Aufklärung – Wissenschaft – Religion: Zur Genese und Struktur unseres neuzeitlichen Spannungsfeldes 9783787341467, 9783787341450

Wie unsere Gegenwart in einer vielleicht noch nicht abgeschlossenen Zuspitzung zeigt, ist die Struktur des neuzeitlichen

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Aufklärung – Wissenschaft – Religion: Zur Genese und Struktur unseres neuzeitlichen Spannungsfeldes
 9783787341467, 9783787341450

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Aufklärung Wissenschaft Religion Zur Genese und Struktur unseres neuzeitlichen Spannungsfeldes Rainer Enskat

Meiner

Rainer Enskat

Aufklärung – Wissenschaft – Religion Zur Genese und Struktur unseres neuzeitlichen Spannungsfeldes

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4145-0 ISBN eBook 978-3-7873-4146-7

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, ­soweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­druck­­papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Platons Sokrates über Aufklärung, Wissenschaft und Praxis (Jürgen Mittelstraß) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Ein szientistisches Aufklärungsmodell (Denis Diderot). . 17 3. Die geschichtspolitische Situation von Aufklärung und ­Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 4. Eine gegenreformatorische Epochendiagnose (Paul Hazard) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 5. Ein sozialökonomisches Hoffnungsprojekt (Peter Gay / Emil du Bois-Reymond) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 6. Die kritische Religionsphilosophie von Innovation und ­Folgelast (Rainer Specht I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 7. Die Wegscheide John Locke (Rainer Specht II) . . . . . . . . . 31 8. Jerusalem und Athen, Philosophie und Gesetz (Leo Strauss) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 9. Ein religionsphilosophischer Lichtblick aus Athen (Platon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 10. Gemeinwohl und Urteilskraft (Platon und Jean-Jacques ­Rousseau) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 11. Die experimentelle Kausalforschung und ihre ­unheilschwangere Tragweite (Francis Bacon und Charles de Montesquieu) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 12. Ein frühes neuzeitliches Modell karitativer hierokratischer Wissenschaftspolitik (Francis Bacon) . . . 54 13. Wie Montesquieus unheilvolle Ahnungen von der Tragweite eines nicht-karitativen wissenschaftspolitischen ­Umgangs mit der experimentellen Kausalforschung der ­Chemie in Erfüllung gegangen sind (Otto Hahn, Fritz Straßmann und die Atombombe) . . . . . . . . . . . . . . . . 63

14. Ein ingeniöser Auftakt konstruktiver Skepsis am szien­ tistischen Aufklärungsmodell (Jean-Jacques Rousseau I) 67 15. Aufklärung, Wissenschaft und praktische Urteilskraft (Jean-Jacques Rousseau versus Max Weber) . . . . . . . . . . . 72 16. Das Versagen der sentimentalen religiösen Hoffnungen des bourgeois gegen die Rechtstreue des citoyen (Jean-Jacques Rousseau II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 17. Vom Deismus zum Atheismus (Von Rousseau zu Kant I) 82 18. Vom hoffnungs-sentimental schwankenden bourgeois zum rechtstreuen citoyen (Von Rousseau zu Kant II) . . . 91 19. Bewährungsproben der religionsphilosophischen Reflexion (Rainer Specht und Kant) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 20. Der verborgene Konsequentialismus der gottgläubigen ­Hoffnung auf die jenseitige Glückseligkeit der Seele (Kant I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 21. Die atheistische Aufklärung über die religiöse Dimension des Rechts (Kant II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Verzeichnis der benutzten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

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Vorwort

D  

as vorliegende libellum bietet durch sein planmäßiges essayistisches Format die Möglichkeit, die drei Themen Aufklärung, Wissenschaft und Religion in einer nicht so strikt kohärenten Form zu erörtern, wie es eine Theorie verlangen würde, die diesen Namen verdient. Es soll sich jedoch auch zeigen, daß diese freiere, teilweise formliterarische und teilweise methodische Möglichkeit besonders angemessen ist, die Verflechtung der drei Themen in spezifisch essayistischer Form zu erproben. Jedes der drei Themen hat mich während der vergangenen Jahrzehnte ausführlicher auch um seiner selbst willen und auch in entsprechenden Publikationen beschäftigt. Ihre Kohärenz als Schlüsselfaktoren der Genese und der Struktur unseres neuzeitlichen Spannungsfeldes haben sich erst in einem unvorhergesehenen synoptischen Rückblick ergeben. Mit der großen Ausnahme von Platons richtungsweisender Behandlung dieser drei Themen in seinem sokratischen Dialogwerk werden ihre konditionalen Anteile an dieser Genese und dieser Struktur in maßgeblicher Weise erst von Philosophen des siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts definitiv durchschaut. Es sind so verschiedenartige Denker wie Francis Bacon, Jean-Jacques Rousseau und Kant, die in ganz unterschiedlichen realgeschicht­ lichen und kulturgeschichtlichen Situationen und mit unterschiedlichen Akzentuierungen das diagnostische Gespür für die Struktur dieses Spannungsfeldes gleichwohl übereinstimmend zur Sprache bringen. Während der vergangenen hundert Jahre sind es Gelehrte mit entsprechend unterschiedlichen problemgeschichtlichen und methodischen Einstellungen sowie sachlichen Orientierungen gewesen, die ein synoptisches Bild der überlieferten Dokumente dieses diagnostischen Spürsinns vorbereitet und damit unserer Gegenwart die Möglichkeit eröffnet haben, die Genese und die Struktur des Spannungsfelds zu durchschauen, inmitten dessen wir leben. Mein sehr engmaschiges Inhaltsverzeichnis kann vielleicht einen  7

nützlichen Leitfaden durch die Vielfalt der Aspekte, Kriterien und Argumente bieten, deren innere Kohärenz in dem vorliegenden ­libellum sichtbar gemacht werden soll. Halle, Januar 2022

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1. Platons Sokrates über Aufklärung, Wissenschaft und Praxis (Jürgen Mittelstraß)

Wie unsere Gegenwart mit einer vielleicht noch nicht abgeschlossenen Zuspitzung zeigt, ist die Struktur unseres neuzeitlichen Spannungsfeldes nur allzu deutlich von einer Bewährungsprobe geprägt, die an eine Zerreißprobe grenzt. Wichtige Risse, die in diesem Spannungsfeld schon seit vierhundert Jahren aufgespürt worden sind, verlaufen zwischen den Dimensionen, in denen die Aufgaben, die Möglichkeiten und die Grenzen der Aufklärung, der Wissenschaft und der Religion zu Hause sind. Die Frage, ob Aufklärung durch Wissenschaft möglich oder trotz Wissenschaft nötig ist, steht ebenso wie die Frage, ob Religion trotz Aufklärung und Wissenschaft nötig und möglich ist, zwar vor allem seit dem nominellen Taufjahrhundert der Aufklärung mit einer bis dahin nicht gekannten Prägnanz und Dringlichkeit auf der Tagesordnung. Doch schon die entsprechende Latenzzeit des 17. Jahrhunderts hat der Zuspitzung auf diese Fragen in richtungsweisenden Formen vorgearbeitet. Die Antworten, die seither mit Hilfe von wechselnden Aspekten und Kriterien auf diese Fragen erprobt worden sind, könnten durch ihre faktischen Unvereinbarkeiten den Charakter der Zerreißprobe nicht deutlicher werden lassen, die das neuzeitliche Spannungsfeld im Unterschied zu früheren Epochen mittlerweile im Weltmaßstab durchmacht. Selbstverständlich können Mikro-Hermeneutik und MikroAnalyse der bis in die klassische Antike zurückreichenden Überlieferung zeigen, daß und inwiefern charakteristische Momente aus diesen drei Dimensionen schon ebensolange zu widerstreitenden Auseinandersetzungen geführt haben. In geradezu klassischer Weise zeigen Briefe Epikurs aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert an seinen Sohn Menoikos, daß sein Plädoyer für eine empirisch-kausale Erklärung von Phänomenen am sichtbaren Himmel gleichzeitig einen Akt von zwei verschiedenartigen, aber miteinander verflochtenen Intentionen bildet: zum einen der  9

Intention, durch empirische Kausal-Forschung Aufklärung über Möglichkeiten einer von unnötigen Ängsten freien Lebenspraxis zu gewinnen; zum anderen der Intention, einer nach Platons Tod tonangebend gewordenen Gruppe von hierokratisch gestimmten athenischen Autoren entgegenzuwirken, die solche Himmelsphänomene den Menschen als strafende bzw. belohnende Schickungen der Götter zu suggerieren suchten.1 Seit damals sind bis ins Taufjahrhundert der Aufklärung immer wieder von neuem Streitigkeiten ausgetragen worden, die an wechselnden Momenten und Aspekten aus den Dimensionen von Aufklärung – auch avant-lalettre –, von Wissenschaft und von Religion orientiert waren. Von der inzwischen fest etablierten Aufklärungsforschung, Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Religionsgeschichte – aber auch von den diversen Literaturwissenschaften  – sind sie umfassend und eindringlich untersucht worden. Doch erst mit den programmatischen Weckrufen des 18. Jahrhunderts, die Bemühungen um Aufklärung in einen Brennpunkt des menschheitlichen Interesses zu rücken, nehmen diese Streitigkeiten Züge der neuzeitlichen Zerreißprobe zwischen diesen drei Dimensionen an. Die ernstzunehmende philosophische Aufklärungsforschung beginnt nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland 1970 mit dem opus magnum von Jürgen Mittelstraß Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie.2 Aus der ein Jahr zuvor angenommenen Erlanger Habilitationsschrift des damals Dreiunddreißigjährigen hervorgegangen, hat sie alsbald aus verschiedenen Gründen die verdiente Aufmerksamkeit nicht nur der Fachkollegen auf sich gezogen. Mittelstraß’ programmatische Orientierung auch am Brennpunktthema Wissenschaft, vor allem der Naturwissenschaften und der Mathematik, verleiht seinen Untersuchungen einen realistischen Zug, wie er der vor allem literatur-historisch eingestellten Aufklärungsforschung nicht selten fehlt. Vor allem die Tragweite, die die neuzeitliche, Vgl. Klaus Reich, Einleitung, in: Diogenes Laertius: Buch X: Epikur. Griechisch–Deutsch, Hamburg 1968, aber auch Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus (11866), Band 1 (hg. und eingel. von Alfred Schmidt), Frankfurt/Main 1974, bes. S. 80 – 81. 2 Vgl. Jürgen Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York, 1970. 1

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mathematisch und experimentell immer fruchtbarer werdende Naturwissenschaft für die technischen Lebensbedingungen und den Komfort der Menschen mit sich bringt, stiftet diesen realistischen Zug. Gleichzeitig verleiht die programmatische Verbindung dieser wissenschaftsgeschichtlichen Orientierung mit dem Thema Aufklärung – und dies beides unter Aspekten der Philosophie – seinen Untersuchungen einen Leitfaden, der ihn einer Aporie vorbeugen läßt, die sich aus einer irritierenden Struktur der klassischen Bemühungen des 18. Jahrhunderts um Aufklärung ergeben kann. Auf diese irritierende Struktur hat Ernst Cassirer aufmerksam gemacht, als er ein Jahr vor dem Ausbruch der Deutschen Katastrophe (Friedrich Meinecke) ein einzigartiges Symbol jüdischer Selbstbehauptung unter dem Titel Philosophie der Aufklärung in der damals noch bürgerlichen Öffentlichkeit hinterließ. Mit Blick auf das Ganze dieser überlieferten Bemühungen um Aufklärung gibt Cassirer unter Rückgriff auf eine Formulierung im Ersten Teil von Goethes Faust zu bedenken, daß die Aufklärung »[…] zu jenen Gedanken-Webermeisterstückchen gehört, ›wo Ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein herüber, hinüber schießen, Die Fäden ungesehen fließen‹«.3 Stellt man das nur äußerst schwer faßbare »Ganze dieser hin und hergehenden, dieser unablässig-fluktuierenden Bewegung«4 gebührend in Rechnung, dann leuchtet sofort ein, daß es dem jungen Gelehrten Mittelstraß mit seinem beherzten Zugriff auf seine beiden leitenden Themen schlagartig gelungen war, eine geradlinig begehbare Schneise in die mit Sokrates avant la lettre beginnenden Bemühungen um Aufklärung zu schlagen. Wer sich auf das Ganze dieser hin und hergehenden, dieser unablässig-fluktuierenden Bewegung ohne eine solche thematisch klare und sachlich orientierte Frage einläßt, riskiert nur allzuleicht, noch nachträglich selbst zu einem Teil dieser Bewegung zu werden. Nach fünf Jahrzehnten hat sich die Aufklärungsforschung ein international bestelltes Feld erobert, auf dem der Beitrag von Mittelstraß inzwischen verständlicherweise nicht mehr in einem Brennpunkt der Aufmerksamkeit steht. Doch gerade durch seine beiden programmatisch-thematischen Hauptorientierungen hat er Ernst Cassirer, Philosophie der Aufklärung (11932), Hamburg 1998, S. XIII. 4 Ebd. 3

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mit Blick nicht nur auf spätere, sondern sogar auf viel frühere Bemühungen um Aufklärung ein fruchtbares sachliches Spannungsfeld eröffnet. Indessen ist es genauso verständlich, daß in diesem diachronen Spannungsfeld seit damals Thesen, Argumente, Aspekte und Kriterien aufgetaucht sind, die gerade unter den Vorzeichen von Mittelstraß’ Ansatz eine ganz neue Beleuchtung erfahren haben. Unter diesen Umständen lohnt es sich, aus dem reichen Inhalt seines Buchs zunächst die Elemente herauszupräparieren, die es fast fünfzig Jahre später lohnend erscheinen lassen, in ihrem Licht den grundsätzlichen Verdiensten dieses Buchs gerecht zu werden, aber auch dem einen oder anderen neuralgischen Punkt, der sich im fast fünfzigjährigen Rückblick leichter erkennen läßt als früher. Das Buch dokumentierte zu seiner Zeit nicht nur ein außerordentliches Maß an gelehrter Forschung und philosophischer Durchdringung seines gelehrten Fundus. Es ruft auch nicht nur der wissenschaftlichen und der wissenschaftsgläubigen Welt des zwanzigsten Jahrhunderts in Erinnerung, daß Wissenschaft und Aufklärung sich einer gemeinsamen Kultivierung verdanken  – der Kultivierung dessen, was Mittelstraß als »die Tugenden des Vernünftigen«5 kennzeichnet. Nur wegen dieser gemeinsamen kognitiven Tugenden konnten Wissenschaft und Aufklärung im selben geistesgeschichtlichen Atemzug der klassischen griechischen Antike vor allem des fünften und des vierten vorchristlichen Jahrhunderts ihre geschichtlichen Anfänge nehmen. Doch diese gemeinsamen Anfänge ruft das Buch gleichzeitig auch der damals in Deutschland erwachenden Wissenschaftstheorie in Erinnerung. Ein Jahr vor der Publikation von Mittelstraß’ frühem opus magnum war das ebenso umfangreiche Buch Wissenschaftliche Erklärung und Begründung des Münchener Philosophen Wolfgang Stegmüller erschienen, der erste der folgenden vier Haupt- und sieben Nebenbände seines international renommierten Einblicks in Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie.6 Mittelstraß, Aufklärung, §§ 1 ff. Vgl. Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. 1. Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin/Heidelberg/New York 1969. 5 6

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Doch gerade der Wissenschaftstheorie führt Mittelstraß’ Buch sogleich die Verlustrechnung vor Augen, die ihre fast chronische Geschichtsvergessenheit zunehmend mit sich bringt. Dies gelingt ihm mit Blick auf Platons Philosophieren, indem er die »Antike (erste) Aufklärung«7 durch die prototypische Gestalt des Platonischen Sokrates beginnen läßt: »Der erste, der eine […] Besinnung auf das menschliche Fundament vernünftiger Selbständigkeit gefordert und darin sogleich zum Maßstab philosophischer Glaubwürdigkeit schlechthin gemacht hat, war Sokrates«. 8 An diesem frühen programmatischen Punkt seiner Untersuchungen führt Mittelstraß vor allem im Anschluß an das Platonische Philosophieren eine äußerst fruchtbare, aber auch äußerst anspruchsvolle Kontrastierung des Typus einer ›schlechten‹ Aufklärung gegen den Typus einer ›guten‹ Aufklärung ein.9 Doch zu Recht macht er sogleich darauf aufmerksam, daß es eine Angelegenheit einer alles andere als einfachen Beurteilung jedes Einzelfalls ist, ob man es jeweils mit einem Fall von guter oder aber von schlechter Aufklärung zu tun hat. Sein eigenes Unternehmen setzt er in diesem Sinne einer besonders anspruchsvollen geschichtlichen Bewährungsprobe aus: »Wenn hier die Unterscheidung zwischen einer ›guten‹ und einer ›schlechten‹ Aufklärung vorgezogen wird, so in der Hoffnung, daß sie sich gerade auch im Hinblick auf die zweite Aufklärung, die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts, als besonders geeignet herausstellen möge«.10 Das von ihm selbst im Ausgang von Platons Philosophieren vorgeschlagene und erprobte Kriterium hierfür formuliert er so: »Es bedarf kaum einer besonderen Erwähnung, daß die gute Aufklärung im griechischen Denken sich tatsächlich eben dadurch auszeichnet, daß sie die Fragen nach dem, was man wissen kann, und dem, was man tun soll, ausdrücklich gestellt […] und zur Grundlage aller eigenen Bemühungen gemacht hat«.11 Doch im Licht dieses Kriteriums wird auch die Verlustrechnung durchsichtig, die Mittelstraß’ Buch der Wissenschaftstheorie un S. 15 bzw. vgl. S. 15 – 86. Mittelstraß, Aufklärung, S. 40. 9 Vgl. S. 58 ff. 10 S. 58. 11 S. 63. 7 8

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serer Tage vor Augen führen kann: Diese klammert aus ihren Untersuchungen geradezu planmäßig die zweite Kriterien-Frage der guten Aufklärung aus – die Frage, was man tun soll. Doch wenn in diesem Zusammenhang von einer Verlustrechnung die Rede ist, dann ist zu beachten, daß damit nicht im geringsten ein Vorwurf oder eine Geringschätzung der Arbeit der Wissenschaftstheorie verbunden ist. Im Gegenteil können wir dank der nunmehr fast hundertjährigen Arbeit dieser Wissenschaftstheorie Strukturen der Wissenschaft im Spiegel der logischen Strukturen ihrer Begriffe, ihrer Sätze, ihrer Argumente und ihrer Theorien unvergleichlich viel besser durchschauen als jemals zuvor während der gesamten vorangegangenen Geschichte der Wissenschaften und der Philosophie. Die planmäßige Ausblendung der zweiten klassischen Frage der Aufklärung nach dem, was man tun soll, durch die Wissenschaftstheorie ist auf nichts anderes als auf ein unverfügbares geschichtliches Geschick zurückzuführen – auf das Geschick der unablässig fortschreitenden Spezialisierung sowohl der Philosophie wie der Wissenschaften und ihrer dadurch nötig werdenden, ebenso fortschreitenden Arbeitsteilung. Die Strukturen der Wissenschaften haben im Licht der unablässigen Verfeinerungen der mikroanalytischen Mittel der Wissenschaftstheorie ihrerseits ein immer mikroskopischer werdendes Gesicht gezeigt. Die wissenschaftstheoretische Arbeit an der Klärung dieser Strukturen kann daher sogar innerhalb der Philosophie nur noch in strikt autarker und arbeitsteiliger Einstellung gelingen. Diese Arbeit ist auf dem besten möglichen methodischen Niveau so anspruchsvoll geworden, daß die ursprünglich zu einer integralen Philosophie gehörende praktische Aufklärungs-Frage, was man tun soll, auf dem heute dafür angemessenen methodischen Niveau von einem Wissenschaftstheoretiker nicht mehr in Personalunion bearbeitet werden kann. Eine um so bedeutsamere Ausnahme bildet unter diesen Umständen ein Buch, in dem eine Theorie der Medizin entwickelt wird, durch die der Philosoph und Arzt Wolfgang Wieland am Leitfaden des Themas Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie12 in methodisch vorbildlicher Weise zeigen konnte, daß die Medizin Vgl. Wolfgang Wieland, Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie ( 1975), Berlin 2004. 12

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keinem anderen Ziel dient, als in ihren Adepten – den zukünftigen Ärzten – die Fähigkeit zu entwickeln, die Frage, ›was man tun soll‹, mit Blick auf jeden individuellen sich ihnen anvertrauenden Pa­ tien­ten sachgemäß und methodengerecht zu beantworten. Die epistemologische Aufklärungs-Frage, was man wissen kann, wird von Mittelstraß mit Hilfe eines der typischen Reflexionsschritte der Philosophie unter die Vorzeichen der von ihm thematisierten ›Tugenden des Vernünftigen‹ gerückt. Für die Antworten der Wissenschaften auf die Frage nach dem, was man wissen kann, faßt er eine besondere Tugend ins Auge, die er zu Recht als »vorbildlich« auffaßt und als »die methodische Rechtschaffenheit«13 charakterisiert. Diese kann, wie er ebenfalls zu Recht formuliert, nur durch »eine methodische Disziplinierung des Denkens«14 erworben werden.15 Implizit gibt Mittelstraß im selben Atemzug zu verstehen, was auf der Linie der epistemologischen AufklärungsFrage geradezu der Prototyp schlechter Aufklärung wäre. Er identifiziert ihn mit der Auffassung, die nicht in dieser methodischen Tugend, sondern in der Verfügung über »einzelne Sätze, die […] als vorbildlich gelten sollen«,16 irrtümlich das Maß der epistemischen Aufklärung einer Person sucht. Epistemisch aufgeklärt ist jedoch nicht, wer z. B. den Satz des Pythagoras, Galileis Beschleunigungsgesetze, die Haupttheoreme von Descartes’ Analytischer Geometrie oder die Entropieformel der Thermodynamik auswendig kennt, sondern wer mit den Methoden vertraut ist, solche Sätze oder Formeln in authentischer methodischer Anstrengung zu gewinnen, zu begründen oder aus noch grundlegenderen Gesetzen und Formeln herzuleiten. Sätze dieses Typs – von der Thaletischen und der Euklidischen Geometrie über die Sätze der Kopernikanischen Planetentheorie bis in die der nach-newtonschen Himmelsmechanik – werden von S. 64. S. 63. 15 In seinem jüngsten Buch sucht Jürgen Mittelstraß, Fröhliche Wissenschaft ? Philosophische Grenzgänge zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, Weilerswist 2021, das Publikum davon zu überzeugen, daß und warum das »Land fröhlicher Wissenschaft« im Horizont der ›methodischen Disziplinierung des Denkens‹ und der ›Tugenden des Vernünftigen‹ ein »ferne[s] Land«, S. 28, ist – ein überraschender Befund malgré Nietzsche und Epikur ? 16 Mittelstraß, Aufklärung, S. 63. 13 14

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Mittelstraß auf den ersten vierhundert Seiten seines Buchs selbstverständlich angemessen erörtert. Doch sie bilden unter den Vorzeichen der epistemologischen Aufklärungskonzeption nur gleichsam die paradigmatischen propositionalen Knotenpunkte im eigentlich undurchdringlichen Geflecht der persönlichen methodischen Tugenden, mit deren Hilfe sie im Laufe der Wissenschaftsgeschichte von denen gewonnen worden sind, die sie zuerst formuliert haben, aber auch von denen fruchtbar gemacht worden sind, die sie sich nachträglich so authentisch zu eigen machen konnten, daß sie mit ihrer Hilfe die nächsten Fortschritte auf demselben oder auf einem von ihnen erweiterten Forschungsfeld begünstigen konnten. Im III. Teil seiner Untersuchungen geht Mittelstraß – von Des­ cartes und John Locke, über Leibniz und Kant – den Bemühungen neuzeitlicher Philosophen nach, das methodisch disziplinierte Tun der Wissenschaften auf die Methodenideale hin durchsichtig zu machen, von denen sich die tätigen Wissenschaftler auf ihren diversen Forschungsfeldern zwar mehr oder weniger orientierungssicher leiten lassen, über die sie sich aber – zumeist aus schlichten arbeitsökonomischen Gründen – in der Regel nicht auch noch in reflexiver Einstellung und aus eigener Kraft in wohldurchdachter Weise methodologische Rechenschaft ablegen können.

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2. Ein szientistisches Aufklärungsmodell (Denis Diderot)

Damit sind die Elemente gesammelt, die geeignet sind, zunächst Licht auf die grundsätzlichen Verdienste von Mittelstraß’ Untersuchungen zu werfen. Doch wie kann man im Licht derselben Elemente dem einen oder anderen mehr oder weniger neuralgischen Punkt dieser Untersuchungen auf die Spur kommen ? Die Umstände haben es gefügt, daß dies ausgerechnet unter Vorzeichen eines der beiden Jahrhunderte der Neuzeit möglich ist, die Mittelstraß für eine Bewährungsprobe seines Ansatzes bei den Tugenden des Vernünftigen ins Auge gefaßt hat. Denn gerade seine Verbindung der epistemologischen Aufklärungsfrage mit der Tugend der methodisch disziplinierten Rechtschaffenheit der wissenschaftlichen Arbeit findet in dem wohl bedeutsamsten neuzeitlichen Dokument dieser aufgeklärten wissenschaftlichen Tugend ein unmittelbares Echo – in der von d’Alembert und Diderot seit 1751 in drei Dutzend Bänden herausgegebenen Enzyklopädie der Wissenschaften, der Technik und der Berufe.1 In seinem programmatischen Artikel zum Thema Encyclopédie schreibt Diderot dem Wissenschaftler, dem unter den Vorzeichen von Mittelstraß’ epistemologischer Aufklärungsfrage die Tugend der methodischen Rechtschaffenheit zukommt, eine aufgeklärte Kunst (L’art éclairé2) zu. Diese aufgeklärte Kunst zeige sich darin, daß der entsprechende Wissenschaftler mit allen Verfahren und allen Operationen3 seines Forschungsfeldes vertraut ist und sie mit jener Leichtigkeit, jenem Überfluß an Ressourcen und mit jener Promptheit4 ausüben kann, die seine aufgeklärte Methodenkul Vgl. Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Paris 1751 ff. 2 Art. Encyclopédie, in: Encyclopédie, Bd. I, S. 642. 3 »[…] familier tous les procédés, toutes les opérations […]«, ebd. 4 »[…] avec cette facilité, cette abondance de ressources, cette promptitude«, ebd. 1

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tur ausmacht. Diese befähigt ihn dazu, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, das Wahre vom Wahrscheinlichen, das Wahrscheinliche vom Wunderbaren und Unglaublichen, die gewöhnlichen Phänomene von den außerordentlichen, die gewissen Tatsachen von den zweifelhaften und diese von den absurden und gegen die Ordnung der Natur verstoßenden.5 Diderot geht über die Formulierung von Methodennormen der aufgeklärten Kunst des tüchtigen Wissenschaftlers sogar noch einen entscheidenden Schritt hinaus. Er charakterisiert hier zwei Mittel, von deren Gebrauch die zunehmende Aufklärung aller Menschen abhängt. Das eine Mittel besteht darin, die Menge der Erkenntnisse, über die die Menschen jeweils schon verfügen, durch die Entdeckungen der Wissenschaften zu vermehren. 6 Das andere Mittel besteht darin, diese Entdeckungen in einem geordneten Zusammenhang  – also im Stil einer Enzyklopädie  – zusammenzufassen.7 Beiden Mitteln schreibt Diderot den Zweck zu, damit viel mehr Menschen aufgeklärt sein möchten. 8 Damit findet Mittelstraß’ Ansatz bei der innerwissenschaftlichen Aufklärungsfunktion der Tugend der methodischen Rechtschaffenheit offensichtlich zunächst einmal ein unmittelbares und außerordentlich prominentes neuzeitliches Echo. Mit diesem Echo ist zwar eine in mehrfacher Hinsicht bedeutsam verfeinerte Charakteristik dieser innerwissenschaftlichen methodischen Tugend verbunden. Doch es wird auch deutlich, daß die Entdeckungen des wissenschaftlichen Fortschritts nicht länger eine exklusive Angelegenheit der wissenschaftsinternen Aufklärung sein sollten. Durch ihre Aneignung sollen sogar, wie Diderot formuliert, viel mehr Menschen auch außerhalb der Wissenschaft aufgeklärt werden. Die Legitimität dieser grundsätzlichen Auffassung von der Aufklärung der Menschen durch Wissenschaft wird von Diderot sogar durch »[…] distinguer le vrai du faux, le vrai du vraisemblable, le vraisemblable du merveilleux et l’incroyable, les phéno-mènes communs des phénomènes extraordinaires, les faits certains des douteux, ceux-ci des faits absurdes et contraires à l’ordre de la nature«, ebd. 6 »[…] l’un d’augmenter la masse des Connaissances par des découvertes«, S. 637. 7 »[…] l’autre de rapprocher les découvertes et de les ordonner entre elles«, ebd. 8 »[…] a fin que beaucoup plus d’hommes soient éclairés«, ebd. 5

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die Berücksichtigung eines unmißverständlich praktischen Kriteriums geltend gemacht: Die absolute Nützlichkeit der Wissenschaften ist eine ausgemachte Sache.9 Mit dieser Beschwörung der absoluten Nützlichkeit der Wissenschaften für die Menschen kündigt Diderot jedoch die Trennung auf, die Mittelstraß’ Ansatz sorgfältig beachtet, um den Grundsatz der klassischen griechischen Philosophie fruchtbar machen zu können, den Grundsatz, daß die beiden Leitfragen der Aufklärung unabhängig voneinander beantwortet werden sollten  – die epistemologisch-wissenschaftstheoretische Aufklärungsfrage, was ich wissen kann, und die praktische Aufklärungsfrage, was ich tun soll. Mit Hilfe seines absolut gesetzten utilitaristischen Kriteriums rückt Diderot die praktische Tragweite der Wissenschaften für die Menschen in den Mittelpunkt der Bemühungen um die Aufklärung: Die Entdeckungen der Wissenschaften dienen deswegen der Aufklärung der Menschen, weil diese Entdeckungen für sie absolut nützlich sind. Es ist unübersehbar, daß Diderot damit ein optimistisches Fortschrittsmodell sowohl für die Wissenschaften wie für die Aufklärung wie für eine wissenschaftsbasierte Praxis der Menschen umreißt.

