Neutestamentliche Grenzgänge: Symposium zur kritischen Rezeption der Arbeiten Gerd Theißens 9783666533938, 9783525533932, 9783647533933

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Neutestamentliche Grenzgänge: Symposium zur kritischen Rezeption der Arbeiten Gerd Theißens
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Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments In Verbindung mit der Stiftung „Bibel und Orient“ der Universität Fribourg/Schweiz herausgegeben von Max Küchler (Fribourg), Peter Lampe, Gerd Theißen (Heidelberg) und Jürgen Zangenberg (Leiden)

Band 75

Vandenhoeck & Ruprecht

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Peter Lampe / Helmut Schwier (Hg.)

Neutestamentliche Grenzgänge Symposium zur kritischen Rezeption der Arbeiten Gerd Theißens

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-53393-2

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Vorwort

Gerd Theißen, seit 1980 Professor für Neutestamentliche Theologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, beging im Sommersemester 2008 seinen 65. Geburtstag und wurde mit Ablauf desselben Semesters emeritiert. Aus diesem Anlass lud die Theologische Fakultät vom 4. bis 6. Juli 2008 zu einem Symposion, das dem Werk Gerd Theißens gewidmet war. Schüler, Freunde und Kollegen nahmen die unterschiedlichen Impulse seines vielfältigen Wirkens auf und reflektierten sie vor dem Hintergrund der derzeitigen theologischen Forschung. Die Palette der Beiträge verdeutlicht, in wie vielen, durchaus voneinander entfernten Forschungsbereichen Gerd Theißen neue Bahnen brach. Häufiger als andere wirkte er als Grenzgänger, bisherige Grenzen überschreitend und dadurch weiteres Terrain erkundend und erschließend. Im vorliegenden Band werden die Symposiumsbeiträge sowie einige Ergänzungen – nicht zuletzt Gerd Theißens Heidelberger Abschiedsvorlesung vom 4. Juli 2008 sowie seine hiesige Antrittsvorlesung von 1981, die ungedruckt blieb – publiziert. Frau Yvonne Weber M.A. überprüfte und bearbeitete die Manuskripte mit großer Sorgfalt, Umsicht und Ausdauer. Dafür danken wir herzlich. Der Evangelischen Landeskirche in Baden und der Pfälzischen Landeskirche sind wir für großzügige Druckkostenzuschüsse zu Dank verpflichtet. Dem Verlagslektorat und den Autorinnen und Autoren sind wir für die gute Zusammenarbeit sowie allen Teilnehmerinnern und Teilnehmern des Symposiums für anregendes Begegnen und kritisches Diskutieren verbunden. Den Dank verknüpfen wir mit allen guten Wünschen an den Jubilar und Kollegen: ad multos annos! Wir danken der großzügigen Unterstützung der Evangelischen Landeskirche in Baden und der Pfälzischen Landeskirche. Heidelberg, im Juni 2009

Die Herausgeber

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Inhalt

Peter Lampe Gerd Theißen als Grenzgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerd Theißen Protestantische Existenz heute. Heidelberger Abschiedsvorlesung . . . . 13 I. Theorie der urchristlichen Religion Ulrich Luz Der frühchristliche Christusmythos. Eine Auseinandersetzung mit Gerd Theißens Verständnis der urchristlichen Religion. . . . . . . . . . . 31 Heikki Räisänen Eine Kathedrale aus dem Chaos? Ein Gespräch mit Gerd Theißen über Einheit und Vielfalt der urchristlichen Religion . . . . . . . . . . . . . . . 51 II. Jesusforschung und frühchristliche Sozialgeschichte Bengt Holmberg Von der Jesusbewegung zu Jesus. Gerd Theißens Entwicklung in der Jesusforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Wolfgang Stegemann „Hinterm Horizont geht’s weiter“. Erneute Betrachtung von Gerd Theißens These zum Wanderradikalismus der Jesusbewegung . . . 75 Annette Merz Gerd Theißens Beiträge zur Sozialgeschichte des hellenistischen Urchristentums in der neueren Diskussion . . . . . . . . . . . 96 III. Literaturgeschichte David Trobisch Das Neue Testament als literaturgeschichtliches Problem . . . . . . . . . . . 114 Oda Wischmeyer Was meint „Literaturgeschichte des Neuen Testaments?“ Ein Gespräch mit Gerd Theißen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

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Inhalt

IV. Psychologie Martin Leiner Rekapitulation des israelitischen Zeichensystems, Rekapitulation der Welt, Rekapitulation der menschlichen Seele als Person . . . . . . . . . 140 Petra von Gemünden Ansätze zur psychologischen Auslegung im hellenistischen Judentum und frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 V. Neues Testament in praktisch-theologischen Feldern Elisabeth Parmentier Die „Zeichensprache des Glaubens“. Inspiration für die Praktische Theologie als theologische Sprachlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Helmut Schwier Im Dialog mit der Bibel. Gerd Theißens Impulse für Theorie und Praxis der Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 VI. Diesseits und jenseits theologischer Grenzen Eberhard Faust Globaler Klimawandel, globale Klimakatastrophe: Mythische Elemente in der kulturwissenschaftlichen und medialen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Gerd Theißen Neutestamentliche Christologie und modernes Bewusstsein . . . . . . . . . . 228 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

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Peter Lampe

Gerd Theißen als Grenzgänger

Nescio an eum tunc beatissimum credi oporteat fore, cum […] procul contentionibus famam in tuto conlocarit et sentiet vivus eam, quae post fata praestari magis solet, venerationem et, quid apud posteros futurus sit, videbit. Vielleicht sollte man glauben, dass für ihn dann seine glücklichste Zeit gekommen sei, wenn er nunmehr, […] fern allem Wettstreit, seinen Ruf gesichert weiß, zu Lebzeiten schon die Ehrerbietung kennen lernt, die gewöhnlich erst nach dem Hinscheiden empfangen wird, und er selbst erlebt, was er dereinst der Nachwelt sein wird (Quint., Inst. 12,11,7).

Dieser Hauch haftet Emeritierungssymposien an. Selbst Gerd Theißen wird sich vor ihm nicht abzuschotten vermögen, auch wenn er nicht fürchten muss, dass wir seine über ein halbes Dutzend zählenden Ehrendoktorhüte, seine renommierten internationalen Preise oder seine – einschließlich der Übersetzungen in über fünfzehn Sprachen – weit über 100 Bücher vorbeitragen. Hinter Zahlen und Äußerlichkeiten steht ein in mehreren Spuren innovatives Oeuvre, das seit vier Jahrzehnten das internationale Erforschen der Geschichte des frühen Christentums sowie seiner Literaturen und symbolischen Welten vorantrieb und dabei durch interdisziplinäres Vernetzen – vor allem mit Soziologie und Psychologie – neue Forschungsfelder methodologisch erschloss. Gerd Theißen ist Vordenker. Ich kenne unter den Neutestamentlern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert weltweit nur wenige, an den Fingern abzählbare (und ich verrate nicht, wie viele Finger ich eigentlich dafür brauche), die in der Weise wie Gerd Theißen das eigene Fach erneuerten, in seinen Fragestellungen vorantrieben und mit zuweilen verblüffenden Antworten überraschten. Jetzt im 21. Jahrhundert schreibt Gerd Theißen glücklicherweise immer noch. Was ist das Geheimnis der innovativen Kraft? Wer Gerd Theißen beim Zuhören von Vorträgen beobachtet, bekommt zuweilen den Eindruck, er sei eingenickt. Was sich hinter dieser Pose verbirgt – jedenfalls oft –, ist anderes: Während der Redner dort vorne sich abstrampelt, läuft bei Gerd Theißen zeitgleich im Kopf ein Alternativfilm ab – unter der Leitfrage: Wie könnte man es auch anders machen? Nicht in einer Pose von oben herab, die ihm fremd ist, sondern ein wenig zusammengesunken in sich, nicht

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Peter Lampe

über, sondern neben dem Redner, den er alternativ, aber gütig begleitet. Es ist dieses radikale Hinterfragen, das Sich-Nicht-Zufrieden-Geben und spielerische Suchen nach anderen Sichten, wo andere sich mit Antworten zufrieden gaben. Selbst seine Gutachten über Dissertationen und Habilitationen fallen manchmal so aus; auch Predigten kann er so hören. Dieser Umtrieb manövrierte ihn oft in ein kreatives „Aus“, das ihm zu Beginn seiner Laufbahn verwundende Schläge seitens deutscher Zunftkollegen bescherte; Gerd Theißen war in Deutschland erst berufbar, als er bereits in Kopenhagen auf einem Lehrstuhl saß. Erst allmählich merkte die Zunft, dass das vermeintliche „Aus“ des Gerd Theißen auch Spielfeld sein konnte; sie zog nach, erweiterte ihre Spielfläche in das „Aus“ des Gerd Theißen hinein. Der aber bewegte sich dann schon wieder woanders, in einem neuen kreativen „Aus“. Wer in der Zunft sich beispielsweise durchgerungen hatte, seinen Methodenwerkzeugkasten durch eine sozialgeschichtlich orientiere Exegese zu erweitern, sah Gerd Theißen bereits über einen anderen Tabuzaun klettern, der im Gefolge der dialektischen Theologie errichtet worden war, zum Beispiel über den Zaun zu einer psychologisch ausgerichteten Exegese hin, deren Möglichkeiten er im Gespräch mit seiner Frau, einer Psychologin und Psychotherapeutin, auslotete. Viele kamen nicht so schnell nach, sich die Augen reibend angesichts des mit ungeheurem Fleiß vorangetriebenen Oeuvres. Viele neutestamentliche Zunftgenossen merkten auch nicht, dass Gerd Theißen plötzlich im Hochwald der Praktischen Theologie jagte und dort eine Predigtlehre und eine Bibel-Didaktik entwarf. Aus der gymnasialen Religionspädagogik kommend, ließ er sich stets von der didaktischen Frage umtreiben, ein Umtrieb, der ihn auch in der eigenen universitären Lehre Früchte ernten ließ. Mit Quintilian ist Gerd Theißen einig, dass wir nicht „gleichsam mehrere Leben brauchen, um mehrere Künste zu lernen“, während andere brav vorziehen, „bei dem zu verweilen, was wir können, anstatt zu lernen, was wir noch nicht beherrschen“ (Quint., Inst. 12,11,20 und 14: nec […] sequitur ut pluris quasdam vitas ad plura discenda desideremus […] morari in eo, quod novimus, quam discere quae nondum scimus). Hinter der grenzgängerischen Rastlosigkeit, die uns neue Räume eröffnete, steht die Urneugier, wie die biblische Botschaft ins berührbare Alltagskleinklein einerseits der Historie umgesetzt wurde und andererseits in der Gegenwart umsetzbar ist – didaktisch, psychologisch, gesellschaftlich. Es geht Gerd Theißen um ein solch umfassendes und berührbares Hermeneuomenon des scheinbar Unberührbaren. Den Bibelbezug entfaltet er dabei nicht als bloßen Anwendungsfall, sondern als hermeneutisch reflektierte Grunddimension. Er predigt deshalb auch gern. Und er ist bereit zu streiten – mit Argumenten für einen kritischen Glauben, wie ein Buch (von zuerst 1979) heißt.

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Gerd Theißen als Grenzgänger

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Verfolgen wir etwas genauer das sich entwickelnde Oeuvre. Herkommend von der traditionellen historisch-kritischen formgeschichtlichen Analyse frühchristlicher Texte, wandte sich Gerd Theißen früh dem soziologischen Durchdringen der Urchristentumsgeschichte zu, zuerst in einer Sozialgeschichte der frühen Jesusbewegung in den Jahrzehnten nach 30 n.Chr., die bis heute einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Entstehung des Urchristentums liefert und in Die Jesusbewegung: Sozialgeschichte einer Revolution der Werte (2004) eine pointierte Fortsetzung fand. Studien zur Soziologie des Urchristentums (seit 1979 mit weiteren Auflagen) weitete den Rahmen über die Jesusbewegung hinaus. Zu nennen sind hier auch Monographien wie Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien (zuerst 1989) und Gospel Writing and Church Politics: A Socio-Rhetorical Approach (2001). Dazu gesellte sich eine Fülle von Aufsätzen, in denen soziologische Modelle für die frühchristliche Sozialgeschichte fruchtbar gemacht wurden, neben antiken Texten zum Beispiel auch die Numismatik ausgewertet und inhaltlich oft neue Sichtweisen ermöglicht wurden. Theißen gab weltweit entscheidende Impulse zum sozialgeschichtlichen Erschließen des frühen Christentums. Viele Studien in aller Welt ließen sich von ihm anregen. Ohne ihn wäre dieses Forschungsfeld nicht so rasch und so nachhaltig in den letzten Jahrzehnten beackert worden. Der zweite pionierhaft ausgebaute Schwerpunkt liegt bei der methodisch kontrollierten psychologischen Literaturinterpretation und psychologischen Erforschung des frühen Christentums. Bereits an der Universität Kopenhagen (1978–80) beschäftigte Gerd Theißen die skandinavische Religionspsychologie der Uppsala-Schule. 1983 erschien Psychologische Aspekte paulinischer Theologie und 2007 als monomentale Psychologie des Urchristentums Erleben und Verhalten der ersten Christen. Auch hier wird der innovative Impuls durch entsprechende Aufsätze verstärkt. Wie der letzte Titel andeutet, ist der Weg zur Ethik vorgezeichnet. Zur Zeit bereitet Gerd Theißen eine umfassende Darstellung der Ethik des frühen Christentums vor. Auf der Basis sorgfältiger historischer Quellenstudien, verbunden mit soziologischen, religionspsychologischen und ritualtheoretischen Fragestellungen, entwickelte Theißen 1999 schließlich eine Theorie des Urchristentums, The Religion of the Earliest Churches: Creating a Symbolic World. Bereits 1984 erschien auch eine mit einem evolutionstheoretischen Modell arbeitende Analyse der biblischen Glaubenswelt. Diese Arbeiten gaben neue Impulse für die frühchristliche Theologiegeschichtsschreibung. 2007 folgte eine Literaturgeschichte des Neuen Testaments. Der nächste Schwerpunkt, das Erforschen des historischen Jesus, reiht sich mit mehreren Monographien folgerichtig an die ursprünglichen Ausgangspunkte bei der Formgeschichte und bei der Soziologie der Jesusbewegung an. Eines dieser Bücher widmet sich methodologischen Problemen,

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Peter Lampe

ein anderes, zusammen mit einer Schülerin geschrieben, reüssierte als Standardlehrbuch über den historischen Jesus. Gerd Theißens Erfolgsroman Im Schatten des Galiläers lebt davon, dass Jesus nirgends selbst auftritt, sich dem Zugriff des Beschauers entzieht, doch sein Schatten überall hinfällt. Gerd Theißen weiß bei allem „Reden von“ um den Wert des „Schweigens von“, gerade als Theo-Loge, als Grenzgänger bewusst der Grenzen. Ad posteros virtus durabit (Quint., Inst. 3,1,21).

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Gerd Theißen

Protestantische Existenz heute Heidelberger Abschiedsvorlesung1

Das Thema meiner Abschiedsvorlesung lautet: Protestantische Existenz heute. Jeder darf wissen, dass ich gerne Protestant bin; aber mir ist bewusst: Viele Protestanten lieben das Wort „Protestantismus“2 nicht. Ihre Einwände gegen dieses Wort leuchten mir nicht ein. Ein semantischer Einwand sagt: Protestantismus komme von „Protest“; wie könne man seine Identität darauf bauen, dass man gegen etwas ist? Aber im Wort „Protest“ steckt ein Pro. Hinter jedem Widerspruch steht etwas, wofür man eintritt. „Protestari“ heißt „öffentlich bezeugen“.3 Das öffentliche Eintreten für eine Position kennzeichnet den „Protestanten“. Ein historischer Einwand sagt: Das Wort komme von der Protestation einiger Fürsten 1529 in Speyer gegen das Reformationsverbot des Kaisers.4 Es habe mit unserer protestantischen Existenz heute nichts zu tun. Das ist ein Irrtum! Heute beansprucht jeder Protestant das Privileg, selbst zu entscheiden, was er glauben, denken und tun soll. Jeder Protestant ist ein kleiner Fürst. Der dritte Einwand ist ökumenisch.5 Soll man das Protestantische betonen, wo doch Katholiken und Protestanten zusammenrücken? Aber warum ————— 1 Abschiedsvorlesung Gerd Theißens am 4. Juli 2008. 2 Zur Geschichte des Begriffs Protestantismus vgl. K. RAISER, Art. Protestantismus, EKL 3, 1992, 1351–1358; J. WALLMANN, Art. Protestantismus, RGG4 6, 2003, 1728–1733. 3 K.E. GEORGES, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch Bd. 2, Darmstadt 2003, 2038: „protestor“ bedeutet: „öffentlich bezeugen, öffentlich beweisen, dartun oder aussagen“. 4 1529 legte eine Minderheit evangelischer Fürsten und Städten einen Einspruch gegen den Mehrheitsbeschluss des Reichstags ein, mit dem ein einstimmig gefasster Reichstagsbeschluss von 1526 aufgehoben wurde, der durch Aufhebung des Wormser Edikts (1521) das Recht zur Durchführung der Reformation gegeben hatte. Sie beriefen sich auf ihr Gewissen („das in sachen gottes ere und unser selen belangend ain jeglicher für sich sels vor gott stehen und rechenschaft geben mus“) und bestritten in religiösen Fragen die Geltung von Mehrheitsbeschlüssen. Vgl. W.-D. HAUSCHILD, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte Bd 2: Reformation und Neuzeit, Gütersloh 32005, 113. 5 „Protestantes“ oder „Protestierende“ waren zunächst Fremdbezeichnungen, mit denen die katholische Kontroverstheologie Lutheraner und Calvinisten zusammenfasste. In England wurden sie zur Selbstbezeichnung der anglikanischen Kirche, die sich so mit allen reformatorischen Kirchen zusammenschloss. Von England aus wurde „Protestanten“ (von engl. „protestants“ anstelle des älteren „Protestierenden“) im 18. Jh. in Deutschland zur Selbstbezeichnung von Lutheranern

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Gerd Theißen

rücken sie zusammen? Doch auch deswegen, weil viele Katholiken in unseren Ländern kryptoprotestantisch geworden sind? Sie bestimmen selbst, was sie glauben und was sie tun! Schließlich ein kulturdiagnostischer Einwand: Protestantismus sei überholt.6 Das Programm, mit der Vernunft die christliche Überlieferung neu zu interpretieren, sei gescheitert. Einerseits sei die Vernunft postmodern erodiert und zweifle an sich selbst. Andererseits lasse sich die Religion nicht vom Kopf her beleben. Gott zeige sich vielmehr in Spiritualität und Mystik, Kunst und Natur, Liturgie und Gemeinschaft – in Evidenzquellen jenseits des Wortes und jenseits der Vernunft. Eben deswegen ist das Thema „Protestantische Existenz heute“ notwendig. Protestantismus ist der Versuch, im Rahmen der Religion vernünftig zu denken und zu handeln. Das ist nicht der von mir bewunderte Versuch, „Religion im Rahmen der reinen Vernunft“ zu begründen. Dieses Aufklärungsprogramm endet meist in Vernunft ohne Religion. Aber Glaube ist mehr als Vernunft. Glaube ist Vertrauen in einen unbedingten Sinn des Lebens und der Welt, den kein Mensch sich selbst geben kann. Glaube umfasst mystische Erfahrungen und prophetische Auftragsgewissheit, die alle Vernunfterkenntnisse übersteigen und dennoch nicht gegen die Vernunft sind. Eben solch ein die Vernunft übersteigender Glaube kann zur Vernunft motivieren. Denn um trotz postmoderner Skepsis an der Vernunft festzuhalten, bedarf es eines Glaubens, der weiß, dass wir uns den Imperativ zur Wahrheit nicht selbst geben, sondern dass er uns gegeben ist; und der das Vertrauen hat, dass uns dieser Imperativ zur Wahrheit nicht überfordert, sondern wir zur Korrektur unserer Irrtümer fähig sind. Ohne sol————— und Calvinisten. Der Begriff hat eine ökumenische Vorgeschichte, insofern er alle reformatorischen Kirchen vereinte und wurde durch Unionsbemühungen zwischen Lutheranern und Reformierten begünstigt. Jedoch wurde er in der konfessionellen Erweckungsbewegung bewusst durch „evangelisch“ ersetzt: Der inzwischen mit der Aufklärung verbundene Protestantismusbegriff wurde zum Parteinamen, wie der 1863 gegründete „Allgemeine deutsche Protestantenverein“ zeigt, der sich für eine Demokratisierung von Kirche und Gesellschaft einsetzte. 6 Solche Aussagen setzen voraus, dass man „Protestantismus“ inhaltlich durch ein „protestantisches Prinzip“ bestimmt. J.G. HERDER (1744–1803) suchte es in der Freiheit des Gewissens. G.F.W. HEGEL (1770–1831) sah das protestantische Prinzip darin, „nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken rechtfertigt ist“ (Vorrede zur Rechtsphilosophie). D.F.E. SCHLEIERMACHER sah den entscheidenden Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus im Verhältnis von Individuum, Kirche und Gott, wonach „ersterer das Verhältnis des einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christus, der letztere aber umgekehrt das Verhältnis des einzelnen zu Christus abhängig von seinem Verhältnis zur Kirche.“ (Glaubenslehre § 24). Im 19. Jh. setzte sich der „Kanon“ von zwei protestantischen Prinzipien durch: der Heiligen Schrift als Formalprinzip und der Rechtfertigung allein aus Glauben als Materialprinzip des Protestantismus. P. TILLICH (1886–1965) bestimmte das protestantische Prinzip als prophetischen Protest gegen jede Verabsolutierung irdischer Machtstrukturen und unterschied davon die protestantische Weltgestaltung, die im Irdischen in lebensfähigen Formen die „Gestalt der Gnade“ sichtbar macht.

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Protestantische Existenz heute

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chen Glauben wird die Vernunft zynisch. Sie wertet sich allzu schnell als Ausdruck von Wünschen und Interessen, von Macht und Konflikt, von Habitus und Mentalität ab. Sie verliert ihre Selbstachtung. Um sie zu erhalten, muss man ein wenig an die Vernunft „glauben“, anders als man an Gott glaubt, etwas bescheidener – etwa in folgender Weise: Gott hat dem Menschen Vernunft gegeben, damit er Gebrauch von ihr macht. Vernunft ohne Glaube wird zu schnell zynisch, Glaube ohne Vernunft zu schnell fanatisch. Als ich anfing, Theologie zu studieren, interessierten mich vor allem vier Themen: Gott, die Bibel, die Freiheit eines Christenmenschen und das Tun des Guten. Bei diesen vier Themen möchte ich zeigen, was „Protestantische Existenz heute“ bedeutet – also was es bedeutet, wenn man sie mit einem gewissen Vertrauen in die Vernunft betrachtet.

