetzter Begriffe führt auf diese Weise von einer notio composita zu einfachen Begriffen, notiones primitivae bzw. notiones irresolubiles73, wobei allerdings die Frage nach einem strengen Kri67

Dazu L.Stein, a.a.O., S. 143 ff.; G. leRoy in der Einleitung zu seiner (bereits mehrfach zitierten) Ausgabe des „Discours" (S. 8 ff.). M Discours de M&aphysique § 8, Philos. Schriften IV, S. 432 (= Le Roy, S. 43). ·· Ebd. 70 Oben S. 469 ff. 71 Primae veritates (ca. 1680—1684), C. 519. 7i Philos. Schriften IV, S. 423. 78 Ebd.

Die logische Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffes

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terium dafür, wann ein Begriff wirklich eine notio primitiva ist, offenbleibt. Leibniz begnügt sich an dieser Stelle mit dem Hinweis auf die relative Einfachheit (des Begriffs) der Zahlen, an anderer Stelle gibt er eine Liste (vermutlich) einfacher Begriffe (termini primitivi simplices vel interim pro ipsis assumendi), darunter: jTerminus', ,Ens', ,Existens', ,Individuum* und ,Ego'.74 Audi hier aber macht die vorsichtige Einschränkung deutlich, daß eine exemplarische Analyse bis hin zu wirklich einfachen Begriffen, würde sie durchgeführt, auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen muß. Dies aber ist insofern von Bedeutung, als sich die von Leibniz im größeren Zusammenhang erstrebte Kombinatorik, die characteristica universalis, ausdrücklich erst der Existenz einfacher Begriffe vergewissern muß, um überhaupt in Gang zu kommen. Auch davon war bereits die Rede.75 Weniger fatal sind die Konsequenzen, die sich aus dieser Unsicherheit für eine analytische Urteilstheorie ergeben. Zwar ist auch hier der kombinatorische Grundgedanke wirksam, daß man es in Sätzen mit vollständig analysierbaren Subjektbegriffen zu tun haben sollte, doch genügt ja auch von Fall zu Fall der Hinweis, daß jedenfalls ein bestimmter Prädikator als ursprünglich im Subjektbegriff enthalten gedacht werden kann, der entsprechende Satz also wahr ist, weil er nichts anderes als die Explikation dieser ursprünglichen Zusammensetzung ist. Für die Behauptung jedoch, daß alle wahren Sätze im Grunde analytische Sätze, auch kontingente Sätze in Wahrheit (unter Zuhilfenahme eines göttlichen Verstandes) notwendige Sätze sind7', gilt dies nicht. Voraussetzung dafür ist vielmehr die Existenz vollständiger Begriffsnetze oder, spezieller, vollständiger Begriffspyramiden, in denen sich für jeden beliebigen Begriff ,allec Oberbegriffe, unter die er fällt, angeben lassen. Dies ist, um ein Platonisches Beispiel zu nehmen77, für den Begriff der Tierjagd nicht der Fall, solange unter seinen Oberbegriffen wie ,Kunstc, ,erwerbende Kunst* und ,sich der Beute bemächtigende Kunst' nicht 74

Generales Inquisitiones de Analysi Notionum et Veritatum (1686), C. 360 f. Die im gleichen Jahre wie der „Discours" verfaßten „Generales Inquisitiones" stellen hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Erörterungen über eine analytische Urteilstheorie und eine analytische Begriffstheorie die logischen Mittel zur Verfügung, derer sich Leibniz dann im „Discours" bedient. „Hie egregie progressus sum", bemerkt er selbst nach Fertigstellung der „Generales Inquisitiones" (C. 356); der selbstbewußte .metaphysische' Vortrag des „Discours" stützt sich auf ein Stück geleisteter ,logischer' Arbeit. Zur Beurteilung sogenannter einfacher Begriffe vgl. oben S. 441, Anm. 59. 75 Oben S. 432 ff. 7 * Vgl. dazu die Erläuterungen oben S. 471. 77 Soph. 219 f.