»[…] en prenant l’utilité absolue des sciences pour une donnée«, Art. Chymie, S. 421. 9

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3. Die geschichtspolitische Situation von Aufklärung und Religion

Die Bewohner Westeuropas und Nordamerikas identifizieren sich gerne mit den Erben der Aufklärung, um die sich zuerst das 18. Jahrhundert in programmatischer Weise bemüht hat. Die Erbschaft dieses Jahrhunderts hat aber selbstverständlich auch eine Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte ist durch nichts tiefer und langfristiger geprägt als durch die christliche Religion sowie durch die Religionspolitik und die Theologie des Christentums. Diese lange Vorgeschichte des sog. Jahrhunderts der Aufklärung leidet indessen auch unter einer tiefen Spaltung. Wenn die Erben der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in unseren Tagen zunehmend in eine kämpferische Auseinandersetzung mit der Religionspolitik islamischer Staaten geraten, dann begegnen sie indirekt auch der gespaltenen Vorgeschichte jener Erbschaft des 18. Jahrhunderts, auf die sie sich so gerne berufen. Ein sehr frühes Schlüsselereignis dieser gespaltenen Vorgeschichte kann man mit Hilfe des berühmten ersten Satzes charakterisieren, mit dem Schiller seinen Don Carlos eröffnet: Denn ,die schönen Tage von Aranjuez‹ waren für ganz Spanien im letzten Viertel des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung endgültig vorbei, als die politische und die kulturelle Friedensblüte der arabischen Toleranzherrschaft über Spanien von fanatischen christlichen Eroberern zerstört wurde – den Erben einer tief irenischen Religion der Menschenliebe. Die Bewohner Westeuropas und Nordamerikas werden daher gegenwärtig von Bewohnern anderer Weltgegenden insofern in einer höchst verstörenden Weise auch daran erinnert, daß sie sich die Erbtitel und die Erblasten ihrer Vergangenheit nicht nach ihrem geschichtspolitischen Gutdünken aussuchen können. Der Fanatismus, mit dem diese Erinnerung gegenwärtig von militanten arabischen Migranten unter die Bewohner Europas und Nordamerikas getragen wird, verweist zwar auf denselben Mangel an Aufklärung, der auch den Fanatismus christlicher Eroberer hervorgerufen hat. 20 

Doch die religionspolitische Vorgeschichte der Aufklärung, um die sich das 18. Jahrhundert bemüht hat, gehört nun einmal zu den Erblasten, von denen sich in den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen der Gegenwart auch diejenigen nicht restlos distanzieren können, die meinen, sich auf irgendwelche wohlfeilen Erb­ titel der Aufklärung berufen zu können. Die Philosophie tut gut daran, wenn sie sich an geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um die Legitimität solcher Erbtitel und Erblasten zumindest nicht direkt beteiligt. Die Methoden ihrer Arbeit sind den politischen Methoden solcher Auseinandersetzungen aus prinzipiellen Gründen nicht gewachsen. Dennoch hat die Philosophie methodische Möglichkeiten, solche Auseinandersetzungen ernst zu nehmen. Das Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Religion scheint sogar wie geschaffen zu sein, um diese Möglichkeiten zu erproben. Denn seit Platon in seinem Hauptwerk Politeia das Schlüsselsymbol der Aufklärung – also die Sonne – mit der Idee des Guten identifiziert hat, ist die Philosophie die wichtigste reflexive Hüterin und Anwältin der Aufklärung. Aber noch älter als die Philosophie ist die Religion. Auf die Gottheiten nicht nur der griechischen Religion wird daher in allen Dialogen Platons mehr oder weniger direkt Bezug genommen. Und im Zwölften Buch der Aristotelischen Metaphysik wird sogar eine kohärente Theologie entwickelt. Es ist bekannt, welche bibliothekarischen und hermeneutischen Schicksale den Schriften Platons und Aristoteles’ widerfahren sind. Die aristotelischen Schriften wurden bis in die Zeit des beginnenden Hochmittelalters so gut wie ausschließlich im arabischen Raum mit großem Gewinn für die theologische, die wissenschaftliche und allgemein für die kulturelle Selbstverständigung des Islam fruchtbar gemacht. Erst seit dem 12. Jahrhundert sind sie in den lateinischen Übersetzungen Wilhelms von Moerbeke durch Thomas von Aquin für die theologische und die wissenschaftliche Selbstverständigung von Europas Christentum richtungweisend geworden. Dabei sollte nicht vergessen werden, daß gerade Thomas für die Entwürfe der arabischen Philosophen und Theologen Ibn Sina und Alfarabi stets den größten Respekt gehegt hat. Platons Schriften wurden zwar kontinuierlich studiert. Aber einem gründlichen und differenzierten Verständnis ihres philo21

sophischen Formats standen bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts zwei starre Hindernisse entgegen. Das eine Hindernis wurde von der banalisierenden Interpretation der Ideenannahme Platons durch Cicero gebildet. Diese Interpretation wurde in der Neuzeit noch einmal besonders lebendig, als vor allem durch die CiceroBegeisterung der Florentiner Humanisten des 15. und des 16. Jahrhunderts Platons Dialoge von neuem in einen Brennpunkt der Aufmerksamkeit rückten, verbunden allerdings mit ganz neuen, extrem einseitigen Akzentuierungen vor allem auf der Theorie des Schönen, des Eros und des dichterischen Enthusiasmus im Symposion. Das andere Hindernis wurde von der ebenso extrem einseitigen Interpretation gebildet, die die Neuplatoniker vor allem durch Plotin und Proklos, aber auch durch Augustinus für die christliche Theologie vorbereitet hatten. Hier standen verständlicherweise Themen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die in Platons Dialogen eher eine randständige Rolle spielen – die schöpfungstheologischen Prämissen des Timaios, die formal-analytischen Dialoge um das Eine und das Viele aus dem zweiten Teil des Parmenides und die Unsterblichkeitsbeweise für die Seele im Phaidon. Man darf diese scheinbar veralteten und in unseren Tagen scheinbar randständigen Themen der Philosophie jedoch mit großem Bedacht erwähnen. Denn die Philosophie der Gegenwart muß mit der Möglichkeit eines Risikos rechnen, wenn sie die Auseinandersetzung mit diesen Themen vernachlässigt oder für obsolet zu erklären versucht. Dieses Risiko hat die Form eines Dilemmas: Entweder wird die Philosophie auf das unausweichliche theologische, religionsphilosophische und religionspolitische Gespräch mit dem gesamten Osten – also sowohl mit dem Nahen wie dem Mittleren und dem Fernen Osten – so schlecht vorbereitet sein, daß sie sich an einem produktiven Gespräch gar nicht beteiligen kann, ohne sich zu blamieren. Oder aber sie läuft Gefahr, in solchen Gesprächen eine zwar subtile, aber doch fadenscheinige Gestalt des Neokolonialismus zu kultivieren. Denn sie kann dann wohl immer noch die methodische Überlegenheit einer formalanalytischen Kompetenz kultivieren, die zwar die jüngsten Raffinessen der Syntax, der Semantik und der Pragmatik, z. B. der Demonstrativpronomina, beherrscht, aber z. B. die Frage nach der Theophanie mit derselben 22

Unreife für ein Scheinproblem auszugeben versucht, wie man in den Pubertätsjahren der Analytischen Philosophie alle Fragen der überlieferten Metaphysik als Scheinprobleme in Verruf zu bringen versucht hat. Doch bekanntlich haben sich die Fragen der traditionellen Metaphysik während der vergangenen siebzig Jahre auch innerhalb der Analytischen Philosophie als quicklebendig und als höchst fruchtbar erwiesen. Die Religionspolitik des Nahen, des Mittleren und des Fernen Ostens wartet indessen nicht siebzig Jahre oder länger darauf, daß die Philosophie des Westens das Reifeniveau erreicht hat, auf dem sie ein nicht nur ebenbürtiger, sondern auch respektvoller Gesprächspartner für die religionsphilosophischen Grenzprobleme geworden sein wird, durch die die Erben der neuzeitlichen Aufklärung und die Träger der großen Religionen in der Gegenwart so extrem voneinander getrennt sind. Die letzte Religionsphilosophie des Westens, die noch alle systematischen Voraussetzungen mitbrachte, um hier ein ebenbürtiger Gesprächspartner zu sein, war die Religionsphilosophie Hegels. Im 20. Jahrhundert war es vor allem Heidegger, der durch eine beispiellos kraftvolle Auseinandersetzung mit der Problemgeschichte der Philosophie die philosophische Potenz entwickelt hatte, in solchen Auseinandersetzungen ein ebenbürtiger und respektvoller Gesprächspartner zu sein.

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4. Eine gegenreformatorische Epochendiagnose (Paul Hazard)

An diesem Punkt lohnt es sich, auf die Diagnose zurückzublicken, die in dem berühmten Buch des französischen Ideenhistorikers Paul Hazard Die Krise des europäischen Geistes/La crise de la conscience Européenne von 1935 ausgearbeitet worden ist.1 Er gibt ein Epochenkriterium zu bedenken, das, wenn es tauglich sein sollte, für die bis heute traditionellen Zäsurenbildungen der Ideengeschichte tiefgreifende Revisionen erfordern würde – auch für Mittelstraß’ und für Diderots Aufklärungskonzeption. Hazards Diagnose lautet: »[…] Die entscheidende Ideenschlacht findet vor 1715 und sogar vor 1700 statt. […] Die nun folgende Krise setzt so schnell und plötzlich ein, daß sie überraschend wirkt: während sie im Grunde durch eine Tradition von Jahrhunderten vorbereitet und in Wahrheit nur eine Wiederholung, Fortsetzung ist«;2 »[…] nahezu alle Ideen, die 1760 oder sogar noch 1789 revolutionär erschienen, [waren] um 1680 bereits ausgesprochen. Damals hat das europäische Bewußtsein eine Krise durchgemacht. […] [es gibt] in der Geschichte der Ideen keine, die größere Bedeutung hätte«.3 Die von Hazard diagnostizierte Krise bildet – lediglich mit einem anderen Wort – die damals beginnende Zerreißprobe unseres neuzeitlichen Spannungsfeldes. Hazard sieht im Blick auf das siebzehnte und das achtzehnte Jahrhundert nur eine relativ kurze Phase, die dieser Krise durch die Fortsetzung der Ideenschlacht hätte vorbeugen können, wenn diese Phase stabil geblieben wäre: »Ungefähr um die Mitte des 17. Jahrhunderts kommt es zu einem vorübergehenden Stillstand; ein paradoxes Gleichgewicht entsteht zwischen den sich widersprechenden Elementen; es kommt zu einer Aussöhnung zwischen den Vgl. Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes (frz. La crise de la conscience Européenne, 11935), Hamburg 11939, 5. Aufl., o. J. 2 S. 506. 3 S. 24. 1

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feindlichen Mächten, und es entsteht jene im eigentlichen Sinne des Wortes wunderbare Leistung: der Klassizismus. Er bedeutet eine Macht der Beruhigung, eine ruhige Kraft, das Beispiel einer Abgeklärtheit, die von Menschen bewußt herbeigeführt wird, die […] nach den Verwirrungen des vorangegangenen Jahrhunderts [Hazard meint die Verwirrungen, die durch die Reformation und die Gegenreformation ausgelöst worden sind] nach einer heilbringenden Ordnung streben«.4 Hazard stellt unmißverständlich klar, wodurch das Ende dieser klassizistischen Ruhephase erreicht worden war: »Als Ludwig XIV. im Monat Oktober 1685 das Edikt von Nantes aufhob. […] Insoweit man überhaupt bestimmte Daten als Wendepunkte für die Entwicklung des Denkens zu geben vermag, kann man mit Recht sagen, das Jahr 1685 bedeutet das Ende des Siegeszugs der Gegenreformation; danach geht es bergab«.5 Gehört es vielleicht zur Taktik eines gegenreformatorischen Eiferers, daß Hazard in seinem Buch den Umstand beschweigt, daß im selben Jahr 1685, in dem Ludwig XIV. das Toleranz-Edikt von Nantes aufhebt, John Locke mit der Arbeit beginnt, die unter dem Titel A Letter Concerning Toleration die staatliche Pflicht zur Toleranz gegen alle christlichen Konfessionen zu rechtfertigen sucht ?

S. 506. S. 111.

4 5

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5. Ein sozialökonomisches Hoffnungsprojekt (Peter Gay / Emil du Bois-Reymond)

Doch ist Hazards religionspolitisches Kriterium für das Ende einer produktiven Ideenschlacht und für den Anfang einer sterilen Fortsetzung dieser Ideenschlacht das einzige oder sogar das bedeutsamste Kriterium für das, was für Menschen wichtig ist ? Gehören Mittelstraß’ gespaltenes epistemisches bzw. praktisches Aufklärungskriterium und Diderots optimistisches Kriterium der Aufklärung der Menschen durch die für sie angeblich absolut nützlichen Innovationen der Wissenschaft in die von Hazard diagnostizierte Verfallsgeschichte der Ideen ? Eine Erinnerung an eine alles andere als ideengeschichtliche Dauerkrise der Menschen mag hier helfen. Der deutsch-amerikanische Sozialhistoriker Peter Gay hat die alltägliche Lebenssituation der Menschen in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in seinem zweibändigen Buch von 1966 und 1969 Enlightenment. An Interpretation so beschrieben: »[…] the pitiless cycles of epidemics, famines, risky life and early death, devasting war and uneasy peace  – the treadmill of human existence«.1 Der Wirtschafts­ historiker David Landes hat in seinem Buch von 1969 The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present im Gegenzug die Situation beschrieben, die sich in der Zeit von 1750 bis 1900 durch die Industrielle Situation entwickelt hatte: »The result [of the Industrial Revolution, R. E.] […] has changed man’s way of life more than anything since the discovery of fire: The Englishman of 1750 was closer in material things to Cesar’s legionnairs than to his own great-grandchildren«.2 Peter Gay, The Enlightenment. An Interpretation, 2 vols., New York 1966, 1969, vol. II, p. 3. 2 David Landes, The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present (11969), Cambridge/New York 1999, S. 5. 1

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Im Licht von Peter Gays Erinnerung an die Jahrtausende währende elende Tretmühle der menschlichen Existenz wird man diesen bis heute anhaltenden Fortschritt der alltäglichen Komfortbedingungen des Lebens der Menschen in den sogenannten materiellen Angelegenheiten zumindest in der sogenannten westlichen Welt nicht leichtfertig als materialistisches Vorurteil abtun können. Nimmt man überdies das Jahr 1751 der Publikation von Diderots optimistischem utilitaristischen Kriterium der Aufklärung der Menschen durch die für sie angeblich absolut nützlichen Innovationen der Wissenschaft zum Maßstab, dann gilt zweifellos nach wie vor, was der deutsche Biologe Emil du Bois-Reymond am Ende des neunzehnten Jahrhunderts über Autoren sagte, die solche Auffassungen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert angesichts der nützlichen Anwendungspotentiale vor allem der Naturwissenschaften ihrer Zeit formulierten: »Sie träumten«.3 Doch derselbe du Bois-Reymond konfrontiert diese geträumten Anwendungspotentiale mit denen vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts und stellt nüchtern fest: »Wovon jene bloß träumten, ist sogar noch übertroffen«.4 Doch können wir uns gegenwärtig oder noch in der Zeit von Mittelstraß’ Publikation auch unter Aspekten der Philosophie der euphorischen Fortschrittsdiagnose anschließen, mit der du Bois-Reymond den wissenschaftsbasierten Fortschritt seiner Zeit begleitet ?

Emil du Bois Reymond, Culturgeschichte und Naturwissenschaft (11877), in: Reden, 1. Folge: Literatur, Philosophie, Zeitgeschichte, Leipzig 1886, S. 137. 4 S. 137. 3

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6. Die kritische Religionsphilosophie von Innovation und Folgelast (Rainer Specht I)

Hier kommt der dritte Aspekt ins Spiel, unter dem man allerdings sogleich nach dem Erscheinen von Mittelstraß’ Buch direkt auf eine innere Grenze seiner gespaltenen Aufklärungskonzeption aufmerksam gemacht hat. Der Philosoph Rainer Specht hat zwei Jahre nach der Publikation von Mittelstraß’ Buch eine bedeutsame Untersuchung unter dem Titel Innovation und Folgelast. Beispiele aus Philosophie und Wissenschaftsgeschichte publiziert.1 Der Doppelaspekt von Innovation und Folgelast ist seit damals ganz unabhängig von philosophischen Erörterungen zu einem Leitaspekt der öffentlichen Auseinandersetzungen mit der sogenannten Ambivalenz des wissenschaftsbasierten technischen Fortschritts geworden. Doch eines der bedeutenden Verdienste von Spechts Untersuchungen besteht darin, daß sie die von Hazard beschworene religionspolitische ›Ideenschlacht‹ zwischen Reformation und Gegenreformation auf der hermeneutischen und analytischen Mikrostufe der theologischen, der philosophischen und der naturwissenschaftlichen Faktoren dieser ›Ideenschlacht‹ behandeln: Sie zeigen mit beispielloser Eindringlichkeit, inwiefern es der Streit um ein angemessenes Verständnis des Sakraments des Abendmahls – also der Eucharistie – gewesen ist, der seit der Zeit zwischen 1150 und 1250 und vor allem seit den Schriften Thomas’ von Aquin und bis zu Descartes’ Ontologie im siebzehnten Jahrhundert erstaunliche Fortschritte gezeitigt hat. Doch diese Fortschritte waren, wie Specht zeigen kann, nur möglich, weil die maßgeblichen Theologen die Anwendung vor allem der Aristotelischen Kategorien der Substanz, der Akzidenz und der Quantität auf Brot und Wein und auf Leib und Blut Jesu in bedächtigen und scharfsinnigen Schritten immer wieder von neuem mit dem jeweils aktuellsten Stand der Vgl. Rainer Specht, Innovation und Folgelast. Beispiele aus der neueren Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972. 1

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Physik in Einklang brachten, um besser begründen zu können, daß nicht nur Brot und Wein einer wohlbestimmten Wirklichkeit angehören, sondern daß auch ihre Verwandlung in Leib und Blut Jesu einer Wirklichkeit angehört, wenngleich einer ganz andersartigen. Diese Tradition bricht, wie Specht ebenfalls plausibel machen kann, mit dem Empirismus John Lockes ab. Denn die Wirklichkeitserfahrung, die unter den Vorzeichen seines Empirismus mög­lich ist, ist zwar jedem Menschen möglich. Doch die Wirklichkeitserfahrung der eucharistischen Verwandlung wird unter diesen Voraussetzungen dazu verurteilt, für unmöglich gehalten zu werden. Um so bemerkenswerter ist es, daß Locke in seinem Toleranzbrief die Atheisten vom Toleranzgebot ausnimmt. Doch das bedeutet unter den systematischen Prämissen dieses Traktats ausschließlich, daß die Atheisten von der Rechtspflicht des Staates und seiner Institutionen zur Toleranz ausgenommen sind. Es bedeutet mitnichten, wie mancher heute angesichts der heillos privatistisch gewordenen Toleranzmaßstäbe meinen mag, daß die gläubigen Theisten und Deisten unter den Menschen damit einen Freibrief hätten, allerlei Formen von Intoleranz gegen Atheisten zu üben. Doch das Buch von Hazard ist aus Gründen atemberaubend, die Bücher von Ideenhistorikern regelmäßig mehr oder weniger atemberaubend machen. Sie beschreiben die Auseinandersetzungen um die von ihnen thematisierten Ideen mit einer Rhetorik, die man sich mit einer kleinen Auswahl charakteristischer Stichworte aus Hazards Buch in Erinnerung rufen kann: Kampf, Schlacht, Siegeszug, Sieg, Niederlage, Waffenstillstand, Friedensangebot u. ä. Hält man sich nur an diese Rhetorik, dann könnte man meinen, man lese nicht eine Ideengeschichte, sondern Schillers Beschreibung der Schlachtengetümmel, die er in seiner Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung behandelt. Ideen werden von Hazard mit Hilfe dieser Rhetorik behandelt, als würden sie sich aus einer ihnen innewohnenden Kraft oder Schwäche in einem unaufhörlichen Spannungsfeld von Krieg und Frieden bewegen. Doch Philosophen, Theologen und Wissenschaftler, auf die sich der Ideenhistoriker Hazard in fast übergroßer Zahl bezieht, sind nicht Träger von Ideen, als wären diese Ideen Waffen, mit denen sie Ideenschlachten austragen könnten. Sie untersuchen vielmehr 29

Fragen, die sie jeweils mit Hilfe von mehr oder weniger anspruchsvollen methodischen Einstellungen zu beantworten suchen. Ihre Antworten legen sie ihren mehr oder weniger ebenbürtigen und mehr oder weniger skeptischen Zeitgenossen und Nachfahren privat oder öffentlich zur Prüfung und nötigenfalls zur Verbesserung vor. Daß sich jeder von ihnen dabei auch polemischer Mittel bedient, um seine Auffassungen gegen konkurrierende Auffassungen zu profilieren und abzugrenzen, findet man auch in der Philosophie von Platon bis zu Heidegger, Wittgenstein und z. B. Robert Brandom in der Gegenwart. Doch der interdisziplinäre Respekt gebietet zu berücksichtigen, daß Ideenhistoriker vom Typ Hazards die methodischen Einstellungen in der Regel gar nicht gelernt haben, die nötig sind, um den oft entscheidenden Mikroschritten im Entwurf einer überlieferten Theologie bzw. wissenschaftlichen oder philosophischen Theorien gerecht zu werden. Kein Geringerer als Jacob Burkhardt bemerkt in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen: »[…] eine einzelne Zeile in einem vielleicht sonst wertlosen Autor kann dazu bestimmt sein, daß uns ein Licht aufgeht, welches für unsere ganze Entwicklung bestimmend ist. […] Es kann sein, dass im Thukydides z. B. eine Tatsache ersten Ranges liegt, die erst in hundert Jahren jemand bemerken wird«.2 Nur mikrohermeneutische und mikroanalytische Untersuchungen wie die von Specht können in der Philosophie die entsprechenden Mikro-Tatsachen ans Licht bringen. In Ideenschlachten, wie sie von Autoren wie Paul Hazard – ganz unbeschadet ihres enormen gelehrten Fundus – entworfen werden, werden solche Mikro-Tatsachen regelmäßig der Faszination durch ein vermeintliches Ideen-Schlachtgetümmel geopfert: »Die bloße Polyhistorie ist eine zyklopische Gelehrsamkeit, der ein Auge fehlt — das Auge der Philosophie«.3

Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Historisch-kritische Ausgabe, Pfullingen 1949, S. 43 bzw. 44. 3 Immanuel Kant, Logik, in: Kant’s gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff. (sog. Akademie-Ausgabe), Bd. IX, S. 1–150, hier: S. 45. 2

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7. Die Wegscheide John Locke (Rainer Specht II)

Mittelstraß hat seine am Leitfaden von Platons Sokrates-Bild entwickelte Orientierung am fruchtbaren Spannungsverhältnis von Aufklärung und Wissenschaft ausdrücklich einer Bewährungsprobe ausgesetzt: ›Wenn hier die Unterscheidung zwischen einer ›guten‹ und einer ›schlechten‹ Aufklärung vorgezogen wird, so in der Hoffnung, daß sie sich gerade auch im Hinblick auf die zweite Aufklärung, die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts, als besonders geeignet herausstellen möge‹ (vgl. oben S. 13 f.). Läßt sich diese Hoffnung mit Blick auf die überlieferten Dokumente erfüllen ? Mit dem Enthusiasmus, der Diderot im 18. Jahrhundert auf der europaweiten Plattform der Encyclopédie die Möglichkeit einer Aufklärung durch Wissenschaft propagieren läßt,1 scheint Mittelstraß’ Hoffnung auf die neuzeitliche Bewährungsprobe in Erfüllung zu gehen. Der publizistische Erfolg der Encyclopédie spricht eine überaus beredte Sprache. Der wohl beste Kenner der publizistischen Bemühungen des 18. Jahrhunderts um Aufklärung, der amerikanische Sozialhistoriker Robert Darnton, hat der Verbreitung der Encyclopédie ein Buch unter dem Titel Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopédie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn ?2 gewidmet. Mit statistischen Vergleichskriterien hat er gezeigt, daß  sie, wenn man die Maßstäbe des 18. Jahrhunderts anlegt, den größten publizistischen Erfolg der Buchgeschichte erzielt hat. Die Erfolgsgeschichte der Konzeption einer Aufklärung durch Wissenschaft hält, wenn man sich an den rhetorischen Bekenntnissen zu ihr orientiert, bis heute unvermindert an. Rainer Specht hat mit Hilfe seiner ungewöhnlich tiefen und scharfsinnigen Einblicke in die Geschichte von Theologie, Philo Vgl. oben S. 17 – 19. Robert Darnton, Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopedie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn ? (amerik. 11971), Berlin 1993. 1 2

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sophie und Wissenschaft vom Mittelalter bis in die Gegenwart eine teilweise skeptische und teilweise pessimistische Gegenbilanz aufgemacht. Er macht zunächst darauf aufmerksam, daß »der locke­ sche Empirismus […] theoretisch unzulänglich und im Ansatz unzutreffend ist«.3 Denn im Rahmen von Lockes Ansatz »[besteht] Wissen in der Perzeption der Übereinstimmung von Ideen […], wie Lockes Wissensdefinition erklärt«.4 Doch »dann kann man überhaupt kein Wissen von Außenexistenz besitzen«, 5 weil Ideen nicht außerhalb der Wissensprätendenten existieren. Um trotzdem »verständigerweise die Möglichkeit empirischen Wissens zu vindizieren, [führt er] am Ende kurzerhand das sensitive knowledge ein[…] und [desavouiert] dadurch seine offizielle Definition des Wissens […], stellt [also, R. E.] unausgesprochen zwei unterschiedliche Wissensdefinitionen einander gegenüber. Entweder ist also nicht klar, was Wissen bedeutet, oder es gibt kein empirisches Wissen«. 6 Der Leser des Essays wird mit diesem Dilemma in die Situation entlassen, in der entweder Wissen »[…] vom jeweiligen Subjekt ad  placitum hergestellt [wird]«,7 weil es zum Wissen genügt, Ideen ad placitum in Übereinstimmung zu bringen; oder das zum Skeptizismus verurteilte Subjekt weiß grundsätzlich nicht, ob es etwas weiß oder nicht. »Die praktischen und die religiösen Konsequenzen« 8 von »Lockes theoretische[m] Handicap«9 sind, wie Specht zutreffend bemerkt, »für Christen nicht haltbar«.10 Denn das Dilemma »veranlaßt letzten Endes den Abfall vom Christentum zum free thinking mit seinen bedenklichen Folgen […] für die Individuen, die er um ihre einzige ernst zu nehmende Hoffnung bringt – ihre Rettung«.11 Den Ausblick seines Buchs stellt Specht unter eine General­ bilanz der realen Geschichte nach Locke: »Der Rest des Weges ist Specht, Innovation, S. 189. S. 220. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 S. 207. 8 S. 225. 9 S. 224. 10 S. 225. 11 Ebd. 3 4

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bekannt«12 sowie unter eine den Rest dieses Weges durchdringende Diagnose: »Europa entschied sich gegen den Rat nicht weniger Autoren für das neue Kriterium«13 – also für Lockes Kriterium, das aber gar keines ist, weil es mit dem Dilemma infiziert ist, daß es jeden seiner Benutzer bei der Frage in die Aporie stürzt, im akuten Fall nicht beurteilen zu können, ob er etwas weiß oder aber nicht weiß. Europas Bürger sind daher im tiefen aporetischen Schatten dieses neuen Pseudo-Kriteriums zum free-thinking verurteilt und damit – je länger sie das free-thinking praktizieren – vor allem in der Praxis und in der Religion zu der einzigen möglichen Konsequenz – »desto größer wird ihre Desorientierung«.14

Ebd. Ebd. 14 Ebd. In einem anschließenden Aufsatz hat Rainer Specht, Über den Zugang zu Theodizeen, in: Einheit und Vielheit. Festschrift für Carl Friedrich v. Weizsäcker zum 65. Geburtstag (Hg. E. Scheibe und G. Süßmann), Göttingen 1973, S. 91–97, im einzelnen erörtert, welche gravierenden Gestaltwandlungen die Kriterien durchgemacht haben, seit die mit den Theodizee-Auffassungen Malebranches, Berkeleys und Leibniz’ verbundenen Gerechtigkeitskonzeptionen in den Bannkreis des free-thinking geraten sind. 12 13

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8. Jerusalem und Athen, Philosophie und Gesetz (Leo Strauss)

Man kann Beiträge zur Aufklärung über die Religion in unseren Tagen allerdings nicht gut behandeln, ohne auf eine der gelehrtesten und energischsten Behandlungen einzugehen, die das Religionsproblem im 20. Jahrhundert erfahren hat – auf die Behandlung durch Leo Strauss. Schon früh hat Strauss die von Tertullian evozierten Kontrastpaare Jerusalem und Athen, Philosophie und Gesetz zu Leitaspekten aller seiner nachfolgenden Untersuchungen erhoben.1 Unter den Vorzeichen dieser Kontraste ist Strauss schon früh zu der philosophiegeschichtlichen Einschätzung gelangt, die Aufklärung habe den »Rückgangscharakter der modernen Philosophie in der […] ganze[n] Breite des 17. und 18. Jahrhunderts«2 herbeigeführt. Ausnahmegestalten innerhalb des von Strauss ins Auge gefaßten Verfalls der modernen Philosophie bilden in seinen Augen so gut wie ausschließlich Rousseau, Mendelssohn und Lessing.3 Strauss erklärt den so charakterisierten Niedergang mit Hilfe des Hinweises auf »die Offenbarungs-Kritik der radikalen Aufklärung«4 . Durch leichtfertige Formen der ­Traditionskritik und Zur Sache vgl. Leo Strauss, Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer, Berlin (11935), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften. Band 2. Unter Mitwirkung von Wiebke Meier herausgegeben von Heinrich Meier (11997), Stuttgart 2013, S. 4 – 123, ausdrücklich in der Vorlesung »Jerusalem and Athens«, gehalten an der Hillel Foundation der University of Chicago vom 25. Oktober bis 8. November 1950. 2 Leo Strauss, Die geistige Lage der Gegenwart (1 1932), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften. Band 2 (GS 2): Philosophie und Gesetz  – Frühe Schriften (Hg. Heinrich Meier), Stuttgart-Weimar 1997, S. 441 – 456, hier: S. 454. 3 Vgl. hierzu Strauss, Einleitung zu Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften (11931 – 1937), wieder abgedr. in: GS 2, S. 465 – 608. 4 Leo Strauss, Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-politischem Traktat (11930), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften. Band 1 (GS 1). Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften (Hg. Heinrich Meier), Stuttgart/Weimar 1996, S. 1 – 330, hier: S. 63. 1

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der Vorurteilskritik sei die moderne Philosophie um die wichtigste Herausforderung für ihre Selbstbesinnung gebracht worden – um die Herausforderung »einer Tradition von so unbedingter Autorität, wie es die Tradition der Offenbarungsreligionen ist«, 5 und durch »die Tradition der griechischen Philosophie«. 6 Nach Strauss’ Auffassung wird die wichtigste Aufgabe der Selbstbesinnung nicht nur der Philosophie, sondern jedem einzelnen Menschen gestellt, wenn »[…] nach den Prinzipien des Handelns gefragt [wird], nach dem Richtigen und Guten«.7 Das einzige Heilmittel gegen den Niedergang der philosophischen Auseinandersetzung mit der Frage nach den Prinzipien des Handelns und nach dem Richtigen und Guten sieht Strauss in einer Rückbesinnung auf die platonisch-sokratische Philosophie. Die Leitgedanken für die Auseinandersetzung der Gegenwart mit dieser Philosophie formuliert Strauss daher auch mit Hilfe einer kunstvollen Adaption der metaphorischen Sprache von Platons Höhlengleichnis: »Wir befinden uns heute in einer zweiten, viel tieferen Höhle als die unglücklichen Unwissenden, mit denen es Sokrates zu tun hatte«, 8 Wir bedürfen daher des Platonischen Sokrates, »um in die Höhle hinauf zu gelangen, aus der uns Sokrates ans Licht führen kann«,9 uns also Aufklärung über das Gute und das Nützliche des Handelns vermitteln kann. Unter den vier von Strauss beschworenen lieux de mémoire ragt zweifellos Athen in unerreichbarer philosophischer Höhe hervor. Um so auffälliger ist es, daß der mit der klassischen griechischen Philosophie vertraute Strauss – zumindest in diesen relativ frühen Erörterungen – zwei Schlüsselkonzeptionen Platons (noch) nicht berücksichtigt. Denn Platon selbst hat schon früh – in seinem Dialog Euthyphron  – seine Auseinandersetzung mit dem Religionsthema zugunsten einer überaus ernstzunehmenden Aufklärung über die Religion ausgearbeitet.10 Ebenso hat er den Strauss, Geistige Lage, 456, Strauss’ Hervorhebungen. S. 446. 7 Ebd., Strauss’ Hervorhebungen. 8 Leo Strauss, Besprechung von Julius Ebbinghaus, in: ders., GS 2, S. 439. 9 Ebd., vgl. auch Strauss, Philosophie, S. 132. 10 Vgl. jedoch Leo Strauss, An Untitled Lecture on Plato’ Euthyphron, The University of Chicago 1996. 5 6