Das protestantische Gottesverständnis heute oder die zweifache Radikalität im Verhältnis zur Welt und zu Gott Die Arbeit an einer Religionsgeographie Europas brachte ein triviales und ein auffälliges Ergebnis.7 Trivial ist das Ergebnis: Religiöse Menschen neigen dazu, die Wirklichkeit hinzunehmen, wie sie ist. Atheisten wollen sie verändern. Interessant ist, dass es eine Ausnahme gibt: Protestanten verbinden beides. Sie überbieten andere im Willen, die Welt mit Hilfe ihrer Vernunft zu gestalten. Aber Protestanten sind auch in religiöser Hinsicht radikal, also in ihrem Verhältnis zu Gott. Zur Religion gehört, dass wir in dem, was wir nicht beeinflussen können, einen Sinn finden, einen Auftrag oder eine zu akzeptierende Grenze. Man nennt das „Kontingenzbewältigung“.8 Und viele sehen in ihr eine Funktion, die auch in der säkularisiertesten aller Welten nur durch Religion ausgeübt werden kann. Der Glaube gibt auch dem einen Sinn, wovon wir schlechthin abhängig sind. Umso mehr, meinen viele, sollten wir wenigstens in dem Bereich frei sein, den wir selbst mit Sinn erfüllen können, für den wir verantwortlich sind und den wir gestalten können. Protestanten sind in der Tat überzeugt, dass sie hier viel gestalten können, aber dass dennoch niemand den Sinn seines Lebens schaffen kann. Wir können ihn nur als Geschenk empfangen. Der Mensch wird allein aufgrund von Gnade gerecht. Anders gesagt: Die Legitimität seines Lebens ist ein Geschenk Gottes. So wenig wir irgendetwas dazu beigetragen haben, dass ————— 7 Die Informationen über die Religionsstatistik stammen aus R. SCHLOZ, Zur Zukunft der Kirchenmitgliedschaft, EvTh 63, 2003, 76–79, 77. 8 H. LÜBBE, Religion nach der Aufklärung, Graz/Wien/Köln 1986, 127–218.

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Gerd Theißen

wir physisch existieren, so wenig können wir dazu beitragen, dass unsere Existenz sinnvoll ist – trotz allem, was wir an Sinnvollem tun. Protestanten fallen also in zweifacher Hinsicht auf: Sie haben ein großes Verantwortungsbewusstsein, das sie zum Handeln aktiviert. Und sie haben ein radikales Abhängigkeitsbewusstsein, das ihnen sagt: Der Sinn ihres Lebens ist nicht von ihrem Handeln abhängig, sondern allein von Gott. Lassen Sie mich an einem Gleichnis verdeutlichen, was das Besondere dieser doppelten Radikalität des Protestantismus ist. Dazu wähle ich die Parabel vom Gärtner, den es gar nicht gibt. Der Philosoph Antony Flew hat sie benutzt, um die Sinnlosigkeit des Redens von Gott zu zeigen.9 Meine Version dieser Parabel soll die Möglichkeiten eines vernünftigen Redens von Gott aufzeigen.10 Zwei Forschungsreisende stoßen im Urwald auf einen Garten, finden aber keinen Gärtner. Sie widerlegen die Vermutung, er sei unsichtbar, durch Zäune, Bluthunde und Elektrofallen. Der eine glaubt, dass der Gärtner unempfindlich gegen elektrische Schläge ist, ungehindert durch Zäune steigt und Hunde ihn nicht riechen können. Der andere ist ein Agnostiker. Er sieht keinen Unterschied zwischen einem unsichtbaren und ewig entweichenden Gärtner und einem Gärtner, den es gar nicht gibt. Beide, Skeptiker und Gläubiger, handeln atheistisch. Sie bauen Stacheldraht, hetzen Bluthunde und stellen Elektrofallen auf. Dass Gott sich ihren Methoden entzieht, spricht nicht gegen ihn. Wie aber reagieren religiöse Menschen auf die Entdeckung des Gartens? Sie feiern ein Fest, weil sie im Urwald Ordnung und Sinn gefunden haben! Sie formulieren Gebote, die dazu verpflichten, den Garten zu pflegen. Sie erkennen, dass die Ordnung im Garten und in ihnen dieselbe ist. Beides klingt zusammen wie Melodie und Begleitung. Beides ist Teil einer Sinfonie des Lebens. Sie erzählen schließlich die Geschichte von einem Gärtner, der alles geschaffen hat und der ihnen den Garten anvertraut hat. Ihre Geschichte ist Poesie, aber sie enthält Wahrheit, obwohl sie durch und durch erfunden ist!

————— 9 Vgl. A. FLEW/A. MACINTYRE (Hg.), Essays in Philosophical Theology, London 1955, 96ff = I.U. DALFERTH (Hg.), Sprachlogik des Glaubens, Texte analytischer Religionsphilosophie und Theologie zur religiösen Sprache, München 1974, 84–95. Die Parabel geht zurück auf J. WISDOM, Götter, in: I.U. DALFERTH (Hg.), Sprachlogik des Glaubens, 63–83, dort 69f. 10 G. THEISSEN, Vom wiedergefundenen Paradies. Meditative Texte, Stuttgart 2005, 38f.

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Protestantische Existenz heute

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Wenn ich den Unterschied zwischen einem Protestanten und anderen illustrieren sollte, würde ich diese Parabel an zwei Stellen verändern: Zunächst würde ich die typisch protestantische Einstellung zur Welt in die Parabel eintragen. Ein Protestant unter unseren Forschungsreisenden würde sagen: Lasst uns den Garten im Urwald nicht nur pflegen, sondern den Urwald zum Garten machen. Wenn andere Gottesdienste feiern, um die Entdeckung des Gartens zu feiern, würde der Protestant sagen: Unser Gottesdienst ist, diesen Garten zu erweitern, so dass sich alle in ihm ernähren können. Der Protestantismus will die vorgefundene Welt nicht nur bewahren, sondern mit Vernunft neu gestalten. Darin besteht die Radikalität seiner Weltgestaltung. Aber auch die protestantische Beziehung zu Gott kann man gut in diese Parabel eintragen: also das, was ein Protestant vom Gärtner erzählt. Er erzählt wie alle anderen von Gott, der Kosmos und Erde, Urwald und Garten, Tiere und Menschen erschaffen hat. Ihr Glaube besteht in Dankbarkeit dafür, dass sie so geschaffen sind, wie sie sind. Der Protestant aber weiß, dass die Welt und er selbst noch nicht fertig ist. Er ist geboren, um wiedergeboren zu werden. Er hofft, dass Gott ihn noch einmal umgestalten wird. Ohne diese Ausrichtung auf eine Erneuerung verfehlt er sein Leben. Aber gerade dabei erlebt er sich als radikal abhängig. Solch ein Protestant ist ein unruhiges Wesen. Die Welt ist noch nicht fertig, wie sie ist. Wir sind noch nicht fertig, wie wir sind. Gott arbeitet an beidem, an der Verwandlung der Welt und der Verwandlung des Menschen. Er vertraut uns eine große Aufgabe an, dabei mitzuwirken. Daher diese Unruhe. Philipp de Marnix, Diplomat und Theologe, ein Schüler Calvins, notierte in seinem Tagebuch die urprotestantische Devise: repos d’ailleur. Ruhe ist anderswo.11 Die andere Seite des Protestantismus wird durch Luthers Satz zum Ausdruck gebracht: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Es gibt einen Felsen der Ruhe für den Protestanten. Er weiß sich unbedingt akzeptiert von Gott, obwohl er noch nicht fertig ist und obwohl die Welt nach Änderung schreit. Diese innere Ruhe ist in der Botschaft von der Rechtfertigung des Menschen verankert. Gott akzeptiert ihn unbedingt – und wenn die Welt voller Teufel wäre, wenn noch so viele Katastrophen über sie hereinbrechen, wenn er sich auch noch so sehr in ihr verirrt. Aber woher weiß der Protestant das? Wo begegnet er diesem Gott? Keiner hat das besser zum Ausdruck gebracht als Heinrich Heine, auch wenn er im Protestantismus nicht die Heimat gefunden hat, nach der er sich gesehnt ————— 11 Zitiert nach C.W. MÖNNICH, Bürger, Ketzer, Außenseiter. Die Geschichte des Protestantismus in ihren Grundzügen, München 1984, 8. Philipp de Marnix (1540–1598) studierte u.a. bei Calvin in Genf Theologie, übersetzte die Psalmen und diente als Politiker Wilhelm von Oranien.

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hat. Als er darüber Rechenschaft ablegte, warum sich seine Einstellung zur Religion im Laufe seines Lebens trotz solcher Enttäuschungen zum Positiven geändert hat, schreibt er: […] ich verdanke meine Erleuchtung ganz einfach der Lektüre eines Buches – Eines Buches? Ja, und es ist ein altes, schlichtes Buch, bescheiden wie die Natur, auch natürlich wie diese; ein Buch, das werkeltätig und anspruchslos aussieht, wie die Sonne, die uns wärmt, wie das Brot, das uns nährt; ein Buch, das so traulich, so segnend gütig uns anblickt wie eine alte Großmutter, die auch täglich in dem Buche liest, mit den liebenden, bebenden Lippen und mit der Brille auf der Nase – und diese Buch heißt auch ganz kurzweg das Buch, die Bibel. Mit Fug nennt man diese auch die Heilige Schrift; wer seinen Gott verloren hat, der kann ihn in diesem Buche wiederfinden, und wer ihn nie gekannt, dem weht hier entgegen der Odem des göttlichen Wortes.12

Mein zweites Thema ist daher die Bibel. Wie kann uns auch heute aus ihr der Atem des göttlichen Wortes anwehen? Löst sie sich unter den scharfsinnigen Analysen der historisch-kritischen Forschung nicht in ein Archiv des Glaubens auf, in dem Dokumente eines vergangenen Glaubens aufbewahrt werden, nicht aber Dokumente eines heute lebendigen Glaubens?

Das protestantische Bibelverständnis heute oder der vierfache protestantische Schriftsinn13 Der Protestantismus begann mit der Bibel – mit einer exegetischen Einsicht Martin Luthers.14 Die iustitia dei in Röm 1,17 meint nicht, dass Gott unparteiisch den Ungerechten bestraft, sondern den Ungerechten freispricht. Die unbedingte Anerkennung des Menschen durch Gott allein aufgrund des Glaubens wurde zur protestantischen Grunderkenntnis. Luther hat sie exegetisch begründet: Er verstand iustitia dei als Genitivus objectivus, nicht als Genitivus subjectivus. Er deutete Gottes Gerechtigkeit als Gabe, die er dem Menschen schenkt. Dafür berief er sich auf sprachliche Analogien: Gottes Werk ist das Werk, das Gott in uns tut, seine Weisheit die Weisheit, mit der er uns weise macht. Ebenso ist seine Gerechtigkeit die Gerechtigkeit, die er uns schenkt. Was gab diesen philologischen Einsichten eine weltgeschichtliche Kraft? Es waren nicht die exegetischen Einzelargumen————— 12 H. HEINE, Zur Geschichte der Philosophie und Religion in Deutschland. Vorrede zur zweiten Auflage 1852, in: H. HEINE, Beiträge zur deutschen Ideologie, Frankfurt 1972, 7. 13 Ausführlicher in G. THEISSEN, Protestantische Exegese. Plädoyer für einen neuen vierfachen Schriftsinn, Sacra Scripta 5, 2007, 164–191. 14 Vgl. M. LUTHER, Vorrede zum ersten Band der Gesamtausgabe seiner lateinischen Werken aus dem Jahre 1545, WA 54, Weimar 1928, 185f.

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te, sondern vier Funktionen seiner Erkenntnis, aus denen wir einen vierfachen protestantischen Schriftsinn ableiten können. Luther sagt über seine Deutung der „Gerechtigkeit Gottes“, Röm 1,17 sei ihm dadurch zum „Tor des Paradieses“ geworden. Heinrich Heine berührte der Atem Gottes in den biblischen Texten. Eine theologische Exegese will durch den Bibeltext das Tor zur Transzendenz öffnen und einen Dialog mit Gott aufnehmen. Eine Botschaft aus der Transzendenz nennen wir in der Theologie ein „Kerygma“. Daher ist das erste Merkmal protestantischer Exegese: Sie hat kerygmatische Funktion, sie hat einen Transzendenzbezug. Seine reformatorische Erkenntnis verschaffte Luther ferner Heilsgewissheit, nämlich die Gewissheit von der unbedingten Annahme des Menschen durch Gott. Exegese muss daher zweitens einen Existenzbezug haben, muss zum Gelingen und Misslingen des Lebens vor Gott beitragen. Exegese muss eine existenzielle Funktion haben. Die Reformation nannte die Rechtfertigungslehre den articulus stantis et cadentis ecclesiae: der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt. Sie ist Maßstab für die Kirche. Das griechische Wort für Maßstab ist „Kanon“. Texte sind dann kanonische Texte, wenn sie als Norm einer religiösen Gemeinschaft dienen. Das dritte Kriterium der Exegese ist daher ihre kanonische Funktion. Ihr Kirchenbezug zeigt sich heute vor allem in ihrer ökumenischen Funktion. Die Bibel verbindet alle Konfessionen. Die Bibel verbindet, ihre Auslegung aber trennt. Die Rechtfertigungslehre ist auch der articulus cadentis ecclesiae.15 Mit ihr wurde die spätmittelalterliche Kirche als ein System klug verwalteter Angst zu Fall gebracht. Ein viertes Kriterium protestantischer Exegese ist daher ihre kritische Funktion. Hegel hat diese Funktion der Bibel so beschrieben: „Luther hat diese Autorität (sc. der Kirche) verworfen und an ihre Stelle die Bibel selbst und das Zeugnis des menschlichen Geistes gesetzt. Daß nun die Bibel selbst die Grundlage der christlichen Kirche geworden ist, ist von der größten Wichtigkeit; jeder soll sich nun selbst daraus lehren, jeder sein Gewissen daraus bestimmen können. Das ist die ungeheure Veränderung im Prinzip: die ganze Tradition und das Gebäude der Kirche wird problematisch und das Prinzip der Autorität der Kirche umgestoßen.“16 Eine exegetische Aussage wird also zu einer theologischen Aussage, wenn sie kerygmatische, existenzielle, kanonische und kritische Funktion hat. Diese vier Funktionen bilden den vierfachen Schriftsinn des Protestantismus, der – so ist meine These – unbemerkt an die Stelle des vierfachen —————

15 Vgl. T. MAHLMANN, Art. Articulus stantis et (vel) cadentis ecclesiae, RGG4 1, 1998, 799f. Die Herkunft der Formel ist unbekannt. Sachlich geht sie auf Luther zurück. Vgl. Schmalkaldische Artikel (BSLK, 415f). Direkt bezeugt ist sie bei Franz Turretini 1682. 16 F.W. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werkausgabe 12, Frankfurt 1970, 497f.

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Schriftsinns der mittelalterlichen Tradition getreten ist. Wie und wann geschah das? Die kritische Funktion der Bibelexegese dominierte im Liberalismus des 19. Jh.s. In ihm wollte die historisch-kritische Exegese durch Rückgriff auf die Geschichte den Glauben von den Fesseln des Dogmas lösen. Die Entdeckung des historischen Jesus sollte den Glauben erneuern, die Entdeckung des ursprünglichen Textsinns von der Tradition befreien. Das verlieh der protestantischen Exegese Pathos und Attraktivität. Von der historischen Kritik hat sich der kritische Impuls auf alle Aspekte der Schrift ausgedehnt: als Mythoskritik auf die Kritik der Vorstellungen, als Ideologiekritik auf die Kritik ihrer Werte und Normen. Die humanwissenschaftlich begründete Kritik ist zur entscheidenden hermeneutischen Kraft der Kritik geworden. Im 20. Jh. erneuerte die Dialektische Theologie die kerygmatische Dimension der Exegese: Sie sah in den Bibeltexten Einschlagsorte einer Botschaft, welche die Grenze zwischen Gott und Mensch durchbrach. Die Dialektische Theologie hat damit eine Blütezeit der Exegese eingeleitet, auch wenn ihre Exegese wissenschaftlich gesehen oft eine „wilde Exegese“ war – wie etwa der Kommentar zum Römerbrief von Karl Barth (1919, 2 1922). Die Dialektische Theologie wandelte sich im Laufe des 20. Jh.s zu einer Theologie des Verstehens. Sie wollte das reine Kerygma aus seiner mythischen Form lösen und als existenzverändernde Kraft deuten. R. Bultmann wurde mit diesem Programm der größte Exeget des 20. Jh.s. Nur selten wurde seine existenziale Interpretation durch eine soziale und politische Hermeneutik weiter entwickelt, obwohl die Bibel in den Grundwerten unserer Gesellschaft nachwirkt: Hinter der Menschenwürde steht auch die Überzeugung von der unbedingten Annahme des Menschen durch Gott, sie konvergiert mit der Rechtfertigungsbotschaft. Seit etwa 1970 wurde das profilierteste neue hermeneutische Programm der „canonical approach“. Die Endgestalt der Texte wurde aufgewertet, die in der Kirche wirksam ist. Als kanonisches Buch ist die Bibel Grundlage der Kommunikation zwischen allen Christen in der Ökumene. Wenn Paulus in der christlichen Gemeinde drei Gegensätze überwunden sieht – die Gegensätze zwischen Juden und Griechen, Freien und Sklaven, Mann und Frau (Gal 3,28) –, so entspricht das drei Ansätzen einer ökumenischen Hermeneutik heute: einer jüdisch-christlichen, eine befreiungstheologischen und einer feministischen Lektüre der Bibel. Der neue protestantische vierfache Schriftsinn ist also schon bei Luther angelegt, aber er wurde im Protestantismus erst in den letzten zwei Jahrhunderten entfaltet. Bibel und Exegese gewannen eine vierfache Funktion und Bedeutung:

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durch Kritik des kirchlichen Dogmas im Liberalismus, durch Erneuerung des Transzendenzbezugs in der Kerygmatheologie, durch Vertiefung des Lebensbezugs in der Existenztheologie und durch die ökumenische Ausweitung des Kirchenbezugs in der Gegenwart.

Heute suchen viele Protestanten andere Evidenzquellen neben der Bibel: in Meditation und Spiritualität, Kunst und Liturgie, Kultur und Ethik. Eine Bibelmüdigkeit lähmt den Protestantismus. Das einzige Heilmittel dagegen ist eine Exegese, welche die kritische, kanonische, existenzielle und kerygmatische Bedeutung der Bibel neu zur Geltung bringt. Dabei muss sich die Exegese durch exegetische Vernunft weiter entwickeln: Was historische Kritik erarbeitet hat, muss durch das Fegefeuer der Religionskritik, der Transzendenzbezug der Texte muss religionsphilosophisch reflektiert, der Lebensbezug der Texte in der Ethik gesucht werden, ihr ökumenischer Sinn muss sich im interreligiösen Dialog bewähren. Erst mit einem fortgeschriebenen vierfachen Schriftsinn wird die Bibel im Protestantismus wieder ein lebendiges Buch. Erst dadurch wird auch historische Arbeit an der Bibel zu einer theologischen Aufgabe. Aber ist es so wünschenswert, dass der Protestantismus wieder so lebendig wird wie am Anfang? Damals konnte Luther sagen: Hier stehe ich, und kann nicht anders. In einer pluralistischen Gesellschaft muss man eher sagen: Hier stehe ich – aber ich kann auch anders, kann Kompromisse schließen und meine Position überdenken. Ist Religion, wenn sie lebendig wird, noch pluralismusfähig? Passt sie in eine freie Gesellschaft? Damit komme ich zu unserem dritten Thema:

Das protestantische Freiheitsverständnis heute oder die Bindung des biblischen Monotheismus an Freiheit und Nächstenliebe Viele Menschen in unserer säkularen Gesellschaft haben Angst vor einer Wiederkehr der Religion. Soll das Leben wieder nach vorgegebenen Formen sozial verbindlich reguliert werden? Soll die wissenschaftliche Neugier durch vormoderne Mythen erstickt werden? Protestanten teilen diese Angst. Sie ist nicht ganz unberechtigt. Wenn man mit der Kraft des Unbedingten Normen formuliert, Wirklichkeitsinterpretationen entwirft, das Handeln von Menschen koordiniert – stellt sich die Frage: Wie können wir uns davor schützen, dass die Kraft des Absoluten nicht zum Fanatismus wird? Dass sie in der Geschichte oft dazu pervertierte, ist bekannt. Manche möchten die Religion daher aus dem öffentlichen Leben einer freien Gesellschaft verbannen.

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Eben deshalb wäre es gut, wenn der Protestantismus wieder öffentlich sichtbar würde. Denn er ist eine Religion der Freiheit. Er ist nicht einfach mit den reformatorischen Kirchen identisch. Zwar stammt der Begriff „Protestantismus“ aus der schon erwähnten „Protestation“ der Fürsten auf dem Reichstag zu Speyer. Aber der moderne Protestantismus beginnt erst dort, wo jeder Christ für sich das fürstliche Recht in Anspruch nahm, sich von staatlicher und kirchlicher Bevormundung zu befreien. Das geschah in der Zeit der Aufklärung und des Pietismus, als sich Christen gegen kirchliche und politische Autoritäten auf ihre Vernunft und ihr persönliches Erleben beriefen. Der Protestantismus wurde in jener Zeit geboren, als viele Aufgeklärte fromm und viele Fromme aufgeklärt sein wollten. Diese Zeit ist die geistige Heimat meines Protestantismus. An ihrem Ende wurde auf den Begriff gebracht, was Protestantismus ist: G.F.W. Hegel (1770–1831) definierte als dessen eigentümliches „Prinzip“ den Grundsatz, „nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist.“ J.G. Herder (1744–1803) betonte: „Freiheit ist der Grundstein aller protestantischen Kirchen“. Solche Traditionen scheinen heute der kulturellen Amnesie zu verfallen – ebenso dass die größte Bedrohung der Freiheit im letzten Jahrhundert nicht von den Religionen ausging, sondern von totalitären Bewegungen, die mit ihnen brechen wollten. Wahr ist ganz gewiss: Diese Bewegungen haben auch die Korrumpierbarkeit des Christentums aufgedeckt, aber auch die Korrumpierbarkeit von Wissenschaft und Bildung – und Widerstandskräfte in all diesen Bereichen – von der Wissenschaft bis hin zur Kirche. Protestantismus heißt, für eine Religion eintreten, für die Freiheit ein zentraler Wert ist – Freiheit in der Selbstbestimmung der Lebensführung, Freiheit in der Gesellschaft, Freiheit auch für die anderen, nicht nur in unserer mitteleuropäischen Welt, sondern auf allen Kontinenten. Befreiungstheologien sind Theologien mit protestantischem Akzent. Dieser Akzent ist gerade in unserer Gesellschaft sinnvoll, die Religion diffus als Freiheitsbedrohung erlebt. Die Bedrohung der Freiheit wird heute sogar oft im Zentrum der biblischen Religion gesucht: im Monotheismus.17 Die unbedingte Abhängigkeit von dem einen und einzigen Gott wird als metaphysische ————— 17 Die Ambivalenz des Monotheismus wird am besten herausgearbeitet von J. ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München/Wien 2003. Der Untertitel „Preis“ des Monotheismus ist unabsichtlich oder wohl eher absichtlich doppeldeutig: Er meint im Buch eher die „Kosten“ des Monotheismus. also dessen negative Seite, aber Preis kann im Deutschen auch von „preisen“ abgeleitet werden und ein „Lob“ des Monotheismus bedeuten. In der Tat verstehe ich Assmanns Gedanken als Durchführung der mosaischen Unterscheidung: Er sucht nach einer lebensdienlichen Religion, die mit Toleranz und Respekt verbunden ist, und macht mit Recht auf eine dunkle Seite des Monotheismus aufmerksam: Wer diese dunkle Seite nicht wahrhaben will, verfällt ihr nur allzu leicht.