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audi der Begriff »jagdmäßige Kunst* auftritt. Erst in dieserart vollständigen Begriffspyramiden ist im Sinne einer strengen analytisdien Theorie jeder Begriff äquivalent mit der Konjunktion seiner Oberbegriffe oder der Adjunktion seiner Unterbegriffe. Eine strenge analytische Theorie ist nun auch im „Discours de M6taphysique" im Zusammenhang mit einer Definition der individuellen Substanz vorausgesetzt. Leibniz geht von der als klassisch hingestellten Erklärung aus, daß man von einer individuellen Substanz dann spreche, wenn ein Prädikatbegriff einem Subjektbegriff inhäriert, dieser Subjektbegriff aber nirgendwo sonst als Prädikatbegriff auftritt.78 Diese gut Aristotelische79 Erklärung wird als zutreffend, in dieser Form jedoch als noch nicht hinreichend bezeichnet. Sie bedarf der Erläuterung, als welche die analytische Theorie auftritt. Leibniz rekapituliert diese Theorie (unter Betonung des Unterschieds von identischen und virtuell identischen Sätzen sowie der konversen a-Beziehung zwischen Begriffen im Falle virtueller Identität) in kurzen Zügen und fährt dann mit folgenden Worten fort: „Cela estant, nous pouvons dire que la nature d'une substance individuelle ou d'un estre complet, est d'avoir une notion si accomplie qu'elle soit süffisante a comprendre et a en faire deduire tous les predicate du sujet a qui cette notion est attribuee."80 Begriffe, die diese Funktion erfüllen, stehen nicht an irgendeiner beliebigen Stelle einer Begriffspyramide. Es handelt sich vielmehr um spezielle Subjektbegriffe, die nach der Aristotelischen Definition niemals als Prädikatbegriffe auftreten können. Analog zu ,la substance individuelle' ist denn an dieser Stelle auch pointiert von ,la notion individuelle* die Rede.81 Leibniz vermag nun die Aristotelische Bedingung für spezielle Subjektbegriffe so zu erfüllen, daß er solche individuellen Begriffe als vollständige Begriffe in dem bereits erläuterten Sinne konstruiert, nämlich als (unendliche) Konjunktion aller einem Individuum zukommenden Prädikatoren. Würde ein vollständiger (Subjekt-)Begriff selbst als Prädikator auftreten können, so müßte nach dem Ununterscheidbarkeitssatz (Principium identitatis indiscernibilium) das Individuum, von dem er prädiziert wird, mit dem ursprünglichen Individuum, das er kennzeich78

79 80 81

„II est bien vray, que lorsque plusieurs predicats s'attribuent h. un me1 me sujet, et que ce sujet ne s'attribue plus ä aucun autre, on 1'appelle substance individuelle" (Discours de Metaphysique § 8, Philos. Schriften IV, S. 432 [= Le Roy, S. 43]). Vgl. Cat. 5.2a 11—13. Discours de IV^taphysique § 8, Philos. Schriften IV, S. 433 (= Le Roy, S. 43). Ebd.

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net, identisch sein. Denn nadi diesem Satz sind Individuen, die in allen Eigenschaften übereinstimmen, bereits identisch. Genauer noch: es hat keinen Sinn, von verschiedenen Individuen zu reden, wenn sich kein unterscheidendes Merkmal, z.B. eine der Identifizierung dienende Benennung, angeben läßt.82 Vollständige Begriffe im Leibnizschen Sinne erfüllen damit diejenigen Bedingungen, die (in moderner Sprechweise) ein Begriff erfüllen muß, um für eine Kennzeichnung verwendet werden zu können: der Begriff darf nicht leer sein und es muß genau ein Individuum geben, das unter ihn fällt. Während dabei die Eindeutigkeit durch die Vollständigkeit des Begriffs von vornherein gewährleistet ist (weil es, wieder auf Grund des Ununterscheidbarkeitssatzes, keine zwei Individuen geben kann, die in allen ihren Eigenschaften übereinstimmen), muß zur Erfüllung der ersten Bedingung ein Existenzbeweis geführt werden, der es erlaubt, dann von einem möglichen Begriff zu sprechen, nämlich einem solchen, der keinen logischen Widerspruch impliziert. Kennzeichnungen wiederum, die mit Hilfe von vollständigen Begriffen gebildet werden, mögen (auch diese Terminologie wurde bereits verwendet)83 vollständige Kennzeichnungen heißen. Sie sind ein Spezialfall der gewöhnlichen Kennzeichnung, bei der es genügt, zur eindeutigen Bestimmung eines Individuums lediglich einen für dieses Individuum charakteristischen Prädikator anzuführen."1 81