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für die Politik und die Politische Philosophie zentralen, aber von Strauss ebenfalls (noch) nicht berücksichtigten Gedanken des Gemeinwohls ins Auge gefaßt. Ihn legt Platon seinem Sokrates in den Mund, als er ihn im Phaidon die Erinnerungen an seine jugendlichen Hoffnungen äußern läßt, die Aufklärung über das »für alle [Menschen] gemeinsame Gute«11 zu erlangen. Indessen trägt vor allem die Religionsphilosophie von Platons Euthyphron im Sinne von Leo Strauss dazu bei, daß auch wir heutigen Zeitgenossen zumindest damit anfangen können, ›in die Höhle hinauf zu gelangen, aus der uns Sokrates ans Licht führen kann‹ – also zur Aufklärung über die Religion gelangen können. Da Mittelstraß diese religionsphilosophischen Erörterungen Platons ausblendet, obwohl sie die für die menschliche Sorge um das praktisch Gute zentrale religiöse Orientierung betreffen, seien diese Erörterungen des Euthyphron hier wenigstens mit ihren wichtigsten Knotenpunkten in Erinnerung gerufen.12

τὸ κοινὸν πᾶσιν […] ἀγαθόν, Phd. 98b 2 – 3. Strauss, Euthyphron, sieht zwar, daß der Dialog »the most serious of all subjects«, S. 20, behandelt, hält den Dialog jedoch für genauso »paradoxical«, S. 19 f., wie all anderen Dialoge Platons. Damit unterläuft er aber natürlich die spezifisch religionsphilosophische Pointe des Dialogs; vgl. hierzu unten S. 37 – 42. 11

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9. Ein religionsphilosophischer Lichtblick aus Athen (Platon)

In der von Platon dialogisch inszenierten Argumentation zugunsten der von ihm intendierten Aufklärung über die Religion ist einer der wichtigsten Wendepunkte des Euthyphron auf diesem dialogischen Weg am Beginn des letzten Viertels des Dialogs erreicht. Platon läßt Sokrates den von seinem Gesprächspartner Euthyphron gemachten Vorschlag akzeptieren, daß fromm bzw. religiös zu sein eine spezielle Form sei, gerecht zu sein. Sie bestehe darin, den Göttern gerecht zu werden, indem man sich um die Götter oder für die Götter sorgt.1 Sokrates’ Interesse an dieser Auffassung ist so stark, daß er es sich anschließend einundvierzig Fragen an Eu­ thyphron kosten läßt, bis er die Hoffnung aufgibt, eine angemessene Antwort auf seine zentrale Frage zu erhalten. Sie lautet: »Im Tun welches Werks besteht der Dienst, durch den wir [Menschen] den Göttern helfen ?«.2 Diese Frage ist im Kontext von Euthyphrons Antworten deswegen konsequent, weil dieser auf eine unmittelbar vorangegangene Frage so geantwortet hat: Sorge für oder um etwas ist stets Sorge für oder um etwas Gutes und Nützliches zugunsten des umsorgten Wesens3. Dies Zugeständnis Euthyphrons macht Sokrates offensichtlich durch die Frage nach dem Typus des Tuns des Werks der frommen bzw. religiösen Einstellung fruchtbar. Damit gibt er zu verstehen, daß der fromme bzw. religiöse Dienst der Menschen an den Göttern nicht einfach in irgend etwas für die Götter Gutem oder Nützlichem besteht. Es besteht vielmehr darin, ein Werk zu tun, also etwas durch konkrete Handlungsweisen Hervorgebrachtes zu erzielen, dessen die Götter ohne eine solche praktisch-aktive Sorge der Menschen gerade selbst nicht fähig sind. Zur Erläuterung des praktisch-werktätigen Charakters dieser Form des Gottesdienstes einigen sich die beiden Gesprächspartner 12e 5 – 7. 13e 10 – 11. 3 ἐπ‹ ἀγαθῷ τινί ἐστι καὶ ὠφελείᾳ τοῦ θεραπευομένου, 13b 8 – 9. 1 2

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auf Analogien wie die folgenden: »Welchem Werk gilt ein Dienst bei den Ärzten ? Doch wohl der Förderung der Gesundheit ?«, 4 »und welchem Werk der Dienst bei Schiffsbauern ? Natürlich der Herstellung von Schiffen«, 5 »und der [Dienst] bei den Baumeistern ? Dem von Häusern«.6 Analog also wie die Menschen gute und nützliche Werke der Ärzte, der Schiffsbauer und der Baumeister brauchen, brauchen die Götter gute und nützliche Werke der Menschen. Trotz des an sich fruchtbaren argumentativen Spannungsfeldes, das durch diese Fragen und Antworten eröffnet ist, inszeniert Platon die Enttäuschung des Sokrates über den weiteren Verlauf des Gesprächs. Denn einerseits führen dessen einundvierzig Fragen an Euthyphron materiell nichts anderes herbei als dessen konventionelle Antwort nicht nur der griechischen Religion seiner Tage: »Fromm zu sein, bedeutet zu wissen, wie man opfert und betet«.7 Doch der wahre Grund von Sokrates’ Enttäuschung über seinen Gesprächspartner ist anspruchsvoller: »Wahrhaftig, Euthyphron, Du hättest, wenn Du nur gewollt hättest, den Hauptpunkt, nach dem ich Dich gefragt habe, viel kürzer behandeln können. Denn als Du diesem Hauptpunkt gerade eben so nahe wie möglich warst, bist Du abgewichen. Wenn Du diese Frage beantwortet hättest, hättest Du mich über das Fromme genügend belehrt«. 8 Doch welches ist der von Sokrates apostrophierte Hauptpunkt, dem Euthyphron angeblich so nahe war, als er abgewichen ist ? Platon läßt ihn durch Sokrates nicht direkt bestimmen. Hermann Weidemann hat im Rahmen einer aufschlußreichen Interpretation und Analyse einer argumentativen Passage in Platons Dialog Lysis auf die nicht zu geringe Wahrscheinlichkeit aufmerksam gemacht, daß Platon gelegentlich planmäßig elementare begriffliche bzw. argumentative Fehler in Dialoge integriert hat, um die Hellhörigkeit und das Problembewußtsein des Lesers zu wecken.9 13d 10 – 13. 13e 1 – 3. 6 4 – 5. 7 14c 5 – 7. 8 14b 8-c3. 9 Vgl. Hermann Weidemann, »Platon über die Dialektik von Freundschaft und Liebe (Lysis 212a 8 – 213d 5)«, in: Amicus Plato magis amica veritas. Festschrift für Wolfgang Wieland zum 60. Geburtstag (Hg. R. Enskat), Berlin/New York 1998, S. 277 – 99. 4 5

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In seinem Religions-Dialog kommt Platon seinem Leser in diesem Sinne sogar einen vergleichsweise großen Schritt entgegen, indem er ihn nahezu direkt animiert, selbst nach dem apostrophierten Hauptpunkt zu suchen, also die Begriffsstutzigkeit Euthyphrons auf eigene Faust zu überwinden. Es gehört jedoch zu den methodischen Pointen des Dialogs, daß Euthyphron sich den von Sokrates erfragten Hauptpunkt lediglich aus dem Anfangsteil des Dialogs hätte in Erinnerung zu rufen brauchen. Denn in diesem Teil war nicht nur einfach eine Einigung über diesen Hauptpunkt erzielt worden. Bei diesem Hauptpunkt handelt es sich darüber hinaus um die wohl prägnanteste Formulierung von Platons Ideenkonzeption. Dabei kann der Reifegrad dieser Formulierung in diesem frühen Dialog gar nicht besser beleuchtet werden als durch den Umstand, daß Platon ihre Kernelemente in seinem einige Jahrzehnte später verfaßten Hauptwerk, der Politeia, wörtlich wiederholt. So hat Platon es seinen Lesern überlassen, sich an den gesuchten Hauptpunkt aus dem Anfang des Dialogs zu erinnern und sich mit dieser indirekten Hilfe selbst über die Frage zu belehren, was es bedeutet, fromm – also religiös – zu sein. Dieser Hauptpunkt wird durch die konzeptionellen und die argumentativen Bindungskräfte mehrerer Elementarthesen zusammengehalten. Zunächst einmal wird die Eigenschaft, fromm zu sein, durchweg als eine Eigenschaft von mehr oder weniger alltäglichen praktisch-leibhaftigen Handlungsweisen der Menschen aufgefaßt und nicht primär als persönlicher Habitus oder als persönliche Einstellung. Ausgangspunkt des Dialogs ist daher die Frage, ob es fromm ist oder nicht, wenn Euthyphron seinen eigenen Vater wegen der Erschlagung eines Sklaven, der selbst einen Sklaven seines Vaters erschlagen hat, bei Gericht verklagt. Sokrates gewinnt alsbald Euthyphrons Zustimmung zu dem Gedanken, daß diese Frage ein Beurteilungsproblem anschneidet, das man nicht dadurch ins Reine bringen kann, daß man sich an irgendwelchen konkreten Einzelbeispielen orientiert und schon gar nicht am Leitfaden von Handlungsmustern aus den herkömmlichen Darstellungen der Götterwelt. Die Götterwelt ist, wie diese Darstellungen zeigen, so heillos zerklüftet, daß kein einzelnes Beispiel einer ihrer Handlungsweisen einen Hinweis auf ein verläßliches Muster für 39

eine konsistente und kohärente Beurteilung frommen Handelns unter Menschen bieten kann. Der erste wichtige Wendepunkt in einer Folge von Wendepunkten (vgl. 5c 4–d5, 6d 9–e8), die über die konventionelle Götter-Theologie von Sokrates Gesprächspartner hinausführen, wird von Sokrates’ Frage markiert, ob nicht in jeder frommen Handlung das Fromme selbst mit sich selbst dasselbe sei (5d 1 – 3). Euthyphron akzeptiert diese raffinierte Verknüpfung aus einer allgemeinen Identitäts- und Invarianzbedingung für das Fromme von Handlungen. Daher kann Sokrates ihn ermahnen, verschiedenartige Beispiele für das Frommsein nicht zu verwechseln mit jenem Eidos selbst (ἐκείνο αὐτὸ τὸ εἴδος, 6d 10 – 11), durch die alles Fromme fromm ist (τὰ πάντα τὰ ὃσια ὃσια ἐστιν, 6d 11). Sobald Euthyphron, wie Sokrates zu bedenken gibt, dies Eidos gelernt hat, wird es eine dreifache kognitive Funktion ausüben: Er wird über etwas verfügen, worauf er blicken kann (ἀποβλέπων, 6e 4) und das er als Muster gebrauchen kann (παραδείγματι, 4 – 5), so daß er Handlungen im Licht dieses Musters beurteilen und sagen kann, daß die und die konkrete Handlung fromm ist oder nicht (5 – 6). Doch durch einen Rückgriff auf dies Muster des Frommen hätte sich Euthyphron den von ihm vernachlässigten Hauptpunkt klar machen können: Es handelt sich dabei eben um das in allen Handlungen selbst mit sich selbe Eidos- oder Ideen-Paradigma des Frommen, auf das der Handelnde blicken kann, wenn er zu beurteilen und zu sagen sucht, ob seine Handlung fromm ist oder nicht. Ein Eidos-Muster mit einer solchen Funktion pflegen wir als Kriterium für die Beurteilung des Frommen bzw. Nicht-Frommen von Handlungen aufzufassen. Damit ist der Hauptpunkt markiert, an dessen Berücksichtigung Euthyphron scheitert, weil er blind für die Möglichkeit ist, die hier gelungene formale und funktionale Charakterisierung des Frommen mit der gelungenen materialen Charakterisierung zu verflechten. Denn wenn der formale und funktionale Charakter des Frommen, also sein Eidos- oder Ideencharakter, darin besteht, daß der Handelnde sich mit Blick auf das intendierte Fromme jeder seiner Handlungen an dem selbst mit sich selbst identischen Muster des Frommen zu orientieren vermag, und wenn der materiale Charakter des Frommen darin besteht, daß jede fromme Handlung durch ihr Frommsein etwas zugunsten der Götter Gutes und 40

Nützliches zuwege bringt, dann vermag jeder Handelnde durch Orientierung an dem selbst mit sich selbst identischen Eidos- oder Ideenmuster des Frommen durch jede seiner frommen Handlungen etwas zugunsten der Götter Gutes und Nützliches zuwege zu bringen. Unter diesen Voraussetzungen ist es wichtig festzuhalten, daß es sich bei dem Typ von Handlungen, die für beide Gesprächspartner des Dialogs paradigmatisch sind, um Handlungen handelt, wie sie von den Menschen mitten in ihrem alltäglichen praktischen Leben ausgeübt werden. Es sind lediglich kontingente Umstände von Euthyphrons persönlicher Lebenssituation, die dazu führen, daß der Grenzfall eines innerfamiliären Totschlags so suggestiv den Anfang der Auseinandersetzung um das Fromme bestimmt (vgl. 3e 7 ff.). Am Höhepunkt des Dialogs geht es indessen um paradigmatische Alltagspraktiken, durch die Akteure sich um das Gutsein der von ihnen umsorgten Wesen sorgen, also z.B. um die Zuchtsorge der Pferdezüchter zugunsten der Wohlgeratenheit von ihnen gezüchteter Pferde (vgl. 13b 9 – 11), um die Sorge des Hirten zugunsten des Wohlbefindens der Rinder (vgl. 13 – 14), aber auch um die Sorge des Arztes zugunsten der Gesundheit des Patienten (vgl. d 9 – 11). Nimmt man alle diese Voraussetzungen zusammen, dann bietet Platon in diesem Dialog mit fast zweihundert dialogischen Schritten eine Möglichkeit, Licht in fünf kriterielle Bedingungen für die Beurteilung und die Erkenntnis des Frommseins bzw. des Nicht-Frommseins zu bringen: 1.) Die primären Kandidaten für die Eigenschaft, fromm zu sein oder nicht, sind menschliche Handlungen und allenfalls sekundär deren menschliche Akteure; 2.) Handlungen und ihre Akteure als fromm oder als nicht-fromm zu beurteilen, setzt voraus, über ein invariantes kriterielles Muster des Frommen zu verfügen, auf das man in jeder konkreten Situation der Beurteilung einer menschlichen Handlung als fromm oder als nicht-fromm gleichsam blicken kann; 3.) da das Frommsein bzw. Nicht-Frommsein menschlicher Handlungen und ihrer Akteure eine bestimmte Beziehung voraussetzt, in der menschliche Akteure im Medium ihrer Handlungen eine angemessene Einstellung zu den Göttern kultivieren können, können sie diese angemessene Einstellung in keiner anderen Weise kultivieren als dadurch, daß sie für die Götter Sorge tragen, indem sie sich um etwas für sie 41

Gutes und Nützliches sorgen, für das die Götter nicht selbst sorgen können; 4.) weil die Götter, wie Platons Timaios nahelegt, allenfalls in der Gestalt eines Demiurgen für die Existenz der natürlichen Welt, aber nicht selbst für irgend etwas Gutes und Nützliches innerhalb dieser Welt sorgen können, brauchen sie die Sorge der Menschen um das innerweltlich Gute und Nützliche; 5.) weil in der vorfindlichen natürlichen, vom Demiurgen-Gott geschaffenen Welt die Handlungen der Menschen und deren Werke das einzige Medium bilden, in dem sie sich überhaupt um Gutes und Nützliches sorgen können, bilden sie auch das einzige Medium, in dem sie sich um Gutes und Nützliches zugunsten der Götter sorgen können, und eben daher auch das einzige Medium, in dem sie die Möglichkeit haben, fromm bzw. religiös zu sein. Doch mit Blick auf die Bedeutsamkeit des Anteils, den die Religion am neuzeitlichen Spannungsfeld hat, ist es fraglich, ob den Menschen die Götter fehlen, zugunsten derer sie sich durch ihr alltägliches Handeln um das Gute sorgen könnten. Oder läßt sich auch ohne Sorge um die Götter ein kriterielles Muster umreißen, auf das man in jeder konkreten Situation der Beurteilung einer menschlichen Handlung als gut oder als nicht-gut gleichsam blicken kann ? Und ist dieses kriterielle Muster, falls man es genau genug umreißen kann, ›von so unbedingter Autorität, wie es die Tradition der Offenbarungsreligionen ist‹ (Strauss) ?

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10. Gemeinwohl und Urteilskraft (Platon und Jean-Jacques Rousseau)

Im Anschluß an Leo Strauss’ Zuversicht, daß uns Sokrates aus der Höhle von Platons Politeia-Gleichnis ans Licht führen, also aufklären kann, bleibt die Frage offen, wie diese Aufklärung mit Blick auf das für alle Menschen gemeinsame Gute gelingen kann. Der Anspruch, sich um dieses für alle Menschen gemeinsame Gute zu sorgen, ist nicht weniger herausfordernd als die ›unbedingte Autorität der Offenbarungsreligionen‹. Denn es ist im kognitiven Format der Idee des Guten (ἡ τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέα)1 selbst unbedingt (ἀνὑπόθετον)2 – also in seiner Erkennbarkeit von keiner noch höherstufigen Bedingung abhängig. Doch außer dem unbedingten kognitiven Format kommt dieser Idee auch noch das unbedingte normative Format zu, Herrscherin (κύρια)3 zu sein – also ihre Orientierungshilfe ohne Konkurrenz durch andere, vor allem höhere normative Instanzen gewähren zu können. Demjenigen, dem es gelingt, direkt Einblick in sie zu nehmen, beschert daher nur sie Wahrheit und Vernunft (ἀλήθεια καὶ νοῦν πασχομένη).4 Es sind indessen vor allem die Regenten der politischen Gemeinwesen, denen es aufgegeben ist, dieses für alle Menschen gemeinsame Gute ihres Herrschaftsbereichs zu erkennen und praktisch werden zu lassen. Platons Erläuterungen zum Höhlengleichnis lassen keinen Zweifel daran, mit welchen Geschicken ein Einzelner rechnen muß, dem der Einblick in die Idee des Guten gelungen ist, sobald er mit seinen durch diesen Einblick gewonnenen Einsichten zu seinen Zeitgenossen in die Höhle zurückkehrt: Diese Einsichten sind so radikal anders als alles, was von seinen Zeitgenossen für selbstverständlich gehalten wird, daß sie ihn für einen gefährli Platon, Rep. 505a 2. 511 b. 3 517c 3. 4 517c 3 – 4 . 1 2

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chen Verrückten halten und erschlagen. Es darf hier offenbleiben, ob Platon mit der Beschwörung eines solchen Schicksals noch einmal an Sokrates’ Schicksal und dessen von ihm dialogisch inszenierte große intellektuelle Überlegenheit erinnert. Angesichts eines solchen Schicksals bleibt indessen eine besonders drängende Frage offen – wie nämlich ›wir einfachen Menschen aus dem Volk‹, die wir ›in unserer Dunkelheit gefangen bleiben‹, 5 ebenfalls vom Sonnenlicht der Idee des Guten profitieren können. Dieses kraftvolle, von Rousseau zweitausend Jahre nach Platons Höhlengleichnis entworfene Bild von der Lebenssituation der von der Sonne der Aufklärung nicht erreichten Menschen charakterisiert im Sinne von Leo Strauss ganz offensichtlich die ›zweite, viel tiefere Höhle als die der unglücklichen Unwissenden, mit denen es Sokrates zu tun hatte‹. Doch Rousseaus Bild von dieser Höhle gehört zu einer Handvoll von prägnanten Diagnosen, mit denen er seinen rund zehnjährigen Weg der allmählichen Ausarbeitung seiner Aufklärungskonzeption beginnt.6 Es scheint indessen immer noch zu wenig bekannt zu sein, daß Rousseau ein sorgfältiger Leser auch von Platons Politeia gewesen ist. Vor allem im Zusammenhang mit seiner Kritik an den Plänen Voltaires für ein Theater in seiner Vaterstadt Genf hat er Passagen des X. Buchs der Politeia übersetzt und studiert, in denen Platon zugunsten des Ausschlusses der Künstler aus dem Kreis der politischen Bürger (πολίτεις/citoyens) Athens argumentiert. Es ist hier zwar nicht der Ort, den Lektüre- und Anregungszusammenhängen nachzugehen, die Rousseau direkt mit der von Platon offen gelassenen Antwort auf die Frage verbinden, wie ›wir einfachen Menschen aus dem Volk‹, die wir ›in unserer Dunkelheit gefangen bleiben‹, ebenfalls vom Sonnenlicht der Idee des Guten profitieren können. Doch bei nüchterner funktionalistischer Betrachtung hat Rousseau durch seine beiden reifen Werke – die Traktate Émile ou de l’éducation und Du contrat social ou Principes du droit politique vom Sommer 1762 – den Weg entworfen, auf dem – und nur auf »nous, hommes vulgaires, restons dans notre obscurité«, Rousseau, Discours sur les sciences, in: ders., Œuvres Complètes (= O. C.) I-V, Paris 1975 ff , hier: O. C. III. S. 30. 6 Vgl. hierzu vom Verf. Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008, bes. S. 213 – 523. 5

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dem – auch die ›einfachen Menschen aus dem Volk‹ schrittweise zugunsten ihrer Aufklärung begünstigt werden können – wenngleich sie auf diesem Weg niemals zu einer vollendeten Aufklärung gelangen können. Vielleicht hat Leo Strauss Rousseau deswegen unter seine Favoriten aufgenommen, die in der Neuzeit nicht dem von ihm diagnostizierten Verfalls des platonisch-sokratischen Wegs der Aufklärung anheim gefallen sind. Der reife von Rousseau ins Auge gefaßte Weg der Aufklärung beginnt mit den ersten Schritten eines radikalen didaktischen Programms. Es umfaßt das Leben eines Menschen – unter dem Namen Émile – von dessen Geburt bis zum Eintritt ins bürgerliche Leben. Diese gesamte, außerordentliche prägende Lebensphase wird von dessen pädagogischem und didaktischem Mentor unter die Maxime gestellt »Lassen wir ihn lernen, gut zu urteilen !«.7 Denn das Fernziel dieses didaktischen und pädagogischen Programms besteht darin, »einen jungen Menschen urteilskräftig werden zu lassen«. 8 Émiles Mentor wird daher von Anfang an selbst als ein »urteilskräftiger Vater«9 eingeführt. Die Einübung in eine reifer werdende Urteilskraft verlangt jedoch eine »ununterbrochene Übung«.10 Denn das Üben der Urteilskraft im Rahmen von konkreten beurteilungsbedürftigen Situationen ist »die beste Art und Weise, wie man lernt, gut zu urteilen«.11 Auf dem ca. achtzehnjährigen Weg, auf dem Rousseau die komplexer werdende Urteilskraft Émiles begleitet, wird auch eine äußerst anspruchsvolle Übung veranstaltet, die den Zögling mit einer komplexen religiösen und theologischen Herausforderung in Anspruch nimmt. Es handelt sich um das berühmte Glaubensbekenntnis des Savoyischen Pfarrers. Es ist kein Zufall, daß diesem Glaubensbekenntnis in der buchtechnischen Komposition des Émile »[…] apprenons-lui à bien juger«, Émile ou de l’Éducation, in: , O. C. IV., S. 484; vgl. auch S. 285, 324, 361, 380, 392, 396, 397, 421, 458, 483, 486, 654. 8 »pour rendre un jeune homme judicieux«, S. 458. 9 »père judicieux«, S. 262. 10 »éxercice continüel«, S. 486. 11 »la meilleure manière d’apprendre à bien juger«, S. 483. – In einer seiner zentralen Erörterungen der Möglichkeiten und der Grenzen der Urteilskraft schärft der enthusiastische Rousseau-Leser Kant seinen Lesern dieses Übungsdesiderat ein: »Urteilskraft [ist] aber ein besonderes Talent […], welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will«, KrV, A 133, B 172. 7

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der größte literarische Umfang eingeräumt ist, den Rousseau hier einem einzigen Thema – dem der Religion – in kohärenter Form widmet. Die Einzelheiten des deistischen Weges der Religion, den Rousseau hier dem Pfarrer in den Mund legt, dürfen auf sich beruhen bleiben. Indessen hat Rousseau die religionsphilosophische Kasuistik, um die es sich auch bei diesem weitläufigen Exkurs handelt, mit einigen Umständen verflochten, die wegen ihrer Äußerlichkeit keinen intrinsischen Zusammenhang mit der bezeugten Religion zu haben scheinen und daher regelmäßig vernachlässigt werden. Es geht hier zum einen um den Umstand, daß der Savoyische Pfarrer im Rahmen seines Glaubensbekenntnisses auf einen höchst wechselvollen Lebensweg zurückblicken kann, der ihm bis ungefähr in die Mitte seines vierten Lebensjahrzehnts eine entsprechend reiche Lebenserfahrung vermittelt hat. Und es geht um den anderen Umstand, daß der unmittelbare Adressat seines Bekenntnisses und seiner Lebenserzählung der erst an der Schwelle zum erwachsenen Leben stehende Émile ist. Während der Pfarrer von Rousseau als Prototyp dessen in Szene gesetzt wird, der durch seine Lebenserfahrung denjenigen Grad an Reife der Urteilskraft (maturité du jugement12) erlangt hat, mit dem er auch in Angelegenheiten der Religion zu einem ausgewogenen Urteil fähig ist, wird Émile als Partner seines Mentors in einem mikro-sozialen Idyll inszeniert, das ihn gegen jegliche Lebenserfahrung, die diesen Namen verdienen würde, hermetisch abschirmt. Und dennoch wendet sich der Pfarrer am Ende seines Bekenntnisses, seiner theologischen Erörterungen und seiner Lebenserzählung mit dem einzigen direkten kommunikativen Ansinnen an Émile, indem er ihm zu verstehen gibt, daß es jetzt an ihm sei zu urteilen.13 Zwar liegt es für jeden Leser auf der Hand, daß der noch jugendliche Émile mit dieser Beurteilungsaufgabe maßlos überfordert ist. Gleichwohl gibt Rousseau durch den Umfang und die Detailliertheit dieser religionsphilosophischen und theologischen Intervention unmißverständlich zu verstehen, wie außerordentlich wichtig die Auseinandersetzung mit den hier erörterten Themen für die Kultivierung der Urteilskraft eines Heranwachsenden auch dann Les Rêveries, O. C. I, S. 1018. »Maintenant c’est à vous de juger«, S. 630.

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ist, wenn er einer reifen Auseinandersetzung mit ihnen noch längst nicht gewachsen ist. Die emotionalen Impulse und die Tragweiten der Orientierungshilfen, die von den Inhalten und den lebenspraktischen Kontextualisierungen einer solchen Herausforderung durch den Vikar ausgehen, überläßt Rousseau dem Eigenleben, dass sie im Gemüt des Zöglings entwickeln werden. Von dieser auf die Zukunft eines solchen Zögling blickenden Sorge macht Rousseau in unmittelbar vergleichbar gewichtiger Weise Gebrauch, wenn er ihm kurz vor dessen Eintritt in das bürgerliche Leben  – das »für uns nötig ist«14  – die Aufgaben seiner politischen Urteilskraft vor Augen führt. Zu diesem Zweck hat Rousseau sogar Ausschnitte aus seinem zur fast gleichzeitigen Publikation bestimmten Traktat Du contrat social in die Didaktik des Émile integriert: Man muß »gesund über Regierungen urteilen«15 können bzw. »über die relative Tüchtigkeit von Regierungen«.16 Diese Beurteilungen sind nicht zuletzt deswegen schwierig, weil »verschiedene Regierungen zu verschiedenen Zeiten für dasselbe Volk gut sein können«.17 Doch bei allen diesen Beurteilungsaufgaben kommt es stets darauf an, das zu berücksichtigen, »was für das Volk gut ist«.18 Hier taucht das zuerst von Platon thematisierte für alle gemeinsame Gute auf, spezifiziert für das Volk eines republikanischen Gemeinwesens. Denn »der Zweck seiner Einrichtung […] [besteht] im gemeinsamen Guten […]«19 oder auch in »der öffentlichen Nützlichkeit«.20 Es bildet auch den wichtigsten Orientierungspunkt für die politischen Urteile der Bürger. Sie können die Aufgaben ihrer politischen Urteilskraft jedoch nur dann angemessen wahrnehmen, wenn sie berücksichtigen, daß »das Recht, darüber [über Regierungen, Gesetzesvorlagen u. ä., R. E.] abzustimmen, welchen schwachen Einfluß meine Stimme in den öffentlichen Angelegenheiten auch haben mag, ausreicht, mich zu verpflichten, »pour nous à qui la vie civile est nécessaire«, S. 831. »juger sainement des gouvernemens«, S. 836. 16 »de bonté rélative des gouvernemens«, S. 851. 17 »différens Gouvernemens peuvent être bons […] au même peuple en différens tems !«, Du contrat social, O. C. III, S. 397. 18 »ce qui lui [i. e. au peuple, R. E.] est bon«, ebd., S. 380. 19 »la fin de son institution, qui est le bien commun«, S. 368. 20 »l’utilité publique«, S. 371. 14

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mich über sie zu informieren«.21 Doch Émiles Mentor warnt ihn, daß »man auf der Hut sein und berücksichtigen muß, daß es nichts bringt, nur die äußere Erscheinungsform eines Regierungssystems zu betrachten, soweit es nämlich durch seinen Verwaltungsapparat und durch die Fachsprache seiner Beamten geschönt ist, wenn man seine Natur nicht auch durch die Wirkungen studiert, die es auf das Volk ausübt und zwar bis in alle Verzweigungen und Verästelungen der Verwaltung«.22 Im Licht des republikanischen Verfassungsentwurfs und der deistischen Religion des Savoyischen Pfarrers ist es besonders bedeutsam, daß Émiles Mentor diesen auch mahnt, sich überdies »darauf gefaßt machen zu müssen, daß ihn eine gewalttätige Regierung, eine Religion, die Andersgläubige verfolgt, und anstößige Sitten beunruhigen«.23 Auch dem erfolgreichsten Absolventen des Bildungsweges steht für ein ziviles Leben jedenfalls »kein Mittel zur Verfügung, das ihn nicht Risiken eingehen lassen und in eine prekäre Situation entlassen würde sowie ohne Intrige, ohne Affäre und ohne Abhängigkeit leben lassen würde«.24 Es wird allerdings selten beachtet, daß die Kultivierung der Urteilskraft, die einem Heranwachsenden bis zum Eintritt in das bürgerliche Leben zuteil werden sollte, ein Desiderat ist, das unter den Vorzeichen von Rousseaus Traktat zur Politischen Philosophie republikanischer Gemeinwesen funktional direkt mit dessen Institutionen und institutionellen Prozeduren verwoben ist. Die Selbstverpflichtung jedes Bürgers (citoyen), sich über die öffentlichen Angelegenheiten zu informieren, ist dafür geradezu paradigmatisch. Denn sie betrifft ihn als Mitglied eines republikanisch strukturierten Staatsvolkes und kommt direkt zum Zuge, »sobald das »quelque faible influence que puisse avoir ma voix dans les affaires publiques, le droit d’y voter suffit pour m’im-poser le devoir de m’instruire«, S. 351. 22 »Ce n’est rien de voir la forme apparente d’un gouvernement fardée par l’appareil de l’administration et par le jargon des administrateurs, si l’on n’en étudie aussi la nature par les effets qu’il produit sur le peuple et dans tous les dégrés de l’administration«, Émile, S. 852. 23 »gardez qu’un gouvernement violant, qu’une réligion persécutante, que des mœurs perverses ne vous y viennent troubler«, S. 835. 24 »il n’y […] a pas un [moyen] qui ne lui laisse des risques à courir, qui ne le mette dans un état précaire […] et […] subsister sans intrigue, sans affaire, sans dépendance«, S. 815. 21

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Volk, sofern es ausreichend informiert ist, beratschlagt«25 – nämlich über die Gesetzesvorlagen der Regierung (magistrat, prince). Denn jeder Bürger eines solchen Gemeinwesens ist stimmberechtigtes Mitglied der gesetzgebenden Versammlung. Das – und nur das – macht die Signatur aus, durch die »das Volk souverän ist«.26 Denn der im Zuge einer gesetzgebenden Versammlung »erklärte Gemeinwille ist ein Akt der Souveränität und schafft Gesetz«.27 Daher »sind die Gesetze gar nichts anderes als authentische Akte des Allgemeinwillens«.28 Doch entgegen vielen bis heute verbreiteten Mißverständnissen und Vorurteilen hält Rousseau fest, daß »dafür, daß ein Wille allgemein ist, es nicht immer notwendig ist, daß er einstimmig ist«.29 Es ist lediglich »notwendig, daß alle Stimmen gezählt werden; jede formelle Ausschließung raubt die Allgemeinheit«.30 Denn »das, was den Willen verallgemeinert, ist weniger die Anzahl der Stimmen als das gemeinsame Interesse, das sie vereinigt«.31 Deswegen handelt es sich bei den institutionellen und prozeduralen Bedingungen, die Rousseau für die Etablierung eines republikanischen Gemeinwesens zu bedenken gibt, um »vorsorgliche Maßnahmen, damit der Allgemeinwille immer aufgeklärt ist«.32 Doch er vernachlässigt auch in diesem Rahmen die Vielfalt der unvermeidlichen sozialen und institutionellen Widerfahrnisse nicht, auf die er den Heranwachsenden im Émile kurz vor dessen Eintritt in das bürgerliche Leben vorzubereiten sucht. Denn es sind solche Widerfahrnisse, die auch die individuellen Träger des Allgemeinwillens und trotz aller Kultivierung ihrer Urteilskraft irritieren können. Eine ebenso realistische wie skep »quand le peuple suffisamment informé délibère«, S. 371. »le Peuple […] est souverain«, S. 432. 27 »[la] volonté [générale] déclarée est un acte de souveraineté et fait loi«, ebd. 28 »Les loix n’étant que des actes authentiques de la volonté générale« S. 425. 29 »Pour qu’une volonté soit générale il n’est pas toujours nécessaire qu’elle soit unanime«, S. 369*. 30 »il est nécessaire que toutes les voix soient comptées; toute exclusion formelle rompt la généralité«, ebd. 31 »ce qui généralise la volonté est moins le nombre des voix que l’intérêt commun qui les unit«, S. 374. 32 »précautions […] pour que la volonté générale soit toujours éclairée«, S. 372. 25

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tische Bemühung um die Kultivierung der Urteilskraft sollte sich daher auch mit Blick auf die Situation in einem republikanischen Gemeinwesen darauf gefaßt machen, daß »die Urteilskraft, die ihn [den Allgemeinwillen R. E.] leitet, […] nicht immer aufgeklärt [ist]«33 – aufgeklärt nämlich darüber, ob eine Gesetzesvorlage der Regierung (magistrat, prince) dem Gemeinwohl (le bien commun), dem allgemeinen Interesse (l’intérêt commun) bzw. der öffentlichen Nützlichkeit (l’utilité publique) dient oder nicht. Doch der Herausforderung, die die Sorge um das Gemeinwohl an die menschlichen kognitiven Fähigkeiten stellt, haben erst die modernen parlamentarischen Regierungssysteme in angemessener Weise Rechnung getragen. Sie nehmen die grundsätzliche, anthropologische Fehlbarkeit ernst, die auch die Sorge um das Gemeinwohl gefährdet. Denn das kognitive Scheitern der Regierungen und der gesetzgebenden Versammlungen an dieser ihr aufgegeben Sorge stellen sie mit den Mitteln des Verfassungsrechts in Rechnung: Scheitern sie in den Augen der Mehrheit der Wähler daran, der Sorge um das Gemeinwohl durch ihre Gesetzgebungsinitiativen und Gesetzgebungen gerecht zu werden, dann scheitern sie durch den ›Verlust des Vertrauens‹ (Hegel) dieser Mehrheit.34 Doch damit perpetuiert sich in neuer Form die Frage, die hinter Rousseaus Konzeption der Kultivierung der Urteilskraft und seiner Skepsis wegen des Gelingens der politischen Aufklärung in einem republikanischen Gemeinwesen steht: Wie gelangt das Wahl­publikum moderner, parlamentarischer Republiken zu jener Aufklärung über das für sie alle gemeinsame Gute, die ihm die Gewähr gibt, das Scheitern einer Regierung an der ihr aufgegebenen Sorge um dieses Gute angemessen beurteilen zu können ?