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Diktatur perhorresziert. Angesichts der These von der Sozialschädlichkeit des Monotheismus möchte ich an einige elementare Bibeltexte erinnern. Am Anfang der Bibel steht die Aussage, dass der eine und einzige Gott den Menschen zur Verantwortung zieht. Der Mensch weiß um Gut und Böse. Er ist dafür verantwortlich, wenn er seinen Bruder umbringt. Er darf seine Verantwortung nicht auf andere abwälzen. Wenn Gott den modernen Adam zur Rechenschaft für seine Gewalttätigkeit ziehen würde, so wird der wahrscheinlich sagen: Nicht ich bin gewalttätig, sondern Gott, Du bist es selbst. Du hast dem Menschen die vergiftete Frucht der Religion gereicht, die an allem Fanatismus und aller Gewalt schuld ist. Doch was sagt Gott zu diesem Menschen? Er könnte Dtn 30,15f zitieren: „Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse. Wenn du gehorchst den Geboten des Herrn. deines Gottes, die ich dir heute gebiete, […], so wirst du leben.“ Der Mensch ist verantwortlich für seine Gewalttat und seinen Fanatismus. Er sollte nicht den Gott dafür verantwortlich machen, der ihm ethische Verantwortung für diese Welt zugemutet hat. Aber das heißt: Er hat den Menschen auch für die Traditionen und Texte verantwortlich gemacht, die Gewalttat und Fanatismus nähren. Es gibt solche gefährlichen Texte in der Bibel. Wir sind für ihre Auslegung und ihren Gebrauch verantwortlich. Aber es gibt auch viele andere Texte. Ich beschränke mich auf je einen zentralen Text im Alten und im Neuen Testament. Im Zentrum des biblischen Monotheismus steht im Alten Testament die Selbstvorstellung dieses Gottes mit einer Freiheitsformel: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Sklaverei geführt habe. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!“ (Ex 20,2–3). Nur ein Gott, der in die Freiheit führt, ist der wahre Gott. Alle anderen Götter sind Götzen. Dass in Luthers Kleinem Katechismus die Freiheitsformel weggelassen wurde, hat Symbolwert. Hat man mit der Freiheitsformel nicht auch oft die Sache verdrängt? Im Zentrum des Neuen Testament steht Jesus mit seinem Doppelgebot der Liebe. Er stellt neben das Grundgebot des Monotheismus, den einen und einzigen Gott von ganzem Herzen und mit allen Kräften zu lieben, das gleichwertige Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Mk 12,28– 34). Nur ein Gott, der zur Mitmenschlichkeit verpflichtet, ist der wahre Gott. Alle anderen Götter sind Götzen. An diesen zentralen Stellen der Bibel werden die Werte Freiheit und Liebe mit dem innersten Kern des monotheistischen Glaubens an den einen und einzigen Gott verbunden. Wer gegen sie verstößt, kann sich nicht darauf berufen, im Namen dieses Gottes zu handeln und zu reden. Beachtenswert ist ferner: Jesus fügt in das erste Gebot ein neues Element ein. Im Alten Testament steht nur, dass man Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele

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und allen Kräften verehren soll. Dass diese Verehrung dazu mit dem „Verstand“ geschehen soll (nicht nur mit dem „Gemüt“, wie die Lutherübersetzung verharmlost), das ist eine Ergänzung zum alttestamentlichen Text, die auf Jesus zurückgehen könnte.18 Der Gott der Bibel ist ein Gott, der Freiheit und Altruismus fordert und den man mit seinem Verstand verehren soll. Gerade diese Werte werden nun in der säkularen Welt bestritten: Unsere besten Wissenschaftler (in Neurowissenschaften und Soziobiologie) bestreiten, dass es Freiheit und Altruismus gibt. Dass ein Gottesglauben auch mit „Verstand“ und „Vernunft“ geschehen kann, wird erst recht mit intelligenten Argumenten geleugnet. So befindet sich der Protestantismus heute in einer merkwürdigen Frontstellung: Er verteidigt den Glauben an Freiheit und Nächstenliebe, an Autonomie und Altruismus. Er verteidigt eine Gottesverehrung mit „Verstand“ – und das nicht nur gegen Religionskritiker, sondern noch mehr gegen allzu Fromme in den eigenen Reihen. Aufklärung und Religion gelten als unvereinbar. Gerät dieser Protestantismus nicht eben deswegen heute in eine Krise, weil beides tatsächlich immer unvereinbarer wird? Kann man mit Verstand Gott verehren und Gutes tun? Selbst eine rationale Begründung einer Ethik, auf die wir uns in einer pluralistischen Gesellschaft einigen könnten, scheint nicht möglich. Daher ist mein letztes Thema:

Protestantische Ethik heute oder das Tun des Guten jenseits von Herrschafts- und Illusionsverdacht19 Es fällt in einer offenen Gesellschaft schwer, einen ethischen Konsens zu formulieren. Wir wollen als Bürger die Freiheit haben, unsere eigenen Vorstellungen vom guten und wünschenswerten Leben zu entwickeln. Verpflichtend soll nur das Notwendigste sein. Wir haben bei verbindlichen Werten sofort den Verdacht, jemand wolle uns auf subtile Weise beherrschen, und den Verdacht, wir machten uns Illusionen über ein Begründungsdefizit unserer Werte. Zunächst zum Herrschaftsverdacht. Moralische Urteile begegnen entweder in Form von Imperativen: „Du sollst das und das tun!“ oder von bewertenden Indikativen: „Das ist gut!“ In beiden Fällen ist vorausgesetzt, dass ————— 18 Der Begriff „Vernunft“ hebt allerdings nur ein Element hervor, das im Alten Testament im Begriff „Herz“ enthalten ist, worauf mich J. Kegler hinwies. 19 Vgl. zu diesem Abschnitt ausführlicher: G. THEISSEN, Urchristliches Ethos – eine Synthese aus biblischer und griechischer Tradition, in: C. STRECKER (Hg.), Kontexte der Schrift II: Kultur, Politik, Religion, Sprache – Text, FS W. Stegemann, Stuttgart 2005, 209–222.

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der Sprecher überlegen ist. Ein Imperativ „Du sollst!“ impliziert immer: Jemand sagt einem anderen, was er tun soll. Aber nicht jeder hat die Macht, Imperative für andere zu formulieren, nicht jeder hat die Position, Lob und Tadel zu verteilen. Wir haben daher mit Recht den Verdacht, hinter der Formulierung von Werten und Normen stecke ein Machtanspruch – nicht nur personale Herrschaft, sondern auch die „Herrschaft“ von Traditionen und Mentalitäten, in die wir hineingeboren wurden, ohne dass wir nach unserem Einverständnis gefragt wurden. Jede Ethik (also jedes rationale Nachdenken über Werte und Normen) ist daher ein Versuch, Herrschaft zu begrenzen – auch die Herrschaft kultureller Willkür. Könnten wir auf rationalem Wege Werte begründen, hätten wir den archimedischen Punkt gefunden, Herrschaft einzuschränken. Aber eben das gelingt nicht. Wir stoßen hier auf ein zweites Problem: ein Begründungsdefizit jeder Ethik: Wir zweifeln, ob wir Werte und Normen sachlich begründen können. Moralische Diskurse erscheinen uns oft so, als ringen hier verschiedene Gruppen in der Gesellschaft darum, den anderen zu diktieren, was gut und böse sei – auch wenn immer nur der jeweils anderen Seite unterstellt wird, sie wolle ihre Werte anderen aufzwingen. Wer z.B. davon überzeugt ist, der Mensch sei das Ebenbild Gottes, der mute Menschen ohne diese Überzeugung eine Achtung vor dem Leben zu, die für sie Willkür sei. Dieses Begründungsdefizit werden wir nie überwinden. Denn seit David Hume hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass wir aus IstAussagen keine Soll-Aussagen ableiten können. Hätten wir alle Erkenntnisse über das, was der Fall ist, so wüssten wir noch nicht, was sein soll. Unser Wissen sagt uns nur, wie die Welt ist, nicht wie sie sein soll, und nicht, wie wir handeln sollen. Wenn wir unsere Entscheidungen dennoch kognitiv in Sachverhalten begründen, haben wir immer den Verdacht, dass wir zuerst unsere Werte in die Sachverhalte hinein projiziert haben, um sie zirkulär aus ihnen abzuleiten. Das ethische Begründungsdefizit basiert in diesem Illusionsverdacht. Für sich genommen, könnten wir mit jedem dieser beiden Defizite leben. Erst wenn Herrschafts- und Illusionsverdacht zusammen kommen, entsteht eine schwierige Lage. Angenommen, unser Herrschaftsverdacht wäre berechtigt, wir könnten aber rational begründen, was zu tun ist, so hätten wir ein Mittel, um Herrschaft zu kontrollieren. Aber ohne sachlich begründbare Normen wird selbst der Kampf gegen die kulturelle Willkür von Normen willkürlich. Angenommen, wir könnten ethische Normen zwar nicht rational begründen, aber lebten in einer Welt ohne Herrschaft, wo keiner den anderen zu etwas zwingen kann und muss – auch damit könnten wir leben. Jeder würde seinen eigenen Normen und Werten folgen. Aber solch eine Welt ist eine Illusion. Wir müssen uns in allen möglichen Welten auf ein paar Regeln und Werte einigen.

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Man hat nun (vor allem in Frankfurt) Bedingungen definiert, unter denen Konsensfindung erfolgreich sein könnte: Bei einem herrschaftsfreien Dialog würde der Herrschaftsverdacht hinfällig; bei einer freien Selbstbindung aller Betroffenen verringere sich das Begründungsdefizit. Aber selbst wenn es solche idealen Kommunikationsbedingungen irgendwo gäbe, – und ich kann bezeugen: Auch in der Universität gibt es sie nicht – selbst dann wäre die Begründung von Normen und Werten durch solch einen Konsens begrenzt. Ein Konsens, der auf einer sachlich nicht begründbaren Selbstbindung von Menschen beruht, kann jederzeit revidiert werden. Denn was auf Selbstbindung basiert, kann durch das sich selbst bindende Selbst jederzeit wieder aufgelöst werden. Entzieht aber jemand einem Konsens seine Zustimmung, orientiert sich aber weiterhin an ihm, so ist aus Konsens eine reine Konvention geworden. So viel zur Situation unserer Ethik, wie ich sie sehe. Ich meine nun, in antiken Traditionen (in der biblischen und der griechischen Tradition) etwas gefunden zu haben, was einen Weg zeigt, trotz der Grenzen unseres Wissens mit dem Herrschaftsverdacht und dem Illusionsverdacht verantwortlich umzugehen. Daher skizziere ich vereinfachend Grundzüge der beiden genannten ethischen Traditionen. Zunächst also etwas über die griechische, dann über die jüdische Tradition. Eine kleine Gruppe griechischer Philosophen verwandelte die Imperative der Herrscher in Imperative, die wir uns selbst geben. Nicht andere sollen über uns herrschen, sondern wir sollen uns selbst beherrschen. Ein Herrschaftsverhalten, das ursprünglich in der Aristokratie verwurzelt war, wurde jedem im Volk zugemutet: als Herrschaft über sich selbst. Diese Ethik ist eine demokratisierte Herrschaftsethik. Sie ist eine Ethik der Autonomie und Selbstbeherrschung. Wer aber lobt und tadelt uns in dieser Ethik? Nicht Menschen, sondern die Natur. Gutes Verhalten entspricht der Natur (der phýsis), und nicht der Willkür anderer Menschen (der thésis). Welch eine Macht in dieser Unterscheidung lag, zeigt die älteste Kritik an der Sklaverei. Der Redner Alkidamas formulierte sie im 4./5. Jh. v.Chr., indem er sagte: „Der Gott hat alle frei geschaffen, und keinen hat die Natur zum Sklaven bestimmt“ (Aristoteles Rhet 1373b 18). Die Natur der Dinge sagte ihm, dass es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Sklaven und Freien gibt. Er vertrat damit eine Einsichtsethik. Man kann durch Einsicht in die Wirklichkeit erkennen, was gut und böse ist. Nun zum zweiten Weg, Herrschaft in ethischen Imperativen zu reduzieren. Er wurde in Israel beschritten. Wenn ethische Forderungen Imperative von Überlegenen an Unterlegene sind, so wird dieses Herrschaftsverhältnis auf den Kopf gestellt, wenn vom Gleichberechtigten oder gar vom

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Unterlegenen und Schwächeren ein verpflichtender Imperativ ausgeht. Diese Ethik fordert, den Bedürfnissen des Nächsten zu entsprechen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Und dieser Nächste ist auch im Schwächeren zu entdecken. Das Nächstenliebegebot ist schon in seiner ältesten Formulierung in Lev 19,18 eingebettet in Gebote der sozialen Rücksicht auf den Schwachen; es wird schon in Lev 19,32 auf den Fremden ausgedehnt. Es ist kein Herrschaftsethos, sondern das Ethos von Nachbarn, die sich gegenseitig unterstützen, wenn sie in Not sind. Der Fremde ist dabei der benachbarte Fremde, der im eigenen Lande wohnt. Wie wird diese Forderung des Nächsten begründet? Nicht in der Natur der Dinge, sondern durch Berufung auf Gott. Es heißt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr.“ Israel formte menschliches Verhalten nicht durch rationale Einsicht in die Welt, sondern durch Disziplinierung des Willens durch Gottes Willen. Es entwickelte eine Gebotsethik: Der göttliche Wille verpflichtet unmittelbar den menschlichen Willen. Er verlangt Gehorsam. Nachträglich sinnt der Israelit darüber, welchen Sinn die Gebote Gottes haben. Er soll seine hebräischen Sklaven freilassen, weil die Israeliten selbst Sklaven in Ägypten waren. Auch die Gebotsethik macht unabhängig von sozialer Tradition. Denn das Gesetz Gottes galt auch dann noch, wenn kein König und kein Staat da war, der es erließ – es galt auch im Exil und in der Zeit danach. Es wurde immer wieder menschlichen Konventionen entgegengesetzt. In Israel und Griechenland wurden so zwei Typen von Ethik entwickelt, die der Tradition widersprechen können – aufgrund menschlicher Einsicht oder aufgrund des Gehorsams gegen Gottes Willen. Leitbild ist einmal die Autonomie des Menschen, das andere Mal das Wohl des Nächsten. Die griechische Ethik wird heute oft als Illusion verdächtigt; sie projiziere in die Natur, was im Grunde menschlicher Wille sei. Die biblische Ethik ist von diesem Verdacht frei: Was Gott will, geht nicht aus der Welt hervor, sondern aus seinem Wort in der Thora. Dafür gilt die biblische Ethik als autoritär. Aber gerade dazu kann man sagen: Beide Formen von Ethik reduzieren Herrschaft: Der erste Weg besteht darin, dass Menschen sich selbst beherrschen, um nicht beherrscht zu werden. Sie ist demokratisierte Herrschaftsethik. Der andere Weg besteht darin, dem von den Mächtigen ausgehenden Imperativ einen anderen Imperativ entgegenzusetzen, der vom Gleichgestellten, Schwächeren und Ohnmächtigen ausgeht, also von jemandem, der einen ganz gewiss nicht beherrscht. Diese biblische Nächstenethik ist eine Ethik der Fürsorge und Solidarität. Sie ist Nachbarschaftsethik. Aus dem Herrschaftsverdacht gegen jede Ethik gibt es somit zwei Auswege: Dann, wenn wir uns selbst Befehle geben, sind wir nicht mehr Objekte willkürlicher Machtausübung – und dann, wenn die Imperative nicht

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vom Stärkeren kommen, sondern vom Schwachen und Bedürftigen, dann verlieren diese Imperative ihren Charakter als Machtausübung. Diese beiden Auswege wurden von Griechen und Juden gefunden. Aus diesen beiden Traditionen stammen die zwei Grundwerte, die bis heute Geltung haben und die man mit verschiedenen Worten bezeichnen kann: Autonomie und Solidarität, Rationalität und Barmherzigkeit, Vernunft und Nächstenliebe. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie jenseits kultureller Willkür gültig sind. Sie sind nicht Ausdruck eines europäischen Kulturimperialismus. Sie sind für das Zusammenleben schlechthin gut. Sie sind eine universalisierbare Ethik. Ich erinnere noch einmal an unsere Ausgangsfragen: Unsere ethische Situation ist durch zwei Merkmale bestimmt: (1) Alle Werte und Normen stehen unter einem Herrschaftsverdacht, als wollte jemand uns mit ihnen manipulieren. (2) Ihre Begründung steht unter einem Illusionsverdacht, als würde ein Sollen in Sachverhalte hinein projiziert. Ich möchte meine Antwortversuche in zwei meditativen Kurztexten zusammenfassen. Der erste stellt einem Ethos, das einen Herrschaftsverdacht auf sich zieht, ein anderes Ethos aus der Bibel entgegen. Nicht mehr zu entfernen ist der Verdacht, in unserem Gewissen klinge die Stimme anderer Menschen nach. Zuerst die Stimme der Eltern: Vielleicht ist das Gewissen nur eine parasitäre Struktur, mit der wir für ihre Bedürfnisse umprogrammiert wurden. Dann die Stimme der Lehrer: Sie werden dafür bezahlt, um uns für die Bedürfnisse der Gesellschaft zurecht zu feilen. Schließlich die Stimme des Staates: Er fordert von uns, was zu seiner Erhaltung notwenig ist, und nicht das, was zu unserem Heil erforderlich wäre. Die Bibel aber enthält ein Gegenprogramm. Sie lässt den Herrn der Welt sagen: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben, Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet, Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.“ Hier wurde das Gewissen aus der Stimme der Mächtigen zur Stimme der Opfer, die keine Macht haben.

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Das zweite Bild soll helfen, sich dafür zu öffnen, dass eine Verpflichtung zu gutem Handeln keine Illusion ist, die wir in die Welt hinein projizieren, sondern auf einer grundlegenden Erfahrung basiert, einer Erfahrung, die ich Resonanzerfahrung genannt habe. In grundlegenden Erfahrungen von Sinn und Wert legen wir nicht etwas in die Wirklichkeit hinein, sondern wir antworten auf eine Überfülle von Sinn und Wert.20 In der Religion geht es uns wie jenem Menschen, der im Winter in den Alpen zum Skifahren fährt. Er nähert sich dem Ort und der Landschaft in der Hoffnung, dass er Luft und Bewegung findet. Er braucht die Alpenlandschaft, um sich zu erholen. Aber wenn er vor der unberührten Schneelandschaft steht und die Sonne alles durch ihr Licht verklärt, spürt er die Aufforderung, in die Schneedecke eine besondere Kurve zu ziehen, um dieser Schönheit gerecht zu werden. Alles andere wäre eine Verfehlung gegenüber der Landschaft. Er hört in ihr einen Appell. Er fragt nicht mehr, ob sie seinen Bedürfnissen entspricht. Er wird von der Landschaft engagiert, sie zu vollenden. So geht es uns in der Religion: Wir finden uns in dieser Wirklichkeit vor, verfolgen unsere Ziele und fragen, ob sie unseren Bedürfnissen entspricht, bis wir eine Umkehr erfahren, einen mächtigen Appell, der uns dazu bewegt, unser Leben als Antwort zu verstehen und nicht mehr zu fragen, ob die Wirklichkeit unseren Bedürfnissen entspricht, sondern ob wir ihrer Herausforderung entsprechen.

Was bedeutet „protestantische Existenz heute“? Es ist der unzeitgemäße Versuch, im Rahmen der Religion vernünftig und verantwortlich zu sein – und sich nicht von der Alternative erpressen zu lassen, es gäbe nur Religion ohne Vernunft oder Vernunft ohne Religion. Dabei geht es nicht um das Programm einer „Religion im Rahmen der reinen Vernunft“. Das endet meist in Vernunft ohne Religion. Es geht um ein bescheideneres Programm, um eine Aufklärung, die von der Selbstbegrenzung unserer Vernunftansprüche weiß und der bewusst ist, dass der Frieden Gottes ————— 20 G. THEISSEN, Vom wiedergefundenen Paradies. Meditative Texte, Stuttgart 2005, 36f. Zu Resonanzerfahrungen vgl. G. THEISSEN, Argumente für einen kritischen Glauben oder: Was hält der Religionskritik stand?, TEH 202, München 1978; DERS., Religionsphilosophische Gedanken über „Gott“ und religiöse Erfahrung als hermeneutisches Problem, in: M. WLADIKA (Hg.), Gedachter Glaube, FS Heimo Hofmeister, Würzburg 2005, 88–110.

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Gerd Theißen

größer ist als unsere Vernunft: Es geht um unsere endliche Vernunft im Rahmen der von uns zu verantwortenden konkreten Religion und einer konkreten Kirche. Es geht um das, was heute als Protestantismus möglich ist.21

————— 21 Teile dieses Vortrags finden sich auch in verschiedenen Texten in G. THEISSEN, Protestantische Akzente. Predigten und Meditationen, Gütersloh 2008.