83 84

K. Lorenz hat gezeigt (Die Begründung des principium identitatis indlscernibilium, Studia Leibnitiana. Supplementa III, Wiesbaden 1969, S. 149—159), daß die mit dem Ununtersdieidbarkeitssatz (vgl. seine Formulierung in: Les Principes de la Philosophie §9, Robinet, S. 9 [= Philos. Schriften VI, S. 608]) gegebene Definition der Identität die Übereinstimmung der zugehörigen vollständigen Begriffe betrifft; auf diese Weise wird schließlich die Synonymität der traditionell ,ontologisch' genannten Bestimmung der Identität (durch den Ununterscheidbarkeitssatz) mit der .logischen' Bestimmung der Identität (durch Austauschbarkeit ,salva veritate') bewiesen. In unserem Zusammenhang: Sind ,s' und ,tc Eigennamen von Gegenständen, so gehören (nach einem von F.Schmidt veröffentlichten Fragment: Ph. VII B IV, 13—14 [ca. 1695], Fragmente zur Logik, S. 479) auch die Prädikatoren ,„s"-heißen' bzw. ,„t"-heißen' zu den ,inneren Bestimmungen' des mit ,s' bzw. ,t' benannten Gegenstandes, d. h. sie treten in den vollständigen Begriffen dieser Gegenstände auf (vgl. unten S. 514, Anm. 91). In der Tat sind daher die vollständigen Begriffe zweier Gegenstände s und t verschieden, wenn ,s' und ,t' unterschiedene Gegenstände benennen. Oben S. 469. Auch Leibniz weiß, daß man hier mit weniger auskommt. Aus einem Brief vom 14. Juli 1686 an Arnauld, in dem er erläuternd auf seine Theorie vollständiger Begriffe zurückkommt, geht hervor, daß schon die Namengebung allein zur Kennzeichnung eines Individuums genügt, ohne daß damit dessen vollständiger Begriff angege-

