Vernünftiges Denken: Studien zur praktischen Philosophie und Wissenschaftstheorie 9783110859645, 9783110069563

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Vernünftiges Denken: Studien zur praktischen Philosophie und Wissenschaftstheorie
 9783110859645, 9783110069563

Table of contents :
Vorwort
I. Logik und Sprachphilosophie
Symbolische Handlungen. Überlegungen zu den Grundlagen einer pragmatischen Theorie der Sprache
Subjektlogik und Prädikatlogik
Fundamentalsemflntische Grundlegung der Logik und strukturtheoretische Rekonstruktion der Interpretationssemantik
Vier Stufen der Spracheinführung. Überlegungen zum gemeinsamen Fundierungsstück der Sprachtheorie/Handlungstheorie
Was ist ein methodischer Zirkel? Erläuterung einer Forderung, welche die konstruktive Wissenschaftstheorie an Begründungen stellt
Die Unvollständigkeit der Fregeschen „Grundgesetze der Arithmetik“
Ding als Erscheinung und Ding an sich. Zur Kritik einer spekulativen Unterscheidung
Platon — ein Verächter der „Vielen“?
Philosophie als Grundwissenschaft
II. Theorie der Naturwissenschaften
Wissenschaftstheorie zur Bestätigung der Naturwissenschaften?
Hypotheses non fingo
Die exakte Beschreibung von Naturvorgängen. Das Problem der exakten Beschreibung
Die Asymmetrie der Kausalrelation. Überlegungen zur interventionistischen Theorie G. H. von Wrights
III. Theorie der Geschichte und der Gesellschaft
Was aus Handlungen Geschichten macht: Handlungsinterferenz; Hetero- gonie der Zwecke; Widerfahrnis; Handlungsgemengelagen; Zufall
Historie oder Geschichte? Sprachkritik und Begriffsbildung in Kants Theorie der historischen Erkenntnis
Vom „Widerspruch in der Sache selbst“. Ein Versuch, Dialektik als Methode der Kritischen Theorie zu verstehen
Die historische Dimension der dialektischen Theorie
Mythische Vernunft?
IV. Philosophische Anthropologie und Ethik
Ist die philosophische Anthropologie tot ?
ζῷον λόγον ἔχον — ζῷον κοινόν Sprachkritische Rehabilitierung der Philosophischen Anthropologie: Wilhelm Kamlahs Ansatz im Licht rekonstruktiven Philosophierens
Freiheit von der Rolle
Moralphilosophische Argumentation bei Camus
Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung? (Existentialismus, Platonismus oder transzendentale Sprachpragmatik?)
Bedürfnis und Norm. Platons Begründung der Ethik
Platons politische Ethik 447
V. Verzeichnis der Veröffentlichungen

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Vernünftiges Denken

Vernünftiges Denken Studien zur praktischen Philosophie und Wissenschaftstheorie

herausgegeben von

Jürgen Mittelstraß und Manfred Riedel

w G_ DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1978

Gedruckt mit Unterstützung des Universitätsbundes Nürnberg-Erlangen

CIP-Kurxtitelaufnahmt

der Deutschen Bibliothek

Vernünftiges Denken : Studien zur prakt. Philosophie u. Wissenschaftstheorie / hrsg. von Jürgen Mittelstrass u. Manfred Riedel.— 1. Aufl. — Berlin, New York : de Gruyter, 1978. ISBN 3-11-006956-3 NE: Mittelstrass, Jürgen [Hrsg.]

Copyright 1977 by Walter de Gruyter Sc Co., vormals G. J. Göschcn'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. — Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks einschließlich des Rechts der Herstellung von Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Bindearbeitm: Lttderitz & Bauer, Berlin 61

Wilhelm Kamiah %um Gedächtnis

Wilhelm Kamiah * 3. 9. 1 9 0 5

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Foto: Dr. H. J. Schneider

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Vorwort Der vorliegende Band enthält eine Reihe von Arbeiten, die in thematischer und methodischer Hinsicht für größere Teile der neueren philosophischen Diskussion als charakteristisch angesehen werden dürfen. Dies kommt bei aller Unterschiedlichkeit einzelner Ansätze sowohl in einer starken Grundlagenorientierung, die ihren methodischen Ausweis selbst zu erbringen hat, als auch in dem Bemühen um eine Rehabilitierung der praktischen Philosophie zum Ausdruck. Die Gliederung des Bandes entspricht beidem. So sind im ersten Teil unter dem Titel »Logik und Sprachphilosophie' Arbeiten zusammengefaßt, die thematisch zur allgemeinen Wissenschaftstheorie, in einigen Fällen in Form einer Rekonstruktion klassischer Argumentationen, gehören; im zweiten Teil Arbeiten zur Wissenschaftstheorie der Physik. Probleme der praktischen Philosophie werden im dritten Teil zunächst unter dem Aspekt einer Theorie der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften behandelt, im vierten Teil im Rahmen ihrer klassischen Kerndisziplinen Philosophische Anthropologie und Ethik. Die Beiträge sind dem Andenken an Wilhelm Kamiah gewidmet, der in seiner Arbeit dem Anspruch vernünftigen Denkens in Wissenschaftstheorie und praktischer Philosophie aufs neue methodische und inhaltliche Geltung verschafft hat. Die Herausgeber

Inhalt Vorwort

IX

I. Loffk und Spracbpbilosopbie F R I E D R I C H KAMBARTEL

Symbolische Handlungen. Überlegungen zu den Grundlagen einer pragmatischen Theorie der Sprache

3

F R I E D R I C H KAULBACH

Subjektlogik und Prädikatlogik

23

PETER HINST

Fundamentalsemantische Grundlegung der Logik und strukturtheoretische Rekonstruktion der Interpretationssemantik

52

VOLKBERT M . ROTH

Vier Stufen der Spracheinführung. Überlegungen zum gemeinsamen Fundierungsstück der Sprachtheorie/Handlungstheorie 71 H A R A L D WOHLRAPP

Was ist ein methodischer Zirkel? Erläuterung einer Forderung, welche die konstruktive Wissenschaftstheorie an Begründungen stellt 87 CHRISTIAN T H I E L

Die Unvollständigkeit der Fregeschen „Grundgesetze der Arithmetik" 104 J Ü R G E N MITTELSTRASS

Ding als Erscheinung und Ding an sich. Zur Kritik einer spekulativen Unterscheidung 107 THEODOR E B E R T

Piaton — ein Verächter der „Vielen" ?

124

HERMANN Z E L T N E R

Philosophie als Grundwissenschaft

148

II. Theorie der Naturwissenschaften PETER JANICH

Wissenschaftstheorie zur Bestätigung der Naturwissenschaften? . . . . 1 6 1 PAUL LORENZEN

Hypotheses non

fingo

176

χπ

Inhalt

ANDREAS K A M L A H

Die exakte Beschreibung von Naturvorgängen. Das Problem der exakten Beschreibung 194 HANS J . SCHNEIDER

Die Asymmetrie der Kausalrelation. Überlegungen zur interventionistischen Theorie G. H. von Wrights 217 III. Theorie der Geschichte und der Gesellschaft HERMANN LÜBBE

Was aus Handlungen Geschichten macht: Handlungsinterferenz; Heterogonie der Zwecke; Widerfahrnis; Handlungsgemengelagen; Zufall . . 237 MANFRED RIEDEL

Historie oder Geschichte? Sprachkritik und Begriffsbildung in Kants Theorie der historischen Erkenntnis 251 OSWALD SCHWEMMER

Vom „Widerspruch in der Sache selbst". Ein Versuch, Dialektik als Methode der Kritischen Theorie zu verstehen 269 IVAN GLASER

Die historische Dimension der dialektischen Theorie

286

FRANZ KOPPE

Mythische Vernunft ?

301

IV. Philosophische Anthropologie und Ethik ECKARD KÖNIG

Ist die philosophische Anthropologie tot ?

329

DIETRICH BÖHLER

ζφον λόγου §χου — ζωου κοινόν. Sprachkritische Rehabilitierung der Philosophischen Anthropologie: Wilhelm Kamlahs Ansatz im Licht rekonstruktiven Philosophierens 342 OTTO FRIEDRICH BOLLNOW

Freiheit von der Rolle

374

KUNO LORENZ

Moralphilosophische Argumentation bei Camus

387

KARL-OTTO APEL

Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung? (Existen-tialismus, Piatonismus oder transzendentale Sprachpragmatik ?) . . . . 407 K A R L - H E I N Z ILTING

Bedürfnis und Norm. Piatons Begründung der Ethik

420

GÜNTHER PATZIG

Piatons politische Ethik

447

V. Verzeichnis der Veröffentlichungen von Wilhelm Kamlab (zusammengestellt von Eckard König) 465

I. Logik und Sprachphilosophie

FRIEDRICH KAMBARTEL

Symbolische Handlungen Überlegungen zu den Grundlagen einer pragmatischen Theorie der Sprache* In der Sprachphilosophie und Linguistik, insbesondere in der formalen Linguistik, herrscht noch weithin eine Auffassung der Sprache vor, die sich auf die folgende Weise charakterisieren läßt: Es gibt eine besondere Art historisch gewordener oder künstlich erzeugter Gegenstände, welche Bedeutung besitzen, d. h. durch eine Abbildungsrelation auf Entitäten einer realen oder abstrakten Welt (für die Tarski-Schule wäre eine Welt von Welten einzusetzen) bezogen sind, auf Entitäten nämlich wie Gegenstände, Attribute, Relationen (insbesondere Funktionen). Diese Abbildung erlaubt es den Sprechern oder Schreibern, mit Hilfe der zuerst genannten („sprachlichen") Gegenstände und ihrer Kombinationen (genauer der jeweiligen Realisierungen, engl, „tokens", im aktuellen Sprachvollzug) jene anderen der „Welt" zugeordneten Gegenstände und ihren strukturellen Zusammenhang darzustellen. Eine besonders entwickelte und formal hochstilisierte Form der Sprachanalyse, welche diesen Standpunkt vertritt, liegt in der Kalifornischen Semantik vor, wie sie durch R. Montague, D. K. Lewis, M. J. Cresswell u. a. ausgearbeitet worden ist und in der Linguistik während der letzten Jahre zunehmend Boden gewinnt. Seit Wittgensteins Spätphilosophie ist andererseits viel davon die Rede, daß die Sprache ein System von Handlungen ist. In Wittgensteins Untersuchungen blieb diese Einsicht noch im wesentlichen allgemein, ohne Entwicklung einer systematischen Theorie der pragmatischen Konstruktionen, welche jene Handlungen konstituieren, die inzwischen * Der Abhandlung liegt ein Vortrag Symbolic Acts zugrunde, der auf dem Oxford International Symposium 1975 gehalten wurde (veröffentlicht in G. Ryle [Hrsg.] : Contemporary Aspects of Philosophy [Stocksfield 1977], 70—85). Der Situationsbezug wird auch in dieser deutschen Fassung der in Oxford vorgetragenen Überlegungen beibehalten.

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Friedrich Kambarte 1

üblicherweise „Sprechakte" heißen. J. L. Austin und J. R. Searle haben dann versucht, einige grundlegende sprachpragmatische Unterscheidungen auszuarbeiten; leider greifen sie, Searle deutlicher als Austin, allerdings auf in der traditionellen Logik und Linguistik entwickelte grammatische Kategorien zurück, ohne für diese zuvor ein pragmatisches Fundament gelegt zu haben. Offenbar können wir jedoch z. B. Handlungsarten wie „referring" und „predicating" nicht methodisch einführen, indem wir schlicht sagen: Prädikation heißt der Gebrauch eines prädikativen Ausdrucks (predicative term), Referenζ heißt der Gebrauch eines nominativen Ausdrucks (name term). Denn in einem radikal pragmatischen Ansatz ist es untersagt, diese Erklärungen dadurch weiter auszuführen, daß semantische Korrespondenzrelationen für ein Verständnis des Unterschiedes zwischen prädikativen und nominativen Ausdrücken herangezogen werden. Andererseits hat auch die linguistische Pragmatik noch nicht die Phase systematischer Forschung erreicht; wenn wir von der modernen semantischen Theorie der Kotext-Abhängigkeit absehen, welche zwar Pragmatik heißt, in der Regel jedoch die Konstruktionen von Sprechakten nicht zu einem eigenen Gegenstand der Untersuchung macht. Wenn daher der pragmatische Ansatz der Sprachtheorie methodisch ausgearbeitet werden soll, so ist die konkrete Arbeit wohl weitgehend noch zu tun. Die vorliegenden Überlegungen behandeln einige pragmatische Unterscheidungen, die ich als grundlegende Schritte für eine pragmatische Rekonstruktion logischer und grammatischer Kategorien vorschlagen möchte, einer Rekonstruktion, welche die Schwierigkeiten sowohl ontologischer Abbildtheorien der Bedeutung als auch einer lediglich oberflächengrammatisch orientierten Pragmatik vermeiden soll. — Wenn wir Sprechakte erörtern, haben wir es mit Handlungen zu tun. Daher ist es verwunderlich, daß systematische Einsichten der allgemeinen Handlungstheorie bisher immer noch so wenig Eingang in die Pragmatik im engeren, sprachbezogenen, Sinn des Wortes gefunden haben. Zur Vermeidung dieses Mangels sei hier mit einer Klärung des Handlungsbegriffes begonnen, der den folgenden Konstruktionen zugrunde liegt: Die Argumente gegen eine s^ientistische Analyse von Handlungen möchte ich hier zunächst nicht noch einmal wiederholen (cf. etwa Kamiah 1972), vielmehr schlicht unterstellen, daß wir, mit Kant und anderen „Intentionalisten", von der Existenz handelnder Subjekte ausgehen können, d. h. darin übereinstimmen, daß Handlungen etwas sind, das dem Handelnden nicht einfach zustößt, sondern durch ihn zustande gebracht wird. Mit Kants Worten: wir besitzen das „Vermögen, einen Zustand von

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selbst anzufangen" (Kritik der reinen Vernunft, Β 61). Wittgenstein dürfte dasselbe im Auge gehabt haben, wenn er z. B. in den Philosophischen Untersuchungen I, 612 erklärt: „Von der Bewegung meines Armes, ζ. B., würde ich nicht sagen, sie komme, wenn sie komme, etc. . . . Und hier ist das Gebiet, in welchem wir sinnvoll sagen, daß uns etwas nicht einfach geschieht, sondern daß wir es tun. ,Ich brauche nicht abwarten, bis mein Arm sich heben wird, — ich kann ihn heben.' Und hier setze ich die Bewegung meines Arms etwa dem entgegen, daß sich das heftige Klopfen meines Herzens legen wird." — In dieselbe Richtung weist von Wrights Bemerkung (1974, 51): „An ability to do things is a ,power to interfere with nature' to make the course of the world (a little bit) different from what it otherwise would be." — Ahnlich ist Kamlahs Gegenüberstellung der Widerfahrnisse und Handlungen (1972, l.Teil §3) zu verstehen. Autoritäten sind kein vernünftiger Ersatz für methodische Reflektion. Offenbar kommt es daher nun zunächst darauf an, den zitierten Bemerkungen einen präzisen Sinn zu geben. Dazu vergegenwärtigen wir uns, daß uns unsere Handlungen nicht einfach von Natur, sondern erst durch (häufig mühevolles) Lernen zur Verfügung stehen. Was wir dabei jeweils erwerben, ist nicht die Fähigkeit, eine „besondere" Handlung, ein konkretes Handlungsgeschehen („act-token") hervorzubringen, sondern die Möglichkeit, „nach Belieben", unter geeigneten Umständen Geschehnisse einer bestimmten Art in die Welt zu setzen oder fortzuführen. Zu handeln heißt daher stets, mit Kamlahs Worten, ein Handlungsschema zu aktualisieren. Und ein Handlungsschema zu aktualisieren, heißt, in den Lauf der Dinge, wie er sonst geschehen würde, auf eine Weise einzugreifen, welche auf Grund eines Lernprozesses nach Belieben verfügbar ist. Mit von Wrights Worten (1963) können wir die Handlungsschemata auch generische Handlungen (generic acts) und ihre Aktualisierungen individuelle Handlungen (individual acts) nennen. A. J. Goldman (1970) verwendet statt dessen die type-token-Terminologie. Allerdings ist hier Vorsicht geboten: Man darf nämlich die „generiseli" gemeinten Handlungsterme ebenso wie den Rückgriff auf „types" nicht in einer grob deskriptiven Weise mißverstehen. Stets ist nämlich der intentionale Charakter, den Handlungen im Gegensatz zu Naturereignissen besitzen, zu beachten. Was ist nun aber, bezogen auf eine Handlung, deren Intention ? — In dieser Frage ist das Wort „Handlung" zunächst konkret zu verstehen; d. h. wir beziehen uns dabei stets auf einen bestimmten („individuellen") Vorgang, von dem unterstellt wird, daß er ein Handlungsschema aktua-

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Friedrich Kambartel

lisiert. Ich möchte vorschlagen, die Frage nach der Intention einer konkreten Handlung (oder eines Handlungsversuches als des konkreten Ansatzes zu einer Handlung) dann schlicht als die Frage nach dem Handlungsschema zu verstehen, um dessen Aktualisierung es sich dabei dreht. Die Frage nach der Intention verweist damit auf Dialoge der Art : „Was macht er?" — „Er läuft." Ein konkretes Handlungsgeschehen kann zugleich eine ganze Reihe von Yl&aàhmgsschemata aktualisieren und damit entsprechend viele Intentionen verfolgen. Diese Intentionen können selbst in einem systematischen Zusammenhang stehen, wie es etwa bei dem folgenden Beispiel der Fall ist: Jemand drückt einen Schalter herunter. Indem er dies tut, macht er Ucht. Und indem er dies tut, signalisiert er seine Anwesenheit. Es bedarf, so unterstelle ich hier, keiner weiteren Erörterung, daß Intentionen sich dem Handlungsgeschehen nicht als schlichte empirische Daten, durch Beobachtung „von außen", wie die Farbe einer Blume, entnehmen lassen. Letztlich müssen wir eine intentionale Interpretation stets auf ein gemeinsames Handeln, insbesondere auf Dialoge mit dem Handelnden stützen. Ist dies nicht möglich, so bleibt noch der Weg, den kulturellen Kontext und die Vermittlungstraditionen, welchen die betrachteten Handlungen angehören, zu rekonstruieren. Daß Handlungen von Intentionen geleitet sind, ist übrigens analytisch wahr. Denn in unserer Erläuterung beinhaltet der Handlungsbegriff selbst, daß eine Handlung ein Handlungsschema aktualisiert. Intentionen einer Handlung müssen im allgemeinen von Zwecken unterschieden werden, die mit dieser Handlung verfolgt werden. Wer läuft, um gesund zu bleiben, realisiert nach dem vorgeschlagenen Sprachgebrauch durch sein Handeln die Intention des Laufens; wohingegen ein bestimmter Gesundheitszustand, welcher sich durch regelmäßiges Laufen erreichen läßt, der Zweck des ins Auge gefaßten Laufvorganges sein mag. In den folgenden Überlegungen wird das Wort „Handlung" in der Regel „generiseli" verwendet, d. h. die Rede von einer bestimmten Handlung bezieht sich dann auf ein von bestimmten Handlungssubjekten erworbenes Handlungsschema. Und „(die Handlung) h tun (ausführen)" oder äquivalente Ausdrucksweisen sind zu verstehen als „das Handlungsschema h aktualisieren". Eine der wichtigsten Relationen zwischen Handlungen besteht darin, daß eine Handlung h durch die Aktualisierung einer oder mehrerer Handlungen hj, h 2 , . . . einer bestimmten Art ausgeführt wird. Wir wollen eine Handlung h durch Handlungen h 1 , h 2 , . . . vermittelt nennen

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genau dann, wenn h, per definitionem, durch Ausführung einer oder mehrerer der h j , h 8 , . . . getan werden kann. Dann können wir von einer vermittelten Handlung h genau dann sprechen, wenn h, per definitionem, nur auf eine im genannten Sinne vermittelte Weise ausgeführt werden kann. Wenn eine Handlung h x durch h a vermittelt wird, soll h 2 primär zu (eine Primärbandhmg von) h j heißen. Einfache Beispiele sind komplexe Handlungen im engeren Sinne des Wortes. Eine Handlung h, die definitionsgemäß darin besteht, daß h 1 und dann (d. h. danach) h s getan wird, wird ausgeführt durch Ausführungen von h x und h a . — Wenn wir z. B. das Lichtmachen als eine Handlung einstufen — ich schlage vor, solche Handlungen Kausalbandlungen zu nennen — dann haben wir damit eine weitere Sorte vermittelter Handlungen vorliegen. Lichtmachen kann per definitionem nur durch andere Handlungen ausgeführt werden, deren Folge, unter den entsprechenden relevanten Bedingungen, ein als „Licht im Zimmer" charakterisierbarer Zustand ist. Allgemein gesagt: Eine Kausalhandlung „machen, daß f" kann per definitionem nur durch die Aktualisierung von Handlungen hf ausgeführt werden, deren Folge f ist. Gibt es mcbt-vermittelte Handlungen ? — Die Antwort muß wohl „ja" lauten. Z. B. ist nicht einsichtig, wie das Herunterdrücken des Schalters (beim Lichtmachen) als vermittelt analysiert werden kann. Offenbar ist z. B. die Annahme absurd, das Herunterdrücken eines Schalters werde üblicherweise als eine komplexe Handlung gelernt, welche aus den folgenden (vorher gelernten) Handlungen besteht: den Finger auf den Schalter legen, den Schalter ein klein wenig herunterdrücken, den Schalter ein wenig mehr herunterdrücken usf. — Andererseits ist es nicht notwendig, von absoluten „unmittelbaren" Handlungen („basic acts") auszugehen, um von vermittelten Handlungen zu sprechen: Was in den aktualen Vermittlungsstrukturen pragmatischer Lernprozesse elementar ist, kann von Traditionen und individuellen Entwicklungen abhängen. Wir kommen nun zur Vermittlungsstruktur derjenigen Handlungen, welche die pragmatische Basis sowohl der Sprache als auch des institutionellen Handelns allgemein bilden. Ich möchte vorschlagen, diese Handlungen symbolische Handlungen zu nennen. Einleitend gesagt: Eine symbolische Handlung s wird dadurch konstituiert, daß bestimmte notwendige Bedingungen oder pragmatische Konsequenzen für die Aktualisierung anderer Handlungen festgelegt werden (wodurch diese anderen Handlungen Primärhandlungen von s werden). Die Wahl eines neuen Ausdrucks „symbolische Handlung" soll Konnotationen vermeiden, die den Terminus „Sprechakt" nach seinem recht vagen und theoretisch

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überladenen Gebrauch während der letzten Jahre begleiten. Ferner ist die Rede von symbolischen Handlungen weiter zu verstehen als die Ausdrücke „Sprechakt" bzw. „Redehandlung" ; sie schließt auch allgemeinere institutionell geregelte Handlungszusammenhänge ein. Die Erläuterung des Begriffe der symbolischen Handlungen soll nun präziser gefaßt werden. Zunächst wollen wir davon sprechen, daß eine Handlung einen symbolischen Gebrauch erhält genau dann, wenn ihre Aktualisierung durch stillschweigende oder explizite Übereinstimmung auf bestimmte Situationen beschränkt oder mit bestimmten pragmatischen Konsequenzen (d. h. der Aktualisierung oder Unterlassung anderer Handlungen) verbunden wird, so daß ihre Aktualisierung im Normalgebrauch nur noch genau diese Vereinbarung aktualisiert. (Festlegungen dieser Art mögen dabei übrigens selbst nur für bestimmte Situationen Geltung haben.) Der symbolische Gebrauch einer Handlung ist zu unterscheiden von einer Situation, in der die Aktualisierung einer Handlung lediglich einer Regel folgt: Wird für eine Handlung h vorgeschrieben, daß sie nur in bestimmten Situationen zulässig ist, so gibt das zunächst eine Handlungsregel R (h). Wenn eine Person oder Gruppe das Schema h nur noch der Regel R(h) folgend aktualisiert, so liegt der Fall einer Handlungsweise gemäß R(h) vor. (Handlungsweisen lassen sich selbstverständlich auch mit Handlungsregeln einer anderen Form, also nicht nur mit bedingten Verboten, verbinden.) Ist eine Handlung h' ganz entsprechend „reguliert", d. h. in genau denselben Situationen zulässig wie h gemäß R (h), so haben wir eine Handlungsregel R(h') vorliegen. Selbstverständlich sind sowohl R (h) und R (h') als auch die zugehörigen Handlungsweisen verschieden, wenn h und h' verschieden sind. Der symbolische Gebrauch einer Handlung läßt sich andererseits als Aktualisierung einer neuen Handlung, d. h. eines neuen Handlungsschemas begreifen. Dies geschieht durch Abstraktion von den verschiedenen „konkreten" Handlungsschemata h, h', . . ., welche durch R in den Regeln R (h), R (h'), . . . in derselben Weise reguliert werden : Das zu R gehörige symbolische Handlungsschema zu aktualisieren, heißt, eine der durch R regulierten Handlungen h, h', . . . zu aktualisieren, ohne dabei jedoch die Anwendung von R(h) als eine h regulierende Regel, die Anwendung von R (h') als eine h' regulierende Regel usf. zu intendieren. Mit anderen Worten (nur mit anderen Worten) : Wenn wir das symbolische Handlungsschema aktualisieren, in dem wir h aktualisieren, intendieren wir letzten Endes nur die zugrunde liegende, von den „Konkreta" h, h', . . . ablösbare Vereinbarung, nicht den geregelten

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Gebrauch jeweils eines dieser konkreten Schemata. — Wir wollen h, h', . . . Trägerhandlungen der entsprechenden symbolischen Handlung nennen, wobei die symbolische Handlung durch Ausdrücke wie Sn(h), Sa(h'), . . . oder einfach s(h), s(h'), . . . ausgedrückt werden soll; selbstverständlich stehen alle diese Ausdrücke für dieselbe symbolische Handlung. — Es ist damit zugleich deutlich geworden, daß eine symbolische Handlung s in der Tat durch jede ihrer Trägerhandlungen vermittelt wird, die Trägerhandlungen dann also Primärhandlungen von s sind. Eine symbolische Handlung s auszuführen, impliziert die Ausführung einer Trägerhandlung von s. Daher wird beim symbolischen Handeln wie im Fall anderer vermittelter Handlungen mehr als eine Intention verfolgt. Ich schlage vor, das jeweilige Trägerhandlungsschema h, ζ. B. eine phonetische Handlung, die direkte Intention und das symbolische Handlungsschema s(h) die indirekte Intention zu nennen, welche eine besondere Aktualisierung von s, vermittelt durch h, leitet. (Offenbar lassen diese Unterscheidungen den Fall zu, daß eine symbolische Handlung s¿ Trägerhandlung einer symbolischen Handlung s a ist.) Soweit eine symbolisch gebrauchte Primärhandlung auf das Vortiegen der Bedingungen, unter denen ihre Ausführung vereinbarungsgemäß zulässig ist, verweist, hat sie einen informativen Sinn. Soweit andererseits eine symbolisch verwendete Primärhandlung vereinbarungsgemäß Normierungen für das weitere Handeln in Kraft setzt, hat sie einen performativen Sinn. Unter den symbolischen Handlungen lassen sich dann informative symbolische Handlungen als diejenigen auszeichnen, deren Aktualisierung im wesentlichen einen informativen Sinn der genannten Art hat; entsprechend läßt sich von performativen symbolischen Handlungen reden. Offenbar ergibt sich aus diesen Definitionen, daß eine symbolische Handlung gleichzeitig eine informative und eine performative Bedeutung haben kann. Normalerweise machen wir bei der Konstituierung oder Rekonstruktion symbolischer Handlungen Gebrauch von anderen bereits verfügbaren symbolischen Handlungen. Für ein methodisches Verständnis symbolischer Handlungen ist es jedoch notwendig, Konzeptionen zu vermeiden, welche Zirkel oder einen unendlichen Regreß implizieren. Daher müssen sich in einem ersten Schritt „elementare" symbolische Handlungen vorweisen lassen, die nicht bereits ein funktionstüchtiges System anderer symbolischer Handlungen voraussetzen. — Eine Lösung dieses Problems hat bereits Wittgenstein angedeutet; sie bedarf lediglich weiterer Ausarbeitung. Zu diesem Zwecke rufe ich noch einmal Wittgensteins bekanntes Baustellen-Beispiel in Erinnerung :

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Eine der Handlungen, welche Wittgenstein als in der von ihm geschilderten Situation vertraut ausgibt, ist der Ruf „Platte!", verstanden als Aufforderung an den Adressaten, eine bestimmte Sorte von Dingen herbeizubringen. Symbolische Handlungen der Art, welche durch „Platte !" exemplifiziert wird, lassen sich nun in elementarer Weise ohne Rückgriff auf andere symbolische Handlungen einführen. Um das einzusehen, wollen wir annehmen, daß der Gebrauch von „Platte!" durch Vereinbarung der Sprachverwender nur in solchen Fällen zulässig ist, in denen Platten herumliegen. Ferner unterstellen wir, daß der an einen Teilnehmer des „Sprachspieles" gerichtete Ruf „Platte!" vereinbarungsgemäß normalerweise die pragmatische Folge hat, daß dieser Teilnehmer eine Platte herbeibringt. Durch diese Konvention hat die phonetische Handlung „Platte!" eine symbolische Bedeutung erhalten, sie ist Trägerhandlung einer symbolischen Handlung geworden. — Wie können wir diese symbolische Handlung als elementar im bereits erörterten Sinne begreifen ? Haben wir nicht weidlich Gebrauch von der Sprache gemacht, um den Inhalt der Konventionen zu kennzeichnen, welche die symbolische Bedeutung von „Platte!" definieren? Zweifellos haben wir dies getan, jedoch nur um uns unnötige Mühe zu sparen, sind wir doch, während ich dies vortrage, recht angenehm in einem Seminarraum von Christ Church College versammelt. Unsere verbalen Beschreibungen der Baustelle und der Konventionen, welche dort gelten, dienen daher nur als Mittel, um uns eine Situation vorzustellen, in welcher wir ohne (andere) Worte auskommen und gleichwohl den symbolischen Gebrauch von „Platte!" lernen können. Wer dies nicht glaubt, möge die Vorlesungsräume verlassen und pragmatisch (im Gegensatz zu : nur deskriptiv) in geeignete Situationen eintreten. Wie geht nun aber das elementare Erlernen der symbolischen Handlung „Platte!" vor sich? — Die Antwort ist einfach: schlicht dadurch, daß diese Handlung eingebettet in Handlungen mit Platten ausgeführt wird. Verbale Beschreibungen sind nicht notwendig, um in dieser Weise „empragmatisch" (der Terminus geht auf Lorenzen und Schwemmer (1973) zurück) zu verstehen, daß Platten und nicht Backsteine gemeint sind und daß der Adressat von „Platte !" gemäß der (indirekten) Intention des Äußerers gehandelt hat, wenn er eine Platte bringt. Insofern elementare symbolische Handlungen gewisse Unterscheidungen implizieren (z. B. zwischen Platten und Bausteinen), können diese Unterscheidungen damit pragmatisch konstruiert werden, ohne die Verwendung verbaler Beschreibungen.

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Wenn wir den Terminus „Unterscheidung" für die symbolische Ebene reservieren wollen, so müssen wir sagen, daß wir, indem wir den korrekten Gebrauch einer elementaren symbolischen Handlung h bestimmen, gegebenenfalls zugleich die Unterscheidung konstituieren, welche h eine informative Bedeutung gibt. Ich schlage vor, derartige elementare symbolische Handlungen „Weisungen" zu nennen, in Anlehnung an „anweisen", „Anweisung" für die mehr performativen und „hinweisen", „Hinweis" für die mehr informativen unter diesen Handlungen. — An dieser Stelle ist der Hinweis wichtig, daß der Begriff der elementaren Weisung nicht beinhaltet, daß eine der üblichen logico-grammatischen Kategorien zugrundegelegt wird. Wittgenstein hat auch dies bereits gesehen. In den Philosophischen Untersuchungen 119 sagt er dazu: „Wie ist es aber: Ist der Ruf ,Platte!' [ . . . ] ein Satz oder ein Wort? — Wenn ein Wort, so hat es doch nicht dieselbe Bedeutung, wie das gleichlautende unserer gewöhnlichen Sprache [...]. Wenn aber ein Satz, so ist es doch nicht der elliptische Satz ,Platte 1' unserer Sprache." Elementare Weisungen repräsentieren so nicht die klassischen grammatischen oder logischen Unterscheidungen. Weder „Satz" noch „Wort" noch „Prädikator" („Peter!" kann ebenfalls eine elementare Weisung sein!) kommen dafür in Frage. Vielmehr sind elementare Weisungen als das Fundament eines radikal pragmatischen Ansatzes zu verstehen, der uns erst zu den loffco-grammatischen Formen sprachlicher Ausdrücke führen soll. Einige Schritte in dieser Richtung seien nun noch ausgeführt: Eine der Hauptfragen ist offenbar, wie wir von den elementaren Weisungen zur Unterscheidung zwischen, d. h. zu einer pragmatischen Differenz von, „Nominatoren" („dies Haus", „Peter") und „Prädikatoren" („Stein", „rot") gelangen. Die methodische Schwierigkeit besteht hier darin, daß sich die Nominatoren oder Prädikatoren in einem radikal pragmatischen Ansatz nicht einfach als eine Art von Namenstäfelchen vorstellen lassen, welche an ζ. B. ontologische Individuen oder semantische Funktionen gleichsam angeheftet sind. Verfügen wir doch bei einem solchen Ansatz zu Beginn lediglich über elementare symbolische Handlungen, welche durch Vereinbarungen über ihre korrekte Ausführung empragmatisch auf gewisse Weisen der Handhabung, allgemeiner : des Umgangs mit jenen Dingen bezogen sind, die wir normalerweise durch Nominatoren und Prädikatoren unterscheiden (cf. Lorenz 1970). Ζ. B. bilden diese-Tasse-holen, Wasser-in-diese-Tasse-gießen, diese-Tasse-berühren, auf-diese-Tasse-zeigen usf. ein Bündel solcher Schemata des Umgangs mit einer Tasse.

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Wie wissen wir nun aber, welche Handlungen zu diesem Bündel gehören? — Den Ausdruck „diese Tasse" für die Charakterisierung des Bündels zu benutzen, wäre zirkulär. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als schlicht durch Beispiele von Handlungen zu lernen, was ein „Umgang mit n" ist. Andererseits darf das Lernen dessen, was ein Umgang mit η ist, nicht als das Lernen einer Handlung (eines Handlungsschemas!) „Umgang mit n" mißverstanden werden: Es ist unsinnig, jemanden ohne weitere Differenzierungen zu einem Umgang mit η aufzufordern. Was heißt dann aber die Rede davon, daß wir den Umgang mit η durch bestimmte Weisen des Umgangs mit η exemplifizieren? Was lernen wir durch diese Beispiele, wenn wir nicht eine allgemeine Handlung „umgehen mit n" lernen? — Meine Argumentation läuft darauf hinaus, daß wir dabei Bedingungen für die korrekte Ausführung einer anderen Handlung erlernen, nämlich einer symbolischen Handlung, welche in der Äußerung eines Lautes, einer Schreibfigur, einer Geste usf. mit einer symbolischen Intention besteht: und zwar werden auf diese Weise bestimmte Handlungen als solche ausgezeichnet, welche die eben dadurch definierte symbolische Intention der Äußerung ζ. B. von „diese Tasse" bzw. „Tasse" definieren. Diese Unterscheidung wird also getroffen und zugleich mitgeteilt durch ihre Exemplifikation. — Das Gesagte läßt immer noch keinen Unterschied zwischen „besonderen" und „allgemeinen" n's hervortreten. Pragmatisch gesprochen bleibt der Umgang mit einer Tasse (gleich welcher) und der Umgang mit einer wohl bestimmten Tasse noch zu unterscheiden. Offenbar hängt die „allgemeine" symbolische Handlung „Tasse" mit ihren Individualisierungen „diese Tasse" usf. in der folgenden Weise zusammen: Eine richtige Aktualisierung der Individualisierungen setzt eine Situation voraus, in welcher eine Aktualisierung zugehöriger „allgemeiner" symbolischer Handlungen korrekt ist oder dies sein würde. Und dies ist nicht der Fall in umgekehrter Richtung. — Wir wollen von Nomination im „individuellen" Fall und von Prädikation im „generellen" Fall sprechen. Eigennamen im engeren Sinne lassen sich dann anstelle von Ausdrücken wie „diese Tasse" wie üblich als ein Mittel verwenden, die Nomination kotext- oder kontextunabhängig zu machen. Nomination und Prädikation sind nicht so zu verstehen, daß sie gleichsam verbale Zettel an individuelle Gegenstände oder abstrakte Entitäten heften. Nicht einmal repräsentieren sie, wie bereits betont, auf diese Weise Handlungsschemata, ζ. B. Handlungsschemata wie „umgehen mit einer Tasse" oder „umgehen mit dieser Tasse". Vielmehr konstituieren sie Handlungsarten. Die Nomination befähigt uns nämlich, gerade jene

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Handlungen hervorzuheben, die „einen bestimmten Gegenstand" betreffen. Für die Prädikation gilt dasselbe mit Bezug auf alle Objekte, mit denen sich pragmatisch „in derselben Weise" umgehen läßt. Was es heißt, mit demselben besonderen Gegenstand umzugehen oder in derselben Weise mit sonst verschiedenen Gegenständen umzugehen läßt sich nicht durch Beobachtung des Gegebenen herausfinden, sondern wird konstituiert, indem man symbolische Handlungen der Nomination und Prädikation lernt. Handlungen der Nomination und Prädikation sind, wenn man sie wie hier geschehen konstruiert, informative symbolische Handlungen; genauer handelt es sich um spezielle elementare Weisungen. Welcher „Sitz im Leben" läßt sich den nominativen und prädikativen Handlungen zuweisen? Sind sie vielleicht nicht bloße Gelehrtenfiktionen? — Handlungen der Nomination und Prädikation dienen nicht als Mittel der Herbeiführung bestimmter Handlungen (wie es bei Wittgensteins „Platte 1"-Beispiel der Fall ist), sondern als Mittel der Verständigung über HandlungsMöglichkeiten. So weist die prädikative Handlung „Tasse" über die besondere Handlung (z. B. des Zeigens auf eine Tasse), mit welcher sie bei korrekter Ausführung verbunden ist, hinaus. Sich auf die korrekte Aktualisierung dieser symbolischen Handlung zu verlassen, bedeutet schlicht davon auszugehen, daß wir die üblichen Handlungen des Umgangs mit Tassen zur Verfügung haben; z. B. mögen wir uns dann darauf verlassen, daß für das Teetrinken, wenigstens teilweise, bereits gesorgt ist. Indem wir dann entsprechend dieser Unterstellung handeln, stellen wir uns zugleich eine Möglichkeit zur Verfügung, die Korrektheit der prädikativen Handlung „Tasse" zu kontrollieren. Wie steht es nun mit elementaren Sätzen der Form ηεΡ, wobei die Äußerung von η allein unter geeigneten Umständen eine nominative symbolische Handlung und die Äußerung von Ρ allein eine prädikative symbolische Handlung ist? — Auszusagen, daß ηεΡ, läßt sich als eine informative symbolische Handlung verstehen, welche korrekt ausgeführt wird genau dann, wenn alle Handlungen des Umgangs mitP(s) als Aktualisierungen von Handlungen des Umgangs mit η ausgeführt werden können. Demgemäß heißt dann „Christ Church ε College", daß wir die üblichen College-Aktivitäten als Christ Church-Aktivitäten ausführen können. Wenn η ein Eigenname ist, so haben elementare Aussagen der Form ηεΡ auf Grund unserer Analyse eine Bedeutung, welche von der je gegenwärtigen Aktualisierung eines Umgangs mit jenen Objekten, über welche die Aussagen sprechen, ganz unabhängig ist. In diesem Sinne beziehen sich solche elementaren Aussagen lediglich im allgemeinen auf

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unsere Situation. Das wirft die Frage auf, wie wir dann die korrekte Aktualisierung elementarer Aussagen pragmatisch kontrollieren können. Die Antwort auf diese Frage lautet: Indem wir in Situationen des Umgangs mit η konkret eintreten, sind wir in der Lagepragmatisch zu „sehen", ob Handlungen des Umgangs mit Ρ als Aktualisierung von Schemata des Umgangs mit η aktualisiert werden können. Wer dann bestreitet, daß ηεΡ, möge eine Handlung des Umgangs mit Ρ vorweisen, welche keine Operationen mit η als „Unterschemata" hat. Die Äußerung eines elementaren Satzes der Form ,,ηεΡ" darf nicht als Aktualisierung einer komplexen Handlung analysiert werden, welche darin besteht, erst eine nominative Handlung η zu aktualisieren, dann eine Art von Verbindungshandlung (die dem ε zugeordnet ist), schließlich eine prädikative Handlung Ρ auszuführen. Elementare Aussagen sind sogar überhaupt nicht symbolische Handlungen, welche durch die entsprechenden elementaren Weisungen vermittelt werden. Wäre es so, so müßten diese elementaren Weisungen bei der Aktualisierung dieser Aussage selbst aktualisiert werden. Andererseits lassen sich elementare Weisungen nur empragmatisch gebrauchen; ein solcher Gebrauch ist jedoch unmöglich im Rahmen elementarer Aussagen, weil sich diese auf unsere Situation nur im allgemeinen beziehen. Wir können die Beziehung zwischen elementaren Aussagen und den entsprechenden nominativen und prädikativen Handlungen eine pragmatische Ableitung nennen. Allgemein schlage ich vor, eine Handlung h als abgeleitet von Handlungen h l a . . ., hn zu bezeichnen genau dann, wenn die Fähigkeit zur Aktualisierung von h die Fähigkeiten der Ausführung von hj, . .., hn voraussetzt. Abgeleitete Handlungen dürfen nicht mit vermittelten Handlungen verwechselt werden: Man braucht eine Handlung nicht auszuführen, um von ihrer Beherrschung bei der Aktualisierung einer anderen Handlung Gebrauch zu machen. Eine wichtige Bemerkung zu den elementaren Aussagen ist noch nachzutragen: Elementare Aussagen dürfen nicht bereits als Behauptungen verstanden werden, d. h. als verbunden mit Verpflichtungen, für ihre Geltung in einer wohl bestimmten Weise zu argumentieren. Der pragmatische Kontext, in welchen sie eingebettet sind, besteht ζ. B. darin, Informationen zu verlangen und zu geben, nicht jedoch bereits in Argumenten der Bestreitung oder Verteidigung. Der Zusammenhang zwischen Aussagen, Behauptungen und Sachverhalten (propositions) wirft schwierige Fragen auf, die sich mit der Unterscheidung zwischen lokutionären und illokuttonären Handlungen und verwandten Unterscheidungen verbinden. Ich möchte das bisher Gesagte auf diese Begriffsbildungen