»le jugement, qui lui dirige, n‹est pas toujours éclairé«, S. 380. Vgl. hierzu die gründlichen Erörterungen durch Josef Isensee, Gemeinwohl und öffentliches Amt. Vordemokratische Fundamente des Verfassungsstaates, Wiesbaden 2014. 33

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11. Die experimentelle Kausalforschung und ihre unheilschwangere Tragweite (Francis Bacon und Charles de Montesquieu)

Rainer Spechts Erörterung von Lockes empiristischem PseudoKriterium des Wissens und von dessen praktischer und religiöser Tragweite für das Europa, in dem wir gegenwärtig leben, bildet das letzte Paradigma für sein generelles Vorhaben, am Leitfaden solcher Paradigmen zu zeigen, daß und inwiefern »bestimmte theoretische Innovationen […] ihre Folgen und Nebenfolgen«1 für die Praxis der Menschen, für ihre Religion und für die sie einhegenden Institutionen mit sich bringen. Seine Arbeit an diesem sorgfältig durchdachten Programm 2 macht im diffusen Licht von Lockes aporetischem Wissenskriterium darauf aufmerksam, daß es mit seiner Einladung zum free thinking »[…] zugleich dem bürgerlichen Verlangen nach wissenschaftlichen und nach politischen Veränderungen Raum [gibt]. In ihr wurde die heutige Haltung des Westens zu Innovationen entwickelt und begründet«.3 Indessen mußte die hier mit theoretischen Mitteln begünstigte innovative Haltung nicht auf skeptische Kritiker des zwanzigsten Jahrhunderts warten, um sich schon mitten im achtzehnten Jahrhundert einer tiefen konsequentialistischen Sorge ausgesetzt zu sehen. Es war Montesquieu, der diese Sorge 1721 mit Hilfe eines ingeniösen literarischen Kunstgriffs mit einer geradezu dramatischen Zuspitzung zuerst zur Sprache gebracht hat. In seinen Perserbriefen entwirft er einen fiktiven Briefwechsel zwischen zwei persischen Besuchern Europas, die in ihrer Korrespondenz zeigen (sollen), daß »sie nicht selten über Sitten und Gebräuche unserer Nation ebenso gut Bescheid wußten wie ich, wie sie bis in die feinsten Ein Specht, Folgelast, S. 66. Vgl. vor allem S. 21 – 66. 3 S. 67. 1 2

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zelheiten durchschaut und Dinge beobachtet haben«.4 Vor allem aber nutzt Montesquieu die Herkunft seiner beiden Protagonisten aus einer fernen Weltgegend und Kulturregion, um ihnen Auffassungen in den Mund zu legen, wie sie nur aus dem Befremden hervorgehen konnten, das die westeuropäischen Lebensverhältnisse in ihren Augen provozieren mußten. Diese fiktive Fremdperspektive erlaubt es Montesquieu, sein eigenes Erschrecken darüber gleichsam persisch zu maskieren, »wie im Abendland die Wissenschaften und die Künste gepflegt werden«.5 Dieses Erschrecken wird mit einer noch maßvollen utilitaristischen Abwägung eingeleitet, »ob der Nutzen, den man von ihnen hat, den Nachteil wettmacht, den sie den Menschen durch ihren Mißbrauch tagtäglich bringen«;6 diese Abwägung wird von einem Bericht überboten, weil der Briefschreiber »vernünftige Leute von dem Unheil reden höre[…], das chemische Mittel anrichten können«;7 und schließlich wird das Unheil selbst ins Auge gefaßt, daß »man eines Tages das Geheimnis entdecken werde, wie man auf einen Schlag die Menschen vernichten, die Städte zerstören und ganze Nationen auslöschen kann«. 8 Es ist kein Zufall, daß dieses Unheil in einem Kontext beschworen wird, in dem der Chemie die Mittel zugeschrieben werden, ein solches Unheil herbeizuführen. Diese Zuschreibung steht offensichtlich in der hundertjährigen Tradition der berühmten Aphorismen 109 und 129 des Ersten Buchs von Francis Bacons Novum Organon.9 Diese beiden Aphorismen streichen die Bedeutsamkeit der chemischen Erfindung und des kriegstechnischen Gebrauchs des Schwarzpulvers heraus. Das von Montesquieu beschworene chemiespezifische menschheitliche Unheil ist offensichtlich aus einer Extrapolation hervorgegangen, wie sie seine produktive Einbildungskraft aus der Tradition dieser Aphorismen gewonnen hat. Indessen übersieht man inmitten der wissenschaftstheoretischen Charles de Montesquieu, Perserbriefe (11721). Aus dem Französischen von Jürgen von Stackelberg, Frankfurt 1988, S. 8. 5 S. 183. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Vgl. Das Neue Organon (Novum Organon), hgg. v. Manfred Buhr, Berlin 1962, S. 137, Hervorhebungen R. E. 4

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Diskussionen um Bacons Induktionsbegriff und seine Konzeption der experimentellen Kausalforschung nur allzuleicht einen abschließenden Satz des Aphorismus 129. Dieser Satz lenkt die Aufmerksamkeit, die das ganze Erste Buch auf das Thema der Entdeckungen und Erfindungen der experimentellen Kausalforschung konzentriert, in eine gänzlich unerwartete thematische Richtung: »Die Anwendung wird indes die richtige Vernunft und die gesunde Religion lenken«. Doch die Beiläufigkeit dieser scheinbar bloß konventionellen Beifügung täuscht gründlich über die prinzipielle Bedeutsamkeit, die diesem Religions-Rekurs in Bacons Denken zukommt.

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12. Ein frühes neuzeitliches Modell karitativer Wissenschaftspolitik (Francis Bacon)

Es ist nur allzu denkwürdig, daß Bacon schon in dieser Frühphase der modernen experimentellen Naturforschung und auf dem vergleichsweise bescheidenen kausal-analytischen Reflexionsniveau seiner eigenen Konzeption dieser Forschungsrichtung nach einer Möglichkeit gesucht hat, einem Mißbrauch und einem sich abzeichnenden Wildwuchs bei der politischen Steuerung dieser Forschung und beim praktischen Umgang mit ihren Resultaten vorzubeugen. In der fiktiven Szenerie seiner Nova Atlantis entwirft er ein Muster eines christlichen Königreichs, in dem eine Priesterschaft das ›wahre Auge‹ dieses Gemeinwesens bildet.1 Sie verfügt exklusiv nicht nur über das maßgebliche methodisch-technische Know-how, also über das maßgebliche epistemische Erwerbswissen der Naturforschung. Sie hat auch die totale thematische Steuerung der wissenschaftlichen Forschung, die totale Verfügung über die doku­mentierbaren Resultate dieser Forschung, die uneingeschränkte Entscheidungsbefugnis über Publikation bzw. Sekretierung der Dokumente wissenschaftlicher Forschungsresultate und die totale Normierung des praktischen Gebrauchs dieser Resultate in ihrer Regie2 – sie verfügt also auch über das maßgebliche praktisch-politische Gebrauchswissen für die Resultate wissenschaftlicher Forschungen. Maßgeblich kann diese praktisch-politische Kompetenz im Umgang mit der Wissenschaft allerdings nur dann sein, wenn sichergestellt ist, daß die Sorge um die Vervollkommnung und um die Beherrschung des Wissens mit der Tugend der caritas ausgeübt wird:3 Die caritas  – die Sorge um die Humani »[…] the society of Salomon’s House […] is the very eye of this kingdom«, Bacon, New Atlantis, S. 137. 2 Vgl. ebd., S. 164 – 65. 3 »[…] that the perfect and govern [knowledge] is charity«, ders., The Great Instauration, S. 21. 1

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tät4 – ist die Tugend, durch die sich das Gute am meisten mitteilt; sie übertrifft darin nicht nur alle anderen Tugenden, 5 sie kann selbst auch nicht übertrieben werden. 6 Diese wissenschaftspolitisch orientierte caritas ist im Rahmen des Hauses Salomon das lebendige Vermächtnis des legendären königlichen Gesetzgebers des ganzen Gemeinwesens. Ihm wird in der Sprache der Popular­ethik ein großes Herz zugeschrieben, unergründlich tief dem Guten zugetan und gänzlich dem Ziel gewidmet, sein Reich und sein Volk glücklich zu machen.7 Bacons wissenschaftspolitischer Entwurf ist selbstverständlich nicht frei von utopischen Zügen. Doch man kann auch nicht ausschließen, daß dieser Entwurf der Absicht Bacons entspringt, sich in der literarischen Form des Fürstenspiegels öffentlich zu Wort zu melden. Unter dieser Voraussetzung bildet Das Haus Salomon einen Beitrag zur normativ-kritischen Erörterung der Grenzen, an die die politischen Amtsinhaber nicht nur zu seiner Zeit stoßen müssen, wenn sie ein um die experimentelle Ursachenforschung zentriertes wissenschaftliches Forschungssystem mit Hilfe der traditionellen politischen Scheintugenden von Machterwerb, Machtausübung, Machterhalt und Machterweiterung, aber nicht mit der Tugend der caritas zu steuern suchen. Aus guten Gründen eröffnet Bacon sein Novum Organon mit einem Aphorismus, der das machtförmige Wissen nicht nur mit dem kausal-technischen know-how des Menschen identifiziert, sondern das Fehlen dieses know-how auch mit einer Quelle von Selbsttäuschungen über den Wirkungscharakter natürlicher Phänomene identifiziert: »Wissen und Macht des Menschen fallen zusammen, weil Unkenntnis der Ursache über deren Wirkung täuscht«. 8 Die praktische Tragweite So der treffliche Paraphrasierungsvorschlag von Lothar Schäfer, Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Natur, Frankfurt/ Main 1993, S. 109. 5 »[…] charity […] is the virtue most communicative of good, [it] excels all the rest«, Bacon, Of the Dignity and Advancement of Learning, S. 338. 6 »[…] of charity there can be no excess«, The Great Instauration, S. 21. 7 »This king had a large heart, inscrutable for the good; and was wholly bent to make his kingdom and his people happy«, ders., New Atlantis, S. 144; vgl. auch S. 145 f., 146 – 4. 8 Organon, Aph. 3. 4

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des kausal-technischen Know-how wird implizit zu verstehen gegeben, wenn diese Tragweite mit Blick auf die Natur mit Hilfe der pädagogischen Kategorie des Gehorsams apostrophiert wird: »Die Natur nämlich läßt sich nur durch Gehorsam bändigen«.9 Gerade unter den Vorzeichen der caritas-Konzeption war dem ehemaligen Lord-Kanzler nicht nur aus der Geschichte der politischen Literatur nur allzu klar, daß sich auch die menschliche Natur durch Gehorsam bändigen läßt. Seine utopischen Züge bezieht der Entwurf des Hauses Salomon aus dem Umstand, daß im Leben der Menschen, deren Lebenswelt er umreißt, die eine und andere charakteristische Bedingung der conditio humana gleichsam ausgeschaltet ist. In seinem Entwurf wird gerade die kombinierte Ausschaltung von drei derartigen Bedingungen virulent: zum einen die Ausschaltung der Tatsache, daß es alle Menschen sind, die von Natur aus nach Erkenntnis und Wissen streben,10 und nicht nur die Mitglieder einer minimalen, in monasterischer Internierung lebenden Elite;11 zum anderen die Ausschaltung der Tatsache, daß der Mensch von Natur aus ein um die gemeinsamen, öffentlichkeitsbedürftigen Angelegenheiten besorgtes Wesen ist12 und sich von dieser Sorge auch nicht im blinden Zutrauen in die caritas einer selbsternannten politischen Funktionselite eminenter Naturforscher auf Dauer dispensieren läßt;13 und schließlich die Ausschaltung der Tatsache, daß sich der Mensch auch an diesen gemeinsamen, öffentlichkeitsbedürftigen Angelegenheiten von Natur aus im Medium sprachlicher Artikulation und Kommunikation sowie durch eine praktisch-politische Deliberation beteiligt,14 so daß diese politische Natur des Menschen auch nur durch Androhung oder Ausübung von Gewaltherrschaft oder durch subtilere Formen der Manipulation oder der Steuerung unterdrückt werden kann.

Ebd. Πάντοι ἂνθροποι φύσει τοῦ ἐιδέναι ὀρέγονται, Arist. Met. 980a 22. 11 Vgl. Bacon, New Atlantis, bes. S. 145 f. 12 Ἄνθρωπος ζώον πολίτικον ἐστιν, Arist. Pol. 1253a2 f., a7 f., 1278b 19. 13 Vgl. Bacon, New Atlantis, bes. S. 166 f. 14 Vgl. Arist. Eth. Nik. 1098a 3 f. 9

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In Bacons Entwurf sind diese Bedingungen der conditio humana im wesentlichen durch zwei Haupt- und drei Nebenfaktoren ersetzt 1.) durch die gemeinsame Überzeugung aller Mitglieder dieses insularen Gemeinwesens, daß das wichtigste epistemische Erwerbswissen  – also die Experimentierkunst der Naturforschung  – die Menschen mit einer geradezu eminenten Aufklärungsfunktion an Gottes erster Schöpfung teilhaben läßt – am Licht;15 und 2.) durch das uneingeschränkte Zutrauen aller Mitglieder dieses Gemein­ wesens in das karitative praktisch-politische Gebrauchswissen, mit dessen Hilfe ihre hierokratischen Naturforscher alle Dispositionen und Tätigkeiten der Menschen so orientieren und steuern können, daß es ihrem gemeinsamen Bemühen um ein gottgefälliges Leben zugute kommt: a) Das natürliche Streben der Menschen nach Erkenntnis und Wissen wird durch die strikte Förderung einer mini­ malen wissenschaftlichen Elite gehegt; b) die Kontrolle über das personale, methodisch-technisch-diagnostische Know-how dieser wissenschaftlichen Elite wird durch deren lebenslange Internierung in einer monasterischen Lebensform ausgeübt; c) die Kontrolle über den archivarischen, den informatorischen, den technischen und den praktischen Umgang mit den depersonalisierten, propositionalen Dokumenten der wissenschaftlichen Forschung ist exklusiv dem Gutdünken dieser Hierokraten vorbehalten.16 Es darf hier offenbleiben, ob und gegebenenfalls in welchen Formen ein so strukturiertes Gemeinwesen langfristig eine auch nur minimale Legitimation und interne Stabilität erlangen und bewahren könnte – ob durch die enthusiastische Solidarität und Askese einer urchristlichen Gemeinde oder durch die mehr oder weniger rigiden symbolischen und nicht-symbolischen hierokratischen Methoden der Orthodoxie einer heilsverwaltenden Zwangsanstalt.17 Es darf hier außerdem offenbleiben, wie Bacon sich Vgl. Bacon, New Atlantis, S. 145 – 47. Vgl. ebd., S. 165 – 66. 17 Es ist kein Zufall, daß Rousseau hundert Jahre später die dogmatische Konzeption einer Aufklärung alleine durch die Wissenschaftler und deren wissenschaftliche Kompetenz gelegentlich mit der spöttischen Wendung von ›den Kirchenvätern der Wissenschaft‹ (les Pères d’Église de Science) bedenkt, vgl. Rousseau, Observation sur la Réponse qui a été faite à son Discours, O. C. III, S. 39. – Allerdings sollte man sich angesichts unseres aktuellen Wissenschaftssystems hüten, Rousseaus spöttische Formel für die beliebte pauschale Polemik 15 16

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selbst mit internen Alternativen auseinandergesetzt hat, wie sie innerhalb der Rahmenbedingungen seines Entwurfs einer strikt karitativen Wissenschaftspolitik konzipiert werden können. Und es darf hier schließlich auch noch offenbleiben, welche externen, nicht-utopischen Alternativen zu einer hierokratischen, heilsverwaltenden Wissenschaftspolitik dieses Typs Bacon ernsthaft ins Auge gefaßt hat. Immerhin sollte in diesem Zusammenhang nicht ganz außer acht bleiben, daß Bacon das Muster einer hierokratischen Wissenschaftspolitik verfaßt hat, nachdem er mehrere Jahre lang das höchste politische Amt in seinem Heimatland wahrgenommen hatte und nachdem er anschließend seine Methodologie der Naturforschung ausgearbeitet und publiziert hatte. In jedem Fall liegen mit der Methodologie des Novum Organon und der Wissenschaftspolitik der Nova Atlantis jene beiden Zeugnisse aus dem unmittelbaren Geburtsjahrhundert der modernen Naturforschung vor, die gerade durch die Personalunion ihres Autors einen einzigartigen Indikator liefern – für ein ausgereiftes praktisches Bewußtsein davon, daß auch schon eine vergleichsweise noch bescheidene Form der experimentellen Forschung zumindest langfristig nicht ganz ohne eine energische, wenngleich ausschließlich karitative normative Steuerung durch die politischen Instanzen zum ›Nutzen gegen die Beteiligung ›der‹ Wissenschaft an der politischen Beratung zu mißbrauchen. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gehörten im Wissenschaftssystem die Vorläufer unserer gegenwärtigen Medizin, Politischen Wissenschaft (Staatslehre), Rechtswissenschaft, Wirtschaftswissenschaften (Ökonomie) und Erziehungswissenschaft (Pädagogik) zur Gruppe der praktischen Wissenschaften. Kriterium dieser Zugehörigkeit waren die didaktischen Ziele ihres Studiums: Z. B. die Medizin sollte Ärzte ausbilden, die sich darauf verstanden, die diagnostische und die therapeutische Behandlung ihrer Patienten an der salus aegroti suprema lex zu orientieren; die Staatslehre sollte indessen Beamte ausbilden, die sich darauf verstanden, den ihrer politischen Amtstätigkeit anvertrauten Bürgern durch die Orientierung an der salus populi suprema lex zu dienen. Daß sich daran bis in die Gegenwart nichts Grundsätzliches geändert hat, zeigen die Untersuchungen von Wolfgang Wieland, Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, und Wilhelm Hennis, Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968. Daher ist die Medizin gerade in einer pandemischen Krisensituation, die an einen nationalen Notstand grenzt, die genuine, aus praktischen Gründen ebenbürtige Ratgeberin der Politik. Denn die Volksgesundheit bildet eine notwendige Bedingung des Gemeinwohls. 58

der ganzen Menschheit‹18 fruchtbar gemacht werden kann. Dabei gibt die Personalunion des Autors allerdings nur ein vordergründiges Indiz dafür ab, daß der funktionale Zusammenhang zwischen den von ihm konzipierten methodisch-technischen Einstellungen einer fruchtbaren experimentellen Ursachenforschung und der von ihm konzipierten karitativen Wissenschaftspolitik ernster genommen zu werden verdient als die buchtechnische Aufspaltung in ihre historischen Dokumente. Stellt man diesen funktionalen Zusammenhang erst einmal planmäßig in Rechnung, dann muß eine methodisch ausbalancierte Analyse dieses Zusammenhangs beiden Tragweiten nachgehen: Sie muß der praktischen Tragweite nachgehen, die die normative Steuerung durch die Wissenschaftspolitik für die thematischen Aufgaben mit sich bringt, die der experimentellen naturwissenschaftlichen Ursachenforschung gestellt werden können; und sie muß umgekehrt auch der kognitiven Tragweite nachgehen, die eine planmäßige Konzentration der experimentellen Ursachenforschung auf verborgene, dunkle und geheimnisvolle (latent, obscure, secret) Naturprozesse für die Aufgabe der Wissenschaftspolitik mit sich bringt, an diesen ins Verborgene, Dunkle und Geheimnisvolle zielenden Forschungen gleichwohl in so wohlinformierter Weise teilzuhaben, daß sie normierend in diese Forschung eingreifen kann, ohne ihre Fruchtbarkeit zu stören oder gar zu zerstören. Achtet man in diesem Sinne zunächst auf die praktischen Normierungen der Wissenschaftspolitik, von denen der Innovationsbericht des Hauses Salomon Kunde gibt, dann ist es unübersehbar, daß die praktische Legitimationsbasis der wissenschaftspolitischen Ziele des Hauses Salomon zu normativen Steuerungen der naturwissenschaftlichen Ursachenforschung führt, von denen die wissenschaftsinterne Fruchtbarkeit des kausalspezifischen methodisch-technischen Know-how nicht im mindesten abhängig ist. Denn diese Legitimationsbasis wird bei Bacon primär von der Sorge um die Gesundheit und die Lebensverlängerung sowie um die gesunde Ernährung möglichst aller Menschen gebildet: Medizinische Klimaforschung (vgl. S. 157, 158) und medizinische Prophylaxeforschung (vgl. S. 158) werden hier ebenso vorrangig ge Vgl. Bacon, The Great Instauration, S. 20 – 21.

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fördert wie experimentelle Pflanzenpharmakologie (vgl. ebd.) und pharmakologische Tierversuche (vgl. S. 159), um die Ergebnisse in den Dienst der pharmazeutischen Versorgung der Bevölkerung zu stellen (vgl. S. 160 – 61); ganz analog wird die experimentelle Landwirtschaft ebenso gefördert (vgl. S. 157 f.) wie die experimentelle Pflanzenforschung (vgl. S. 159 f.), Tierforschung und Tierzucht (vgl. S. 159 f.) und schließlich die experimentelle Ernährungsforschung (vgl. S. 159 – 60). Man darf daher ernsthaft mit der realen Möglichkeit rechnen, daß die normative Strenge der von Bacon skizzierten karitativen Wissenschaftspolitik bereits ein unmittelbarer Ausdruck der ebenso tiefgreifenden wie weitblickenden Sorge ist, daß der praktische Mißbrauch des methodisch-technischen Know-how der experimentellen Naturforschung eine so naheliegende Gefahr ist, daß man ihr gar nicht früh genug mit Hilfe von hinreichend strikten wissenschaftspolitischen Normierungen vorbeugen kann. Immerhin ist Bacon sogar im Rahmen des Entwurfs der »Nova Atlantis« bereit, wissenschaftspolitisch motivierte Forschungsziele aufzuzählen, wie sie zumindest nicht ohne Mühe mit einem caritas-Modell des praktischen Gebrauchswissen kompatibel gemacht werden können. In einem Anhang zur Originalausgabe der Nova Atlantis19 faßt er nicht nur die Entwicklung von Zerstörungsinstrumenten wie Waffen und Gift ins Auge.20 Solche Instrumente könnten immer noch in konsistenter Form in eine möglichst strikte Strategie zur Bewältigung von Notwehrsituationen auch eines äußerst friedfertigen Gemeinwesens integriert werden. Schwieriger wird es schon mit dem Ziel, Techniken zur Erheiterung des Gemüts, 21 zur Täuschung der Sinne und zur Vergrößerung der Sinnesfreuden22 zu entwickeln. Nimmt man noch das Ziel hinzu, Techniken zu entwickeln, mit deren Hilfe man Eigenschaften (von Menschen ?) ändern kann, 23 neue Arten (von Menschen ?) erzeugen kann, 24 eine Vgl. ders., Magnalia naturae, praecipue quoad usus humanos, WFB, Bd. 3, S. 167 – 68. 20 »Instruments of destruction, as of war and poison«, S. 167. 21 »Exhilaration of the spirits«, ebd. 22 »Deceptions of the senses. Greater pleasures of the senses«, S. 168 23 »The altering of features«, S. 167. 24 »Making of new species«, ebd. 19

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(biologische) Art in eine andere Art transplantieren kann 25 bzw. die Reifung (von Menschen ?) beschleunigen kann, 26 dann zeichnet sich das Ziel einer biochemischen Ingenieurskunst ab, wie sie sowohl in den Dienst einer gedeihlichen Ernährungspolitik und einer harmlosen Unterhaltungsindustrie gestellt werden könnte als auch in den Dienst einer ebenso transhumanen wie inhumanen Gattungspolitik. Freilich stehen auch alle diese Techniken im Rahmen von Bacons caritas-Modell konsequenterweise immer noch unter dem ausdrücklichen praktisch-politischen Vorbehalt, sie nur zu verwenden, sofern sie vornehmlich dem humanen Gebrauch (praecipue quoad usus humanos) dienen. Doch um so mehr muß den Lenkern einer entsprechenden Wissenschaftspolitik auch zugetraut werden, daß ihre Tugend ebenso eminent ist wie ihre Urteilskraft, damit sich durch ihren humanen Umgang mit der Wissenschaft dem Gemeinwesen in jeder einschlägigen Situation wenigstens vorzugsweise (praecipue) das Gute mitteilt (communicative of the good). Es liegt auf der Hand, daß nicht weniger wichtig als der Inhalt von Bacons wissenschaftspolitischem caritas-Entwurf die Funktion ist, die diesem Modell in der unmittelbaren Verbindung mit seiner Methodologie der experimentellen naturwissenschaftlichen Ursachenforschung zufällt. Man würde diesen Entwurf gründlich mißverstehen, wenn man ihn angesichts seines Inhalts zu einer weltfremden und daher müßigen Utopie banalisieren würde. Der funktionale Rang dieses Entwurfs zeigt sich vielmehr in der Kompromißlosigkeit, mit der es nicht nur Bacons Zeitgenossen unter seinen Lesern vor Augen führt, welches Maß an praktischer und politischer normativer Strenge die Menschen mit sich selbst scheinen üben zu müssen, wenn sie in gedeihlichen Formen mit einer Naturwissenschaft umgehen wollen, wie sie in der Methodologie der experimentellen Ursachenforschung von Bacons Novum Organon konzipiert wird. Nicht eine vermeintliche utopische Weltfremdheit ist die konventionelle Pointe dieses Modells. Ihre funktionale Botschaft bereitet auch den Gedanken vor, daß ein gedeihlicher praktisch-politischer Umgang mit dieser Art von »Transplanting of one species into another«, ebd. »Acceleration of time in maturation«, ebd.