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Leibniz gibt in diesem Zusammenhang mehrere Beispiele. In § 13 des „Discours" heißt es von Caesar: „Da Julius Caesar ständiger Diktator, Herr der Republik werden und die Freiheit der Römer vernichten wird, ist dieses Handeln in seinem Begriff enthalten; denn wir setzen voraus, daß es das Wesen eines solchen vollkommenen Begriffes eines Subjekts (d'une teile notion parfaite d'un sujet) ist, alles in sich zu schließen, damit der Prädikator in ihm enthalten sei, ut possit inesse subjecto".85 In § 8 tritt Alexander der Große als Beispiel auf. Leibniz schreibt: „Wenn Gott... den individuellen Begriff (notion individuelle) oder die Haecceitas (hecceite) Alexanders vor Augen hat, so sieht er darin zugleich die Grundlage (fondement) und den Grund (raison) für alle Prädikatoren, die sich von ihm berechtigt aussagen lassen, z. B. daß er Darius und Porus besiegen wird; ja er weiß sogar a priori (nicht kraft Erfahrung), ob er eines natürlichen Todes oder durch Gift gestorben ist, was wir nur aus der Geschichte wissen können."86 In der Alexander den Großen betreffenden Kennzeichnung sollen also nicht nur neben den hier bereits angeführten Prädikatoren weitere Prädikatoren wie ,überden-Hellespont-gehen' oder ,bei-Issos-siegen* vorkommen, Prädikatoren nämlich, von denen unter Umständen ein einziger genügen würde, um Alexander eindeutig zu kennzeichnen, sondern auch solche wie ,Anfang-November 333-schlecht-schlafen' und ,in-Aristotelischer-praktischer-Philosophie-schlecht-benotet'. Die zum vollständigen Begriff Alexanders des Großen gehörige vollständige Kennzeichnung ist eine lükkenlose Biographie. Dabei kommt es wiederum nicht so sehr auf die Frage an, ob die Anzahl der Prädikatoren in einer solchen vollständigen Kennzeichnung ben wäre. ,Adam', so lautet das Beispiel an dieser Stelle, ist ein Name, mit dessen Hilfe sidi ein Individuum kennzeichnen läßt (der kennzeichnende Prädikator wäre ,„Adam"-heißen'). Eine solche Kennzeichnung ist jedoch unvollständig, sofern nun auch entschieden werden sollte, welche Eigenschaften diesem benannten Individuum zukommen und welche nicht: „ce qui determine un certain Adam doit enfermer absolument tous ses predicate, et c'est cette notion complete qui determine rationem generalitatis ad Individuum" (Philos. Schriften II, S. 54 [= Le Roy, S. 119 f.]). 85 Philos. Schriften IV, S. 437 (= Le Roy, S. 48); dazu noch die folgende Bemerkung: „Car si quelque homme estoit capable d'achever toute la demonstration, en vertu de la quelle il pourroit prouver cette connexion du sujet qui est Cesar et du predicat qui est son entreprise heureuse; il feroit voir en effect que la Dictature future de Cesar a son fondement dans sa notion ou nature, qu'on y voit une raison, pourquoy il a plustost resolu de passer le Rubicon que de s'y arrester, et pourquoy il a plustost gagne que perdu la journ£e de Pharsale" (Philos. Schriften IV, S. 437 f. [ = Le Roy, S. 48]). "« Philos. Schriften IV, S. 433 (= Le Roy, S. 43).

Die logische Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffes

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überschaubar ist oder nicht. Leibniz selbst hebt hervor, daß sie in der Regel nur im Falle der notwendigen, d.h. der identischen Sätze überschaubar ist, während im Falle der kontingenten Sätze die Individualität, wie er sagt, die Unendlichkeit einschließt87, und ihre Analyse deswegen auch eine unendliche Aufgabe ist (resolutio procedit in infinitum)88. Das bedeutet wiederum nicht, daß sich einzelne kontingente Sätze nicht doch in endlich vielen Schritten auf identische und damit notwendige Sätze zurückführen ließen. Die Einschränkung, die durch die Unterscheidung zwischen notwendigen und kontingenten Sätzen ausgedrückt wird, gilt nur hinsichtlich der Möglichkeit einer vollständigen Reduktion aller kontingenten Sätze auf notwendige Sätze. Diese ist wegen der Voraussetzung von unendlichen Kennzeichnungen, vollständigen Kennzeichnungen mit unendlich vielen Prädikatoren, unmöglich. Hingegen können z.B. Kennzeichnungen für abstrakte Gegenstände, etwa ,animal rationale' (als vollständiger Begriff von homo) durchaus endlich sein. In einem solchen Fall, und das läßt sich so einfach natürlich nur bei nicht-konkreten Gegenständen durchführen, ist durch eine Definition oder durch terminologische Bestimmungen das Verfahren, Gegenstände zu bestimmen, abgeschlossen. Der entsprechende Begriff ist vollständig, die zugehörige Kennzeichnung dennoch nicht unendlich. Leibniz hat auch diese, systematisch gebotene Variante eines vollständigen Begriffs bemerkt; er spricht in einem solchen Fall statt von einer ,notio completa' von einer ,notio plena'.89 87 88