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anwenden und dabei einige Vorschläge von Austin und Searle einer kritischen Beurteilung unterziehen. Elementare symbolische Handlungen treten in der Regel nicht für sich auf, sondern als Vermittlung symbolischer Handlungen höherer Stufe. Die elementaren Aufforderungen bilden dafür ein gutes Beispiel: Aufforderungen sind symbolische Handlungen mit einem performativen Sinn. Dieser soll nach dem hier gemachten Vorschlag darin bestehen, daß der Adressat die Aufforderung befolgt. D . h . die pragmatischen Konsequenzen einer Aufforderung bestehen vereinbarungsgemäß in einem Tun, welches der Aufforderung (ihrem Inhalte nach) genügt. Dieses Verständnis von Aufforderungen darf nicht „imperativ" fehlinterpretiert werden. Befehle im engeren Sinne entstehen aus Aufforderungen erst durch deren weitere performative Einbindung in Sanktionszusammenhänge. Für Aufforderungen dagegen seien pragmatische Konsequenzen ihrer Nicbtbefolgpng zunächst nicht festgelegt. Aufforderungen geschehen also im Blick darauf, daß sie von Adressaten befolgt werden. Ob dieser sie befolgt, ist eine andere Frage. Wer sagt: „Reich mir bitte das Salz herüber 1", muß vereinbarungsgemäß damit rechnen, daß ihm das Salz gereicht wird. Er hat die entsprechende Aufforderungshandlung selbstverständlich auch dann noch im hier explizierten Sinne unternommen, wenn sein Gegenüber ihm nicht das Salz gibt, sondern mit dem Hinweis antwortet, man solle das Essen nicht versalzen. (Aufforderungen sind, weil nicht Befehle, andererseits nicht bloße Vorschläge. Wer sagt: „Ich möchte vorschlagen, daß Du mir das Salz gibst 1", meint etwas anderes als der Autor der entsprechenden Aufforderung. Er möchte, so unterstelle ich, mit sich darüber reden lassen, ob ihm das Salz gegeben werden soll.) Aufforderungen mögen in elementaren Fällen als selbständige (das soll hier heißen: nicht selbst wiederum symbolisch vermittelte) symbolische Handlungen gelernt werden. Uns interessiert hier der Fall, bei dem eine informative symbolische Handlung s, z. B. eine elementare Weisung oder Aussage, in eine durch sie vermittelte Aufforderung eingeht. Dies kann zunächst so geschehen, daß s selbst für bestimmte Situationskotexte mit einer zusätzlichen symbolischen Intention s' (s) ausgestattet wird, s zu aktualisieren, heißt das, wird vereinbarungsgemäß mit bestimmten pragmatischen Konsequenzen verbunden, und zwar so, daß der mit s gegebene spezielle Situationsverweis zugleich auf die Handlungen bezogen ist, zu denen die Aktualisierung von s in der Intention s' nunmehr vereinbarungsgemäß auffordert. Dieser Handlungsbezug ist dabei, im Falle s keine geeignete Hzsxàkmgsbeschreibmg liefert, selbst erst

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beim Erlemen der auffordernden Verwendung s'(s) von s herzustellen. Zumal dann, wenn eine Aufforderung s'(s) schwer von sonstigen Aktualisierungen von s trennbar ist, wird anstelle der schlichten auffordernden Verwendung von s evtl. eine eigene Aufforderungshandlung 1 mit s verbunden. An die Stelle der Trägerhandlung s in s' (s) tritt dann eine (im oben S. 7 erläuterten Sinne) komplexe Trägerhandlung ! w s, deren Aktualisierung als s' (! w s) verstanden werden muß. Z. B. kann das „!" eine phonetische Modifikation einer phonetischen Handlung, welche s vermittelt, sein. — Diese Rekonstruktion bedeutet, daß Aufforderungshandlungen mit einer eigenen (häufig „illokutionär" genannten) Aufforderungspartikel nicht als schlichte Aggregate eines den Inhalt („propositional content") tragenden Bestandteiles und eines den Aufforderungssinn vermittelnden Elementes verstanden werden dürfen. Wegen der gebotenen Kürze möchte ich die entsprechende Behandlung elementarer Behauptungen und Fragen nur andeuten: Eine informative symbolische Handlung s vermittelt eine Behauptung s' genau dann, wenn eine Aktualisierung von s auf Grund zusätzlicher Vereinbarung eine Argumentation darüber eröffnet, ob diese Aktualisierung korrekt geschehen ist. Fragen lassen sich dann im elementarenFall als Aufforderungen zur Aktualisierung begründeter Behauptungen einer durch die jeweilige Frage angezeigten Art verstehen. Bei einer solchen Deutung lassen sich offenbar auch die Behauptungen und Fragen als symbolische Handlungen höherer Stufe verstehen. In den bekannten Ansätzen von Austin und Searle ist die pragmatische Interpretation der Aufforderungs-, Behauptungs- und Fragepartikeln und ihres pragmatischen Zusammenhanges mit dem so genannten Satzinhalt nicht ganz klar. Im Grundsätzlichen scheinen mir jedoch Austins Überlegungen den von mir gemachten Verständnisvorschlägen näher zu stehen. Austin unterscheidet einen lokiittonären Akt, mit dem wir „etwas sagen", von den illokutionären Akten z. B. des Konstatierens, Aufforderns, Fragens, Warnens usf.: „For example, it might be perfectly possible, with regard to an utterance, say ,It is going to charge', to make entirely plain ,what we were saying' in issuing the utterance, in all the senses so far distinguished, and yet not at all to have cleared up whether or not in issuing the utterance I was performing the act of warning or not. It may be perfectly clear what I mean by ,It is going to charge' or ,Shut the door', but not clear whether it is meant as a statement or warning, etc." (Austin 1965, 98). — Austin ist offenbar der Meinung, daß lokutionärer und

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illokutionärer Akt nicht schlicht wie in einer komplexen Handlung im engeren Sinne zusammentreten. Vielmehr können wir eine Reihe von Bemerkungen Austins so interpretieren, daß er die illokutionären Sprechhandlungen als durch die lokutionären Akte vermittelte Handlungen versteht. In diese Richtung weist Austins Aussage, daß, „to determine what illocutionary act is [ . . . ] performed we must determine in what way we are using the locution" (ibid.). Deutlicher noch sind die folgenden Sätze Austins: „I explained the performance of an act in this new [ . . . ] sense as the performance of an »illocutionary' act, i. e. performance of an act in saying something as opposed to performance of an act of saying something; and I shall refer to the doctrine of the different types of function of language here in question as the doctrine of,illocutionary forces'." (Austin 1965, 99). Im Rahmen der von mir vorgeschlagenen Unterscheidungen entspräche dem „etwas sagen" Austins eine (informative) symbolische Handlung s erster Stufe, dem dadurch vermittelten illokutionären Akt (dem „Akt, den man vollzieht, indem man etwas sagt") eine durch s vermittelte symbolische Handlung nächsthöherer Stufe. Gemessen an dem von Austin erreichten allgemeinen Stand der Analyse bedeutet die Ausarbeitung von Searle zum Teil einen Rückschritt. Auch Searle unterscheidet zunächst in Sätzen, wie „Sam smokes habitually", „Does Sam smoke habitually?", „Sam, smoke habitually!" einen ihnen gemeinsamen „propositional act" von den illokutionären Handlungen des „stating, questioning, commanding, promising, etc." (Searle 1969,22,24). Wie Austin versteht er die illokutionären Akte als vermittelte Handlungen: „ [ . . . ] in performing an illocutionary act one characteristically performs propositional acts and utterance acts." (ibid., 24). Problematischer sind Searles Erörterungen zu den Propositionen. Dabei wird insbesondere die Einsicht in die Vermittlungsstruktur illokutionärer Handlungen nicht durchgehalten. Das liegt daran, daß Searle auch die „propositionellen Handlungen" selbst als vermittelt durch illokutionäre Handlungen begreift: „The expression of a proposition is a propositional act, not an illocutionary act. And as we saw, propositional acts cannot occur alone. [. . .] When a proposition is expressed it is always expressed in the performance of an illocutionary act." (Searle 1969, 29). — Damit entsteht, was den Aufbau der Sprechhandlungen angeht, ein pragmatischer Zirkel·. Die propositionellen Handlungen werden verstanden als durch die zugehörigen illokutionären Akte vermittelt, deren symbolische Konstitution andererseits die entsprechenden propositionellen Handlungen als Primärhandlungen benutzt. Vielleicht will Searle die proposi2

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tional acts überhaupt nicht als eigene Handlungsschemata, verstanden wissen, d. h. nicht als prin2ipiell auch abgelöst vom illokutionären Verwendungszusammenhang im engeren Sinne lehr- und lernbar ausgeben. Dann müßte allerdings die Prädikation als „acts" uneigentlich gemeint sein. Sind aber die propositionellen Akte überhaupt keine Handlungen, so wird vorderhand unklar, was der Buchstabe ρ in den Strukturschemata bedeutet, mit denen Searle die illokutionären Akte wie folgt charakterisiert (loc. cit. 31): ι- (ρ) for assertions ! (ρ) for requests Pr (p) for promises W (p) for warnings ? (p) for yes-no questions Im Widerspruch zu Searles Hauptabsicht hat dann auch sein zusammenfassender Kernsatz zu diesen Strukturschemata keine pragmatische Basis: „The general form of (very many kinds of) illocutionary acts is F (ρ), where the variable ,F' takes illocutionary force indicating devices as values and ,p' takes expressions for propositions." Greifen wir wiederum das Beispiel der Aufforderungen heraus: Entweder läßt eine symbolische Handlung der Form 1 (p) zu, „an ihr" noch einen pragmatisch selbständigen symbolischen Teil ρ zu unterscheiden; oder wir wissen vorderhand nicht, was es heißt, daß das jeweilige ρ „eine Proposition ausdrückt" und in den verschiedenen illokutionären Handlungen der Form F (ρ) dieselbe Proposition artikuliert. Denn daß in allen F (ρ) dasselbe Lautschema ρ auftritt, bedeutet eo ipso noch nicht, daß dieses Lautschema damit auch einen gegenüber den Formen F (ρ) invarianten symbolischen Sinn trägt. Zusammengefaßt : Entweder führt Searles Begriff der propositionellen Handlungen zu einem pragmatischen Zirkel, oder Searle gibt an dieser Stelle den pragmatischen Ansatz praktisch auf. Bei dem von mir vorgeschlagenen Verständnis illokutionärer Handlungen tritt dieses methodische Dilemma nicht auf: Die Formen Sj(η w s), s 2 (! w s), s 3 (? W s), setzen gemäß dieser Analyse voraus, daß s eine nicht über diese Form vermittelte und in diesem Sinne selbständige (pragmatische) Intention gegeben werden kann. Searle hat die Veränderungen, die er am Ansatz von Austin vorgenommen hat, in einer Abhandlung Austin on locutionary and illocutionary acts (Searle 1968) ausführlich diskutiert. Searle wirft Austin vor, bei der Unterscheidung der illocutionären Akte von den lokutionären Akten eine Ambiguität des Wortes „statement" mißachtet zu haben. „Statement" kann, wie Searle ausführt, entweder die Handlung des Behauptens

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(act of stating) oder das, was behauptet wird (what is stated) bedeuten. Searles Beispiele zur Erläuterung des Unterschiedes sind (loc. cit., 422) : „1. The Statement of our position took all of the morning session. 2. The statement that all men are mortal is true." Searle schlägt vor, im ersten Falle vom pragmatischen Sinn (statementact sense), im zweiten Falle vom gegenständlichen Sinn (statement-object sense) des Wortes „statement" zu sprechen: Gebraucht man das Wort „statement" impragmatischen Sinne, so bezieht man sich nicht, wie es Searle bei Austins Ansatz vermutet, auf eine lokutdonäre, sondern auf eine illokutionäre Handlung. Dagegen soll nach Searle der gegenständliche Sinn des Wortes „statement" auf eine „proportion" verweisen. Die Proportionen nun haben Searle zufolge jene illokutionäre Neutralität, die Austin, wenn Searles Kritik berechtigt ist, bereits den lokutionären Handlungen des Behauptens zusprechen möchte: „In the characterization of a statement-object we have to add the phrase .construed as stated' because of course what is stated, the proposition, can also be the content of a question, of a promise, the antecedent of a hypothetical, and so forth. It is neutral as to the illocutionary force with which it is expressed, but statements are not neutral as to illocutionary force [ . . . ] " (loc. cit., 423f.). — In anderer Weise drückt Searle das von ihm Gemeinte auch so aus, daß innerhalb des gesamten illokutionären Aktes der Handlungs/y/> (type of act) vom Handlungs/mW/ (content of the act) unterschieden werden muß (loc. cit., 420). Da Austin verschiedene Arten des Behauptens (z. B. Feststellungen, Urteile, Identifizierungen, Beschreibungen; vgl. Austin 1965,114) selbst zu den illokutionären Akten zählt, halte ich es für wahrscheinlich, daß er die lokutionären Akte als Sprechhandlungen versteht, welche die illokutionären Handlungen des Behauptens, Aufforderns, Fragens usf. vermitteln und daher, wenn pragmatische Zirkel vermieden werden sollen, selbständig möglich sein müssen. Searle hat dann zwar systematisch recht, wenn er darauf hinweist, daß lokutionäre Akte im Austinschen Sinne nicht als Behauptungsbandlungen verstanden werden dürfen. Andererseits ist die von ihm gezogene Konsequenz, eine unselbständige Quasihandlung „to express a proposition" einzuführen, kein einsichtiger Ausweg aus dem Dilemma des Verständnisses illokutionärer Handlungen, die jtf/^äußerungen benutzen. Ein konsequent pragmatischer Ansatz kann von abstrakten Entitäten wie „propositions" erst nach pragmatischer Konstruktion Gebrauch machen. Kehren wir zu den allgemeinen Aspekten einer radikal pragmatischen Sprachanalyse zurück. Die vorhergehenden Untersuchungen galten 2·

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Vermittlungs-(und Ableitungs-)relationen zwischen grundlegenden Sprechakten. Durch Vermittlungen und Ableitungen hängen Handlungen (Handlungsschemata, nicht Einzelhandlungen) intentional zusammen. Der Aufbau eines solchen pragmatischen Zusammenhanges möge eine intentionale Konstruktion heißen. Die intentionale Konstruktion einer Handlung h stellt dann zugleich eine mögliche Geschichte des schrittweisen Lehrens und Lernens dieser Handlung dar. Im Blick darauf wollen wir einen solchen Aufbau daher auch eine pragmatische Genese von h nennen. Intentionale Konstruktionen brauchen nicht eindeutig zu sein. Prinzipiell können mehrere Vermittlungswege zu ein und demselben lehrund lernbaren Handlungsschema führen. Intentionale Rekonstruktionen bekannter Handlungen sind daher ferner in dem Sinne „bloße" Konstruktionen, als sie nicht eine Nachzeichnung der faktischen Lehr- und Lerngeschichten sein müssen. — Andererseits lassen sich intentionale Konstruktionen von Handlungen auch nicht schlichtweg beliebig ausdenken. Vielmehr haben sie auf zweierlei Weise ein (pragmatisches) fundamentum in re·. Zum ersten sind sie per definitionem an die pragmatische Kontrolle der Erwerbbarkeit jedes (pragmatischen) Aufbauschrittes auf der vorher gelegten Basis gebunden. Intentionale Konstruktionen müssen in diesem Sinne pragmatisch möglich sein. Zum zweiten müssen sie als Rekonstruktionen bereits erworbener und praktizierter Handlungsschemata pragmatisch adäquat sein: D. h. wenn wir die als Rekonstruktion einer Handlung h konstruierte Intention h' für h substituieren, muß eine (gemessen an ihren Zielen) funktionstüchtigere h-Praxis resultieren. Was ist dann aber das Ziel konstruierter pragmatischer Substitute für ohnedies mögliche und schließlich sogar als Adäquatheitskontrolle benutzte vorhandene Praxis? Hier kann eine Rechtfertigung nur auf funktionsuntüchtige Teile faktischer Handlungszusammenhänge abstellen : Funktionsuntüchtig können Handlungszusammenhänge auf zweierlei Weise sein: 1. so, daß eine Verständigung über die Intentionen von Handlungen Schwierigkeiten bereitet, 2. so, daß die mit bestimmten Handlungen verbundenen Ziele durch diese Handlungen nicht oder nur unzulänglich erreicht werden. Im ersten Falle weiß man nicht genau, was man tut, oder was zu tun ist; und dies führt dazu, daß über das, was getan wird oder zu tun ist, keine Übereinstimmung herrscht. Im zweiten Falle steht in Frage, ob und wie dieses Tun die Ziele, auf die es hinarbeitet, erreichen kann; insbesondere ob ein im Sinne einer bestimmten pragmatischen Genese rekonstruiertes Tun, teleologisch beurteilt, angemessener ist. — Die Ausarbeitung struktureller Genesen dient also, kurz

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gesagt, dazu, dem Handeln intentionale Konsensfähigkeit und teleologische Rationalität zu sichern. Um vorgeschlagene intentionale Rekonstruktionen kritisch zu beurteilen, müssen wir nach dem Gesagten auf die Verbindung mit anderen Handlungen, d. h. auf ein gemeinsames Verständnis des Handlungskotextes rekurrieren. Damit führen selbstverständlich pragmatische Deutungsprobleme stets auf andere pragmatische Deutungsprobleme. Das heißt, „lösen" lassen sich pragmatische Deutungsprobleme nur dort, wo bestimmte Deutungen bestimmter Handlungen unstrittig sind. Wäre dies einmal nicht der Fall, lebten die Beteiligten, pragmatisch gesehen, nicht mehr in derselben Welt. (Wer eine Klassenabhängigkeit aller hermeneutischen Urteile in Anspruch n i m m t , müßte genau dies behaupten und könnte die Behauptung, als hermeneutische, gleichwohl nicht als „allgemeingültig" vertreten.) Die „natürliche" Welt könnte hier ja zu einer Entscheidung nicht herangezogen werden; denn in ihr kommen Handlungen nicht vor. Und insofern sie selbst zugleich über ein bestimmtes Handlungsverständnis konstituiert wird, wäre sie selbst Teil der Relativität, um deren Aufhebung es geht. Man sieht zugleich: Die Behauptung einer totalen hermeneutischen Differenz läßt sich nicht theoretisch widerlegen. Sie kann sich nur pragmatisch erledigen; indem gemeinsame intentionale Verständnisse letztendlich Orientierungen in einer gelungenen gemeinsamen Praxis sind oder werden. Wir sind wohl noch weit entfernt von einer intentionalen Rekonstruktion der symbolischen Handlungen, welche die Sprache und die anderen menschlichen Institutionen ermöglichen. Am Ende wird diese hermeneutische Arbeit dieselbe Subtilität und Mühe erfordern, die bisher auf die formalistische Sprachanalyse gewandt worden ist.

Literatur Austin, J. L. 1965: How to do Things with Words, corrected ed. Oxford. Goldman, A. J . 1970: A Theory of Human Action, Englewood Cliffs / New Jersey. Kamlah, W. 1972: Philosophische Anthropologie, Mannheim: Bibliographisches Institut. Lorenz, Κ. 1970: Elemente der Sprachkritik, Frankfurt/Main. Lorenzen, P., Schwemmer, O. 1973: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, Mannheim: Bibliographisches Institut. Schneider, H. J . 1975: Pragmatik als Basis von Semantik und Syntax, Frankfurt/Main. Schneider,H. J. 1977: Ist die Prädikation eine Sprechhandlung?, in K.Lorenz (Hrsg.): Konstruktionen versus Positionen, Berlin (erscheint demnächst).

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Searle, J . R. 1968: Austin on locutionary and illocutionary acts, in Philos. Review 77, 405— 424. Searle, J . R. 1969: Speech Acts, Cambridge. v. Wright, G. H. 1963: Norm and Action, London. v. Wright, G. H. 1971 : Explanation and Understanding, Ithaca, New York. v. Wright, G. H. 1974 : Causality and Determinism, New York, London.

FRIEDRICH K A U L B A C H

Subjektlogik und Prädikatlogik Wenn eine Tradition philosophischen Denkens abgebrochen wird, so fragt es sich, ob in ihr genügend gedankliche Reserven und Kräfte liegen, um in einem spätem Stadium der Geschichte wieder aufzuleben und in neuer Weise theoretische Brauchbarkeit zu zeigen. Eine dementsprechende Probe auf die Tragfähigkeit einer Tradition soll in den folgenden Überlegungen gemacht werden. Es geht hier um die Beurteilung zweier komplementärer Konzeptionen der die Sprachstruktur von Subjekt und Prädikat des Satzes rekonstruierenden Logik; die Auseinandersetzung zwischen beiden kam im Vollzug der Ausbildung der neuzeitlichen Naturwissenschaft seit Galilei in Gang: sie scheint mit dem endgültigen Siege des einen der im Streit liegenden Partner in der sog. modernen Logik entschieden zu sein. Die „moderne" Logik verdient im Zusammenhang des Themas insofern Aufmerksamkeit, als sie in einer Kontroverse, die in der „älteren" Logik aufgekommen ist, Partei für eine Seite genommen und dadurch eine vorläufige Entscheidung herbeigeführt hat. Sie möge als Auseinandersetzung zwischen der „subjektlogischen" und der „prädikatlogischen" Konzeption bezeichnet werden. Festgestellt kann werden, daß die letztere in der „modernen" Logik, etwa seit Frege, eine den Prozeß vorläufig entscheidende Anwältin gewonnen hat. Es mag einstweilen ein Kredit auf die Behauptung aufgenommen werden, daß es auch heute „der Mühe wert ist", nicht nur in historischer Absicht den Fall wieder aufzurollen. Es geht um eine Aufgabe, in der die grammatische Subjekt-/ Prädikatstruktur in ihrer spezifisch logischen, vielleicht sogar ontologischen Relevanz beurteilt wird. In der Bearbeitung dieser Aufgabe hat sich in der Geschichte der Logik eine Entwicklung abgezeichnet, in deren erster Phase dem „Subjekt" gegenüber dem Prädikat die führende Stellung zufiel, während unter dem Einfluß neuer Erkenntnisinteressen und leitender Wissensperspektiven in einer weiteren Entwicklung das Prädikat die Macht im Parteikampf der sprachlich-logischen Faktoren über das Subjekt gewann.

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Es liegt nahe, die logische Konzeption von der ersten Art als „Subjektlogik" bzw. „Logik des Subjekts" zu benennen: demgemäß wird man der konkurrierenden Theorie den Namen „Prädikatlogik" bzw. „Logik des Prädikats" geben dürfen. Die These, daß es an der Zeit sei, die längst fällige Entthronung des durch Aristoteles zur Regierung gekommenen Subjekts und seine Ablösung durch das logisch interpretierte Satzprädikat ins Werk zu setzen, geht mit einer viel erörterten Thematik parallel, die ζ. B. E. Cassirer auf die Formel gebracht hat: „Substanzbegriff und Funktionsbegriff"1. Dieser Titel will zugleich einen Hinweis auf die These geben, daß eine Nachkonstruktion der Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit in allen naturwissenschaftlichen Disziplinen sowie in Mathematik und Logik eine Entwicklung erkennen lasse, in der die anfängliche, von Aristoteles etablierte Herrschaft des Substanzbegriffes abgebaut wurde und stattdessen das Prinzip : „Relation" bzw. „Funktion" zur Macht gelangt ist. Das wissenschaftstheoretische Engagement Cassirers gilt dem Programm, diese in der Nachkonstruktion der Struktur der Wissenschaftsgeschichte aufgedeckte Entwicklungstendenz in normativer Absicht weiter zu entwickeln. Die dadurch geschaffene Problemsituation ist heute zu Unrecht vergessen. Man hat sich für das prädikatlogische Konzept2 im Felde der „formalen" Logik entschieden und arbeitet auf dem Boden weiter, der in längst aus dem Gesichtskreis verschwundenen Kontroversen bereitet worden ist; es ist aber zu fragen, ob gerechtfertigt ist, die Probleme als erledigt anzusehen, um unbefangen mit dem Blick nach vorne von einem unproblematisch gewordenen Standpunkt aus Ergebnisse zu gewinnen. In der folgenden Erörterung mag die Aufmerksamkeit auf das Vergessene zurückgelenkt werden. Denn die im Cassirer'schen Titel enthaltene Devise: Erkenne die Zeichen der wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsgeschichtlichen „Gegenwart" und arbeite mit dem Instrument der „Funktion" statt mit dem der „Substanz" entspricht auf der Ebene der Entwicklung der Logik der Parteinahme für die Prädikat- gegen die Subjektlogik. Dabei muß man bedenken, daß von der Tradition her zwischen Substanzbegriff und logischem Satz-Subjekt einerseits sowie zwischen Funktionsprinzip und Prädikat andererseits Entsprechungen zu sehen sind. Was das erste angeht, so steht die E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1923. * Die Termini : prädikatlogisch, Prädikatlogik sind aus dem Kontext der Gegenüberstellung zur Subjektlogik zu verstehen, nicht in dem Sinne, in welchem die moderne Logik diese Namen etwa in Gegenüberstellung zur Aussagenlogik gebraucht. 1

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Aristotelische Tradition der Ontologie und Logik dafür ein; im Hinblick auf die Entsprechung zwischen Funktion und Prädikat werde ich mich auf Frege als Kronzeugen und Repräsentanten berufen3. Die Entwicklung von der Logik des Subjekts zu derjenigen des Prädikats ist mit einer Veränderung der Wahl der Weltperspektive in Verbindung zu bringen, auf deren Hintergrund bzw. Untergrund die Inhalte und Gegenstände gedacht und angesprochen werden. Man kann dieser These auch die Form geben, daß der angesprochene Wandel im Zusammenhang mit einer Veränderung der „Ontologie" steht, die man vertritt. Daß eine bestimmte Ontologie für den subjektlogischen Ansatz z. B. bei Aristoteles grundlegend ist, mag im folgenden angedeutet werden. I Die Überlegungen führen zu der berühmten Frage nach dem Verhältnis von Logik und Grammatik bei Aristoteles. Bei diesem Thema pflegt man sich an die weitverbreitete und immer wieder aufs neue ausgesprochene Behauptung zu erinnern, er habe seine Logik auf der Grundlage und im Anschluß an die Sprache entwickelt. Diese Behauptung ist falsch, wenn sie besagen will, daß die aristotelische Theorie des Verhältnisses von Subjekt und Prädikat, von den Kategorien, Begriffen und Schlüssen auf die Weise zustande gekommen sei, daß vom tatsächlichen Sprachgebrauch allgemeine Züge und Regeln abstrahiert und systematisch zusammengestellt worden seien. Für diese Theorie von der Gewinnung der logischen Prinzipien durch Abstraktion aus der Sprache könnte die Beobachtung sprechen, daß z. B. in der Kategorienlehre auffallende Entsprechungen zwischen Grammatik und Logik festzustellen sind. Aber die Sprach-logik des Aristoteles leitet sich auf andere Weise her als die Grammatik: sie wählt ihren Anfang bei der jeweils im „Vorher" verwirklichten Praxis des Handelns, Denkens und Sprechens. Dieses Verfahren ist durch solch eine Wendung wie die zu beschreiben, der Denkende „ver-setze" sich in die „Welt" der vor jeder künstlichwissenschaftlichen Zurechtlegung bekannten und mit Selbstverständlichkeit praktizierten Vollzüge des Miteinanderhandelns, -denkens und -sprechens. Hier hat man sich darin geübt, der Norm gesellschaftlichen Sprechens gemäß Wörter zu gebrauchen und Sätze zu bilden, in denen man jeweils über ein Satz-Subjekt, ein zu-Grunde-Gelegtes Aussagen macht. Der Philosoph wählt seinen Ausgangspunkt und seine Basis in dieser pragmatischen Welt und distanziert sich in einem ersten Schritt ' Vgl. 2. B. Frege, Funktion und Begriff, Jena 1891.

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der Reflexion von dieser Praxis, indem er fragt, ob das faktisch Eingeübte und zunächst selbstverständlich Übernommene zu „Recht" besteht, wenn man auf dessen Boden wissenschaftliche Aufgaben erfüllen will. Er fordert den immer „vorher" praktizierten Sprachlogos dazu heraus, sich von sich selbst zu distanzieren und von sich „abzustoßen" (Hegel), um das, was er bisher fraglos getan hat, aus der erkennenden Distanz sich selbst gegenüber zu rechtfertigen, zu korrigieren oder zu normieren4. Auf diesem Wege macht das philosophische Denken die Entdeckung, daß es als im Vorher praktiziertes Sprechen seinen eigenen Anspruch des Be-gründens, des Ausgehens von einem „Grunde", einer „Basis" in der Sprachhandlung selbstverständlich immer schon dadurch erfüllt hat, daß es im Satz ein Sub-jekt zugrunde gelegt hat, um in der Prädikation auf diesem „Grunde" weitere Inhalte abzulegen. Die philosophische Vernunft stellt fest, daß sie als in Lebenswelt versenktes Handeln, Denken und Sprechen von einer Struktur Gebrauch gemacht hat, in der einem „Etwas" die Stelle des Zugrundegelegten, des Subjekts zugewiesen wird: demgemäß wird das auf diese Sub-jektbasis Abzulegende an die Stelle des Prädikats verwiesen5. Das philosophische Denken muß sich kraft seines Rechtfertigungsprogrammes fragen, welcher Art das Seiende ist, das von „Natur" aus dazu prädestiniert ist, Subjekt, Zugrundegelegtes zu sein, ebenso wie es nach dem „natürlichen" Prädikat suchen wird. Indem es nach demjenigen fragt, was geborenes Subjekt des Satzes heißen darf, begibt es sich auf den Weg zu dem „eigentlichen" und „wahren" Grund, dem von Natur aus die Stelle des Subjektseins zukommt. Diese Frage zielt auf das „Was"-sein ab, über 4

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Kamiah, in: W. Kamiah und P. Lorenzen: Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens, Revid. Ausgabe, Mannheim 1967, § 2 : Das Problem des Anfangs. Es ist unumgänglich, bei der Erörterung über die logisch-ontologische Rekonstruktion des sprachlichen Subjekt-Prädikatverhältnisses auch die grammatische Struktur wenigstens von ferne in den Blick zu nehmen. Das führt zu der nur von der Linguistik beantwortbaren schwierigen Frage, in welchem Maße man die Subjekt-Prädikatstruktur eines Sprachtypus wie des „unsrigen" als paradigmatisch behandeln darf. Ich beanspruche in dieser Hinsicht durch Gebrauch des Beziehungsmodells : „Zugrundeliegendes — Daraufabgelegtes" nur ein Minimum von Sprachuniversalismus. Indem ich die grammatische Subjekt-Prädikatstruktur nach diesem Modell deute, glaube ich, von einer verallgemeinerungsfähigeren Struktur Gebrauch zu machen, als sie in der Gestalt des von den Linguisten gebrauchten : agens-actio-Modells gegeben ist. Im übrigen liegt jedes solche Modell auf derselben Linie, auf der Aristoteles seine Kategorien gesucht und gefunden hat: es geht dabei um eine Analyse der im Sprechen aktualisierten „Logik" bzw. „Ontologie". Vgl. auch H. Gipper: „Gibt es ein sprachliches Relativitätsprinzip?" Untersuchungen zur Sapir-Whorfhypothese, Frankfurt 1972, S. 4 0 , 1 7 1 .

Subjektlogik und Prädikatlogik

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welches ein Satz prädiziert wird. Sie wird durch die Angabe des „Wesens" beantwortet. So führt die Frage nach der Rechtfertigung der grammatischen Subjekt-Prädikatstruktur am Leitfaden der Frage nach dem „Grunde" zum Prinzip des „Wesens". Das Wesen ist Sub-jekt von Natur aus, es kann niemals von anderen prädiziert werden, aber das andere wird von ihm prädiziert. So geht das sprachlogische Verfahren des Aristoteles einen Weg, der bei der Situation der zur zweiten Natur gewordenen Sprachhandlung seinen Anfang nimmt. Dieser Anfang ist ein Kennen und Können, das von „Natur" vorausgesetzt werden kann und uns Menschen in der Kommunikation unseres Miteinanderhandelns vertraut ist. Es führt zum „eigentlichen", „seienden" Grunde, dem „Wesen". Damit ist ein „metaphysischer" Begriff angesprochen. Das Wort „Metaphysik" will hier nicht pathetische Bedeutungen suggerieren, sondern hat das Begreifen der Grund-lage unseres zur „Natur" gewordenen Tuns, Denkens und Sprechens zum Thema. Beim „Wesen" handelt es sich um das, was eine seiende Sache, ζ. B. eine Weintraube zu einem „Was-sein" macht: im Unterschied zu den Eigenschaften, die ihm zukommen wie meßbare Größe, Qualität, räumliche und zeitliche Bestimmtheit, Beziehung zu anderem. „Wesen" ist das Moment an einer Sache, was sie als deren Was-sein dazu befähigt, Sub-jekt eines Satzes zu sein®. Der ihm seit Gcero gegebene lateinische Name „Substanz", dem das Wort „Inhärenz" bzw. „Accidenz" als Bezeichnung der Eigenschaften entspricht, impliziert das Modell des Grund-seins, der Trägerschaft im Hinblick auf die Eigenschaften. Demgemäß wird ihm von Natur aus die Stelle des Subjekts im Satze zukommen, während den Eigenschaften die Stelle des Prädikats eignet. Am Wesen hängt die Eigenschaft: ihre Aussagbarkeit (Prädizierbarkeit) ist Symptom ihres unselbständigen und relativen Charakters. Das Wesen ist dagegen „An-sich-Seiendes" im Sinne des Selbständigen. Daher übernimmt es im Satz die Rolle des Subjekts, das selbst nicht ausgesagt wird, aber von dem prädiziert wird. Die Rolle dieses selbständigen Grund-seins übernehmen nicht allgemeine, vielen einzelnen Dingen gemeinsame Inhalte, sondern solche Seiende, die durch das Tätigsein der formenden Energeia zu einem „Dieses-Seienden" bestimmt worden sind. Das Grundmodell dafür ist gegeben, wenn von einem Individuum etwas ausgesagt wird. „Erstes und An-sich-Seiendes" zu sein gilt vor allem für das „Dieses-Sein". „Individuellsein ist zugleich individuelles Was-sein. Sokrates und Sokrates-sein ist ein und das-selbe"7. « ζ. B. Met. 1038 b, 23.

' Met. 1032a.

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Die bestimmende Form, die das Wesen zu einem Was-sein und damit zu einem sprachlich-logischen Moment macht, so daß von ihm ausgesagt und es überhaupt zur Sprache gebracht werden kann, ist der in der Wirklichkeit wirkende Begriff der Sache: das „Eidos". So ist z. B. die Gesundheit Eidos des gesunden Menschen und zugleich Logos in der diese Gesundheit begreifenden und denkenden Seele. „Die Gesundheit (Eidos) ist der in der Seele vorhandene Begriff und gehört dem Wissen an 8 ." Man sagt das und jenes als charakteristisch für Gesundheit aus : dieses muß dort festgestellt werden können, wo man von Gesundheit sprechen darf: dazu gehört z. B. das Gleichmaß in den Lebensfunktionen, ein richtiger Grad von Wärme usw. Das individualisierte Wesen ist von Natur aus zum Subjekt-sein bestimmt; es liegt dem Abstrakt-Allgemeinen zugrunde, dem das Prädikatsein gebührt. Man könnte im aristotelischen Sinne von einem absoluten Subjekt sprechen und es von relativen Subjekt-charakteren unterscheiden, die einen größeren Einschlag von Allgemeinheit haben. Wie der Kallias die Rolle des Subjektes in dem Satze: „Kallias ist ein Mensch" spielt, so übernimmt in dem Satze „Der Mensch ist ein lebendes Wesen" jetzt „der Mensch" diese Rolle. „Von allem ist einiges so beschaffen, daß es von keinem andern in Wahrheit allgemein ausgesagt werden kann, z. B. Kleon und Kallias und das Einzelne und sinnlich Wahrgenommene." Wird die Subjektstelle im Satze dem vorbehalten, was von „Natur" aus dazu geeignet ist, zu Grunde gelegt zu werden, so wird ein Modell nahegelegt, das etwa so beschreibbar wäre: wie das Wesen bzw. die Substanz die Basis darstellt, welche die Eigenschaften und Akzidenzen „trägt", die auf ihr „aufruhen", so wird das Subjekt als Fundament behandelt, das Träger der Prädikate ist. Wenn die Bejahung als diejenige Aussage deklariert wird, in welcher etwas von etwas behauptet wird®, dann wäre die Prädikation, auf die Sprache dieses Trägermodells gebracht, so zu beschreiben, daß in der bejahenden Behauptung durch das Prädikat dem Subjekt etwas hinzugefügt werde. Die Verneinung aber wäre als Akt zu beschreiben, in welchem das Prädikat vom Subjekt etwas wegnimmt (Apophasis). Als Ausdruck für die Aristotelische Stellungnahme in der Frage: „Subjektlogik oder Prädikatlogik" mag erstens der Satz gelten: Das Wesen bzw. die Substanz ist von „Natur" aus, kraft ihrer „Physis" » Met. 1032b • D e interpretatione c 6, 25.

Subjektlogik und Prädikatlogik

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dazu bestimmt, im Satze die Stelle des Subjekts einzunehmen, während die übrigen „Kategorien" von Anfang an Prädikatscharakter haben. Darauf ist die zweite These aufzubauen, daß dem Subjekt als Statthalter derjenigen Stelle im Satze, für die das „Erste von Natur aus" vorbehalten ist, die bestimmende und führende Rolle gegenüber dem Prädikat zukommt: Das Subjekt ist Fundament und „Träger" der Prädikate: d. h. die aristotelische Logik ist Subjektlogik. An dieser Stelle mag angedeutet werden, daß der Primat des Subjekts vor dem Prädikat vorläufig nur nach dem Modell der Basis bzw. des Fundaments und des auf ihm Ruhenden definiert werden kann: daß sich aber im Verlaufe der Explikation dieser These die Voraussetzungen für ein besseres Modell ergeben. Wenn das Wesen „natürliches" und „eigentliches" Subjekt ist, dann kann die Sprache als gerechtfertigt gelten, sofern sie dafür sorgt, daß durch sie dem zur Subjektheit geborenen Etwas die Rolle des grammatikalischen Subjekts zugewiesen wird. In diesem Falle wird eine Subjektlogik behauptet, sofern durch sie dem grammatikalischen Subjekt auf Grund seines Wesens-gehaltes die Rolle des logischen und ontologischen Grund-seins für den Aufbau des Satzes übertragen wird. Subjekt ist dann nicht nur im zufälligen grammatikalischen Sinne das „Erste", sondern behauptet, so gerechtfertigt, die Stellung des „von Natur Ersten" 10 . Die Bedeutung, die damit dem Subjekt im Satze zukommt, ist in ihrem ganzen Umfang erst zu ermessen, wenn man sich an die Charaktere des Wesens erinnert, als dessen Repräsentant das Subjekt fungiert. Vor allem ist hier auf die Rolle des „Ursache-seins" hinzuweisen. Wer ζ. B. vom Wesen der Gesundheit als solchem etwas aussagt, nennt zugleich auch die Ursache der Gesundheit11. Spricht man ζ. B. das Wesen bzw. das „Subjekt" Gesundheit als Zustand an, in welchem die Stoffe im Organismus in der richtigen Proportion und in geordneten Maßen miteinander gemischt sind, so nennt man zugleich die Ursache der Gesundheit: für den Arzt, der Gesundheit zu erhalten oder wiederherzustellen hat, ergibt sich dann die Aufgabe, nach dieser Ätiologie zu handeln. Ein anderes Beispiel: Wird jemand aufgefordert, zu sagen, „was" eine Schwelle ist, so würde sich „natur"-gemäß die Antwort anbieten, daß sie ein in einer bestimmten Lage befindliches Holz oder ein 10 11

Met. 1019 a, 5 „Das Subjekt ist das Frühere, weil die Substanz das Frühere ist". Met. 1043a: Es werde deutlich, daß man in den Differenzierungen des Wesens die Ursache für Dasein und Sosein einer Sache zu sehen habe, „sofern das Wesen Ursache dafür ist, daß etwas ist".