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Ulrich Luz

Der frühchristliche Christusmythos Eine Auseinandersetzung mit Gerd Theißens Verständnis der urchristlichen Religion1

I. Grundsätzliche Überlegungen zu „Die Religion der ersten Christen“ Gerd Theißens Buch „Die Religion der ersten Christen“2 ist für mich aus drei Gründen ein grundlegendes Buch: Erstens: Während die religionsgeschichtliche Schule des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts bis zu Bultmann3 vor allem an der Einordnung des frühen Christentums in die religiöse Welt der Spätantike interessiert war, richtet sich Theißens Interesse auf das Frühchristentum selbst. Er hat in diesem Buch das Urchristentum selbst als Religion interpretiert. Zukunftsträchtig ist, dass er damit die Religionswissenschaft in ihrem ganzen Methodenpluralismus für die Interpretation des frühen Christentums fruchtbar gemacht hat. So eröffnet sich die Möglichkeit einer Integration philologischer, historischer, religionssoziologischer, religionspsychologischer, religionsethnologischer etc. Methoden in die Erforschung des frühen Christentums. Nicht nur die durch die dialektische Theologie geschaffene Diastase zwischen Christentum und Religion ist damit überwunden, sondern auch die damit verbundenen methodischen Gewichtungen – philologische Methoden und hermeneutische Fragestellungen wurden gegenüber anderen, z.B. psychologischen oder soziologischen Methoden und Fragestellungen de facto privilegiert – müssen neu diskutiert werden. Zweitens hat Theißen den weithin auf lehrhafte Aussagen verengten Fragehorizont der neutestamentlichen Wissenschaft geöffnet, indem er auf die drei grundlegenden und gleichrangigen Dimensionen jeder Religion, Mythos, Ritus und Ethos hinwies.4 Durch die Frage nach dem Urchristentum als Religion ist eine die ganze Geschichte des Christentums bestimmende ————— 1 Festvortrag anlässlich einer gemeinsamen Geburtstagsfeier für Gerd Theißen und Heinz Schmidt in der Alten Aula, Heidelberg, 2. Mai 2003; zuerst veröffentlicht in: ThLZ 128 (2003), 1243–1258. 2 G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000. 3 R. BULTMANN, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Zürich 1949. 4 THEISSEN, a.a.O., 21.

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Engführung in der Rezeption des Neuen Testaments überwunden: Ebenso wie in den christlichen Kirchen vor allem des Westens die Lehre bzw. das Dogma bzw. die Theologie für ihre Identität entscheidend war, dominierte in der kirchlichen Rezeption des Neuen Testaments die Frage nach seinen Lehrgehalten und in der wissenschaftlich-theologischen die „Königsdisziplin“ der neutestamentlichen Theologie. Andere Dimensionen, etwa die Frage nach Ethos, Gebeten, Riten, Frömmigkeitsformen, Mythen und anderen Geschichten, Handlungsimpulsen, Gemeinschaftsformen, Interaktionsformen mit der Umwelt etc. haben die neutestamentliche Wissenschaft höchstens sekundär interessiert. Theißens Ansatz eröffnet die Möglichkeit, die textlichen Zeugnisse des frühen Christentums in ihrer ganzen Breite, die viel weiter ist als Lehre und Theologie, wahrzunehmen. Indem ich seine Dreierliste von Mythos, Ritus und Ethos stillschweigend erweiterte, möchte ich auch andeuten, in welchen Bereichen es m.E. über Theißen hinaus weiter zu arbeiten gilt, wenn man die „semiotische Kathedrale“ des frühen Christentums in ihrem ganzen Reichtum beschreiben möchte. Mit dem Stichwort „semiotische Kathedrale“5 habe ich den dritten Punkt benannt, der mir grundlegend zu sein scheint. Theißen erreicht damit ein Doppeltes: Er grenzt sich auf der einen Seite gegen einen theologischen Versuch ab, das frühe Christentum direkt als Offenbarung Gottes, und gegen einen religionswissenschaftlichen Versuch, Religion direkt als „Erleben des Heiligen“ zu deuten. Beides mag es für manche Menschen sein, aber solche Innenperspektiven sind nicht direkt wissenschaftlich beschreibbar.6 Als „kulturelles Zeichensystem“ lässt sich dagegen Religion in reflektierter Distanzierung beschreiben. Auf der anderen Seite gelingt es Theißen auf diese Weise, das Urchristentum als eigene Ganzheit zu interpretieren und einer vorschnellen Funktionalisierung zu wehren, wie sie heutiger Religionswissenschaft mit ihrer verbreiteten Abneigung gegen Phänomenologie, Hermeneutik und Theologie immer wieder geschieht7. Eine Kathedrale muss man als Ganzes wahrnehmen, studieren, begehen, würdigen, bevor ————— 5 THEISSEN, a.a.O., 385. 410 („eine wunderbare Kathedrale aus Zeichen“); vgl. 44 u.ö. 6 Das gilt auch für die atheistische Gegenposition, welche Religion als menschliche Projektion versteht: Auch eine solche reine Außenperspektive ist nicht wissenschaftlich verifizierbar; vgl. THEISSEN, a.a.O., 20. 7 Ein Beispiel ist H.G. KIPPENBERG/K. VON STUCKRAD, Einführung in die Religionswissenschaft, München 2003. Das Buch enthält viel Bedenkenswertes über allerlei, was man irgendwie mit so etwas wie „Religion“ in Verbindung bringen könnte, verzichtet aber von vornherein darauf, irgendwelche Eigenaussagen von Vertreter/innen irgendwelcher Religionen verstehen zu wollen. Ich erinnere an den „Kritischen Exkurs über die Religionswissenschaft“ von Georg PICHT, in: DERS., Kunst und Mythos, Stuttgart 1986, 498–505. Picht stellt fest, dass die Religionswissenschaft, welche von verschiedenen Ausgangspositionen aus versucht habe, die Festung „Religion“ einzunehmen, wie z.B. Psychologie, Ethnologie, Anthropologie, Soziologie, daran gescheitert sei: „Die Sache selbst, nämlich die Religion, (ist) unverstanden und unberührt in einem Vakuum verblieben“ (502).

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man fragen kann, was sie z.B. für die Frömmigkeit eines Einzelnen, die in ihr feiernde Gemeinde, das Stadtbild oder das Budget einer Stadt „bringt“. Dasselbe gilt für eine Religion, die man zunächst als ein eigenes Zeichensystem interpretieren muss, bevor man nach ihren Funktionen fragen kann (und auch muss!), – sonst läuft man Gefahr, sie in ihre Funktionen hinein aufzulösen und als Ganzes gar nicht mehr in den Blick zu bekommen. Hier, und nicht im „Konfessorischen“ und auch nicht in der Entfaltung einer „Innenperspektive“8 muss m.E. das erste Anliegen der Theologie gegenüber heutiger Religionswissenschaft liegen. Denn dass auch die Theologie sich gegenüber ihrem Forschungsgegenstand Christentum in die Alterität einer „Außenperspektive“ begibt, gehört m.E. nicht zu ihren opera aliena, sondern zu ihrer Grundaufgabe als Wissenschaft. Der semiotisch inspirierte Zugang dient dem Anliegen der Wahrnehmung des Ganzen einer Religion und könnte als gemeinsame methodische Grundperspektive von Religionswissenschaft und Theologie wichtig werden. Unklar bleibt mir allerdings in Theißens Konzept das Verhältnis von semiotischer und geschichtlicher Perspektive, bzw. anders formuliert, von Religionstheorie und Religionsgeschichte. Das Urchristentum war ja keine „semiotische Kathedrale“9, sondern bildlich gesprochen, eher eine Baustelle, ein in Ausführung begriffenes Umbau- und Neubauprojekt. Dieses Projekt war nie abgeschlossen, auch nach der montanistischen Krise nicht. Alle Hauptteile von Theißens großem Buch enthalten geschichtliche Perspektiven, und insbesondere der fünfte, mit „Krisen und Konsolidierung des Urchristentums“ überschriebene Teil liefert gleichsam eine Religionsgeschichte nach, deren systematische Verbindung mit dem Ganzen seines Entwurfs mir nicht wirklich deutlich geworden ist. Geht es hier um schwierige Phasen in der Baugeschichte, an deren Ende die Kathedrale in vollendeter Symmetrie erstrahlt? Geht es um den Abbruch von Verbindungsbauten der Kathedrale zu älteren Stadtteilen, welche ihre Eigenständigkeit störten? Oder geht es um die Entfernung schöner und echter Bauteile, welche späteren Bauherren nicht mehr passten? Oder nochmals anders: Was wird eigentlich als „Kathedrale“ beschrieben? Was gibt uns das Recht, die Treue vieler gegenüber Paulus kritischen jüdischen Jesusanhänger gegenüber dem Juden Jesus oder die Vertiefung des jungen Christentums in manchen christlich-gnostischen Gemeindekreisen oder die Erneuerung des Christentums im Montanismus nicht als Teile der „Kathedrale“ zu betrach————— 8 Die Innenperspektive der Gläubigen kann nach KIPPENBERG/VON STUCKRAD, a.a.O., 11 nicht Gegenstand der Religionswissenschaft sein; sehr viel differenzierter F. STOLZ, Grundzüge der Religionswissenschaft, Göttingen 21997, 36–42. 9 Die Metapher ist suggestiv und verführerisch. „Kathedralen“ haben für den vordergründigen Betrachter einerseits etwas Schönes und Erhebendes, andererseits etwas merkwürdig Zeitloses an sich.

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ten, sondern als Ausdruck von „Krisen […] des Urchristentums“10? In die Metapher „Kathedrale“ scheint – m.E. weitgehend implizit – eine Wertung mit eingeflossen zu sein, welche dem Standort der späteren Kirche entspricht. Ich habe mit meinen Fragen die Metapher der „Kathedrale“ von der Geschichte her verfremdet, um deutlich zu machen, dass das Problem des geschichtlichen Wandels in Theißens Konzept m.E. noch nicht gelöst ist. Damit zusammen hängt eine Frage, die in meinen Überlegungen später wieder vorkommen wird, nämlich die nach der Ambivalenz des keineswegs nur kathedralenartigen frühen Christentums. Im Folgenden möchte ich in einem Bereich mit Gerd Theißen ins Gespräch treten und im Gespräch den Faden etwas weiterspinnen. Ich habe dafür den Bereich des Mythos gewählt und möchte über den Christusmythos nachdenken. „Den Faden weiterspinnen“ ist dabei sehr wörtlich zu verstehen. Ich kann und will keinen Gegenentwurf liefern. Wenn es mir gelingt, zu zeigen, wie „produktiv“ Theißens Buch ist, bin ich voll zufrieden.

II. Überlegungen zum Problem der Mythosdefinition Die Vielfalt der Mythosdefinitionen, die uns zur Verfügung stehen, ist verwirrend. Sie entspricht der komplexen Begriffsgeschichte dieses griechischen Wortes in der griechischen und neuzeitlichen europäischen Geistesgeschichte von Homer bis heute.11 Aleida und Jan Assmann bündeln diese Geschichte in ihrem Mythosartikel in „sieben Mythosbegriffen“, welche zugleich Mythosdeutungen sind; Kurt Hübner fasst sie in sechs Grundtypen von Mythosdeutungen zusammen; Hartmut Zinser spricht von zehn Grundtypen der Mythosdeutung.12 In den unterschiedlichen Definitionen spiegelt sich die Komplexität heutiger Mythosdeutung: Unterschiedlich gesehen wird die Bereichsweite des Gegenstandes: Sie reicht von den klassischen religiösen Grundmythen über die Charakterisierung bestimmter Denkweisen als mythisch bis zur modernen quasi–metaphorischen Verwendung des Wortes Mythos im Sinne der „métarécits“ Lyotards.13 Unterschiedlich sind die Interessen und Fragestellungen der verschiedener wissenschaftlichen ————— 10 THEISSEN, a.a.O., 283 (Titel des V. Teils). 11 Zum griechischen Mythosverständnis vgl. G. STÄHLIN, Art. OWSQL, ThWNT IV, 1942, 771–787; W. BURKERT, Art. Mythos, Mythologie I. Antike, HWP VI, 1984, 282f; ausführlich L. BRISSON, Einführung in die Philosophie des Mythos I, Darmstadt 1996, 1–142. 12 A. und J. ASSMANN, Art. Mythos, HRWG IV, 1998, 179–181; K. HÜBNER, Art. Mythos. I Philosophisch, TRE XXIII, 1994, 597–599; H. ZINSER, Theorien des Mythos, in: K.H. KOHL, Mythen im Kontext. Ethnologische Perspektiven, Frankfurt 1992, 149–156. 13 J.F. LYOTARD, La condition postmoderne, Paris 1979, 7–9.

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Disziplinen, die an der Mythosforschung beteiligt sind; und überall ist man mit der scheinbar unvermeidbaren Tatsache konfrontiert, dass seit Xenophanes und Plato mit jeder Mythosdefinition resp. -theorie bestimmte Wertungen des Mythos mitlaufen und sie bestimmen.14 Definitionen sind Konstruktionen. Sie sind nicht Abbilder der Wirklichkeit, sondern menschliche Instrumente, mit deren Hilfe Wirklichkeit konstruiert und interpretiert wird.15 Sie sind Werkzeuge, mit deren Hilfe einzelne Teile der semiotischen Kathedrale Urchristentum erbaut oder geschmückt werden. Dies festzuhalten ist mir wichtig: Nur im Wissen darum ist es möglich, einen religionsphänomenologischen Ansatz vor dem Missverständnis eines unkritischen platonisierenden Realismus zu schützen16 und das vom Menschen gedachte Wirkliche vom Wirklichen überhaupt zu unterscheiden.17 Ich sage deshalb zuerst, was ich mit dem Konstrukt einer Mythosdefinition erreichen möchte: Sie soll mir helfen, meinen eigenen Untersuchungsgegenstand, den neutestamentlichen Christusmythos bzw. die neutestamentliche Christologie, möglichst weitgehend in einer Außenperspektive zu betrachten. Sie soll mir helfen, das junge Christentum mit seiner näheren und weiteren Umwelt zu vergleichen und Verbindendes und Unterscheidendes zu erfassen. Dabei ist mir ebenso wie Gerd Theißen das Gespräch mit der Religionswissenschaft am wichtigsten, denn diese liefert mit ihrem Methodenpluralismus und ihrem Verständnis von Religion als komplexem Ensemble von Mythen, Riten, Handlungsorientierungen und anderen Dimensionen heute am ehesten das vielfältige methodische Instrumentarium, um das Urchristentum mit „fremden“ Augen aus einer umfassenden Außenperspektive zu betrachten. Religionswissenschaft hat wohl heute für die Theologie im Ganzen die Bedeutung einer interdisziplinären Integrationswissenschaft. Erst nach einer möglichst umfassenden religionswissenschaftlichen Verfremdung des Bildes des frühen Christentums kann man die – spezifisch theologische – Frage nach seiner Bedeutung und ————— 14 XENOPHANES fr B 1,22, vgl. B 10–16 (Diels-Kranz [1996] 128, vgl. 130–132); PLATO, Resp 377d–383c; vgl. 595bff. 15 Vgl. ASSMANN, a.a.O., 198: „Mythos als Organon zur Konstruktion von Wirklichkeit“. 16 Als Beispiel diene das Verständnis der „Hierophanie“ bei Mircea Eliade, für den das Erscheinen des Heiligen im Profanen zu so etwas wie einer auf alles Religiöse ausgeweiteten Inkarnation wird: Hierophanien sind „Präfigurationen des Wunders der Inkarnation“ und offenbaren „das Mysterium der Koinzidenz Mensch – Gott“, wobei der Religionswissenschaftler Eliade davon ausgeht, dass „das Heilige […] sich in jeder, und sei es der abwegigsten Form“ manifestiert (M. Eliade, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Salzburg 1954, 55). Eine universalisierte Inkarnationstheologie! – Die Abgrenzung gegenüber Eliade ist mir wichtig, gerade weil ich im Folgenden viel von ihm übernehme. 17 Vgl. J. MOHN, Mythostheorien, München 1998, 53f. Das letztere implizit-kritisch zu J. HICK, Religion, München 1989, 261f.

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nach seiner Wahrheit stellen. Damit bestimme ich die Funktion, den das Instrument eines Mythosbegriffs für mich hat, anders als z.B. Bultmann dies tat: Er soll nicht dem hermeneutischen Anliegen dienen, sondern der Erfassung der „altérité“ des frühen Christentums. Hier denke ich, mit dem Grundanliegen von Gerd Theißen einig zu gehen. Allerdings muss ich dann auch gleich sagen, dass ich nicht weiß, ob das, was ich mit meinem Mythosbegriff und anderen Begriffskonstrukten baue, eine „Kathedrale“ sein wird bzw., ob nicht nur ich, sondern auch andere dieses mithilfe unserer Definitionen konstruierte Gebäude wirklich für eine Kathedrale halten werden. Darum habe ich vorher etwas vorsichtiger von einer „Baustelle“, einem in Ausführung begriffenen Projekt gesprochen. Von diesem konkreten Anliegen her sind mir folgende Aspekte eines Mythosbegriffs wichtig: 1. Eine Mythosdefinition sollte keine wertenden Momente enthalten. Deshalb verzichte ich auf eine Definition mithilfe von Gegenbegriffen, z.B. Logos, geschichtliche Wirklichkeit, Wahrheit oder Wissenschaft, wie sie vor allem in den durch die griechische Philosophie und die Aufklärung bestimmten Mythosdefinitionen üblich ist. 2. Da es mir um das Verständnis von etwas sehr Spezifischem, nämlich des neutestamentlichen Christusmythos geht, sollte ein Mythosbegriff nicht zu weitmaschig sein. Neuzeitliche „Mythen“ möchte ich deshalb ausklammern. Wenn von Mythos als Erinnerung an unsere Wurzeln gesprochen wird, möchte ich präzise sagen, was erinnert wird.18 Es geht um Erzählungen; aber ich möchte nicht nur zwischen Mythen und Märchen, Sagen, Legenden etc. unterscheiden, sondern auch zwischen Mythen im eigentlichen Sinn und anderen Erzählungen, welche die Griechen auch als OWSQK bezeichneten,19 wie z.B. die von Ovid in den Metamorphosen erzählten mythischen Ätiologien. Ich möchte als „Mythos“ mit Fritz Stolz eine Erzählung bezeichnen, welche „grundlegende religiöse Orientierungsprozesse auslöst“.20 Im Sinne von Aleida und Jan Assmann sind das primär die sog. deutenden Mythen.21 Aber auch bei einer solchen relativ engen Fassung des ————— 18 K. REINHARDT, Platons Mythen, Bonn 1927, 159. 19 Von diesem weiten Verständnis von Mythen geht W. BURKERT aus (Antiker Mythos – Begriff und Funktion, in: H. HOFMANN (Hg.), Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, 11–26). 20 F. STOLZ, Art. Mythos. II. Religionsgeschichtlich, TRE XXII, 1994, 613. In ähnlicher Weise eng ist die Definition von M. ELIADE, Mythos und Wirklichkeit, Frankfurt 1988, 15: „Der Mythos erzählt eine heilige Geschichte; er berichtet von einem Ereignis, das in der primordialen Zeit […] der ‚Anfänge‘ stattgefunden hat“. 21 ASSMANN, a.a.O., (Anm. 12) 185f.

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Begriffs ist klar, dass der Christusmythos, den man vielleicht als „Erlösermythos“ bezeichnen kann,22 nur ein, sogar ein recht spezieller Fall eines Mythos ist. 3. Eine Mythosdefinition muss sowohl die Textgestalt als auch die Funktion der Texte spiegeln, wenn sie ein nützliches Werkzeug zur Konstruktion einer semiotischen Kathedrale des Frühchristentums sein und zugleich funktionale Fragestellungen ermöglichen soll. Von fast allen zugestanden ist, dass ein Mythos die Gestalt einer Erzählung hat.23 Bultmann hat gerade deswegen das Wesentliche am Mythos verfehlt, weil er den „Mythos“ und das „Mythologische“ identifizierte und darunter eine bestimmte Denkweise verstand, welche er aus theologischen Gründen nicht nachvollziehen wollte. Indem er das Mythologische existenzial interpretierte, hat er auch die Erzählung vom Gottessohn Jesus ins theologische Abseits geschoben, wie sich an seiner Johannesdeutung besonders eindrücklich zeigen lässt.24 – Bei der Funktionsbestimmung des „Mythos“ schließe ich mich wie Gerd Theißen an Fritz Stolz an: „Mythen sind Erzählungen aus einer für die Welt entscheidenden Zeit mit übernatürlichen Handlungsträgern, die einen instabilen Zustand in einen stabilen überführen“.25 Der „Lebensgewinn“26, den sie verheißen, besteht darin, dass sie „typisch menschliche Irritationen durch die Erfahrung von Kontingenz, Chaos und Vieldeutigkeit auf(fangen), mit Sinn besetz(en) und der Kommunikation erschließ(en)“.27 4. Eine Mythosdefinition muss die Innenperspektive, welche die Vertreter/innen von Religionen bezeugen, für eine Betrachtung von außen erschließen. Sie kann nicht direkt auf der religiösen Innenperspektive basieren, denn die Innenperspektive eines erfahrenen Mythos lässt sich nicht definieren. Was Mythos ist, kann aber auch nicht einfach nur aus einer Außenperspektive von an Mythen nicht mehr Partizipierenden bestimmt werden. An einem Mythos kann man teilhaben; ein in Begriffe gefasster Mythos ist aber ein zerstörter Mythos, aus dem man bereits herausgefallen ist.28 Dann werden die Mythen zu bloßen RNCUOCVCVYPRTQVGTYP (Xe————— 22 Das gilt auch für den Buddhamythos und den Zarathustramythos, nicht aber z.B. für Mose. 23 Z.B. P. RICOEUR, Symbolik des Bösen, München 1971, 187–195; HÜBNER, a.a.O., (Anm. 12) 602 im Unterschied zur Mythologie; ASSMANN, a.a.O., (Anm. 12) 187f; THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 21–23.39. 24 Bultmann hat hat die johanneische Jesuserzählung gerade nicht interpretiert! Dass zeigt sich u.a. an seinen waghalsigen Umstellungshypothesen. 25 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 49f; vgl. STOLZ, a.a.O., (Anm. 19) 612f. 26 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 19. 27 STOLZ, a.a.O., (Anm. 20) 613. 28 Pointiert formuliert das R. PANIKKAR, Mythos und Logos. Mythologische und rationale Weltsichten, in: H.P. DÜRR/W.C. ZIMMERLI (Hg.), Geist und Natur, Bern/München 1989, 206–

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nophanes fr B 1,22). Oder der Mythos wird zu einer Weise des Denkens29, z.B. einer „ersten Explikationsstufe der Rationalität“30 oder zu einem Denken, das am Leitfaden einer anderen Ontologie denkt als die Wissenschaften.31 Das ist natürlich nicht falsch, aber die eigentliche Stärke und die spezifische Kraft des Mythos erfasst man nicht, wenn man ihn aus neuzeitlicher Perspektive als eine Weise des Denkens interpretiert.32 Vielmehr muss die Außenperspektive auf die Innenperspektive bezogen sein und sie interpretieren. Nur dann kann eine Religionswissenschaft den Religionen, mit welchen sie sich beschäftigt, einigermaßen gerecht werden. Gerd Theißen versteht „Mythos“ neutral im Sinn einer religiösen „Grunderzählung“33 und sieht in ihm drei Grunddimensionen: Den Mythos als Text, der sich textwissenschaftlichen oder strukturalistischen Zugangsweisen erschließt, den Mythos als Kraft, der sich funktionalistischen Zugangsweisen erschließt, und den Mythos als Mentalität oder Denkstruktur, für die insbesondere Animation, Analogiekausalität und Tiefenidentität charakteristisch sind.34 Anders als er möchte ich nicht eine bestimmte Mentalität oder Denkstruktur zum Wesensmoment einer Mythosdefinition machen, um nicht den Mythos anthropologischen Kategorien zu unterordnen.35 Mythen im beschrieben Sinn wollen nicht primär menschliche Wirklichkeit denken oder deuten, sondern konstituieren sie zuallererst.36 5. Darum scheint mir nicht so sehr die Weise, wie der Mythos denkt, als die Weise, wie er wirkt, seine Hörer identifiziert, in sich hineinnimmt und an sich partizipieren lässt, d.h. seine Kraft, wichtig zu sein. In diesen Zusam————— 220: „Irgend eine Interpretation würde den Mythos zerstören“ (212). Der Mythos erlaubt nach ihm weder Phänomenologie noch Hermeneutik, schon gar nicht Definitionen. Die Weise des InErscheinung-Tretens des Mythos ist die „Mythophanie“, welche im Geist und nicht in der Vernunft geschieht. 29 Nach C. LÉVI-STRAUSS einer eigenen Weise des Denkens (Mythos und Bedeutung, Frankfurt 1995 (= 1980), 14f; DERS., Strukturale Anthropologie, Frankfurt 1971, bes. 227–230; 2 DERS., Das wilde Denken, Frankfurt 1977, 35f.) 30 F. STOLZ, Der mythische Umgang mit der Rationalität und der rationale Umgang mit dem Mythos, in: H.H. SCHMID (Hg.), Mythos und Rationalität, Gütersloh 1988, 87. 31 K. HÜBNER, a.a.O., (Anm. 12) 599–604. 32 A. und J. ASSMANN, a.a.O., (Anm. 12) 187. 190 unterscheiden deshalb sinnvoll zwischen „den“ konkret erzählten Mythen und „dem“ Mythos im Sinn einer Mentalitätsform oder Bewusstseinsstufe. 33 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 39. 34 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 21f., Anm. 5. 35 „Mentalitäten“ sind Eigenschaften von Menschen und nicht solche von Texten wie z.B. Mythen. 36 Nach ELIADE, a.a.O., (Anm. 20) 20 ist der Mensch durch die in einem Mythos erzählten priomordialen Ereignisse „konstituiert“. Vgl. STOLZ, a.a.O., (Anm. 30) 84; vgl. ebd. 91: „Orientierung durch Identifikation“, im Unterschied zur Philosophie, die „Orientierung durch Distanz“ schafft.