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Wissenschaft für die Menschen, wie sie in den bis heute bekannten Weltgegenden nun einmal sind, 27 auf die Dauer vielleicht zu schwer ist.28

Ein reiches anthropologisches Erfahrungsmaterial und vielfältige moralische und ›zivile‹ Reflexionen hierzu bieten Bacons Essays, WFB, Bd. 3, S. 365 – 517. 28 Auch deswegen kritisiert Paolo Rossi, Bacon’s Idea of Science, in: The Cambridge Companion to Bacon, S. 25 – 46, zu Recht die Neigung des 19. und des 20. Jahrhunderts, Bacons Wissenschaftskonzeption zur Legitimations­basis einer Fortschrittshoffnung umzufunktionieren, wie sie nur in einer technischen und industriellen Dauerrevolutionierung des praktischen Alltagslebens verwirklicht werden könnte, vgl. bes. S. 37 ff. – Die eindringlichste Erörterung der tendenziellen Selbstüberforderung der Menschen durch unkontrollierte systemische Zwänge der experimentellen Kausalforschung finden sich im zwanzigsten Jahrhundert bei Martin Heidegger, Einblick in das, was ist, in: ders., Bremer und Freiburger Vorträge, GA 79, Frankfurt/M. 1994, S. 5–77; vgl. hierzu vom Verfasser: Muß das Ge-Stell die letzte Gestalt der Seinsgeschichte sein ? Zu Heideggers Einblick in ›das Rettende in der Gefahr‹, in: »[…] wo aber Gefahr ist […]«. Heidegger und die Philosophie der planetarischen Technik, hg. von Harald Seubert/Klaus Neugebauer/Manuela Massa, Freiburg 2021, S. 231 – 257. 27

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13. Wie Montesquieus unheilvolle Ahnungen von der Trag­ weite eines nicht-karitativen wissenschaftspolitischen Umgangs mit der experimentellen Kausalfoschung der Chemie in Erfüllung gegangen sind (Otto Hahn, Fritz Straßmann und die Atombombe)

Montesquieus sorgenvoller Beschwörung eines Unheils, das für die Zerstörung ganzer Städte und Völker aus dem praktischen Gebrauch einer künftigen Entdeckung der Chemie hervorgehen kann, wohnt im Rückblick ein fataler Realismus inne. Denn jedenfalls waren es zwei Chemiker, denen wenig mehr als zweihundert Jahre später eine solche Entdeckung gelang. Im Dezember 1938 war Otto Hahn und Fritz Straßmann im Rahmen ihres berühmten Indikator-Experiments der chemiespezifische Nachweis gelungen, daß sie eine Uranprobe durch Beschuß mit Hilfe von hinreichend langsamen Neutronen zum »Zerplatzen« gebracht hatten, wie es Hahn in seinem im Januar 1939 von der Zeitschrift Naturwissenschaften publizierten Artikel nannte.1 Doch ein fataler Realismus wohnt im Rückblick auch Francis Bacons Wissenschaftsphilosophie inne. Denn Hahns und Straßmanns Entdeckung bildete zu ihrer Zeit einerseits zwar auch den spektakulärsten Erfolg jener experimentellen Kausalforschung, wie sie von keinem anderen als Francis Bacon im Ersten Buch seines Novum Organon propagiert worden war. Ihr Ziel war es, gerade solche Zustände, Bewegungen, Prozesse und sonstigen Zustandsänderungen in der vorfindlichen Natur aufzudecken, die der Sinneswahrnehmung entzogen (escape the sense) und insofern verborgen, dunkel und geheimnisvoll (latent, obscure, secret) sind. Konsequenterweise gibt Bacon mit Blick auf die Entdeckungen, die in den Künsten und den Wissenschaften bis zu seiner Zeit gemacht worden sind, den prinzipiellen Unterschied zu bedenken, daß sie der Sinneswahrnehmung nahe liegen.2 Siehe die Beschreibung des Experiments bei Fritz Krafft, Im Schatten der Sensation, Weinheim/Florida/Basel 1981, S. 80 bzw. 238. 2 »the discoveries which have been hitherto made in the arts and the 1

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Indessen wird die dreihundertjährige Zeitspanne, die von Bacons Wissenschaftsphilosophie und Montesquieus Sorge bis zu Hahns und Straßmanns Entdeckung reicht, noch von einer anderen, fundamentalen Gemeinsamkeit begleitet: Trotz aller tiefen methodologischen Niveauunterschiede zwischen der Naturforschung zu Bacons Zeit und den Naturwissenschaften der 1930er Jahre teilen sie bis zu dieser Entdeckung die Überzeugung, daß ein Atom nicht geteilt, ›zum Platzen gebracht‹, gespalten werden kann. Hahns und Straßmanns Entdeckung kommt daher auch eine eminente geschichtliche Bedeutsamkeit für eine wissenschaftlich Selbstaufklärung zu. Denn sie öffnet den Naturwissenschaftlern nicht nur ihrer Zeit die Augen für eine tiefliegende Fehlorientierung der Naturforschung der vergangenen mehr als zwei Jahrtausende: Sie hat, wie Kant einen solchen Irrtum analysiert hat, mit einer ›Falschheit in der Voraussetzung‹3 bzw. mit einer ›unerfüllten Präsupposition‹ gearbeitet, wie es die moderne Formale Logik nennt – daß Atome, wie es schon ihr Name suggeriert hat, unteilbar seien. Doch im Licht der kriegstechnischen Verwendung dieser Entdeckung in Gestalt der ersten Einsätze von Atombomben in Japan wächst Bacons Wissenschaftsphilosophie noch in der anderen, nahezu tragischen Dimension von Montesquieus phantastischer Sorge eine fatale praktische Bedeutsamkeit zu. Denn es liegt auf der Hand, daß die caritas-orientierte Wissenschaftspolitik von Bacons Haus Salomon in einem kriteriellen und normativen humanitären Rahmen aufgehoben ist, in dem sich eine solche Anwendung von sciences […] lay near to the senses«, Bacon, The Great Instauration, S. 18. – Daß es sich bei einer Kettenreaktion unabhängig von ihrer experimentellen Auslösung um einen natürlichen Prozeß handeln kann, der der Sinneswahrnehmung entzogen und daher verborgen, dunkel und geheimnisvoll ist, konnten französische Physiker erst 1972 anhand von Erz aus den mittlerweile stillgelegten Uranminen Oklo und Mounana im afrikanischen Staat Gabun ermitteln. In dem dortigen Uranvorkommen hatte sich vor rund zwei Milliarden Jahren auf natürliche Weise eine Kettenreaktion in Gang gesetzt und einen natürlichen Kernreaktor gebildet; vgl. hierzu F. Gauthier-Lafaye, 2 billion year old natural analogs for nuclear waste disposal. The natural nuclear fission reactors in Gabon (Africa), in: C. R. Physique 3, Nr. 7, S. 839–849 (2002). 3 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1 1781, 21787), Hamburg 1956, A 507, B 535. 64

Hahns und Straßmanns Entdeckung auf ›ganze Städte und Völker‹ geradezu von selbst verbietet. Die scheinbar unrealistische Verflechtung von Bacons integraler Wissenschaftsphilosophie und Montesquieus phantastischer kulturkritischer Sorge mit Hahns und Straßmanns Entdeckung und deren kriegstechnischer Verwendung kann jedoch auf einen realen, aber auch tiefen strukturellen Unterschied aufmerksam machen, der sich zwischen der Schrittfolge philosophischer (Bacon) und kulturkritischer (Montesquieu) Erörterungen und Einsichten sowie naturwissenschaftlicher Methoden, Entdeckungen und deren technischer Gebrauchsformen abzeichnet. Die Philosophie kann – und zumindest ähnlich auch die Kulturkritik – bestimmte empirisch vorkommende, besonders auffällige Phänomene als Paradigmen einer einzigen Klasse von homogenen Phänomenen derselben Struktur auffassen. Bacon faßt charakteristische Phänomene, die mit dem kriegstechnischen Gebrauch des Schwarzpulvers verbunden sind, als Wirkungen eines verborgenen, dunklen und geheimnisvollen Prozesses auf, der durch ein ursächliches Potential der stofflichen Zusammensetzung des Schwarzpulvers ausgelöst wird. Er sieht in diesem verborgenen, dunklen und geheimnisvollen Prozeß das Paradigma einer homogenen Klasse kausaler Prozesse und traut sich die heuristische Hypothese zu, daß es außerordentlich fruchtbar sei, nach anderen verborgenen, dunklen und geheimnisvollen Prozessen zu suchen, deren kausale Struktur sich analog in experimental-technischen Wirkungen erfahrbar machen läßt wie die Wirkungen des kausalen Potentials des Schwarzpulvers. Montesquieus gewinnt seine phantastisch-dramatische Sorge offensichtlich ganz ähnlich aus dem Nachdenken über dasselbe Paradigma der zerstörerischen Wirkungen des kriegstechnischen Gebrauchs des Schwarzpulvers. Ebenso offensichtlich steigert er die in diesem Paradigma veranschaulichten zerstörerischen Wirkungen dieses Gebrauchs mit den Mitteln seiner (produktiven) Einbildungskraft bis zu einem extremen Grad: Hier wird die Frage akut, wann die kausal-experimentellen Forschungen der Chemie soweit gediehen sein werden, daß sie in bislang noch verborgenen, dunklen und geheimnisvollen Prozessen des Natur kausale Poten­ tiale entdecken, die sich kausal-technisch auch innerhalb der prak65

tischen Lebenswelt nutzen lassen – wenngleich mit verheerenden Wirkungen. Eine Synopse von Bacons Philosophie der kausal-experimentellen Naturforschung und ihrer humanitären Hegung durch eine caritas-normierte Wissenschaftspolitik sowie von Montesquieus Sorge um ungehegte wissenschafts-utilitaristische Geschicke der zukünftigen Menschheit bilden am Anfang des 17. bzw. am Anfang des 18. Jahrhunderts Vorspiele zu Kants anthropologischer Diagnose vom Ende des 18. Jahrhunderts, daß der Mensch, »[…] soviel an ihm ist, [selbst] an der Zerstörung seiner eigenen Gattung arbeitet«.4

Kritik der Urteilskraft, AA V, S. 430.

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14. Ein ingeniöser Auftakt konstruktiver Skepsis am szientistischen Aufklärungsmodell (Jean-Jacques Rousseau I)

Rainer Spechts tiefblickenden Paradigmen für den äußerst wichtigen strukturellen und funktionalen Zusammenhang von theoretischen Innovationen und deren praktischen, institutionellen und religiösen Tragweiten ist ein äußerst wichtiges nach-Lockesche Paradigma entgangen. In seinem Rahmen trifft der von Lockes Empirismus inspirierte szientistische Innovations-Enthusiasmus Diderots und der Encyclopédie1 unmittelbar auf einen tiefer blickenden Kritiker. Denn schon während der rund fünfzehnjährigen Publikationszeit ihrer rund drei Dutzend Bände wird das diesen Enthusiasmus inspirierende empiristische Paradigma Lockes von einem nicht weniger prominenten Autor als Diderot im Laufe von zehn Jahren immer wieder von neuem mit schlagenden Argumenten kritisiert. Den Kern dieser Kritik bildet einerseits eine Wiederbelebung des von Mittelstraß betonten gespaltenen Kriteriums dessen, was man wissen kann, und dessen, was man tun soll. Gleichzeitig unterläuft es Spechts Orientierung am oftmals, aber eben auch nicht immer fruchtbaren Kriterium der praktischen Tragweiten von strikt theoretischen Innovationen. Denn diese Kritik erinnert an eine anthropologische kognitive Mitgift, die für die Einschätzung dessen, was in einer konkreten Situation jeweils praktisch mehr oder weniger wichtig ist, gänzlich autark und damit unabhängig von jeglicher theoretischer Innovation ist. Dieselbe Kritik überbietet gleichzeitig aber auch Mittelstraß’ Ansatz, weil dieser für die anthropologische Mitgift dieser zentralen kognitiven Instanz aller menschlichen Praxis blind ist. Die fragliche Kritik gipfelt 1761 in dem letzten Werk des Autors  – ausgerechnet ein Traktat zur Politischen Philosophie  – in einer denkbar knappen Diagnose. Doch trotz ihrer Knappheit bil Vgl. oben S. 17 – 19.

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det sie die Quintessenz einer lange vorbereiteten, grundstürzend neuen Konzeption der Aufklärung: »Die Urteilskraft ist nicht immer aufgeklärt«.2 Zehn Jahre früher hat ihr Autor – Jean-Jacques Rousseau – angefangen, diese Diagnose und die sie tragende Konzeption vorzubereiten. In ihrem Licht bildet die Urteilskraft sowohl das zentrale Medium für den Empfang von Aufklärung wie die zentrale Instanz für die Ausübung von Aufklärung, nämlich von aufgeklärten praktischen Urteilen. In seiner Preisschrift von 1751 über die Wissenschaften und die Künste und in allen nachfolgenden Schriften macht Rousseau der von Diderot propagierten Aufklärung durch Wissenschaft mit Hilfe von subtilen skeptischen Vorbehalten und mit ebenso subtilen konstruktiven Überlegungen ein für alle Mal die Gegenrechnung auf. Nicht zuletzt, weil sich seine Preisschrift in Europa wie ein Lauffeuer verbreitet, sucht er sogleich dem Mißverständnis vorzubeugen, er zeige sich in diesem Text als eine wissenschaftsfeindliche Kassandra. In seiner Antwort auf eine kritische Veröffentlichung des polnischen Königs spricht er von der »ganz und gar schönen und ebenso erhabenen Wissenschaft«3 und wenig später stellt er im Discours über die Ungleichheit unter den Menschen klar, daß »unsere Wissenschaften zum Besten unter den Menschen«4 gehören. Indessen wird ein subtiler skeptischer Vorbehalt gegen das szientistische Aufklärungsmodell in der Preisschrift mit einer arbeitsökonomischen Reflexion auf die kognitiven Risiken der wissenschaftlichen Forschung eingeleitet. Er erinnert daran »wie viele falsche Fährten in der Forschung der Wissenschaften«5 verfolgt werden, so daß man »viele Irrtümer […] durchmachen muß, um zur Wahrheit zu gelangen«. 6 Doch Rousseau versucht alles andere, als die »Le jugement […] n’est pas toujours éclairé«, Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, in: ders., Œuvres complètes (O. C., Bd. I ff.), Paris 1956 ff., hier: O. C. III, Paris 1964, S. 349 – 470, hier: S. 380. 3 »[…] la Science toute belle, toute sublime«, Observations sur la réponse qui a été faite à son discours, O. C. III, S. 36. 4 »[…] ce qu’il ya de meilleure […] parmi les hommes, […] nos Sciences«, Discours sur l’inégalité, O. C. III, S. 189. 5 »que de fausses routes dans l’investigation des Sciences«, Discours sur les sciences, O. C. III, S. 18. 6 »Par combien d’erreurs […] ne faut-il passer pour arrivé à elle [la vérité, R. E.] ?«, ebd. 2

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wissenschaftliche Forschung durch diese an sich ganz und gar realistischen Einschätzungen ihrer kognitiven Alltagsrisiken in Mißkredit zu bringen. Er bereitet vielmehr auf den skeptischen ­Aspekt vor, den er gerade mit Blick auf die Fälle ins Spiel bringt, »[w]enn wir die Wahrheit am Ende glücklicherweise finden«.7 Denn gerade mit Blick auf die Fälle glücklich gefundener Wahrheiten der wissenschaftlichen Forschung stellt er seine erste skeptische Frage: »Wer von uns wird von ihnen einen guten Gebrauch zu machen wissen ?«. 8 Damit formuliert Rousseau nicht mehr und nicht weniger als die skeptische Schlüsselfrage der wissenschaftlich-technisch basierten Lebenswelt. Doch er überbietet diese Frage nach dem für den Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zentralen praktischen Gebrauchswissen, indem er sie unmittelbar anschließend auf die nächsthöhere formale Reflexionsstufe hebt: »Was wird unser Kriterium sein, um darüber [über den guten Gebrauch wissenschaftlicher Wahrheiten, R. E.] gut zu urteilen ?«.9 Mit dieser zu seiner geschichtlichen Zeit einzigartigen Form wohldurchdachter Skepsis reagiert Rousseau direkt auf Diderots optimistische Konzeption einer Aufklärung durch Wissenschaft. Denn diese macht es zu einer notwendigen Bedingung für die Berechtigung ihres Optimismus, daß gerade Nicht-Wissenschaftler durch die Lektüre wahrer wissenschaftlicher Sätze am Licht der Aufklärung teilhaben können. Diesem optimistischen Licht-Bild setzt Rousseau aus guten Gründen ein skeptisches Dunkel-Bild entgegen: »Wir einfachen Menschen aus dem Volk bleiben in unserer Dunkelheit befangen«,10 und zwar »in dem Maß, in dem unsere Wissenschaften und Technik zu ihrer Perfektion vorangeschritten sind«.11 Diese metaphorische Diagnose seines Dunkel-Bilds erläutert Rousseau durch eine begrifflich wohldurchdachte Diagnose der tiefen kognitiven Insuffizienz, die die einfachen Menschen aus dem Volk, »Si, par bonheur, nous la [i. e. la vérité, R. E.] trouvons à la fin«, ebd. »[…] qui de nous en saura faire un bon usage ?«, ebd. 9 »Quel sera notre criterium pour en bien juger ?«, ebd., Rousseaus Hervorhebung des lateinischen Worts. 10 »Nous, hommes vulgaires, restons dans notre obscurité«, S. 30. 11 »[…] à mésure que nos Sciences et nos Arts sont avancés à la perfection«, S. 18. 7 8

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also die Nicht-Wissenschaftler, in ihrer Dunkelheit gefangenhält: Sie sind dazu verurteilt, wissenschaftliche Sätze zur Kenntnis zu nehmen, »ohne zu wissen, wie man den Irrtum von der Wahrheit unterscheidet«.12 Genau genommen, »hat das Publikum überhaupt keine Methode«,13 um sich über solche Sätze ein Urteil zu bilden. Szientistische Aufklärungskonzeptionen und -programme führen das Publikum – also die überwältigende Mehrheit der Menschen – direkt in die Dunkelheit ihrer wissenschaftlichen Inkompetenz. Es dürfte wenig bekannt sein und daher um so mehr überraschen, daß eine Zentralgestalt aus den Anfängen der neuzeitlichen Naturwissenschaft in dieser gründlichen kognitiven Insuffizienz der wissenschaftlichen Laien die größte künftige Gefahr gesehen hat. Galilei – zu Recht auch eine Zentralgestalt im wissenschafts­ historischen Teil von Mittelstraß’ Untersuchungen  – hat seinem Dialog über die beiden Weltsysteme von 1632 einige handschriftliche Zusätze hinzugefügt. Im ersten dieser Zusätze weckt er unter dem Titel Über die Einführung von Neuerungen zunächst die Erwartung, er werde sich über mehr oder weniger revolutionäre wissenschaftliche Entdeckungen äußern. Doch er gibt zu bedenken: »Wie kann man zweifeln, daß es zu den schwersten Ärgernissen führen muß, wenn die von Gott geschaffenen freien Geister gezwungen werden sollen, sich sklavisch fremdem Willen zu unterwerfen. […] Wenn man Leute, die jeder Sachkenntnis ermangeln, zu Richtern über Fachmänner macht und ihnen eine Autorität verleiht, vermöge deren sie diese nach ihrem Gutdünken behandeln ?«. Und er schließt mit dem sarkastischen Akzent: »Das sind die Neuerungen, welche den Ruin eines Gemeinwesens, die Untergrabung eines Staats herbeiführen können«.14 Inzwischen haben wir die ruinösen politischen Konsequenzen solcher Neuerungen in der kommunistischen und in der nationalsozialistischen Biopolitik »[…] sans savoir demeler l’erreur de la vérité«, S. 24. »le publique n’a point de methode«, Fragments de Botanique, O. C. VI, S. 1253. 14 Galileo Galilei, Dialog über die Weltsysteme (Auswahl). Handschriftliche Zusätze, in: ders., Sidereus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen (11610), in: ders., Sidereus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen/Dialog über die Weltsysteme (Auswahl)/Vermessung der Hölle Dantes/Marginalien zu Tasso, hg. von Hans Blumenberg, Frankfurt/Main 1965, S. 226 – 228, hier: S. 226, Hervorhebung R. E. 12 13

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der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachten können. Und gegenwärtig verschärfen klimapolitische Neuerungen dieser Art bekanntlich sogar die Aporien der Weltpolitik.15

Zur Analyse der öffentlichen Diskussionen um diese klimapolitische Aporie vgl. die scharfsinnigen Erörterungen von Jens Gillessen, Aufklärung durch die Klimawissenschaften. Worüber und Wozu ?, in: Wissenschaft und Aufklärung / Science and Enlightenment, Zeitschrift für Angewandte Philosophie, hg. von R. Enskat and O. R. Scholz, Göttingen 2018, S. 127 – 148. 15

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15. Aufklärung, Wissenschaft und praktische Urteilskraft (Jean-Jacques Rousseau versus Max Weber)

Die ebenso skeptischen wie radikalen Einsichten Rousseaus in die Abgründe von radikalen Intentionen einer Aufklärung durch Wissenschaft bilden nur ein erstes schmales Einfallstor zu einer fast zehn Jahre währenden Vertiefung seines ersten fulminanten publizistischen Auftritts: »His reports of his sudden dramatic inspirations […] have eclipsed his other reports of slow, deliberate reflection. […] Many of his important ideas, in fact, he pondered for years and subjected to severe logical scrutiny«.1 Aus seinen anfänglichen Einsichten gehen die ausgereiften wissenschaftspragmatischen Erörterungen hervor, die er zehn Jahre später in die erziehungs- und bildungskonzeptionellen Überlegungen des vielfach mißverstandenen Texts des Émile ou de l’Éducation2 integriert hat. Er fragt nicht mehr wie noch zehn Jahre früher im Ersten Diskurs mit eher methodologischer Orientierung nach dem criterium, das uns helfen soll, gut darüber zu urteilen, wie man von wissenschaftlichen Wahrheiten, wenn das Forscherglück sie beschert hat, einen guten praktischen Gebrauch machen kann (vgl. unten S. 68 – 70). Statt seiner kommt es nur noch auf die dafür einzig taugliche natürliche kognitive Mitgift des Menschen an, auf die »Kraft zu urteilen«.3 Die Natürlichkeit dieser Mitgift macht es selbstverständlich, daß wir die Adepten unserer menschlichen Erziehung möglichst von Anfang an »lernen lassen, gut zu urteilen«, 4 »um einen urteilskräftigen jungen Menschen aus ihm werden zu Peter Gay, The Enlightenment: An Interpretation, 2 Bde., hier: Bd. I, S. 534 f. Jean-Jacques Rousseau, Émile ou de l’Éducation, O. C. IV. 3 »puissance de juger«, Émile, S. 586. 4 »apprenons-lui à bien juger«, S. 483; vgl. auch S. 285, 324, 361, 380, 392, 396, 397, 458, 483, 486, 654, 674; vgl. hierzu die treffliche Bemerkung von Mark Hulliung, The Autocritique of Enlightenment. Rousseau and the Philosophes, Cambridge (Mass.)/London 1994: »Few themes recur so frequently in Émile as that of training the sense to judge correctly«, S. 191. 1 2

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lassen«.5 Bei dieser Ausbildung einer guten Urteilskraft handelt es sich zwar um eine Angelegenheit einer »unendlichen Übung«.6 Doch die Ziele, an denen sich eine solche Übung gleichwohl in jeder Phase orientiert, sind gleichwohl auch von Anfang an klar. Sogar das wichtigste Erfolgskriterium läßt sich prägnant formulieren: Der erfolgreiche Adept einer solchen Erziehung und Bildung seiner Urteilskraft »wählt gut, sofern er die Wahrheit treffend beurteilt hat, doch wenn er falsch urteilt, wählt er schlecht«.7 Zwar »kommt die Urteilskraft langsam«. 8 Gleichwohl kommt im Prozeß der erzieherischen Bildung der Urteilskraft der Zeitpunkt, von dem an ihr Adept »von selbst lernen muß«.9 Unter diesen Vorzeichen der Erziehung und Bildung der Urteilskraft nimmt Rousseau nach zehnjährigem Nachdenken auf einer vertieften und nahezu perfekt differenzierten Reflexionsstufe das Nachdenken über die kognitiven Aufgaben wieder auf, die den Menschen in dem Maß abverlangt werden, ›in dem unsere Wissenschaften und Technik zu ihrer Perfektion vorangeschritten sind‹ (vgl. oben S. 69 f.). Er unterläuft unter diesen Vorzeichen die radikale szientistische Aufklärungskonzeption, die Diderot im programmatischen Artikel Encyclopédie des Eröffnungsbandes des monumentalen Werks entwickelt hatte, mit einer ebenso radikalen Gegenkonzeption: »Was wir zu erwerben vorschlagen, ist weniger die Wissenschaft, als vielmehr die Urteilskraft«.10 Nur mit ihrer Hilfe ist es möglich, treffend »die Kenntnisse, die der Erforschung würdig sind«,11 zu beurteilen, aber auch alles das treffend zu beurteilen, »was wichtig ist, gewußt zu werden«,12 und schließlich auch das, was »nützlich ist, gewußt zu werden«.13 Angesichts der vom Beginn des 17. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts stürmisch gewachsenen naturwissenschaftlichen Forschungen und Entdeckungen sieht er die prakti »pour rendre un jeune homme juducieux«, S. 458. 6 »cet exervise continuel«, S. 486. 7 »il choisit le bon comme s’il a jugé le vrai, s’il juge faux il choisit mal«, S. 586. 8 »le jugement vient lentement«, S. 435. 9 »apprendre de lui-même«, S. 486. 10 »ce que nous proposons est moins la science, que le jugement«, S. 466. 11 »Des connaisances qui sont […] dignes de recherces«, S. 428. 12 »tout ce qu’il importe […] de savoir«, S. 445. 13 »utile à savoir«, S. 447, Rousseaus Hervorhebung. 5

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sche Urteilskraft sogar vor die Aufgabe gestellt, »genau einzuschätzen, was die Wissenschaft im ganzen überhaupt wert ist«.14 Würdig, wichtig, nützlich, wert, zugunsten der Lebenspraxis der Menschen erforscht, gewußt und kultiviert zu werden – die Aspekte, unter denen die praktische Urteilskraft in der inzwischen wissenschaftlichtechnisch gestalteten Lebenswelt zu ihren spezifischen kognitiven Aufgaben aufgerufen ist, könnten schwerlich noch vollständiger versammelt sein. Doch mit seinem letzten Wort zu den Aufgaben, die der praktischen Urteilskraft in einer solchen Lebenswelt abverlangt werden, macht Rousseau noch einmal die Skepsis fruchtbar, die ihn vor allem im Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen die anthropologischen Begrenzungen und Insuffizienzen aller menschlichen Fähigkeiten haben berücksichtigen lassen: Die Urteilskraft ist nicht immer aufgeklärt (vgl. oben S. 50 f.). Dieses anthropologische Geschick bildet einen unüberwindbaren Teil der tagtäglichen conditio humana. Welchen philosophischen und geistesgeschichtlichen Rang Rousseau mit der Arbeit an dieser Szientismus-kritischen Konzeption der Aufklärung der praktischen Urteilskraft einnimmt, kann man vielleicht besser ermessen, wenn man diese Konzeption mit einer einhundertfünfzig Jahre jüngeren Stellungnahme Max Webers kontrastiert. In seinem legendären Münchener Vortrag von 1919 Wissenschaft als Beruf stellt Weber Rousseaus Fragen 150  Jahre später noch einmal: »Welches ist der Beruf der Wissenschaft innerhalb des Gesamtlebens der Menschheit ? Und welches ihr Wert ?«15, sowie: Was ist »wichtig im Sinn von ›wissenswert‹ ?«.16 Weber fügt nicht nur hinzu: »Da stecken nun offenbar alle unsere Probleme darin«;17 er beschließt seinen Vortrag mit dem geradezu tragisch gestimmten Ausruf aus dem Wächterlied der Jesaja-Orakel: »Wächter, wie lange noch Nacht ?«.18 Die Nacht »estimer exactement ce qu’elle [la science, R. E.] vaut«, S. 487. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesamtausgabe, i. A. d. Kommission f. Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte d. Bayerischen Akademie d. Wissenschaften hg. v. H. Baier et al., Tübingen 1984 ff., Bd. 17 (Hrsg. W. J. Mommsen u. W. Schluchter), Tübingen 1992, S. 86 ff., hier: S. 88, Webers Hervorhebung. 16 S. 93. 17 Ebd. 18 S. 111; vgl. Jes. 21 11 f. 14

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Metaphorik in diesem Zitat ist offensichtlich Webers unintendiertes Echo auf Rousseaus Diagnose und Prognose aus dem Diskurs über die Wissenschaften und die Künste: ›Wir einfachen Menschen aus dem Volk bleiben in unserer Dunkelheit befangen, und zwar in dem Maß, in dem unserer Wissenschaften und Künste der Vollendung entgegengegangen sind‹. In dem Zusammenhang, in dem Webers kritische Fragen wie ein verspätetes Echo von Rousseaus kritischen Fragen klingen, verwandeln sich diese Fragen durch ihre einhundertfünfzigjährige Verspätung in einen dramatischen, fast schon tragisch-resignativen Abgesang auf den allgemeinen szientistischen Aufklärungs-Enthusiasmus und -Optimismus der vorangegangenen Jahrhunderte. Der geistesgeschichtliche Rang von Rousseaus Szientismus-kritischer Konzeption der Aufklärung der praktischen Urteilskraft könnte indessen nicht klarer beleuchtet werden als durch den Umstand, daß er mit der Arbeit an dieser Konzeption inmitten der labyrinthischen Streitigkeiten um die wahre Aufklärung im Jahr 1750 beginnt. Auf dieses Jahr hat der amerikanische Wirtschaftshistoriker David Landes auf Grund einkommensstatistischer Indizien den Beginn der Industriellen Revolution datiert. Außerdem geht das Jahr 1750 dem Jahr vorher, in dem mit der Publikation der Encyclopédie das bedeutendste publizistische Symbol des späteren Verbundsystems aus Wissenschaft, Technik und Wirtschaft zu erscheinen beginnt.