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Steinquader sei: damit würde man demjenigen, der eine Schwelle zu legen hat, zugleich auch angeben, wie er ein Holz oder einen Stein anordnen muß, damit das Ergebnis eine Funktion übernehmen kann, die man von einer Sache erwartet, die als Schwelle bezeichnet wird. Das richtige Gelegtsein der Schwelle kann als Ursache für den von ihr zu erwartenden Nutzen betrachtet werden. Zugleich besteht das Wesen der Schwelle in der Eigentümlichkeit, richtig gelegt zu sein12. Das Wesen als Zugrundeliegendes und als „Ursache" kann in einem bestimmten Sinne mit der „Materie" (Hyle) gleichgesetzt werden: aber es handelt sich dabei immer nur um eine „relative" Materie, deren Materialität darin besteht, ein unmittelbar Gegebenes, Zugrundeliegendes für weitere prädikative Bestimmung zu sein. In Wahrheit ist immer beides : „Materie" und „Form" im Spiele. Grundlagesein und Ursachesein charakterisieren die Substanz und damit auch das Subjekt im Satze. Dadurch fällt dem letzteren eine Vorrangstellung vor dem Prädikat zu. Denn das Prädikat könnte dieses Ursachesein nicht aussagen, wenn es sich nicht aus der Ursache herleiten würde, die das Wesen ist. Damit ist freilich eine Lage gegeben, durch die das vorhin gebrauchte Trägermodell außer Kraft gesetzt und überholt wird: Wesen bzw. Substanz und analog das Subjekt nämlich „tragen" danach nicht die Akzidenzen bzw. das Prädikat, sondern lassen diese aus sich hervorgehen. So, wie die Substanz Ursache für ihre Akzidenzen, Eigenschaften usw. ist, kann das Subjekt als Ursache für seine Prädikate betrachtet werden13. Substanz und entsprechend Subjekt füllen ihre Rolle des Grund-seins für Akzidenzen bzw. Prädikate auch in der Weise aus, daß sie sich als 12

Wird in einem Satz gesagt, „was" eine Sache sei, so kann man das als Definition ansprechen. Nach dem zuletzt Gesagten gibt das Definiendum, welches die Subjektstelle im Satze einnimmt, als das Wesen zugleich den ursächlichen Aspekt her, der im Definiens, dem Prädikat, nur ausgesprochen und aus dem Subjekt gleichsam herausgezogen, aber nicht an dieses herangetragen wird. Dabei wird ein Prozeß in Gang gesetzt, bei dem sich die Form mit dem Stoff verbindet, indem sie ihn gestaltet. „Zum Beispiel was ist Windstille? Ruhe in der Masse der Luft; hier ist nämlich Stoff die Luft, Wirklichkeit und Wesenheit aber die Ruhe. Was ist Meeresruhe? Ebenheit des Meeres; stoffliche Grundlage ist hier das Meer, die Wirklichkeit und Form aber ist der ebene Zustand. Hieraus ergibt sich, was die sinnliche Wesenheit ist und in welcher Weise sie besteht; die eine nämlich als Stoff, die andere als Form und Wirklichkeit; die dritte Wesenheit ist die aus beiden hervorgehende." (Met. 1043 a, 23 ff.).

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Diese Verbindung v o n Substanzialität und Kausalität spielt auch bei Leibniz und in der ihm nachfolgenden deutschen Schulphilosophie eine entscheidende Rolle: ihre Spuren sind auch in der kantischen Kategorienlehre und in seinen Metaphysik-Vorlesungen noch zu finden. Vgl. meine Arbeit: Kants Theorie des Handelns, Akten des Internat. Kant-Kongresses in Mainz 1974.

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Selbständiges und zugleich Beständiges erweisen. Als „Selbständiges", weil in der Substanz die „Sache selbst" gegeben ist: „Beständig" andererseits ist die Substanz, sofern sie ihre Eigenschaften, Beziehungen, Handlungen usw. nicht nur „trägt", sondern zu einem einzigen ganzen Wesen zusammenhält und vereinigt. Hin Wesen-sein und ein Wesensein seien ein und dasselbe14. Selbständigkeit gebührt der Substanz bzw. dem Subjekt, sofern alles, was „anhängt", einerseits als Akzidenz, andererseits als Prädikat begründet wird. Der wichtigste Zug aber am Subjekt, der dessen Primat vor dem Prädikat begründet, übertrifft noch die Charaktere der Selbständigkeit und Beständigkeit an Gewicht: er stellt eine Verstärkung des „Grund"-seins dar und läßt das Subjekt als einigende Kraft erkennen, welche die Reihe der Prädikate, die von diesem Subjekt ausgesagt werden mögen, zu einem einzigen Wesenszusammenhang verbindet. So fragt Aristoteles, was es ist, was den Menschen zu einem Einigen mache? „Wodurch ist er Eines und nicht Vieles, ζ. B. lebendes Wesen und Zweifüßiges, zumal wenn es, wie einige behaupten, ein lebendes Wesen an sich und ein zweifüßiges Wesen gibt?" Hier wird die einigende Kraft des SubstanzSubjekts angesprochen, das alle prädikativen Inhalte wie Zweifüßigkeit, Vernünftigkeit, Sterblichkeit usw. zu einer Einzigen, unteilbaren Bedeutung zusammenfaßt. Die Eins-heit des Wesens hat nicht den Charakter eines Zusammengesetzten, sondern eines Ganzen von der Art etwa der Silbe. Die Selbständigkeit und Ganzheit der Silbe sei „Ursache" davon, daß man eine Buchstabenverbindung als „Silbe" anspricht16. Die „Verbindung", welche von der im Substanz-Subjekt wirksamen Energeia geleistet wird, ist nicht von den stofflichen Elementen getrennt, die durch sie zum Ganzen vereinigt werden. Sie ist vielmehr eine einigende Bewegung, durch welche die Elemente, im Beispiel der Silbe sind es die einzelnen Buchstaben, in ein Ganzes eingebracht werden. Die Herstellung des „Ganzen" wird nicht durch ein bloßes „und" garantiert, sondern durch die Bewegung des Eingehens der vereinigten Elemente, der einzelnen Buchstaben in das wesentliche Ganze der Silbe. Daher wäre eine bloß konjunktive Verbindung der vom Subjekt ausgesagten Prädikate nicht der Fall, in welchem das Eidos der in der SubjektPrädikatstruktur angelegten Möglichkeiten ausgeschöpft und verwirklicht würde. Die vom Subjekt ausgehende einigende Kraft kann als Verbindung der Prädikate zu einem Ganzen nur dann wirksam werden, wenn 14 15

Vgl. auch meine „Einführung in die Metaphysik", Darmstadt 1972, S. 47ff. Met. 1041 b, 11ff.,vgl. auch meine „Einführung in die Metaphysik", Darmstadt 1972, S. 49

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jedes der Prädikate dieses Ganze schon vergegenwärtigt, welches das Subjekt ist. Das Prädikat „weise", etwa in dem Satz: „Sokrates ist weise", müßte dann so auf das individuelle Wesen des Sokrates angelegt sein, daß es nicht einen von vielen Menschen möglicherweise aussagbaren „allgemeinen" Inhalt aussagte, sondern diesen auf das Subjekt: Sokrates individuell abstimmen würde. Das „Weise-sein" des Sokrates wäre dann ein Prädikat, das nur dem Sokrates zukommt, sofern die damit angesprochene Weisheit eben die sokratische ist, die z. B. durch ihre Mischung von Ironie und Wahrheitsinteresse als individuelle Weisheit aussagbar wäre. Zusammenfassend sei gesagt: Als Charaktere des Substanz-Subjektes, die ihm eine beherrschende Stellung über das Prädikat sichern, haben sich Grund-sein und Ursache-sein, Beständigkeit und Selbständigkeit, sowie die die Akzidenzen bzw. Prädikate zu einem Ganzen zusammenfassende einigende Kraft erwiesen. Will man dem Gedanken der von dieser Kraft in Gang gesetzten Bewegung des Einigens gerecht werden, so ist es notwendig, das Trägermodell, von dem im Vorhergehenden die Rede war, zu modifizieren. Denn das Subjekt wird dann nicht als Grund-lage angesprochen werden können, auf der die Prädikate abgelegt werden; vielmehr muß es als die die Prädikate hervorbringende und sie zu einem Ganzen vereinigende Instanz anerkannt werden. Don Quijote ist ernsthaft und lächerlich zugleich: in seiner Ernsthaftigkeit ist die Lächerlichkeit Don Quijotes enthalten und in seiner Lächerlichkeit die Ernsthaftigkeit: beides ist Don Quijotisch. Viel wäre in einer ausführlicheren Abhandlung des Themas noch über Aristoteles zu sagen. Es wäre z. B. auf die „Analogie" zu verweisen, der gemäß sich die durch Energeia hervorgerufene „Bewegung" zur verwirklichten Dynamis verhält wie das Wesen zum Stoff, in dem es sich vergegenwärtigt. E. Hoffmann hat diese Analogie auch als solche gelesen, die das Verhältnis von Aktualität und Potenzialität mit demjenigen von Substanz und Inhärenz, damit auch von Subjekt und Prädikat gleichschaltet. „Sowohl die Subsistenz wie die Aktualität ist das „von Natur Frühere"; sowohl die Inhärenz wie die Potenzialität ist das „von Natur Spätere"16. In einer resümierenden Betrachtung kann gesagt werden, daß Aristoteles eine metagrammatische Nachkonstruktion des SubjektPrädikatverhältnisses vom Boden einer ontologischen Logik aus unternimmt. Der Ursprung der dabei im Spiel befindlichen Ontologie ist in 16

Ernst Hoffmann, Die Sprache und die archaische Logik, Tübingen 1925, S. 72

Subjektlogik und Piädikatlogik

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der Welt des Umgangs mit Menschen und Sachen und des Handelns im Bereich der Polis zu suchen. Dieses ontologische Denken unterscheidet zwischen der Selbständigkeit und sich durch die Veränderungen hindurchhaltenden Konstanz des „Wesens" und den Eigenschaften, sowie analog dazu zwischen dem „eigentlichen", natürlichen Subjekt und seinem Prädikat. Der Umstand, daß die Sprache dem „natürlichen" Subjekt die Subjektstelle auch in der Grammatik anweist, ergibt die Rechtfertigung der grammatikalischen Subjekt-Prädikatstruktur aus der ontologisch-logischen. Dieses Rechtfertigungsergebnis erlaubt rückblickend eine bessere Bestimmung der Namen Subjektlogik und Prädikatlogik zu geben, als es eingangs möglich war. Man wird jetzt sagen, daß Aristoteles insofern Repräsentant der Subjektlogik sei, als er auf Grund einer „natürlichen", metagrammatischen Subjekttheorie den Gebrauch bestätigt und rechtfertigt, den die Sprache von ihren Faktoren: „Subjekt" und „Prädikat" macht. Dementsprechend wird man eine Prädikatlogik als solche bezeichnen, die das „eigentliche" Subjekt, das zugrunde zu legen wäre, an der Stelle untergebracht findet, welche die Sprache dem grammatischen Prädikat anweist. Bevor der Übergang zur Prädikadogik geschieht, mögen einige Bemerkungen zur philosophischen Motivation des Wechsels von einem Logiktypus zum anderen erlaubt sein. Dieser Wechsel hängt mit einer Veränderung der „Stellung" zusammen, die das erkennende Subjekt seinem Gegenstand gegenüber behauptet: sie ist am Wandel des Begriffs von der Natur greifbar. Π Bei Aristoteles wird deutlich, daß das Satzsubjekt seine bestimmende Rolle auf Grund des Umstandes behauptet, daß ihm die Mission zufällt, die Natur (Physis) der Sache zu repräsentieren. Der „Natur der Sache" ist Selbständigkeit, Fundamentsein für Prädizierungen, die Kraft, sich selbst und seine Prädikate zur Identität zusammenzufassen, eigentümlich. In der Natur der Sache ist eine Bewegung wirksam, in der sie sich zur Einsheit eines Wesens vereinigt. Dem entspricht eine Auffassung von Natur als der Welt, innerhalb deren wir handeln, uns bewegen, leben und atmen. Die Natur sei von der Bewegung her bestimmt, sie sei geradezu „Archè der Bewegung und des Umschlags"17. Natur sei dasjenige, was den Anfang der Bewegung, d. i. der Ortsveränderung, 17

Physik (cd. Ross) 200b, 12 3

Vernünftiges Denken

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des Anderswerdens, des Wachstums oder Abnehmens, und vielleicht auch des Auftretens und Verschwindens des Wesens (Entstehen und Vergehen) in sich selbst habe18. So vermag das Subjekt im Satze kraft seiner „Natur" die seine Prädikate zur Einheit eines Gegenstandes zusammenfassende Kraft zu verwirklichen. Die Ausfaltung des Satzes in Subjekt und Prädikat und die Zusammenfassung (Symploke) zur Einheit einer Aussagebedeutung sind als Bewegungen faßbar, die selbst Naturcharakter tragen. Wahres Aussagen ist selbst Bewegung der Physis. Das Band zwischen Subjekt und Prädikat ist nicht vom aussagenden und denkenden Sub-jekt künstlich hergestellt, sondern ist der Physis zu verdanken, als deren Sachwalter sich das denkende und sprechende Subjekt erweist, wenn es Subjekt und Prädikat vereinigt. Welche Situation aber entsteht, wenn sich der Erkennende nicht als Wortführer und Sachwalter der Physis verhält, sondern die Rolle der Selbständigkeit gegenüber der Natur als dem Objekt beansprucht: wenn sich das sprechende und denkende Subjekt als Gesetzgeber der „Natur" versteht, der die Naturgegenstände in den Zusammenhang der Erscheinungen verweist und sie in das Netz von Notwendigkeitsbeziehungen einfängt? Bei dem Wechsel in der Stellung des sprechenden und denkenden Subjekts gegenüber der Natur vollzieht sich ein Wandel des Naturbegriffs, den ich in andern Zusammenhängen als Übergang von der „freien" Natur zur „gefesselten" Natur bezeichnet habe19. Mit diesem Wechsel der Stellung des Sprechenden und Erkennendem dem „Objekt" gegenüber, der mit einem Wandel der Naturbegriffe einhergeht, ist zugleich auch ein Umdenken in der Wahl der Erkenntnisziele und Forschungsinteressen verbunden: die Naturforscher erklären ausdrücklich in immer neuen Wendungen, daß es nicht ihr Ziel und ihre Absicht sei, das „Wesen" der Naturgegenstände zu erkennen. Sie erklären es als ihre Erkenntnisabsicht, Beobachtetes oder Beobachtbares begrifflich zu verknüpfen, Relationen herzustellen. Damit wird der Anspruch erhoben, nicht das von der Physis selbst gelieferte Band des Einigens zu benutzen, sondern dieses Band mit dem eigenen, „subjektiven" Verstände zu wirken. Diese Devise findet ihre prägnanteste Formel bei Kant, wenn er ausspricht, daß wir nur diejenigen Einheiten in der Natur a priori erkennen können, welche wir selbst gemacht haben. Das erkennende und sprechende Subjekt bedient sich in der mathematischen Vgl. meine Untersuchung: Der philosophische Begriff der Bewegung, Studien zu Aristoteles, Leibniz und Kant, Köln/Graz 1965. " z . B . „Der philosophische Begriff der Bewegung", S. 109ff.

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Subjektlogik und Prädikatlogik

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Physik, die tonangebend ist, der „Relationen" bzw. „Funktionen" der Mathematik, um durch solche vom Verstände bestellten Zuordnungsregeln die Natur begrifflich artikulieren zu können. Diese Situation wirkt sich auf die Subjekt-Prädikatstruktur des Satzes so aus, daß jetzt, da das Wesen an Bedeutung und Interesse verloren hat, die „anderen" Kategorien bzw. Prädikate (aristotelisch gesprochen) wie Beziehung, Größe usw. die Führung übernehmen. Dazu kommt noch, daß diese Kategorien vom denkenden und sprechenden Subjekt herangetragen sind, statt daß sie aus der Physis entlehnt wurden. Das ist die gedankliche Situation, auf Grund deren die Prädikatlogik an Boden gewinnt. Als das „eigentliche" Subjekt im Sinne des Grund-lage-seins und der Einigung kommt jetzt der vom erkennenden Subjekt hergestellte Begriff der Beziehung bzw. der Funktion zur Geltung. Die Sprache kann diesem Prinzip nur in der Weise gerecht werden, daß sie ihm die Stelle des grammatischen „Prädikats" zuweist. Dadurch gewinnt das Prädikat die führende Rolle im Satze, entsprechend der galileischen Erklärung im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse des Physikers, der nicht das „Was-sein", sondern das „Wie-sein" der Dinge zu erkennen habe80. Ontologie kann als Wissenschaft von den Charakteren gelten, die in der Perspektive begreifbar werden, die dem Standpunkt des lebensweltlichen Ver-baltens dem Seienden gegenüber eigentümlich ist. Hat eine dementsprechende neuzeitliche Ontologie einen bestimmten Rahmen naturwissenschaftlichen Forschens geschaffen, so ergibt sich eine entsprechende Konsequenz auch für die Logik: es entwickelt sich eine Prädikatlogik, für die Frege als repräsentativ zitiert werden mag. Bezeichnend ist, daß bei Frege nicht die Unterscheidung zwischen Wesen und Akzidenz, sondern zwischen „Gegenstand" und „Begriff" maßgebend ist. Der Gegenstand wird in dem Sinne als das vom Begriff 20

Das Desinteresse am Wesen spricht Galilei aus, wenn er sagt, daß wir die Erscheinungen als viele Einzelheiten wahrnehmen können, daß uns aber ihr „metaphysisches" Wesen verschlossen bleibe. (Tertia Lettera . . . delle Macchie del Sole, le Opere, Nouva Ristampa della Editione Nationale, Bd. V, Firenze 1965, S. 187 ; vgl. auch meine „Philosophie der Beschreibung", Köln/Graz 1965, S. 140), Von den vielen in dieselbe Richtung gehenden Aussagen neuzeitlicher Naturforscher mag als Beleg die bei Robert Mayer in seinen Briefen an Griesinger (Kleinere Schriften und Briefe, hg. von Weihrauch, Stuttgart 1893, S. 180) vorkommende Stelle erwähnt werden: „Was Wärme, was Elektrizität usw. dem inneren Wesen nach sei, weiß ich nicht, sowenig als ich das innere Wesen einer Materie oder irgendeines Dinges überhaupt kenne; das weiß ich aber, daß ich den Zusammenhang vieler Erscheinungen viel klarer sehe, als man bisher gesehen hat, und daß ich über das, was eine Kraft ist, helle und gute Begriffe geben kann." 3·

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Friedlich Kaulbach

Abhängige behandelt, als er dazu dienen soll, für den vom Denken erschaffenen Begriff einen „Fall" herzugeben, an dem dieser seine Verknüpfungsarbeit durchzuführen vermag. Das Verhältnis des Begriffs zu dem Gegenstand, der „unter ihn fällt", wird von Frege nach dem Vorbild der mathematischen Funktion begriffen, die Leerstellen vorsieht, in die Argumente einzusetzen sind. Während diese Funktion dem Begriffe analog gesetzt wird, spielt der unter diesem Begriff subsumierte „Gegenstand" die Rolle des Arguments, welches dazu dient, die Leerstelle der Funktion bzw. des Begriffs zu besetzen. Wird der Begriff als „ergänzungsbedürftig", „ungesättigt", „offen" bezeichnet, so besteht die Rolle des „Gegenstandes" darin, durch seine Besetzung der Leerstelle des als Funktion gedeuteten Begriffs diesen zu vervollständigen und zu einem ganzen Sinngebilde zu machen, dessen sprachliche Form der Satz bzw. das Urteil ist. In dem Satz : „fünf ist eine Zahl" gibt demgemäß die Zeichenverbindung „ist eine Zahl", die prädikative Bedeutung hat, die Anweisung auf den Begriff: Zahl-sein, während das Zeichen: „fünf" den „Gegenstand" vertritt, der „unter" diesen Begriff fällt. Das Subjekt dieses Satzes spielt, da es den „Gegenstand" vertritt, unter dieser Voraussetzung im Gegensatz zur Wesenslogik des Aristoteles eine abhängige Rolle gegenüber dem Prädikat, das als grammatischer Repräsentant des Begriffs das Gegenstands-Subjekt in seinen Dienst nimmt, um sich zu ergänzen und zu vervollständigen. Diese Sachlage berechtigt es auch zu sagen, daß der Begriff, der in der Grammatik auf die Stelle des Prädikats verwiesen wird, das eigentliche, geborene „Subj e k t " des Satzes wäre, da er die Grundlage bildet, die durch „Einsetzungen" von Gegenstands-Subjekten jeweils zum Ganzen einer Aussage vervollständigt wird. In diesem Sinne möge die Fregesche Urteilstheorie als typisch für eine prädikatenlogische Auffassung erklärt werden21. Es ist vorwiegend der allgemeine Charakter des Begriffs, der diesen dazu von Natur aus prädestiniert, die Rolle des Prädikats zu übernehmen, während der Gegenstand als das Fertige, Geschlossene, Fest-gestellte eine Besonderheit darstellt, der es gebührt, die Subjektrolle zu spielen. 21

E s mag darauf aufmerksam gemacht werden, daß Wendungen wie: „ungesättigt", „ergänzungsbedürftig", „Leerstelle", „Einsetzung" eigentlich nicht dem Niveau des Begriffs selbst, sondern dem der Z?/VALebenswelt< beginnen, sie kann nur an alltägliche Erfahrungen anknüpfen und unter Berufung auf sie anspruchsvollere Leistungen erbringen. Wir können uns mit unseren Überlegungen nicht hintergehen, wohl aber können wir versuchen, uns, unser Handeln und Erleiden, zu verstehen und uns in der Welt zurechtzufinden lernen. Camus nennt, gegen Ende seines L'homme révolté, als die einzige originelle Regel heutzutage: Der Mensch muß leben und sterben lernen (la seule règle qui soit originale aujourd'hui : apprendre à vivre et à mourir, Essais p. 708). Weniger apodiktisch steht in den Tagebüchern: „Das große Problem des Lebens: wissen wie man sich unter den Menschen bewegen soll." (Tagebuch 42—51, p. 182) Damit antwortet Camus auf die Frage ,Was ist der Mensch?' auf dem Boden der Einsicht, daß jeder, der nachzudenken beginnt, sich bereits in vielfältigen Abhängigkeiten vorfindet, die nicht Ergebnis seines eigenen Tuns sind, denen er vielmehr ungefragt ausgeliefert ist : Lernen, diese Abhängigkeiten anzunehmen oder sich von ihnen zu lösen, jedes zu seiner Zeit und im richtigen Maße, heißt lernen, sein Tun vernünftig zu bestimmen und ist damit selbst das oberste Ziel vernünftigen Handelns. Mit polemischer Spitze gegen Sartre erklärt Camus: Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das sich weigert zu sein, was es ist (L'homme est la seule créature qui refuse d'être ce qu'elle est, Essais p. 420). Die Sartre'sehe These, daß der Mensch frei sei, nämlich frei, sich seine Bestimmung selbst zu geben, wird von Camus nicht als angemessen akzeptiert. Sie leidet selbst noch unter den Folgen einer Tradition, gegen die sie sich wendet : der Mensch wird mit Eigenschaften ausgestattet, ehe darüber reflektiert wird, wie er sie erwirbt, ja ob er sie erwerben soll, falls er überhaupt fähig dazu ist. Die Sartre'sche Freiheit kann schon aus methodischen Gründen nicht am Anfang philosophischer Reflexionen stehen: Es genügt, sich zu vergegenwärtigen, daß insbesondere das eigene Reden anfangs ausschließlich übernommenes, nämlich von anderen gelerntes Reden ist und daher seine Verläßlichkeit noch nicht garantieren kann. Vielmehr wird mit der Freiheit ein Handlungsspielraum artikuliert, den zu gewinnen und gleichzeitig zu begrenzen erst das Resultat vernünftig geführter Überlegungen sein kann.

Moralphilosophische Argumentation bei Camus

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Camus jedenfalls versucht mit seinen moralphilosophischen Argumentationen eine einsichtige Begründung dafür zu liefern, daß die Antwort auf die Frage, wie man sich unter den Menschen bewegen soll, auf die Bestimmung eines für die jeweils beteiligten Menschen gemeinsamen Handlungsspielraums hinausläuft. Camus ist bereit, noch dort zu argumentieren, wo Sartre die Entscheidung eines Einzelnen oder einer Gruppe zu einer bestimmten Handlung keiner rationalen Diskussion mehr unterwerfen will. Die folgenden Ausführungen haben das Ziel, die Camus'sche Forderung »Der Mensch muß leben und sterben lernen* in sieben aufeinanderfolgende Schritte aufzulösen, die in einem systematisch geordneten Argumentationszusammenhang stehen. Mit diesem Verfahren folge ich zwar im wesentlichen Camus' eigenen Argumentationen, ohne jedoch die Fülle der begleitenden zeitkritischen und historischen Bemerkungen mit aufzunehmen. Mein Versuch beschränkt sich darauf, das systematische Gerüst seines Gedankenganges darzustellen und zwar so, daß auch nur die mir tragfähig scheinenden Teile desselben auftreten. Wenn dabei die Camus'schen Termini beibehalten sind, so soll das nicht heißen, daß sie von mir für die Aufnahme in den Aufbau einer praktischen Philosophie vorgeschlagen werden — dazu wären auch die in diesem Versuch nur angedeuteten systematischen Rekonstruktionen nicht ausreichend —, vielmehr möchte ich damit zunächst nur erreichen, daß neben der Sprache Camus' an dieser Stelle eine explizit eingeführte eigene Interpretationssprache überflüssig wird. Das ist, so hoffe ich, ohne Verständnisschwierigkeiten deshalb möglich, weil die Sprache Camus' dank ihres klaren und häufig hergestellten Bezugs auf praktisch jedermann zugängliche Situationen nur wenig Interpretationshilfen benötigt. Es bedarf erheblich ausführlicherer Arbeiten, um das Ausmaß der auch im einzelnen systematisch rekonstruierbaren Camus'schen Positionen festzustellen. Den sieben Schritten habe ich die Form von sieben Thesen gegeben, die ich nach einer ersten Ubersicht der Reihe nach erläutern und begründen werde. Die ersten drei Schritte artikulieren die Erfahrung des Absurden, nämlich ein Nein des Menschen an Gott, wie er in auch heute noch einflußreichen Teilen unserer christlichen philosophisch-theologischen Tradition vorgestellt wird. Darunter versteht Camus die Einsicht, daß es unvernünftig ist, den Bedingungen und Abhängigkeiten, denen der Mensch als Gegenstand der Natur unterworfen sich vorfindet, einen nicht erkannten, eben nur >Gott< zugänglichen Sinn zuzusprechen, der dann in einem >zweitenewigen< Leben auch den dann Gott in bestimmten Hinsichten >gleichen< Menschen offenbar wird. Die nächsten drei Schritte artikulieren die Erfahrung der Revolte, und zwar der Revolte gegen das Absurde des ersten Dreischritts und damit ein Nein des Menschen an die Vernunft, wie sie paradigmatisch in der Philosophie des deutschen Idealismus als die Wirklichkeit schließlich im Ganzen bestimmend vorgestellt wird. Die unter Berufung auf diese Vernunft vorgenommene Anerkennung der natürlichen Abhängigkeiten gerät, unter der Hand gleichsam, zum Postulat vom Sinn eben dieser Abhängigkeiten, einem Sinn, der im Laufe geschichtlicher Entwicklungen, als Fortschritt der Menschheit etwa, offenkundig werden soll. Wenn Camus vom Nein an die Vernunft spricht, so meint er stets diese zweite Einsicht, daß auch geschichtliche Entwicklungen und damit die Bedingungen und Abhängigkeiten, denen der Mensch als Gegenstand der Geschichte unterworfen sich vorfindet, keinen Sinn abzulesen erlauben. Es ist unvernünftig, nämlich nicht menschlich, weil menschliche Fähigkeiten übersteigend, so kann Camus sagen, an Gott, man ergänze : in der Natur, oder an die Vernunft, man ergänze jetzt : in der Geschichte, zu glauben. Folgerichtig kann er die ihn allein interessierende Frage nach der Auszeichnung des Menschen in einem Interview im Dezember 1945 auch wie folgt formulieren: Ce qui m'intéresse, c'est de savoir comment . . . on peut se conduire quand on ne croit ni en Dieu ni en la raison (Essais, p. 1427). Das ist ganz in Übereinstimmung mit dem oben noch nicht zitierten Ende des Satzes, in dem die Forderung nach dem Lebenund Sterben-lernen-müssen enthalten ist: um Mensch zu sein, sich weigern, Gott zu sein (pour être homme, refuser d'être dieu, Essais, p. 708). Wir können mit Rieux, der Hauptfigur in La Peste, diese Frage weiterführen und verkürzen zu: Ce qui m'intéresse, c'est d'être un homme (TRN, p. 1425). Damit sind wir bereits beim letzten Schritt dieser ersten Übersicht, der die Erfahrung des Maßes und so das Ja des Menschen zum Leben artikuliert, zu einem Leben nämlich, das die Mitte hält. Es geht um ein Gleichgewicht zwischen der Hinwendung zur Welt, einem Anerkennen der natürlichen und geschichtlichen Abhängigkeiten, und der Abkehrvon der Welt, einem sich mit diesen selben Abhängigkeiten nicht Abfinden. Der Aspekt, unter dem Camus einem nach eigenem Zeugnis vorbedachten Plan folgend (cf. Essais, p. 1610) die Folge der Erfahrungen vom Absurden über die Revolte zum Maß vorstellt und auseinander entwickelt, ist in fast jedem Werk paradigmatisch der einer Stellung-

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nähme zum Problem einer möglichen Rechtfertigving des Selbstmordes und des Mordes. Dabei werden jeweils drei verschiedene literarische Formen als Medium der Darstellung gewählt: ein Roman, ein philosophischer Essay (im Tagebuch auch .Méditation' genannt) und Theaterstücke; literarische Essays und Erzählungen ergänzen die Darstellung. Das Tryptichon über das Absurde besteht aus L'Etranger (Der Fremde, erschienen 1942), Le Mythe de Sisyphe (Der Mythos von Sisyphos, erschienen 1942) und den 1944 erschienenen Stücken Caligula, Le Malentendu (Das Mißverständnis). Das Tryptichon über die Revolte besteht aus La Peste (Die Pest, erschienen 1947), L'Homme révolté (Der Mensch in der Revolte, erschienen 1951) und den Stücken Les Justes (Die Gerechten, 1950), L'Etat de Siège (Der Belagerungszustand, 1948). Über das Maß gibt es nur die nachgelassene Skizze zu einem Roman mit dem geplanten Titel ,Le premier homme*. Deshalb habe ich mich an dieser Stelle mit einer einzigen These, der siebten, begnügt. I Den Ausgangspunkt aller Überlegungen bildet die Erfahrung des Absurden, wie sie in der ersten These auf eine kurze Formel gebracht ist : Die menschliche Situation ist absurd. Camus nennt diese Erfahrung im Mythos von Sisyphos sogar seine „erste Wahrheit" (Essais, p. 121), übrigens auch an dieser Stelle ausdrücklich im Gegensatz zu Sartre, dem er vorwirft, seine Überlegungen endeten mit der Einsicht in die Absurdität des Daseins, anstatt davon auszugehen (cf. Essais, p. 97, 1612). Wie aber läßt sich diese Erfahrung genauer bestimmen: In den ersten Absätzen des Mythos von Sisyphos findet sich zur Verdeutlichung eine Reihe von beispielhaften Geschichten und darüber hinaus noch einige wichtige terminologische Abgrenzungen. Besonders charakteristisch ist das folgende, fast alltägliche Ereignis: Jemand geht einen ihm seit langem vertrauten Weg entlang, er kennt die Bäume und Häuser am Rande, aber plötzlich, für einen Moment nur, wird alles fremd, der Spaziergänger empfindet sich als Fremder inmitten der Dinge. Camus sagt „Die Welt entgleitet uns : sie wird wieder sie selbst. . . diese Dichte und diese Fremdartigkeit der Welt sind das Absurde. Auch die Menschen sondern Unmenschliches ab. In gewissen hellsichtigen Stunden läßt das mechanische Aussehen ihrer Bewegungen, ihre sinnlos gewordene Pantomime alles um sie herum stumpfsinnig erscheinen. Ein Mensch spricht hinter einer Glaswand ins Telefon, man hört ihn nicht, man sieht nur sein sinnloses Mienenspiel. . .

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Auch der Fremde, der uns in gewissen Augenblicken in einem Spiegel begegnet, der vertraute und doch beunruhigende Bruder, den wir auf unseren eigenen Fotografien sehen, ist wiederum das Absurde." (Essais, p. 108) Aber schon einige Seiten später präzisiert Camus weiter: nicht die Welt ist absurd, vielmehr entsteht das Absurde durch die Gegenüberstellung des Verlangens nach Klarheit, nach Verstehen und unumstößlicher Vertrautheit der Situation, in der man sich befindet, und der ausbleibenden Erfüllung dieses Verlangens. Daß es nicht gelingt, die Welt durch wissenschaftliche Rede >auf den Begriff zu bringenZulage< gegönnt ist". (Essais, p.85) Wer sich über die Reichweite seiner Kräfte Illusionen macht, wird keinerlei Verläßlichkeit seiner übrigen Behauptungen mehr beanspruchen dürfen. Uber die Bedingungen seines Lebens und Sterbens zu verfügen glauben ist daher Paradigma dieser Fehleinschätzung, Camus würde sagen: für die Untreue sich selbst gegenüber. Das sokratische Bestehen auf der Begrenztheit allen Wissens als historisch erster Ausdruck der Erfahrung des Absurden ist von Camus in seiner >ersten Wahrheit< erneut artikuliert worden, und zwar diesmal im Unterschied zu seinen Vorgängern ausdrücklich unter Anerkennung der grundsätzlichen Bestreitbarkeit aller darauf aufgebauten, im Dialog gewonnenen Einsichten. Ersichtlich kann man nur insofern man lebt dieser Wahrheit treu bleiben. Nicht-mehr-leben-wollen, die Einwilligung in den Selbstmord, ist gleichzeitig der Verzicht auf die Einsicht in die Absurdität der menschlichen Situation. Der Selbstmord verleugnet das Absurde. Das ist die These des dritten Schritts. Camus sagt: „Leben heißt: das Absurde leben lassen. Das Absurde leben lassen, heißt: ihm ins Auge sehen" (Essais, p. 138). Damit hat er bereits hier die erste Begründung seines Ja zum Leben gewonnen, nämlich des Willens, glücklich zu sein ohne Hoffnung, dem also Zukunft, und das heißt Dauer, verwehrt ist. Gewußt hat er dieses Ja aber schon von Anfang an. Mit zwanzig Jahren bereits

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schrieb er: „J'ai compris qu'il ne faut rien demander à la vie, mais accepter avant de discuter." Die Tugenden dafür sind Hellsicht (clairvoyance) und Ironie. Damit ist folgendes gemeint: Wer die Erfahrung des Absurden gemacht hat, wer also nicht mehr bloß agiert und reagiert, sondern auch innehält, um vergangenes Verhalten zu verstehen und zukünftiges Verhalten zu planen, der ist sich seiner Lebensweise nicht mehr sicher. Er hat mit der Unsicherheit zugleich seine Selbständigkeit entdeckt, die nichts anderes als den Willen zur Überwindung dieser Unsicherheit darstellt. Die Ausübung der Selbständigkeit aber erfordert Aufmerksamkeit oder Umsicht, als deren >beste Form< — im Sinne der antiken άρετή — die von Camus genannte Hellsicht gelten darf. Da der selbständig gewordene Mensch nun gleichzeitig auch noch begriffen hat, daß alle Versuche zur Wiedergewinnung seiner Sicherheit keinen endgültigen Erfolg haben können, übt er als Zeichen dieser zweiten Einsicht Ironie, nämlich die >beste Form< der Distanz zu allen eigenen und fremden Orientierungsangeboten. In L'envers et l'endroit (Licht und Schatten), einem frühen Essay, führt Camus selbst die beiden Tugenden wie folgt ein: „Ich hänge an der Welt mit meinem ganzen Tun, an den Menschen mit meinem ganzen Mitleid und meiner Dankbarkeit. Zwischen dieser Licht- und dieser Schattenseite der Welt will ich nicht wählen, ich liebe es nicht, wenn man wählt. Die Leute wollen nicht, daß man hellsichtig und ironisch sei. Sie sagen : das beweist, daß sie kein guter Mensch sind. Ich sehe nicht ein, was das miteinander zu tun hat. Gewiß, wenn ich einen sagen höre, er sei ohne Moral, schließe ich daraus, daß er es nötig hat, sich eine Moral zu geben; wenn ein anderer sagt, er verachte die Intelligenz, schließe ich, daß er seinen Zweifel nicht zu ertragen vermag. Denn ich liebe es nicht, daß man mogelt. Der wahre Mut besteht immer noch darin, die Augen weder vor dem Licht noch vor dem Tod zu verschließen. Wie kann man überhaupt das Band beschreiben, das diese verzehrende Liebe zum Leben mit jener geheimen Verzweiflung verknüpft? Wenn ich auf diese Ironie lausche, die sich auf dem Grund der Dinge verbirgt, enthüllt sie sich allmählich. Sie zwinkert mit ihren klaren kleinen Augen und sagt: Lebt als ob . . . trotz vielen Suchens beschränkt sich darauf mein ganzes Wissen." (Essais, p. 49) Den systematischen Kern dieser Überlegungen habe ich herauszustellen versucht; was Camus später noch hinzugefügt hat, sind weitere

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Begründungen und genauere Bestimmungen, aber der Sache nach nichts Neues. Weil er die Erfahrung des Absurden aufhebt, läßt sich der Selbstmord, entgegen dem ersten Anschein, nicht vertreten. Wir können genauer sagen: weil er die Vorläufigkeit, nämlich Begrenztheit jeder menschlichen Einsicht ignoriert. Wer auf einer Begründung seines Selbstmordes als stichhaltig insistiert, hätte bereits die Kluft zwischen Leben-wollen und Sterben-müssen übersprungen, in ihn eingewilligt, weil er ihn nicht ernstgenommen hätte. Die Begründung bleibt fragwürdig, weil sie die Revidierbarkeit grundsätzlich ausschließt. Der Dialog wird abgebrochen — weil von seiner Fortsetzung keine Hoffnung mehr erwartet wird. Die Vernunft überschreitet hier ihre Grenzen, und das jetzt, da die Erfahrung des Absurden doch gerade die Feststellung der Grenzen der Vernunft mit einschließt, den Ehrgeiz des menschlichen Willens nach Klarheit begrenzt. Camus formuliert: „Das Absurde ist die erhellte Vernunft, die ihre Grenzen feststellt." (Essais, p. 134) Natürlich folgt daraus nicht, daß jemand berechtigt wäre, einem anderen den Selbstmord zu verbieten oder daß aktive Sterbehilfe etwa gar strafrechtlich zu belangen sei. Vielmehr gehört es gerade zu der Einsicht in die Grenzen der Vernunft, daß eben diese Grenzen nicht schlicht festgestellt werden können, sondern daß die Grenzziehung selbst die für jeden unlösbare, einen nicht vollständig erfüllbaren Anspruch darstellende Aufgabe ist. Und Grenzüberschreitungen mit dem Willen, andere Grenzüberschreitungen so zu kompensieren, aber gleichwohl wissend, daß dies nicht möglich ist — wie etwa in dem für eine absurde Erfahrung stehenden oben genannten Beispiel einer Selbstverbrennung angesichts politischer Unterdrückung — gehören zu den auch und gerade im Sinne Camus' berechtigten Versuchen der Grenzziehung menschlicher Vernunft. Nur der Selbstmord als angebliche Konsequenz aus der Unmöglichkeit, den Anspruch auf einen über das Leben hinausgehenden Sinn des Lebens auch erfüllen zu können, ist argumentativ zurückgewiesen worden. Damit ist der erste Dreischritt, in dem die Erfahrung des Absurden artikuliert wird, durchlaufen. Es sollte allerdings hinzugefügt werden, daß nicht nur die Möglichkeit einer durch die Erfahrung des Absurden gegebenen Rechtfertigung des Selbstmordes von Camus an dieser Stelle erfolgreich bestritten wird — die Erörterung des Selbstmordes spielt eine zwar ausgezeichnete, aber trotzdem nur eine beispielhafte Rolle — es werden auch andere Formen der Grenzüberschreitung der

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Vernunft charakterisiert und als nicht zu rechtfertigen zurückgewiesen. Dazu gehören insbesondere alle Formen einer teilweisen Aufgabe der in der absurden Situation entdeckten Selbständigkeit, etwa dadurch, daß man sich einer fremden Autorität ganz oder teilweise unterwirft, sich ihr zum Sklaven macht, und sei es auch als sogenanntes Kind Gottes. Das Absurde der ersten Stufe können wir in der Formel zusammenfassen: Ich will leben, und ich muß sterben. Der Mythos von Sisyphos gilt als Bild dieser Erfahrung. Sisyphos hatte den Tod überlistet und dafür erwartete ihn in der Unterwelt die Strafe der Götter: Sisyphos muß einen gewaltigen Stein einen Abhang hochwälzen, doch kaum ist er oben, rollt der Stein wieder hinunter, und Sisyphos muß ihn von neuem wälzen. Camus erklärt, daß ihn Sisyphos während des Abstiegs in der Pause zwischen zwei Anstrengungen interessiert Während dieser Pause weiß Sisyphos um sein Schicksal und ist aus diesem Grunde ihm überlegen. „Die Hellsicht, die seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann." (Essais, p. 196) Camus endet: „II faut imaginer Sisyphe heureux" (Essais, p. 198). Er ist glücklich deshalb, weil er seinen Anspruch auf Glück, seinen Willen zu leben, nicht aufgibt. Er hat es gelernt, immer wieder das Gleichgewicht zwischen Anerkennung und Ablehnung (accepter la vie und mépriser le destin) zu finden. Diesen Spielraum innerhalb seiner Situation erobert er dabei durch Gleichgültigkeit < (indifférence), das ist eine Verschmelzung der Tugenden Hellsicht und Ironie, bei der der Hellsichtige und Ironische der einem Verständnis immer wieder entgleitenden Umwelt ein wenig ähnlich wird. Präzise argumentiert für die Notwendigkeit, dem Gegner, soll er überwunden werden können, ähnlich zu werden, ist auch im vierten Brief der Lettres à un ami allemand (Essais, p. 239ff., bes. p. 242). Unter der Gleichgültigkeit darf daher ganz wörtlich eine Aufmerksamkeit verstanden werden, die in jedem Moment ihrer Ausübung um sich und ihren begrenzten Erfolg weiß und so Distanz hält. Weder verliert sich der gleichgültige Mensch an seine eine neue Sicherheit anstrebenden Handlungen, noch gibt er sie, oder wenigstens eine von ihnen, auf Grund ihrer teilweisen Ergebnislosigkeit auf. Eben darin besteht das Gleichgewicht zwischen der Hinwendung zur Welt und der Abkehr von ihr, die das Ja zum Leben ausmachen — soweit es allein von der Erfahrung des Absurden im ersten Dreischritt gesehen wird. Die Erfahrung der Revolte im zweiten Dreischritt wird an der Gleichgültigkeit noch die Liebe zu sehen möglich machen, mit der das Ja zum Leben genauer bestimmbar ist.