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Nouveaux Essais III 3 § 6, Akad.-Ausgabe VI, S. 289. Specimen inventorum de admirandis naturae Generaiis arcanis, Philos. Schriften VII, S. 309. Die hier auftretenden systematischen Schwierigkeiten sind von L. Krüger unter dem Stichwort des Leibnizschen Rationalismus ausführlich diskutiert worden (Rationalismus und Entwurf einer universalen Logik bei Leibniz, Frankfurt 1969). Krüger läßt dabei bewußt die Möglichkeit beiseite, kontingente Aussagen als Aussagen über Individuen (konkrete Gegenstände, Ereignisse) aufzufassen (a.a.O., S. 30, Anm. 5), wodurch sich die These von der generellen Rückführbarkeit auch kontingenter Aussagen auf identische Aussagen plausibel machen läßt. Er legt sich damit eine, hinsichtlich der Komplexität der Leibnizschen Überlegungen zu starke Beschränkung auf. Andererseits weist er im gleichen Zusammenhang darauf hin, daß Leibniz, seinem rationalistischen Argument (Reduktion aller Begründungsformen auf einen analytischen Begriff der Wahrheit) folgend, schließlich (wegen der Abhängigkeit wahrer kontingenter Sätze von einer rationalen Rekonstruktion der Erfahrung) selbst die Erfahrung als Beweismittel zulassen müsse (a.a.O., S. 31). Die erwähnte Formulierbarkeit kontingenter Aussagen über Individuen aber ist in gewissem Sinne nichts anderes als die Theorie hierzu (aufgebaut als Theorie vollständiger Begriffe). Brief vom 14. Juli 1686 an Arnauld (Randbemerkung), Philos. Schriften II, S. 49 (Anm.); ygl. K. Lorenz, a.a.O., S. 155 f.

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Logik und Metaphysik

Aber auch hinsichtlich konkreter Gegenstände, deren vollständige Kennzeichnungen unendlich sind, erscheint eine zunehmend genauere Bestimmung, gemessen an den gegebenen Zielen, nicht schlechterdings illusionär. Aufschlußreich ist hier eine Bemerkung aus den „Generates Inquisitiones", mit der Leibniz seine Beispiele aus dem „Discours" durch einen methodischen Gesichtspunkt ergänzt: „Der Vorfall (gemeint ist die Verleugnung Christi durch Petrus) muß aus dem Begriff Petri demonstriert werden. Doch ist der Begriff Petri vollständig (completa) und schließt daher Unendliches ein, weshalb der Vorfall wiederum nicht vollkommen demonstriert werden kann. Dennoch läßt sich dies ständig mehr und mehr erreichen, so daß der Unterschied geringer als jeder gegebene Unterschied ist (differentia sit minor quavis data)."90 Eine stetige Annäherung wird also ausdrücklich für möglich gehalten; ,infinitesimal* gesprochen: jede noch so große Zahl kann schließlich erreicht werden. Wenn es dabei an dieser Stelle heißt, daß sich der Unterschied zunehmend geringer machen läßt, dann soll damit wohl gemeint sein, daß jede gegebene Anzahl von Teilbegriffen der Verleugnung (deren »Umstände' betreffend) durch eine geeignete Vervollständigung des Begriffs Petri erschlossen werden kann. Mit anderen Worten: wo eine differenziertere Zerlegung des mit einer Kennzeichnung gegebenen komplexen Prädikators gewünscht wird, ist diese auch durchführbar. Die Begründung, warum der vollständige Begriff eines Individuums, d.h. eines konkreten Gegenstandes, faktisch niemals gegeben ist, schließt nicht aus, daß sich der zugehörige komplexe Prädikator ,stückweise* beliebig genau formulieren läßt (was nach Leibnizens analytischer Theorie bedeutet, daß durch eine derartige Vervollständigung des , vollständigen* Begriffs einzelne kontingente Sätze schließlich zu notwendigen Sätzen werden). Über die Konstruktion individueller Begriffe als vollständiger Begriffe ist es Leibniz damit gelungen, allein mit logischen (nämlich begrifflichen) Hilfsmitteln diejenige Unterscheidung einzuführen, die in der Tradition als ontologische Grundunterscheidung von Substanz und Akzidenz angesehen wurde. Während bisher die Überzeugung herrschte, daß sprachliche Formulierungen ontologischen Unterscheidungen nur folgen könnten, diese den sprachlichen Unterscheidungen schon zugrunde lägen, weiß Leibniz, daß mit einer derartigen These nichts gewonnen ist. Zwar kommt es in seinem eigenen Vorschlag noch zu keiner B