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menhang gehört die von Theißen im Anschluss an Gerhard Sellin37 beschriebene „Tiefenidentität“ von Mythen. Mythen sind für das Leben konstitutive Grundgeschichten, die ihre Zeit transzendieren: Sie erzählen zwar Geschichten, welche „in illo tempore“, z.B. in der Urzeit, geschehen sind, aber diese Geschichten transzendieren ihre Zeit und sind „beispielhafte Geschichten der Menschengemeinschaft“38, an denen alle Menschen partizipieren und die für jeden Menschen wieder wahr werden. Mythen transzendieren ihren Ort. Sie erzählen zwar von äußeren Orten, etwa vom Paradies, von Babel, von Kapilavastu oder von Jerusalem, aber sie transzendieren diese und ereignen sich an neuen Orten, z.B. dort, wo sich eine den Mythos erinnernde Festgemeinschaft versammelt oder auch neuzeitlich im Herzen eines Gläubigen oder in der Psyche eines Analysanden. Mythen transzendieren oft auch die gesprochene Sprache: Viele Mythen haben in Riten ihre Entsprechung, dem NGIQOGPQP entspricht oft ein FTYOGPQP. Mythen eignen sich hervorragend zur Inszenierung.39 Der Mythos ist in der Lebenswelt der durch ihn identifizierten Menschen „real präsent“.40 Wesentlich für den Mythos ist seine Kraft, die ihn erinnernden Menschen in ihn zu verwickeln.

III. Überlegungen zu den semiotischen Dimensionen des urchristlichen Christusmythos Ich erinnere zunächst akzentuierend an drei grundlegende Thesen Theißens, denen ich zustimme, und spinne dann in einigen weiteren Punkten den Faden weiter: 1. Der Christusmythos ist das Zentrum des urchristlichen Glaubens; es geht hier um viel mehr als bloß um „mythische Elemente im Neuen Testament“.41 Er ist eine „spannungsvolle Einheit von Geschichte und Mythos“.42 Theologen betonen gern, dass der Christusmythos deshalb „kein normaler Mythos“ sei,43 weil es in ihm um einen geschichtlichen Menschen gehe. ————— 37 G. SELLIN, Mythologeme und mythische Züge in der paulinischen Theologie, in: H.H. SCHMID, a.a.O., (Anm. 30) 209–223. 38 ELIADE, a.a.O., (Anm. 16) 488; vgl. ebd. 471. 39 Es ist nicht zufällig, dass sich aus den griechischen Mythen die inszenierten Tragödien, aus der Passionsgeschichte die Passionsspiele entwickelten. 40 SELLIN, a.a.O., (Anm. 37) 211. 41 So T. HOLTZ, Art. Mythos. IV Neues Testament, TRE XXIII, 1994, 644.646 in apologetischer Untertreibung. 42 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 48. 43 So W. PANNENBERG, Christentum und Mythos, in: DERS., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. II, Göttingen 1980, 60 vom Inkarnationsgedanken.

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Dass sich ein Mythos mit einer historischen Gestalt verbindet, ist zwar nicht das Übliche, aber nicht außergewöhnlich – ich erinnere an Buddha Shakyamuni und – als Schweizer – an Wilhelm Tell. Das Ausspielen der Geschichte gegen den Mythos ist zwar eine beliebte theologische Argumentationsform, aber gerade beim neutestamentlichen Christusmythos nicht am Platz, auch nicht bei Markus und schon gar nicht bei Paulus oder Johannes. Die grundsätzliche Spannung zwischen dem Geschichtlichen und dem Mythischen wird m.E. erst in der altkirchlichen Zweinaturenlehre reflektiert. Ob also das „Spannungsvolle“, das Theißen in der frühchristlichen Einheit von Geschichte und Mythos sieht, nicht erst aus späterer Sicht so erscheint, ist mir eine offene Frage. 2. Ich denke wie Theißen, dass die Ausbildung des nachösterlichen Christusmythos von Jesus von Nazareth her verständlich wird.44 Jesu Verkündigung, sein Tod und seine Auferstehung führten zu seiner mythischen Transformation.45 Diese darf also nicht ausschließlich oder vorwiegend als Bruch interpretiert werden. Theißen setzt bei der von ihm als Mythos verstandenen Gottesreichverkündigung Jesu ein.46 Mir ist die Wahrscheinlichkeit, dass Jesus von sich als Menschensohn sprach und dadurch seine eigene Geschichte im Lichte seiner von ihm erhofften „mythischen“ Zukunft deutete, noch wichtiger. Aber das ändert nichts Grundsätzliches; diese Annahme ermöglicht mir nur, Theißens Grundthese noch emphatischer zu vertreten als er selbst. 3. Wie Theißen denke ich, dass die „Produktion“ des Christusmythos eine originär christliche Schöpfung gewesen ist. Es wurde gerade nicht, wie die Religionsgeschichtliche Schule oft meinte, ein „fremder“ Mythos auf Jesus übertragen,47 sondern das frühe Christentum hat Jesus vergöttlicht, indem es zugleich seine eigenen jüdischen monotheistischen Wurzeln neu entdeckte und neu interpretierte.48 Jesus wurde gerade von jüdischen Jesusanhängern ————— 44 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 47–70. 45 Den Begriff der „Transformation“ hat bereits W. THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus I. Kriterien, Düsseldorf 1981, 125–144 hellsichtig in die Diskussion über die Auferstehung Jesu eingebracht. 46 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 49–51. Ob es sinnvoll ist, die jüdische Gottesreichhoffnung, wie sie Jesus vertrat, als Mythos zu bezeichnen, muss man allerdings fragen: Das entscheidende formale Kriterium eines Mythos, nämlich die mit der Gottesreichhoffnung verbundene Erzählung, hat Jesus in bemerkenswerter Weise außer Acht gelassen und durch seine eigene Geschichte ersetzt. 47 W. BOUSSET, Kyrios Christos (FRLANT 21) 21921, 31 (vom Erlösermythos); R. BULTMANN, Neues Testament und Mythologie, in: H.W. BARTSCH, Neues Testament und Mythologie (ThF 1), 21951, 26 („im wesentlichen die Mythologie der jüdischen Apokalyptik und des gnostischen Erlösermythos“). 48 Vgl. THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 73–75.

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mit Gott verbunden: Er wurde durch den Juden Paulus als Weltenherr besungen, „zur Ehre Gottes des Vaters“ (Phil 2,11) und nicht zur Schmälerung seiner Ehre! Es war der Jude Paulus, der biblische Zitate, welche von Gott sprachen, auf Jesus bezog (Röm 10,9–13; 1Kor 1,31; 2Kor 10,17f; Phil 2,9–11), und der in deutlicher Aufnahme des Schema’ Jisrael und in deutlicher Antithese gegen die vielen Götter und Herren der paganen Kulte den „einen Gott, den Vater“ und den „einen Herrn Jesus Christus“ nebeneinander stellte (1Kor 8,6).49 Es war der Jude Matthäus, der Jesus als „Gott mit uns“ interpretierte (1,23) und auf dieser Grundlage eine neue Grundgeschichte für seine Gemeinde schrieb. Es war der jüdische Prophet Johannes, welcher schon in seiner Eingangsvision den Menschensohnähnlichen mit den Attributen des Menschensohns und des „Alten der Tage“ aus Dan 7 ausstattete (1,13–15) und in seiner Vision des himmlischen Jerusalem von einem einzigen „Thron Gottes und des Lamms“ spricht (22,1.3). Natürlich handelt es sich bei all diesen Aussagen um funktionale und nicht um definitorische Vergottungen Jesu, aber wichtig ist, dass sie aus biblisch-jüdischen Wurzeln heraus erfolgten und als „Vollendung“, nicht als Infragestellung oder Gefährdung des jüdischen Monotheismus verstanden wurden.50 4. Ganz beiläufig hat Theißen erwähnt, dass „die christologischen Hoheitstitel Abbreviaturen von Erzählungen“ seien.51 Ich möchte diesen sehr produktiven Gedanken vertiefen: Sehr schön lässt sich das am Wechselverhältnis von Geschichte und vielen sogenannten Titeln in den Evangelien zeigen: Es ist nicht nur so, dass die Hoheitstitel die Geschichte Jesu deuten, sodass ein bestimmter traditionaler Sinngehalt den Sinn der Jesusgeschichte oder die Hoheit der Jesusgestalt erschlösse. Ebenso wichtig, oft noch viel wichtiger, ist das Umgekehrte: Die Jesusgeschichte erschließt den Sinn eines Titels. So weiß zwar der Hörer oder die Hörerin des Markusevangeliums seit Mk 1,1 und 1,11, dass Jesus Gottes Sohn ist, aber damit weiß sie nur gerade soviel wie die Dämonen. Erst am Schluss des Buches kann sie, nachdem er die ganze Jesusgeschichte gehört und Jesus durch sein Wirken und sein Sterben begleitet hat, in das Gottessohnbekenntnis des heidnischen Hauptmanns einstimmen (Mk 15,39). Die jüdischen Leser des Matthäusevangeliums wissen zwar um den traditionellen Gehalt des Ausdrucks „Davidssohn“ und werden durch den Stammbaum in Mt 1,2–16 in diesem Wissen auch bestätigt; aber die Jesusgeschichte, welche Matthäus erzählt, die Geschichte vom heilenden Davidssohn, wird ihr messianisches Vorwissen ————— 49 Zur Interpretation vgl. J.D.G. DUNN, The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh 1998, 252–255. 50 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 73. 51 THEISSEN, a.a.O., (Anm.2) 39 (Anm. 17).

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transformieren und ganz neu füllen.52 Der Ausdruck „Menschensohn“ wird in allen Evangelien nie als titulare Bezeichnung, also nie als Anrede oder als Prädikativ, gebraucht, sondern er funktioniert als Selbstbezeichnung Jesu, welche seinen Weg von der Niedrigkeit bis zum Thron des Weltrichters bündelt und so den Hörer/innen des Evangeliums ermöglicht, überall dort, wo sie vorkommt, den ganzen Weg Jesu zu konnotieren: Der, der jetzt keinen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann (Mt 8,20 Parr.) ist kein anderer als der, der einst die Welt als König richten wird (25,31.34) etc. 53 Im Johannesevangelium bündelt „Menschensohn“ die johanneische Jesusgeschichte: „Niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer der, der vom Himmel herabgestiegen ist, der Menschensohn“ (Joh 3,13). Es gibt nichts Unsinnigeres, als die Menschensohnworte fein säuberlich auf die drei Schubladen der Worte vom gegenwärtigen, vom leidenden und auferstehenden und vom kommenden Menschensohn zu verteilen, sie womöglich noch religionsgeschichtlich verschieden herzuleiten und zu meinen, damit hätte man sie verstanden. Vielmehr sind die Jesusgeschichte und die sie „mythisch“ deutenden christologischen Titel so ineinander verschlungen, dass sie beide nur in ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander verständlich werden. Natürlich lässt sich das außerhalb der Evangelien nicht so deutlich zeigen. Aber ich denke, dass z.B. der Ausdruck „Lamm“54 in der Johannesapokalypse, der das erzählende Osterkerygma 1Kor 15,3–5 einleitende Titel &TKUVQL,55 das von Paulus dem einleitenden Kerygma Röm 1,3f vorangestellte „sein Sohn“ oder die Verbindung des Titels „Sohn“ mit der sog. Sendungsformel (Röm 8,3; Gal 4,4; 1Joh 4,9; vgl. Mk 12,1–9) auch sehr schöne Beispiele für die Verbindung von christologischen Titeln mit der Geschichte Jesu sind, die so eng ist, dass eines ohne das andere nicht verstanden werden kann. In all diesen Fällen ist der „traditionelle“ vorchristliche Bedeutungsgehalt eines christologischen Ausdrucks, welchen die Leser oder Hörer der Texte in ihrer „Enzyklopädie“ mitbrachten, von relativ nebensächlicher Bedeutung.

————— 52 Vgl. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17) (EKK I/2), Neukirchen/Düsseldorf 31999, 59–61. 53 Vgl. bes. D.R.A. HARE, The Son of Man Tradition, Minneapolis 1990. 54 Wie wenig der traditionelle Gehalt der Bezeichnung „Lamm“ erschließt, wer das zum Thron Gottes erhöhte und siegreiche Lamm ist, zeigt sich bereits an der demonstrativen Verfremdung des Bildes: Das Lamm trägt sieben Hörner (5,6), öffnet das Buch (6,1), „weidet“ die Erlösten (7,17) und führt Krieg (17,14). 55 Das Hauptproblem des ntl. Gebrauchs des Christus–Titels besteht bekanntlich darin, dass der traditionelle messianische Gehalt dieses oft mit dem Sterben Jesu verbundenen Titels (vgl. W. KRAMER, Christos, Kyrios, Gottessohn, AThANT 44, 1963, 34–41) völlig umgeformt zu sein scheint.

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5. Ist der als Erzählung verstandene Christusmythos der für das junge Christentum bestimmende Grundtext, so hat das Konsequenzen für die Frage nach dem Zentrum des Neuen Testaments: Die Evangelien werden die zentralsten Texte und bilden gleichsam das Mittelschiff der „semiotischen Kathedrale“ Urchristentum. Das ist mir theologisch wichtig, weil gerade der Protestantismus oft dazu neigte, bestimmte begriffliche Interpretationen des Evangeliums zu seinem Zentrum zu machen, z.B. die Rechtfertigung, das Gottesreich oder die Kreuzestheologie. Für diese These sprechen die Evangelien selbst: Sie verstehen sich als Grundbücher einer neuen Religion. Das Markusevangelium ist die CXTEJ, d.h. wohl die „Grundlage“ der kirchlichen Verkündigung vom Gottessohn Jesus Christus.56 Das Matthäusevangelium ist eine DKDNQLIGPGUGYL, eine neue „Genesis“, welche die bisherige Grundgeschichte Israels im Stammbaum als „Vorgeschichte“ kurz resümiert und sie zugleich ersetzt.57 Mt 28,20a ist eine faktische „Selbstkanonisierung“ mindestens der Jesusreden durch den Evangelisten.58 Das Johannesevangelium lässt seine Geschichte vom Sohn und Gottesgesandten Jesus mit der Schöpfung beginnen. Das lukanische Doppelwerk ist die Grundgeschichte der heidenchristlichen Gemeinden vermutlich in Rom, die erzählt, welchen Weg der Gott Israels vom Zentrum Israels bis zu ihnen selbst, in der Welthauptstadt Rom, gegangen ist. Alle Evangelien enthalten ein ausgesprochen „mythisches Eingangstor“ (Mk 1,2–13; Mt 1,2–4,16; Lk 1,5–4,30; Joh 1,1–18), welches zugleich Anfang der erzählten Geschichte ist. Es hat die Aufgabe, den Leser/innen den Horizont, in welcher die Verfasser ihre Jesusgeschichte gestellt sehen möchten, auszuleuchten. Gegen meine These, dass die Evangelien das „Mittelschiff“ der semiotischen Kathedrale Urchristentum darstellen, könnte sprechen, dass sie erst relativ spät entstanden sind. Aber Gerd Theißen hat in überzeugender Weise darauf hingewiesen, dass ihre Entstehung zentral mit dem „Weg der urchristlichen Religion zu einer autonomen Zeichenwelt“59 zu tun hat. Anders ausgedrückt: Alle Evangelien verarbeiten in irgendeiner Weise die Ablösung der Jesusbewegung vom Judentum und ihren Weg zu einer eigenständigen Religion. Erst das Bewusstsein, eine eigenständige Religion zu sein, schenkte den frühen Christen die Freiheit, den Jesusmythos als neue Grundgeschichte zu erzählen. Beim Markusevangelium scheint mir dieser Zu————— 56 Zur Deutung vgl. R. PESCH, Das Markusevangelium I (HThK I/1), 1976, 76. Ich möchte den Titel auf das ganze Buch beziehen und nicht, wie D. LÜHRMANN, Das Markusevangelium (HNT 3), 1987, 33 nur auf V 2–15. 57 Vgl. U. LUZ, Das Matthäusevangelium – eine neue oder eine neu redigierte Jesusgeschichte? in: S. CHAPMAN/C. HELMER/C. LANDMESSER (Hg.), Biblischer Text und theologische Theoriebildung, BThS 44, Neukirchen 2001, 53–76. 58 Vgl. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28) (EKK I/4), 2002, 455. 59 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 225–280.

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sammenhang historisch besonders evident: Das Bewusstsein, etwas anderes zu sein als die „väterliche Religion“ des Judentums, wurde den christlichen Gemeinden in Rom durch die neronische Verfolgung in Rom schmerzhaft eingebläut. Das kurz vor 70 in Rom entstandene Markusevangelium ist m.E. die Antwort auf diese Verfolgungserfahrung. 6. Mythen transzendieren die von ihnen erzählte „primordiale“ Zeit. Wie man nach Eliade „durch das Rezitieren der Mythen […] gleichsam zum ‚Zeitgenossen‘ der beschworenen Ereignisse“ wird und „aus der profanen, chronologischen Zeit […] in eine qualitativ andere Zeit […], in eine heilige, sowohl primordiale wie immer wieder zurückzugewinnende Zeit“60 zurückkehrt, so spielt auch bei der Lektüre der Evangelien das „Gleichzeitigwerden“ eine entscheidende Rolle. Die Jünger sind dabei für die Leser/innen die wichtigsten Identifikationspersonen. Ich habe diesen Sachverhalt, der im Markus-, Matthäus- und Johannesevangelium besonders deutlich zu greifen ist, als „transparente“ bzw. „inklusive“ Geschichte zu beschreiben versucht.61 Bei Paulus hat sie in der „Epiphanie“ Christi im leidenden Apostel ihr Analogon. Gerhard Sellin hat mit Recht den Ausdruck „Realpräsenz“ auf den ganzen in den Evangelien erzählten Christusmythos bezogen:62 Die besondere Realpräsenz Christi in der Feier des Herrenmahls, in hellenistischen Gemeinden in Leib und Blut Christi, ist eingebettet in die Realpräsenz der in diesem Ritus erinnerten Geschichte Christi, insbesondere seiner Passion. Der in der „Großen Woche“, der Osterwoche der orthodoxen Kirchen, aber z.T. auch in der katholischen Kirche erlebbare rituelle Nachvollzug der ganzen Passion Jesu macht dieses Eingebettetsein deutlich erfahrbar. Die Offenheit der evangelischen Christusgeschichte gegenüber ihrer Repräsentation in anderen als nur sprachlichen Medien – ich denke an Riten63, Spiele (nicht nur Passionsspiele!) und Bilder – passt zu ihrem mythischen Charakter. Ich meine also, dass die Deutung der evangelischen Geschichte als Mythos ihre Kraft und viele Weisen ihrer Rezeption gut verstehbar werden lässt. Natürlich gibt es hier auch christliche Besonderheiten, vor allem die durch den Auferstehungsglauben begründete Gegenwart Christi, die nach christlichem Verständnis nicht erst durch die Anamnese oder ein Ritual entsteht.

————— 60 ELIADE, a.a.O., (Anm. 20) 26. 61 U. LUZ, Art. Geschichte, TRE XII, 1984, 596–599; Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK 1/1, 52002, 36f. 62 Vgl. o. Anm. 37. 63 Neben dem Herrenmahl ist auch an die bei Paulus als Partizipation an Tod (und Auferstehung) verstandene Taufe zu erinnern (Röm 6,3ff; vgl. Kol 2,12f).

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7. Anhangsweise möchte ich noch auf das Problem der Schriftlichkeit der Evangelien hinweisen. Die Evangelien sind von Anfang an schriftliche Texte, während Mythen primär mündliche Texte sind, welche erzählt, rezitiert, zelebriert, dargestellt und gespielt werden. Nach Eliade bedeutet die Verschriftlichung von Mythen der Ausgangspunkt einer kulturgeschichtlich irreversiblen Entwicklung64 und macht das Herausfallen aus dem Mythos überhaupt erst möglich.65 Für das Christentum gilt dies aber nur sehr langfristig. Die schriftlich formulierten Evangelien waren in einer Gesellschaft, in der die Lesefähigkeit auch in christlichen Gemeinden 15% kaum überstieg und in der auch schriftliche Texte weithin oral rezipiert wurden, zunächst vor allem die gesicherte Basis der weiter wirksamen mündlichen Überlieferung. Zwar blieb der Christusmythos vor Dogmatisierung nicht geschützt; aber auch das christologische Dogma wollte ja den erzählten Christusmythos keineswegs ersetzen. Nicht zu unterschätzen ist die Rolle der Glaubensgemeinschaft der Kirche, welche die Wirksamkeit des Christusmythos trug und schützte; die griechischen Mythen hatten einen vergleichbaren institutionellen Schutz nicht und fielen relativ leicht der Mythenkritik der sophistischen Aufklärung zum Opfer. Eigentlich ist das Christentum erst in der Neuzeit und vor allem in seiner reformatorischen Gestalt eine schriftzentrierte Religion geworden. Dies bedeutete allerdings eine folgenreiche und irreversible Revolution und hat das neuzeitliche „Herausfallen“ aus dem Mythos begünstigt.