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Die Gleichgültigkeit gehört zu den Schlüsselwörtern in Camus' Werk; sie kann leicht mißverstanden werden, wenn sie aus dem Zusammenhang von Hellsicht und Ironie gelöst wird, in dem sie steht. Besonders klar wird dieser Zusammenhang in dem Essay Le désert (Die Wüste) artikuliert, wenn man auf die Erscheinungsweisen der Tugenden achtet und sich vergegenwärtigt, was ich hier nicht näher ausführen kann, daß Askese ein Modus der Ironie und Genuß ein Modus der Hellsicht ist. Der Hinweis mag genügen, daß Genuß als eine Weise der Aufmerksamkeit gegenüber sich selbst, deren unaufhebbare Schranken die Erfahrung asketischer Distanzierung ausmachen, zu verstehen ist. „Es kommt vor, daß ein Gesicht durch seine Gleichgültigkeit und Härte die steinerne Größe einer Landschaft hat. Wie gewisse spanische Bauern schließlich ihren Ölbäumen ähnlich werden, so werden Giottos Gesichter, frei von den lächerlichen Schatten, in denen die Seele sich bekundet, schließlich zu Verkündern jener einzigen Lehre, die Toskana uns allerorten vorhält: Leidenschaft statt Gefühlaufwallungen, eine Mischung von Askese und Genuß; ein Zusammenklingen des Menschen und der Erde, was beide, den Menschen wie die Erde, in die Mitte zwischen Leid und Liebe stellt." (Essais, p. 80f.) Thomas Mann hat in seinem GoetheVortrag 1932 darauf aufmerksam gemacht, daß auch Goethe sein Leben mit Sisyphos verglichen hat: Es war das ewige Wälzen eines Steines, der immer von neuem gehoben werden wollte. Und Camus weiß wie Goethe, daß für den Künstler diese ständige Übernahme einer vergeblichen Aufgabe Klassizität bedeutet: Être classique, s'est se répéter. Das Wissen um die Grenzen des eigenen Vermögens aber führt zur Behutsamkeit: L'art, c'est ne pas insister. Geduld und Diskretion zeichnen den absurden Menschen in seinem Umgang mit seinesgleichen aus. Auch hier wieder müssen Geduld und Diskretion, wie oben Genuß und Askese, als Modi der Tugenden Hellsicht und Ironie angesehen werden, hier nicht die Beziehving zu sich selbst, sondern die Beziehung zu anderen betreffend: Geduld als Weise der Aufmerksamkeit gegenüber anderen und Diskretion als die Gestalt der Erfahrung, daß solche Aufmerksamkeit uneingeschränkt durchzuhalten unmöglich ist; jede Indiskretion ist das Werk einer unzulässigen Aufmerksamkeit, die ihre Begrenzung mißachtet hat. II Wir treten jetzt in die zweite Runde ein, die erste These des zweiten Dreischritts. Sie lautet: Das Absurde ist die Revolte. Welche neue Erfahrung hier gemeint ist, läßt sich am besten am Roman La Peste ver-

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deutlichen, den Camus als Darstellung verschiedenen grundsätzlich gleichwertigen Verhaltens angesichts der absurden Situation konzipiert hat. Der Arzt Rieux handelt wie Sisyphos, er kämpft gegen die Pest, und zwar vergeblich: In einer entscheidenden Unterhaltung Rieux' mit seinem Freunde Tarrou versucht er dafür die Rechtfertigung (cf. TRN, p. 1320ff.). Sie besteht darin, auf das Elend zu verweisen, das ihn gelehrt habe, auch einen vergeblichen Kampf nicht aufzugeben. Ganz ähnlich bekennt der Journalist Rambert: „Ich habe immer gedacht, ich sei fremd in dieser Stadt und habe nichts zu tun mit euch. Aber jetzt, nachdem ich das alles gesehen habe, weiß ich, daß ich hierher gehöre, ob ich es will oder nicht. Diese Geschichte geht uns alle an." (TRN, p. 1387) Aber diese Bemerkungen greifen vor; sie führen schon zur fünften These. Zunächst gilt es, die Revolte selbst zu verstehen und zu begründen, warum sie absurd heißt. Dazu gehen wir aus von der Einsicht in die unaufhebbare Differenz des Leben-wollens vom Sterben-müssen. Aus ihr folgt unmittelbar jene andere, daß das Leben-wollen eine Weigerung ist. Es ist als Anstrengung zur Überwindung dieser Differenz ein Widerstand gegen den Tod. Wieder weniger dramatisch und dafür etwas systematischer formuliert: Mit dem Versuch, eine neue Sicherheit zu gewinnen, wird zugleich ein Nicht-einverstanden-sein mit derjenigen Unsicherheit artikuliert, die wir als primäre Erfahrung des Absurden bestimmt haben. Schärfer noch : Die Entdeckung der Unsicherheit zieht kraft der gleichzeitig damit entdeckten Selbständigkeit den stets aufs neue wiederholten Versuch zur Überwindung der Unsicherheit nach sich. Es gibt die Erfahrung der Unsicherheit überhaupt nur so, daß man sich bei der Arbeit zu ihrer Überwindung vorfindet. Die absurde Situation und der Widerstand dagegen sind zwei Ansichten derselben Sache. Camus sagt dafür in seinem Mythos von Sisyphos prägnant : „Das Absurde hat nur insoweit einen Sinn, als man sich mit ihm nicht einverstanden erklärt." (Essais, p. 121) Dieses Nicht-einverstanden-erklären wiederum nennt Camus die Revolte. Es ist dieselbe Revolte, die einst Voltaires Haltung gegenüber dem Erdbeben in Lissabon 1755 bestimmte und deren Vorbildlichkeit Gegenstand einer langen Rede Settembrinis an Hans Castorp in Thomas Manns ,Zauberberg' ist : „Voltaire revoltierte, ja. Er nahm das brutale Fatum und Faktum nicht hin, er weigerte sich, davor abzudanken. Er protestierte im Namen des Geistes und der Vernunft gegen diesen skandalösen Unfug der Natur, dem drei Viertel einer blühenden Stadt und Tausende von Menschenleben zum Opfer fielen . . . Sie staunen? Sie lächeln? Mögen Sie immerhin staunen, was das Lächeln betrifft,

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so nehme ich mir die Freiheit, es Ihnen zu verweisen! Voltaires Haltung war die eines echten Nachkömmlings jener alten Gallier, die ihre Pfeile gegen den Himmel schleuderten . . . Sehen Sie, Ingenieur, da haben sie die Feindschaft des Geistes gegen die Natur, sein stolzes Mißtrauen gegen sie, sein hochherziges Bestehen auf dem Recht zur Kritik an ihr und ihrer bösen, vernunftwidrigen Macht. Denn sie ist die Macht, und es ist knechtisch, die Macht hinzunehmen, sich mit ihr abzufinden ... Wohlgemerkt, sich imterlicb mit ihr abzufinden. Da haben Sie aber auch jene Humanität, die sich schlechterdings in keinen Widerspruch verstrickt, sich keines Rückfalls in christliche Duckmäuserei schuldig macht, wenn sie im Körper das böse, das widersacherische Prinzip zu erblicken sich entschließt. Der Widerspruch, den Sie zu sehen meinen, ist im Grunde immer derselbe. ,Was haben Sie gegen die Analyse ?' Nichts . . . wenn sie Sache der Belehrung, der Befreiung und des Fortschritts ist. Alles . . . wenn ihr der scheußliche Hautgoût des Grabes anhaftet. Es ist mit dem Körper nicht anders. Man muß ihn ehren und verteidigen, wenn es sich um seine Emanzipation und Schönheit handelt, um die Freiheit der Sinne, um Glück, um Lust. Man muß ihn verachten, sofern er als Prinzip der Schwere und der Trägheit sich der Bewegung zum Lichte entgegensetzt, ihn verabscheuen, sofern er gar das Prinzip der Krankheit und des Todes vertritt." (p. 351 f.) Es war oben schon erläutert worden, daß diese Revolte stets nur begrenzten Erfolg haben kann: Sie muß stets aufs neue wiederholt werden. Eine endgültige Überwindung der Kluft zwischen Leben-wollen und Sterben-müssen ist unmöglich. Aus diesem Grunde nennt Camus die Revolte gegen das Absurde selbst absurd. Der Terminus ,absurd' tritt bei Camus also äquivok auf, kein Wunder daher, daß der Zusammenhang des Absurden mit der Revolte schon vielen Fehldeutungen ausgesetzt war und sogar für Camus logische Schwierigkeiten bot (vgl. Essais, p. 1617). Wir wollen daher von nun an das Absurde der ersten Stufe vom Absurden der zweiten Stufe unterscheiden und können dann sagen: Die Revolte oder das Absurde der %'weiten Stufe ist der Widerspruch gegen das Absurde der ersten Stufe. In dieser Revolte nun entdeckt der Revoltierende seine Situation als die allen Beteiligten gemeinsame Situation. Die Weigerung, das Absurde anzuerkennen, hieß, wie wir gesehen haben, nichts anderes, als immer aufs neue die Unsicherheit der Orientierung in der Welt zu überwinden trachten. Das aber bedeutet, unter allen Umständen Verläßlichkeit im Reden und Handeln einzuführen, was keiner für sich allein garantieren kann. Verläßlich reden und handeln wollen heißt, zu gemeinsamen 26

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Handlungen entschlossen sein, genauer: zu für jeden einsichtig gemachten gemeinsamen Handlungen bereit sein. In L'homme révolté sagt Camus: „Die Revolte keimt auf beim Anblick der Unvernunft (das ist die dem Mißverständnis verhaftet gebliebene Situation), vor einem ungerechten und unverständlichen Leben." (Essais, p. 419) Der Revoltierende handelt und findet sich als Handelnder inmitten anderer vor, die er in der Revolte als seinesgleichen erkennen kann. Für Momente gelingt es, handelnd sich mit anderen zu identifizieren und so eine gemeinsame Basis zu finden. In der Revolte handelt der Mensch einen Spielraum aus, der nicht mehr bloß sein eigener ist, er erkennt die Einsamkeit des Menschen als eine allen gemeinsame Situation, die gelten zu lassen sie sich — je für sich und so gemeinsam — weigern. Camus formuliert : „Die Solidarität der Menschen gründet in der Bewegung der Revolte, und sie findet ihrereits die Rechtfertigung nur in dieser Komplizenschaft . . . Jede Revolte, die diese Solidarität leugnet oder zerstört, verliert sofort den Namen Revolte und fällt in Wirklichkeit zusammen mit einer Zustimmung zum Mord .. . Wir sehen hier den ersten Fortschritt, den der Geist der Revolte auf ein Denken ausübt, daß anfänglich von der Absurdheit und der scheinbaren Sterilität der Welt durchdrungen war. In der Erfahrung des Absurden ist das Leid individuell. Von der Bewegung der Revolte ausgehend wird ihm bewußt, kollektiver Natur zu sein ; es ist das Abenteuer aller. Der erste Fortschritt eines von der Befremdung befallenen Geistes ist demnach, zu erkennen, daß er diese Befremdung mit allen Menschen teilt und daß die menschliche Realität in ihrer Ganzheit an dieser Distanz zu sich selbst und zur Welt leidet. Das Übel, welches ein Einzelner erlitt, wird zur kollektiven Pest. In unserer täglichen Erfahrung spielt die Revolte die gleiche Rolle wie das ,Cogito' auf dem Gebiet des Denkens : Sie ist die erste Selbstverständlichkeit. Aber diese Selbstverständlichkeit entreißt den Einzelnen seiner Einsamkeit. Sie ist ein Gemeinplatz, die auf allen Menschen den ersten Wert gründet. Ich empöre mich, also sind wir („Je me révolte, donc nous sommes") (Essais, p. 431 f.) Mit dieser praktisch gewordenen Descartes'schen Einsicht — sie führt nicht zur Selbstgewißheit sondern zur Gemeinsamkeit — ist bereits der zweite Schritt getan, den ich in die These ,Die Revolte macht solidarisch' gefaßt habe. Durch den Übergang vom Denken zum Handeln, genauer: dadurch, daß man darauf achtet, daß die Erfahrung des Absurden erster Stufe praktische Konsequenzen hat, nämlich den stets aufs neue wiederholten Versuch, die Kluft zwischen Leben-wollen und Sterben-müssen zu

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überwinden, erfährt man sich in einer gemeinsamen, wiederum absurden Situation. Was in der Reflexion eine individuelle Erfahrung war, wird im Tun zwischen den Pausen der Reflexion zu einer kollektiven Erfahrung. Indes erinnert Camus am Ende des L'homme révolté noch an einen zweiten antiken Mythos, der sich als Bild für die Erfahrung der Revolte eignet: den Mythos von Prometheus. Konnte die individuelle Erfahrung durch die Gleichgültigkeit des Sisyphos gemeistert werden, so bewährt sich die kollektive Erfahrung der Revolte durch die Liebe des Prometheus. „On comprend alors que la révolte ne peut se passer d'un étrange amour" (Essais, p. 707). Das ist eine Liebe zwischen Menschen, die nur als andere Seite der Gleichgültigkeit begriffen werden kann und in dieser Form ihre vollendete literarische Gestalt im Roman La Peste erhalten hat. Nach Camus' eigenem Zeugnis liegt die unstreitige Entwicklung von L'Étranger zu La Peste „dans le sens de la solidarité et de la participation" (Essais, p. 758). Camus hatte geplant, auch die Werke des unausgeführten Tryptichons über das Maß ausdrücklich von der Liebe handeln zu lassen (cf. Essais, p. 1610). So wäre noch unterstrichen worden, wie Liebe und Gleichgültigkeit erst einander verständlich machen und so die Schönheit des Lebens in einer Welt der sinnlichen Gegenwart ohne Versprechungen für die Zukunft bedeuten, einer Schönheit, die Camus von seinem ersten Werk an immer wieder gepriesen und verteidigt hat. Auch hier wieder ist es dem Verständnis des thematischen und argumentativen Zusammenhangs im Camus'schen Oeuvre förderlich, sich zu vergegenwärtigen, daß die als Gegenseite der Gleichgültigkeit verstandene Liebe nur in der Verschmelzung von Ehre und Leidenschaft existiert, zweier Tugenden der absurden Haltung auf der zweiten Stufe, deren Entsprechung mit Askese und Genuß, den Erscheinungsweisen der Tugenden Ironie und Hellsicht der absurden Haltung auf der ersten Stufe, augenfällig ist. Der Ubergang zum dritten Schritt bereitet jetzt keine Schwierigkeiten mehr: Der Mord vernichtet die Revolte. Damit wird ausgedrückt, daß, ich zitiere wieder Camus, „jede Revolte, die diese Solidarität leugnet oder zerstört, sofort den Namen Revolte verliert und in Wirklichkeit zusammenfällt mit einer Zustimmung zum Mord." (Essais, p. 431) Dies ist die Stelle, an der mit jeder nur wünschenswerten Deutlichkeit Camus sein ,bis hierher, und nicht weiter' (jusqu-là oui, au-delà non, Essais, p. 423) als Antwort gegen die Maßlosigkeiten historischer und zeitgenössischer revolutionärer Bewegungen artikuliert. Das Scheitern aller 26·

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Arten von Revolutionen wird von ihm in subtilen Analysen auf die Verleugnung des Sinns der die Revolutionen ursprünglich leitenden Revolte zurückgeführt. Es hat ihm von selten der intellektuellen Linken den törichten Vorwurf des Abtrünnigen eingebracht. Auch der Bruch mit Sartre ist eine Folge der Publikation von L'homme révolté (cf. Essais, p. 1717 ff.). „Als sie der Unterdrückung eine Grenze steckte, jenseits welcher die allen Menschen gemeinsame Würde beginnt, bestimmte die Revolte einen ersten Wert. Sie setzte an die erste Stelle eine durchsichtige Komplizenschaft der Menschen untereinander, ein gemeinsames Band, die Solidarität der Kette, die die Menschen einander ähnlich macht und verbündet. So ließ sie den mit einer absurden Welt ringenden Geist einen ersten Schritt vorwärts tun . . . Wenn ein einziger Mensch tatsächlich getötet wird, verliert der Revoltierende auf gewisse Weise das Recht, von der Gemeinschaft der Menschen zu sprechen, von der er indes seine Rechtfertigung ableitet. Wenn diese Welt keinen höheren Sinn, der Mensch nur den Menschen als Bürgen hat, genügt es, daß ein Mensch ein einziges Wesen aus der Gesellschaft der Lebenden ausschließt, um selbst von ihr ausgeschlossen zu sein." (Essais, p. 684f.) Daher ist es die entscheidende dritte Erfahrung, daß die Revolte nur in der Begrenzung sich aufrechterhalten läßt: Sie bildet den Anfang eines neuen Ethos, einer ,Philosophie der Grenzen', wie Camus sagt (Essais, p. 693), nämlich des Maßhaltens im Sinne der antiken, von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik entfalteten μεσάτης die in jeder Situation neu bestimmt werden muß und die niemals vorweggenommen werden kann. Die Revolte ist das Maßhalten. „Die Revolte ist keineswegs eine Forderung nach vollständiger Freiheit. Im Gegenteil, die Revolte macht der vollständigen Freiheit den Prozeß. Sie bestreitet gerade die unbegrenzte Macht, die einem Höheren gestattet, die verbotene Grenze zu verletzen. Weit entfernt, eine allgemeine Unabhängigkeit zu fordern, will die Revolte die Anerkennving der Tatsache, daß die Freiheit überall da eine Grenze habe, wo sich ein menschliches Wesen befindet, denn die Grenze ist eben die Macht der Revolte dieses Wesens. Hier liegt der tiefe Grund der Unnachgiebigkeit der Revolte. Je mehr die Revolte das Bewußtsein hat, eine gerechte Grenze zu fordern, um so unbeugsamer ist sie. Der Revoltierende verlangt ohne Zweifel eine gewisse Freiheit für sich selbst, aber keinesfalls, wenn er konsequent ist, das Recht, das Wesen und die Freiheit des anderen zu vernichten. Er demütigt niemanden. Die Freiheit, die er fordert, fordert er für alle; diejenige, die er ablehnt, verbietet er allen. Er ist nicht nur

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Sklave gegen den Herrn, sondern auch Mensch gegen die Welt von Herrn und Knecht." (Essais, p. 687f.) In der Revolte werden Freiheit und Gerechtigkeit, also die in der absurden Situation erfahrene Selbständigkeit und das daraus folgende Beharren auf transsubjektivem Handeln gegenseitig begrenzt. Achtete der Anspruch auf Transsubjektivität nicht auf seine nur begrenzte Erfüllbarkeit — die Situationen eines Jeden sind in handlungsrelevanten Zügen stets sowohl gleich als auch verschieden —, wäre die Freiheit des Einzelnen von der Durchsetzung einer allgemeinen Gerechtigkeit bedroht. Ganz analog würde die Verletzung der Grenzen je eigener Selbständigkeit eine allgemeine Freiheit fordern, die den Anspruch des Einzelnen auf Gerechtigkeit gefährdete. „Wenn die von der Revolte entdeckte Grenze alles verwandelt, wenn jedes Denken, jede Tat, die einen gewissen Punkt übersteigt, sich selbst verneint, gibt es tatsächlich ein Maß der Dinge und des Menschen . . . Ich brauche die anderen, und sie brauchen mich und einen jeden. Jedes kollektive Handeln, jede Gesellschaft setzt eine Disziplin voraus; ohne dieses Gesetz ist das Individuum nur ein Fremdling, der vom Gewicht einer feindlichen Gemeinschaft niedergebeugt wird. Doch Gesellschaft und Disziplin werden richtungslos, wenn sie das ,wir sind' leugnen. In gewissem Sinn trage ich allein die gemeinsame Würde, die ich weder in mir noch in anderen schmälern lassen kann." (Essais, p. 697, 700) Dieses neue Ethos einer möglichen Philosophie der Grenzen, dem von Camus der Mythos von der Nemesis zugedacht war (vgl. Tagebuch 42—51, p. 278), bezeichnet Camus in Anknüpfung an ihren antiken Ursprung ausdrücklich als mittelmeerisches Denken. Das menschliche Maß ist nicht etwa vorab fixiert, vielmehr ist es in der Revolte gegen deren stets bereitliegende Tendenz zur Maßlosigkeit allererst herzustellen. Und das allein ist das Zeichen einer menschlichen Ordnung, „où toutes les réponses soient humaines, c'est-à-dire raisonnablement formulées" (Essais, p. 430). Der von der Revolte nicht ein für allemal, sondern stets erneut eroberte überaus verletzliche menschliche Spielraum beweist : „II y a donc, pour l'homme, une action et une pensée possibles au niveau moyen qui est le sien" (Essais, p. 705). Es gehört zum Gesetz des Maßes (loi de la mesure), daß weder das Wirkliche (le réel) gänzlich vernünftig, noch das Vernünftige (le rationnel) gänzlich wirklich ist (cf. Essais, p. 698) : Die Revolte kann der absurden Wirklichkeit nur einen begrenzten Sinn abtrotzen. Dazu bedarf es des berechneten, aber unsicheren Wagnisses, in dem sich Mut und Intelligenz vereinigen und so die nur zugleich aus Liebe und Gleichgültigkeit bestehende menschliche Ordnung in ihren

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Grenzen errichten. Daher ist es als Resultat der dritten Erfahrung richtig, schließlich zu sagen, daß die Revolte gegen das Absurde der ersten Stufe zugleich als Revolte gegen ihre eigene unvermeidliche Maßlosigkeit, das Absurde der dritten Stufe, begriffen werden kann. So ist Töten maßlos, weil der menschliche Spielraum aufgehoben wird, Sterben hingegen ein Maß, das beim Leben-lernen im vergeblichen Widerstand gegen das Sterben-müssen aufgestellt wird. Als Résumé dieser sieben Schritte möge noch einmal Camus aus seinem L'homme révolté zu Wort kommen: „Das Maß ist nicht das Gegenteil der Revolte. Die Revolte ist das Maß, sie befiehlt es, verteidigt es und erschafft es neu durch die Geschichte und ihre Wirren hindurch. Gerade die Herkunft dieses Wertes bürgt dafür, daß er nicht anders sein kann als zerrissen. Das Maß, der Revolte entstammend, kann nur durch die Revolte erlebt werden. Es ist ein ständiger Konflikt, den der Geist ohne Ende hervorruft und meistert. Es siegt weder über das Unmögliche noch über den Abgrund, es hält ihnen die Waage. Was immer wir tun, die Maßlosigkeit wird stets ihren Platz im Herzen des Menschen bewahren, wo die Einsamkeit beheimatet ist. Wir tragen alle unsere Kerker, unsere Verbrechen und Verheerungen in uns. Doch unsere Aufgabe ist es nicht, sie in der Welt zu entfesseln, sondern sie in uns und in den anderen zu bekämpfen." (Essais, p. 704) Von ,Die menschliche Situation ist absurd' über ,Die Revolte ist absurd' sind wir angekommen bei ,Die Maßlosigkeit ist absurd', einer dreifachen Bestimmung des Absurden, deren Verwechslung die CamusInterpretation weithin beherrscht (vgl. Wege der deutschen CamusRezeption, ed. H. R. Schiette, und die dort angegebene Literatur) und daher ein angemessenes Verständnis des Zusammenhangs der Camus'schen Argumentationen empfindlich beeinträchtigt hat.

Literatur A. Camus, Essays (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1965 Α. Camus, Théâtre Récits Nouvelles (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1962 A. Camus, Tagebuch Januar 1942 —März 1951, Hamburg 1967 (Paris 1964) I. Kant, Werke in sechs Bänden (ed. W. Weischedel), Darmstadt 1956—64 Wege der deutschen Camus-Rezeption (ed. H. R. Schiette), Darmstadt 1975 Th. Mann, Der Zauberberg, Stockholm 1939 J . W. Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: G.'s Werke, Bd. VI, Hamburg 1951.

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Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung? (Existentialismus, Piatonismus oder transzendentale Sprachpragmatik?) I Die Titelfrage meines Essays geht zurück auf ein Thema der sogenannten Existenzphilosophie; aber es geht in ihr nicht primär um ein „existenzielles" Problem. Ginge es mir primär um ein „existenzielles" Problem, so müßte die Titelfrage wohl eher lauten: „Ist der Tod eine Bedingung der Möglichkeit von Lebern-Bedeutsamkeit — oder: von Lebens-Sinn?" Man könnte dann die Frage etwa folgendermaßen explizieren: Wie immer es um die allgemein verständlichen Bedeutungen der Wörter unserer Sprachen bestellt sein mag: ist nicht die für mich relevante Bedeutsamkeit, die ich den Wörtern als Worten im Situationskontext der Lebenswelt entnehmen kann, davon abhängig, daß mein Leben ein endliches ist, daß meine Möglichkeiten der konkreten Sinn-gebung für alles, was ich als relevant erleben kann, immer schon durch die unüberschreitbare Möglichkeit meines Todes mitbestimmt sind ? — Primär mit Bezug auf diese „existenzielle" Fragestellung — so scheint es — hat Simone de Beauvoir in ihrem großartigen und bestürzenden Roman „Alle Menschen sind sterblich"1 zu zeigen versucht, daß ein fiktiver Unsterblicher der Welt keinen Lebens-Sinn mehr abzugewinnen vermag, genauer: daß er in eben dem Maße, in dem er im Laufe der Geschichte seine Unsterblichkeit realisiert, das Interesse an der Lebenswelt der sterblichen Menschen, und damit, trotz Erhaltung der Sprachkompetenz, auch die Fähigkeit zur echten Kommunikation mit ihnen verlieren muß. Schon bei der Lektüre des Romans der S. de Beauvoir ist man indessen als pedantischer Philosoph geneigt, die folgende Frage aufzuwerfen: 1

Simone de Beauvoir, Tous Us hommes sont mortels, Paris 1946, dtsch. Reinbek 1970.

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Müßte nicht der Held des Romans — ein Graf Foska, der im 14. Jahrhundert bei der Verteidigung seiner Residenz Carmona in Italien ein Unsterblichkeitselixier zu sich nahm —, müßte nicht dieser fiktive Unsterbliche im Laufe der Jahrtausende auch die Fähigkeit zum Verständnis der Wortbedeutungen menschlicher Sprachen verlieren; und müßte er damit nicht auch das sprachvermittelte Verständnis des Unterschiedes von Sterblichkeit und Unsterblichkeit (Endlichkeit und Unendlichkeit) und somit am Ende auch das für ihn so verhängnisvolle Bewußtsein seiner Unsterblichkeit wieder verlieren ? An dieser Stelle muß man freilich auf der Hut sein, um den rechten Übergang vom romanhaft-fiktiven ins philosophische Denken nicht zu verfehlen: Mit dem Verlust des Unsterblichkeitsbewußtseins würde nämlich der Held nicht etwa den Stand menschlicher Naivität und kindlicher Lernfähigkeit wiedererlangen — so etwa wie dies nach G. B. Vico für die menschliche Kulturgeschichte durch einen „ricorso" nach der endzeitlichen „Barbarei der Reflexion" möglich sein soll. Vorbedingung für einen solchen „ricorso" würde ja im Fall Foskas sein, daß der Held zugleich mit dem bedeutungsvermittelten Bewußtsein seiner Unsterblichkeit auch diese selbst wieder verlieren könnte. Dies aber ist gegen die Voraussetzung des Romans. Mit anderen Worten: Das „Sein zum Tode", das jedes menschliche Leben von Geburt an konstituiert und das mit der möglichen Lebensbedeutsamkeit zugleich auch die möglichen Wortbedetuungen erlernbarer Sprachen mitbedingt: diese Endlichkeit des menschlichen Daseins könnte der Held des Romans auch mit dem Verlust seines Unsterblichkeitsbewußtseins nicht restituieren. Was er also mit dem Verlust des bedeutungsvermittelten Unsterblichkeitsbewußtseins verlieren würde, wäre nicht nur das verhängnisvolle Bewußtsein der Unsterblichkeit, das ihn von allen Mitmenschen mehr und mehr getrennt hatte, sondern damit zugleich auch und allererst die Fähigkeit zum Bedeutungsverständnis, die ihn — wenigstens im Roman — bis zuletzt noch in tragischer Weise mit den andersartigen sterblichen Menschen verbunden hatte. Der Grund dafür aber wäre folgender: Auch das sprachlich vermittelte Bedeutungsverständnis, das den Romanhelden bis zuletzt in den Stand setzt, seine Unsterblichkeit zu verstehen und darunter zu leiden, daß er der menschlichen Lebenswelt keine existentielle Bedeutsamkeit mehr abgewinnen kann, gründet letztlich selbst noch in jener Endlichkeit des Daseins, die der Held in seiner Jugend einmal mit allen Menschen geteilt hatte. Erst mit dem Verlust des Bedeutungsverständnisses und damit allerdings auch des Unsterblichkeitsbewußtseins würde das realisiert sein, was der Roman vielleicht andeuten soll, aber mit seinen Mitteln nicht mehr beschreiben kann : daß

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mit der Voraussetzung der Endlichkeit, des Seins zum Tode, auch die Idee eines bedeutungsvermittelten Welt- und Selbstbewußtseins sich auflöst. Daß es für uns keine denkbare Brücke der Kommunikation mit unsterblichen Wesen gibt, ist schon eine Voraussetzung des christlichen Zentralmythos; denn seine paradoxe Genialität, die ihn von den heidnischen Mythen ebenso wie vom reinen Monotheismus der Juden und Mohammedaner unterscheidet, Hegt doch wohl darin, daß der überweltliche Gott Mensch wird, um durch Teilnahme am Schicksal der Endlichkeit die Menschen mit sich zu versöhnen. Aber nicht nur solche existenzielle Teilhabe am menschlichen Schicksal setzt Teilhabe an der menschlichen Endlichkeit voraus, sondern auch schon das begriffliche Denken als solches. Im Sinne unserer philosophischen Interpretation des Romans der S. de Beauvoir besagt dies: Nicht nur jede interessenvermittelte „Bedeutsamkeit" der Lebenswelt je für mich verschwindet zugleich mit der Struktur „Sorge", d. h. mit dem „Sich-vorweg-sein" des endlichen Menschen, der zu seinem Tode als zu seiner eigensten, unüberholbaren Möglichkeit vorlaufen und von dieser Möglichkeit her auf die Welt als verstehbare Situation zurückkommen kann: zugleich mit dieser Bedingung der Möglichkeit von „existenzieller" Bedeutsamkeit verschwindet auch die „existenziale" Bedingung der Möglichkeit von sprachlich artikulierbaren Bedeutungen, also auch von begrifflichen Bedeutungen, also auch von Begriffen wie Nichtendlichkeit, Unendlichkeit oder Ewigkeit; auch sie setzen zu ihrer Konstitution die Daseins- und Verstehensperspektive eines endlichen Wesens voraus. Kurz: die Endlichkeit oder das „Sein zum Tode" ist eine quasi-transzendentale, sc. existen^iale Bedingung der Möglichkeit des Seinsverständnisses im vorontologisch-alltäglichen und im ontologisch-philosophischen Sinn. Ich habe damit die Titelfrage meines Essays im Sinne einer Grundthese von Martin Heideggers Buch „Sein und Zeit" verdeutlicht. Ich möchte sie im folgenden die Endlichkeitstbese nennen. Erst mit dieser Verdeutlichung — so scheint mir — wird die Frage zu einer Herausforderung an die Philosophie und damit zu einem Gegenstand der kritischen Diskussion. Möchte man es nämlich noch als psychologisch plausibel hinnehmen, daß jemand, der weiß, daß er auf ewige Zeit hin zum Leben verdammt ist, der menschlichen Lebenswelt für sich keinen Sinn, d. h. keine existentielle Bedeutsamkeit, abgewinnen kann, so scheint es doch mit der philosophischen Tradition unvereinbar zu sein, daß das kontingente Faktum, daß jeder Mensch sterben muß, Bedingung der Möglichkeit für ein ontologisches Bedeutungsverstehen, also eine quasi-

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transzendentale Voraussetzung für die a priori objektive Gültigkeit allgemeiner Begriffe, sein soll. Ja, selbst mit Bezug auf die objektive Gültigkeit empirisch-allgemeingültiger Begriffe ist die These ihrer „subjektiven" Bedingtheit durch die Endlichkeit der menschlichen Existenz befremdlich ; denn schon ihre Bedeutung ist als schlechthin zeitlos und für jedermann gültige die Voraussetzung eines ebenso zeitlos und intersubjektiv gültigen Wahrheitsanspruchs von (sprachlich formulierten) Urteilen. II Es liegt nun nahe, in dieser Problemsituation auf die, aus dem Psycholoffsmus-Yciâikt der Logiker hervorgegangene, Unterscheidung zwischen „context of discovery" und „context of justification" zurückzugreifen und die Endlichkeitsthese Heideggers samt allen übrigen Ansprüchen der sog. Existenzphilosophie als lediglich für die psychologische Genese von Bedeutung relevant zu betrachten. Demgegenüber könnte man die Bedingung der Möglichkeit der allgemeinen, intersubjektiven Gültigkeit der begrifflich definierbaren Wort-Bedeutungen (und der durch sie ermöglichten wahren Aussagen !) eher in einem außer^eitlichen, ja außerrealen Bereich rein objektiver Sinn-Geltung suchen. Wir hätten damit die platonische Tradition der abendländischen Philosophie, wie sie — mutatis mutandis — über Bolzano, Frege und den frühen Husserl, wenn ich recht sehe, bis zum späten K. Popper reicht, als Antithese zur Endlichkeitsthese Heideggers aufgeboten und damit recht eigentlich die Tragweite unserer Fragestellung sichtbar gemacht. Bevor wir jedoch in die „Gigantomachia" der „philosophia perennis" eintreten, seien noch einige Bemerkungen zur Präzisierung der Endlichkeitsthese vorausgeschickt. Es scheint mir nicht unwichtig, daran zu erinnern, daß der historische Piaton nicht nur der Ahnherr der Lehre vom außerzeitlichen und außerrealen Ort der „ewigen", idealen Bedeutungen und der in ihnen begründeten „ewigen" Wahrheit des „Logos" ist, sondern darüber hinaus auch der Antipode der Existenzphilosophie hinsichtlich der Einschätzung der existenziellen Relevanz des Todes. Bei ihm nämlich wird nicht nur die objektive Gültigkeit der Erkenntnis der Ideen von den leiblich-endlichen Bedingungen menschlicher Wahrnehmungen geschieden, sondern darüber hinaus wird auch die faktisch-psychologische Möglichkeit der Entdeckung der Ideen und ihrer Beziehungen an das subjektive Vermögen der „Anamnesis" an die leibfreie Präexistenz der Seele geknüpft. Im „Phaidon" kann daher das leibhafte „Sein zum Tode" nicht nur als

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irrelevant für die Konstitution (des Bedeutungsgehalts) der Ideen, sondern geradezu als Haupthindernis der reinen Ideenschau, als zeitweilige Gefangenschaft nämlich der zur Ideenschau befähigten unsterblichen Seele im Kerker des sterblichen Körpers, betrachtet werden. Der Tod ist demnach nicht, wie bei Heidegger, als „drohender Bevorstand" menschlicher Endlichkeit Bedingung der Möglichkeit alles Verstehens von Bedeutung; er ist vielmehr gerade als nicht mehr bevorstehender, sondern eingetretener Tod, als zu wünschende Befreiung vom Status leibgebundener Endlichkeit, die ideale faktisch-psychologische Bedingung der Ideen-Erkenntnis — gewissermaßen im Sinne eines postexistenziellen „context of discovery". Und insofern ist er zumindest für den Philosophen kein Anlaß der Angst vor dem schlechthinnigen Nichtsein. Im christlichen Piatonismus ist auch diese Einschätzung des Todes zusammen mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele verbindlich geblieben und bildet insofern die selbst noch „existenzielle" Alternative zur existenzphilosophischen Bejahung der Endlichkeit. Ich möchte nun aber annehmen, daß in der Argumentation der modernen Vertreter der („platonischen") Lehre vom außerzeitlichen und außerrealen Ort der idealen Bedeutungen und der in ihnen begründeten Wahrheit des „Logos" der skizzierte psychologische oder existenzielle Piatonismus keine Rolle spielt. Vielleicht könnte man sogar unterstellen, daß die modernen Platonisten — wegen der für sie maßgeblichen Unterscheidung zwischen erkenntnis-psychologischem „context of discovery" und erkenntnis-logischem „context of justification" — hinsichtlich der existenziellen Einschätzung des Todes die Position J. P. Sartres und S. de Beauvoirs akzeptieren und gleichwohl an der Voraussetzung der außerzeitlichen und außerrealen Geltungsbedingungen von Bedeutung und Wahrheit festhalten würden. Wie dem auch sei. Mit Heideggers Endlichkeitsthese wäre jedenfalls ein solcher Lösungsvorschlag nicht vereinbar. Vielmehr kann er allenfalls die Voraussetzung einer erneuten Präzisierung der Endlichkeitsthese und damit auch unserer Fragestellung liefern. Auch Heidegger nämlich versichert, daß seine These hinsichtlich der existentiellen Bewältigung der Todesgewißheit, und damit auch hinsichtlich der metaphysisch oder theologisch begründeten Hoffnung auf ein „Leben nach dem Tode" — nichts präjudiziere, wenngleich zunächst einmal die „existenziale" Struktur des „Seins zum Tode" als Verhältnis zur „unüberholbaren Möglichkeit" unserers „In-der-Welt-seins" phänomenologisch akzeptiert werden müsse. Damit zugleich distanziert Heidegger auch die psychologische Problematik der persönlichen Einschätzung

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des Todes und der damit zusammenhängenden je persönlichen Einschätzung der Lebens-Bedeutsamkeit als irrelevant für seine „fundamental-ontologische" Fragestellung. Es geht Heidegger nicht um die Frage, was sich empirisch-psychologisch über die Todeseinschätzung als Motiv der Lebenssinngebung oder Lebensbewertung ausmachen läßt; es geht ihm vielmehr um die Frage, ob und inwiefern die Endlichkeit des Daseins vorausgesetzt werden muß, wenn bzw. damit etwas in der Welt für uns „als etwas" „bedeutsam" sein kann. In der Tat scheint mir die Heideggersche Frage nach den („existenzialen") Bedingungen der Möglichkeit von „Bedeutsamkeit" (im Sinne des „vorontologischen Seinsverständnisses"), und damit zugleich nach den Bedingungen der Möglichkeit von sprachlich artikulierbaren Bedeutungen, ebensowenig wie die (vorausgegangene und durch Heidegger radikalisierte) Frage des späten Husserl nach den noetisch-noematischen Bewußtseinsbedingungen der von uns meinbaren idealen Bedeutungseinheiten auf eine psychologische Fragestellung im Sinne des „Psychologismus"-Verdikts der modernen Logik reduzierbar zu sein. Anders gesagt: die Frage wird durch die analytische Disjunktion zwischen „context of discovery" und „context of justification" nicht betroffen. Es handelt sich hier m. E. vielmehr um einen Teilaspekt der transzendentalen Fragestellung Kants, der in Kants Frage nach den Konstitutionsbedingungen objektiver Geltung noch nicht als Frage nach den notwendigen Bedingungen der Sinn-Konstitution von der Frage nach den notwendigen Bedingungen der intersubjektiven Sinn- und Wahrheitsgeltung unterschieden wurde. Im Sinne dieser zu fordernden Unterscheidung ist es m. E. durchaus möglich, subjektiv-existen^iale Bedingungen als denknotwendige Voraussetzungen der Verstehbarkeit von Bedeutungen anzugeben, die von empirisch-psychologischen Motiven ebenso scharf zu unterscheiden sind wie von den notwendigen Bedingungen der intersubjektiven Geltung von Sinn (die allerdings nicht subjektiv existenzialer Natur sein können). Zu nennen wäre hier z. B. die von Kant unterstellte synthetische „Einheit der Apperzeption" qua kognitive Einheit des jemeinigen Gegenstandsbewußtseins und Selbstbewußtseins, ferner — über die Transzendentalphilosophie des Bewußtseins hinausgehend — das (in Kants Apriori der „reinen Sinnlichkeit" versteckte) Leibapriori als Bedingving der Möglichkeit von Gesichtspunkten oder Verständnisperspektiven, ferner das Apriori erkenntnisleitender Interessen als interner Bedingungen der Möglichkeit des Sinns wissenschaftlicher Fragestellungen, u. s. w. In diesen hier nur unzureichend angedeuteten Problemzusammenhang existenzialer (oder — in einem Sinne präempirischer Kontingenz — erkenntnisanthro-

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pologischer) Voraussetzungen der Konstitution einer verstebbaren Erfahrungswelt wäre m. E. auch das Apriori der jemeinigen Endlichkeit (des je mir bevorstehenden Todes) als Bedingung der Möglichkeit ¿1er Konstitution für ms verstebbarer und sprachlich artikulierbarer Welt-Bedeutsamkeit einzuordnen. Mit der Unterscheidung zwischen zwei Aspekten der transzendentalen Fragestellung, der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Konstitution der Verstebbarkeit von Bedeutung und der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der intersubjektiven Gültigkeit von (begrifflich definierbarer) Bedeutung (und in ihr gegründeter Wahrheit von Urteilen), habe ich indessen die Möglichkeit einer philosophischen Position angedeutet, die nicht nur von der des modernen logizistischen Platonismus, sondern auch von der Heideggers abweicht. In der Tat scheint mir die Existenzial- bzw. Fundamentalontologie von „Sein und Zeit" zwar die vom platonistischen Logizismus übersehene Frage nach der subjektivexistemjalen Konstitution verstehbarer „Bedeutsamkeit", und insofern auch sprachlich artikulierbarer Bedeutungen, zu beantworten, nicht aber die Frage nach den Gründen der Möglichkeit intersubjektiv giltiger Bedeutung. (Sehr deutlich wird dies an Heideggers berühmter Theorie der Wahrheit qua Offenbarkeit, in der nach seinem eigenen späten Eingeständnis eher eine sinnkonstitutive Vorbedingung möglicher Wahrheit und Falschheit als schon das Konstituens der Wahrheit selbst entdeckt wurde2.) Daraus scheint mir für unser Problem zu folgen, daß die Endlichkeitsthese Heideggers auch noch nicht die ganze Antwort auf die Frage nach den transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Bedeutung darstellen kann. Das Sein zum Tod, d. h. zum Nichtsein als der unüberholbaren Möglichkeit unseres Daseins, dürfte sehr wohl eine notwendige Voraussetzung der Konstitution aller für uns verstehbaren Bedeutungsgehalte sein — auch z. B. der Verstehbarkeit von „ist" und „ist nicht", ungeachtet der Explikation der Kopula „ist" und des Junktors „nicht" in der zur formalen Logik gehörigen Semantik. Gleichwohl ist damit noch nicht die Frage nach den Gründen der Möglichkeit der — in aller diskursiven Argumentation vorausgesetzten — %eitunabhängigen und schlechthin intersubjektiven Geltung von sprachlich artikulierten Bedeutungen beantwortet. Aber muß bzw. darf man zur Beantwortung dieser Frage auf einen außerzeitlichen und außerrealen, somit auch vom Subjekt des Verstehens gänzlich geschiedenen Seinsbereich rekurrieren ? 2

Vgl. M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 76f. Hierzu K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Frankfurt a. M. 1973, Bd. I, Einleitung, S. 42f.