* Generales Inquisitiones § 74, C. 376 f.

Die logisdie Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffes

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völligen Umkehrung dieser These, der Einsicht nämlich, daß auch sogenannte ontologische Unterscheidungen sprachlich getroffene Unterscheidungen sind, denselben Begründungsverpflichtungen unterliegen wie jede andere Unterscheidung, doch wird man sagen dürfen, daß der Absicht nach diese Umkehrung bereits eingeleitet ist. Die Konstruktion vollständiger Begriffe, so methodisch unvollkommen diese im Detail auch selbst noch sein mag, rechtfertigt die Einführung des Substanzbegriffs — nicht in Form einer zusätzlichen Erläuterung, sondern in Form einer selbständigen Begriffsbildung. Das bedeutet aber hinsichtlich des größeren Zusammenhangs, in dem diese Bemühung steht, also z. B. für den Zusammenhang des „Discours" mit dem „Systeme nouveau", daß der Rückgriff auf ontologische Traditionen im Begriff der substantiellen Form an entscheidender Stelle nur ein verbaler Rückgriff ist, Leibniz sofort über einen Begriff der Substanz verfügt, der ihn von der Tradition systematisch gesehen unabhängig macht. Anders ausgedrückt: seine Rekonstruktion des klassischen Substanzbegriffes (als solche versteht er wohl seine Bemühung) führt überhaupt erst zu einem logisch vertretbaren Begriff. Was nun die zunächst, innerhalb physikalischer Kontexte, gegebene Erklärung der Ausdrücke ,metaphysischer Punkt' bzw. ,formales Atom' durch den Begriff des Massenpunktes betrifft, so ist diese mit der Erläuterung des Begriffs der individuellen Substanz durchaus verträglich. Leibniz gibt zwar selbst keine genaueren Hinweise darauf, wie sich der vollständige Begriff eines physikalischen ,Elements€ bilden läßt, seine Beispiele stammen, wie im Fall der »Alexander-Monade', aus einem Bereich, in dem die Existenz von Eigennamen oder Kennzeichnungen von vornherein nichts Ungewöhnliches ist, doch handelt es sich hier lediglich um ein Problem der Ausführung, nämlich um die Anwendung begrifflicher Hilfsmittel außerhalb desjenigen Beispielbereichs, der zu ihrer Einführung diente. Hinsichtlich des Begriffs des Massenpunktes kann der Zusammenhang wie folgt hergestellt werden: Kennt man alle physikalischen Bestimmungen (darunter auch die Randbedingungen) eines physikalischen Systems zu einem gegebenen Zeitpunkt (die Koordinaten der Massenpunkte und deren zeitliche Ableitungen zu einem gegebenen Zeitpunkt), so sind daraus auf analytischem Wege alle künftigen Zustände des Systems vollständig ableitbar. Für ein solches System läßt sich damit nach Leibniz ein vollständiger Begriff angeben; desgleichen nun aber auch für einen Massenpunkt selbst, sofern dieser im Rahmen des Systems ein spezielles System darstellt, als ein solches spezielles 33 Mittelstrass, Neureit und Aufklärung