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16. Das Versagen der sentimentalen religiösen Hoffnungen des bourgeois und die Rechtstreue des citoyen (Jean-Jacques Rousseau II)

Nicht nur Mittelstraß und Specht, auch andere haben wichtige Tragweiten übersehen oder unterschätzt, mit denen Rousseaus konzentrierte Orientierung an den praktischen Aspekten dessen, was würdig, wichtig, nützlich oder wert ist, sein lebenslanges Nachdenken geprägt hat. Vor allem eine dieser Tragweiten reicht weit über den Kreis der Themen hinaus, deren er sich unter den Eindrücken und den Provokationen öffentlich angenommen hat, denen er durch das soziale und das intellektuelle Milieu ausgesetzt war, in dessen Mitte er zeitweise lebte, aber auch an den Rand von dessen »Tumult«1 er sich zeitweise zurückgezogen hat. Diese besondere Tragweite gewinnt ihre ganze Bedeutsamkeit zwar in der von ihm selbst intendierten Richtung ausschließlich für seine persönlichste Selbstvergewisserung: »Seit ich das Bedürfnis habe zu lernen, war mein Ziel, mich selbst zu erkennen«.2 Doch der ebenso scharfsinnige wie radikale und skeptische, aber auch konstruktive Kritiker des szientistischen Aufklärungsmodells hat auf seinem lebenslangen Weg der Selbstvergewisserung nie vergessen, welche Wichtigkeit und welchen Wert auf einem solchen Weg eine gründliche Kritik an jenen hat, »die sagen, daß die Religion zu nichts gut sei«.3 Die Wortführer dieser Auffassung repräsentieren »jene Doktrin des Materialismus und des Atheismus, die von ihnen mit dem ganzen Feuereifer der eifrigsten Missionare gepredigt und propagiert wird«.4 Nicht zuletzt Diderot, den programmatischen »[…] tumult de la société«, Les Réveries du Promeneur Solitair, O. C. I., S. 1015. 2 »Pour moi quand j’ai désiré d’apprendre c’étoit pour savoir moi-même«, S. 1013. 3 »[…] à ceux qui disent que la Religion ne fait aucun bien«, S. 968. 4 »[…] cette doctrine de materialisme et d’Atheïsme prèchée et propagée avec toute l’ardeure des plus zèles missio-naires«, ebd. 1

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Autor des szientistischen Aufklärungsmodells der Encyclopédie, hat Rousseau mit dieser Kritik an einer ebenso leichtfertig entworfenen wie missionarisch vertretenen Form des Materialismus und des Atheismus im Auge. Im Gegenzug erinnert Rousseau in einer langen Tradition des gründlichen Nachdenkens über die Frage des Glaubens oder Unglaubens daran, daß »man von sich verlangt, mit subtilen Mitteln zu verteidigen, was zu glauben man so heiß begehrt«.5 Was Rousseau selbst so heiß begehrt, ist, daß »meine Hoffnung«6 in Erfüllung geht, daß jener »Augenblick immer dauern möge«,7 in dem »ich die Heiterkeit, die Ruhe, den Frieden und sogar das Glück wiedergefunden habe«8 . Daß es sich bei diesem Zustand um einen handelt, den er, wenn er ihn erlangen sollte, wiedergefunden hat, geht aus dessen knappster und trefflichster Charakterisierung hervor – es ist der Zustand des »durch die Vernunft aufgeklärten Menschen der Natur«.9 Die nicht immer leicht verständliche Rede Rousseaus vom ›Menschen der Natur‹ wird in keinem anderen thematischen Zusammenhang von Rousseaus Schriften so klar wie in seinem Nachdenken über den Inhalt der Hoffnung, die das Zentrum der von ihm verteidigten Religion bildet. Den wichtigsten Charakter dieses erhofften Zustands schreibt Rousseau seiner dann erreichten Fähigkeit zu, daß »ich im Gleichgewicht bleibe«.10 Es ist das Gleichgewicht dessen, der nach wie vor unter den Menschen lebt und daher nach wie vor »von allen Seiten bedrängt wird«,11 aber im Gleichgewicht bleibt, weil diese Seiten »mich zu nichts mehr drängen, als mich auf mich selbst zu stützen«.12 Der ›Mensch der Natur‹, an dem sich Rousseau in der Formel für seinen mit religiöser Sehnsucht erhofften Zustand orientiert, bildet schon in dem »On se démand difficilement de croire ce qu’on desire avec tant d’ardeur«, S. 1017. 6 »[…] mon espérance«, S. 1019, 1020, 1023. 7 »[…] que cet instant durât toujours«, S. 1046. 8 »[…] j’ai retrouvé la sérénité, la tranquilité, la paix, le bonheur même«, O. C. VIII, S. 1077. 9 »homme de la nature éclairé par la raison«, Rousseau juge de Jean-Jacques, O. C. II, S. 864. 10 »[…] je demeure en équilibre«, S. 1077. 11 »Pressé de toutes cotés«, ebd. 12 »[…] parce que ne m’attachen plus à rien je ne m’appuye que sur moi«, ebd. 5

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für diesen Typus maßgeblichen Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen keine real mögliche Gestalt des Menschen, sondern ein personifiziertes Kriterium für das, was ein Mensch sein könnte, wenn er in keinerlei Hinsicht von Seinesgleichen abhängig wäre. Mit der Formel für seinen mit religiöser Sehnsucht erhofften Zustand entwirft er ebenfalls eine Gestalt des Menschen im Sinne eines personifizierten Kriteriums. In dieser Gestalt ist der ›Mensch der Natur‹ zwar mit allen Eigenschaften präsent, die zu seiner Natur gehören. Doch er hat im Licht des neuen Kriteriums durch unablässige und schließlich gelungene Zuhilfenahme seiner Vernunft die Form und das Maß von Aufklärung erworben, die ihm das mit religiöser Sehnsucht erstrebte Gleichgewicht gewähren, das von ›Heiterkeit, Ruhe, Frieden und sogar von Glück‹ begleitet ist. Doch die von Rousseau in der Auseinandersetzung mit dem szientistischen Aufklärungsmodell so scharfsinnig geübte und gleichzeitig ins Konstruktive gewendete Skepsis verläßt ihn auch im Rahmen seiner religiösen Selbstvergewisserung nicht. Indem er die geistige Verfassung des ›durch die Vernunft aufgeklärten Menschen der Natur‹ stillschweigend mit der Weisheit identifiziert, gesteht er sich ein, daß er »weit davon entfernt ist, jener weise Mensch zu sein«, der durch Vernunft aufgeklärt ist – doch »ich habe gelernt, es zu werden«.13 So unübersehbar eine lebenslang sehnsüchtig erstrebte Möglichkeit der Hoffnung das Zentrum von Rousseaus Religion bildet, »bien loin d’être cet homme [sc. cet homme sage] mais j’ai appris à le devenir«; diesen am Ende des dreizehnten Absatzes der Huitiême promenade gestrichenen Satz hat Heinrich Meier, Über das Glück des philosophischen Lebens, München 2011, ans Licht geholt. Seine vorbildlich mikro-hermeneutischen und mikro-analytischen Erörterungen erschließen erstmals in höchst aufschlußreicher Weise das Ganze von Rousseaus lebenslangem Nachdenken über das religiöse Ziel seiner Bemühungen um Selbstvergewisserung; zu dem parallelen Unternehmen, Rousseaus rund fünfzehnjährige skeptische, kritische und konstruktive Auseinandersetzung mit dem szientistischen Aufklärungsmodell ebenso mikro-hermeneutisch und mikro-analytisch zu erschließen, vgl. vom Verf., Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008, bes. S. 213 – 523; zur detaillierten Auseinandersetzung mit Meiers Untersuchung vgl. vom Verf., Bewährungsproben der Reflexion, Rezension von Meier, Glück, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Bd. 24, Jg. 2012, S. 349 – 83. 13

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so unübersehbar unterscheiden sich diese Hoffnung und ihr Ziel von der Hoffnung und dem Ziel, die Specht als den entscheidenden Verlust diagnostiziert, den Lockes kriterien-diffuser Empirismus für dessen Anhänger mit sich bringt – von der Hoffnung auf Rettung durch einen welt-transzendenten Gott (vgl. oben S. 39 f.). Die von Rousseau erhoffte Möglichkeit eines innerweltlichen Gleichgewichts zwischen den unaufhörlichen sozialen Bedrängnissen und einem davon gänzlich unabhängigen verläßlichen Bei-sich-selbstSein ist vor allem in der Huitiême promenade mit einer definitiven Abkehr von jeglicher Orientierung an einem welt-transzendenten Gott verbunden. Doch welche paradigmatische Tragweite, die über Rousseaus persönliches Glück des philosophischen Lebens hinausgehen könnte, kommt seinem Typus des ›durch die Vernunft aufgeklärten Menschen der Natur‹ zu ? Unter Rousseaus Reflexionen über das, was er persönlich zu tun bzw. nicht zu tun vermag, um zu diesem Glück und gleichzeitig zu dieser durch Vernunft aufgeklärten Haltung zu gelangen, kommt einer Reflexion eine Schlüsselrolle zu: »Das Ergebnis, das ich aus allen diesen Reflexionen ziehen kann, ist, daß ich in Wahrheit niemals für die bürgerliche Gesellschaft geeignet war«.14 Die rechtspolitische, republikanische Struktur dieser bürgerlichen Gesellschaft entwirft Rousseau im Traktat Vom Gesellschaftsvertrag.15 Dieser Vertrag wird von denen, die an ihm teilhaben sollen, nicht etwa ›am Grünen Tisch‹ ausgehandelt. Er ist, genau genommen, »ein zumindest stillschweigender Vertrag«.16 Man muß nicht auf die Einzelheiten von Rousseaus komplexer Politischer Philosophie in seinem Traktat eingehen. Mit dem freimütigen Eingeständnis seiner Einsicht in seine persönliche Unfähigkeit, den Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft zu genügen, erklärt Rousseau die von ihm selbst als unabdingbar entworfene rechtspolitische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft unverblümt für untauglich, einem Rêveries, S. 1059; das berücksichtigt auch Meier, Glück, S. 289 f. Vgl. hierzu Enskat, Bedingungen, S. 425 – 557. 16 »[…] un contrat, au moins tacite«, Émile, S. 839; diese äußerst wichtige Charakterisierung des Formats des Gesellschaftsvertrags gehört zu den didaktischen Belehrungen, die Rousseau auf den Seiten 837 – 857 des Émile dem Mentor in den Mund legt, der hier seinen erwachsen gewordenen Schützling auf dessen Eintritt in das bürgerliche Leben vorzubereiten sucht. 14

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Menschen gerecht zu werden› der wie er mit religiöser Sehnsucht danach strebt, ein ›durch die Vernunft aufgeklärter Mensch der Natur‹ zu werden. Diese tiefe wechselseitige Disproportionalität zwischen dieser bürgerlichen Gesellschaft und seiner persönlichen bürgerlichen Untauglichkeit wird indessen in ein besonders scharfes Licht durch eine Diagnose getaucht, die der Mentor im Émile seinem Schützling einzuschärfen sucht. Denn er tut dies ausgerechnet in der Situation, in der er ihn durch Überlegungen, die einen Abriß aus dem Traktat Vom Gesellschaftsvertrag bilden, darauf einzustimmen sucht, was für ihrer beider Leben nötig ist: »[…] für uns, für die das bürgerlichen Leben notwendig ist […]«.17 Den wichtigsten Fundus, den das bürgerliche Leben im Licht von Rousseaus rechtspolitischem Traktat bereithält, bilden »Regeln, um die relative Qualität einer Regierung zu beurteilen«.18 Offensichtlich hinterläßt Rousseau im Licht der Einsicht seiner Politischen Philosophie in die Notwendigkeit eines bürgerlichen, republikanisch organisierten Zusammenlebens der Menschen und mit dem Eingeständnis seiner spezifischen bürgerlichen Untauglichkeit sowie mit seinem religiösen Streben danach, ein ›durch die Vernunft aufgeklärter Mensch der Natur‹ zu werden, sechs von ihm selbst nicht mehr beantwortete Fragen: 1. Welche Möglichkeiten einer vernunftgeleiteten Aufklärung des Menschen der Natur sind in der Zeit vor oder nach Rousseau noch eröffnet worden ? 2. Lassen sich außer rechtspolitischen Pflichten und Rechten noch andere Arten von Pflichten und Rechten begründen, die zum Inhalt einer vernunftgeleiteten Aufklärung des Menschen von Natur gehören ? 3. Können Rechte und Pflichten begründet werden, die durch ihren Rang so unabdingbar mit dem Menschen der Natur verbunden sind, daß ihre Respektierung einer religiösen Einstellung gleichkommt ? 4. Hat Rousseau die Publikation der Rêveries vielleicht deswegen einem postumen Geschick überlassen, weil er die Sorge hatte, die Tragfähigkeit seines rechtspolitischen Traktats zu desavouieren, indem er seine eigene Untauglichkeit eingesteht, ein bürgerliches Leben zu führen, dessen spezifische Bürgerlichkeit ausschließlich durch Rechte und Pflichten geprägt ist ? 5. Hält ihm »[…] pour nous, à qui la vie civile est nécessaire«, S. 831. »[…] règles […] pour juger de la bonté relative des gouvernements«, S. 831.

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sein Geständnis dieser bürgerlichen Untauglichkeit den Spiegel des von ihm charakterisierten bourgeois vor – »der in der bürgerlichen Ordnung den Primat der natürlichen Empfindungen beibehalten will, nicht weiß, was er will. Immer im Widerstreit mit sich selbst, immer schwankend zwischen seinen Neigungen und seinen Pflichten, wird er niemals ein Mensch oder ein Bürger (citoyen) sein; […] ein Bourgeois« ?19

»[…] qui dans l’ordre civil veut conserver la primauté des sentiments de la nature, ne sait ce qu’il veut. Toujours en contradiction avec lui-même, toujours flottant entre ses penchants et ses devoirs il ne sera jamais ni homme ni citoyen; […] un Bourgeois«, S. 249 – 250. 19

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17. Vom Deismus zum Atheismus (Von Rousseau zu Kant I)

Indessen hat sich der enthusiastische Rousseau-Leser – um nicht zu sagen: Rousseau-Schüler – Kant1 am Ende seines lebenslangen Nachdenkens über Formen, Inhalte und Ziele der Religion eine weitgespannte und tiefgründige Konzeption erarbeitet, die ihm die Augen für die Möglichkeit geöffnet hat, die Unabdingbarkeit der Bindung der Religion an einen welt-transzendenten Gott aufzugeben. Den springenden Punkt dieser Absage bildet eine Überlegung, mit der er das noch in der Kritik der praktischen Vernunft so scharfsinnig begründete praktische Postulat der Existenz eines solchen Gottes verworfen hat: »Religion zu haben wird nicht der Begriff von Gott und noch weniger das Postulat Es ist ein Gott gefordert«.2 Doch er hat diese Absage keiner seiner veröffentlichten Schriften anvertraut. Ähnlich wie Rousseau war er persönlich – wenngleich in unterschiedlichen Formen und Maßen  – von der Zensur der konfessionell gesteuerten Religions- und Kirchenpolitik seiner Zeit betroffen: Rousseau war u. a. wegen der deistischen religionsphilosophischen Erörterungen des Savoyischen Pfarrers im Émile auf Anweisung des Erzbischofs von Paris Beaumont vom Parlement de Paris mit dem Bann belegt worden und mußte fliehen; Kant hat durch die moral-symbolische Auslegung der Bibel in seiner reli­ gions­philosophischen Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft riskante berufliche Erfahrungen mit der Zensur der pietistisch gelenkten Religionspolitik während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. gemacht 3 und danach fünf Jahre lang zu religionsphilosophischen Fragen öffentlich geschwiegen. »Rousseau hat mich zurecht gebracht«, Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: Kant’s gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff. (sog. Akademie-Ausgabe = Ak Iff.), AA XX, S. 44. 2 Opus postumum, AA XXI, S. 81. 3 Vgl. Kant, Der Streit der Fakultäten. Vorrede, AA VII, S. 7 – 10. 1

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Doch die Religion, ›die zu haben nicht der Begriff von Gott und noch weniger das Postulat Es ist ein Gott gefordert wird‹, hat in jeder Hinsicht ein anderes Format als die von Rousseau für sein persönliches Glück mit religiöser Sehnsucht gehegte. Gleichwohl handelt es sich um eine Religion, wie sie sowohl dem Bürger eines rechtlich geordneten Gemeinwesens wie dem ›durch die Vernunft aufgeklärten Menschen der Natur‹ zu dessen innerweltlichem Glück verhelfen können sollte. Diese ›durch Vernunft‹ mögliche Aufklärung ist unter Kants Vorzeichen allerdings von einer ganz anderen Form von Vernünftigkeit, als sie in der konventionellen Vernunft-Rhetorik beschworen wird. Denn diese Form von Vernünftigkeit ist an ein durchsichtiges Kriterium zur Beurteilung dessen gebunden, was sowohl dem Menschen der Natur wie dem von ihm getragenen Bürger eines rechtlich wohlgeordneten Gemeinwesens zu seinem innerweltlichen Glück verhelfen kann. Es ist »das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht […] erkennen könne«.4 Den alles andere überragenden praktischen Rang dieses im Licht eines Kriteriums erkennbaren Rechts charakterisiert Kant, ganz ungeachtet seiner Absage an die Existenz Gottes und an die Notwendigkeit des Glaubens an dessen Existenz, mit emphatischen deistischen Wendungen. Deren alttestamentarische Tradition kann den ungebrochenen religiösen Charakter des praktischen Respekts für das zu erkennende, erkennbare und zu praktizierende Recht beglaubigen: »[…] das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen […] dies[er] Augapfel Gottes«.5 Die gleichwohl immer noch deistisch klingende Rede von einem substantialen Gott wird von Kant jedoch auf eine attributive Rede von einem dreifach Göttlichen zurückgestuft, die mit der attributiven Rede von der unüberbietbaren Heiligkeit des Rechts synonym ist: »Der Begriff der Religion ist […] dem Menschen bloß ein Prinzip der Beurteilung aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote«, 6 umfaßt aber auch »das Erkenntnis des Menschen von seinen Pflichten Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 230. Zum ewigen Frieden, AA VIII, S. 352, Hervorhebungen R. E.; die Wendung vom Augapfel Gottes geht auf AT, Sacharja 2, 12, zurück. 6 S. 440, Hervorhebungen R. E. 4 5

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als göttlichen Geboten«7 sowie schließlich »Das Prinzip der Befolgung aller Pflichten als göttlicher Gebote ist Religion«. 8 Der religiös gestimmten Emphase, mit der hier die Beurteilung, die Erkenntnis und die Praktizierung des Rechts respektiert wird, entspricht unmittelbar der »Enthusiasmus der Rechtsbehauptung für das menschliche Geschlecht«.9 Doch die Tragweite, durch die sich dieser religiös gestimmte Rechtsenthusiasmus von Rousseaus religiöser Sehnsucht unterscheidet, könnte größer nicht sein. Während diese Sehnsucht im irdischen Leben möglicherweise gar nicht erfüllbar ist, eröffnet sich dem stets rechtlich handelnden Menschen und Bürger die Aussicht, »ein rechtliches und somit glückliches Mitglied des gemeinen Wesens während dem Leben«10 zu werden. Es liegt auf der Hand, daß für diese so vieldimensionale Konzeption des Rechts alles davon abhängt, daß ›das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht erkennen könne‹, auch hält, was es verspricht. Denn es sagt: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann«.11 Läßt man sich von seiner komprimierten Form, von einigen terminologischen Stilisierungen und seiner zeitspezifischen Sprache nicht allzusehr irritieren, dann fällt es nicht allzu schwer einzusehen, daß dieses Kriterium einen prozeduralen Zuschnitt hat. Es stellt also ein Testverfahren zur Verfügung, mit dessen Hilfe man erkennen kann, was in jedem konkreten Fall recht ist und was nicht. Dieses Testverfahren beginnt in jedem konkreten Fall mit der Thematisierung der Handlungsmaxime, die als solche und an sich zunächst in die Freiheit der Willkür, also in die Wahlfreiheit eines einzelnen individuellen Menschen, gestellt ist. Ihre rechtsspezifische Prüfung wird mit der Frage eingeleitet, ob sie mit jedermanns Freiheit, sich seine Handlungsmaximen zu wählen, nach einem allgemeinen Gesetz zusammenbestehen kann, also mit einem solchen Gesetz (widerspruchsfrei) verträglich ist. Hat die ursprüngliche Handlungsmaxime die Kant, Reflexionen zur Moralphilosophie, AA XIX, R 8104, Hervorh. R.E. Op. post., S. 111, Hervorh. R. E. 9 S. 86**. 10 Op. post., AA XXII, S. 426, Hervorh. R. E. 11 Ebd. 7 8

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Form Ich will so-und-so handeln, dann lautet die entscheidende Testfrage, ob die allgemein-gesetzlich verpflichtende Form Jeder Mensch muß so-und-so handeln dieser Maxime auch nur einen einzigen Menschen – also auch den ursprünglichen Maximeninhaber – in seiner Wahlfreiheit einschränkt. Als exemplarischer Fall kann der Fall dienen, in dem jemand die Maxime hegt Ich will irgendeinem meiner Nachbarn einen Teil seines Besitzes entwenden – wie die Rechtsstatistik aller Zeiten zeigen kann, eine Handlungsmaxime, wie sie faktisch niemals aufgehört hat, das Handeln von Menschen zu bestimmen. Das gesetzliche Gegenstück dieser Maxime ist Jeder Mensch muß irgendeinem seiner Nachbarn einen Teil seines Eigentums bzw. Besitzes entwenden. Kants Kriterium läßt den ursprünglichen Maximeninhaber erkennen, daß seine Maxime nicht recht ist, weil ihre gesetzliche Verallgemeinerung sowohl ihn selbst wie jeden beliebigen anderen Menschen zum gesetzlich legitimierten Opfer von jedermanns Freiheit macht, einen Teil seines Eigentums bzw. Besitzes zu entwenden – also willkürliche wechselseitige Schädigung des persönlichen Eigentums bzw. Besitzes zum Gesetz macht. Es liegt auf der Hand, daß es diese Erkennbarkeit wechselseitiger, gesetzlich legitimierter willkürlicher Schädigungen ist, was dieses Verfahren zu einem genuinen Kriterium macht, mit dessen Hilfe jeder Mensch erkennen kann, was recht bzw. unrecht ist. Denn recht ist in ihrem Licht jede Maxime, deren gesetzliche Verallgemeinerung erkennen läßt, daß sie eine wechselseitige, gesetzlich legitimierte willkürliche Schädigung jedes beliebigen Menschen durch jeden beliebigen anderen Menschen nicht zur Konsequenz hat. Dieses konsequentialistische Rechtskriterium ist in Rousseaus Sprache das Ergebnis des ›durch die Vernunft aufgeklärten Menschen der Natur‹ – ›des Menschen der Natur‹, weil es die Rechtsbeziehungen der Menschen unabhängig von den positiven Gesetzen eines republikanischen Gemeinwesens erkennbar macht und seine Benutzer ›durch die Vernunft aufgeklärt‹ sein läßt. Denn es macht Kants generelle kriteriologische Konzeption des »Formalismus der Vernunft«12 zugunsten eines einfachen formal-prozeduralen Kriteriums des Rechts fruchtbar. 12

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 462. 85

Die Konzentration dieses Rechtskriteriums auf den vorpositiven Charakter der Rechtlichkeit bringt sogar eine Tragweite für die Beurteilung des positiven Rechts mit sich. Kant hat diese Tragweite mit den Überlegungen vor Augen geführt, die »Einhelligkeit der Politik mit der Moral«13 aufzuweisen. Diese Tragweite hat Kant entdeckt, indem er »Die Form der Publizität« erwogen hat, »deren Möglichkeit ein jeder Rechtsanspruch in sich enthält«.14 Er hat die Möglichkeit dieser Einhelligkeit von zwei einander ergänzenden spezifischen Kriterien abhängig gemacht. Denn »Diese Fähigkeit der Publizität muß jeder Rechtsanspruch haben«, weil »es sich ganz leicht beurteilen läßt, ob sie in einem vorkommenden Falle statt finde, d. i. ob sie sich mit den Grundsätzen des Handelnden vereinigen lasse oder nicht«, und kann daher »ein leicht zu brauchendes, a priori in der Vernunft anzutreffendes Kriterium abgeben«.15 Die politische Dimension dieses Themas ergibt sich aus der Zuständigkeit der Politik für die Gesetzgebung in einem Gemeinwesen und dem mit jedem Gesetz verbundenen Rechtsanspruch. Das von Kant zu bedenken gegebene Kriterium eröffnet daher auch jedem Bürger eines solchen Gemeinwesens zu beurteilen, ob ein entsprechendes Gesetz die Fähigkeit der Publizität besitzt oder nicht. Doch bei dieser Bindung von Rechtsansprüchen an die Fähigkeit der Publizität handelt es sich um eine ingeniöse Transformation des kategorischen Moral-Imperativs des § 7 der Kritik der praktischen Vernunft in ein Kriterium (Prinzip) des öffentlichen Rechts. Denn das mit diesem Moralimperativ verbundene Beurteilungsverfahren zeigt, daß »Die Lüge […] der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur [ist]«.16 Denn bei der Lüge handelt es sich im Rahmen der unmittelbaren persönlichen Kommunikation einer individuellen Person mit einer – oder mehr als einer – anderen individuellen Person um ein täuschungstaktisches Zum ewigen Frieden, AA VIII, S. 381. Ebd., Kants Hervorhebung. 15 Ebd. 16 »Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie« (1796), AA VIII, S. 411 – 422, hier: S. 422. – Zum methodischen Mikroformat dieses Beurteilungsverfahrens vgl. vom Verf., Autonomie und Humanität. Wie kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren (12001), wieder abgdr. in: ders., Vernunft und Urteilskraft. Kant und die kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis, Freiburg 2017, S. 50 – 94. 13 14

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bzw. -strategisches Beschweigen einer Tatsache – in der Regel vor allem der Tatsache, daß die lügende Person im Schutz dieser Täuschungstaktik bzw. -strategie als Erfolg einen persönlichen Vorteil zum Nachteil, vielleicht sogar zum Schaden der getäuschten Person herbeiführen oder zumindest begünstigen will. Beides – der Vorteil der lügenden Person und der Nachteil der belogenen Person – gehört zu den Voraussetzungen (Präsuppositionen) des Erfolgs jeder beliebigen Lüge. Den spezifisch moralischen Makel bringt das Beurteilungsverfahren, das mit dem kategorischen Moralimperativ verbunden ist, durch die Testfrage ans Licht, ob die lügenhafte Willensmaxime des Lügners tauglich ist, als »Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung«17 zu dienen. Auch ohne alle einzelnen Schritte des Beurteilungsverfahrens zu durchlaufen, kann man die Antwort auf diese Testfrage durch relativ einfaches, aber sorgfältiges Nachdenken finden: Wenn alle Menschen  – einschließlich des faktischen Lügners – durch ein allgemeines Gesetz verpflichtet wären, in jeder dafür geeigneten Situation zu lügen, dann wären wechselseitiges Vertrauen und Zutrauen zwischen Menschen auch in bescheidenstem Maß unmöglich.18 Erst durch diese Antwort auf die mit dem kategorischen Moralimperativ verbundene entscheidende Testfrage kommt der moralische Gehalt ans Licht, auf den dieses Moralkriterium konzentriert ist: Die Menschen sind mit den für ihr Leben nötigen Erfolgen bzw. Zwecken praktisch darauf angewiesen, daß sie einander vertrauen können, mit ihren sprachlichen und ihren nichtsprachlichen Handlungsweisen keine täuschungstaktischen bzw. -strategischen Erfolgsintentionen (Willensmaximen) zu verbinden. Es ist diese negative Bedingung unmoralischer Erfolgsintentionen, die Kant in »die transzendentale Formel des öffentlichen KpV, AA V, S. 30. In dieser vergleichsweise einfachen Reflexion hat vor allem Günther Patzig, Die Begründbarkeit moralischer Forderungen (11966), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften I. Grundfragen der Ethik, Göttingen 1994, S. 44 – 71, hier S. 67 f., 70 f., die Antwort auf diese Testfrage zu Recht zusammengefaßt. – Zur Kritik an Patzigs gleichwohl irrigen Vorbehalten gegen eine sog. ZweiWelten-Metaphysik von Kants Moralphilosophie vgl. vom Verf., Moralität und Nützlichkeit, Rezension von: Günther Patzig, Gesammelte Schriften I. Grundlagen der Ethik, Göttingen 1994, 303 S. – Gesammelte Schriften II. Angewandte Ethik, Göttingen 1993, 191 S., in: Philosophische Rundschau, Bd. 44, Heft 2 (1997), S. 152 – 66. 17 18

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Rechts« transformiert: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht«.19 Denn die Unverträglichkeit einer solchen Handlungsmaxime mit der Publizität ist nichts anderes als die Unverträglichkeit des intendierten Zwecks bzw. Erfolgs mit der Publizität ihrer stillschweigenden täuschungstaktischen bzw. -strategischen Erfolgsintention. Deswegen ergänzt Kant das negative Kriterium durch das positive Kriterium: »Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen«.20 Insbesondere bedürfen die von der Politik entworfenen Gesetze, die der Publizität bedürfen, einer gemeinsamen Anstrengung der einem solchen Gesetz unterworfenen Bürger, um ›deren Zweck nicht zu verfehlen‹. Doch auch ganz unabhängig von Kants komplexer Moral- und Rechtskriteriologie läßt sich durch eine relativ einfache formale Überlegung am Leitfaden des Strafrechts zeigen, daß und wie das moralbasierte Prinzip des öffentlichen Rechts in diesem speziellen Rechtssystem eine geradezu paradigmatische Anwendung findet. Denn alle strafbewehrten Handlungsweisen sind durch eine Struktur charakterisiert, zu der gehört, daß ihre Akteure den von ihnen intendierten Erfolg bzw. Zweck nur im Schutz eines täuschungstaktischen bzw. -strategischen Beschweigens dieses Erfolgs bzw. Zwecks erzielen können. Also ihre ›Maximen bedürfen der NichtPublizität, um ihren Zweck nicht zu verfehlen‹. Wie gründlich Kant sich mit der anthropologischen Fundierung dieses Problems auseinandergesetzt hat, zeigt ein nicht sehr bekanntes para-anthropologisches irreales Konditional, das Kant gelegentlich erwogen hat: Kant unterstellt hier probehalber, »daß auf irgendeinem anderen Planeten vernünftige Wesen wären, die nicht anders als laut denken könnten, d. i. im Wachen wie im Träumen, sie möchten in Gesellschaft oder allein sein, keine Gedanken haben könnten, die sie nicht zugleich aussprächen. Was würde das für ein von unserer Menschengattung verschiedenes Verhalten gegen einander abgeben ?«.21 Das würde vor allem deswegen ein ganz anderes Verhalten gegeneinander abgeben, weil solche Wesen die Zum ewigen Frieden, S. 381. S. 386, Kants Hervorhebung. 21 Anthropologie, AA VII, S. 332. 19

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Technik des Lügens nicht praktizieren könnten. Und zwar könnten sie diese Technik offensichtlich deswegen nicht praktizieren, weil sie aus genetischen Gründen nicht im Stillen das Gegenteil eines Gedankens für wahr halten könnten, den sie laut – und insofern öffentlich  – für einen von ihnen für wahr gehaltenen Gedanken ausgeben. Dieses irreale Konditional über eine nicht-menschliche genetische Konstitution für die öffentliche Artikulation von Gedanken wird von Kant nach seinem eigenen Bekunden deswegen erprobt, weil es eine Möglichkeit eröffnet, ein Gegenmodell zu einem humangenetisch verankerten Verhaltensmuster zu entwerfen. Im Rahmen dieses Gegenmodells kann man planmäßig alle die Verhaltensweisen zu ermitteln suchen, die von Akteuren dann nicht praktiziert werden können, wenn sie aus genetischen Gründen die Technik des Lügens nicht praktizieren können. Zu diesen impraktikablen Verhaltensweisen gehören dann aber nicht nur Lügen, sondern auch falsche Versprechungen und alle anderen Formen von täuschenden kommunikativen Akten. Dazu gehören aber offensichtlich auch alle nicht-kommunikativen Handlungsweisen, zu deren Erfolgsbedingungen das Lügen oder andere täuschungsstrategische Techniken des Beschweigens von Gedanken gehören, die von den Urhebern dieser Handlungsweisen für wahr gehalten werden. Beispielsweise das Stehlen gehört unter solchen Voraussetzungen zu den impraktikablen Handlungsweisen. Denn eine der charakteristischen Erfolgsbedingungen des Stehlens – die täuschungsstrategische Verbergung seines Zieles durch dessen Beschweigen – kann unter solchen genetischen Voraussetzungen nicht erfüllt werden. Kants para-anthropologisches Modell einer Gattung von Lebewesen, die aus genetischen Gründen weder die Technik des Lügens noch die des Betrügens noch eine andere Technik täuschungsstrategischen Schweigens praktizieren können, eröffnet daher in erster Linie eine methodische Möglichkeit: Man kann die unwahrhaftigen Verhaltensweisen, die die Menschen aus genetischen Gründen nun einmal praktizieren können, einer ganz und gar amoralischen, rein technizistischen und funktionalistischen Betrachtungsweise zugänglich machen. In dieser Betrachtungsweise zeigen sich die unwahrhaftigen Verhaltensweisen in der Rolle von Erfolgsbedingungen aller anderen Verhaltensweisen, die wie z. B. das Stehlen 89

im strategischen Schutz ihrer unwahrhaftigen Verhaltensweisen praktiziert werden. Darüber hinaus zeigt sich durch eine solche Betrachtungsweise aber auch, daß jede beliebige Verhaltensweise, die ein Mensch an den Tag legt, von ihrem Urheber im strategischen Schutz einer unwahrhaftigen Verhaltensweise praktiziert werden könnte. Und schließlich zeigt sich, daß in der Hauptsache nur noch eine einzige Frage offenbleibt, wenn man in diesem technizistischen und funktionalistischen Sinne erst einmal geklärt hat, daß unwahrhaftige Verhaltensweisen als Erfolgsbedingungen beliebiger anderer Verhaltensweisen fungieren  – die Frage nach den Erfolgsbedingungen der unwahrhaftigen Verhaltensweisen selbst. Doch mit der Antwort auf diese Frage eröffnet sich unmittelbar auch eine Möglichkeit, den Aspekt zu erfassen, unter dem die unwahrhaftigen Verhaltensweisen nicht nur selbst eine moralische Valenz haben können, sondern auch den Ursprung von allen anderen moralischen Valenzen abgeben können. Denn mit einer unwahrhaftigen Verhaltensweise kann jemand A nur dann Erfolg haben, wenn es mindestens einen Interaktionspartner B gibt, der irrigerweise meint, daß A sich wahrhaftig verhalte – also wenn z. B. ein Adressat eines Lügners irrigerweise meint, daß der Lügner wahrhaftig rede –, oder wenn z. B. ein Adressat eines täuschungsstrategischen Schweigens irrigerweise meint, daß sein Kommunikationspartner sein Schweigen über bestimmte Sachverhalte nicht mit dem Ziel einsetze, daß sein Adressat im Blick auf diese Sachverhalte in einen Irrtum befangen ist. Kants fundamental-anthropologische Diagnose der Lüge als des ›eigentlichen faulen Flecks in der menschlichen Natur‹ zeigt in Verbindung mit seinem para-anthropologischen irrealen Konditional über die genetische Unfähigkeit zu lügen in besonders erhellender Weise, warum man den ›Enthusiasmus der Rechtsbehauptung‹ und das Recht des Menschen als ›der Augapfel Gottes‹ (s. o. S. 83 f.) nicht für eine überschwengliche Schwärmerei, sondern für eine ebenso nüchterne wie tiefgründige anthropologische Diagnose halten sollte. Kants Gebrauch der alttestamentarischen Metapher gibt jedenfalls unmißverständlich zu verstehen, in welcher Tiefendimension er sich mit seinen Erörterungen von Kriterien der Moral, des Rechts und der Politik verortet.