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Ich möchte diese letztere Frage verneinen und die immer wieder in der Philosophiegeschichte aufgetretene platonistische Lösung der Geltungsfrage auf einen abstraktiven Fehlschluß zurückführen. Sehr deutlich scheint mir die Struktur dieses Fehlschlusses an dem folgenden Argument zu werden, das sich z. B. bei Thomas von Aquin und bei Bolzanofindet: Man geht aus von der m. E. richtigen und für die Geltungsfrage zentralen Feststellung, daß der mögliche Sinn und die mögliche Wahrheit einer theoretischen Aussage unabhängig davon gelten, ob irgendeinem Zeitpunkt die Aussage tatsächlich gemacht wird. Von dieser Feststellung gelangt man dann zu der metaphysischen These, daß Sinn und Wahrheit eines Satzes unabhängig davon bestehen, ob es überhaupt so etwas wie menschliche Erkenntnis und ihre sprachlichen Formulierungen gibt oder nicht. In dieser Folgerung (Ubersteigerung der Unabhängigkeitsthese) scheint mir ein abstraktiver Fehlschluß zu liegen, der historisch (z. B. bei Thomas und Bolzano) dadurch verständlich wird, daß man auch bei vollständiger Abstraktion von der menschlichen Existenz immer noch den „intellectus divinus" als Subjekt der ewigen Ideen bzw. Wahrheiten unterstellt. (Max Scheler hat diese Voraussetzung der platonistischen Bedeutungsund Wahrheits-Konzeption so klar gesehen, daß er aus der unaufgebbaren Voraussetzung der Existenz von Wahrheit einen besonderen Beweis der Existenz Gottes ableitete.) Befremdlicher wird der abstraktive Fehlschluß, wenn man — wie in der modernen Sprachlogik — ausdrücklich von theologisch-metaphysischen Voraussetzungen Abstand nimmt und gleichwohl, unter vollständiger Abstraktion von der sog. „pragmatischen Dimension" der ZeichenInterpretation durch ein verstehendes Subjekt, zu einem ontologisch relevanten, rein semantischen (extensionalen und eventuell sogar intensionalen) Begriff der Zeichen-Bedeutung und der Satz-Wahrheit gelangen möchte. Genau dies geschieht m. E., wenn man, gemäß der schon erwähnten Unterscheidung von „context of discovery" und „context of justification", die sogenannte „pragmatische" Dimension der Sprache zu einem bloß empirisch-psychologisch relevanten Thema erklärt, von dem in einer philosophischen Bedeutungs- bzw. Wahrheitstheorie abstrahiert werden kann. Aus der technisch relevanten Tatsache, daß man in der Logik möglicher semantisch interpretierter Satzsysteme von der Frage, ob und gegebenenfalls wie diese Systeme durch Menschen gebraucht werden, abstrahieren kann, schließt man jetzt, daß Begriffe wie Bedeutung („reference" und „meaning") und Wahrheit unabhängig davon in ihrem Sinn expliziert werden können, ob es überhaupt eine pragmatische Dimension des Sprachgebrauchs (z. B. der Zeichen-„Referenz" als des deiktisch

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vollziehbaren Meinens von etwas als etwas) gibt. Eben dieser abstraktive Fehlschluß kommt m. E. schon darin implizit zum Ausdruck, daß man die Frage nach den normativ verbindlichen (also nicht empirisch sozialpsychologischen) Bedingungen der Möglichkeit von wissenschaftlich gültigen Bedeutungen von Aussagen, ja sogar von Fragen und sog. „objektiven Problemsituationen", durch Rekurs auf eine prizipiell subjektfreie Sphäre des „objektiven Geistes", ζ. B. in einer „epistemology without a knowing subject", glaubt beantworten zu können3. Wenn aber die platomstiscbe Lösung der Geltmgsfrage auf einem abstraktiven Feblscbluß beruht und die Heideggersche Existenzialontologie nur notwendige Bedingungen der subjektiven Verstehbarkeit von Bedeutungen zu Tage fördern kann: welche Lösung läßt sich dann für das Problem der zeitunabhängigen und schlechthin intersubjektiven Geltung von Bedeutungen überhaupt ins Auge fassen? — Nach unseren bisherigen Überlegungen muß die Lösung offenbar die beiden folgenden Bedingungen erfüllen: 1. Sie muß einerseits, zur Vermeidung der skizzierten „abstractive fallacy", das Subjekt des Verstebens von Bedeutungen mit ins Spiel bringen (d. h. sie muß, als Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Bedeutung, im Rahmen des Kantschen Ansatzes der Transiçendentalphilosopbie bleiben, der sich nicht auf den einer logseben Semantik von Sätzen oder Sat^systemen verkürzen läßt). 2. Die Lösung muß aber andererseits das Motiv des immer wieder sich erneuernden Piatonismus berücksichtigen, und das besagt insbesondere : sie kann die yeitunabhängige und schlechthin intersubjektive Geltung von Bedeutung (und in ihr sich gründender Wahrheit von Aussagen) nicht auf eine „existenziale" Bedingung zurückführen, die — wie ζ. B. das „Sein zum Tod" oder das „den Leib Sein" qua Bedingung der Möglichkeit von Sinn-Perspektiven — in der zeitlichen Verendlichung und subjektiven Vereinzelung des menschlichen Individuums ihren Ursprung hat und diesen Ursprung in keiner Weise transzendiert. Diese beiden, einander zumindest polar entgegengesetzten Forderungen legen m. E. die folgende Frage nahe : Gibt es eine einheitliche Instanz, im Sinne der transzendentalen Bedingungen von Bedeutung, die einerseits existenzial in jedem einzelnen endlichen und leibhaften VerstehensSubjekt verwurzelt ist, andererseits jedoch als Bedingung der Möglich3

Vgl. K. R. Popper, Objektive Knowledge, Oxford 1972, Ch. 3 und 4.

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keit intersubjektiver Sinn-Geltung jede subjektive Vereinzelung und Verendlichung notwendigerweise transzendiert ? Diese Frage ist m. E. zu bejahen. Die gesuchte Instanz ist die menschliche Sprache; sie wäre als einheitliches Sprachapriori sowohl unter den

existentiellen Bedingungen der Möglichkeit der Bedeutmgs-Konstitution wie andererseits unter den nicht logseb-semantiseb

verkürzten Bedingungen der

Möglichkeit von intersubjektiver Geltung von Bedeutung zu berücksichtigen. Die zu diesem Zweck zu postulierende philosophische Disziplin sollte m. E. „transzendentale Sprachpragmatik" heißen. Sie müßte in der Lage sein, Heideggers Endlichkeitsthese mit dem berechtigten Anliegen der, noch vorsprachlich konzipierten, platonischen Ideenlehre zusammen und zur Versöhnung zu bringen. m Zur Ausführung dieses Programms kann ich hier nur einige fragmentarische Andeutungen machen, die sich unmittelbar auf die zur Diskussion stehende Endlichkeitsthese beziehen: 1. Es ist bemerkenswert (und geht über die bislang eingeführten Diskussionsvoraussetzungen hinaus), daß schon die Verstehbarkeit von Bedeutungen je für mich nicht nur von den Endlichkeitsbedingungen der Konstitution des Bedeutungsgehalts im Sinne Heideggers abhängt, sondern auch zugleich von der a priori notwendigen Vermittlung der Bedeutungen als Zeichen-Bedeutungen durch das a priori intersubjektive Geltungsmedium einer Sprache. Ein Tier kann eben deshalb seinen Tod nicht verstehen und kein Endlichkeitsbewußtsein besitzen. Dies macht es verständlich, daß sogar im Falle der strikt subjektiven bzw. existenziellen Referen% das Verständnis der Wort-Bedeutungen nicht das von „private ideas" (J. Locke) sein kann. Daher gilt: Jeder hat seinen Tod zu sterben, so wie jeder seinen Schmerz zu erleiden hat; aber es gibt kein bloß privates Verständnis von „Tod", so wie es auch kein bloß privates Verständnis von „Schmerz" gibt. Denn es gibt keine „Privatsprache" (Wittgenstein). Gleichwohl muß „Tod" bzw. „Schmerz" existenziell „eigentlich" so verstanden werden, daß jeder „eigentlich" Verstehende auf seinen unvertretbaren „Tod" bzw. „Schmerz" verwiesen wird (Heidegger). Die Sprache als Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von „Tod" bzw. „Schmerz" macht sowohl das intersubjektiv gültige wie das existenziell bezogene Verständnis von „Tod" bzw. „Schmerz" möglich; sie gibt Wittgenstein und Heidegger recht.

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2. Es verhält sich indessen keineswegs so, daß die Sprache selbst, als Medium intersubjektiver Geltung von Bedeutung, als unabhängig von der existenzialen Voraussetzung der menschlichen Endlichkeit gedacht werden könnte — so, wie dies mit Bezug auf das platonische Ideenreich in der Tradition unterstellt wird. Dagegen spricht schon die faktische, und darüber hinaus prinzipiell mögliche, Vielzahl der Sprachen. Das Prinzip der Sprachen-,»Verschiedenheit" (W. v. Humboldt) unterwirft gleichsam das für uns denkbare Medium der intersubjektiven Geltung von Bedeutung selbst noch einmal dem durch Sprache allein aufzuhebenden Prinzip der Individuation und damit der Endlichkeit. (Das gilt auch — im Sinne des Carnapschen Toleranzpcinzips — für semantisch geregelte Konstruktsprachen. Bei ihnen wird sogar das Prinzip der Sprachen- Verschiedenheit zum Prinzip der Inkommensurabilität, wenn von der natürlichen Sprache als pragmatisch letzter Metasprache abstrahiert wird!). Für die Verwurzelung der Sprache in der Endlichkeit des menschlichen Daseins spricht auch der interne Zusammenhang zwischen Sprach-Apriori und Leib-Apriori. (Die Engel bedürfen der Sprache nicht nach der Lehre von Thomas von Aquin und Dante Alighieri.) 3. Dennoch folgt aus der Endlichkeit, Leibgebundenheit und daher Verschiedenheit möglicher Sprachen keineswegs, daß die, in jeder dis kursiven Argumentation unterstellte, Möglichkeit der schlechthin zeitunabhängigen intersubjektiven Gültigkeit von Bedeutungen und bedeutungsabhängiger Wahrheit der menschlichen Rede prinzipiell im Sinne eines Spizch-Relativismus eingeschränkt werden müßte oder auch nur eingeschränkt werden dürfte. Es ist zuzugeben, daß die Lehre vom Relativismus der „semantical frameworks" bzw. der Sprachspiel-Paradigmata gegenwältig als Argument für die totale Abhängigkeit auch noch der Bedingungen der Möglichheit intersubjektiver Gültigkeit von Bedeutung von der Endlichkeit des menschlichen Daseins erscheinen kann. Dieser verbreiteten Suggestion widerspricht aber zunächst schon einmal der Umstand, daß wir Menschen im Sinne der „kommunikativen Kompetenz" prinzipiell die Möglichkeit der äquivalenten Übersetzung von einer Sprache in die andere voraussetzen und, dieser Voraussetzung entsprechend, éine internationale Begriffssprache der Wissenschaft und auch der Philosophie seit Piaton mit einigem Erfolg entwickelt haben. Man mag einwenden, daß gerade auf der Ebene dieser Begriffssprache das Prinzip der „Unbestimmtheit" jeder Ubersetzung (Quine) gewissermaßen als Stigma der Endlichkeit neu bestätigt werden konnte. Dem läßt sich jedoch wiederum zweierlei entgegen halten: 27

Vernünftiges Denken

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a) Das Quinesche Prinzip der notwendigen „Unbestimmtheit" jeder faktischen Übersetzung widerspricht nicht, sondern entspricht dem quasiKantschen Prinzip der Übersetzbarkeit als einer notwendigen „regulativen Idee" interlingualer Kommunikation. b) Trotz aller Sprach-Verschiedenheit und Übersetzungsunbestimmtheit sind wir schon jetzt in der Lage, uns über eben diese Problematik in philosophischen Begriffen auf interlingualer Ebene zu verständigen und z. B. die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der intersubjektiven Gültigkeit von Bedeutung aufzuwerfen. Würden wir die These von der totalen Endlichkeitsabhängigkeit der Gültigkeit von Bedeutung akzeptieren, so gerieten wir in eine pragmatische Antinomie : wir würden nämlich dieser These durch den Geltmgsanspruch ihrer Behauptung in actu widersprechen müssen. 4. Es ergibt sich somit, daß wir Menschen im Apriori der Sprache immer schon auf ein Prinzip der Bedeutungskonstitution verwiesen sind, das einerseits durch unsere Endlichkeit mitbedingt und für immer geprägt ist, das aber andererseits unsere endlichen Bedeutungskonstitutionen immer schon einem regulativen Prinzip unterworfen hat, das uns zwingt, unsere Endlichkeit, und damit die Vereinzelung der Individuation, zu transzendieren. Das transzendentale Prinzip der Sprache erlaubt es uns zwar nicht, die Gültigkeit verstehbarer Bedeutungen auf einen außerrealen Seinsbereich zurückzuführen und sie damit zugleich von ihrer konstitutiven Bedingtheit durch die existenziale Endlichkeit loszureißen ; das gilt sogar von den mathematischen Begriffen des Unendlichen und von den ontologischenBegriffen des „ist" und des „nicht". Aber das Prinzip der Sprache zwingt uns, unser Verstehen der Welt-Bedeutsamkeit von vornherein mit einem Geltungsanspruch zu verknüpfen, der im Prinzip durch keine endliche Kommunikationsgemeinschaft in einer endlichen Zeitspanne eingelöst werden kann. Mit anderen Worten : das zu postulierende transzendentale Subjekt des Verstehens intersubjektiv gültiger Bedeutung hat die Endlichkeit des individuellen menschlichen Daseins nicht außer sich; denn die intersubjektive Geltung von Bedeutung hat keinen anderen Inhalt als die sprachlich artikulierte Bedeutsamkeit der Lebenswelt endlicher Menschen. Aber zugleich gilt doch, daß das transzendentale Subjekt der intersubjektiven Gültigkeit von Bedeutung durch kein endliches Subjekt, weder durch ein Individuum noch durch eine bestimmte Sprachgemeinschaft noch selbst durch die menschliche Gattung hinreichend repräsentiert wäre. Der Geltungsanspruch unserer

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Aussagen zwingt uns dazu, als transzendentales Subjekt des Verstehens intersubjektiv gültiger Bedeutung in einer transzendentalen Sprachpragmatik eine unbegrenzte Kommunikationsgemeinscbaft endlicher Wesen zu postulieren. (In ihr allein würde — wie Ch. S. Peirce meint — die Bedeutung von Zeichen hinreichend interpretiert und die Wahrheit durch Konsensbildung erreicht werden können.)4 4

Vgl. K.-0. Apel, Transformation der Philosophie, Frankfurt a. M. 1973, Bd. Π, 2. Teil, und der., Der Denkweg von Cbarlet S. Peirce, Frankfurt a. M. 1975, und ders., (Hrsg.) SpraebPragmatik und Philosophie, Frankfurt a. M. 1976.

27·

K A R L - H E I N Z ILTING

Bedürfnis und Norm Piatons Begründung der Ethik Im ersten, deskriptiven Teil seiner „Philosophischen Anthropologie" hat Wilhelm Kamiah den Grundsatz Wir Menschen alle sind bedürftig und sind aufeinander angewiesen,

bereitgestellt, aus dem er dann im zweiten, normativen Teil zu der ethischen Grundnorm E s ist jedermann jederzeit geboten zu beachten, daß seine Mitmenschen bedürftig sind wie er, und demgemäß zu handeln.

glaubt übergehen zu können. Denn wer eingesehen habe, daß jener Grundsatz wahr ist, der habe eben damit anerkannt, daß jeder andere ebenso bedürftig ist wie er selbst. Die Anerkennung der Wahrheit jenes Grundsatzes impliziere die Anerkennung der Verbindlichkeit der entsprechenden Grundnorm1. Man könnte an diesem Argument erstaunlich finden, daß Kamiah überhaupt den Versuch macht, auf der Grundlage einer deskriptiven Anthropologie präskriptive Sätze zu gewinnen. Der Verdacht, es handle sich dabei um die Herleitung von Normen aus Aussagen, verflüchtigt sich indes sofort, wenn man sich vergegenwärtigt, daß jene „deskriptive" Anthropologie nicht einfach beobachtbare Tatsachen beschreibt, sondern analytisch-rekursiv explizieren will, was in unserem normalen Miteinander-Leben und -Handeln immer schon impliziert ist. Eine solche Explikation stößt natürlich stets auch auf je schon gemeinsam anerkannte Normen, die unser Miteinander-Handeln regeln, und es ist daher durchaus keine Metabasis eis alio genos, wenn Kamiah zur Begründung der Ethik auf solche „deskriptiv" aufgewiesene Anerkennung von Normen rekurriert. 1

Wilhelm Kamiah, Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik, Mannheim 1973, 95.

Bedürfnis und Norm

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Mit Recht mag man hingegen bezweifeln, ob der Rekurs auf Bedürfnisse und eine wechselseitig vermittelte Bedürfnisbefriedigung das normative Fundament der Ethik sicherstellen kann. Die Befriedigung eines Bedürfnisses ist zwar stets irgendwie gerechtfertigt, wenn anders es ein Bedürfnis ist; die spezifisch moralische Frage bezieht sich in der Regel jedoch darauf, unter welchen Bedingungen die Befriedigung eines Bedürfnisses erlaubt oder verboten ist. Gerade bei „natürlichen" Bedürfnissen, die der Lebenserhaltung des Individuums und der Arterhaltung dienen, steht völlig außer Frage, daß ihre Befriedigung als solche erlaubt ist; moralische und rechtliche Normen haben indes darüber zu entscheiden, ob die Befriedigung eines Bedürfnisses in einer gegebenen Situation erlaubt ist oder nicht. Daß diese Normen die Befriedigung natürlicher Bedürfnisse ermöglichen, ist gewiß eine conditio sine qua non ihrer Verbindlichkeit. Eine hinreichende Bedingung moralischer und rechtlicher Verbindlichkeit von Normen läßt sich indes aus der Feststellung menschlicher Bedürfnisse nicht gewinnen, weil Normen gerade die Bedingungen erlaubter Bedürfnisbefriedigung festlegen2. Aber auch der Hinweis darauf, daß unsere spezifisch menschliche Bedürfnisbefriedigung wechselseitig vermittelt ist, vermag der Ethik noch nicht ihr normatives Fundament bereitzustellen. Gerade im gesellschaftlichen „System der Bedürfnisse" (Hegel), in dem Produzenten und Händler auf die Bedürfnisse der Konsumenten zu achten gezwungen sind, dient die wechselseitig vermittelte Bedürfnisbefriedigung je eigenen Interessen der jeweiligen Partner. Im Selbstverständnis der Mitglieder der arbeitsteiligen modernen Gesellschaft spielt eine moralisch motivierte Rücksicht auf ihre wechselseitige Angewiesenheit keine Rolle. Im Interesse ihrer Mitglieder liegt allein, daß das System der wechselseitigen Bedürfnisbefriedigung optimal organisiert sei. Zur Begründung der Ethik langt dieser Rekurs auf die Interessenlage ihrer Mitglieder schon darum nicht aus, weil ethische Normen auch für diejenigen Ver2

O. Schwemmet hat dies richtig gesehen, wenn er der Ethik die Aufgabe stellt, Prinzipien der Konfliktbeseitigung zu formulieren (P. Lorenzen/O. Schwemmer, Konstruktive Ethik und Wissenscbaftstheorie, Mannheim 1973, 108; ähnlich jetzt auch J. Mittelstraß in: Methodologische Probleme einer normativ-kritischen Gesellscbaftstbeorie, Frankfurt 1975, 151 ff.). Er scheint jedoch zu übersehen, daß Regeln der Konfliktbeseitigung als solche noch keine moralische Verbindlichkeit besitzen und um des wohlverstandenen Eigenwohls willen bei jedem Interessenausgleich gesucht zu werden pflegen. Zur Begründung der Ethik reicht daher das Interesse an Konfliktbeseitigung nicht aus. Ähnlich Kamiah, Von der Sprache Z«r Vernunft, Mannheim 1975, 208 Anm.

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bindlichkeit beanspruchen, die zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht aufeinander angewiesen sind. Der Versuch, eine ethische Grundnorm aus einer Anthropologie zu begründen, die den Menschen als ein bedürftiges und zur Bedürfnisbefriedigung auf andere angewiesenes Lebewesen versteht, hat indes eine — wie Kamiah sehr wohl weiß — lange, auf Piaton zurückreichende Vorgeschichte. Schon darum mag es im Rahmen dieser Festschrift als gerechtfertigt erscheinen, Piatons Begründung der Ethik in der „Politela"3 zu rekonstruieren und kritisch zu erörtern. Vielleicht wird dies dazu verhelfen, auch Kamlahs Begründungsversuch abschließend besser, als es sonst möglich wäre, zu würdigen. I

Piaton hat die Frage nach den Grundlagen der Ethik4, d. h. die Frage, worauf letztlich die Verbindlichkeit allgemeiner moralischer ' Die hier vorgelegten Analysen unterscheiden sich vor allem durch die im Text angegebene Fragestellung von den grundlegenden und einflußreichen Untersuchungen, die Hans Kelsen zuerst 1933 vorgelegt hat {Dieplatonische Gerechtigkeit, in: Hans Kelsen, Aufsätze Zur Ideologiekritik, Neuwied 1964, 198—231). Kelsen konzentriert sich auf die Frage, ob es Piaton gelungen sei, materiale Naturrechtsnormen abzuleiten, und zeigt, daß dies zu verneinen ist. Seine sachlich zutreffenden Darlegungen werden freilich durch eine kaum zurückgehaltene Abneigung gegen Piaton beeinträchtigt (vgl. auch: Die platonische Liebe, a. a. O. 114-—197). K . R. Popper ist ihm leider auch darin gefolgt {The open society and its enemies I, London 1944). Die Fragestellung Kelsens ist von Hans Welzel in einer bereits klassisch gewordenen Abhandlung auf die gesamte Geschichte des Naturrechts angewandt worden (Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., Göttingen 1962). In ideologiekritischer Absicht hat E. Topitsch Kelsens Ansatz weiter ausgebaut (z. B. Das Problem des Naturrechts; in: Wiener Zeitschrift fur Philos., Psych, u. Pädag. III, 1950, 121—140). — Die sehr verdienstlichen Untersuchungen von R. C. Cross und A. D. Woozley {Plato's Republic. Λ philosophical commentary, New York 1966) sowie R. Maurer (Piatons ,Staat' und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik, Berlin 1970) gehen leider auf Fragen der rationalen Begründung der Ethik und der Naturrechtslehre nicht ein. 4

Das Wort ,Ethik' wird in diesem Ansatz im Sinne Kants für jenes System moralischer Normen verwendet, dessen universale Verbindlichkeit philosophisch behauptet und verteidigt werden kann. Es ist also synonym mit Kamlahs Ausdruck .normative Ethik' (bzw. .Moralphilosophie'). Der normativen Ethik stellt Kamiah bekanntlich eine „eudämonistische Ethik" im Sinne einer „Philosophie als Lebenskunst" gegenüber. Dies entspricht dem Sprachgebrauch und der vorherrschenden Fragestellung in der praktischen Philosophie des Altertums. In diesem Aufsatz soll nun gezeigt werden, daß Piatons Eudämonismus zur Begründung einer (normativen) Ethik nicht geeignet ist. Diese These steht weder im Widerspruch zu Kamlahs Auffassung, die (normative) Ethik bedürfe der Ergänzung durch eine „Philosophie des geglückten Lebens", noch zu seiner hohen Einschätzung des platonischen

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Normen für Vernunftwesen überhaupt beruhe, in dieser Ausdrücklichkeit weder gestellt noch zu beantworten versucht. Sobald man jedoch explizit formulieren möchte, auf welche Frage Piaton eigentlich in den Büchern II—X der „Politeia" seine Antwort zu geben bemüht ist, wird man sagen müssen, gehe es ihm um die Frage nach den Grundlagen der Ethik (sowie um die Frage, welche moralischen und rechtlichen Normen allgemein verbindlich sind). Aus seiner Einleitung zum zweiten Buch und aus seinen zahlreichen Rückverweisen auf diese Einleitung in den folgenden Büchern geht dies hinreichend deutlich hervor. In seiner Darlegung geht Piaton bekanntlich von den provozierenden Thesen eines anonym bleibenden sophistischen Gegners aus, die bereits im ersten Buch der „Politeia" von Thrasymachos und im „Gorgias" von Kallikles vorgebracht worden waren5. So unbefriedigend diese Thesen über das, was „von Natur aus" gut bzw. schlecht ist, auch sein mögen, so klar lassen sie (auch in Piatons hier und da gewiß vergröberndem Referat) das Problem immerhin erkennen, das in einer Grundlegung der Ethik zu lösen ist. Gut nicht erst durch menschliche Konvention, sondern aufgrund der natürlichen Lebensbedingungen (und insofern unzweifelhaft gut) ist nach der Lehre des anonymen Sophisten eben das, was wir nach Abschluß eines Gesellschaftsvertrags „Unrecht" nennen; schlecht in demselben Sinne ist das sogenannte Unrechtleiden. Wenn man nämlich bei der Beurteilung unserer Handlungen von allen konventionellen Wertungen absehe, so enthülle sich das sogenannte Unrecht als die erfolgreiche Durchsetzung der eigenen Bestrebungen gegen die Bestrebungen anderer, und dies zu tun sei gerade das natürliche Streben aller Lebewesen. Eben darum sei die Verwirklichung dieses natürlichen Strebens „von Natur aus" gut. Daß diese These nicht nur provokant ist, läßt sich leicht klarmachen. Wenn gut in des Wortes weitester Bedeutung jede Tatsache ist, die so ist wie sie sein soll, so setzt jede sinnvolle Verwendung des Wortes ,gut'

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Beitrags 2u einer solchen philosophischen Disziplin. Kamiah scheint indes zu verkennen, (vgl. Philos. Antbr. 152) daß Kants Kritik am Eudämonismus sich lediglich auf die Frage bezieht, ob eine eudämonistische Begründung der (normativen) Ethik möglich sei : „Seine Glückseligkeit zu befördern, kann unmittelbar niemals Pflicht, noch weniger ein Prinzip aller Pflicht sein" (KpV V 93, Ak.-A.). Die drei platonischen Referate beziehen sich auf dieselbe Lehre und ergänzen einander. Der anonyme Sophist hat vielleicht auf Piatons Kritik im ersten Buch der „Politeia" und im „Gorgias" geantwortet und dabei seine Lehre präzisiert. Diese Vermutung würde erklären, warum erst das Referat im zweiten Buch der „Politeia" eine genauere Vorstellung von ihr vermittelt. Mit diesem Referat stimmen Lehren, die Diogenes Laertius der Kyrenäischen Schule zuschreibt, auffällig überein (vgl. D. L. II 43.99).

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einen Gesichtspunkt voraus, im Hinblick auf welchen für ein Lebewesen ein möglicher Sachverhalt erstrebenswert ist. Als einen solchen Gesichtspunkt dürfen wir auf Grund von Introspektion und Extrapolation zunächst hei allen Lebewesen die durch natürliche Triebe und Bedürfnisse bestimmten Zwecke der Selbst- und Arterhaltung annehmen. Sie umfassen das, was wir mit dem anonymen Sophisten das je eigene Wohl (τό I5(qt άγαθόν: Rp. Π 360c 6—7) eines Lebewesens nennen können·. Gut für es ist daher, jedenfalls zunächst, sein eigenes Wohl, gleichgültig ob es gegen das natürliche Streben anderer Lebewesen durchgesetzt wird oder nicht. Bis zu diesem Punkt ist die referierte Lehre also durchaus akzeptabel. ' Dies bedeutet freilich keineswegs, daß die rücksichtslose Durchsetzung des eigenen Wohls auch an sich (d. h.für ms, sofern wir darüber reflektieren) notwendig gut ist. Aber um von etwas, das nicht nur für es, sondern an sich gut ist, sinnvoll auch nur reden zu können, müßten wir einen Gesichtspunkt aufweisen können, im Hinblick auf welchen wir zu sagen berechtigt wären, etwas sei in einer anderen als der angegebenen Bedeutung gut. Einen Schritt in dieser Richtung tut Piatons anonymer Sophist bereits mit dem Hinweis, daß für die Mehrheit7 der Menschen die rücksichtslose und ungehemmte Verfolgung des Eigenwohls mehr Nachteile als Vorteile mit sich bringt (358 e 4—5). In der Reflexion über das, was für sie von Natur aus gut bzw. schlecht ist, zeigt sich ihnen daher, daß es im Interesse ihres wohlverstandenen Eigenwohls läge, ihre natürlichen Begierden gewaltsam zu hemmen (vgl. 359 c 3. 6), — vorausgesetzt, daß auch die anderen dazu sich bereitfinden. Diese Einsicht gilt nun als hinreichende Motivation dafür, miteinander gewisse Normen (νόμοι) zu vereinbaren, die fortan eine neue Verwendung von ,gut' und »schlecht* regeln sollen. Diese Normen stützen sich auf einen Grundsatz, der in Piatons Referat in drei verschiedenen Formulierungen auftritt: (1) Alle sollen weder Unrecht tun noch Unrecht leiden (359a 2). (2) Alle sollen den Gleichheitsgrundsatz achten (359c 6). (3) Alle sollen sich fremden Eigentums enthalten (360 b 6). • Denselben Grundbegriff (bonum sibi) verwendet auch Hobbes bei seinen vorbereitenden Analysen. Vgl. De Cine I 2 (II 160 Op. Lat.). ' In diesem Punkte weicht Hobbes von der Lehre des anonymen Sophisten entscheidend ab : Non est quod quis viribus fidens superiore»! se aliis factum esse putet a natura {De Cive I 3, Π 162 OL), um von hier aus ein System naturrechtlicher Normen auf der Grundlage des wohlverstandenen Eigenwohls sowie die Notwendigkeit eines Staatsvertrags abzuleiten.

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Die erste dieser Formulierungen legt lediglich den Sprachgebrauch fest, indem sie bestimmt, daß fortan jede Handlung, die der nunmehr vereinbarten Grundnorm zuwiderläuft, .Unrecht' heißen soll. Die zweite Formulierung stellt darauf ab, daß nur noch solche Handlungen erlaubt sein sollen, die zugleich jedem anderen Mitglied der Rechtsgemeinschaft erlaubt sind. Die dritte Formulierung endlich spricht jedem die ausschließende Verfügungsgewalt über sein Eigentum zu, indem sie zugleich allen übrigen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft den Eingriff in die Eigentumsrechte eines anderen verbietet. An welche Eigentumsrechte dabei zu denken ist, kann man an vier anschließend erwähnten, speziellen Normen erkennen: Verboten sind Diebstahl, Ehebruch, Tötung und die Befreiung eines Gefesselten (360b 7—c 2). Die Grundnorm garantiert somit im einzelnen ein Recht auf Leib und Τ .ehm, Eigentum an Sachen, die ausschließliche Verfügung über die eigene Frau und u. U. die Befugnis, andere (ζ. B. einen Sklaven) in Fesseln zu legen.

Damit ist nach der Lehre des anonymen Sophisten eine Verwendung von ,gut' und,schlecht' einsichtig gemacht, die nicht mehr an Begierden, Trieben oder Bedürfnissen, sondern an gemeinsam beschlossenen und anerkannten Normen orientiert ist. Fortan ist daher zu unterscheiden zwischen dem, was im Hinblick auf Begierden, Triebe und Bedürfnisse „von Natur aus" (φύσει) gut ist, und dem, was im Hinblick auf gemeinsam anerkannte Normen „durch Setzung" (θέσει) gut ist, u. zw. so, daß stets mit einem Konflikt der beiden Wertgesichtspunkte gerechnet werden muß. So entsteht das Problem der Verbindlichkeit von Normen, d. h. die Frage, ob und warum im Konfliktsfalle das im Hinblick auf Normen Gebotene den Vorrang beanspruchen darf vor dem, was im Hinblick auf das jeweilige Eigenwohl erstrebenswert ist. Der anonyme Autor dieser Lehre läßt bekanntlich keinen Zweifel daran, daß ein so begründetes Rechtssystem nur bedingt dem wohlverstandenen Eigenwohl dient (vgl. 360 c 6—7) und folglich insoweit nicht als verbindlich angesehen werden kann, als eine hinreichende Motivation fehlt, seine Normen auf Kosten des Eigenwohls zu befolgen. Wer, wie der Lyder Gyges, einen unsichtbarmachenden Ring besäße, würde im Interesse seines wohlverstandenen Eigenwohls handeln, wenn er sich, wie jener, alle Freiheiten zunutze machte, die ihm dieser einzigartige Besitz gewährt. Daran zeigt sich: Wenn das normativ Gebotene nur dadurch gerechtfertigt werden kann, daß es dem Wohle des je einzelnen dient, so fällt im Konfliktsfall jede rationale Entscheidung zugunsten des Eigenwohls aus, solange die schädlichen Folgen einer Normübertretung für den Täter geringer sind als die Vorteile dieser Tat. In einem so begründeten Rechtssystem kommt es daher nicht sowohl darauf an, „gerecht" (d. h. in Übereinstimmung mit den Normen) zu handeln, als vielmehr darauf: sich den Anschein zu geben, man befolge

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diese Normen auf das genaueste (362a 2—3). Ihre prätendierte Verbindlichkeit erweist sich ebenso als eine bare Täuschung, wie die Menschen einander und sich selbst täuschen, wenn sie so tun, als hielten sie die Gerechtigkeit als solche (το δίκαιον καθ' αύτό) für etwas Gutes, während sie in Wahrheit nur fürchten, sogenanntes Unrecht zu erleiden (360 d 5—7). Gerechtigkeit bzw. Normativität (τό νόμιμον: 359 a 4) ist mithin (nach eleatischem Sprachgebrauch) nichts „Wirkliches", (öv), sondern nur ein „Name" (όνομα: vgl. 359a 3). Das ist gewiß eine ausgezeichnete, konsequente Argumentation, die entschiedenen Mut zur Rationalität verrät. Ihr zentrales Problem, die Verbindlichkeit von Normen, löst sie freilich auf, indem sie es einfach für nicht existent erklärt. Selbst im Horizont ihrer eigenen Intentionen ist dies jedoch unzureichend. Denn wenn das gesellschaftliche Normensystem seine Wirksamkeit nur der wechselseitigen Täuschung über die wahren Interessen und Absichten ihrer ausschließlich auf ihr Eigenwohl bedachten Mitglieder verdankt und wenn die so definierte Gerechtigkeit primär ein Handikap des Gerechten (οίκεία βλάβη) und ein Vorteil der anderen (αλλότριον αγαθόν) ist (343 c 3—5), so gefährdet die „ideologiekritische" Aufklärung des Sophisten die Gesellschaft in ihrem Bestand. Ist seine Lehre erst zur allgemeinen Ansicht geworden, so hat das die Gesellschaft zusammenhaltende Normensystem seine Wirksamkeit verloren, und der versteckte und offene Kampf aller Individuen gegeneinander bricht auch innerhalb der Gesellschaft, wo er durch den Gesellschaftsvertrag gebannt werden sollte, wieder auf8. Aber nur solange das gesellschaftliche Normensystem noch intakt ist, kann es sinnvoll erscheinen, einer Minderheit vermeintlicher Herrenmenschen das Recht auf Übertretung der Konventionen eben dieser Gesellschaft zu vindizieren. Durch die Lehre des anonymen Sophisten ist nicht der Geltungsanspruch dieser oder jener gesellschaftlichen Konvention, sondern die Verbindlichkeit von Normen überhaupt und damit ihre das geordnete Zusammenleben von Menschen ermöglichende Kraft infrage gestellt®. Die bloße Überzeugung, dieser normative Anspruch müsse doch gerechtfertigt sein, oder es sei, wie Piaton im „Gorgias" versichert, sogar irgendwie „besser", Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun, hat dagegen, so ehrenwert sie im übrigen auch sein mag, keinerlei Gewicht. Gewiß 8 9

Zur Konzeption eines Krieges aller gegen alle im Naturzustand vgl. Platon Legg. I 625 e6. Ähnlich bereits (vielleicht als unmittelbare Antwort auf die Lehren des anonymen Sophisten) der sog. Anonymus Iamblichi (II 401, 31 f. Diels/Kranz).