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Logik und Metaphysik

System beschrieben werden kann. Eine Schwierigkeit dieser Erklärung besteht lediglich darin, daß es sich bei den Randbedingungen eines Systems um äußere Bedingungen handelt, die im Rahmen der Leibnizschen Unterscheidungen zur Kennzeichnung einer individuellen Substanz nicht zugelassen sind.91 Andererseits lassen sich diese äußeren Bedingungen als innere Bedingungen eines (unendlichen) Gesamtsystems auffassen. Und dieser Begriff eines (unendlichen) Gesamtsystems, so problematisch er systematisch gesehen ist, macht nun wiederum innerhalb der Leibnizschen Philosophie keine Schwierigkeiten, da in deren Zusammenhang auch von unendlichen Begriffen die Rede ist. Die hier gegebene Erklärung ist im Grunde nur die logische Explikation des Gedankens der prästabilierten Harmonie. 14.5 Der Perzeptionensatz der Monadentheorie Es wäre eine gewiß reizvolle Aufgabe, die begonnene Analyse der Leibnizschen Monadentheorie auf dem Hintergrund einer Theorie vollständiger Begriffe in extenso weiterzuführen. Doch entspräche das nicht der Absicht, mit der diese Analyse begonnen wurde. Wenn an dieser Stelle ausführlich von Leibnizens Philosophie die Rede ist, dann nicht um deren umfassenden Darstellung willen, sondern um ein Beispiel dafür zu geben, wie nunmehr auch die Logik (neben der Physik) zum Vehikel sogenannter metaphysischer Betrachtungen wird. Zu diesem Zweck genügt die Analyse einiger zentraler Stücke dieser Philosophie, genügt der Nachweis, daß gewisse Aussagen logisch rekonstruiert werden, die bislang als metaphysische Aussagen methodisch isoliert standen. Aus der Fülle spekulativ anmutender Sätze der Monadentheorie, die sich mit Hilfe der Theorie vollständiger Begriffe einsichtig machen lassen, sei nur noch die Behauptung herausgegriffen, daß es Perzeptionen sind, die das Individuum konstituieren.92 Einmal handelt es sich bei diesem Satz, dem Perzeptionensatz der Monadentheorie, wie er im folgenden 91

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Vgl. Les Principes de la Philosophie ou la Monadologie § 9, Robinet, S. 73 (= Philos. Schriften VI, S. 608); hier heißt es hinsichtlich der paarweisen Verschiedenheit der Monaden untereinander (in Anwendung des Ununterscheidbarkeitssatzes): „ . . . il n'y a jamais dans la nature deux Etres, qui soient parfaitement l'un comme l'autre, et oü il ne soit possible de trouver une difference interne, ou fondee sur une denomination intrinseque"; vgl. oben S. 472. Vgl. Nouveaux Essais, Preface, Akad.-Ausgabe VI 6, S. 55 („Ces perceptions insensibles marquent encore et constituent le meme individu, qui est caracterise par les traces, qu'elles conservent des estats precedens de cet individu, en faisant la connexion avec son estat present").

Der Perzeptionensatz der Monadentheorie

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bezeichnet werden soll, um ein wirklich zentrales Stück der Leibnizschen Monadenkonzeption, zum anderen ist der Zusammenhang mit der vorausgegangenen Diskussion des Begriffs der individuellen Substanz evident. In beiden Fällen geht es um die unterscheidende Bestimmung von Einzeldingen. Als sozusagen klassische Stelle für das Verständnis dessen, was Leibniz mit dem Ausdruck ,perceptioc meint, darf das Vorwort zu den „Nouveaux Essais" gelten. Leibniz wendet sich hier in seiner Auseinandersetzung mit Locke unter anderem gegen die These, es könne gleichsam tote Augenblicke im Leben eines Individuums geben, in denen die Seele, vergleichbar einem Körper ohne Bewegung, leer sei. Zwei Argumente, ein apriorisches und ein aposteriorisches Argument, werden geltend gemacht. Das apriorische Argument lautet, daß eine Substanz , Natur aus' (nämlich ihrem Begriffe nach!) gar nicht ohne Tätigkeit existieren könne (d.h. es wird die terminologische Bestimmung bekräftigt: substantia