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18. Vom hoffnungs-sentimental schwankenden bourgeois zum rechtstreuen citoyen (Von Rousseau zu Kant II)

Vor allem Kants Rechtskriterium vermeidet eine inhärente Schwäche der Politischen Philosophie von Rousseaus Du contrat social. Durch seine Konzentration auf das Politische Recht (Du droit politique) und damit auf die spezifische Freiheit des Bürgers (citoyen) eines republikanischen Gemeinwesens, aber gerade nicht auf die des Menschen von Natur (l’homme de nature) entwirft Rousseau eine rechtspolitische Struktur, in der zwar jeder Bürger die Freiheit hat, in der Bürgerversammlung über die relative Gutheit einer Regierung zu urteilen (vgl. oben S. 47 f.), auch über die ihrer Gesetzesvorlagen.1 Doch ein von positiven Gesetzen unabhängiges Kriterium, in dessen Licht jeder Mensch erkennen könnte, ob eine seiner oder eines Mitmenschen Handlungsweisen bzw. Handlungsmaximen recht oder unrecht ist, lag noch ganz außerhalb von Rousseaus Horizont. Denn innerhalb seines rechtspolitischen Horizonts ist es jederzeit möglich, daß durch ein von der Mehrheit der Bürger in Kraft gesetztes Gesetz2 etwas zur Rechtspflicht aller Bürger macht, was den Neigungen des einen oder anderen von deren Minderheit widerstreitet. Wenn Rousseau in den Rêveries bekennt, ›daß ich in Wahrheit niemals für die bürgerliche Gesellschaft geeignet war‹ (vgl. oben S. 79 f.), dann zieht er bei genauerem Hinsehen eine persönliche Konsequenz aus der rechtspolitischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, die er im Traktat Vom Gesellschaftsvertrag selbst als die beste entworfen hat. Zu Recht erkennt er, daß diese Struktur nicht verhindern kann, daß positive Gesetze in Kraft gesetzt werden, die Bürger wie Rousseau zu Handlungsweisen verpflichten, die sie in unauflösliche Konflikte mit ihren Neigungen Vgl. Enskat, Das Desiderat einer politischen Aufklärung – Die Republik der Urteilskraft, in: ders, Aufklärung, S. 425 – 514. 2 »Pour qu’une volonté soit générale il n’est pas toujours nécessaire qu’elle soit unanime«, Du contrat social, O. C. III, S. 369*. 1

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verstricken. Denn »Es [ist] mir in jeder vorstellbaren Angelegenheit ganz und gar unmöglich […] zu tun, was ich nicht mit Freude tue«.3 Indessen bietet Kants Rechtskriterium jedem Bürger gerade schon in seiner Eigenschaft als Mensch und trotz seiner Mitgliedschaft in einer bürgerlichen Gesellschaft im emphatischen Sinne eine praktisch eminent wichtige Erkenntnismöglichkeit – also Aufklärung. Denn im Licht dieses Kriteriums erweist sich das rechtliche Handeln als unabhängig von »der langen Übung, der ständigen Praxis und schließlich Habitualisierung der Tugend«, 4 die Rousseau die Ausübung von tugendabhängigen bürgerlichen Pflichten unter Umständen so freudlos erscheinen lassen. Das rechtliche Handeln des Menschen als Mensch wird in diesem Licht zu einer ausschließlichen Angelegenheit einer kriteriengeleiteten Einsicht in die Rechtlichkeit seiner jeweiligen Handlungsweise und ihrer Maxime. Doch Kants Rechtlichkeits-Kriterium ist bei genauerem Hinsehen durch eine subtile Verknüpfung mit dem Kriterium verbunden, das Rousseaus Gemüt die Erfahrung persönlichen Glücks vermittelt. Diese Erfahrung verdankt sich der Bewährungsprobe der Reflexion (l’épreuve de la réflexion5). Diese zielt auf das, dessen er sich selbst als fähig oder aber als nicht fähig erkennt – also einer ganz persönlich-individuellen Selbsterkenntnis, insbesondere aber der Selbsterkenntnis, daß ›es mir in jeder vorstellbaren Angelegenheit ganz und gar unmöglich ist zu tun, was ich nicht mit Freude tue‹. Im Unterschied hierzu gewinnt Kant das Rechtskriterium durch eine ganz neuartige ›Bewährungsprobe der Reflexion‹: Ihm gelingt eine anthropologische Selbsterkenntnis dessen, was seine und jedes anderen Menschen rechtliche Urteilsfähigkeit vermag. Mit ihrer – und nur mit ihrer – Hilfe kann er erkennen, daß sich für ihn und jeden anderen (menschlichen) Träger dieser Urteilsfähigkeit die Aussicht eröffnet, ›ein rechtliches und somit glückliches Mitglied des gemeinen Wesens während dem Leben‹ zu sein (s. o. S. 84). Der homme de la nature éclairé par la raison findet erst durch diesen spezifisch rechtlichen épreuve de la réflexion zu sich selbst. »En toute chose imaginable, ce que je ne fais pas avec plaisir m’est bientot impossible à faire«, Rêveries, S. 1081. 4 Heinrich Meier, Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries in zwei Büchern, München 2011, S. 196. 5 Rêveries, S. 1075. 3

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Man wird sich nicht gut an irrealen Erwägungen darüber versuchen, ob es Rousseau unter diesen Vorzeichen möglich gewesen wäre, das in diesem Licht als Rechtspflicht Erkennbare ›mit Freude zu tun‹. Doch das Glück (bonheur), das ihm vorschwebt und das er wenigstens für eine kurze Zeit auf der Petersinsel erfahren hat, 6 unterscheidet sich ganz und gar von dem Glück, ›ein rechtliches und somit glückliches Mitglied des gemeinen Wesens während dem Leben‹ zu sein. Mit guten Gründen erörtert Heinrich Meier das von Rousseau ersehnte und zeitweilig gefundene Glück in differenzierter Abgrenzung gegen das Glück des ›holden Augenblicks‹, dem er zurufen könnte, ›verweile doch, du bist so schön !‹.7 Das Urteil über das Glück des glücklichen Lebens, zu dem ein rechtliches Mitglied des gemeinen Wesens finden kann, ähnelt indessen strukturell viel mehr dem Urteil über das Glück, das Sophokles der Mahnung des Chors am Ende des König Ödipus in den Mund legt: »[…] keinen darf man glücklich preisen, eh er denn / an des Lebens Ziel gelangt ist und kein Leid erduldet hat«8 – kein Leid, wie es aus dem eigenen Tun des Unrechts entsteht.

Vgl. Rêveries, S. 1077 f. Vgl. Meier, Glück, S. 166 ff. 8 ἡμέραν ἐπισκοποῦντα μηδέν’ ὀλβίζειν, πρίν ἂν / τέρμα τοῦ βίου περάσῃ μηδὲν ἀλγεινόν παθών, v. 1529 – 1530, Sophokles, König Oidipus, in: ders., Tragödien und Fragmente. Griechisch und deutsch, herausgegeben und übersetzt von Wilhelm Willige, überarbeitet von Kurt Bayer, München 1966, S. 356 – 449, hier: S. 449. 6 7

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19. Bewährungsproben der religionsphilosophischen Reflexion (Rainer Specht und Kant)

Der von Mittelstraß eingeschlagene Weg der philosophischen Aufklärungsforschung hat vor allem in methodischer Hinsicht in präzedenzloser Weise gezeigt, wie man mit Blick auf das von Cassirer apostrophierte ›Ganze dieser hin und hergehenden, dieser unablässig-fluktuierenden Bewegung‹ der Bemühungen um Aufklärung eine aufschlußreiche Orientierung gewinnen kann: Dies ist nur dann möglich, wenn man die Leitaspekte einer solchen Orientierung mit möglichst großer Trennschärfe wählt. Je größer diese Trennschärfe ist, um so mehr bleiben zwar andere ebenso relevante Aspekte ausgeblendet, aber um so gezielter kann man innerhalb der thematischen Grenzen einer entsprechend engen Orientierung auch nach Aufschlüssen für eine Antwort auf die leitenden Fragen suchen. Die Trennschärfe der Aspekte Aufklärung und neuzeitliche Wissenschaft war jedenfalls stark genug, um in das ›Ganze der hin und hergehenden, der unablässig-fluktuierenden Bewegung‹ der Bemühungen um Aufklärung eine Schneise zu schlagen, deren thematische Enge eine um so gezieltere und aufschlußreichere Orientierung möglich machte. Wie vor allem die entsprechende Trennschärfe der von Specht gewählten Aspekte Innovation und Folgelast zeigen kann, haben solche alternativen heuristischen Aspekte und Orientierungen vor allem eine den jeweils früheren oder konkurrierenden Vorentwurf ergänzende und skeptisch relativierende Funktion. Mittelstraß’ noch von verhaltenem Optimismus geprägter Entwurf des Zusammenspiels von Aufklärung und neuzeitlicher Wissenschaft hatte es allerdings auch zu seiner Zeit schon dringend nötig, durch eine konstruktive Alternative ergänzt und skeptisch relativiert zu werden. Spätestens seit dem fast schon legendären Bericht des Club of Rome von 1972  – also ein Jahr nach Mittelstraß’ Publikation und genau im Jahr von Spechts Publikation  – haben die immer drängender werdenden Erfahrungen mit den Ambivalenzen der 94

ununterbrochenen Einführung wissenschaftsbasierter technischer Innovationen in unsere weltweite Lebenswelt diese skeptische Relativierung längst zu einer Alltagsweisheit werden lassen. Daß die Folgelasten, die zu riskanten, schädlichen oder gefährlichen Valenzen dieser Ambivalenz gehören, wiederum nur durch wissenschaftsbasierte technische Fortschritte neutralisiert bzw. überwunden werden können, sollte von den Alltagsweisheiten indessen ebenso respektiert werden. Doch auch die religiösen, theistischen Lemmata, die in Spechts Gegenentwurf den Verlust der Hoffnung auf einen rettenden Gott der radikal-empiristischen Tradition Lockes zuschreiben (s. o. S. 32  f.), müssen sich der von Rousseau geforderten épreuve de la réflexion stellen. Insbesondere die von Kant erarbeitete ›critische‹ Bewährungsprobe der Reflexion, daß ›Religion zu haben nicht der Begriff von Gott und noch weniger das Postulat Es ist ein Gott gefordert wird‹ (s. o. S. 83 f.), leitet die bis heute vielleicht am tiefsten durchdachte Bewährungsprobe ein. Allerdings hat Specht im Rahmen seiner kritischen Analysen von Lockes empiristischer Erkenntnistheorie zu Recht betont: »Erst Kant entwirft eine Methode, die die Metaphysik […] von den Veränderungen des Tatsachenwissens unabhängig macht«.1 Sogar Kant selbst charakterisiert seine Erste Kritik als einen »Traktat von der Methode«.2 Doch als er das 1787 schrieb, war er selbst noch weit davon entfernt, die Tragweite zu überblicken, die die hier traktierte Methode für seine ›critische‹ Behandlung der Gottesfrage und der Rechtsphilosophie mit sich bringen würde. In der Tradition von Daniel Defoes fulminanter Satire über die Projektemacherei 3 weiß Kant indessen nur zu gut, daß »Pläne machen […] mehrmalen eine üppige, prahlerische Geistesbeschäftigung [ist], dadurch man sich ein Ansehen von schöpferischem Genie gibt, indem man fordert, was man selbst nicht leisten, tadelt, was man doch nicht besser machen kann, und vorschlägt, wovon man selbst nicht weiß, wo es zu finden ist«.4 Dieser Verfallsform allen Planens setzt Kant während seiner mehr als drei Jahrzehnte wäh Specht, Folgelast, S. 217. KrV, B XXII. 3 Daniel Defoe, An Essay upon Projects, London 1697. 4 Prolegomena, AA IV, S. 262–63, Kants Hervorhebungen. 1 2

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renden urteilsanalytischen Arbeit ein einzigartig fruchtbares Paradigma entgegen. Am Ende seines ›critischen‹ Wegs kann er dessen nahezu hyperkomplexe Schrittfolge mit um so größerer Berechtigung in entsprechend ›critische‹ Auseinandersetzungen mit den Urteilen der überlieferten christlichen Theologie und Religionsphilosophie über Gott münden lassen – und damit auch in eine Auseinandersetzung mit einer ›Tradition von so unbedingter Autorität, wie es die Tradition der Offenbarungsreligionen ist‹ (Leo Strauss). Doch nicht zuletzt unkontrollierte Vorurteile wie die von Strauss über Kants Beitrag zu den Bemühungen um Aufklärung haben zur unnötigen Verdunkelung dieses Beitrags geführt: Kants Weg führt von der Kritik der überlieferten Ontotheologie in der Kritik der reinen Vernunft über die Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft zum Paradox einer atheistischen rechtsphilosophischen Religion. Deren Konzeption hat er aber während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. aus Furcht vor der kirchenpolitischen Zensur des fanatischen Pietisten Wöllner im Amt des preußischen Kultusministers in privaten Aufzeichnungen verborgen. Indessen hat Kant dem Publikum »das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht […] erkennen könne«, 5 durchaus nicht vorenthalten. Es bildet auch nicht nur den Kern seiner paradoxen atheistischen Rechtsphilosophie der Religion. Vor allem bildet es einen integralen Teil seiner Metaphysik, der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre. Das hat Specht trotz seines wichtigen Hinweises auf die von Kant entworfene ›Methode, die die Metaphysik von den Veränderungen des Tatsachenwissens unabhängig macht‹, nicht berücksichtigt. Doch mit einem solchen Kriterium verortet Kant die praktischen Erkenntnismöglichkeiten des Menschen in einer kognitiven Sphäre, die dem von Specht erörterten Empirismus Lockes unzugänglich ist. Es bleibt die Frage vorläufig offen, ob in dieser metaphysischen Sphäre – und im Gegensatz zu Lockes Empirismus  – vielleicht auch noch die Wirklichkeitserfahrung der eucharistischen Verwandlung möglich ist.6

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Kant, MS, S. 230. Vgl. hierzu unten S. 63 – 68, bes. S. 66 f.

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20. Der verborgene Konsequentialismus der gottgläubigen Hoffnung auf die jenseitige Glückseligkeit der Seele (Kant I)

Die Ontotheologie mit ihren Urteilen über die Existenz eines trans­ zendenten Gottes wird von Kant zum ersten Mal in eine tiefgehende Prüfung der Kriterien verstrickt, auf die sich die Menschen wegen ihrer kognitions-anthropologischen Grundausstattung generell verlassen müssen, wenn sie zuverlässige Urteile über die Existenz-von-was-auch-immer zu gewinnen suchen. Doch durch seine rund zehnjährigen ›zetetischen‹, also suchend-forschenden Arbeiten auf dem ›critischen‹ Weg zur Ersten Kritik hat Kant schließlich den springenden Punkt gefunden: »Die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert Wahrnehmung, mithin Empfindung, deren man sich bewußt ist«,1 und »die Wahrnehmung aber, die den Stoff zum Begriff hergibt, ist der einzige Charakter der Wirklichkeit«.2 Diese für die Ontotheologie ernüchternde kriteriologische Einsicht in die Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnis des Wirklichen konnte für Kant nicht das letzte Wort sein, sofern es um den spezifisch christlichen Gehalt des Gottesbewußtseins geht. Der Verlust der Hoffnung auf einen rettenden Gott, den Specht in seiner Bilanz der radikal-empiristischen Tradition Lockes zuschreibt, ließ auch für Kants jahrzehntelang gehegtes persönliches Gottesbewußtsein noch eine ›critische‹ Möglichkeit offen, die Existenz eines rettenden Gottes ernst zu nehmen. Das ist um so bemerkenswerter, als das von ihm formulierte wahrnehmungsrelative Wirklichkeitskriterium perfekt in Lockes radikal-empiristische Tradition zu passen scheint. Doch abgesehen davon, daß dieses Kriterium in den weit gespannten, nahezu hyperkomplexen Zusammenhang seiner nicht-empiristischen Theorie der Erfahrung gehört, 3 sieht Kant klarer als radikale Empiristen, daß der christliche Glaube an einen KrV, A 225, B 272, Kants Hervorhebungen. Ebd. 3 Vgl. hierzu vom Verf., Urteil und Erfahrung, Zweiter Teil, bes. S. 289 – 393. 1 2

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rettenden Gott auf besonderen, mit der praktischen Daseinsform des Menschen verbundenen Gründen beruht. Denn trotz der Innerweltlichkeit dieser praktischen Daseinsform sieht Kant in der theoretischen Situation seines ›critischen Wegs‹ in den 80er Jahren eine Möglichkeit, den von den Christen erhofften rettenden Gott in seiner radikalen Transzendenz ernst zu nehmen. Die Möglichkeit, dies zu zeigen, ergreift er bekanntlich 1787 im Rahmen der Kritik der praktischen Vernunft. Die Möglichkeit, die Existenz eines rettenden und gleichwohl transzendenten Gottes zu beweisen, ergibt sich hier für ihn zumindest vorläufig aus einer uralten praktischen Lebenserfahrung – daß nämlich die Rechnung des braven Mannes in unserer Lebenswelt niemals ganz aufgeht. Er traut sich daher zu, ein ausschließlich in praktischer Hinsicht vernünftiges Argument zu bedenken zu geben: Um die Rechnung des braven Mannes stets aufgehen zu lassen, sei es für diesen vernünftigerweise nötig, an die Existenz eines weisen, allwissenden und gerechten Gottes zu glauben4 , ebenso wie an die Unsterblichkeit der Seele.5 Mit Blick auf die Aufgaben und die Möglichkeiten der Philosophie besteht eine wichtige Pointe dieses Arguments offensichtlich darin, daß es als Argument ›den braven Mann‹ unabhängig davon sein läßt, ob er für das Geschehnis der Offenbarung eines transzendenten Gottes empfänglich ist oder nicht. Doch für ›den braven Mann‹ selbst ist es mit einem für seine irdischen Hoffnungen mißlichen strukturellen Mangel verbunden. Denn die seine Hoffnungen erfüllende Rettung wird nicht ihm selbst und in dieser Welt zuteil, sondern seiner unsterblichen Seele, sofern sie auf ihrem post-mortalen Weg der moralischen Selbstläuterung einen Grad an Lauterkeit erreicht, durch den sie sich für den weisen, allwissenden und gerechten Richterspruch Gottes eines wohlproportionierten Maßes an Glückseligkeit als würdig erweist. Doch in die Postulaten-Konzeption der Kritik der praktischen Vernunft hat sich, ganz unbeschadet der methodologischen Ingeniösität ihrer Beweiskonzeption, ein neuralgischer Punkt eingenistet. Es geht dabei um die Gründe der Berechtigung für »die Kritik der praktischen Vernunft (= KpV), AA V, S. 124 ff. S. 122 ff.

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Hoffnung […], der Glückseligkeit dereinst in dem Maße teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen sind, ihrer nicht unwürdig zu sein«.6 Es fällt sogleich auf, daß die Bedingung unseres Bedachtseins darauf, der Glückseligkeit nicht unwürdig zu sein, in Verbindung mit einer zweiten Bedingung ein unscheinbares, aber unverkennbar konsequentialistisches Moment in die Argumentation importiert. Diese zweite Bedingung formuliert Kant, wenn er zu bedenken gibt, »daß alle Würdigkeit auf das sittliche Verhalten ankomme«.7 Er betont zwar ausdrücklich, daß die Verbindung dieser beiden Bedingungen »[…] […] nicht mit einem Erwerbsmittel derselben [also der Glückseligkeit, R. E.] zu tun [hat]«, 8 sondern »lediglich mit der Vernunftbedingung derselben«9, also der Glückseligkeit. Doch die negative Abgrenzung dieser Vernunftbedingung gegen ein Erwerbsmittel kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Vernunftbedingung lediglich kein Mittel zum direkten innerweltlichen Erwerb der Glückseligkeit ist, wohl aber die sogar wichtigste Bedingung zum Erwerb eines wohlproportionierten jenseitigen Anteils der unsterblichen Seele an dieser Glückseligkeit. Es ist unter diesen Voraussetzungen aber lediglich eine Angelegenheit einer wie auch immer motivierten Formulierungskunst Kants, nicht in aller Unverblümtheit von einer instrumentellen Vernunftbedingung, also von einem Vernunft-Mittel zum Erwerb eines wohlproportionierten Anteils an der Glückseligkeit zu sprechen. Dadurch braucht sich nichts an der Bedingung zu ändern, daß ›alle Würdigkeit (dieser Glückseligkeit) auf das sittliche Verhalten ankomme‹. Denn das sittliche Verhalten ist unter diesen Voraussetzungen das Mittel – wenngleich das Vernunftmittel – zum Erwerb dieser Form von Würdigkeit; das von Kant zu bedenken gegebene Bedachtsein des sittlich handelnden Subjekts auf diese Form von Würdigkeit ist ein unverkennbar konsequentalistisches Motiv; und die wohlproportionierte Teilhabe an dieser Form von Glückseligkeit ist der transzendente Gewinn, auf den der sittlich Handelnde zugunsten seiner unsterblichen Seele hoffen darf. S. 234. Ebd. 8 S. 235. 9 S. 234 – 35. 6 7

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Gewiß handelt es sich bei diesem Entwurf, in der Terminologie der aktuellen Ethik formuliert, um einen außerordentlichen Typ von Konsequentialismus, in der traditionellen Sprache Kants um einen transzendenten Eudaimonismus. Denn es ist die unsterbliche Seele des sittlich handelnden Subjekts, die erst jenseits des irdischen Lebens ihres individuellen Trägers an diesem wohlproportionierten Verdienst ihres Trägers teilhaben kann. Doch es ist diese welt-transzendente eudaimonistische Verdienststruktur, die unverträglich ist mit der strikt nicht-konsequentialistischen Struktur von Kants um den Kategorischen Imperativ zentrierter Moralphilosophie. Die konsequentialistische Struktur hält in indirekter Form sogar in einem ganz innerweltlichen Sinne Einzug in Kants Postulatenlehre. Denn Kant argumentiert: »Nur dann, wenn Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maß teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen sind, ihrer teilhaftig zu werden«.10 Diese Hoffnung bildet den wichtigsten innerweltlichen Gewinn, den die von Kant hier konzipierte Religion jeder sittlich handelnden Person mit sich bringt. Doch auch dieser sublime innerweltliche, seelische Gewinn ist unverträglich mit Kants nicht-konsequentialistischer Moralphilosophie. Es gibt sogar ein einfaches, genuin Kantisches Mittel, diese teilweise weltimmanente Form des Konsequentialismus und teilweise welttranszendente Form dieses Eudaimonismus zu prüfen. Man kann diesen beiden miteinander verflochtenen Formen der Ethik die Form hypothetischer Imperative, also, wie Kant sie ja auch erläutert, von technischen oder von Klugheits-Imperativen geben: 1. Wenn Du Deiner unsterblichen Seele zu einem möglichst großen Anteil an der Glückseligkeit verhelfen willst, dann handle so durchgängig wie möglich in sittlich untadeligen Formen ! 2. Wenn Du eine möglichst große berechtigte Hoffnung auf einen möglichst großen Anteil Deiner Seele an der Glückseligkeit hegen willst, dann handle so durchgängig wie möglich in sittlich untadeligen Formen ! Doch trotz der Unverträglichkeit zwischen der die moralische Urteilskraft des Menschen erhellenden nicht-konsequentialistischen Ethik des kategorischen Moralimperativs und dem diese 10

S. 234, Hervorhebung R.E.

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moralische Urteilskraft übersteigenden, also welt-transzendenten (konsequentialistischen) Eudaimonismus der Postulaten-Konzeption hat Kant selbst einen systematischen Wink gegeben, wie sich diese Unverträglichkeit relativieren läßt: Er hat diese Konzeption nicht im doktrinalen Teil der Kritik der praktischen Vernunft, in deren Analytik, verortet, sondern in deren Dialektik. Hier zeigt Kant, wie es dem Menschen gelingen kann, seine affektive Abhängigkeit von »Neigungen und Naturbedürfnis«11 nach Glückseligkeit bei der Wahl seiner Maximen mit seiner kognitiven »Unabhängigkeit von Neigungen«12 bei der Beurteilung der von ihm approbierten Maximen in Einklang zu bringen: Er muß und kann aus vernünftigen Gründen die vergebliche Hoffnung aufgeben, den Grad seiner Würdigkeit, glückselig zu sein, aus eigener Kraft beurteilen und einsehen zu können. Statt dessen muß er aus praktischen Gründen die seine moralische Gesinnung stärkende Hoffnung fassen, daß dies Urteil nach seinem Tod von einem allwissenden, weisen und gerechten Gott an seiner unsterblichen Seele vollzogen wird. Das mit dem kategorischen Moralimperativ der Kritik der praktischen Vernunft verbundene Verfahren zur prüfenden Beurteilung von Willens- und Handlungsmaximen bleibt von der Inkonsistenz der konsequentialistischen Postulatenlehre und des nicht-konsequentialistischen Formats dieses Beurteilungs- bzw. Testverfahrens indessen unberührt.13

Kant, KpV, S. 194. S. 212, Kants Hervorhebungen. 13 Zur methodischen Form des Verfahrens der moralischen Urteilskraft vgl. vom Verf.: Autonomie und Humanität. Wie kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren (12001), wieder abgdr. in: Vernunft und Urteilskraft. Kant und die kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis, Freiburg 2017, S. 50–94, bes. S. 63–92. 11

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21. Die atheistische Aufklärung über die religiöse Dimension des Rechts (Kant II)

Es ist allerdings wenig bekannt, daß es Kant selbst gewesen ist, der einen radikalen Ausweg aus der nicht leicht durchsichtigen Inkonsistenz gefunden hat, die seine nicht-konsequentialistische Moralphilosophie und die konsequentialistische Religionsphilosophie seiner Postulatenlehre zur Disposition stellt. Es darf hier offenbleiben, ob er diese Inkonsistenz selbst durchschaut hat. Es muß daher auch offenbleiben, ob es eine Konsequenz aus einer solchen Einsicht gewesen ist, die ihm die Suche nach diesem radikalen Ausweg nahegelegt hat. Die Radikalität dieses Auswegs hat es ihm angesichts der religions- und kirchenpolitischen Situation seiner Zeit jedoch offensichtlich dringend geraten erscheinen lassen, ihn vor der Öffentlichkeit zu verbergen und ausschließlich seinen persönlichen Aufzeichnungen anzuvertrauen. Immerhin hat Kant aber schon 1790 in seiner Abhandlung Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte1 eine ingeniöse profane Paraphrase der alttestamentarischen Erzählung von der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies veröffentlicht. In dieser Paraphrase gibt es weder einen Gott noch einen Sündenfall. Den ›mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte‹ bildet hier mit menschheitsgeschichtlicher Tragweite die Erkenntnis und der erste Gebrauch der dem Menschen  – und nur dem Menschen  – eigentümlichen Freiheit. Die alttestamentarische Vertreibung aus dem Paradies, die Masaccio um 1480 den beiden ersten Menschen als den Anfang ihrer irdischen Verzweiflung ins Gesicht gemalt hat, bildet in Kants Paraphrase den Aufbruch des Menschengeschlechts in eine Freiheit, wie sie ihm durch die Frucht des Baumes der Erkenntnis ein für alle Mal bewußt geworden ist. Eine mit Masaccios Verzweiflungs-Expressivität kongeniale triumphans-Expressivität der beiden ersten Menschen ist angesichts der mächtigen Tradition der alttestamen Vgl. AA VIII, S. 107 – 124.

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tarischen Exegese durch das Christentum konsequenterweise nicht überliefert. Indessen fragt Kant in einer der unpublizierten Aufzeichnungen des sog. Opus postumum bereits mit einer verblüffend radikalen Skepsis, »ob Religion ohne Voraussetzung des Daseins Gottes möglich ist«.2 Seine Antwort läßt an eben solcher Radikalität nichts zu wünschen übrig: »Religion zu haben wird nicht der Begriff von Gott und noch weniger das Postulat Es ist ein Gott gefordert«.3 Denn mit dieser Radikalität verwirft er sogar die veröffentlichte Religionsphilosophie seiner Postulatenlehre. Auf der Kehrseite dieser Verwerfung geht Kant zu einem entsprechend radi­k alen religionsphilosophischen Gegenentwurf über: »Gott kann nur in uns gesucht werden«.4 Das erste Ergebnis dieser religionsphilosophischen Suche formuliert Kant so: »Еs ist ein Gott in der Seele des Menschen«.5 Da die Grammatik dieser Formulierung mit Hilfe des Verbs sein immer noch eine seelen-immanentistische Substanz-Ontologie Gottes zu verstehen geben könnte, betont Kant: »Gott ist nicht eine Substanz«.6 Dieser negativ-kritische Gedanke schlägt sich in einem unscheinbaren, vordergründig scheinbar bloß grammatischen Umstand nieder: Man kann den Inhalt der entsprechenden Religion-ohne-Gott in sachgemäßer Form nicht mehr in gegenständlicher, verdinglichender oder substantialer Form mit Hilfe des Namens Gott thematisieren; man kann ihn nur noch in attributiver Form mit Hilfe des Adjektivs göttlich thematisieren. Kant hat den Inhalt dieser Religion daher in diesem Sinne mit drei attributionslogischen Formeln umschrieben, die einander der Sache nach und in Form einer methodischen Stufenfolge ergänzen: 1.) »Der Begriff der Religion ist […] dem Menschen bloß ein Prinzip der Beurteilung aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote«;7 2.) »Religion ist das Erkenntnis des Menschen von seinen Pflichten als göttlichen Geboten«;8 und 3.) »Das Kant, Op. post., AA XXII, S. 130. Op. post., AA XXI, S. 81. 4 S. 150. 5 S. 120. 6 S. 108. 7 Kant, Metaphysik der Sitten (= MS), AA VI, S. 440, Hervorhebungen R.E. 8 Kant, Reflexionen zur Moralphilosophie, AA XIX, R 8104, Hervorh. R.E. 2 3

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Prinzip der Befolgung aller Pflichten als göttlicher Gebote ist Religion«.9 Durch die Trias Beurteilung  – Erkenntnis  – Befolgung stellt Kant offensichtlich klar, daß die Eigenschaft, religiös zu sein, in drei Fähigkeiten aufgefächert ist – in zwei kognitive Fähigkeiten und in eine praktische Fähigkeit: in die kognitive Fähigkeit, Gebote, deren Adressat der Mensch als Mensch ist, als göttliche zu beurteilen; in die kognitive Fähigkeit, solche Gebote im Medium von Urteilen als göttliche zu erkennen; und in die praktische Fähigkeit, die als göttlich beurteilten und erkannten Gebote in der Praxis zu befolgen. Diese Fähigkeiten werden, wenn sie angemessen ausgeübt werden, offensichtlich in einer wohlbestimmten methodischen Stufenfolge ausgeübt: Auf der ersten Stufe kommt es darauf an, daß die Menschen ihre Rolle, Adressaten von Geboten zu sein, aus dem passiven Medium ihrer Adressatenschaft ins autonome Medium ihrer Beurteilungen von Geboten mit göttlichem Charakter und von Geboten mit nicht-göttlichem Charakter transponieren; auf der zweiten Stufe kommt es darauf an, daß die Menschen am Leitfaden solcher Urteile zu Erkenntnissen über den göttlichen bzw. nicht-göttlichen Charakter von Geboten gelangen; auf der dritten Stufe schließlich praktizieren bzw. unterlassen sie Handlungsweisen, bei denen es sich um Praktizierungen der von ihnen als göttlich bzw. nicht-göttlich beurteilten und erkannten Gebote handelt. Es fällt unter diesen Vorzeichen besonders auf, daß Kant seine wichtige negative Eröffnungsthese, daß für das Haben von Religion weder der Begriff Gottes noch das Postulat der Existenz Gottes nötig sei, gar nicht mit einer Begründung verbunden hat. Kants Leser ist daher darauf angewiesen, den Hauptpunkt selbst herauszufinden, an dem die Begründung dieser These orientiert sein kann oder muß. Dieser Hauptpunkt muß aber offensichtlich gespalten sein. Denn einerseits ist eine Begründung nötig, warum Kant seine Postulaten-Konzeption in kohärenter Form verwerfen kann, und anderseits ist eine Begründung nötig, wie man im Sinne Kants Religion haben kann, ohne einen Begriff von Gott zu haben und ohne die Existenz eines Gottes zu postulieren. Die erste Begründung hat

Op. post., AA XXII, S. 111, Hervorh. R.E.