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ist es im Hinblick auf den Geltungsanspruch moralischer Normen verboten, Unrechtes zu tun; gewiß ist es im Hinblick auf unsere Begierden, Triebe und Bedürfnisse etwas Schlechtes, Unrecht zu erleiden; und gewiß ist mit der Verbindlichkeit moralischer Normen gemeint, es sei vorzuziehen, im Konfliktsfalle das „von Natur aus" Schlechte hinzunehmen. Die durch jenen Sophisten unabweisbar aufgeworfene Frage ist jedoch, wie dieser Geltungsanspruch gerechtfertigt und einsichtig gemacht werden kann. Auch wenn man Piatons Überzeugung teilt, wird man nicht zugeben können, er habe dies im „Gorgias" (oder gar schon vorher im ersten Buch der „Politela", dem sog. „ThrasymachosDialog") wenigstens in den Grundzügen befriedigend darzutun vermocht10. Piaton selbst mag dies schließlich eingesehen und eben darum sich entschlossen haben, in seinem großen Dialog über den Staat die Frage nach den Grundlagen der Ethik erneut zu erörtern. Wenn diese Vermutung zutrifft, darf die hier besprochene Einleitung zum zweiten Buch der „Politela" als Ausdruck seines geschärften Problembewußtseins verstanden werden. Π Schon im „Gorgias" hatte Piaton die Auffassung vertreten, das Gute im Sinne des von moralischen Normen Gebotenen sei etwas Nützliches (ώφέλιμον), also etwas dem Menschen im Hinblick auf seine spezifisch menschlichen Zwecke Förderliches. Das Nützliche hatte er dort vom Angenehmen (ήδύ) als dem vermeintlich Nützlichen unterschieden. Diese Unterscheidung zwischen dem Nützlichen und dem Angenehmen spielte in Piatons Problemanalyse etwa die gleiche Rolle wie die Unterscheidung zwischen dem von Natur aus Guten und dem durch Setzung Guten bei seinem sophistischen Gegner, d. h. also : Während dieser das moralisch Gute auf eine gesellschaftliche Konvention zu reduzieren versuchte, wollte Piaton es als etwas dem Menschen im Hinblick auf seine spezifischen Zwecke Förderliches aufweisen. Dies rechtfertigt die vielleicht ein wenig überraschende Feststellung, daß sich Piaton mit seinem 10

Piaton versucht seine These im „Gorgias" durch einen definitorischen Trick zu beweisen, indem er zunächst die (vollkommen richtige) Gegenthese formuliert: Unrecht-Tun sei zwar „schändlicher" als Unrecht-Leiden; aber Unrecht-Leiden sei „schlechter" als Unrecht-Tun. Sodann definiert er das „Schöne" als das, was entweder nützlich oder angenehm ist, und das „Schändliche" als das, was entweder schädlich oder unangenehm ist. Daraus folgert er, auch gemäß dieser Gegenthese sei Unrecht-Tun schlechter als Unrecht-Leiden, da es ja offenbar nicht unangenehmer ist. Vgl. Gorg. 474 d3ff.

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sophistischen Gegner in einem außerordentlich wichtigen Punkt ganz einig ist: Beide betrachten das „von Natur aus" Gute als den maßgeblichen Gesichtspunkt bei allen Bewertungen und beide schließen aus, daß Vereinbarungen über Normen verbindlich sein können. Sie divergieren vor allem darin, daß Piaton das „von Natur aus" Gute als Grundlage für die Bestimmung des moralisch Guten ansieht, während der Sophist die Unableitbarkeit des moralisch Guten aus seinen natürlichen Bedingungen behauptet. Ihre Divergenz bezieht sich mithin vor allem auf die Deutung dessen, was wir als „menschliche Natur" bezeichnen sollen, also auf ihre anthropologische Grundthese, während sie darin übereinstimmen, daß nur eine Anthropologie als Basis der Ethik in Betracht kommt. Dieser Vorentscheidung ist Piaton auch in der „Politela" treu geblieben. Während nach der Lehre seines sophistischen Opponenten die Entstehung einer gesellschaftlichen Vereinigung in der Einsicht motiviert ist, daß die hemmungslose Verfolgung eigennütziger Interessen für die Mehrheit höchst unerfreuliche Folgen zeitigt, erklärt Piaton nunmehr, der Ursprung einer politischen Gemeinschaft sei allein darin begründet, daß wir Menschen alle nicht autark, wie Gott, sondern bedürftig und zur Befriedigung unserer Bedürfnisse aufeinander angewiesen sind (369b 5—c II)11. Denn die spezifisch menschliche Bedürfnisbefriedigung durch Arbeit führe zur Arbeitsteilung und damit zur Vergesellschaftung (369 d 1—373 d 6). Die Gesellschaft müsse aber durch eine bewaffnete Streitmacht die Bedingungen ihrer Produktion und ihres Warenaustauschs sichern (373 d 7—375 b 8). Zur Vermeidung von Konflikten zwischen der Gesellschaft und dem zu ihrem Schutz bestellten Militär sei schließlich die Einrichtung einer Obrigkeit erforderlich (375 b 9— 376c 6. 412b 8—414b 7). Mitglied einer politischen Gemeinschaft zu sein, bedeutet daher nach Piaton nicht primär, seine ursprüngliche Selbständigkeit zur Vermeidung größerer Übel aufzugeben und seinen natürlichen Begierden, Trieben und Bedürfnissen Zwang anzutun, sondern vielmehr: durch den Zusammenschluß mit anderen zur Autar11

Piaton stützt sich bei dieser anthropologischen Grundlegung der praktischen Philosophie auf die hochbedeutende Kulturentstehungslehre des Protagoras (vgl. vor allem Piaton, Prot. 321 c 5—6. 322 a 8—c 3). Diese ist seiner eigenen Lehre sogar überlegen, insofern sie prinzipiell zwischen Technik und Moral bzw. Politik unterscheidet (vgl. Plat. Prot. 321 dl. 322 b7—8) und damit die aristotelische Unterscheidung (Nik. Elb. VI 2, 1139 b l ) vorwegnimmt. An diese Kulturentstehungslehre knüpft auch Demokrit an (vgl. 68 Β 5, II 134, 35—38. 136, 12—13. 138, 4—8 Diels/Kranz). — Zur Autarkie Gottes vgl. Plat. Rp. ΠΙ 381 c 2.

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kie, soweit dies Menschen möglich ist, und zur Befriedigung seiner spezifisch menschlichen Bedürfnisse zu gelangen. Insofern hier die Bedürftigkeit zur Natur des Menschen gehört und die politische Gemeinschaft das Ziel ist, auf das hin diese natürliche Bedürftigkeit des Menschen angelegt ist, versteht also schon Piaton den Menschen als ζφον φύσει ττολιτικόν. Aristoteles und die Stoa, Augustinus und Thomas von Aquin, Hegel und Marx haben sich, je auf ihre Weise, diesen Ansatz der politischen Philosophie Platons zueigen gemacht, und eben dies ist jene alte Tradition der praktischen Philosophie, an die Kamiah, wie erwähnt, im Zusammenhang seiner Begründung der Ethik erinnert hat. Zu fragen ist jedoch, ob Platons anthropologischer Ansatz auch ausreicht, den Grund der Verbindlichkeit moralischer und rechtlicher Normen aufzudecken. Die Argumentationsstrategie, die Piaton bei seinem Problemansatz vorgezeichnet ist, läßt dies von vornherein zweifelhaft erscheinen. In der Auseinandersetzung mit seinem Opponenten muß es ihm darum gehen nachzuweisen, daß die Geltung und Anerkennung moralischer und rechtlicher Normen eine notwendige Bedingung menschlicher Bedürfnisbefriedigung ist, und zu zeigen, daß die Befolgung dieser Normen im Interesse des wohlverstandenen Eigenwohls liegt und mithin eine notwendige und hinreichende Bedingung individueller Glückseligkeit (ευδαιμονία) ist. Nun ist zwar gewiß richtig, daß die Befriedigung spezifisch menschlicher Bedürfnisse in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nur befriedigend gelingen kann, wenn eine durchschnittliche Befolgung gewisser Regeln im Verkehr der Individuen miteinander gewährleistet ist. Aber die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft wird durch mehr oder minder häufige Unregelmäßigkeiten des Verhaltens nur unerheblich beeinträchtigt. Die Verbindlichkeit von Normen hingegen läßt solche Ausnahmen durchaus nicht zu ; denn Normen verpflichten, wie wir seit Kant wissen, unbedingt und nicht nur für den Fall, daß es einem gerade opportun erscheint. Nicht also die Geltung und Anerkennung moralischer und rechtlicher Normen, sondern lediglich die durchschnittliche Befolgung gewisser Verhaltensregeln (die jenen Normen irgendwie entsprechen mögen) ist eine notwendige Bedingung menschlicher Bedürfnisbefriedigung. Aber auch die These, „Tugend" (άρετή) führe zur Glückseligkeit, beruht auf einem offenbaren Mißverständnis, nämlich der Verwechslung von Funktionstüchtigkeit und „Tugendhaftigkeit" (d. h. der Anerkennung und regelmäßigen Befolgung moralischer und rechtlicher Normen). Man darf gewiß unterstellen, daß ein gut funktionierendes System wechselseitig vermittelter Bedürfnisbefriedigung der

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durchschnittlichen Glückserwartung aller beteiligten Individuen entgegenkommt. Aber ein fundamentales Mißverständnis wäre es, diesen Zusammenhang von Funktionstüchtigkeit und Glück als ausreichende Basis zur Begründung der Verbindlichkeit moralischer und rechtlicher Normen anzusehen. Daß Piaton diesem Mißverständnis im ersten Teil seiner Darstellung (Rp. Π 369d 1—IV 434d 1 bzw. V 471c 3) zum Opfer fällt, verraten die Prinzipien, auf die er sich bei der Konstruktion seines Idealstaats beruft oder die er stillschweigend zugrundelegt. Gemäß seinem oben skizzierten Ansatz geht er bei seiner Konstruktion davon aus, daß wir Menschen alle bedürftig und zur Befriedigung unserer Bedürfnisse aufeinander angewiesen sind. Als gegeben betrachtet er des weiteren alle normalerweise zu erwartenden Bedingungen individueller und kollektiver Lebensbewältigung. Gesucht wird ein im Hinblick auf unsere durchschnittlichen Bedürfnisse und Erwartungen optimales und möglichst stabiles12 System wechselseitig vermittelter Bedürfnisbefriedigung. Eine Konstruktion, die diesen Bedingungen genügt, gilt ihm als „richtig" (424e 7) oder „naturgemäß" (428e 9. 456c 1). Er unterstellt sodann, daß ein so konstruiertes Gemeinwesen eo ipso in höchstem Maße glücklich ist. Nachdem dies alles sichergestellt ist, möchte er schließlich nachweisen, daß diese rational durchorganisierte politische Gemeinschaft vollkommen gerecht ist (420 b 7—9). Die Rationalität seines Staates betrachtet er mithin als hinreichende Bedingung seiner Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit als notwendige Bedingung seiner Rationalität. Diese Argumentation setzt natürlich voraus, daß bei der Konstruktion des Idealstaates Gerechtigkeit kein leitender Gesichtspunkt ist. Denn es handelt sich ja gerade darum, im Gegenzug gegen die Lehre des anonymen Sophisten den Begriff der Gerechtigkeit befriedigend zu rekonstruieren. Eben deshalb darf dieser Begriff nicht schon von vornherein bei der Konstruktion vorausgesetzt werden. Wo immer in Piatons Darstellung normative Gesichtspunkte involviert zu sein scheinen, erweist sich bei genauerer Analyse denn auch, daß tatsächlich nur auf Zweckmäßigkeitserwägungen rekurriert wird. So betont er ζ. B. nachdrücklich, seine Absicht sei nicht, einen Staat zu beschreiben, in dem eine Klasse besonders glücklich sei ; vielmehr solle dies nach Möglichkeit 12

Piaton betont mehrfach, die zu gründende Stadt müsse so sehr wie möglich in sich geeint sein (422 a 8. e 8. 423 b 10. 433 a 5. 443 e 1. 462 b 1—2). Man könnte dies so verstehen, als sei dies eine bei der Konstruktion des Idealstaates zu beachtende moralische Norm. Tatsächlich handelt es sich jedoch nur um eine Regel zur Bestandssicherung der zu gründenden Stadt, also um einen problematisch-hypothetischen (technischen) Imperativ im Sinne Kants.

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der Staat als ganzer sein und so am ehesten ein Modell der Gerechtigkeit abgeben (420b 5—9). Zur Begründung sagt er jedoch nicht etwa, eine besondere Klasse im Staate zu privilegieren, sei ungerecht, sondern vielmehr: Man müsse dafür sorgen, daß möglichst alle Gruppen im Staate ihre Aufgaben möglichst gut ausführen. Sei dies sichergestellt, könne eine jede getrost am Glück des Ganzen so weit teilhaben, als es die „Natur der Sache" (φύσις) zulasse (421b 3—c 6). Auch das richtige Maß zwischen Reichtum und Armut bestimmt er daher nicht nach Maßgabe dessen, was recht und billig ist, sondern allein im Hinblick auf das Wohl des Staates (421dl—e 6). Selbst seine Darlegungen über die Erziehung der Wächter sind ausschließlich am Staatswohl orientiert. Diese konsequent durchgehaltene Ausschaltung normativer Gesichtspunkte bei der Konstruktion des Idealstaates (369 d 1—427 c 5) ist die methodisch geforderte Voraussetzung dafür, daß Piaton sich anschließend sinnvoll darum bemühen kann, nachzuweisen, daß dieser Staat auch vollkommen gerecht ist (427c 6—434d 1). In seinem Argumentationszusammenhang muß dies freilich darauf hinauslaufen, die besonderen Qualifikationen der einzelnen Stände als „Tugenden" und die Funktionsgerechtheit des ganzen Staates als „Gerechtigkeit" auszuweisen. „Gerechtigkeit" bedeutet dann freilich nicht mehr als ordentliches Funktionieren, das überall vorliegt, wo etwas im Rahmen des Ganzen seine spezifische Aufgabe erfüllt. Auch die einzelnen Teile einer gutgehenden Uhr und diese selbst oder die Organe eines gesunden Körpers und dieser selbst wären, so verstanden, „gerecht"13. Und dies ist es offenbar, was Piaton in der Tat meint: Sein perfekt funktionierender Staat soll nach Möglichkeit ein einheitliches Ganzes sein, wie ein menschliches Individuum eins ist (462c 7—10. 464b 1), und seine „Gerechtigkeit", analog zur Gesundheit seines organischen Körpers (vgl. 444c 1—7), als Gesundheit des Volkskörpers gedeutet werden. Daß dieser Versuch mißlingen muß, steht außer Frage. Wenn dieser ganze Staat rein nach Zweckmäßigkeitserwägungen konstruiert ist, so sind alle seine Gesetze nichts als Ratschläge der Klugheit, denen jeder, wenn er vernünftig ist, nur soweit folgt, als dies im Interesse seines wohlverstandenen Eigenwohls liegt. Moralisch verbindliche Nonnen sind sie 13

Das griechische Wort ,8(καιο$' (.geredet') konnte in der Tat so gebraucht werden. Solon (fr. 11 Diehl) ζ. B. spricht in diesem Sinne von der „Gerechtigkeit" des Meeres; denn es trete nur über die Ufer, wenn es von Stürmen aufgepeitscht wird. Aber er hat dabei die „Gerechtigkeit" des Volks im Sinn, das von Demagogen aufgewiegelt wird. Alles, was sich einer Ordnung fügt, bleibt in diesem Sinne „gerecht". Dies ist dann natürlich kein moralischer Begriff.

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durchaus nicht, da Piaton ja keinerlei über den Gesichtspunkt des Eigeninteresses hinausweisende Gründe ihrer Verbindlichkeit namhaft zu machen versucht hatte. Gegen seinen sophistischen Gegner hat er zwar mit Recht geltend gemacht, daß die Entstehung und Erhaltung einer politischen Gemeinschaft nicht nur in der Verhinderung wechselseitiger Bedrohung, sondern auch in der Ermöglichung einer wechselseitig vermittelten Bedürfnisbefriedigung motiviert ist. Aber als Geltungsgrund der Verbindlichkeit moralischer und rechtlicher Normen hat er, ebenso wie jener, lediglich das Interesse jedes Individuums an optimaler Bedürfnisbefriedigung anzugeben gewußt. Hinter der Problemanalyse des anonymen Sophisten bleibt er sogar insoweit zurück, als er nicht einmal gesehen zu haben scheint, daß auch nach seiner Konstruktion eines Idealstaats die Frage noch immer offen ist, wieso denn eigentlich die in seinem Staatsmodell vorgesehenen spezifischen Aufgaben für die Mitglieder der politischen Gemeinschaft verbindliche Pflichten und Rechte sind. Er glaubt zwar wahrscheinlich gemacht zu haben, daß mit moralisch oder rechtlich unerlaubten Handlungen in seinem Idealstaat weniger als sonst zu rechnen ist (442 e 4—443b 3); die Verbindlichkeit von Normen, die diese Handlungen untersagen, ist ihm indes nicht einmal zum Problem geworden. Im Hinblick auf dieses Problem ist sein eudämonistischer Ansatz nicht weniger unbefriedigend als der hedonistische Ansatz seines sophistischen Opponenten. Daß Piaton auf dem von ihm verfolgten Wege das Problem einer Begründung der Ethik verfehlen muß, zeigt sich womöglich noch klarer, wenn man prüft, wie er anschließend (434d 2—444a 9) auch die Gerechtigkeit eines menschlichen Individuums, analog zur Gesundheit eines organischen Körpers als Funktionsgerechtigkeit seiner „Seele" und „Seelenteile" zu interpretieren versucht. Indem er das menschliche Individuum bzw. dessen „Seele" als eine Art Mikrostaat auffaßt, verzichtet er von vornherein darauf, die Anerkennung und Befolgung von Normen und die moralischen und rechtlichen Beziehungen zwischen Individuen als das Kernproblem der Gerechtigkeit zu erörtern. „Gerecht" ist nach dieser Deutung ein Individuum nicht im Hinblick auf verbindliche Normen und auf seine Mitmenschen, sondern primär in Bezug auf sich selbst14: wenn nämlich seine „Seele" gesund ist (443 c 9—dl). Piaton unterstellt zwar, wenn auch ohne große Plausibilität, daß solche 14

Gegen diese irrige Auffassung Piatons wenden sich bereits Aristoteles (Nik. Eth. VII, 1138 b 6; vgl. dazu Dirlmeier in seinem Kommentar, Darmstadt 1956, 438f.) und Chrysipp (ap. Plut. Stoic, rep. 16).

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„Gesundheit der Seele" die beste Garantie gerechten Handelns ist. Aber ein anderes Interesse an der Gerechtigkeit als das des wohlverstandenen Eigenwohls kann er auch hier nicht geltend machen. Nur wenn wir durch ungerechtes Handeln Schaden nehmen an unserer Seele, was wir doch nicht wollen können, müßten wir uns demnach um Gerechtigkeit bemühen. Es ist indes bezeichnend, daß Piaton diese Konsequenz hier nicht einmal andeutet. Denn dies würde ihn dazu genötigt haben, Nutzen und Schaden nicht mehr wie bisher im Hinblick auf menschliche Bedürfnisse und deren Befriedigung, sondern im Hinblick auf moralische Integrität zu bestimmen. Dieser Begriff paßt indes nicht mehr in das eudämonistische System, das den ersten Teil seiner Antwort auf die Herausforderung seines sophistischen Opponenten bildet. So zeigt sich auch hier, daß Piatons Versuch, Normativität auf der Basis menschlicher Bedürftigkeit zu begründen, gescheitert ist. Gelingen konnte dies ja ohnehin nur, wenn ihm der Nachweis geglückt wäre, daß die Anerkennung und Befolgung moralischer und rechtlicher Normen einem menschlichen Bedürfnis entspricht, das stärker ist als alle sonstigen Bedürfnisse des Menschen. Nun enthält aber der Begriff der moralischen Verbindlichkeit gerade eine Nötigung, gegen die man sich nicht sinnvoll auf Bedürfnisse berufen kann und die in extremen Fällen, wie Piaton selbst am Beispiel des Sokrates schon im „Kriton" dargetan hatte15, so weit geht, daß nicht einmal die Gefahr oder die Gewißheit des Todes gegen sie geltend gemacht werden kann. Weit entfernt also, aus Bedürfnissen ableitbar zu sein, ist sie vielmehr im Konfliktfall eine höhere Gegeninstanz gegen Bedürfnisse. Selbst wenn ein Bedürfnis im übrigen unabweisbar ist, bleibt ja immer noch zu fragen, ob seine Befriedigung in einer gegebenen Situation erlaubt ist. Diese Entscheidung aber kann sich nicht wieder an Bedürfnissen orientieren. ΙΠ Die voranstehende Kritik bezieht sich auf den ersten Teil der platonischen Untersuchung über die Gerechtigkeit, den „kürzeren Weg" (vgl. 435d 3. 504b 2). Daß diese Darstellung notwendig ungenau und inadäquat bleiben müsse, solange die Lehre von der Philosophenherrschaft und damit auch die Ideenlehre bewußt noch ausgeklammert bleiben, betont Piaton selbst mehrfach und nachdrücklich (vgl. auch 15

Hier ist auch an Kants berühmtes Beispiel eines Mannes zu erinnern, der unter Androhung der Todesstrafe gegen einen Unschuldigen aussagen soll (KpV V 30 Ak.-A.). 28

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430 c 3—5. 497 d 4—6). Dies muß man ohne Zweifel als Warnung werten, jenen ersten Teil als eine abschließende und in sich schlüssige Behandlung der Frage nach der Gerechtigkeit zu interpretieren. Umso sorgfältiger wird indes darauf zu achten sein, ob Piaton im zweiten Teil seiner Antwort, also auf dem „längeren Wege" (471 c 4—541 b 5), zu einer befriedigenderen Antwort auf die Frage nach der Verbindlichkeit moralischer und rechtlicher Normen gelangt ist. Daß Piaton zur Konstruktion seines Idealstaates außer den bisher besprochenen eudämonistischen noch andere Prinzipien braucht, deutet er zunächst indirekt an, indem er die Nichtphilosophen als unfähig bezeichnet, einen Staat zu gründen und zu erhalten, weil sie in ihrer Seele kein deutliches Modell haben, auf das hinblickend sie Gesetze geben könnten, die schön, gerecht und gut sind (484 c 6—d 3). Der Philosoph hingegen, so erfahren wir später, schaut auf Geordnetes und Gleichbleibendes, das sich gänzlich vernunftgemäß verhält, und versucht sich diesem soweit wie möglich anzugleichen; als Politiker wird er nach diesem „göttlichen Modell" auch den Staat zu ordnen bestrebt sein (500 c 2—e 4). Damit ist in nicht näher bestimmter Weise „das von Natur aus Gerechte, Schöne und Besonnene" und dergleichen gemeint (501 b 2—3). Daß mit diesem Modell aber auch die Idee des Guten intendiert ist, wird erst gegen Ende dieses zweiten Durchgangs ausgesprochen : Die Erziehung der Philosophen ist vollendet, wenn sie das selbst erblikken, was allem Licht gewährt, nämlich die Idee des Guten, um sie fortan als Modell zu gebrauchen, nach dem sie ihren Staat, ihre Mitbürger und sich selbst ordnen können (540a 6—b 1). Nach diesem „im Himmel" aufgestellten Modell ist auch der in der „Politeia" beschriebene Staat eingerichtet (592a 10—b 3). Diese mit der Ideenlehre zusammenhängenden Äußerungen scheinen nun in der Tat das bisher fehlende normative Fundament des platonischen Idealstaats bereitstellen und sichern zu sollen. Das Modell in der Seele des Philosophen bzw. im Himmel ist sicher nicht, wie der Idealstaat des ersten Teils, als Resultat einer rationalen Konstruktion aufgrund empirischer Daten, sondern als Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung aufzufassen. Die Vermutung, gemeint sei so etwas wie die moralische Idee der Gerechtigkeit, ist daher durchaus nicht unbegründet. Zweifelhaft ist jedoch, ob Piatons Konzeption einer Idee der Gerechtigkeit geeignet ist, die immer noch offene Lücke seiner Argumentation zu schließen. Denn die Konstruktion eines Idealstaats nach dieser Idee läuft nach Piatons eigener Auffassung offenbar auf dasselbe hinaus, wie eine Staatskonstruktion im Hinblick auf menschliche Bedürfnisse nach Gesichts-

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punkten der Zweckmäßigkeit und Funktionsgerechtheit. Der Staat des „kürzeren Weges" ist, bis auf eine kaum erwähnenswerte Ausnahme1·, mit dem Staat des „längeren Weges" identisch. Dies legt den Verdacht nahe, daß die Idee der Gerechtigkeit in Piatons Konzeption letztlich doch nichts anderes als das Modell eines rational organisierten, optimal funktionierenden Gemeinwesens, mithin durchaus kein Gegenstand einer Erkenntnis a priori, sondern ein rationales Konstrukt aufgrund empirischer Daten ist17. In diesem Falle kann natürlich auch der Rekurs auf die Ideenlehre über die eudämonistischen Schranken des „kürzeren Weges" nicht hinweghelfen. Die Entscheidung dieser Frage wird dadurch außerordentlich erschwert, daß Piaton in seinen Darlegungen über die Ideenlehre jene methodische Strenge weitgehend vermissen läßt, die den ersten Teil seiner Antwort auf die Frage nach den Grundlagen der Ethik ausgezeichnet hatte, und die Relevanz der Lehre von den Ideen überhaupt für die Frage nach der Gerechtigkeit im besonderen nicht eigens erörtert. Nun steht zwar außer Frage, daß in der Konzeption der platonischen Ideenlehre gerade spezifisch ethische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Ideenlehre als System (soweit sie überhaupt jemals zu systematischer Abgeschlossenheit gelangt ist) soll jedoch keine spezifisch ethische Theorie sein. Daher tragen Piatons Darlegungen über die Ideenlehre in den Büchern V—VII der „Politela", unbeschadet ihrer sonstigen Bedeutsamkeit, zur Beantwortung der Frage nach dem Geltungsgrund moralischer Verbindlichkeit relativ wenig Neues bei. Seine Andeutungen darüber, welche politisch relevanten Einsichten die Ideenschau den zukünftigen Herrschern in seinem Idealstaat eigentlich vermittelt, bleiben denn auch verräterisch vage. Nach Abstrich alles dessen, was ausschließlich zur platonischen Metaphysik und Wissenschaftslehre gehört, bleiben im Grunde nur noch zwei Gesichtspunkte übrig, die hier eigens erörtert werden müssen. Die Ideen sind erstens etwas Geordnetes (τεταγμένα), das sich stets gleich verhält und frei von Unrecht-Tun und -Leiden ist, voller Ordnung (κόσμος) und Vernunft (Aôyoç 500 c 2—5). Mit diesen und zahlreichen 16

17

In der Beschreibung des „kürzeren Weges" sind die Älteren Herrscher der Stadt (412 c 2); an ihre Stelle treten dann natürlich die Philosophen (536 c 8. vgl. 543 d 1 mit dem Kommentar von Adam/Rees ad loc., Cambridge 1965, II 147. 197f.). Dieser Verdacht verstärkt sich nur noch, wenn man den Spuren nachgeht, die die Entstehung der Ideenlehre in Piatons Dialogen hinterlassen hat; Piaton verwendet das Wort EI8OÇ schon früh für ein nach zweckrationalen Gesichtspunkten strukturiertes Strukturmodell (vgl. Gorg. 503 e 4; Krat. 389 b 3; Rp. 596 a 6. b 3). 28*

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ähnlichen Charakterisierungen stellt sich Piaton in die Tradition eleatischen und vor allem pythagoreischen Denkens, in der Ordnung, Unveränderlichkeit und Vernunft als etwas unbefragbar Wertvolles gelten, das den Schauenden unmittelbar dazu motiviert, sich dem Erschauten nachzubilden. Aber Piaton hat sich von der suggestiven Macht dieser Tradition offenbar nie soweit freimachen können, daß er ihre Unzulänglichkeit angesichts der sophistischen und sokratischen Frage nach den Grundlagen der Ethik durchschaut hätte. Er versteht das Modell einer widerspruchsfreien und gleichbleibenden Ordnung der Dinge, kontemplativästhetisch, als etwas Göttliches, ohne zu bemerken, daß ein solches Modell in normativer Hinsicht durchaus neutral bleibt: Auch wenn es vollkommen rational durchkonstruiert ist, wie etwa das Gesellschaftsmodell des „kürzeren Weges", enthält es doch keinerlei Grund der Verbindlichkeit, sich selbst diesem Modell anzugleichen, und keinerlei Gewähr dafür, daß jemand, der dies freiwillig zu tun versucht, seine Pflichten und die Rechte anderer gewissenhaft beobachtet. Erst wenn eigens sichergestellt wäre, daß das rationale Modell einer gleichbleibenden Ordnung der politischen Gemeinschaft bzw. der zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt ein Modell der Gerechtigkeit ist, dürfte er diesem Modell universale Verbindlichkeit zusprechen. Da Piaton diesen für die Begründung der Ethik entscheidenden Schritt nicht mehr tut, bleibt er bei der unreflektierten Überzeugung stehen, daß jedes Ordnungssystem an sich gerecht und die Störung einer Ordnung an sich schon ungerecht sei. Die normative Defizienz dieses Versuchs zeigt sich denn auch in aller Deutlichkeit, wo Piaton sich um den Nachweis bemüht, die Befähigung zur Ideenschau sei eine Gewähr für die vollendete Tugendhaftigkeit des Philosophen (484b 3—487 a l ) . Weil der Philosoph nach Erkenntnis, also auch nach der Wahrheit strebt, wird er sich, so möchte Piaton suggerieren, auch im Umgang mit anderen der Wahrhaftigkeit befleißigen. Weil er seine Kraft vor allem auf die Erkenntnis der Wahrheit verwendet, werden seine körperlichen Begierden nur schwach entwickelt sein und ihn weniger als andere übermannen. Weil er dem Sein als ganzem und dem Ewigen zugewandt ist, wird er den Tod nicht fürchten und ausnehmend tapfer sein. Im Besitz dieser „Tugenden" wird er schließlich eher gerecht und zahm als unumgänglich und wild sein. Aber selbst wenn man zugeben müßte, daß die Ideenschau und das philosophische Erkenntnisstreben alle diese Wirkungen zu zeitigen pflegen, so wäre die Frage noch immer offen, wodurch denn nun Nichtphilosophen ebenso wie Philosophen moralisch gehalten sind, Unwahrhaftigkeit im

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Umgang miteinander zu vermelden ; wann und warum es moralisch untersagt ist, seinen körperlichen Begierden nachzugeben; unter welchen Bedingungen und wieso selbst die Furcht vor dem Tode oder die Lust am Leben uns in unserem Handeln nicht mehr entscheidend bestimmen sollte ; sowie schließlich : ob Gerechtigkeit mit Ausdrücken wie .Zahmheit' und ,Umgänglichkeit' überhaupt angemessen umschrieben werden kann. Daß dies uns irgendwie bewußt sei, setzt Piaton hier wie auch sonst stillschweigend voraus. Unter Berufung auf ein Ideal vernünftiger Ordnung allein und ohne Rücksicht auf spezifisch ethische Probleme einet gerechten Ordnung zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse sind diese Fragen nicht befriedigend zu beantworten. Der zweite für eine Begründung der Ethik relevante Aspekt der platonischen Ideenlehre bezieht sich auf die Idee des Guten. Ihr Name legt ja die Vermutung nahe, es handle sich um eine spezifisch moralische Idee. Aber sie ist dies ohne Zweifel im Mittelstück der „Politeia" ebenso wenig wie in Piatons spätem Vortrag „Über das Gute". Seitdem Platon im „Phaidon" die Konzeption einer teleologischen Kosmologie vorgetragen und dabei den ursprünglich praktischen Begriff des Guten zu einem naturphilosophischen Grundbegriff ausgeweitet hatte, war seine Funktion im Begründungszusammenhang der Ethik fragwürdig geworden. Nur ganz wenige noch in der „Politeia" weiterwirkende Züge der ursprünglichen Konzeption sind daher für die hier erörterte Fragestellung von Belang: vor allem der Gedanke, das Gute sei das, was jegliche Seele erstrebt und worumwillen sie in all ihrem Tun handelt (505 d 10—e 1), sowie dasjenige, was zu allen gerechten Handlungen und Einrichtungen hinzukommen muß, damit sie brauchbar und nützlich werden (505 a 3—4), mithin dasjenige, was (gerade auch in praktischen Lebenszusammenhängen) allem erst gleichsam Licht gewährt (540a 8). Dieser zuerst im ,,Lysis" ausgearbeitete Begriff eines Endzwecks alles unseres Begehrens und Handelns führt indes kaum über den eudämonistischen Ansatz des „kürzeren Weges" hinaus. Daß wir bei unserer Reflexion darauf, worum es uns in allem unserem Begehren und Handeln letztlich geht, schließlich auf einen Endzweck stoßen, macht uns unser Begehren und Handeln überhaupt erst sinnvoll und verständlich. Es geht uns, so kann man unter Absehen von allen Inhalten bzw. Gegenständen unseres Begehrens und Handelns zunächst sagen, bei allem unseren Tun formal irgendwie um unser Wohl oder um unsere Glückseligkeit oder „um uns selbst" (unsere „Existenz"). Dies nötigt uns dazu, im Hinblick auf diesen Endzweck alle Gegenstände unseres Begehrens und Handelns danach abzuschätzen, welchen Wert sie

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für uns haben, wie sich auch umgekehrt der Wert, den die Dinge für uns haben, erst im Hinblick auf diesen Endzweck angeben läßt. Schon diese Überlegung macht die aus der „Politela" zitierten Äußerungen Piatons über die Idee des Guten verständlich: Erst durch den Bezug auf das, was jeder letztlich als das Gute ansieht, wird jegliches für ihn brauchbar und nützlich. Darüber hinaus ist Piaton jedoch der Auffassung, auch inhaltlich erweise sich das, was wir Menschen alle als Endzweck anstreben, nach einer geduldigen und sorgfältigen Analyse schließlich als etwas Gemeinsames, so daß die Möglichkeit bestünde, allen Handlungen, Einrichtungen und Dingen „objektiv" ihre Stelle in einer Hierarchie der Werte und Güter anzuweisen, der alle Menschen nach eingehender Befragung und Belehrung zustimmen könnten und müßten. Der so gedeutete Endzweck wäre dann, gegenüber der Vielfalt der Werte und Güter sowie der Vielfalt dessen, was den Individuen als das Gute erscheint, das Gute an sich bzw./«r uns, die wir zu seiner Erkenntnis gelangt sind. Die tatsächlich vorhandenen, ungeheuren Differenzen unter den Menschen in ihren Auffassungen über Glückseligkeit, Güter und Werte möchte Piaton dagegen aus den jeweiligen Graden ihrer Unwissenheit und ihres Irrtums über sich selbst, mithin aus ihrem Selbstmißverständnis erklären. Aber auch diese in der „Politela" keineswegs explizit vorgetragene, sondern irgendwie vorausgesetzte teleologische Handlungstheorie (vgl. 504e 7—8) hält sich weitgehend in dem Rahmen, den der eudämonistische Ansatz des „kürzeren Weges" abgesteckt hatte, insofern sie ja nach wie vor das Streben nach Glückseligkeit und die Bedingungen seiner Verwirklichung zur Basis der Ethik macht. Im Hinblick auf das an sich Gute erweist sich nicht etwa, welche moralische Bedeutung Handlungen, Güter und Werte in Wahrheit haben, sondern vielmehr ihr wahrer Nutzen zur Erlangung der Glückseligkeit. Neu ist vor allem, daß dies jetzt Gegenstand einer unmittelbaren, intuitiven Erkenntnis sein soll und daß diese Erkenntnis den Bedürfnissen und Gütern ihren abgestuften, „objektiven" Wert anzuweisen gestatten soll. Aber selbst angenommen, es gäbe wirklich eine solche Art von Werterkenntnis, so wäre doch immer noch die Frage, ob sie auch geeignet ist, die Frage nach dem Grund der Verbindlichkeit moralischer Normen befriedigend zu beantworten. Denn sie würde uns zwar ermöglichen, den „objektiven" Wert einer Handlung, Einrichtung oder eines Dinges festzustellen, nicht aber: die Verbindlichkeit einer Norm zu begründen. Aufgrund einer derartigen Werterkenntnis könnten wir zwar behaupten, eine Handlungsweise sei weniger wertvoll als eine andere, aber gegen niemanden, der

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etwa eine moralische Nonn eindeutig verletzt hätte, einen moralischen Schuldvorwurf erheben. Wir könnten ihm zwar zeigen, daß er im Hinblick auf den „im Grunde" von ihm selbst angestrebten Endzweck der Glückseligkeit „objektiv" falsch gehandelt hat; aber da er dies, nach den von Piaton angegebenen Voraussetzungen, nur aus Unwissenheit getan hat, gäbe es keinen vernünftigen Grund mehr, ihm seine Handlungsweise vorzuwerfen. Solange wir uns nur auf sein Streben nach Glückseligkeit berufen, könnten wir ihm nicht einmal zeigen, daß er gegenüber einem anderen Pflichten hatte und diese verletzt hat. Genau dämm aber geht es, wenn wir von moralischer Verbindlichkeit reden. Wer etwa das Vertrauen eines anderen benutzt, um ihn zu hintergehen, mag sich ja irgendwie sogar selbst schaden; vordringlich zu wissen wäre jedoch, warum er den anderen nicht betrügen durfte, ob ihm selbst der Betrug nun schadet oder nützt. Die Annahme, es gebe eine intuitive, objektive Werterkenntnis, reicht nicht aus, ein solches moralisches Werturteil zu begründen, weil sie ungerechtes Handeln durch einen Wertirrtum erklärt und den Handelnden damit von vornherein als unzurechnungsfähig hinstellt. Da die Werterkenntnis, auf die sich Piaton beruft, intuitiv ist, ist sie im übrigen von einer nicht weiter begründungsfähigen bloßen WertÜberzeugung nicht zu unterscheiden. Dies zeigt sich besonders deutlich im IX. Buch der „Politeia", wo er mit dem Nachweis, daß der tyrannische Mensch ebenso ungerecht wie unselig ist, die Summe aus allen voraufgegangenen Erörterungen zu ziehen versucht. Obwohl er in seiner rhetorisch ungemein eindrucksvollen Charakterisierung des Tyrannen von moralischen Werturteilen reichlichen Gebrauch macht, gelangt er nirgends über den Ausdruck intuitiver Gewißheit hinaus, daß „Stehlen, Einbrechen, Beutelschneiden, Kleiderabziehen, Tempelraub und Seelenverkäuferei" (575 b 6—7) eben häßliche und schändliche Handlungsweisen sind, die den Menschen einer freiheitlichen Haltung und wahrer Freundschaft unfähig machen (576 a 6). Wie wenig er indes imstande ist, diese moralischen Überzeugungen von bloßen Standesvorurteilen und ästhetischen Geschmacksurteilen zu trennen, zeigt sich alsbald, wenn er im selben Argumentationszusammenhang handwerkliche Tätigkeit ebenfalls als etwas Schändliches ansieht und Sklaven vorbehalten möchte, um die Unterwerfung des Sklaven unter einen Herrn damit zu rechtfertigen, daß die Sklaven wegen der angeblichen Schwäche ihrer Natur sich selbst zu beherrschen unfähig und daher in der Gestalt ihres Herrn dem Göttlichen zu unterwerfen sind (590c 1—d6). Solche Stellen offenbaren verräterisch, daß es Piaton offenbar nie in den Sinn gekommen ist, den Gedanken einer wechselseitigen Anerken-

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nung alier Menschen als verantwortlich handelnder Personen, der in der Lehre vom Gesellschaftsvertrag seines sophistischen Opponenten doch immerhin vorbereitet war, ernstzunehmen und zur Grundlegung der Ethik zu benutzen. Daher betrachtet er auch die Realisierung seines Idealstaats immer nur als ein gleichsam technisches Problem, ohne sich je zu fragen, ob nicht die freiwillige Anerkennung der Rechtsnormen seines Idealstaats durch die potentiellen Mitglieder dieser Rechtsgemeinschaft eine notwendige Bedingung ihrer moralischen Verbindlichkeit ist. Da er überzeugt ist, sich bei seiner Konzeption auf eine objektive Werterkenntnis stützen zu können und ohnehin nur Gesetze zur Beförderung der Glückseligkeit aller vorzuschlagen, scheint sich ihm die Frage nach der Zustimmung der Normunterworfenen zu seiner Konzeption von selbst zu erledigen. Noch in seinem Spätdialog „Politikos" wendet er sich daher nachdrücklich gegen die Auffassung, man dürfe eine Verfassung nicht gegen den Willen eines ganzen Volkes ändern, indem er unterstellt, auch ein Arzt müsse schließlich berechtigt sein, einem Kranken selbst unter Anwendung von Gewalt eine Therapie aufzuzwingen (Polit. 296 a 8—297 b4) 18 . Zwischen Piatons kognitivistischer Wertlehre und seiner autoritären Staatsauffassung besteht mithin ein einsehbarer Zusammenhang. IV Man muß also mit Bedauern feststellen, daß Piatons Versuch einer Begründung der Ethik gescheitert ist. Statt eine Begründung unserer moralischen Überzeugungen zu liefern und diese aufgrund sorgfältiger Analysen von sonstigen, für eine philosophische Ethik irrelevanten Wertüberzeugungen zu scheiden, beruft sich Piaton immer dann, wenn er die ethische Dimension seiner Fragestellung überhaupt erreicht, lediglich auf die intuitive Gewißheit und angebliche Erkennbarkeit eben dieser Überzeugungen. Wie sehr er sich auch bemüht, die universale Verbindlichkeit moralischer Normen zu verteidigen, indem er ihnen in der Gestalt von Werten die Objektivität wahrer Erkenntnis zuspricht, so verfehlt er sein Beweisziel auf diesem Wege doch nur umso mehr: Gerechtigkeit erscheint ihm wie eine Art Medizin, die der philosophische Staatsmann seinen Untertanen sogar gewaltsam beibringen darf und die ihre heilsame Wirkung auf deren Verhalten auch tun kann, ohne daß die 18

Piaton hat dies in den „Gesetzen" zwar abgeschwächt: Ein liberaler Arzt schreibt seinen Patienten nicht eher etwas vor, bis er sie irgendwie überreden konnte (Legg. 720 d 6—7) ; vgl. 857 d ff.. Aber Piaton ist dabei geblieben, daß ein Gesetzgeber eine Verfassung sowohl durch Überredung wie mit Gewalt einführen darf (722 b 5—6; vgl. 684c).