IV. Überlegungen zur funktionalen Bedeutung des Christusmythos Die Anwendung des Mythoskonzepts auf das neutestamentliche Christusverständnis ist darum so fruchtbar, weil es eine Diastase zwischen beschreibenden und funktionalen Interpretationsweisen überwinden kann. Mythen sind Grundgeschichten, welche das Leben ordnen und bestimmen und Orientierung stiften; sie sind weder Fabeln noch Theoreme noch narrativ verkleidete Lehren. Sie sind nicht einfach als erzählte Geschichte wahr, sondern sie wollen im Leben funktionieren. Sie wollen Leben konstituieren, stabilisieren, Leben und Lebenswelten verändern. Mythen als die Lebenswelt der Hörer/innen konstituierende Grundgeschichten wollen also nicht ————— 64 ELIADE, a.a.O., (Anm. 20) 157. Vorsichtiger formulieren A. und J. ASSMANN 189: „In der abendländischen Tradition wird der Zusammenhang von Mythos und Leben mit dem Eindringen der Schriftlichkeit verändert“. 65 ELIADE, a.a.O., (Anm. 20) 154 spricht von einem „Sieg des literarischen Werkes über den religiösen Glauben“. Diese Entwicklung lässt sich zumal im griechischen Kulturraum gut dokumentieren. Die Verschriftlichung machte die Distanzierung vom Mythos und seine Kritik möglich, wie sich an der Wirkungsgeschichte Homers gut zeigen lässt.

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nur semiotisch, sondern auch funktional interpretiert werden. Funktionale Interpretation heißt aber zugleich, dass die semiotische Konstruktionsebene zur Geschichte hin geöffnet wird. Dies entspricht auch Gerd Theißens Absicht. Die Öffnung zur Geschichte aber bedeutet prinzipiell auch die Wahrnehmung ihrer Ambivalenz. Dies entspricht m.E. weniger Theißens Absicht. Ich beginne wieder mit dreien seiner Beobachtungen, denen ich zustimme. In allen diesen drei Funktionen des Christusmythos ist die von Fritz Stolz beschriebene stabilisierende Wirkung von Mythen deutlich sichtbar.66 1. Als erste Funktion des Christusmythos nennt Theißen die Dissonanzreduktion.67 Mit dem Bekenntnis zur Erhöhung Jesu war nach Ostern eine Reduktion der durch die Hinrichtung Jesu entstandenen kognitiven Dissonanz verbunden. Dissonanzbewältigung durch den Christusmythos geschah aber auch in ganz anderer Weise, z.B. bei Paulus, der seine vielen Leiden als „Sterben Jesu“ deutet (2Kor 4,10), oder durch das Markusevangelium, das den in Rom vom Martyrium bedrohten Gemeindegliedern die ganze Jesusgeschichte, die mit Kreuz und Auferstehung endet, erzählt. 2. Nach außen bedeutete das Bekenntnis zur Erhöhung Jesu Konkurrenzüberbietung68: Der eine Gott und der eine Herr degradiert alle anderen Götter und Herren zu sogenannten Göttern (1Kor 8,5). Dass Christus alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist, ist die Grundlage der Weltmission der matthäischen Gemeinde (Mt 28,18). Die Christen der johanneischen Gemeinden, die von der Welt gehasst sind und in ihr voller Angst leben (16,2.33), wissen, dass der, dessen Reich nicht von dieser Welt ist (18,36), die Welt überwunden hat (16,33). Am deutlichsten ist diese Funktion in der Johannesapokalypse mit ihrer Hoffnung auf einen endgültigen Sieg des „Königs der Könige“ (19,16) über die Tiere und den Drachen. In fast allen diesen Fällen bedeutet die Konkurrenzüberbietung zugleich einen Statuszuwachs oder eine kompensative Hoffnung für Angehörige unterer Schichten oder Leidende. 3. Eine von Theißen ebenfalls gewürdigte wichtige Funktion des Christusmythos ist die religiöse Distanzreduktion.69 Eindrückliche Beispiele dafür sind Mt 1,23 – Jesus ist „Gott mit uns“ – oder Joh 1,14 – wir sahen die ————— 66 „Der Mythos beinhaltet eine Transformation von der Labilität zur Stabilität“ (STOLZ, a.a.O., [Anm. 20] 613). 67 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 76ff. 68 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 83ff. 69 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 90ff.

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Herrlichkeit des inkarnierten Gottes. Jesus, der eingeborene Gott, ist der Exeget des Gottes, den niemals jemand gesehen hat (Joh 1,18). 4. Eine von Theißen in diesem Buch weniger herausgestellte Funktion des Christusmythos ist die der Gemeinschaftsstiftung. „Mythos fundiert in Form des kollektiven Gedächtnisses die Identität einer Gruppe“.70 Die gemeinschaftsstiftende Funktion des Christusmythos wird an der paulinischen Chiffre vom „Leib Christi“ (UYOC&TKUVQW)am deutlichsten sichtbar. Hier handelt es sich nicht einfach um eine christologische Etikettierung der stoisch–orphischen Vorstellung von Zeus als Weltleib, sondern um eine Wirkung des Christusmythos. Das machen z.B. der paulinische Verweis auf das Herrenmahl als Erfahrungsort der Gemeinschaft (MQKPYPKC) des Christusleibs (1Kor 10,16f) oder der vom Verfasser des Kolosserbriefs mit Recht ekklesiologisch zugespitzte Christushymnus Kol 1,15–20 deutlich.71 Auf die wirkliche Erfahrung der „Gemeinschaft“ bis hinein in den Bereich des Sozialen legt besonders Paulus großen Wert; aber auch andere Texte, wie z.B. Joh 13,1–20; 17,21 oder Eph 4,1–6 zeigen, wie der Christusmythos die Gemeinschaft konstituiert. 5. Nach außen wirkt der Christusmythos im Sinne der Kosmopolitie und der Aufhebung von Grenzen: Ihn charakterisiert ein universalistischer Grundzug: Der erhöhte Christus ist Herr der ganzen Welt; der durch die Christologie neu zentrierte Monotheismus hält fest, dass Gott nicht nur ein Gott der Juden, sondern auch der Heiden ist (Röm 3,29). Innerhalb der Gemeinde sind die Grenzen wenigstens im Prinzip niedergerissen: „Es gibt nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht männlich noch weiblich: Ihr alle seid nämlich einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Für die gesamte Kirche gilt nach dem Epheserbrief, dass durch Christus, der „unser Friede“ ist, und durch die Wirksamkeit seines Apostels Paulus die Trennwand zwischen Juden und Heiden endgültig niedergerissen ist (Eph 2,14). Die Praxis der Kosmopolitie innerhalb der Gesamtkirche wird durch die ausgedehnte Reisetätigkeit auffällig vieler Gemeindeglieder im Frühchristentum sichtbar dokumentiert. 6. Der Gemeinschaftsstiftung entspricht aber auch die Trennung: Sie wird schon früh sichtbar, z.B. daran, dass der erhöhte Christus davon spricht, dass er gekommen sei, ein Schwert auf die Erde zu werfen und die Söhne und Töchter, welche der christlichen Gemeinschaft beitraten, von ihren ————— 70 ASSMANN, a.a.O., (Anm. 12) 197. 71 Vgl. U. LUZ, Der Brief an die Kolosser, in: J. BECKER/U. LUZ, Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser (NTD 8/1) 1998, 205.

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Vätern und Müttern zu trennen (Mt 10,34–36). Hier wird die Ambivalenz der Wirkung des Christusmythos sichtbar: Mit was für Augen haben wohl diese Eltern auf die durch den Christusmythos konstituierte neue „semiotische Kathedrale“ geblickt? Sie werden in ihr eher einen ohne Baubewilligung erstellten hässlichen Neubau gesehen haben. Der Verfasser des Epheserbriefs spricht zwar von dem durch Christus geschaffenen Frieden zwischen Juden und Heiden, aber faktisch wurden durch Christus neue und sehr hohe Trennmauern geschaffen, zwischen jüdischen Jesusanhängern und späteren Christen und den übrigen Juden und auch zwischen Christen und Nichtchristen überhaupt. Ein Semiotiker mag von der Schönheit der von ihm konstruierten „wunderbaren Kathedrale aus Zeichen“72 beeindruckt sein; ein Christ wird dazu einladen, in ihr Gottesdienst zu feiern. Religionsgeschichtler und Theologen müssen aber z.B. auch fragen, warum die große Mehrzahl der mit dem neuen „Frieden“ beschenkten Juden offenbar keine Lust hatte, in diese Kathedrale einzutreten. Auch diese Frage gehört zur wissenschaftlichen Aufgabe der Distanzierung – in diesem Fall durch vor allem durch die Religionsgeschichte –, der auch wir als Theologen das frühe Christentum auszusetzen haben. Nach der paganen Seite hin ist der Schatten, der durch die trennende Wirkung des Christusmythos auf die „Kathedrale“ fällt, zunächst nicht so augenfällig, denn das Christentum war relativ erfolgreich. Aber offensichtlich empfanden auch viele Heiden das frühe Christentum nicht als einladende Kathedrale, sondern mit dem jüngeren Plinius als „verschrobenen und maßlosen Aberglauben“ (Ep 10,96,8). Die Religionsgeschichte muss fragen, warum die große Mehrzahl der Heiden trotz der von Theißen so eindrucksvoll dargelegten Plausibilität der Zeichenwelt des Frühchristentums73 nicht sogleich und in riesigen Scharen in diese Kathedrale geströmt sind, sondern dies erst dann in Massen taten, nachdem diese nochmals und ganz erheblich umgebaut, ihre engen Pforten beträchtlich erweitert und die Zugangswege zu ihr durch kaiserliche Erlasse geebnet worden waren. Die Frage ist offen, und es gibt darauf verschiedene Antworten. ————— 72 THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 410. 73 Vgl. THEISSEN, a.a.O., (Anm. 2) 393–411. Dieser Abschnitt des Buches ist für mich zugleich eindrücklich und problematisch: Eindrücklich deshalb, weil hier auf der Basis nicht einer geschlossenen christlichen Lehre, sondern einer Vielzahl von „Grundmotiven“ des frühen Christentums eine nicht unplausible Korrelation von Urchristentum und der aus den „verdichteten Erfahrungen vieler Generationen“ (394) erhobenen conditio humana gewonnen wird. Problematisch ist mir das alles einerseits deshalb, weil in diesem Versuch manche Türme und Pfeiler der „Kathedrale“ weitgehend ausgeblendet werden, z.B. die Weltverneinung der Apokalypse oder die Weltüberwindung der johanneischen Gemeinden, und weil andererseits durchweg unklar bleibt, von wessen „verdichteten Erfahrungen“ eigentlich die Rede ist: von denjenigen christlicher Frauen? von denjenigen von Juden? von denjenigen von „kleinen Leuten“? von denjenigen antiker Gebildeter? Oder von denjenigen des modernen Intellektuellen Gerd Theißen?

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7. Ich komme zu einer weiteren Wirkung des Christusmythos, welche den Eindruck der Ambivalenz verstärkt. Seine Erzählung endet universalistisch: Christus ist Herr über Himmel und Erde; Gott ist Gott aller Menschen, der Juden und der Griechen. Zur Rückseite dieser Universalität gehört Exklusivität. Der Christusmythos ist zwar in seinem Innern vielgestaltig, facettenreich und zunächst wenig dogmatisch fixiert, aber er lässt nach außen keine anderen Mythen zu. Gerade weil er universalistisch ist und gerade weil er in einem umfassenden Sinne lebensstiftend sein will, führt er zu einer endgültigen Scheidung der Menschen in die, die gerettet werden, und die, die verloren gehen. Zwischenlösungen und Grautöne gibt es keine. Aus dem Christusmythos herauszufallen ist die Sünde, welche zum Tode führt (1Joh 5,16). Zu den Wirkungen des Christusmythos gehört nicht nur die Schwarzmalerei derer, die ihn nicht annehmen, sondern manchmal sogar ihre Dämonisierung. So werden schon im Neuen Testament die Juden zu Söhnen des Teufels (Joh 8,44). So wird der römische Staat und insbesondere Nero zum Tier aus dem Abgrund, vom alten Drachen, dem Teufel, kaum noch unterscheidbar. Gewiss hatte römische Staat für die meisten seiner Einwohner/innen viele dunkle Seiten und gewiss ist Nero aus vielen Gründen eine sehr dunkle Gestalt. Zum Tier aus dem Abgrund wurde er aber in den Augen des Apokalyptikers Johannes allein deshalb, weil er „mit den Heiligen Krieg führte“ (Apk 13,7) – alles andere Dunkle an Nero interessiert ihn nur sekundär. Ich breche ab. Es ging mir erstens darum, zu zeigen, wie fruchtbar Gerd Theißens Verständnis der Religion als semiotisches Zeichensystem ist. Dies gilt insbesondere für seinen Vorschlag, die neutestamentliche Christologie als Christusmythos zu verstehen. Zweitens wollte ich zeigen, dass dann, wenn die semiotische Konstruktionsebene um funktionale Fragestellung erweitert und damit das Tor zur Geschichte geöffnet wird, Schatten von geschichtlichen Ambivalenzen auf die Konstruktion einer Religion fallen. Funktionale Betrachtungsweisen, Religionsgeschichte und Ambivalenzen gehören zusammen. Die Religionsgeschichte nötigt deshalb zu kritischen Rückfragen an die semiotische Konstruktion. Ich denke, dass sowohl historisch als auch theologisch über die Plausibilität oder Wahrheit einer Religion nur so nachgedacht werden kann, dass solche Schatten voll ernst genommen werden. Nicht explizit angeschnitten habe ich die hermeneutische Frage. Ich hoffe aber, sie wenigstens insoweit vorbereitet zu haben, als deutlich wurde, dass die neutestamentliche Christusverkündigung vom Christusmythos nicht zu trennen ist. „Mythen sind“ nach Georg Picht „die Sprache, in der sich darstellt, was in der Religion erfahren wird“.74 Sie können zwar in ihrer ————— 74

G. PICHT, a.a.O., (Anm. 7) 492.

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semiotischen Besonderheit und in ihrer funktionalen und historischen Ambivalenz von Theologie und Religionswissenschaft beschrieben werden. Aber sie können nicht unter psychologische, soziologische, historische oder linguistische Kategorien subsumiert werden – dann ginge die Wahrnehmung der Eigenständigkeit der Religion verloren. Sie können auch nicht durch rationale Überlegungen letztlich plausibel oder gar evident gemacht werden – dann würde der Mythos auf andere Weise wiederum dem Logos unterordnet und verlöre seine unvertretbar eigene Kraft. Diese Kraft kann letztlich nur erfahren werden von Menschen, die man zwar zum Betreten eines Gebäudes einladen kann. Aber erst dann, wenn sie drin sind und dort vielleicht zu beten anfangen, können sie sagen, ob dieses Gebäude wirklich eine Kathedrale ist.

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Heikki Räisänen

Eine Kathedrale aus dem Chaos? Ein Gespräch mit Gerd Theißen über Einheit und Vielfalt der urchristlichen Religion

Als meine Generation das exegetische Studium begann, konnte man die als nötig empfundenen Methoden noch an den Fingern einer Hand abzählen. Heute befinden wir uns in einer völlig anderen Lage. Wer jetzt das Feld der Exegese beobachtet, wird bald einen großen Reichtum von Ansätzen feststellen müssen, eine bunte Palette von Archäologie und Textkritik bis hin zu feministischer und postkolonialer Kritik. Auf erstaunlich vielen dieser Gebiete hat sich Gerd Theißen an der Arbeit beteiligt; nicht selten hat er Pionierarbeit geleistet. Seine Beiträge zur soziologischen und psychologischen Exegese sind nur zwei bekannte Beispiele aus einer viel längeren Liste. Dabei hat sich Theißen als hervorragender Theoretiker erwiesen, der eine atemberaubende Anzahl von Theorien aus sehr verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen zu bewerten und für die neutestamentliche Forschung fruchtbar zu machen weiß. Paradoxerweise befindet sich nun unter der großen Menge neuer Annäherungsweisen eine, die sowohl neu als auch ganz alt ist. Es handelt sich um ein Programm, das schon im Jahre 1897 von dem brillanten Breslauer Exegeten William Wrede skizziert wurde, aber nach dessen frühem Tod ein Jahrhundert lang unausgeführt blieb und erst jetzt in die Praxis umgesetzt wurde: das Programm einer „urchristlichen Religionsgeschichte“ oder einer „Geschichte der urchristlichen Religion und Theologie“.1 Mit einer solchen Geschichte wollte Wrede die herkömmliche Gattung „Theologie des Neuen Testaments“ ersetzen. In heutiger Terminologie kann man von einer religionswissenschaftlichen Alternative zur neutestamentlichen Theologie sprechen, wobei die Alternativen sich allerdings nicht ausschließen müssen; sie haben aber verschiedene Funktionen und vielleicht auch verschiedene „Sitze im Leben“.2 ————— 1 W. WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie (1897), abgedruckt in: G. STRECKER (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, WdF 367, Darmstadt 1975, 81–154. 2 Siehe H. RÄISÄNEN, Beyond New Testament Theology: A Story and a Programme, London 22000; eine Kurzfassung mit einigen Ergänzungen bietet DERS., Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, SBS 186, Stuttgart 2000. Zur Diskussion siehe vor

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Eine urchristliche Religionsgeschichte im Sinne Wredes sollte unter Absehung von Grenzen des neutestamentlichen Kanons sowie von jeglichen normativen Ansprüchen der Texte ein historisch plausibles Gesamtbild der frühchristlichen Gedankenwelt konstruieren. Nun haben die Exegeten und Exegetinnen der letzten hundert Jahre natürlich täglich nach diesen Richtlinien gearbeitet; eine religionswissenschaftliche Orientierung hat zum großen Teil die exegetische Arbeit bestimmt. Doch von dieser „Alltagsexegese“ haben sich die synthetischen Versuche einer Gesamtschau erheblich unterschieden, eben die „Theologien des Neuen Testaments“.3 Deshalb geht es bei der Diskussion über die Wredesche Alternative auch heute nicht um eine Binsenwahrheit oder um „viel Lärm um Nichts“.4 Das zeigt spätestens ein Blick auf neueste Entwürfe neutestamentlicher Theologie, etwa auf die von Bischof Wilckens, die der Kirche helfen soll, klar und öffentlich von Gott (nicht nur von Gottesvorstellungen) zu sprechen.5 Man könnte darüber debattieren, wem die Ehre gebührt, Wredes Programm endlich als erster ausgeführt zu haben. Tatsache ist jedenfalls, dass vor kurzem gerade in Heidelberg zwei synthetische Werke produziert wurden, die sich beide auf Wrede berufen: die „Theologiegeschichte des Urchristentums“ von Klaus Berger und die „Religion der ersten Christen“ von Gerd Theißen.6 Bergers umfangreiches Werk, das manchen Leser überfor————— allem die Beiträge in T. PENNER/C. VANDER STICHELE (Hg.), Moving Beyond New Testament Theology? Essays in Conversation with Heikki Räisänen, SESJ 88, Helsinki/Göttingen 2005. 3 Vgl. zu diesem Unterschied RÄISÄNEN, Beyond, 1–3. 4 So allerdings W. STEGEMANN, Much Ado about Nothing? Sceptical Inquiries into the Alternatives „Theology“ or „Religious Studies“, in: PENNER/VANDER STICHELE (Hg.), Moving? 221–242; dagegen H. RÄISÄNEN, What I Meant and What It Might Mean: An Attempt at Responding, ebd. 400–443 (425–427). 5 U. WILCKENS, Theologie des Neuen Testaments, Band 1: Geschichte der urchristlichen Theologie, Teilband 1: Geschichte des Wirkens Jesu in Galiläa, Neukirchen-Vluyn 2002, vi; vgl. ebd. 53–55, 63–66. F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments 1, Tübingen 2002, 1, eröffnet sein Werk mit dem Satz, Theologie (einschließlich neutestamentlicher Theologie) sei „Nachdenken über den Glauben und damit Nachdenken über den als gültig anerkannten Wahrheitsanspruch der christlichen Botschaft“; die Frage nach der Verbindlichkeit der Texte könne in einer neutestamentlichen Theologie nicht ausgeklammert werden. Demnach trage auch Theißens hier zu besprechendes Buch „nur indirekt etwas zur Aufgabenbestimmung einer neutestamentlichen Theologie bei“ (a.a.O., 18). Vgl. ferner F. THIELMAN, Theology of the New Testament: A Canonic and Synthetic Approach. Grand Rapids 2005, bes. 34; I.H. MARSHALL, New Testament Theology, Downers Grove 2004, bes. 45f; F.J. MATERA, New Testament Theology: Exploring Diversity and Unity, Louisville/London 2007, bes. xxvii; U. SCHNELLE, Theologie des Neuen Testaments (UTB 2917), Göttingen 2007, bes. 36f. Die grundsätzliche Problematik wird umständlich diskutiert in zwei neuen Sammelwerken: C. ROWLAND/C. TUCKETT (Hg.), The Nature of New Testament Theology (FS R. Morgan), Oxford 2006; C. BREYTENBACH/J. FREY (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007. 6 K. BERGER, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments (UTB, Große Reihe), Tübingen/Basel 21995. G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 22001.