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Kant nicht ausgearbeitet. Aber sie läßt sich aus dem neuralgischen Punkt seiner Postulatenlehre rekonstruieren. Einen ersten Wink in die Richtung der neuen von ihm erwogenen Auffassung gibt Kant, wenn er die innerweltlichen praktischen Möglichkeiten des Menschen zu bedenken gibt, indem er ihn als »ein rechtliches und somit glückliches Mitglied des gemeinen Wesens während dem Leben«10 ins Auge faßt. Wenn Kant von der Rechtlichkeit eines Mitglieds des gemeinen Wesens spricht, dann rekurriert er auf »das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht […] erkennen könne«.11 Dies Kriterium hat unter dem Titel Allgemeines Prinzip des Rechts in Kants Metaphysik der Sitten die Form: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann«.12 Im Rahmen des hier behandelten Themas kommt es allerdings nicht auf die Frage der Tauglichkeit dieses allgemeinen Prinzips an, sondern ausschließlich darauf, daß es im authentischen Wortlaut Kants die kognitive Funktion eines Kriteriums hat. Damit gibt Kant unmißverständlich zu verstehen, daß er diesem allgemeinen Rechtsprinzip in einem präzisierbaren Sinne sogar eine emphatische kognitive Funktion zutraut – eben eine Aufklärungsfunktion. Dies Emphatische bezieht diese kognitive Funktion offensichtlich aus ihrer praktischen Tragweite. Denn falls das Kriterium tauglich ist, dann klärt es jeden seiner Benutzer darüber auf, wie er erkennen kann, ob eine von ihm intendierte Handlungsweise oder eine von ihm gehegte Handlungsmaxime in rechtlicher Hinsicht so beschaffen ist oder nicht, daß ›die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann‹. Und je nach dem, wie die Beurteilung im Licht dieses Kriteriums ausfällt, verfügt er über die rechtliche Erkenntnis, die ihn legitimiert, die intendierte Handlung zu realisieren, oder die ihn verpflichtet, sie im Respekt für jedermanns Freiheit zu unterlassen. Kant, Op. post., AA XXII, S. 426. Kant, MS, S. 230. 12 Ebd. 10 11

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Wie schmal der Grat ist, auf dem sich Kant hier in unmittelbarer Nachbarschaft zu den von ihm überwundenen deistischen und theistischen Konzeptionen der Religion aufhält, ist unübersehbar. Denn nach wie vor macht er in Publikationen gleichwohl Anleihen bei der traditionellen theologischen bzw. religiösen Sprache, um die außerordentliche Bedeutsamkeit sowohl des Rechtskriteriums wie der strikten Innerweltlichkeit von dessen praktischer Tragweite zu betonen – z. B. in der Schrift Zum ewigen Frieden: »[…] das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen […] dies[er] Augapfel Gottes […]«.13 Die beiden springenden Punkte dieser Erläuterung können jetzt sofort klar sein: Zum einen ist das Recht der Menschen eine strikt innerweltliche Angelegenheit, weil den Menschen schon auf Erden, wenn Kants Rechtsphilosophie tragfähig ist, ein Rechtskriterium zur Verfügung steht, während das Kriterium für die angemessene Proportion der Glückseligkeit in der für sie unverfügbaren Obhut des von ihnen geglaubten allwissenden, weisen und gerechten Gottes liegt; zum anderen müssen die Menschen das Recht, das sie mit Hilfe eines Rechtskriteriums erkennen können, durch ihre konkrete innerweltliche Praxis um der Bewahrung von jedermanns Freiheit willen so hüten, als sei es so kostbar und einzigartig wie der Augapfel Gottes und daher das Heiligste, was Gott auf Erden hat. Kant hat den schmalen Grat, auf dem er sich mit diesen Anleihen bei der traditionellen theologischen und religiösen Sprache bewegt, selbst kommentiert: »[…] in practischer Rücksicht ist es völlig einerley ob man die Göttlichkeit des Gebots in der menschlichen Vernunft oder auch einer solchen Person [Gottes, R. E.] zum Grunde legt, weil der Unterschied mehr eine Phraseologie als eine das Erkenntnis erweiternde Lehre ist«.14 Damit ist indessen auch die Erkenntnis, also die Wirklichkeitserfahrung z. B. von Inhalten christologischer Sätze wie dem der Eucharistie, nur noch einer beschwörenden Sprechweise gläubigen Zutrauens überlassen, aber einer ›das Erkenntnis erweiternden Lehre‹ entzogen.15 Gleichwohl ist Kant auch in diesem Punkt auf dem Weg, der attributionslogischen Phraseologie aus sachlichen Gründen den Vorzug zu ge Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, S. 352, Kants Hervorhebung. Op. post., AA XXI, S. 28, Hervorhebung R. E. 15 Vgl. oben S. 59 f. 13 14

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ben. Denn gerade mit Blick auf die Möglichkeit des Menschen, dem Kriterium für den innerweltlichen ›Augapfel Gottes‹ in Form des Rechts auf die Spur zu kommen, spricht er in der sog. Gemeinspruch-Schrift davon, daß dies »[…] ihm eine Tiefe göttlicher Anlagen [eröffnet]«16 , also eine Tiefe göttlicher kognitiver Anlagen zur Erkenntnis des Rechts und ebenso göttlicher praktischer Anlagen zur Praktizierung von als rechtlich erkannten Handlungsweisen und zur Unterlassung von als unrechtlich erkannten Handlungsweisen. In seiner letzten Schrift, dem Streit der Fakultäten, charakterisiert er diese beiden Anlagen zusammenfassend als »eine Anlage und Vermögen der menschlichen Natur zum Besseren«17 und formuliert auf dieser Linie bekanntlich sogar ein rechtliches Kriterium dieses Fortschritts zum Besseren, der dem ganzen Menschengeschlecht möglich ist  – nämlich durch »Vermehrung der Produkte der Legalität«,18 also der Produkte der Rechtlichkeit, also der rechtsgemäßen Handlungsweisen. Doch der springende Punkt dieses Kriteriums ergibt sich nicht ausschließlich aus seinem Inhalt, sondern vor allem auch aus seiner Funktion für die Aufklärung über die Religion. Denn der innerweltliche Fortschritt des Menschengeschlechts-im-ganzen durch Vermehrung der Produkte der Rechtlichkeit tritt an die Stelle des jenseitigen Weges der unsterblichen individuellen Seele zur wohlproportionierten Teilhabe an der Glückseligkeit; und an die Stelle der Hoffnung des individuellen Menschen auf diese jenseitige Form der Glückseligkeit seiner unsterblichen Seele tritt der »Enthusiasmus der Rechtsbehauptung für das menschliche Geschlecht«.19 Mit diesem Schritt seiner Rechts-Philosophie und der mit ihr strikt verbundenen atheistischen Konzeption des Religiösen erweist sich Kant als der radikal die Erbschaften der Tradition kritisch bedenkende Denker.20 Doch Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII S. 287, Hervorhebung R. E. 17 Kant, Der Streit der Fakultäten, AA VII, S. 88. 18 S. 91. 19 S. 86**. 20 Anderer Auffassung ist Winfried Schröder, »Radical Enlightenment from a Philosophical Perspective«, in: Concepts of (Radical) Enlightenment. Jonathan Israel in Discussion, Halle 2014, S. 44 – 51: »Certainly, Kant was not a radical thinker«, S. 46; vgl. hierzu auch unten S. 61, Anm. 249. 16

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gleichzeitig erweist er sich im Medium seiner publizierten Schriften als ein Denker, der die religionspolitische Situation seiner Zeit klug genug zu wägen weiß, um die maßgeblichen kirchen- und religionspolitischen Instanzen seiner Zeit nicht durch bilderstürmerische Rhetorik zu Maßnahmen gegen ihn zu provozieren. Denn solche Maßnahmen hätten ihm vor allem auch den Zugang zu jenem Publikum verwehrt, mit Blick auf das er zu bedenken gibt, daß »es sich selbst aufkläre, ist eher möglich«, als daß es hinreichend viele individuelle Menschen geben würde, »denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung des Geistes sich aus ihrer Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu thun«.21 Doch im Licht seiner reifen Rechtsphilosophie charakterisiert Kant die kognitive und die praktische Anlage des Menschen in seiner letzten Schrift, dem Streit der Fakultäten, zusammenfassend als »eine Anlage und Vermögen der menschlichen Natur zum Besseren«, 22 die sogar den Blick in ›eine Tiefe göttlicher Anlagen‹ eröffnen. Denn sie leitet zu einem konstruktiven Gedanken über, dessen Gewicht sich nur in der Sprache aller theistischen Religionen und deistischen Glaubensformen evozieren läßt – daß nämlich ›das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen […] dieser Augapfel Gottes‹ (s. o. S. 83 f.) ist. Wie Kants rechtsphilosophische Arbeit zeigt, geht es in der Philosophie und für die Philo Kant, Aufklärung, S. 36. Den Unterschied zwischen radikalem Denken und moderatem öffentlichem Sprechen in einer gefährlichen religionspolitischen Situation vernachlässigt Schröder, Philosophical Perspective, wenn er die Radikalität von Kants Denken durch die Tatsache gestört sieht, daß Kant in seinen publizierten Schriften »notoriously retained substantial elements of the philosophical and even the religious tradition«, ebd. Schröder vernachlässigt also die Tatsache, daß Kant noch zu einer Generation gehört, mit Blick auf die das Buch von Leo Strauss, Persecution and the Art of Writing, Glencoe 11952, zu verfassen angemessen war. Angesichts seiner persönlichen Erfahrung mit dem königlichen Reskript von 1793 ist Kant mit Blick auf die wirklich radikalen religionsphilosophischen Fragen nur allzu offensichtlich gut beraten, die Kunst zu üben, nicht-öffentliches radikales Denken und öffentliches moderates Schreiben in Einklang zu bringen. Daher sind die von Schröder als »substantial elements of […] the religious tradition” eingestuften Wendungen Kants für Kant selbst, wie sich gezeigt hat, eine Angelegenheit ›mehr einer Phraseologie als einer das Erkenntnis erweiternden Lehre‹, vgl. oben S. 106 f. 22 Kant, Der Streit der Fakultäten, AA VII, S. 88. 21

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sophie nicht um das Glück des philosophischen Lebens, sondern darum einzusehen, wie jeder Mensch ›ein glückliches Mitglied des gemeinen Wesens während dem Leben‹ werden kann (ebd.).23

Daß diese rechtsphilosophische Einsicht Kants nicht nur für Kant mit einem tiefen persönlichen christlichen Glaubensbekenntnis verträglich ist, zeigt eine sehr späte handschriftliche Notiz. Sie ist im Bd. XVIII der AkademieAusgabe im Rahmen der langen Reflexion 6369 auf S. 693 gedruckt und wird vom Herausgeber so präsentiert: »Bemerkungen Kants in seinem mit Octavblättern durchschossenen Handexemplar des II. Bandes der Vermischten Schriften G. Chr. Lichtenberg […] (1801) […], S. 32 f. Neben dem Anfang von Lichtenbergs Satz ›Ich glaube von Grund meiner Seele und nach der reifsten Überlegung, dass die Lehre Christi […] das vollkommenste System ist, das ich mir wenigstens denken kann, Ruhe und Glückseligkeit in der Welt am schnellsten, kräftigsten, sichersten und allgemeinsten zu befördern‹ stehen, mit Rothstift von Kant geschrieben, die Worte: ›Ich auch‹«, Hervorhebung R. E. 23

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Epilog

Am Leitfaden gewichtiger Stimmen aus der prägenden Phase der anfangenden Neuzeit hat sich gezeigt, daß das Spannungsfeld, in dem wir gegenwärtig leben, von Faktoren gebildet wird, die schon im Bewußtsein des 17. und des 18. Jahrhunderts das Gepräge einer Zerreißprobe zeigten: Die Bemühungen um Aufklärung, die Forschungen vor allem der Naturwissenschaften und die Bindungskräfte der Religion gerieten zunehmend in eine ihnen selbst noch nicht zureichend durchsichtige Wildwüchsigkeit und Rivalität. Denn mit den richtungweisend fruchtbaren Forschungen von Physikern wie Galilei und Newton setzte sich in den Naturwissenschaften zunehmend die Haltung eines methodischen Atheismus durch: Für die Fruchtbarkeit ihrer Hypothesenbildungen, experimentellen Ursachenforschungen und mathematischen Berechnungsgrundlagen war der Glaube an die Existenz eines trans­ zendenten Gottes keine notwendige Voraussetzung. Gleichzeitig nahm das Wachstum der naturwissenschaftlichen Entdeckungen in einem Maße zu, das schon im Laufe des 18. Jahrhunderts – zumindest im wissenschaftshistorischen Rückblick  – die Anfänge eines exponentiellen Wachstums verriet. Diese Erfolgsgeschichte führte bereits im 18. Jahrhundert zu einem bis heute höchst lebendigen Mißverständnis. Die wachsenden Potentiale der Naturwissenschaften, bislang undurchschaute Ausschnitte der alltäglichen Erfahrungswelt der Menschen durch empirische Beschreibungen, hypothetische Erklärungen und mathematisch fundierte Berechnungen immer besser durchsichtig zu machen, gaben dem Mißverständnis immer mehr Nahrung, daß solche Er-klärungen endgültig die von den Menschen und für die Menschen erhoffte Auf-klärung bringen könnten. Es ist selbstverständlich keine Frage, daß durch die wachsenden Erklärungspotentiale der Naturwissenschaften bis heute immer mehr Licht in die faktisch vorfindliche und empirisch zugängliche Erfahrungswelt der Menschen getragen wird. Doch das Licht, das von diesen Potentialen ausstrahlt, ist strukturell und 110

funktional von dem Licht grundverschieden, das Platon zuerst evoziert hat, als er die unbedingt praktisch relevante Idee des Guten mit der Sonne und ihren Funktionen für die Menschen und ihre Welt verglich. Die Aufklärung ist seit Platons Einsichten die Aufklärung über das, was gut und nützlich, also aus ausschließlich praktischen Gründen für die Menschen wichtig ist. Doch keiner noch so gelungenen wissenschaftlichen Tatsachenbeschreibung bzw. -erklärung steht auch nur im mindesten ins Gesicht geschrieben, warum und wie man in der praktischen Lebenswelt der Menschen von ihr einen guten bzw. nützlichen Gebrauch machen kann und sollte. Daß Erkenntnisse, wie sie nur mit den jeweils besten wissenschaftlichen Methoden gewonnen werden können, ebenfalls aus praktischen Gründen für die Menschen wichtig sind, ist seit jeher – auch für Platon – nahezu selbstverständlich gewesen. Doch das ändert nichts daran, daß die Aufklärung über das, was aus praktischen Gründen wissenswert ist und was den praktischen Wert der Wissenschaft als ganzer ausmacht, ebenfalls in die Obhut der Kriterien der spezifisch praktischen Urteilskraft und der praktischen Vernunft gehört. Indessen ist die Religion älter nicht nur als die Philosophie, sondern auch als die Wissenschaft und als die Bemühungen um Aufklärung es sind. Doch die entsprechend uralte gläubige Anhänglichkeit der Menschen an welttranszendente Mächte – auch an allwissende, gerechte und weise Mächte – erfuhr ausgerechnet durch Philosophen eine einschneidende Zäsur. Radikal-empiristische Theorien der Erkenntnis und des Wissens, wie sie seit John Lockes Paradigma auf der Grenze vom 17. zum 18. Jahrhundert immer wieder einmal erprobt worden sind, sehen für die Menschen keinerlei gerechtfertigte Möglichkeit, sich einen für alle Menschen gleichermaßen nachvollziehbaren Zugang zu solchen Mächten zu eröffnen. Doch gleichzeitig hat diese radikal-empiristische Philosophie Lockes bei französischen Philosophen und Intellektuellen des 18. Jahrhunderts vor allem in Gestalt der Encyclopédie von d’Alembert und Diderot zu einer wirkungsmächtigen Amalgamierung von Aufklärungsintentionen, Wissenschaftsenthusiasmus sowie technischem und ökonomischem Fortschrittsoptimismus geführt. Die im Grunde apraktische Konzeption einer Aufklärungdurch-Wissenschaft trägt bis heute – nicht zuletzt unter beschwich111

tigenden Stichworten wie Ambivalenz  – zu einer dissoziativen Wahrnehmung von wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Innovationen einerseits und andererseits deren praktischen Folgelasten bei. Das von Lockes radikal-empiristischem Paradigma begünstigte free thinking durchdringt bis heute zunehmend und weltweit in wildwüchsigen Formen das Bewußtsein der Menschen vom Format der Aufklärung und der Wissenschaft ebenso wie von den Formen ihrer religiösen Anhänglichkeiten. In der Rolle des Candide mochte der jederzeit zu einem zündenden Apercu aufgelegte Proto-Intellektuelle Voltaire den braven Bürgern seiner Zeit noch die Maxime mit auf den Weg geben: »Laßt uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen und arbeiten«. Doch die Überwindung des Wildwuchses von Aufklärung, Wissenschaft und Religion, der zu seiner Zeit für scharfsinnige und tiefsinnige Denker schon seit einem Jahrhundert sichtbar geworden war, ist keine Angelegenheit für eine höhere Kunst der Gartenpflege. Die Menschen sind aus praktischen Gründen mit uneinschränkbarer Unbedingtheit sowohl auf Aufklärung – und zwar auf die Selbstaufklärung jedes einzelnen Menschen – wie auf Wissenschaft und auf Religion angewiesen, und sei es auf die atheistische Religion des Rechtsenthusiasmus als wichtigste Bedingung des innerweltlichen Friedens. Was bei einer privatistischen Betrachtung die Angelegenheit der gärtnerischen Hegung eines mehr oder weniger störenden Wildwuchses zu sein scheint, ist daher unter den Vorzeichen der uneinschränkbaren praktischen Angewiesenheit der Menschen auf die scheinbar unversöhnlichen Dimensionen von Aufklärung, Wissenschaft und Religion bis in die Gegenwart zu einer Zerreißprobe geworden. Ihr Ausgang ist inzwischen weit ungewisser geworden, als es ihren Proto-Diagnostikern im 17. und im 18. Jahrhundert erscheinen konnte. Denn diese drei Dimensionen sind durch drei dunkle Schatten von ›modernen‹ strukturellen Selbstmißverständnissen zunehmend undurchsichtiger geworden. Den einen dieser Schatten wirft das Selbstmißverständnis vor allem des westlichen Publikums, gegenwärtig in einer aufgeklärten Gesellschaft zu leben, und hat damit zur Verschärfung dieser Zerreißprobe beigetragen. Den anderen Schatten innerhalb dieser Zerreißprobe wirft das immer noch weltweite Selbstmißverständnis des nicht nur westlichen Publikums, durch ungezügelte, also 112

unaufgeklärte technische und ökonomische Nutzung der jeweils jüngsten dafür geeigneten wissenschaftlichen Entdeckungen den Fortschritt der Menschheit zu fördern. Doch nicht weniger hat zu dieser Zerreißprobe die Degeneration beigetragen, die sogar der religiös gestimmte Enthusiasmus für den ›Augapfel Gottes auf Erden‹ (Kant) – die Menschen- und die Bürgerrechte – macht, weil ihn das Selbstmißverständnis des Publikums, also der Mehrheit der individuellen Träger der Öffentlichkeit in einen tiefen dunklen Schatten stellt: in den Schatten, den sein immenses und daher unstillbares Bedürfnis nach innerweltlicher Beglückung durch endlose ökonomische Konsum- und technische Komfortsteigerung sowie durch sozialpolitische Gleichheitsutopien wirft. Es sollte sich jedoch von selbst verstehen, daß es sich bei dem Selbstmißverständnis über diese Fortschrittsprojektionen der Menschheit genauso um einen mehrheitlichen Mangel an individueller Selbst-Aufklärung handelt wie bei dem ökonomischen und technizistischen Selbstmißverständnis über die Möglichkeit des innerweltlichen Glücks der Menschen. Man braucht nur zu berücksichtigen, in welchem Maß Kants berühmte Ermutigung zur individuellen Selbst-Auf-klärung nun schon seit Jahrzehnten in ebenso wohlfeilen wie undurchdachten Aufforderungen zu ›langfristigen Strategien massenhafter Aufklärung‹ – durch wen eigentlich ? – untergegangen ist. Das ›Publicum‹, dessen ›Freiheit der Feder‹ Kant noch zutraute, der wichtigste Beistand der individuellen Selbst-Aufklärung zu sein, ist durch einen vielbeschworenen ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ längst zu einem Konsumenten einer kaum noch überschaubaren und durchschaubaren medialen Pseudo-Öffentlichkeit entartet. Die Struktur der Öffentlichkeit wird in wohlgeordneten Gemeinwesen zwar nach wie vor von den Menschenrechten, den Bürgerrechten und von einem entsprechenden Gerichtswesen, von republikanischen Institutionen, den rechtsfähigen Bürgern parlamentarisch-demokratischer Gemeinwesen und einer Presse gebildet, deren Journalisten vor allem diese Struktur fest und tief in das Kriteriengewebe ihrer politischen Urteilskraft aufgenommen haben. Indessen suchen im pseudoöffentlichen Medium der Gegenwart paradoxerweise zunehmend privatistische Unkulturen Identitäts-fixierter Vorurteilsbildung miteinander rivalisierende Ansprüche auf meinungsdemokratische 113

Mehrheitsführerschaft zur Geltung zu bringen.1 Es braucht daher nicht zu verwundern, daß kollektivistische Aufklärungsphantasien – auch gegen deren wohlmeinende Intentionen – ein gänzlich enthemmtes free-thinking provozieren. Sie haben – wenngleich vermutlich unintendiert – ebenfalls zu dem pseudo-legitimatorischen Medium beigetragen, in dem ökonomische Konsum- und technische Komfortsteigerung sowie sozialpolitische Gleichheitsutopien, aber auch radikale Fortschritts-Therapien immer wieder von neuem die Zerreißprobe begünstigen, die ein humanes Dasein im unaufgeklärt bleibenden Spannungsfeld von Aufklärung, Wissenschaft und Religion gefährdet.

Vgl. hierzu zuletzt die treffliche Analyse, mit der Peter Graf Kielmannsegg, Die Schließung der Demokratie, in: FAZ vom 17. 5. 2021, S. 6, an Tocquevilles zu Recht berühmte Warnung vor den Gefahren anknüpft, die das Mehrheitsprinzip für die repräsentative Demokratie mit sich bringen kann. – Die US-spezifische, aber gleichwohl paradigmatische mentale und kulturelle Vorgeschichte dieser Entwicklung hat in einem tiefgründigen Erfahrungsbericht über die Verfallsformen der akademischen Ausbildung Allan Bloom, The Closing of the American Mind, New York 1987, zur Sprache gebracht. 1

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Verzeichnis der benutzten Literatur

Art. Encyclopédie, in: Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sci­ ences, des Arts et des Métiers, Paris 1751 ff., Bd. I. Bacon, Francis: Das Neue Organon (Novum Organon), Hgg. v. Manfred Buhr, Berlin 1962. – The Great Instauration, in: The Works of Francis Bacon (= WFB), coll. and ed. by James Spadding et al., London 1858, Faksimileneudruck, Stuttgart 1989, Bd. 4. – New Atlantis, WFB, Bd. 5. – Essays, WFB, Bd. 6. – Of the Dignity and Advancement of Learning, WFB, Bd. 8. Bloom, Allan: The Closing of the American Mind, New York 1987. du Bois Reymond, Emil: Culturgeschichte und Naturwissenschaft (11877), in: Reden, 1. Folge: Literatur, Philosophie, Zeitgeschichte, Leipzig 1886. Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Historisch-kritische Ausgabe, Pfullingen 1949. Cassirer, Ernst: Philosophie der Aufklärung (11932), Hamburg 1998. Darnton, Robert: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopedie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn ? (amerik. 1 1971), Berlin 1993. Defoe, Daniel, An Essay upon Projects, London 1697. Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Paris 1751. Enskat, Rainer: Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der Erfahrung. Erster und Zweiter Teil, Göttingen 2015 bzw. 2020. – Autonomie und Humanität. Wie kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren (12001), wieder abgdr. in: ders., Vernunft und Urteilskraft. Kant und die kognitiven Voraussetzungen vernünftiger Praxis, Freiburg 2017, S. 50 – 94. – Moralität und Nützlichkeit, Rezension von: Günther Patzig, Gesammelte Schriften I. Grundlagen der Ethik, Göttingen 1994, 303 S. – Gesammelte Schriften II. Angewandte Ethik, Göttingen 1993, 191 S., in: Philosophische Rundschau, Bd. 44, Heft 2 (1997), S. 152 – 66. – Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008. 115

– Das Desiderat einer politischen Aufklärung – Die Republik der Urteilskraft, in: ders, Aufklärung, S. 425 – 514. – Bewährungsproben der Reflexion. Rezension von Meier, Glück, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Bd. 24, Jg. 2012, S. 349 – 83. – Muß das Ge-Stell die letzte Gestalt der Seinsgeschichte sein ? Zu Heideggers Einblick in ›das Rettende in der Gefahr‹, in: »[…] wo aber Gefahr ist […]«. Heidegger und die Philosophie der planetarischen Technik (Hg.) Harald Seubert/Klaus Neugebauer/Manuela Massa, Freiburg 2021, S. 231 – 257. – Brauchen die Götter die Menschen oder brauchen die Menschen den Gott ? Religion durch Aufklärung im Anschluß an Platon und Kant, in: Geschichte – Gesellschaft – Geltung. XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie 28. September – 2. Oktober 2014, M. Quante (Hg.), Hamburg 2016, S. 1017–1035. Galilei, Galileo: Dialog über die Weltsysteme (Auswahl). Handschriftliche Zusätze, in: ders., Sidereus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen (11610), in: ders., Sidereus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen/Dialog über die Weltsysteme (Auswahl)/Vermessung der Hölle Dantes/Marginalien zu Tasso, Hg. von Hans Blumenberg, Frankfurt/ Main 1965, S. 226 – 228 Gillessen, Jens: Aufklärung durch die Klimawissenschaften. Worüber und Wozu ?, in: Wissenschaft und Aufklärung / Science and Enlightenment, Zeitschrift für Angewandte Philosophie, Hg. R. Enskat and O. R. Scholz, Göttingen 2018, S. 127 – 148. Gay, Peter: The Enlightenment. An Interpretation, 2 vols., New York 1966, 1969. Hazard, Paul: Die Krise des europäischen Geistes (frz. La crise de la conscience Européenne, 11935), Hamburg 11939, 5. Aufl., o. Jz. Heidegger, Martin: Bremer und Freiburger Vorträge, GA 79, Frank­ furt/M. 1994. Hennis, Wilhelm: Politik als praktische Wissenschaft. Aufsätze zur politischen Theorie und Regierungslehre, München 1968. Hulliung, Mark: The Autocritique of Enlightenment. Rousseau and the Philosophes, Cambridge (Mass.)/London 1994. Isensee, Josef: Gemeinwohl und öffentliches Amt. Vordemokratische Fundamente des Verfassungsstaates, Wiesbaden 2014. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (11781, 21787), Hamburg 1956. – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AA IV, S. 385 – 463. – Kritik der praktischen Vernunft, AA V. 116

– Kritik der Urteilskraft, in: Kant’s gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff. (sog. Akademie-Ausgabe = AA), AA V. – Metaphysik der Sitten, AA VI. – Der Streit der Fakultäten, AA VII, S. 1 – 116. – Zum ewigen Frieden, AA VIII, S. 341 – 386. – Logik, AA IX, S. 1 – 150. – Reflexionen zur Metaphysik, AA XVII. – Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII, S. 273 – 313. – Reflexionen zur Moralphilosophie, AA XIX. – Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, AA II, S. 205 – 257. – Opus postumum, AA XXI–XXII. Kielmannsegg, Peter Graf: Die Schließung der Demokratie, in: FAZ vom 17. 5. 2021, S. 6. Landes, David: The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present (11969), Cambridge/New York 1999. Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus (11866), Bd. 1 (hg. und eingel. von Alfred Schmidt), Frankfurt/Main 1974. Meier, Heinrich: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries in zwei Büchern, München 2011. Mittelstraß, Jürgen: Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York, 1970. – Fröhliche Wissenschaft ? Philosophische Grenzgänge zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, Weilerswist 2021. de Montesquieu, Charles: Perserbriefe (11721). Aus dem Französischen von Jürgen von Stackelberg, Frankfurt 1988. Patzig, Günther: Die Begründbarkeit moralischer Forderungen (11966), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften I. Grundfragen der Ethik, Göttingen 1994, S. 44 – 71 Reich, Klaus: Einleitung, in: Diogenes Laertius: Buch X: Epikur. Grie­ chisch–Deutsch, Hamburg 1968. Rossi, Paolo: Bacon’s Idea of Science, in: The Cambridge Companion to Bacon, S. 25 – 46. Rousseau, Jean-Jacques: Les Réveries du Promeneur Solitair, in: ders., Œuvres complètes (= O. C.), (Bd. Iff.), Paris 1956 ff., hier: O. C. I. – Rousseau juge de Jean-Jacques, O. C. II. – Discours sur les sciences, O. C. III. – Observations sur la réponse qui a été faite à son discours, O. C. III. – Discours sur l’inégalité, O. C. III. 117

– Du contrat social, in: ders., O. C. III. – Émile ou de l’Éducation, O. C. IV. – Fragments de Botanique, O. C. VI. Schäfer, Lothar: Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Natur, Frankfurt/Main 1993. Schröder, Winfried: Radical Enlightenment from a Philosophical Perspective, in: Concepts of (Radical) Enlightenment. Jonathan Israel in Discussion, Halle 2014, S. 44 – 51. Sophokles, König Oidipus, in: ders., Tragödien und Fragmente. Griechisch und deutsch, herausgegeben und übersetzt von Wilhelm Willige, überarbeitet von Kurt Bayer, München 1966, S. 356 – 449. Specht, Rainer: Innovation und Folgelast. Beispiele aus der neueren Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972. – Über den Zugang zu Theodizeen, in: Einheit und Vielheit. Festschrift für Carl Friedrich v. Weizsäcker zum 65. Geburtstag (Hg. E. Scheibe und G. Süßmann), Göttingen 1973, S. 91 – 97. Stegmüller, Wolfgang: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheo­ rie und Analytischen Philosophie. Bd. 1. Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin/Heidelberg/New York, 1969. Strauss, Leo: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-politischem Traktat (11930), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften. Band 1 (GS 1). Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften (Hg. Heinrich Meier), Stuttgart/Weimar 1996, S.1 – 330. – Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer, Berlin (11935), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften. Band 2. Unter Mitwirkung von Wiebke Meier herausgegeben von Heinrich Meier (11997), Stuttgart 2013, S. 4 – 123. – Einleitung zu Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften (11931 – 1937), wieder abgedr. in: GS 2, S. 465 – 608. – Besprechung von Julius Ebbinghaus (11931), in: ders., GS 2, S. 439. – Persecution and the Art of Writing, Glencoe 11952. – An Untiteled Lecture on Plato’s Euthyphron, The University of Chicago 1996. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesamtausgabe, i. A. d. Kommission f. Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte d. Bayerischen Akademie d. Wissenschaften hg. v. H. Baier et al., Tübingen 1984 ff., Bd. 17 (Hrsg. W. J. Mommsen u. W. Schluchter), Tübingen 1992, S. 86 ff. Wieland, Wolfgang: Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie (11975), Berlin 2004. 118