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Betroffenen dies von sich aus wollen19. Die Begriffe des Willens, der Entscheidung und der Anerkennung haben daher in seinem System keinen Platz20. Selbst wenn er von „Seele" spricht und dabei sich auf die moralische Verantwortlichkeit eines Individuums bezieht, meint er eine im Grunde unpersönliche, irgendwie in uns vorhandene unvergängliche Substanz. Daß moralische Verbindlichkeit ihre Grundlage in den Willensentscheidungen von Individuen hat, die einander als Personen anerkennen, und ihre Beziehungen durch gemeinsam anerkannte Normen regeln, muß ihm deshalb verschlossen bleiben. Da ihm diese für eine Begründung der Ethik unentbehrlichen Begriffe noch nicht einmal zur Verfügung stehen, bleibt dies für ihn überhaupt etwas Unsagbares. Nur außerhalb seiner Versuche einer rationalen Begründung der Ethik, in mythischer Rede, konnte es Piaton daher gelingen, Einsichten mitzuteilen, die sein durch Sokrates gewecktes Problemverständnis angemessen wiedergeben. So ist es eben höchst bezeichnend, daß er auf die Frage, warum wir moralisch unerlaubte Handlungen selbst dann unterlassen sollen, wenn wir sie wie Gyges ungestraft und unbemerkt tun könnten, erst gegen Ende des X. Buchs der „Politela" in religiöser Sprache antwortet, nachdem die Darlegung seiner ethischen Theorie abgeschlossen ist (612a 8ff.).So wird auch verständlich, warum ihm gerade in den Schlußmythen seiner Dialoge besonders erhellende Darstellungen seiner moralischen Einsichten gelingen. Aber er war offenbar außerstande, diese Einsichten in einer adäquaten philosophischen Theorie zu formulieren und jene mythischen Vorstellungen in rationale Rede zu transformieren. Zu einem nicht-metaphorischen Begriff der moralischen Integrität gelangte er nirgends. Selbst seine Ideenlehre (und damit auch seine Lehre von der „Erinnerung" als der Erkenntnisquelle unserer sittlichen „Einsicht") blieb daher noch ein quasi-mythisches Gebilde, das sich in seiner Spätzeit durch rationale Kritik zu zersetzen drohte und im „Phaidros" und „Timaios", wie gerade Wilhelm Kamiah überzeugend dargetan hat21, nur in mythischer Gestalt bewahren ließ. Da in seinen mittleren Dialogen rationale und mythische Rede oft unmerklich ineinander übergehen, konnte es Piaton sogar verborgen Piaton glaubt daher allen Ernstes, daß Strafe als solche den Bestraften gerecht mache (vgl. Gorg. 477 a 5—6; so auch Legg. 854 d 7—e 1). 20 Auf die Bedeutung des Vorsatzes bei der moralischen Beurteilung einer Handlung geht, nach einigen Ansätzen Piatons im IX. Buch der „Gesetze", erst Aristoteles im ΠΙ. Buch der „Nikomachischen Ethik" ein. Der Begriff der moralischen Pflicht wird erst in der stoischen Ethik ausgebildet. 21 Wilhelm Kamiah, Platon: Selbstkritik im Sophistes, Zetemata 33, München 1963. 19

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bleiben, wie sehr sein Versuch einer rationalen Begründung der Ethik und die Darlegung seiner moralischen Einsichten in religiös-mythischer Sprache divergieren. Wenn er etwa gegen Ende des X . Buches der „Politela" erklärt, dem gerechten Manne werde, im Leben oder nach dem Tode, Armut, Krankheit oder was sonst für ein Übel gehalten wird, zum Guten ausschlagen (613 a 4—7), so hat er den eudämonistischen Ansatz seines rationalen Begründungsversuchs offenbar weit hinter sich gelassen. Denn im Hinblick auf den Endzweck eines glücklichen Lebens sind Armut und Krankheit ja ohne Zweifel nicht nur vermeintliche, sondern wirkliche Übel; aber der nach Gerechtigkeit strebenden und ihren Frieden mit Gott suchenden Seele können diese Übel ganz gewiß zum Heil gereichen, wenn sie gelernt hat, daß es nicht so sehr darauf ankommt, glücklich zu sein, als der Glückseligkeit, nach Kants Worten, würdig zu werden. So mag man auch umgekehrt bezweifeln, ob ein Streben nach Glück erfolgreich sein kann, solange Gerechtigkeit nicht als etwas Erstrebenswertes gilt. Dies alles setzt jedoch eine sorgfältige Unterscheidung zwischen einer eudämonistischen und einer moralischen Wertordnung gerade voraus, während es Piaton in der ganzen „Politela" erklärtermaßen darum zu tun ist, die Übereinstimmung beider Wertordnungen zu erweisen. Dies ist umso bedauerlicher, als er selbst im Schlußmythos des „Gorgias" bereits diese beiden Gesichtspunkte deutlich unterschieden hatte, indem er dem an Glücksgütern orientierten Totengericht unter Kronos das nach moralischen Maßstäben urteilende Totengericht unter Zeus entgegenstellte. Aber auch diese Einsicht vermochte Piaton offenbar nicht in einer rationalen Begründung der Ethik zu entfalten. Dazu wäre indes nicht nur die Preisgabe seines eudämonistischen Ansatzes erforderlich gewesen. Wegen seiner eleatischen Herkunft vermochte sich Piaton auch nie von dem Vorurteil zu befreien, nur etwas Seiendes, also etwa eine Natur- oder Seinsordnung, komme als verläßliches Fundament der Ethik in Betracht. Mit seinem sophistischen Gegner teilt er daher nicht nur die Annahme, Gerechtigkeit müsse etwas „von Natur aus" Gutes sein, sondern auch die Überzeugung, daß menschliche Konventionen, etwa ein Gesellschaftsvertrag, als Basis der Ethik durchaus nicht tragfähig genug sind. Daher konnte ihm kaum auffallen, daß der Gesellschaftsvertrag in der Theorie des anonymen Sophisten den Gleichheitsgrundsatz und die Eigentumsgarantie, mithin keineswegs nur willkürliche, positiv-rechtliche Normen zum Gegenstand hat. Uns dagegen fällt es im geschichtlichen Rückblick nicht schwer, in diesen Normen die ersten Ansätze eben jenes vernunftrechtlichen Normen-

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systems wiederzuerkennen, das zwei Jahrtausende nach Piaton von Thomas Hobbes formuliert worden ist und das auch noch Kants und Fichtes Ethik und Naturrechtslehren zugrunde liegt. So ließ sich Piaton auch nicht auf eine Prüfung der Vormeinung seines Gegners ein, der Gleichheitsgrundsatz, als die Fundamentalnorm des Gesellschaftsvertrags, beruhe lediglich auf einer willkürlichen, jederzeit widerruflichen und also unverbindlichen Konvention. Daß durch rechtsetzende Akte Verbindlichkeit geschaffen werden könne, daß Geltung also nicht etwas an sich Vorhandenes sein müsse, war für ihn ein unvollziehbarer Gedanke. Zur Begründung der Ethik fehlte ihm daher außer dem Prinzip der Subjektivität auch noch das Prinzip der Spontaneität. Gerade die Erzählung vom Ring des Gyges hätte ihn indes darauf aufmerksam machen können, eine wie große Rolle bei moralischen Entscheidungen unsere wechselseitige Anerkennung als verantwortliche und zurechnungsfähige Personen spielt. Denn Gyges kann seinen unsichtbarmachenden Ring ja nur zu ungerechten Handlungen verwerten, wenn er zu sein aufhört, als was er unter seinen Mitmenschen gilt: ein verantwortlich und zurechnungsfähig Handelnder. Durch die Aufgabe seiner Persönlichkeit ist er aber auf seine physische Existenz reduziert und müßte sich nun fragen, ob er dies wirklich wollen kann: ein bedingungslos die Befriedigung seiner Begierden und Bedürfnisse suchendes Triebwesen zu sein, und zwar unter der Bedingung, sich dauernd den Anschein geben zu müssen, er sei jene verantwortlich handelnde Person, für die ihn die anderen halten und der sie vertrauen. Piaton hat zwar erkannt, daß der vollkommen ungerechte Mensch vollkommen isoliert von seinen Mitmenschen zu existieren gezwungen sein würde ; aber auf die Auslotung der Bedeutung dieses Befundes für die Frage nach dem Grund der Verbindlichkeit moralischer Normen hat er sich nicht mehr eingelassen. Er hat daher auch nicht mehr den Zusammenhang zwischen der Anerkennung moralischer Normen und der wechselseitigen Anerkennung von Personen untersucht und als Bedingung der Möglichkeit unseres Handelns sowie als Geltungsgrund von Verbindlichkeit erkannt. V Vergleicht man mit diesem Begründungsversuch Piatons die Gedanken, die Wilhelm Kamiah zur Begründung der Ethik vorgetragen hat, so stößt man zunächst zwar auf eine Schicht gemeinsamer Ansätze. Dahinter entdeckt man jedoch bald entscheidende Unterschiede zwischen beiden Autoren.

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Kamiah stützt sich bei seiner Argumentation wie Piaton auf eine Anthropologie, in der die Bedürftigkeit des einzelnen und sein Angewiesensein auf andere als Grundeinsichten auftreten. Von diesen anthropologischen Thesen möchte er ebenfalls zu einer normativen Ethik fortschreiten. Dagegen wird man gerade im Hinblick auf das platonische Vorbild Kamlahs einwenden müssen, daß Bedürftigkeit und wechselseitiges Aufeinander-Angewiesensein der Menschen nicht als Grund der Verbindlichkeit moralischer Normen taugen, weil sie Naturtatsachen sind, aus denen verbindliche Normen nicht abgeleitet werden können. Über diese Schranke hilft auch Kamlahs existenzphilosophischer Rekurs auf die Einsichtsfähigkeit eines gutwilligen Skeptikers nicht hinweg. Auch andere Lebewesen sind schließlich, wie er selbst hervorhebt, bedürftig und aufeinander angewiesen, ohne daß ihnen daraus eine moralische Verbindlichkeit erwächst. Aber es nützt auch nichts darauf hinzuweisen, daß wir Menschen überdies um unsere Bedürftigkeit wissen; denn dies reicht nur dazu, Ratschläge der Klugheit zu formulieren, wie wir am zweckmäßigsten im Interesse unseres wohlverstandenen Eigenwohls handeln. Dies mag uns sogar nahelegen, wenigstens ein Mindestmaß an Solidarität mit unseren Mitmenschen zu üben; aber solange diese Solidarität nur im Dienste des wohlverstandenen Eigenwohls steht, bleibt sie ein moralisches Adiaphoron. Sobald sie indes als moralisch geboten anerkannt wird, betrachten wir einander nicht mehr einfach als bedürftige und aufeinander angewiesene Lebewesen, d ; e um ihre Bedürftigkeit wissen, sondern als einander verantwortliche Personen, die einander beizustehen gesonnen sind. Damit haben wir einander einen Status zuerkannt, der uns nicht schon als Menschen „von Natur aus" zukommt, sondern den wir uns erst aufgrund einer normativen Interpretation unserer menschlichen Lage gegeben haben. Die normative Interpretation unserer menschlichen Lage kann weder als Akt der Einsicht noch als Ausdruck wohlwollender Triebe in der Naturanlage des Menschen zureichend begriffen werden. Vermutlich ist zwar kein Mensch gänzlich frei von solchen wohlwollenden Trieben, und gewiß darf man viele unserer spontanen Hilfeleistungen auf sie zurückführen. Aber wenn wir dafür halten, daß wir zu gewissen Akten des Beistands, sei es rechtlich oder moralisch, gegenseitig verpflichtet sind, so berufen wir uns nicht auf diese Triebe, sondern auf unsere Anerkennung verbindlicher Normen, die immer schon die gemeinsame Basis unserer wechselseitigen Beziehungen geschaffen hat. Daher kann es denn auch geschehen, daß uns beim Anblick menschlichen Leidens und Elends einsichtig wird, daß wir nicht nur emotional zu Mideid und

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Hilfeleistung gestimmt und motiviert sind, sondern daß wir auch moralisch verpflichtet sind zu helfen. Aber dieser Akt der Einsicht macht uns nur klar, daß wir die Verpflichtung zur Solidarität entweder schon immer anerkannt haben oder aber uns entscheiden sollten, wenigstens fortan diese Verpflichtung anzuerkennen, weil wir verstanden haben, was es für uns bedeutet, wenn wir auf diese elementare Gemeinsamkeit menschlichen Lebens verzichten wollten. Der Akt der Einsicht verhilft uns also nur dazu, fortan die Verbindlichkeit von Normen anzuerkennen oder tins (um einen hierher gehörigen Ausdruck Piatons zu gebrauchen) daran zu „erinnern", daß wir eine Norm immer schon als verbindlich anerkannt haben. Die Anerkennung selbst hingegen ist nicht mehr eine Erkenntnis, sondern eine Entscheidung, durch die wir »ins eine Forderung zueigen machen. Was Kamlahs Begründung der Ethik von Piatons Begründungsversuch unterscheidet, ist nun gerade sein Eingehen auf diesen Zusammenhang von Anerkennung und Verbindlichkeit. Daß aus einer anthropologischen These über die Bedürftigkeit des Menschen nicht ein moralisches Gebot der Solidarität abgeleitet werden kann, steht für ihn außer Zweifel. Daran zeigt sich, daß er nur auf dem Wege über Hume und Kant hinweg an Piaton anknüpfen kann. Die Verbindlichkeit des Gebots der Solidarität erweist sich ihm daher auch nicht in einem theoretischen Akt der Einsicht in unsere menschliche Lage, sondern auf dem „Umweg über den Appell an die Lebenspraxis, in der wir immer schon stehen" : Wer nicht irgendwann in seinem Leben schon einmal in einer konkreten Situation eingesehen hat, daß er hier die Bedürfnisse anderer zu beachten und handelnd zu berücksichtigen hatte, daß er dies getan oder auch versäumt hat, wer also an dieses Stück seiner eigenen Lebenserfahrung nicht durch appellierende Rede erinnert werden kann, der muß für alles hier Gesagte taub bleiben.

Gleichwohl bleibt er der sokratisch-platonischen Auffassung, „Tugend" sei lehrbar, ähnlich wie sein Erlanger Weggenosse Paul Lorenzen, noch soweit verbunden, daß er jene Entscheidung, durch die wir uns eine moralische Forderung zueigen machen, nicht von der Einsicht trennen möchte, die ihr vorausgeht. Dies nötigt ihn dazu, auf biblischen Sprachgebrauch zurückzugreifen und denjenigen, der zwar einsieht, was ihm in appellierender Rede mitgeteilt wird, aber dem Appell zu folgen sich nicht entschließt, als „taub" zu bezeichnen. Dabei läßt doch bereits die Verwendung des Wortes .Appell' erkennen, daß hier in auffordernder Rede gesprochen wird22. Zwischen Kamlahs moralischer Anschauung 22

An anderer Stelle (aaO 95) unterscheidet Kamiah zwischen „bloßer" Einsicht und „wahrer" Einsicht, um denselben Sachverhalt zu beschreiben: Wer den Satz, wir Menschen seien

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und seiner ethischen Theorie verbleibt so, als Erbteil der platonischen Philosophie, immer noch der Nachklang nicht aufgelöster Dissonanz. alle bedürftig, nur versteht, ohne sich auch die Norm, wir sollten demgemäß handeln, zueigen zu machen, der hat diesen Satz „bloß" eingesehen; wer sich hingegen auch die Norm zueigen macht, der hat ihn „wirklich" eingesehen. Es handelt sich jedoch nicht um Unterschiede der Einsicht, sondern verschiedene Stellungnahmen (Entscheidungen) zu derselben Einsicht. In diesem Zusammenhang kommt Kamiah auch auf den Erlanger Topos .Ethik der Logik' (vgl. den gleichlautenden Aufsatz von Kuno Lorenz in: H.-G. Gadamer (Hrsg.), Das Problem der Sprache, München 1967,81—86) zurück (aaO 98): Sogar die Gesetze der Logik müßten an die Aufgeschlossenheit eines Gesprächspartners „appellieren". Bei diesem Argument wird die Zustimmung, die zur Herstellung eines gemeinsamen Sprachgebrauchs erforderlich ist, mit der Zustimmung zu einer Aufforderung, die in einer gemeinsamen Sprache formuliert ist, verwechselt. Diese Verwechslung hat auch außerhalb des Erlanger Kreises nicht geringe Verwirrungen verursacht, und der Sache selbst, die seit den Tagen des Sokrates immer wieder vergeblich gesuchte rationale Begründung der Ethik zu formulieren, eher geschadet.

GÜNTHER PATZIG

Piatons politische Ethik Wenn wir uns auf dem Boden der gegenwärtigen Lage in der Philosophie und heutiger gesellschaftlicher Zustände mit Schriften und Theorien Piatons wissenschaftlich beschäftigen wollen, bieten sich uns verschiedene Verfahrensweisen an: Wir können erstens eine historische Erklärung zu geben versuchen, die Piatons Philosophie entwicklungsgeschichtlich erläutert, sein Verhältnis zu philosophischen Vorgängern klärt und seine Nachwirkung in der griechischen und mittelalterlich-neuzeitlichen Tradition untersucht. Mögüch ist auch, zweitens, eine ideologiekritische Erörterung platonischer Theorien. Im Rahmen solcher Untersuchungen könnte man Piatons Thesen und Argumente daraufhin prüfen, welche politischen Hoffnungen und Ziele er mit seiner Tätigkeit als philosophischer Schriftsteller und durch die Gründung der Akademie verfolgte. Entsprechend könnte man fragen, welche politischen Grundauffassungen und nicht selbst zum Problem gemachten Vorurteile in Piatons uns überlieferten Texten ihren Niederschlag gefunden haben mögen. Ein drittes mögliches Verfahren läßt sich kurz durch den Titel „Philosophische Sachdiskussion" kennzeichnen. Im Rahmen einer solchen Bemühung um Piatons Texte muß es vor allem darum gehen, Piatons Beiträge zu einer heute noch nicht abgeschlossenen Diskussion über philosophische Probleme aufzunehmen und sie, ebenfalls auf der Ebene der heutigen philosophischen Theorienbildung, kritisch zu durchdenken. Man braucht nicht viele Worte über den Sachverhalt zu verlieren, daß die genannten drei Hauptformen eines methodischen Umgangs mit Piatons Texten einander ergänzen und daß sie, jeweils absolut gesetzt, die Verzerrung und Verkürzung des übergreifenden Gegenstandes zur Folge haben würden. Das Ziel meiner folgenden Ausführungen sehe ich vor allem darin, die Bedeutung des Gesichtspunkts der philosophischen Sachdiskussion hervorzuheben.

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Wer die deutschsprachige Platon-Literatur kennt und die gegenwärtige Situation im Universitätsunterricht beobachtet, wird bemerken, daß in der Literatur die philosophische Sachdiskussion lange Zeit im Schatten der philologisch-historischen Erklärung gestanden hat und daß sie in unseren Tagen an manchen Universitäten wiederum unter F.influß einer heute meist von marxistischen Grundsätzen geleiteten Ideologiekritik gerät. Für die historische Tendenz mögen die in ihrer Art vorzüglichen Platon-Bücher von Wilamowitz und Friedländer als Beispiel genügen. Als Beispiel ideologiekritischer Platon-Interpretation könnte man die Platon-Deutung Marcuses in seinem Buch „Der eindimensionale Mensch" nennen. Uber das bedeutende Platon-Buch von Karl Popper spreche ich gleich. Einstweilen möchte ich aber diesen verbreiteten Auffassungen nur die These gegenüberstellen, daß man Piaton als Philosophen nur dann kennenlernt, wenn man sich in eine Sachdiskussion mit ihm einläßt, und daß man diese Diskussion aus prinzipiellen Gründen nicht anders führen kann als vor dem Horizont dessen, was wir zu den verhandelten Problemen jeweils selber meinen. In vielen Fällen wird es so sein, daß man die eigenen Meinungen sich erst im Zug der kritischen Auseinandersetzung mit Piatons Argumenten bewußt machen und zu formulieren versuchen kann. Auf solche Weise wird der heutige Leser, Piatons Texte angemessen studierend und Piatons Argumenten nachdenkend, zum Philosophieren genötigt. „Angemessen" heißt hier — und darin sehe ich allerdings den wesentlichen methodischen Vorteil der philosophischen Sachdiskussion gegenüber den beiden anderen skizzierten hermeneutischen Ansätzen— : in Übereinstimmung mit der Intention der Verfasser philosophischer Texte. Philosophische Texte sind ihrer Natur nach dazu bestimmt, wohl erwogene Meinungen über Sachfragen dem Leser einleuchtend erscheinen zu lassen. Es ist eine wesentliche Schwäche der ideologiekritischen wie der historisierenden Betrachtungsweise, daß sie diese Sachbezogenheit philosophischer Texte nicht ernst, oder doch wenigstens nicht ganz ernst nehmen. Im Falle der historisierenden Betrachtung fragt man vor allem nach der Wirksamkeit von Theorien und nicht nach ihrer Geltung. Die ideologiekritische Analyse stellt sich auf die Absiebten des Verfassers ein, von denen in solchem Zusammenhang meist unterstellt wird, sie seien offenbar nicht diejenigen, von denen der Verfasser ausdrücklich spricht. Karl Popper hat 1945 im ersten Band seines Buchs „The Open Society and its Enemies" zuerst eine ideologiekritische Interpretation

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auf hohem wissenschaftlichen Niveau vorgelegt1. Dieser erste Band ist 1957 unter dem Titel „Der Zauber Piatons" auch in deutscher Sprache erschienen. Popper ging stellenweise so weit, Piaton absichtliche Irreführung des Lesers und eine sophistische Argumentationsweise zu unterstellen. Diese Auffassung hinderte ihn nicht daran, Piaton zugleich den „größten Philosophen aller Zeiten" zu nennen2. Diese Auffassung Poppers leidet, so scheint es mir, an einem inneren Widerspruch. Eine der Voraussetzungen, die wir machen müssen, wenn wir einen Philosophen unter die „großen" seiner Zunft rechnen wollen, scheint die Uberzeugung von seiner intellektuellen Redlichkeit zu sein. Ein großer Philosoph kann prinzipiell irren; er kann gefährliche, ja geradezu verhängnisvolle Theorien aufstellen; er kann auch gelegentlich unter der Wirkung massiver Vorurteile argumentieren. Das alles wäre, für sich genommen, noch kein Grund, an seiner philosophischen Größe zu zweifeln. Denn die Größe eines Denkers bemißt sich nicht wesentlich an der sachlichen Richtigkeit seiner Thesen. Sie hängt eher damit zusammen, in welchem Maß er die philosophische Diskussion durch die Entdeckung neuer Fragestellungen beeinflußt hat. Ein Autor aber, der nur zum Schein argumentiert, der selbst an die Thesen nicht glaubt, die er vertritt, ein solcher Autor ist ein Pseudophilosoph, ein Sophist, vielleicht ein geschickter Agitator. Ein Pseudophilosoph kann jedoch ganz gewiß kein großer Philosoph sein. Was nun Poppers ideologiekritische Interpretation angeht, so kann man aus der lebhaften und detaillierten Diskussion, die sich an sein Buch angeschlossen hat, folgendes Fazit ziehen: Es ist Popper nicht gelungen, den Nachweis für seine These zu führen, Piaton könne auch nur an einer einzigen Stelle seiner Schriften nicht genau das gemeint haben, was er sagt. Andererseits hat Popper — und darin liegt das bedeutende Verdienst seines Buches — auf schwerwiegende Argumentationsfehler und offensichtliche Irrtümer in Piatons Texten, besondeis in Piatons „Staat", hingewiesen. Dieser Nachweis war um so wertvoller, als viele dieser Irrtümer, durch Piatons Autorität gestützt, die Theorienbildung im Bereich der politischen Philosophie und der Ethik noch heute beeinflussen3. Im folgenden möchte ich einige ausgewählte Argumentationen aus Piatons „Staat", die für Piatons Ethik und politische Philosophie von K. R. Popper, The Open Society and its Enemies, Bd. I, The Spell of Plato, London 1945, 4. Aufl. 1962. Dt. Übersetzung u. d. Titel „Der Zauber Platos", Bern 1957. * Κ . R. Popper, a. a. O., S. 98, dt. Ausg. S. 141. 3 R. Robinson, Dr. Popper's Defence of Democracy, Philos. Review, Band 60, 1951 ; auch in: R. Robinson, Essays in Greek Philosophy, Oxford 1969, S. 74—99. 1

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erheblicher Bedeutung sind, unter der Voraussetzung ihres Wahrheitsanspruchs kritisch betrachten. Wir werden damit schnell an Probleme herangeführt werden, die auch heute noch sachliche Bedeutung haben. Darin liegt nach meinem Urteil keine anachronistische Modernisierung antiker Texte4, sondern nur ihre Anerkennung als klassische Dokumente der philosophischen Reflexion. Gerade solche Texte nennen wir „klassisch", die in jeder Zeit zur Sachdiskussion jeweils gegenwärtiger Probleme noch mit Gewinn herangezogen werden können6. Wir treten nun in die Untersuchung von Piatons politischer Ethik, soweit sie sich aus der „Politeia" abnehmen läßt, ein. Die Leitfrage des Dialogs ist die nach dem „Wesen" der Gerechtigkeit und die damit zusammenhängende Frage, ob der Besitz der Gerechtigkeit, ohne Rücksicht auf die aus diesem Besitz folgenden Wirkungen, für sich allein erstrebenswert ist (367a—e). Hin gerechter Mensch ist ein Mensch, wie er sein soll ; 4 5

H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 2. Aufl. 1965, S. 250—269. Angesichts der deutschsprachigen Platon-Literatur muß man solche einschränkenden Bemerkungen wohl noch ausdrücklich anbringen; in der angelsächsischen Philosophie hat sich die Sachdiskussion der beschriebenen Art seit einiger Zeit durchgesetzt. Für Piaton und das im Text behandelte Thema wäre als Beispiel philosophischer Sachdiskussion der Kommentar von R. Cross und A. D. Woozley, Plato's Republic. A Philosophical Commentary, London 1964, zu nennen, für die theoretische Philosophie besonders R. Robinson, Plato's Earlier Dialectics, 2. Aufl. Oxford 1953. In Deutschland setzen Friedländers PiatonBände (P. Friedländer, Piaton Bd. I—ΠΙ, 2. Aufl. Berlin 1954—60) die historisch-philologische Tradition in eindrucksvoller Weise fort, während W. Bröckers Buch „Piatos Gespräche", Frankfurt 1960, wenigstens an einigen Stellen mit Energie die Sachdiskussion aufgenommen hat. Inzwischen haben die viel diskutierten Beiträge der sogenannten „Tübinger Schule" (H.-J. Krämer, Arete bei Piaton und Aristoteles, Heidelberg 1959 und K. Gaiser, Piatons ungeschriebene Lehre, Stuttgart 1953) die Sachdiskussion wieder zurücktreten lassen. Zum dabei zentralen Problem der „esoterischen" Lehre Piatons hier nur die folgende Anmerkung: Selbst wenn gesichert wäre, daß wir in der abstrakten Prinzipienlehre vom Einen und der unbegrenzten Zweiheit, die antike Sekundärquellen der platonischen Altersvorlesung „Über das Gute" zuweisen, die eigentliche Philosophie Piatons greifen könnten — und ich bin weit entfernt, das anzunehmen —, so müßte doch erst einmal plausibel gemacht werden, daß es sich dabei um eine fruchtbare, zur Lösung wirklicher philosophischer Probleme jedenfalls einen beachtlichen Beitrag bietende Theorie handelt, bevor man sich für solche Entdeckungen erwärmt. Diese notwendige Sachdiskussion bleibt in den Beiträgen der Tübinger Schule ausgeklammert. Das Faktum scheint für sich zu sprechen, daß heutige Philosophen ihre eigenen Probleme sehr oft in ständigem Rückgriff auf Piatons Dialoge zu diskutieren pflegen, während jene sogenannte ungeschriebene Lehre Piatons uns wenigstens einstweilen in bizarrer Unzugänglichkeit gegenübersteht. Ansätze zu kritischer Sachdiskussion enthalten die Beiträge des Verfassers : Piaton und das Problem des Irrtums, Neue Sammlung 8, 1968; Piatons Ideenlehre, kritisch betrachtet, Antike und Abendland 16, 1970, und Logic in the „Euthyphro", in: Islamic Philosophy and the Classical Tradition. (Festschrift für R. Walzer), Oxford 1972.

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also kann Piaton seine Leitfrage auch formulieren: Auf welche Weise sollen wir leben (352 d 6) ? Das entspricht der Auffassung des Aristoteles, die Gerechtigkeit sei „das Ganze der Tugend, so wie es sich im Umgang mit anderen Menschen zeigt" (Nikomachische Ethik E 1129 b 25 f.). In diesem Ansatz wirkt sich die sprachliche Tatsache aus, daß „gerecht" im Griechischen eine weitere und eine engere Bedeutung haben kann. Das ist auch im Deutschen in altertümlichen Wendungen wie „ein waidgerechter Jäger" oder „in allen Sätteln gerecht" noch greifbar. Neben der weiteren Bedeutung, die in solchen Wendungen zum Vorschein kommt, steht eine speziellere Bedeutung, in der wir von „gerechten" Entscheidungen und Gesetzen sprechen. Außer dem Unterschied einer weiteren und einer engeren Bedeutung des Ausdrucks „Gerechtigkeit" ist bei der Analyse von Piatons Texten auch noch die Unterscheidung zwischen einer populären oder vulgären Auffassung von Gerechtigkeit und der philosophischen, d. h. platonischen Konzeption zu beachten. Nur im Hinblick auf seine eigene, von der populären grundverschiedenen Auffassung von Gerechtigkeit gelingt es Piaton, zu zeigen, daß schon ihr Besitz glücklich machen kann. Daß dies auch von der Gerechtigkeit im populären Verstände gilt, zeigt Piaton nicht. Das von ihm dafür gegebene Argument ist, wie wir sehen werden, nicht schlüssig. Der berühmte Übergang, den Piaton am Anfang des zweiten Buchs des Staates vollzieht, führt uns von der Betrachtung des Individuums und seiner Gerechtigkeit zu der des Staatswesens im ganzen. Diesen Ubergang (368 e) begründet Piaton mit einer methodischen Überlegung, die in der deutschsprachigen kommentierenden Literatur fast durchweg als legitim akzeptiert worden ist®: So wie es vernünftig ist, eine Inschrift, die in einer kleineren und einer größeren Version vorliegt, wegen besserer Lesbarkeit zunächst in der größeren Version zu studieren, so müsse man die Gerechtigkeit zuerst im großen, nämlich im Zusammenhang des Staatswesens betrachten, um sie dann später im Individuum um so besser erkennen zu können. Nun ist der Staat zwar größer, aber dafür auch viel komplizierter in seinem Aufbau, schon deshalb, weil er sich in gewisser Weise aus Individuen zusammensetzt. In Wirklichkeit geht es Piaton natürlich nicht um das Verhältnis von größeren und kleineren Objekten, die daher leichter oder schwerer zu erkennen wären, sondern um das Verhältnis zwischen Außen und Innen: Der Staat ist die Manifestation und Objektivation 6

2. B. P. Friedländcr a. a. O., Bd. 3, S. 66f., W. Bröcker, Piatos Gespräche, S. 229. 29»

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der Gesinnungen seiner Bürger (435e 1—6). Das Wahre an Piatons methodischem Grundsatz ist, daß man von Gerechtigkeit der Individuen nur sprechen kann, wenn man sie im Zusammenhang der Gesellschaft betrachtet. Genau das ist es auch, was Piaton im folgenden tun will. Er begründet sein Vorgehen mit einem Bild, das auf die Sachlage, für die es ein Bild sein soll, nicht eigentlich zutrifft. Im vorliegenden Falle hängt nicht viel daran, auf diese Argumentationsschwäche aufmerksam zu werden, da wir in der Sache, d. h. in dem einzuschlagenden Verfahren, Platon durchaus zustimmen können. Wir werden aber sehen, daß Piatons philosophische Argumentation an wesentlichen Punkten durch eine solche irreführende Bilderlogik bestimmt ist. Man kann in diesem Zusammenhang auch von einem Mißbrauch von Analogien sprechen; aber diese Ausdrucksweise würde uns hindern, den Einfluß abzuschätzen, den eine überredende Bildlichkeit auf das philosophische Denken allerdings ausüben kann. Abstrakte Sachverhalte werden in der Philosophie immer wieder durch konkrete Veranschaulichungen dem Verständnis nähergebracht. In solchen Fällen besteht fest immer die Gefahr, daß Züge des konkreten Bildes auf den abstrakten Sachverhalt übertragen werden. Die natürliche Sprache, in der Philosophen ihre Argumente formulieren müssen, ist unaufhebbar bildlich, die Gefahr für die Philosophie daher unaufhebbar und allgegenwärtig. Piaton ist dieser Gefahr, wie wir sehen werden, oft zum Opfer gefallen. Wir Heutigen sind darin vorsichtiger, denn nicht nur gebrannte Kinder, sondern auch Kinder gebrannter Vorfahren können dem Feuer aus dem Wege gehen. Nachdem die Fragestellung und der einzuschlagende Weg der Untersuchung von Piaton festgelegt sind, wird zur Einsicht in das Wesen des Staates eine rationale Rekonstruktion seiner Entstehung gegeben. Es fällt auf, daß Piaton als Motiv der Bildung von menschlichen Gemeinschaften die Befriedigung ökonomischer Bedürfnisse in den Vordergrund stellt. Der Minimalstaat (ή αναγκαιότατη πόλις, 369 d 11) entsteht durch arbeitsteilige Erzeugung der zum Leben notwendigen Güter: Nahrung, Unterkunft und Kleidung. Nach Piatons Meinung ist das wesentliche Motiv für die Verhaltensweise der Mitglieder jener „Minimalstadt" die Hoffnung auf den eigenen Vorteil. Die von Sokrates gestellte Frage, wo denn in dieser Minimalstadt die Gerechtigkeit zu finden sei (371 e), wird auffallenderweise gleich wieder fallengelassen, obwohl doch Einhaltung von Versprechen, ordnungsgemäße Ausführung übertragener Arbeiten, sparsames Umgehen mit den zur Verfügung stehenden Gütern usw. auch in einer solchen Minimalstadt wichtige Voraussetzungen eines gedeihlichen menschlichen Zusammenlebens sein müßten.

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Piaton meint offenbar, daß eist die ständische Gliederung einer voll entwickelten Stadt jene Strukturähnlichkeit mit dem Aufbau der menschlichen Persönlichkeit aufweist, die eine Übertragung seines Gerechtigkeitsbegrifïs von der Stadt auf das Individuum zuläßt. Diese ständische Gliederung der voll entwickelten Stadt wird mit folgenden Argumenten als wünschenswert, ja unvermeidlich gekennzeichnet: Der steigende Wohlstand einer Stadt verlangt die Ausdehnung des sekundären und tertiären Produktions- und Dienstleistungsbereichs. Das Agrarland zur Sicherstellung der Ernährung aller derer, die nicht in der primären Produktion mitarbeiten, müßte daher erweitert werden. Unter diesen Umständen werden beim Anwachsen des Wohlstandes einer Stadt Konflikte mit Nachbarstädten oder -Staaten immer wahrscheinlicher. Also muß es eine besondere Gruppe von Spezialisten innerhalb der Stadt geben, die für die bewaffnete Abwehr äußerer Angriffe zuständig sind. Piaton nennt diese Gruppe bekanntlich Wächter (φύλακες) und nicht Soldaten (στρατιώται). Dies tut er offenbar, weil er ihnen auch Polizeifunktionen zuweisen will, die tatsächlich im weiteren Verlaufe der Argumentation immer mehr ins Gewicht fallen. Bemerkenswert ist, daß er an der Stelle, an der die Wächter eingeführt werden, von diesen Polizeifunktionen nichts sagt. Neben die horizontale, auf der Tauschwirtschaft beruhende Spezialisierung unter gleichberechtigten Bürgern tritt nun auch eine vertikale Gliederung : Einmal die zwischen den übrigen Bürgern und den Wächtern, dann die Unterscheidung zwischen den übrigen Wächtern und den vollkommenen Wächtern oder „Archonten", also den Inhabern der Regierungsgewalt. Diese doppelte Zweiteilung läuft natürlich auf dasselbe hinaus wie eine Dreiteilung der Bevölkerung in ungleich starke Schichten oder Klassen. Mit diesem Ubergang zu einer hierarchischen Gliederung hängt nun eine andere wichtige Umorientierung der Argumentation zusammen: War der Beweggrund des Handelns der Bürger bisher bloß ihr wohlverstandenes Eigeninteresse bei gegenseitiger Indifferenz, so wird jetzt vorausgesetzt, der Einzelne könne nur in der Funktion, die er für das Ganze besitzt, Lebenssinn und innere Befriedigung finden. Nach einem Exkurs über die musische Erziehung der Wächter und die Bedingungen, unter denen sie im Staat leben sollen, erhebt der eine Dialogpartner des Sokrates, Adeimantos, als historische Figur einer von Piatons Brüdern, zu Anfang des 4. Buchs (419f.) mit Recht den Einwand, die Wächter müßten nach den Vorstellungen, die Sokrates entwickelt, ein ziemlich hartes und freudloses Leben führen. Sie würden also für ihre

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besonderen Leistungen und Pflichten nicht durch entsprechende Privilegien entschädigt. Die Antwort des Sokrates auf diesen Einwand besteht in zwei voneinander unabhängigen Bemerkungen : Erstens könnte es wohl sein, daß sie, wenn man es nur richtig versteht, auch bei ihrer kargen und unbequemen Lebensweise durchaus glücklich sein könnten; zweitens aber komme es doch auch gar nicht darauf an, ob ein bestimmter Stand, eine bestimmte Gruppe der Einwohner unserer Stadt besonders glücklich sei, sondern allein darauf, daß soweit möglich „die ganze Stadt" (όλη ή TTÓAis, 420b) oder auch etwa „die Stadt als ganze" glücklich sei. Dies kann durchaus harmlos interpretiert werden. Man kann das Glück der ganzen Stadt als das Gemeinwohl verstehen, als das Glück der überwiegenden Mehrheit, dem der Einzelne notfalls auch Opfer zu bringen bereit sein muß. Auch nach unserer heutigen Auffassung ist es ja zumutbar, wenn der Staat ζ. B. Individuen, die an einer gefährlichen Infektionskrankheit leiden, von den übrigen Menschen, auch von ihrer Familie, isoliert, d. h. ihrer Freiheit beraubt. In solchen Fällen halten wir es für richtig, das Interesse des Einzelnen dem der Allgemeinheit unterzuordnen. Freiüch würden wir gewisse Einschränkungen machen: Es gibt unverzichtbare Lebensinteressen und Persönlichkeitsrechte des Einzelnen, die auch durch das überwiegende Interesse der Mehrheit nicht aufgewogen werden können. Und zweitens, und dies ist ein noch wichtigerer Gesichtspunkt, würden wir sicher nicht glauben, ein Staat oder eine Gesellschaft könnte glücklich genannt werden, wenn nicht alle oder die meisten der Mitglieder des Gemeinwesens wenigstens zufrieden sind und keiner, soweit das durch menschliche Einwirkung überhaupt verhindert werden kann, übermäßig leiden muß. Das Glück des Staates, eines Landes oder eines Gemeinwesens ist für uns (wie schon für Aristoteles, vgl. Pol. Β 5, 1264b 16—22) eine Funktion des Glücks der in ihm jeweils lebenden Individuen. Piaton scheint aber bereit zu sein, das Glück eines Gemeinwesens als eine selbständige Größe anzusehen, so als wäre der Staat ein Individuum eigener Art, dessen Wohlbefinden unabhängig von dem seiner Mitglieder festgestellt werden kann. Hier zeigt sich zum ersten Mal im Zusammenhang des „Staats" der „holistische" oder „organische" Staatsbegriff Piatons. Eine solche Konzeption liegt immer dann nahe, wenn man das Verhältnis des Staats zu seinen Bürgern mit dem des Organismus zu seinen Organen und Zellen vergleicht, wie Piaton es auch tut. Dieser Vergleich ist in manchem berechtigt : Der Einzelne ist ja in seiner Existenz und Lebensweise von der Gesellschaft, in der er lebt, abhängig und geprägt. Der Vergleich ist aber wieder nur in Grenzen anwendbar: Die Grenzen wet-

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den sichtbar, wenn man sich klar macht, daß Organe und Zellen keine eigenen Wünsche, Wertvorstellungen und Interessen haben, daß sie nicht, wie die Individuen, frei und verantwortlich handeln können, und daß der Staat seinerseits keinen Willen hat, der nicht die Funktion des Willens wenigstens einiger der Individuen ist, die ihm angehören. Zur Unterstützung seines Arguments gibt Piaton uns wiederum ein Bild (420cd). Auch bei einer Statue sei es ja nicht notwendig, daß die einzelnen Teile schön sind, um die Statue schön zu machen. So könnte auch der Staat glücklich sein, ohne daß seine Teile, die Stände oder die Individuen glücklich sind. Wiederum hat die deutsche Platon-Literatur dies Argument schweigend passieren lassen. Aber auch dieser Vergleich wird durch die verglichenen Sachverhalte nicht voll gedeckt: Schönheit ist gerade ein Prädikat von der Art, das Teilen und Ganzen unabhängig voneinander zukommen oder nicht zukommen kann: Ein Gedicht kann, braucht aber nicht aus schönen Worten zu bestehen, um selbst schön zu sein. Was für die Logik des Prädikats „schön" gilt, gilt nun aber gerade nicht für das Prädikat „glücklich". Ein Staat ist nur metaphorisch glücklich, primär glücklich können nur empfindende Individuen sein, und der Staat kann nur im Hinblick auf solche Individuen selbst „glücklich" genannt werden. Demgegenüber ist, um bei Piatons Beispiel zu bleiben, eine Statue in demselben Sinne „schön" wie es ein Teil von ihr sein kann; daher braucht, um die Statue selbst schön zu machen, keiner ihrer Teile schön zu sein7. Das organologische Staatsmodell hat, auf Piatons Autorität gestützt, einen langen Schatten auf die Geschichte der Bemühungen geworfen, prinzipielle Klarheit über die Natur menschlicher Verbände zu gewinnen. Wenn wir heute ähnlichen Auffassungen begegnen, in denen Kollektive zu den eigentlichen Subjekten des historischen Lebens gemacht werden, sollten wir uns an die Grenzen der Anwendbarkeit organologischer Metaphern für menschliche Gemeinwesen, seien es nun Staaten, Klassen oder Gruppen, erinnern. Jeder Satz über Nationen, Staaten, Klassen und Parteien muß wenigstens im Prinzip in Sätze über das Verhalten, die Vorstellungen, die Interessen und Wünsche von Individuen übersetzbar 7

P. Friedländer, a.a.O., Bd. ΓΠ, S. 85; W. Bröcker, Piatos Gespräche. S. 240. Bröcker nennt den Einwand des Adeimantos immerhin „gewichtig" und spricht von einem „wichtigen und zugleich schwierigen Punkt". Jedoch versteht er Piaton so, als ob es Piaton nur darum gehe, für das Glück aller Bürger, und nicht nur einer spezifischen Gruppe, zu sorgen. Die durch das Beispiel von der Statue nahegelegte Interpretation, nach der der Staat im Extremfall auch dann glücklich sein könnte, wenn es keines der ihm angehörenden Individuen ist, läßt er unbeachtet.