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dern wird, erschien zuerst;7 hier aber gilt unsere Aufmerksamkeit Theißens Buch, das eine lebhafte internationale (und auch interdisziplinäre) Diskussion ausgelöst hat.8 Außer der „Religion der ersten Christen“ – die Seitenzahlen in Klammern verweisen auf dieses Werk – habe ich auch spätere Aufsätze und Bücher Theißens zu berücksichtigen versucht. Allerdings können die folgenden Bemerkungen nur ein blasses Bild der Fülle von Anregungen vermitteln, die ich – und andere – von dieser Lektüre empfangen haben. Theißen will also unter ausdrücklicher Berufung auf Wredes Programm (17–19 Anm.1) eine Analyse der urchristlichen Religion bieten, die sich nicht in einem kirchlichen Diskurs bewegt, sondern sich auf das allgemeine Gespräch einlässt und allgemeine religionswissenschaftliche Kategorien verwendet. Er möchte den Gehalt der urchristlichen Religion so darstellen, „dass es für Menschen unabhängig von ihrer religiösen oder nicht-religiösen Einstellung zugänglich wird“. Darin unterscheide sich sein Entwurf von „Theologien des Neuen Testaments“, die eine „christliche Binnenperspektive“ vertreten. Entgegen „postmoderner Mentalität“ ist Theißen überzeugt, dass „wissenschaftliche Kommunikation über die Grenzen der jeweiligen religiösen Position hinaus möglich und notwendig“ – und „auch für Kirche und Christentum selbst sehr wichtig ist“ (13f). Nun gibt es sicher keinen schroffen, schwarz-weißen Unterschied zwischen Religionswissenschaft und Theologie; zu Recht konstatiert Theißen, dass sie sich „zu mehr als 80%“ überschneiden.9 Theologie ist durchaus auf Einsichten der Religionswissenschaft angewiesen, geht aber in gewisser Hinsicht über sie hinaus. Theologie sei „die Selbstauslegung eines religiösen Zeichensystems zu dem Zweck, Menschen zum Handeln in ihm zu qualifizieren“. Sie sei „an ein Bekenntnis gebunden“ so dass von Theologen „eine bestimmte religiöse Identität erwartet“ werde. „Theologie fragt nach der Wahrheit der Religion in der Erwartung, sie in einer bestimmten Religion zu finden.“ Dagegen sei Religionswissenschaft Erforschung „aller religiöser Zeichensysteme zu dem Zweck, allen Menschen in der Gesellschaft Wissen für den Umgang mit Religionen zu verschaffen“. Sie ist „an kein Bekenntnis gebunden (auch nicht an ein antireligiöses Bekenntnis)“. Aller————— 7 Vgl. dazu RÄISÄNEN, Beyond, 134–136 (kürzer: Ntl. Theologie? 54f). 8 Vgl. u.a. A. LINDEMANN, Zur „Religion“ des Urchristentums, ThR 67, 2002, 238–261 (246–261); U. LUZ, Der frühchristliche Christusmythos. Ein Gespräch mit Gerd Theißen zu seinem Verständnis der Religion des Urchristentums, ThLZ 128, 2003, 1244–1258 [Wiederabdruck im vorliegenden Band – s.o.]; S. BYRSKOG, En teori om urkristen religion. Reflektioner kring Gerd Theißens bok A Theory of Primitive Christian Religion, Svensk Teologisk Kvartalskrift 79, 2003, 42–50; DERS., Räisänen through Theißen: A Program and a Theory, in: PENNER/VANDER STICHELE (Hg.), Moving? 197–220. 9 G. THEISSEN, Widersprüche in der urchristlichen Religion. Aporien als Leitfaden einer Theologie des Neuen Testaments, EvTh 64, 2004, 187–200 (187 Anm. 4).

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dings ist sie „so wenig wertfrei wie andere Geisteswissenschaften“, vielmehr offen für viele Wertorientierungen; sie setzt deshalb „nicht unbedingt religiöse Identität voraus“.10 Mit „Die Religion der ersten Christen“ hat Theißen eine religionswissenschaftliche oder (wie er auch sagt) religionstheoretische11 Beschreibung des Urchristentums vorgelegt. Aber es wäre ganz folgerichtig, wenn er eines Tages darauf eine „Theologie des Neuen Testaments“ folgen ließe, die weitgehend dasselbe Material bearbeiten würde, in der aber ausdrücklich auch die Wahrheit der urchristlichen Religion erörtert und bejaht würde. Aufsätze, die in diese Richtung gehen, hat Theißen bereits geschrieben.12 Während das religionswissenschaftliche Programm an sich „großen Spielraum für verschiedene Konzepte“ lässt, zeichnet sich Theißens Versuch durch eine Verwendung theoretischer Modelle und Annäherung an Religion als „eine normative Lebensmacht“ aus (19 Anm. 1). Aus dem Letzteren folgt, dass Theißen der Entstehung des neutestamentlichen Kanons sowie der Frage nach der Einheit der urchristlichen Religion ein großes Gewicht beilegt. (An beiden Punkten entwickelt er das Programm in eine andere Richtung als der nicht gerade theoriefreundliche und der Autorität des Kanons ganz abholde Wrede wohl getan hätte.) In meinen Augen sind diese Züge sowohl eine Stärke als auch ein Problem. Sie verleihen dem Werk Kohärenz und Attraktivität. Aber manchmal scheint die Befolgung einer Theorie Theißen zu etwas gekünstelten Interpretationen zu verlocken, z.B. wenn er beim Abendmahl von „symbolischem Kannibalismus“ oder bei der Taufe von „symbolischer Selbsttötung“ spricht (190). Und zweitens wird die Vorstellung der Einheit m. E. durch Nivellierung von Differenzen erreicht, die Theißen vorher selbst scharf herausgestellt hat. Theißen wählt einen semiotischen Ansatz. Er betrachtet Religion als ein kulturelles Zeichensystem, das sich in Mythos, Ritus und Ethos ausdrückt. Durch Berücksichtigung aller drei Sphären deckt Theißen dankenswerterweise ein weiteres Feld ab als die neutestamentlichen Theologien. Nach diesen drei Kategorien gliedert er sein Buch. Doch auch die zeitliche Entwicklung im Urchristentum wird berücksichtigt. Theißen beschreibt, wie ————— 10 G. THEISSEN, Theologie und Religionswissenschaft. Gegenseitige Inspiration und Irritation zweier komplementärer Wissenschaften, Nederlands Theologisch Tijdschrift 59, 2005, 124– 141 (130). 11 THEISSEN, Widersprüche, 187 Anm. 4. 12 Vgl. etwa THEISSEN, Widersprüche (oben Anm. 9); DERS., Exegese und Wahrheit. Überlegungen zu einer Interpretationsethik für die Auslegung der Bibel, in: M. WELKER/F. SCHWEITZER (Hg.), Zur Neubestimmung der Grenzen zwischen den theologischen Disziplinen, Münster 2005, 81–96; DERS., Theorie der urchristlichen Religion und Theologie des Neuen Testaments. Ein evolutionärer Versuch, in: A. WAGNER (Hg.), Primäre und sekundäre Religion als Kategorie der Religionsgeschichte des Alten Testaments, BZAW 364, Berlin 2006, 227–248.

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aus ursprünglich jüdischen Elementen eine autonome „semiotische Kathedrale“ (wie er sie nennt) errichtet wurde (bes. 385–391). Dabei handelt es sich um farbenreiche, dynamische Prozesse: wie Jesus vergöttlicht wurde (71–98); wie es zum Ende des Opferkults kam (195– 200), usw. Angesichts der Tatsache, dass der Prozesscharakter eine so große Rolle spielt, wundert man sich ein wenig, dass Theißen am Ende doch alles in ein System münden lässt, das er also eine „Kathedrale“ nennt. In seinem Programm scheint sich in der Tat eine Spannung zwischen der Beschreibung eines dynamischen Prozesses und der eines „objektiven“ Systems zu verbergen. Doch Theißen würde wohl antworten, dass das System aus dem Prozess resultiert hat, nämlich etwa folgendermaßen: Die ersten Christen hätten für sich mit wachsendem Bewusstsein Autonomie beansprucht: Nach einigen Jahrzehnten waren sie keine bloßen Schismatiker mehr (die sie während der ersten Generation gewesen waren), keine Vertreter mehr eines gescheiterten Versuches, das Judentum zu universalisieren. Dieser Prozess der Bewusstwerdung erreichte seinen Höhepunkt mit dem Johannesevangelium, das nach Theißen als eine Synthese der Visionen des Paulus und der synoptischen Evangelien angesehen werden kann. Erst mit Johannes sei sich das urchristliche Zeichensystem seiner vollkommenen Autonomie bewusst worden; der ganze Inhalt der neuen Religion wurde jetzt von ihrem Verhältnis zum Erlöser beherrscht, der sich selbst zum Inhalt der Botschaft machte. Er hatte die absolute Wahrheit gebracht. Auf diese Weise brachten die ersten Christen das Bewusstsein zum Ausdruck, dass sie die endgültige Wahrheit vertraten. Die Scheidung vom Judentum war endgültig, da die Christen jetzt eine zweite Gestalt neben dem einen Gott anbeteten (225–280). Bei dieser Gesamtschau fällt auf, eine wie große Rolle dem Johannesevangelium zugeschrieben wird. Ist das vierte Evangelium aber nicht vielmehr als eine gewaltige (oder gar gewaltsame) Neuinterpretation anzusehen, die außerhalb des eigenen „johanneischen Gemeindeverbandes“, das „ein distanziertes Eigenleben“ führte, für lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen wurde?13 Sollte es nicht eher als ein kühner Einzelgänger denn als eine Synthese früherer Interpretationen eingestuft werden? Für spätere kirchliche Theologen sollte Johannes in der Tat ausschlaggebend werden, aber das ist m. E. schon eine andere Geschichte. Theißen betont selbst, dass das Urchristentum als „ein brodelndes Chaos“ vieler Gruppen erscheint. Es bestand aus einer „Pluralität von Strömun————— 13 J. BECKER, Das Verhältnis des johanneischen Kreises zum Paulinismus: Anregungen zur Belebung einer Diskussion, in: D. SÄNGER/U. MELL (Hg.), Paulus und Johannes. Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Theologie und Literatur, WUNT 198, Tübingen 2006, 473–95 (484f).

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gen“, von denen jede „in sehr eigenwilliger Weise“ an der gemeinsamen Kathedrale weiterbaute (389; Hervorhebung von mir). Doch wie können viele Gruppen (gleichzeitig!) je eigenwillig eine Kathedrale bauen? Wäre das nicht der Alptraum jedes Bauherrn? Trotzdem meint Theißen zugleich, es handle sich, zumindest für die religionstheoretische Betrachtung, um ein „sich selbst organisierendes Zeichensystem“ (410; Hervorhebung von mir)! Hinter der Pluralität sei nämlich eine Einheit verborgen. Denn allen Gruppen seien zwei „Grundaxiome“ (Monotheismus und Glaube an Jesus als Erlöser) und eine Reihe von (elf) „Grundmotiven“ gemeinsam gewesen, die die „Grammatik“ des neuen Zeichensystems bildeten (368–381). Allein diese Einheit mache dann die Entstehung des Kanons verständlich. Theißen meint, dass „es eine bewusste Entscheidung war“, neben die Septuaginta noch weitere Schriften zu stellen. „In, mit und durch die Kanonbildung muss sich ein Konsens über das gefestigt haben, was im normativen Sinne ‚christlich‘ ist“ (341). Dabei sieht Theißen jedoch die Kanonbildung auch als ein bewusstes „Bekenntnis zur Pluralität“ (356) an. Die Frage ist: Kann man beides zugleich haben? Kann man die Pluralität und die Normativität, das Chaos und die Kathedrale, zusammenhalten? Es scheint mir, als befänden sich der analytische Religionshistoriker Theißen und der systematisierende Theoretiker Theißen (dem mehr als ein Hauch von einem Theologen anhaftet) in Spannung zueinander.14 Die beiden sind denn auch unterschiedlich rezipiert worden: Einige Benutzer von Theißens oeuvre bevorzugen den Analytiker, der Chaos sieht; andere den Systematiker, der aus dem Chaos eine Kathedrale hervorzaubert und die Bedeutung des normativen Kanons betont. Mich selbst zieht der Analytiker an; andere mögen anders entscheiden. Ich werde auf die Rezeption noch zurückkommen. Das von Theißen eruierte System wirft einige Probleme hervor. Wieviel innere Einheit gab es wirklich? Schon das gegenseitige Verhältnis der beiden Grundaxiome, Monotheismus und Christusglaube, erwies sich den frühen Christen ja als ein dauerndes Problem. Wenn Theißen ferner die elf Grundmotive, den „inneren Kanon im Kanon“, herausarbeitet, geht er zu einer recht abstrakten Ebene über. Nur so kann er in das Chaos systemische Ordnung bringen. Die Grundmotive sind: Schöpfung, Weisheit, Wunder, Entfremdung, Erneuerung, Stellvertretung, Einwohnung, Glaube, Agape, Positionswechsel und Gericht (371–380). Bei deren Vorstellung operiert Theißen mit Assimilationen und Harmonisierungen. Zum Beispiel heißt es ————— 14 Vgl. R. URO, Rezension von Theißen, Religion, Teologinen Aikakauskirja 108, 2003, 83– 85 (85): „Bei der Konstruktion der Grammatik des urchristlichen Glaubens rückt Theißen mehr in die Nähe von systematischer Theologie und Religionsphilosophie. Es entsteht ein fertiges Kirchengebäude, dessen verwickelte Entstehungsgeschichte am Ende in den Hintergrund verschoben wird“ (meine Übersetzung aus dem Finnischen).

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beim „Erneuerungsmotiv“, dass sich das Bewusstsein eines eschatologischen Übergangs als Naherwartung und als präsentische Eschatologie äußern konnte. Die die konkreten „letzten Dinge“ aufzählende synoptische Apokalypse (Mk 13) sowie die Apk werden dabei im gleichen Atemzug mit solchen Äußerungen zitiert, nach denen Christen schon jetzt vom Tod ins Leben hinübergegangen sind (Joh 5,24) oder in einen anderen Seinsbereich, in den Himmel, versetzt worden sind (Eph 2,1ff; S. 375). Insgesamt gibt Theißen der Naherwartung praktisch wenig Gewicht, obwohl er selbst hervorhebt, dass Jesus im Endzeitmythos lebte, und Theißen sich der „eschatologischen Hochspannung“ in der Mission Jesu voll bewusst ist (181). Theißen beobachtet, dass Jesus den Armen irdische Macht verhieß und dass diese Verheißung lange nachwirkte (128f), problematisiert aber nicht die bald einsetzende Spiritualisierung dieser Hoffnung. Was für einige Interpreten als Kampf zwischen einer irdischen Hoffnung und ihrer Spiritualisierung erscheint,15 wird von Theißen zu ein und demselben Motiv von „Erneuerung“ verschmolzen. Theißen findet im Urchristentum einen „erstaunlichen Konsens“. Die Theologien waren zwar inhaltlich sehr verschieden, wurden aber durch „formale Grundüberzeugungen verbunden“, so dass „ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit quer durch verschiedene Strömungen“ entstehen konnte (405) und etwa „ein durch die synoptische Theologie geprägter Christ sich auch in einer paulinischen Gemeinde zu Hause fühlen konnte“ (368). Aber ist es so sicher, dass er oder sie es wirklich konnte? Nach dem Zeugnis des Galaterbriefes fühlten sich die „Leute von Jakobus“ nicht allzu wohl in Antiochia, und auch Petrus hatte da seine Probleme (Gal 2,11–14). Gerade nach Theißens eigener Auslegung (an einem anderen Ort) richtet das Matthäusevangelium „kräftige Hiebe“ gegen Paulus.16 Und der Seher Johannes von Patmos, ein Christ der wohl nicht weit von synoptischer Theologie (oder vom Ethos der Wandercharismatiker) entfernt war,17 war schlechthin erschrocken in einem Milieu, wo die sogenannten Nikolaiten in paulinischem Geist den Genuss des Opferfleisches für ein Adiaphoron hielten!18 ————— 15 Siehe vor allem C. ROWLAND, Christian Origins: An Account of the Setting and Character of the Most Important Messianic Sect of Judaism, London 22002; vgl. dazu Räisänen, Beyond, 108f (Ntl. Theologie? 36f). 16 G. THEISSEN, Kirche oder Sekte? Theologie der Gegenwart 48, 2005, 162–175 (170–172). 17 Vgl. H.-J. KLAUCK, Das Sendschreiben nach Pergamon und der Kaiserkult in der Johannesoffenbarung, Bib. 73, 1992, 153–182 (179f). 18 Siehe zu den Nikolaiten KLAUCK, Sendschreiben, 164–170; H. RÄISÄNEN, The Nicolaitans: Apoc 2; Acta 6, ANRW II.26.2, 1995, 1602–1644; abgedruckt in: DERS., Challenges to Biblical Interpretation, Biblical Interpretation Series 59, Leiden/Boston/Köln 2001, 141–189.

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Darüber hinaus kann man bezweifeln, ob die Kanonbildung wirklich als ein „Bekenntnis zur Pluralität“ intendiert war – etwa so, dass „die untergründige Aggressivität“ der Apk gegen das Römische Reich „durch eine ebenso dezidierte Verpflichtung zur Staatsloyalität“ in Röm 13 „in Schach gehalten werden“ sollte (131), oder dass die katholischen Briefe bewusst als ein Gegengewicht gegen Paulus dienen sollten (366). Es wird sinnvoll sein, den neutestamentlichen Kanon in den heutigen Kirchen auf diese Weise ökumenisch friedensstiftend wirken zu lassen – etwa den Jakobusbrief mit Theißen als „einen notwendigen Ausgleich“ zu „den polemisch verzerrten Aussagen des Paulus über seine judenchristlichen Gegner“19 zu verstehen – aber im Blick auf das zweite Jahrhundert wirkt eine solche Lektüre eher anachronistisch. Statt eines Bekenntnisses zur Pluralität würde ich im Gegenteil von einem Bekenntnis zur oder gar von einem Zwang nach Einmütigkeit sprechen: die katholischen Briefe (oder die Apg) etwa sollen zeigen, dass Petrus und Paulus immer einer Meinung waren. Theißen notiert an anderem Ort selbst, dass die späteren Briefe „von vornherein Ergänzung, Kommentar und Leseanleitung“ etwa für die Paulusbriefe sind; „sie wollen, dass in ihrem Lichte die ältere Literatur gelesen wird“20 (wobei etwa der 2Petr die paulinische Naherwartung auf den Kopf stelle21). Ob ein solches Unternehmen der Anerkennung einer wirklichen Pluralität dient, kann bezweifelt werden. Nach A.J.M. Wedderburn hat die Kanonbildung eben dies zur Folge, dass die Einheit aller Strömungen behauptet wird (trotz der in den Schriften selbst dokumentierten bitteren Streitigkeiten); dieser hermeneutische Schritt soll uns davon abhalten, aus den verschiedenen Stimmen der kanonisierten Schriften irgendwelche Disharmonie herauszuhören.22 Die Apg hat hier den Grund gelegt, auf dem die Kirchenväter mit ihren Harmonisierungsversuchen weiterbauen konnten, die etwa den verrufenen Konflikt zwischen Paulus und Petrus in Antiochia auf alle möglichen und unmöglichen Weisen wegzuerklären suchten.23 Auch die Widersprüche zwi————— 19 G. THEISSEN, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem (SHAW.PH, 40), Heidelberg 2007, 176f. 20 THEISSEN, Entstehung, 174 Anm. 21; Hervorhebung von mir. 21 THEISSEN, Entstehung, 178. 22 A.J.M. WEDDERBURN, A History of the First Christians, London/New York 2004, 168. Vgl. F. WISSE, The Use of Early Christian Literature as Evidence for Inner Diversity and Conflict, in: C.W. HEDRICK/R. HODGSON (Hg.), Nag Hammadi, Gnosticism, and Early Christianity: Fourteen Leading Scholars Discuss the Current Issues in Gnostic Studies, Peabody 1986, 180: „It is very modern to look at diversity as something positive […] In contrast, ancient Christian historians from the author of Acts to Eusebius tended to explain diversity in terms of truth and falsehood; change was seen as falsification and conflict as instigated by demonic forces. Insofar as they were aware of diversity in the primitive church they would try to ignore it, make it look innocuous, or exploit it for their own partisan purposes.“ 23 Siehe z.B. den Exkurs bei F. MUSSNER, Der Galaterbrief, HThK 9, Freiburg/Basel/Wien 4 1981, 146–167.

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schen den Evangelien, auch in anscheinend unwichtigen Einzelheiten, haben den nächsten Generationen viel Kopfzerbrechen bereitet. Statt die Pluralität gelten zu lassen, haben die Kirchenväter sich energisch um Harmonisierung bemüht.24 Theißen legt sehr viel Gewicht auf den Kanon als einen konsens-stiftenden Faktor. Man könnte ihm aber erwidern, dass die Rolle des Kanons vielleicht gar nicht so ausschlaggebend war. Denn auf den Kanon beriefen sich schließlich alle, auch die gnostisch eingestellten Christen, die ja gerade das für Theißens Interpretation so zentrale Johannesevangelium besonders gern hatten; später haben z.B. die Arier vom Kanon der Bibel viel Gebrauch gemacht und sich auch besonders bibelkundig erwiesen.25 Es kam darauf an, was man aus dem Kanon herauslas. In viel höherem Maße hat wohl die regula fidei, die „Glaubensregel“, die Entwicklung bestimmt,26 die kaum zum Pluralismus neigt (und von Theißen kaum notiert wird). Schließlich erscheint paradoxerweise die Nicht-Aufnahme der judenchristlichen Evangelien und des Thomasevangeliums in den Kanon im Lichte von Theißens Liste der Grundmotive willkürlich, worauf er selbst aufmerksam macht. Bei den judenchristlichen Evangelien können wir „ahnen“, dass uns hier „die Stimmen eines sehr beeindruckenden Christentums verloren gegangen sind, das nicht weniger wertvoll war als das judentumsnahe Christentum im Jakobusbrief oder im Matthäusevangelium“ (383). Aber das Christentum mancher dieser Judenchristen war adoptianistisch geprägt (Jesus war ihnen ein Mann, der bei seiner Taufe mit himmlischen Kräften ausgerüstet und in einem bildlichen Sinne zum „Sohn Gottes“ wurde), weshalb ihm von der „rechtgläubigen“ Kirche vom zweiten Jahrhundert an heftig widersprochen wurde. Offenbar empfanden die Rechtgläubigen nicht, dass die „Ebioniten“ mit ihnen die entscheidende Glaubensgrundlage teilten. Theißen bemerkt ferner, dass nach seiner Grammatik des urchristlichen Glaubens auch das Thomasevangelium gar nicht häretisch war. Mit seiner Nicht-Aufnahme in den Kanon „ging eine wertvolle Variante urchristlichen Glaubens verloren: eine individuelle urchristliche Mystik“, gekennzeichnet durch einen radikalen Individualismus, für den die Erkenntnis der Gottesherrschaft Erkenntnis des Selbst ist. Dabei hätte es nach Theißen durchaus ————— 24 H. MERKEL, Widersprüche zwischen den Evangelien. Ihre polemische und apologetische Behandlung in der Alten Kirche bis zu Augustin, WUNT 13, Tübingen 1971. 25 Vgl. F.M. YOUNG, From Nicaea to Chalcedon. A Guide to the Literature and Its Background, London 1983, 58–64. 26 Vgl. dazu etwa J. ULRICH, Selbstbehauptung und Inkulturation in feindlicher Umwelt. Von den Apologeten bis zur „Konstantinischen Wende“ 1. Theologische Entwicklungen, in: D. ZELLER (Hg.), Christentum I. Von den Anfängen bis zur Konstantinischen Wende, RM 28, Stuttgart 2002, 231–233.