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sein. Andernfalls läuft man Gefahr, sich im Bereich einer durch bildliche Vorstellungen und unzutreffende Analogien gespeisten und, wie die Erfahrung zeigt, gelegentlich sogar sehr gefährlichen Metaphysik zu verlieren. In dem Abschnitt über die Tugenden im Staat (427—444) geht Piaton von den vier später so genannten „Kardinaltugenden"8 aus, der σοφία (Einsicht, Weisheit), der άυδρεία (Tapferkeit), der σωφροσύνη (Besonnenheit, Selbstbeherrschung) und der δικαιοσύνη (Gerechtigkeit). Nach Piatons Auffassung ist eine Stadt weise, wenn ihre Herrscher weise Sind; sie ist tapfer, wenn die Soldaten tapfer sind, die für sie eintreten sollen; besonnen ist eine Stadt, wenn jeweils die „unteren" Schichten einverstanden damit sind, daß sie von den anderen beherrscht werden. Bisher hatten wir als Gliederungsprinzip der platonischen Politela eine horizontale Spezialisierung und Arbeitsteilung kennengelernt, und wir hatten auch gesehen, wie, ohne daß Piaton darauf ausdrücklich hinwiese, diese horizontale Gliederung durch eine vertikale Gliederung überlagert wird, mit Hilfe derer Herrschaftsverhältnisse begründet werden. Im Zusammenhang mit der Erörterung der „Besonnenheit" tritt nun an die Stelle der hierarchischen Gliederung noch eine mit ihr gleichlaufende Wertskala: Der Ausdruck „Besonnenheit" wird (430e 11) als „Selbstbeherrschung" erklärt. Das Paradoxon, wie es denn möglich sein soll, daß einer sich auch selbst beherrschen kann, sich also doch in zwei Personen teilen müßte, wird dadurch aufgelöst, daß erklärt wird, in diesen Fällen herrsche der bessere Teil des Menschen über den schlechteren oder geringeren Teil desselben Menschen. Im Staatsmodell nun stellen die Wächter den besseren Teil, die Handwerker und Bauern den geringeren Teil dar. Jedoch legt Piaton für die Anwendung dieser Wertskala auf die verschiedenen Schichten im Staat keinerlei Argumente vor. Dies ist durchaus eine der Partien des platonischen „Staats", bei deren Lektüre man ohne die Annahme nicht auskommt, Piaton folge hier unreflektiert aristokratischen Anschauungen, ohne zu bemerken, daß es sich dabei keineswegs um Selbstverständliches handelt: Die πολλοί, die Plebs, sind schon deshalb, nach Piaton, der schlechtere Teil der Bevölkerung, weil nach Piatons Auffassung offenbar immer nur wenige „gut" sein können. Warum aber sollen die zugestandenerweise vielleicht wenigen „guten" Menschen nicht gleichmäßig auf alle Berufe und Schichten verteilt sein? Nach Piatons Grundsätzen könnte man auf diese Frage wohl nur folgendes antworten: Das ist deshalb nicht möglich, weil die Ange8

J. Adam, The Republic of Plato, Cambridge 1902, 2. Aufl. 1963, Bd. I, S. 224.

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hörigen der beiden übergeordneten Stände, der Wächter und der Herrscher, besonders nach ihrer intellektuellen Bildsamkeit und Kapazität ausgewählt sind und daher allein eine gründlichere Ausbildung als die Angehörigen der übrigen Stände erhalten haben. Der Wert eines Menschen ist daher für Piaton vornehmlich durch seine Intelligenz und seinen Bildungsstand definierbar ; — angesichts der Wirksamkeit dieses Vorurteils in unserer heutigen Welt sollten wir uns Piaton in diesem Punkt nicht allzu überlegen fühlen. Die Gerechtigkeit wird nun von Piaton dadurch definiert, daß ein Staatswesen gerecht ist, innerhalb dessen jeder „das Seine" tut, sich in die Aufgaben der anderen nicht einmischt (τά έαυτού πράττει Kod μή "ττολιπτραγμονεϊ 433b). „Jeder das Seine", das klingt an „suum cuique" an und wird auch heute, wie man im Universitätsunterricht leicht feststellen kann, von Lesern Piatons immer wieder als eine durchaus plausible Bestimmung des Gerechtigkeitsbegrifís aufgenommen, bis man auf die Seltsamkeit dieses Definitionsversuchs aufmerksam gemacht wird. Denn man übersieht leicht, daß die negative Bestimmung hier eindeutig das Ubergewicht erhält: Man soll nicht das Seine tun, sondern nur das Seine. Man soll nicht nur seine eigene Aufgabe erfüllen, sondern sich vor allem nicht in die Aufgaben der anderen einmischen. Nicht die Aufhebung der beruflichen Spezialisierung, sondern die Aufhebung der ständischen Gliederung wird von Piaton als schlechterdings unerträglich und daher ungerecht bezeichnet. Und auch bei der ständischen Gliederung gilt dieses Tabu auch nur von unten nach oben: Ein geborener Herrscher, der vielleicht lieber Häuser bauen würde, wird von Piaton nicht als Beispiel ungerechten Verhaltens erwähnt, sondern, natürlich, ein Kaufmann, den sein wirtschaftlicher Wohlstand zu dem Plan veranlaßt, politisch tätig zu werden (434bf.). Was diese Festschreibung von Kompetenzen mit Gerechtigkeit zu tun haben soll, wie man sie gemeinhin versteht, und für die doch ausführliche Beispiele im ersten Buch des Staates schon angegeben worden waren, ist nicht zu erkennen. Die Argumente, die Piaton an der entscheidenden Stelle dafür gibt, daß das von ihm getadelte Verhalten allerdings auch ungerecht im herkömmlichen Sinne genannt werden kann, sind nicht schlüssig. Das eine Argument läuft so: Wer sich eine Kompetenz anmaßen will, die seiner Funktion im Staate nicht angemessen ist, der fügt der Stadt einen schweren Schaden zu. Wer dem Gemeinwesen, in dem er lebt, absichtlich schweren Schaden zufügt, der ist ein Übeltäter; ein Übeltäter aber ist natürlich jemand, der ungerecht handelt. Hier wird der Unterschied zwischen den möglichen faktischen Auswirkungen einer bestimmten Handlungsweise und der

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Intention zur Herbeiführung eben dieser Wirkungen vernachlässigt. Selbst wenn wir einmal unterstellen wollen, Piaton hätte mit seiner Ansicht recht, daß die von ihm kritisierte Kompetenzüberschreitung für eine Stadt objektiv schädlich ist, so folgt daraus doch noch nicht, daß derjenige, der sich zu einer solchen Verhaltensweise entschließt, damit dem Gemeinwesen, dem er angehört, bewußt oder fahrlässig schaden will; und nur das könnte uns dazu veranlassen, diese Verhaltensweise als mögliches Beispiel für Ungerechtigkeit anzuerkennen. Außerdem müßten wir darauf hinweisen, daß durch dieses Verhalten Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit doch nicht definiert werden kann, weil es daneben noch viele andere Formen ungerechten Verhaltens geben dürfte 9 . Das zweite Argument, mit dem Piaton zwischen seiner besonderen Auffassung von Gerechtigkeit und der herkömmlichen Ansicht eine Verbindung herstellen will, besteht darin, daß er sich auf die allgemeine Übereinstimmung beruft, Gerechtigkeit bestehe in dem Zustand, in dem jeder das behält und benutzt, was er hat, was ihm gehört und zugehört (433e). Diese plausible und verbreitete Auffassung ist natürlich ursprünglich darauf bezogen, daß niemand einem anderen gegen dessen Willen etwas, was dem anderen gehört, wegnehmen darf. Aber das schließt ebenso natürlich nicht aus, daß Eigentumsverhältnisse in gütlichem Einvernehmen, durch Schenkung oder durch Vertrag, geändert werden können. Keineswegs besteht die Gerechtigkeit darin, daß einmal bestehende Eigentumsverhältnisse unverändert fortbestehen müssen. Auf Funktionen und Aufgaben läßt sich dieses Gerechtigkeitsprinzip, das im Hinblick auf Eigentumsverhältnisse jedenfalls zunächst einigermaßen plausibel klingt, ohnehin nicht anwenden. Es würde vielmehr die absurde Folgerung eintreten müssen, daß niemand, der in Piatons Sinne gerecht bleiben möchte, irgendetwas dazu tun darf, seinen eigenen Status zu verändern. Aber soll es etwa gerecht sein, ζ. B. seine Unkenntnis zu behalten und nicht jeden möglichen Versuch zu machen, diese Unkenntnis, ζ. B. durch fleißiges Lernen, schleunigst abzulegen ? Piaton interpretiert das Possessivpronomen „mein" und „dein" offensichtlich in jedem vorkommenden Verwendungsfall als Hinweis auf ein Besitz- oder Eigentumsverhältnis. Mit den von Piaton eingeführten Grundsätzen könnte man ja sofort gegen Piaton selbst argumentieren, daß Piaton ζ. B. den Müttern, insofern sie dem Stande der Wächter angehören, ungerechterweise ihre Kinder wegnimmt. Wir sehen also, daß Piaton einen verbreiteten Gerechtigkeitsbegriff, der aber nur für Besitz- und Eigen8

Ζ. B. 475 e ff, 507 b ff.

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tumsverhältnisse definiert war, in unerlaubter Weise ausweiten möchte: Zunächst wird die Einschränkung fallengelassen, daß man natürlich auch (im gütlichen Einvernehmen mit anderen) Besitz- und Eigentumsverhältnisse ändern kann. Zweitens wird der wichtigste Punkt außer acht gelassen, daß Funktionen und Tätigkeiten, die ein Individuum ausübt, nicht zu seinem Besitz gerechnet werden können. Dies ist die platonische Argumentation, die Karl Popper so skandalös erschien, daß er meinte, Piaton die bewußte Absicht der Täuschung des Lesers unterstellen zu müssen. Mir scheint es sinnvoller, Platon auch hier intellektuelle Redlichkeit zuzugestehen. Die allgemeine Erfahrung zeigt ja, daß es auch andere große Philosophen gegeben hat, die in der Auswahl von Argumenten für eingewurzelte Überzeugungen nicht besonders wählerisch vorgegangen sind. Und wenn wir das im Hinblick auf Philosophen konstatieren müssen, so wird es uns erst recht nicht wundern, daß Politiker aller Zeiten in dieser Hinsicht noch erheblich weniger Bereitschaft an den Tag gelegt haben, ihre eigenen Voraussetzungen in Frage zu stellen. Wir wenden uns nun der Übertragung der am Staatsmodell abgelesenen Einsichten auf den einzelnen Menschen zu (434d—444d). Nach dem bisher durchlaufenen Gedankengang ergibt sich unschwer, daß die von Piaton gewählte methodische Reihenfolge seiner Darstellung das sachliche Begründungsverhältnis geradezu umkehrt. Piaton hat, so darf man mit Sicherheit annehmen, zuerst die dreifache Gliederung der menschlichen Seele konzipiert, bevor er in Analogie dazu das DreiständeModell des Staates entwickelte10. Da es innere Konflikte zwischen Vernunft und Trieben gibt, muß es in der Seele des Menschen nach Piaton auch verschiedene Instanzen geben, die miteinander in Streit geraten können. Denn eines allein könnte mit sich nicht uneins werden. Piaton benutzt das Beispiel (439 c) eines Menschen, der lebhaften Durst empfindet und etwas trinken möchte, dem aber die Vernunft Einhalt gebietet aufgrund der Einsicht, daß der gerade vor ihm stehende Trunk ihm gesundheitlichen Schaden zufügen müßte. Nach Piaton sind hier zwei Instanzen der Seele in Konflikt miteinander geraten, nämlich ein Informationszentrum und ein Antriebszentrum. Um den Streit zwischen beiden zu entscheiden, wird eine dritte Instanz nötig: Diese Instanz, die zugleich eine seelische Kraftquelle sein soll, ist das θυμοειδές (das „Muthafte"), das dem Anspruch der Vernunft gegenüber den Tendenzen des Triebzentrums Gehorsam verschafft. Piaton, darüber sollten wir uns 10

So auch, mit guten Gründen, A. Graeser, Probleme der platonischen Seelenteilungslehre, München 1969, S. 13 ff.

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ganz klar sein, spricht hier über Probleme, die bis heute nicht endgültig geklärt sind. Das Modell, das Sigmund Freud von dem Zusammenwirken und Gegeneinanderwirken von Es, Ich und Überich entworfen hat, zeigt, daß bis in unsere Tage eine Drei-Instanzenlehre für den Aufbau der menschlichen Persönlichkeit und zur Erklärung des moralisch relevanten Handelns jedenfalls in irgendeinem Sinne auf eine Phänomenbasis bezogen ist, die auch Piaton vor Augen gehabt haben dürfte. Da der Staat als großes Individuum dieselben Handlungsprinzipien aufweisen muß wie die individuellen Menschen, aus denen er besteht, müssen die Tugenden des Individuums nach Analogie des Staatswesens interpretiert werden können. Weise ist demnach der, dessen denkender Seelenteil gut funktioniert, tapfer der, dessen Willenskraft gut entwickelt ist, so daß sie an Vernunftgrundsätzen auch unter emotionaler Belastung festhält, und besonnen schließlich ist ein Mensch, der sich selbst beherrscht, d. h. nach Piatons Auslegung, dessen unterer Seelenteil damit einverstanden ist, daß im Konfliktfall die Meinung des denkenden Seelenteils den Ausschlag geben soll. Entsprechend ist nun gerecht ein Mensch, dessen drei Seelenelemente ihre und nur ihre spezifische Aufgabe jeweils gut erfüllen. Piaton interpretiert die Gerechtigkeit des Individuums als eine Harmonie der Seelenteile und damit als Gesundheit der Seele (442 d—444e). Daß Gesundheit soviel ist wie Ausgewogenheit und Harmonie der körperlichen Elemente, war in der zeitgenössischen Medizin die herrschende Auffassung. Wenn Gerechtigkeit in diesem Sinne als Gesundheit der Seele des Individuums interpretiert werden kann, so ist damit die Frage beantwortet, ob sich Gerechtigkeit auch um ihrer selbst willen und nicht nur wegen ihrer möglichen günstigen Folgen für das Individuum lohnt (445) : Da in der Erörterung zu Anfang des zweiten Buchs (354 c) die Gesundheit ausdrücklich als etwas genannt wird, das sowohl um seiner selbst willen wie auch wegen der günstigen Wirkungen, die es haben kann, geschätzt wird, ist die Leitfrage, die zu Anfang des zweiten Buches gestellt wurde, beantwortet. Jedoch kann diese Antwort nur dann befriedigen, wenn sichergestellt ist, daß der populäre Gerechtigkeitsbegriff, von dem die Diskussion ja ausgegangen war, mit Piatons Gerechtigkeitsbegriff, nach dem Gerechtigkeit so viel ist wie Harmonie der Seelenteile des Individuums, jedenfalls dem Umfang nach zusammenfällt. Dies würde genau dann der Fall sein, wenn jemand, dessen Seele in dem genannten Sinne „gesund" ist, stets auch im herkömmlichen Sinne „gerecht" handeln wird und niemand, der die spezifische Harmonie der Seelenteile nicht besitzt, gerecht handeln kann. Ein solcher Beweis ist

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offensichtlich schwer zu führen, schon weil die These außerordentlich unplausibel ist, die da bewiesen werden soll. Piaton beschränkt sich denn auch darauf, nur allgemein zu versichern, daß jemand, dessen Seele in dem entwickelten Sinne „gesund" ist, sicherlich doch nichts Böses tun werde. Um das Beweisziel zu erreichen, müßte natürlich auch gezeigt werden, daß jeder, der gerecht handeln will, die beschriebene Gesundheit der Seele besitzen muß. Für diese These wird von Piaton nicht einmal der Versuch eines Beweises unternommen. Bevor ich zu dem letzten von uns zu diskutierenden Beispiel für platonische Bilderlogik, der Metapher vom Staatsschiff, übergehe, möchte ich noch eine, wie mir scheint, auch für die heutige Diskussion wichtige Bemerkung zu Piatons Exkurs im 5. Buch des Staats über die Besitzlosigkeit und die Auflösung der Familienbindungen in der Schicht der Wächter machen. Der Grundsatz dieser Bestimmungen ist Piatons Überzeugung, Individualismus sei moralisch mit Egoismus, Kollektivismus hingegen moralisch mit Altruismus gleichzusetzen. Daraus folgt für Piaton, daß Individualismus moralisch negativ, Kollektivismus aber moralisch positiv zu bewerten wäre. Das Verhältnis der Geschlechter zueinander ist von Piaton, bei bemerkenswerten Ansätzen zu einer Gleichstellung, ja Emanzipation der Frauen, ausschließlich auf die biologischen Funktionen der Fortpflanzung und der Befriedigung sexueller Bedürfnisse eingeschränkt. Das ist eine der wenigen Stellen in Piatons Dialogen, bei deren Lektüre man das deutliche Gefühl hat, Piatons homosexuelle Disposition habe ihn daran gehindert, den komplexen Phänomenen menschlichen Zusammenlebens gerecht zu werden. Feste Bindungen von längerer Dauer unter Individuen und die damit zusammenhängende Bildung von Familien will Piaton aus seinem Staatsmodell ausschließen, weil er in ihnen Hindernisse für die Identifikation des Eigeninteresses mit dem der Allgemeinheit sieht. Nun ist es unbestreitbar, daß Familienegoismus (wie jeder Gruppenegoismus) ebenso störend wirken kann wie der Egoismus des Einzelnen, wenn es um das Gemeinwohl geht. Ferner ist richtig, daß solche Gruppenegoismen um so mächtiger wirksam werden können, je mehr sie sich als altruistische Bestrebungen selbst zu mißdeuten pflegen. Piaton läßt dabei aber außer acht, daß die Überwindung der normalen kindlichen Egozentrizität im Regelfall durch erste persönliche Zuneigung und Liebe erfolgen wird. Dieser Durchbruch zum vollen Ernstnehmen der Interessen des anderen und eines anderen Individuums als Persönlichkeit entwickelt sich wiederum im Regelfall über sexuelle Bindungen, die zu einer länger dauernden Partnerschaft bei dem Bewußtsein gegenseitiger Verantwortlichkeit

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führen können und für kleine Kinder eine Sphäre sozialer Geborgenheit wenigstens vorbereiten. Piaton hat deutlich gesehen, daß es eine wichtige Aufgabe der sozialen Erziehung ist, den Verantwortlichkeitshorizont des Einzelnen über den der Familie hinaus auszuweiten, um auf diese Weise größere soziale Zusammenhänge möglich zu machen. Aber bei seinem Vorschlag, wie man eine solche übergreifende Sozialisation verwirklichen kann, läßt er die Tatsache außer acht, daß die Kleingruppe vermutlich ein unersetzliches Vorstadium einer solchen Integration in größere soziale Zusammenhänge darstellt. Die Erfahrungen, die man in dieser Hinsicht in der Gegenwart, ζ. B. im israelischen Kibbuz, gemacht hat11, scheinen diese allgemeine Auffassung jedenfalls eher zu bestätigen als zu widerlegen. Wie stark Piaton in seiner Argumentation von der Logik seiner zur Darstellung gewählten Bildlichkeit bestimmt wird, läßt sich besonders deutlich an jener berühmten Partie ablesen, in der Piaton zunächst fordert, echte Philosophen, d. h. für ihn: Anhänger und Experten der platonischen Ideenlehre, sollten die politische Führung in den Staaten übernehmen (473) und dann versucht, das offenbar Paradoxe an dieser Behauptung zu mildern. Er gibt zu, daß nach allgemeiner Auffassung die meisten Leute, die den Namen eines Philosophen führen, schon als Philosophen nicht allzu viel taugen, und daß selbst die wenigen wahren und echten Philosophen, die es gibt, in einem Staatswesen der herkömmlichen Art (insbesondere in einem Staatswesen wie Athen) als gänzlich ungeeignet für die Staatsgeschäfte gelten. In dem sprachlich bewundernswert ausgefeilten Gleichnis vom „Staatschiff" (487e—489 d) versucht Piaton deutlich zu machen, wie sehr es zur Führung der Staaten philosophischer Einsichten bedürfe. Der Eigner des Schiffs (das souveräne Volk der athenischen Demokratie) hört schlecht und sieht schlecht, er versteht nichts von Navigation und wird von den ebenso unkundigen Matrosen bestürmt und bedrängt, weil jeder von ihnen sich für fähig hält und gerne mit dem Kommando des Schiffs betraut werden möchte. Um dies Ziel zu erreichen, muß man nun vor allem wissen, wie man seine Konkurrenten um das Amt des Schiffsführers beim Eigner ausstechen kann. Unter solchen Umständen wird der für die Funktion eines Schiffsführers speziell ausgebildete und allein befähigte Steuermann kaum eine Chance haben, das Kommando des Schiffs zu erhalten. Wenn er beginnt, etwas von Wetterkunde, Seemann11

Zur Sache so schon R. Nettleship, Lectures on the Republic of Plato, 2. Aufl. London 1901, S. 176—181. Zur Erziehung im Kibbuz, vgl. L. Liegle (Hrsg.), Kollektiverziehung im Kibbuz, München 1971.

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schaft und astronomischer Navigation zu sagen, so erklären das die übrigen Konkurrenten für nutzloses Geschwätz und nennen ihn einen Sternengucker (488e), einen Hans-Guck-in-die-Luft (μετεωρόσκοπος). Platon überläßt es den Lesern, sich auszumalen, wie die Fahrt eines Schiffes vermutlich ausgehen wird, dessen Führung nach den geschilderten Grundsätzen vergeben wird. Wenn es nun jedem heutigen Leser klar ist, daß die einzig vernünftige Art, das Amt eines Kapitäns zu vergeben, in der Prüfung nachgewiesener Kompetenz liegt, muß es nicht ebenso einleuchten, daß es bei der viel schwierigeren Aufgabe der Lenkung eines Staats auf den Nachweis von entsprechenden Einsichten noch viel mehr ankommen müßte? Warum verfahren wir aber dann in demokratischen Staatswesen auch heute noch so, daß wir die Führung von Kraftwagen, Flugzeugen und Schiffen von Prüfungen abhängig machen, während der Abschluß einer Hochschule für Politik, ja selbst eine Professur für Politologie nach allgemeiner Ansicht weder eine notwendige noch eine hinreichende Qualifikation für die Übernahme verantwortlicher Regierungsämter darstellt? Offensichtlich verfahren wir so, weil wir der Meinung sind, die Entscheidungen eines Schiffsführers seien von denen eines Regierungschefs wesentlich verschieden. Wir meinen, daß in dem einen Fall gewisse von jedermann im Prinzip erlernbare Regeln Entscheidungen eindeutig bestimmen können, während das in dem anderen Fall, dem der Politik, nicht gilt. Das hängt damit zusammen, daß im Fall des Schiffsführers die wesentlichen Entscheidungen die Wahl von Mitteln zu einem jeweils vorgegebenen Ziel betreffen, während im Fall des Inhabers eines mit Entscheidungsbefugnis ausgestatteten Regierungsamts die Bestimmung der Ziele selbst in Frage steht. Wohin das Schiff und seine Passagiere fahren sollen, und ob es überhaupt irgendwohin fahren soll, darüber kann und braucht der Kapitän nicht zu entscheiden. In seine Zuständigkeit fällt es, die Passagiere, die Ladung und das ganze Schiff unversehrt und möglichst ohne Verzögerung zu seinem vorherbestimmten Ziel zu bringen oder jeweils anzugeben, aus welchen Gründen das Ziel vermutlich nicht erreicht werden kann. Man könnte also sagen, daß Piaton sich von dem Bild des Staatsschiffs die Logik seiner Argumentation hat vorgeben lassen, und daß diese Logik auf den vorliegenden Fall (nämlich die Wahl geeigneter Kandidaten für Regierungsämter) wegen der grundsätzlichen Unterschiede, die zwischen der Wahl von Mitteln zu vorbestimmten Zielen und der Bestimmung der Ziele selbst bestehen, nicht übertragen werden kann. Aber mit dieser einfachen Antwort würde man doch wiederum Piatons philosophischer Größe nicht gerecht. Denn in seinem Bild

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steckt doch auch eine tiefe Wahrheit, deren Grenzen durch die genannte Unterscheidung nicht eindeutig abgesteckt werden. Denn erstens gilt, daß auch ein Staatsmann zur Wahrnehmung seiner Aufgaben eine Menge von erlernbaren Kenntnissen besitzen muß, die man nur durch Erfahrung gewinnen kann, insbesondere ein vernünftiges Urteil darüber, wie man vorausgesetzte Ziele am besten verwirklichen kann und wie man entscheiden kann, ob man sie mit den zur Verfügung stehenden Mitteln überhaupt wird erreichen können. Noch wichtiger ist wohl der folgende Gesichtspunkt: Zielbestimmung ist zwar, wenn es um hinreichend primäre Zielvorstellungen geht, generell nicht aus einer wissenschaftlichen Einsicht unmittelbar zu gewinnen. Aber das heißt noch nicht, daß sie bloßer Willkür oder einem blinden Dezisionismus unterliegen müßte. Man kann zwischen unvernünftigen und vernünftigen Zielsetzungen unterscheiden, und das tun wir alle Tage. Die Zielsetzungen von Kindern, die noch nicht über ihre augenblickliche Lage hinausdenken können, halten wir für unvernünftig, wenn auch nicht für wissenschaftlich widerlegbar. Wir diskutieren häufig mit anderen über die Ziele, die wir verfolgen wollen, genauso wie über die geeigneten Mittel. Freilich müssen wir, wenn es um die Bestimmung von Zielen geht, einsehen, daß auch zwei wohl informierte und vernünftig argumentierende Politiker in der Zielsetzung wesentlich voneinander abweichen können, vor allem, wenn es um Prioritäten geht (ζ. B. um die Konkurrenz von Vollbeschäftigung oder Stabilität der Währung, von Wirtschaftsexpansion und Umweltschutz). Piaton war offensichtlich der Ansicht, auch für die Bestimmung von Zielen ließe sich eine eindeutige Deduktion aus einer höchsten Wissenschaft (der Lehre von der Idee des Guten) erreichen. Diesen Optimismus teilen wir nicht mehr. Wir stellen vielmehr fest, daß Piatons Ansätze zu einer solchen Deduktion konkreter Ziele aus höchsten wissenschaftlichen Prinzipien zwar ein stets von ihm durchgehaltenes Programm, aber eben auch ein bloßes Programm geblieben sind. Demgegenüber sollten wir jedoch auch nicht vergessen, daß Piaton mit seiner Betonung der Notwendigkeit, auch letzte Zielsetzungen der Richtschnur der Vernunft zu unterwerfen, ein Postulat aufgestellt hat, das für uns heute eine ebenso fundamentale praktische Bedeutung haben kann wie für die athenische Demokratie zu Piatons Zeit12. M

Hierzu vgl. R. Bambrough, Plato's Political Analogies, in: Plato II: Ethics, Politics and Philosophy of Art and Religion. A collection of critical essays, hrsg. v. G. Vlastos, New York u. London 1971, S. 187—205. Die Sammlung enthält mehrere wichtige Beiträge zur Interpretation von Piatons Ethik und politischer Theorie.

Verzeichnis der Veröffentlichungen* von Wilhelm Kamiah I. Bücher Apokalypse und Geschichtstheologie, Die mittelalterliche Auslegung der Apokalypse vor Joachim von Fiore, Historische Studien 285, Berlin 1935. Neugedruckt 1965. Christentum und Selbstbehauptung, Historische und philosophische Untersuchungen zur Entstehung des Christentums und zu Augustine „Bürgerschaft Gottes", Verlag Vittorio Klostermann Frankfurt a. M. 1940. (Dieses Buch mußte in einem Weihnachtsurlaub 1939/40 übereilt abgeschlossen werden unter Verzicht auf das letzte Kapitel über Augustins Geschichtsverständnis, das erst in der 2. Auflage hinzugefügt werden konnte.) Christentum und Geschichtlichkeit, Untersuchungen zur Entstehung des Christentums und zu Augustins „Bürgerschaft Gottes", Zweite, neubearbeitete und ergänzte Auflage (von „Christentum und Selbstbehauptung"), Verlag Kohlhammer Stuttgart 1951. Der Mensch in der Profanität, Versuch einer Kritik der profanen durch vernehmende Vernunft, Verlag Kohlhammer Stuttgart 1949. Der Ruf des Steuermanns, Die religiöse Verlegenheit dieser Zeit und die Philosophie, Verlag Kohlhammer Stuttgart 1954. Wissenschaft, Wahrheit, Existenz, Verlag Kohlhammer Stuttgart 1960. Piatons Selbstkritik im Sophistes, Zetemata Heft 33, München 1963. Logische Propädeutik, Vorschule des vernünftigen Redens (gemeinsam mit Paul Lorenzen), BI-Hochschultaschenbuch 227/227a, Mannheim 1967. Davon „Revidierte Ausgabe" im gleichen Jahr, diese mehrfach neugedruckt. Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie, Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit, BI-Hochschultaschenbuch 461, Mannheim 1969. Philosophische Anthropologie, * Ergänztes Verzeichnis aus: Zeitschrift für philosophische Forschung 29 (1975), 605—609; zusammengestellt von Eckard König. Nicht aufgenommen wurden: 1. Rezensionen, deren mehr als vierzig Musikbücher und Noten betreffen; 2. Veröffentlichungen aus der Zeit intensiver, zeitweilig beruflicher musikalischer Tätigkeit 1926—1933 ; 3. außerwissenschaftliche Nebenprodukte. 30

Vernünftiges Denken

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Verzeichnis der Veröffentlichungen von Wilhelm Kamiah

Sprachkritische Grundlegung und Ethik, BI-Wissenschaftsverlag (Buchausgabe), Mannheim 1972. Philosophische Anthropologie..., BI-Hochschultaschenbuch 238, Mannheim 1973 (mit einigen Verbesserungen gegenüber der Buchausgabe). Logische Propädeutik, Vorschule des vernünftigen Redens, 2. verbesserte und erweiterte Auflage, BI-Hochschultaschenbuch 227, Mannheim 1973. Von der Sprache zur Vernunft, Mannheim 1975. Meditatio Mortis, Stuttgart 1976.

II. Aufsätze und Broschüren Der Ludus de Antichristo, in: Hist. Vierteljahrschrift 28, 1933, S. 53ff. Neugedruckt in: Mittellateinische Dichtung, Ausgewählte Beiträge zu ihrer Erforschung, hg. von K. Langosch. Wege der Forschung C X L I X , 1969. Ecclesia und regnum Dei bei Augustin (Zu De civitate Dei X X , 9), in: Philologus Χ Ο Π , 1938, S. 248ff. Probleme der Anthropologie, Eine Auseinandersetzung mit Arnold Gehlen, in: Die Sammlung 1, 1945/46, S. 53ff., S. 184ff., S. 247ff. Die Profanisierung der Musik, in: Musica 1, 1947, S. 130ff. Sophokles im Dom (Zu einer Aufführung von T. S. Eliot, „Mord im Dom"), in: Göttinger Universitätszeitung 2, 1947, Heft 23, S. 8ff. Kritische Bewahrung, Zum Jubiläum der „Geistlichen Chormusik" von Heinrich Schütz (1648), Musica 2, 1948, S. 317 ff. Die Wurzeln der neuzeitlichen Wissenschaft und Profanität (Broschüre) Abendland-Verlag Wuppertal 1948. Sokrates und die Paideia, in: Archiv für Philosophie 3, 1949, S. 277ff. Die Theologie und das „griechische Denken", Anmerkungen aus der anderen Fakultät zu Rudolf Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen und zu Hans von Campenhausen, Glaube und Bildung im Neuen Testament, in: Studium Generale 3, 1950, S. 686ff. Einsamkeit und Vernunft, Gastvorlesung zum Ringthema: Wer ist der Mensch? am Heidelberger Dies Academicus 12. 12. 1950, in: Die Sammlung 6, 1951, S. 259ff. Die Verlegenheit dieser Zeit, Eine Untersuchung an der Grenze von Philosophie und Theologie (Vortrag beim Marburger Internationalen Ferienkurs, August 1951), in: Die Sammlung 7, 1952, S. Iff. Wozu eigentlich Philosophie? Vortrag in der Technischen Hochschule Hannover, in: Die Sammlung 8, 1953, S. 105ff. Martin Heidegger und die Technik, Ein offener Brief, in: Deutsche Universitätszeitung 9, 1954, Heft 11, S. lOff. Gibt es wirklich „die Entscheidung zwischen geschichtlichem und metaphysischem Denken" ? Anmerkungen zu Friedrich Gogarten, Entmythologisierung und Kirche, in: Evangelische Theologie 14, 1954, S. 171 ff. (Im gleichen Jahrgang derselben Zeitschrift erschien „Eine Antwort an Wilhelm Kamiah" von Gogarten.) Fragt die Wissenschaft noch nach der Wahrheit? (Erlanger Antrittsvorlesung November 1954), in: Die Sammlung 10, 1955, S. 493ff.

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Die Singbewegung und die musische Bildung, in: Die Sammlung 10, 1955, S. 606ff. Wiederabgedruckt in : Vom Geist musischer Erziehung, hg. von N. Kluge. Wege der Forschung CCCIII, 1973 (im Unterschied vom Erstdruck frei von sinnstörenden Druckfehlern). Verblendung inmitten der Welt des Wissens, in: Mensch und Menschlichkeit, Vortragsreihe des Süddeutschen Rundfunks, Verlag Kröner Stuttgart 1956, S. 51 ff. Entdecken und Beweisen in der Mathematik, Anmerkungen zur gegenwärtigen Situation der Wissenschaft an Hand von Helmut Hasse, Mathematik als Wissenschaft, Kunst und Macht, in: Die Sammlung 12, 1957, S. 502ff. „Zeitalter" überhaupt, „Neuzeit" und „Frühneuzeit", in: Saeculum 8, 1957, S. 313ff. Verbesserte Neufassung in: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie (s. unter I). „Oui à la France", Ein Rückblick auf den 28. September 58 (de Gaulies Wahlsieg, Beobachtungen und Gespräche während einer Frankreichreise im August und September), in: Die Erlanger Universität 11,1958, 6. Beilage. Die Sorge um die Autorität, in: Die Sammlung 13, 1958, S. 537ff. Der Anfang der Vernunft bei Descartes — autobiographisch und historisch, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 43,1961, S. 70ff. Der Soldat und die Geschichte (Vortrag auf einer Freizeit für Bundeswehroffiziere in der Evangelischen Akademie Hofgeismar), in: Wehrwissenschaftliche Rundschau 11, 1961, S. 365 ff. Probleme einer nationalen Selbstbesinnung (Broschüre), Verlag Kohlhammer Stuttgart 1962, Der moderne Wahrheitsbegriff, in: Einsichten, Gerhard Krüger zum 60. Geburtstag, Verlag Vittorio Klostermann Frankfurt a. M. 1962, S. 107 ff. Korreferat zu dem Vortrag von Karl Dietrich Erdmann, Die Zukunft als Kategorie der Geschichte, beides vorgetragen auf dem Duisburger Historikertag, in: Hist. Zeitschrift 198, 1964, S. 67ff. Zu Piatons Selbstkritik im „Sophistes", in: Hermes 94, 1966, S. 243ff. Sprachliche Handlungsschemata, Vortrag auf dem 8. Deutschen Kongreß für Philosophie Heidelberg 1966, abgedruckt im Kongreßbericht „Das Problem der Sprache", hg. von H. G. Gadamer, München 1967, S. 427ff. Aristoteles' Wissenschaft vom Seienden als Seienden und die gegenwärtige Ontologie, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 49, 1967, S. 269ff. (Ebenfalls in der Festschrift zum 80. Geburtstag von Rudolf Zocher „Tradition und Kritik", Stuttgart 1967.) Der Anfang der Schützbewegung und der musikalische Progressismus, Historisches und Kritisches zu Hans Heinrich Eggebrechts Herforder Schütz-Vortrag, in: Musik und Kirche 39, 1969, S. 207ff. Die praktische Grundnorm (Vorabdruck eines Abschnitts aus der „Philosophischen Anthropologie"), in: Manfred Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie Bandi, Freiburg 1972, S. 101 ff. Zwei Beitrage in der von D. Harth hg. Propädeutik der Literaturwissenschaft, W. FinkVerlag München 1973, UTB 205: 1. Die Formierung der „Gcisteswisscnschaften" in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften (S. 9ff.) 2. Plädoyer für eine wieder eingeschränkte Hermeneutik (S. 126ff.) „Schützbewegung" und „Schützgesellschaft", in: Neue Zeitschrift für Musik 134, 1973, S. 782 f. 33*

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Die Doppelseitigkeit der Problematik des § 218. (Dieser im Frühjahr 1973 entstandene Aufsatz wurde auf Wunsch des damaligen Bundesjustizministers Jahn (SPD) vervielfältigt für die Mitglieder des Bundestags-Sonderausschusses für die Strafrechtsreform.) Veröffentlicht in: Von der Sprache zur Vernunft (s. unter I). Umgangssprache, Bildungssprache, Wissenschaftssprache, in: das neue Erlangen Heft 33, Juli 1974, S. 2388ff. (Ein im Mai 1973 auf Schloß Schwanberg vor Erlanger Universitätslehrern gehaltener Vortrag.) Sprache und Sprachtheorie im Dienste von Verständigung und Vernunft, in: Von der Sprache zur Vernunft (s. unter I). Das künstlerische „Reprodukt" zwischen Produkt und Reproduktion, in: Von der Sprache zur Vernunft (s. unter I). Das Recht auf den eigenen Tod und der § 216, in: Von der Sprache zur Vernunft (s. unter I). Kann man den Tod verstehen? Passionsbetrachtungen eines Philosophen, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 85 vom 10./11. 4. 76, S. 63f. Das Recht auf den Freitod — ein menschliches Grundrecht? Bemerkungen zu einer Schrift von Jean Améry. I n : Neue Zürcher Zeitung Nr. 211 vom 9. 9.1976, S. 27. Heinrich Schütz, Geistliche Chormusik 1648, Gesamtausgabe der 29 fünf- bis siebenstimmigen Motetten (seit 1928 zunächst in Lieferungen erschienen, Gesamtband mit Vorwort zum ersten Mal 1935, seitdem zahlreiche Neuauflagen). Heinrich Schütz, Lukas-Passion (1935), Johannes-Passion (1936) (beide Passionen in der Originalfassung, ebenfalls zahlreiche Neuauflagen). Diese Schützausgaben sind später eingegangen in die „Neue Ausgabe sämtlicher Werke" von Heinrich Schütz, hg. im Auftrag der Neuen Schütz-Gesellschaft, Bärenreiter-Verlag.

III. Veröffentlichungen anderer Autoren und über Wilhelm Kamiah (außer Rezensionen) Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: Offenbarung und Heilsgeschehen 1941, S. 27ff., besonders S. 47ff. Philipp Vielhauer, Urchristentum und Christentum in der Sicht Wilhelm Kamlahs, Rudolf Bultmann zum 70. Geburtstag, in: Evangelische Theologie 15, 1955, S. 307ff. Wiederabgedruckt in: Aufsätze zum Neuen Testament 1965, S. 253ff. J.-Claude Piguet, La pensée de Wilhelm Kamiah, in: Revue de Theologie et de Philosophie 1961, S. 42ff. Henning Kössler, Entmythologisierung und vernünftiges Denken, Wilhelm Kamiah, dem akademischen Lehrer, Tutzinger Texte 3/1968, S. 35 ff. (S. 43 eine briefliche Antwort Kamlahs auf Bultmanns Entmythologisierungsaufsatz). Hermann Zeltner, Anfang und Ausgang der Schützbewegung, Wilhelm Kamiah zu Ehren, in: Gottesdienst und Kirchenmusik 1973, Heft 4.