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„der in der Kanonbildung erkennbaren Tendenz zur Anerkennung einer inneren Pluralität“ entsprochen, auch eine solche Stimme aufzunehmen (383f). Diese (mir sehr sympathische) Einschätzung entspricht der Grundanschauung Theißens, bedeutet aber, dass man etwa im Thomasevangelium und in der Apk ein und dasselbe Grundmotiv (das Motiv der Erneuerung) erkennen müsste. Ein System, das diese beiden Schriften einbezieht (und dabei dem Anliegen beider gerecht wird), kann ich mir schlecht vorstellen. Theißen bemerkt anhand des Thomasevangeliums, dass die „individualistische und mystische Frömmigkeit nicht im Sinne des institutionell sich festigenden Frühkatholizismus war“, während seine Theorie der urchristlichen Religion hier „einen verloren gegangenen Reichtum rekonstruieren“ und legitimieren kann (384). Also weiß Theißen letztlich besser als sein normatives „kanonisches Urchristentum“ (367), wo die frühen Christen die Grenzlinie hätten ziehen müssen: es hätte „der in der Kanonbildung erkennbaren Tendenz zur Anerkennung einer inneren Pluralität […] durchaus entsprochen, auch eine Stimme individualistischer Mystik in das Konzert der kanonischen Schriften aufzunehmen“ (384). Vielleicht – wenn es wirklich die Absicht der frühen Christen war, die Pluralität anzuerkennen. Dass sie die mystische Stimme eben nicht aufnahmen, könnte in eine andere Richtung weisen. Kehren wir zum Bild der „Kathedrale“ zurück. Ulrich Luz bemerkte in einem früheren Festvortrag, dass in die Metapher eine Wertung mit eingeflossen zu sein scheint, „welche dem Standort der späteren Kirche entspricht“.27 Die Metapher sei „suggestiv und verführerisch“, denn „Kathedralen haben für den vordergründigen Betrachter einerseits etwas Schönes und Erhebendes, andererseits etwas merkwürdig Zeitloses an sich“.28 Ich nehme mir die Freiheit, mit Ihnen kleine Erfahrungen aus dem finnischen Milieu zu teilen, die mit dem Kathedralenbild und auch mit der Rezeption von Theißens Werk zu tun haben.29 Ich wurde nämlich schon früher einmal mit der Metapher „Kathedrale“ konfrontiert, und zwar in einer Debatte über die Autorität der Bibel in den 80er Jahren in Finnland. Ich hatte die Vielfalt der neutestamentlichen Glaubensauffassungen besprochen und den Wunsch geäußert, dass auch die Kirche daraus irgendwie pluralistische Folgerungen ziehen könnte. Darauf reagierte der Lutherforscher Tuomo Mannermaa, der die Gedankenwelt der (gesamten!) Bibel eben mit „einer aus Stein gebauten mittelalterlichen ————— 27 LUZ, Christusmythos, 1245. 28 Ebd., 1245 Anm. 8. 29 Dies auch als ein Gruß von der finnischen Forschungseinheit „Formation of Early Jewish and Christian Ideology“, als deren Berater Gerd Theißen in den Jahren 2000–2005 in sehr hilfreicher Weise tätig war.

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Kathedrale“ verglich. Ihre tragenden Strukturen bestünden aus heilsgeschichtlichen Ereignissen (wie die Durchquerung des Roten Meeres oder die Auferstehung Jesu). Werden diese Strukturen gebrochen, stürzt das Gebäude zusammen; die Kathedrale wird zu einer Ruine, zu einem bloßen Steinhaufen.30 Beispielsweise die Auffassung, dass verschiedene im Neuen Testament bezeugte Auslegungen des Gottessohntitels sich wirklich widersprechen,31 bedeute, dass die „Glaubenswelt der Bibel“ für gar nicht „strukturiert“ gehalten wird.32 Ich erwiderte mit einem anderen Bild: Das Neue Testament gleiche weder einer Kathedrale noch einem Steinhaufen; man könnte sich vorstellen, dass es aus einer Anzahl kleiner Kapellen besteht. Diese seien durchaus „strukturiert“, aber nicht nach einem und demselben Modell. Sie haben ein gemeinsames Grundelement, etwa ein Altar, aber sonst haben die Erbauer große Freiheit walten lassen. Die „Kathedrale“ entstand erst später, als die Kapellen – oder einige davon – als Nebenzimmer in einen neuen Tempel transportiert wurden, dessen Material zum großen Teil anderswoher stammt; offensichtlich dachte ich dabei, dass das Bild der Kathedrale erst für die kirchliche Lehre der konstantinischen Zeit wirklich passt. Das Hauptschiff dieser spät errichteten Kathedrale gleicht in vielem der Johannes-Kapelle, die ihr teilweise als Modell gedient hat. Die allerälteste (judenchristliche) Kapelle dagegen wurde für morsch befunden und gar nicht in die Kathedrale gebracht.33 Dieses Bild, die frühchristliche Gedankenwelt als eine Reihe von Kapellen mit je eigener Architektur, könnte ich auch heute der Metapher der „Kathedrale“ bei Theißen entgegenstellen. Allerdings könnte der von Luz vorgeschlagene Vergleich noch geeigneter sein; er meint, dass das Urchristentum keine semiotische Kathedrale war, „sondern bildlich gesprochen eher eine Baustelle, ein in Ausführung begriffenes Umbau- und Neubauprojekt“, das nie abgeschlossen wurde.34 Meine Debatte mit Mannermaa wurde nun aber im Jahre 2002 von einem Mannermaa-Schüler, Dr Sammeli Juntunen, in einer Streitschrift über den Zustand der Kirche wieder aufgenommen – und hier kommt auch Gerd Theißen ins Bild. Unter Berufung auf Mannermaa wiederholt Juntunen die Kritik an solche theologische Konzepte, die aus der biblischen Kathedrale ————— 30 T. MANNERMAA, Eksegetiikka ja raamattuteologia (Exegese und Bibeltheologie), Teologinen Aikakauskirja 90, 1985, 479–490 (486). 31 Es handelt sich um den Gegensatz zwischen der besonders in Röm 1,3f und in den Reden der Apg (2,22–36; 3,13–15; 13,26–33) dokumentierten „adoptianistischen“ Christologie auf der einen und der vor allem im Johannesevangelium prominent vorkommenden Präexistenzchristologie auf der anderen Seite. 32 MANNERMAA, Eksegetiikka, 489. 33 H. RÄISÄNEN, Katedraali vai kiviraunio? (Kathedrale oder Steinruine?), Teologinen Aikakauskirja 91, 1986, 193–204 (203). 34 LUZ, Christusmythos, 1245.

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eine Steinruine machen sollen. Die Ruinentheorie, die auf dem Verständnis des Neuen Testaments als einer uneinheitlichen Sammlung basiert, übe einen großen Einfluss etwa auf die lutherische Kirche Finnlands aus.35 Dieser als „destruktiv“ empfundenen Sicht will Juntunen „eine abweichende Auffassung“ entgegensetzen, und so verweist er auf Theißens Buch, wo die Gedankenwelt des Neuen Testaments als ein selbständiges, von innen her organisiertes Zeichensystem gelte; als zentrale Elemente des Systems werden das „Wirken Gottes in der Heilsgeschichte“36 und der Monotheismus genannt. Juntunen betont, dass Theißen dieses Zeichensystem mit einer semiotischen Kathedrale vergleicht und weist darauf hin, dass Mannermaa schon früher ein ähnliches Bild gebraucht hatte.37 Gegen meine Auffassung, dass die Bibel menschliche Erfahrungen ihrer Verfasser zum Ausdruck bringe, beruft sich Juntunen auf das „eigene Selbstverständnis der Bibel“, nach dem die Texte von Gottes besonderen Heilstaten in der Geschichte zeugen; die Zuschreibung menschlicher Erfahrung zerbreche die wichtigste Stütze der „von Mannermaa und Theißen beabsichtigten Bibel-Kathedrale“.38 Die These von widersprüchlichen Christologien im Neuen Testament wird durch die Bemerkung verharmlost, dass Theißen „die während der Zeit des Neuen Testaments stattgefundene gesteigerte Betonung der Göttlichkeit Jesu für eine ungezwungene innere Entwicklung der urchristlichen Religion“ halte.39 Theißen wird so gelesen, als ob er nicht nur die Auferstehung Jesu, sondern etwa auch den alttestamentlichen Exodus aus Ägypten für unerschütterliche geschichtliche Tatsachen und als solche für Grundpfeiler der Kathedrale hielte.40 Theißens Zeichnung der Kathedrale wird aufgenommen und als Stütze für die Einheit nicht nur der neutestamentlichen, sondern sogar der gesamtbiblischen Glaubenswelt zitiert, wobei das von Theißen vorerst entworfene Bild des Chaos unter der Hand vergessen wird. Das „suggestive und verführerische“ Bild der Kathedrale (Luz) feiert hier seinen Siegeszug, allerdings nicht unbedingt in Übereinstimmung mit ————— 35 S. JUNTUNEN, Horjuuko kirkon kivijalka? (Wackelt der Sockel der Kirche?), Helsinki 2002, bes. 30–48. 36 JUNTUNEN, Kivijalka, 37. Hier wird auf die „heilsgeschichtliche Story“ hingewiesen, die THEISSEN, Religion, 22 nennt; vgl. aber die nähere Bestimmung bei THEISSEN, Religion, 39 Anm. 17: „Der Begriff der ‚Story‘ umfasst alles: Mythisches, Fiktives und Historisches im engeren Sinne.“ 37 JUNTUNEN, Kivijalka, 36, versäumt es nicht zu nennen, dass Theißen Berater der oben in Anm. 29 erwähnten, von mir geleiteten Forschungseinheit war; offensichtlich möchte er Theißen gegen mich und andere als „liberal“ geltende Teilnehmer des Projektes ausspielen. 38 JUNTUNEN, Kivijalka, 38f; Hervorhebung von mir. 39 JUNTUNEN, Kivijalka, 42, unter Verweis auf THEISSEN, Religion, 71–98. 40 Vgl. dagegen THEISSEN, Widersprüche, 188: die biblische „Bindung an die Geschichte macht das Christentum in moderner Zeit verletzlich“.

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den Intentionen seines Urhebers. In einem im Jahre 2004 erschienenen Aufsatz betont Theißen selbst eben die „Widersprüche in der urchristlichen Religion“. Man könne eine Religion, auch die urchristliche Religion, „auch durch ihre Widersprüche charakterisieren, so wie ein Mensch an seinen Widersprüchen erkennbar wird. Widersprüche sind etwas Menschliches. Suchen wir nach den Widersprüchen einer Religion, so betrachten wir sie als etwas, das menschlich und nicht perfekt ist. Damit wird sie nicht abgewertet.“41 Dann kommt eine Überraschung: „Wir betrachten sie eher als eine Kathedrale, die nicht aus Steinen, sondern Zeichen erbaut wurde. Jeder, der die Baugeschichte unserer Kathedralen kennt, weiß, wie viele Widersprüche im Laufe der Jahrhunderte in sie hineingebaut wurden. Er weiß, dass sie durch und durch menschliche Produkte sind. Dennoch dienen sie der Verehrung Gottes.“42 Hier scheint Theißen den Boden unter den Füßen derjenigen seiner Verehrer zu entziehen, die von der menschlichen Widersprüchlichkeit des Neuen Testaments nicht viel wissen wollen. Aber zugleich scheint er in seiner eigenen Metaphorik Verwirrung zu schaffen. Bisher wurde das Bild der Kathedrale gebraucht, um die hinter der Vielfalt existierende Einheit der urchristlichen Glaubenswelt zu betonen; jetzt soll es die Aufmerksamkeit auf ihre Widersprüchlichkeit lenken. Ich werde den Eindruck nicht los, dass die Metapher „Kathedrale“ leicht irreführend wird. Das finnische Beispiel erweist mir, dass Vertreter einer relativ konservativen kirchlichen Theologie auf Theißens Werk solche Hoffnungen setzen können, die bei näherem Zusehen enttäuscht werden müssen. Ähnliches ließe sich für seine Betonung der Bedeutung des Kanons zeigen; doch darauf kann ich hier nicht mehr eingehen. Ich will nicht verschweigen, dass auf der Gegenseite in der Debatte über die Bibel sich ebenfalls auf Theißen berufen wird. In einem Artikel über „Das Neue Testament in der Theologie“ aus den 90er Jahren machte ich (wieder einmal) auf die kontradiktorische Vielfalt im Neuen Testament aufmerksam und zwar unter Hinweis auf Theißens früheres Buch „Argumente für einen kritischen Glauben“, wo er schreibt: „Historisch-kritische Wissenschaft […] zeigt, dass die religiösen Traditionen von Menschen gemacht wurden, dass geschichtlich alles mit allem zusammenhängt, dass das Christentum eine etwas groß geratene Häresie des Judentums war und das Judentum eine herausragende Erscheinung der orientalischen Religionsgeschichte, m.a.W. dass es nichts völlig Isoliertes gibt.“ „Kurz, historisch-kritische Forschung zeigt […] dass religiöse Überlieferungen sehr irdisch, sehr relativ, sehr fragwürdig sind. Hinter diese Erkenntnis führt ————— 41 42

THEISSEN, Widersprüche, 187. Ebd.; Hervorhebung von mir.

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kein Weg zurück.“43 Ich sehe nicht ein (lasse mich, wenn nötig, aber gern eines Besseren belehren), dass Theißen diese vor dreißig Jahren geschriebenen Sätze in seiner neueren Produktion, möglichen neuen Akzentsetzungen zum Trotz, zurückgenommen hätte; aber die Frage bleibt, wie sich jene Aussagen des Historikers Theißen zu denjenigen des Systematikers Theißen verhalten. Etwas übertrieben könnte man sagen: Theißens Produktion genießt ein so großes (fast quasi-kanonisches) Ansehen, dass sowohl konservative als auch radikalere Theologen sogar in der äußersten Peripherie des Nordens sich auf ihn berufen und darüber streiten, auf wessen Seite er wirklich steht. Was ich hier versucht habe, lässt sich vielleicht mit einem Satz Theißens beschreiben – in leicht abgewandelter Form, wobei das von ihm gebrauchte Wort „Religion“ durch „Buch“ ersetzt wird: „Man kann ein Buch auch durch seine Widersprüche charakterisieren, so wie ein Mensch an seinen Widersprüchen erkennbar wird.“44 Es ist ein großes Verdienst, dass Theißen in seinem einschlägigen Buch die urchristliche Religion im Rahmen allgemeiner Theorien behandelt, die auch auf jede andere Religion angewendet werden können. Lobenswert ist auch, dass er sich auf den Entwurf großer Linien beschränkt, ohne dabei oberflächlich zu werden. Die Wahl eines semiotischen Deutungsmodells mag die Gefahr eines (milden) Systemzwangs mit sich bringen; die Spannung zwischen der Analyse, die Chaos entdeckt, und der Synthese, die eine Kathedrale errichtet, bleibt für einige Leser ein ungelöstes Problem. Aber auch der Zweifler wird bei einem Besuch im Dom – oder an der Baustelle – eine große Anzahl von faszinierenden Interpretationen und brillanten Einsichten entdecken. Dafür sei dem Architekten herzlich gedankt.

————— 43 G. THEISSEN, Argumente für einen kritischen Glauben oder: Was hält der Religionskritik stand? Kaiser-Taschenbücher 36, München 31988, 3f. Zitiert von H. RÄISÄNEN, The New Testament in Theology, in: P. BYRNE/L. HOULDEN (Hg.), Companion Encyclopedia of Theology, London/New York 1995, 122–141 (125); abgedruckt in RÄISÄNEN, Challenges, 227–249 (230). 44 Vgl. THEISSEN, Widersprüche, 187.

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Von der Jesusbewegung zu Jesus Gerd Theißens Entwicklung in der Jesusforschung*

Die frühen Arbeiten von Theißen im Bereich der Evangelien- und Jesusforschung sind trotz innovativer Anwendung soziologischer Methoden von der formgeschichtlichen Sicht der Evangelienentstehung geprägt. Die Grundidee seiner Frage nach dem Sitz im Leben der Evangelientexte in der frühen Kirche bzw. in dem, was er einmal „die Jesusbewegung“ nennen sollte, stammt aus der Einleitung von Rudolf Bultmann: Die Geschichte der synoptischen Tradition.1 Zudem verfasste er 1971 zusammen mit seinem Doktorvater Philipp Vielhauer das „Beiheft“ zu den ständig neuen Auflagen des Buches von Bultmann – ein unverkennbares Zeugnis für seine Kontinuität zur formgeschichtlichen „Schule“.2

1. Die Soziologie der Jesusbewegung Theißen interessierte sich im Unterschied zur älteren Formgeschichte jedoch weniger für die theologischen und religiösen Intentionen der Texte als für die sozialen Verhältnisse und Verhaltensmuster, die zur Erhaltung und Formung der Evangelientradition beigetragen haben. In einer Reihe von Aufsätzen, die in dem epochemachenden kleinen Buch Die Soziologie der Jesusbewegung (1977) zusammengefasst sind,3 entwickelte er seine be————— * Dieser Aufsatz ist eine Übersetzung von Bengt Holmberg, Från Jesusrörelse till Jesus själv. Gerd Theißen utveckling inom jesusforskningen, STK 79 (2003), 16–21. 1 Theißen weist selbst darauf hin. Vgl. G. THEISSEN, Die soziologische Auswertung religiöser Überlieferungen, in: G. THEISSEN, Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 1979, 35–54, 36 Anm. 4, und in: DERS., Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, ebd. 79–105, 82. 2 In der 10. Auflage von R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 101995, fügte Theißen ein umfassendes Nachwort (409–452) hinzu: „Die Erforschung der synoptischen Tradition seit R. Bultmann“. Leider findet sich kein einziges Exemplar dieser Auflage des Buches in einer schwedischen Universitätsbibliothek. 3 G. THEISSEN, Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, TEH 194, München 1977; engl.: The First Followers of Jesus. A Sociological Analysis of the Earliest Christianity, London 1978 = Sociology of Early Palestinian Christianity, Philadelphia 1978.

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kannte These, dass die älteste Jesustradition von Wandercharismatikern überliefert wurde, d.h. von wandernden Propheten und Missionaren, die in freiwilliger Armut und Heimatlosigkeit lebten, um darin ihrem Meister Jesus zu gleichen, während sie seine Verkündigung vom Reich Gottes (und die Botschaft vom Menschensohn) weiterführten. Diese formgeschichtliche Deutung basiert auf der literatursoziologischen Annahme einer Strukturanalogie zwischen den Inhalten einer Tradition und den Lebensmustern ihrer Tradenten. Sie war mit der anspruchsvollen und weiterführenden Theorie verbunden, dass die Jesusbewegung mit ihrem radikalen Ethos eine Antwort auf die tiefen Konflikte der palästinensisch-jüdischen Gesellschaft darstellt. Die Anlage der Untersuchung entspricht der klassischen formgeschichtlichen Vorgehensweise, wonach die Evangelien zunächst als Spiegel des Lebens der frühen Kirche zu lesen sind, und erst in zweiter Hinsicht als Zeugnis von den Personen, von denen diese Schriften handeln. Theißen rechnete freilich schon 1977 mit einer wesentlich konkreteren soziologischen Kontinuität zwischen Jesus und den Tradenten seiner Worte und Taten, als Bultmann es tat, aber das war ein Ansatz, den er erst zwanzig Jahre später ausarbeiten sollte.

2. Jesusgeschichte in Romanform In den 80er Jahren begann Gerd Theißen sich in den Evangelientraditionen für Lokalkolorit, wie er es nennt, zu interessieren, d.h. für Einzelheiten in den Texten, die mit bestimmten Personen, Orten oder einschneidenden äußeren Ereignissen wie Kriegen und politischen Krisen in Verbindung gebracht werden können. Bevor sich dieses Interesse in der Publikation einer größeren wissenschaftlichen Untersuchung niederschlug, veröffentlichte er im Jahr 1986 seinen „Jesusroman“ Der Schatten des Galiläers.4 Das war ein ebenso verspielter wie ernsthafter Versuch, Jesusforschung in narrativer Form zu treiben – was vom formgeschichtlichen Standpunkt so unorthodox und suspekt ist wie ein „Leben-Jesu-Buch“. Die Geschichte ist rein fiktiv: Ein jüdischer Kaufmann, Andreas, mit Kontakten zu vielen Gruppen, wird gezwungen, als Informant eines römischen Offiziers Metilius zu dienen. Der ist zu der Erkenntnis gekommen, dass die römische Herrschaft sehr viel mehr von den verschiedenen Formen der jüdischen Religion wissen muss, um politisch kostspielige Fehler im Umgang mit den Beherrschten zu vermeiden. In einer Reihe von Kapiteln berichtet Andreas über Essener, Zeloten und nach und nach auch über die Bewegung, die von ————— 4 G. THEISSEN, Der Schatten des Galiläers. Historische Jesusforschung in erzählender Form, München 1986 = The Shadow of the Galilean, Philadelphia 1987 = London 1987.

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Jesus von Nazareth hervorgerufen wird. Andreas trifft in diesem Buch freilich niemals Jesus selbst, sondern immer nur Personen, die erzählen, was für Folgen sein Handeln hatte. Am nächsten kommt er Jesus in dem Augenblick, als er ihn aus einiger Entfernung am Kreuz hängen sieht. Theißen spielt nicht den allwissenden Erzähler noch teilt er als Mitwisser die Perspektive der Evangelienleser, die ihre Kenntnisse der damaligen Geschichte zum Verstehen aktivieren konnten. Ebenso wie wir hat er nur zu dem Schatten Zugang, den der Galiläer damals in seine Zeit geworfen hat, d.h. zu den Auswirkungen, die er auf andere Menschen gehabt hat. Das entspricht formgeschichtlichem Vorgehen. Durch das intensive Lokalkolorit, mit dem der Verfasser seiner Darstellung Farbe verleiht, um zu interpretieren, was die Hauptperson hört, sieht und sagt, wird Jesus jedoch sehr viel konkreter in seine jüdische Zeit versetzt als bei anderen Formgeschichtlern – und das ist der Anfang eines umfassenderen Bildes von Jesus.

3. Die Bedeutung des Lokalkolorits für die Traditionsgeschichte Die in den 80er Jahren nach und nach geschriebenen Aufsätze zum Lokalkolorit gingen in eine etwas umfassendere Arbeit ein, die 1989 erschien: Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition.5 Der bescheiden klingende Untertitel spielt auf das klassische Werk von Bultmann an und bringt zugleich den Anspruch zum Ausdruck, dass man noch mehr zur Sache sagen kann als Bultmann. Zu Beginn des Buches setzt sich Theißen mit der Kritik an dem formgeschichtlichen Axiom auseinander, dass die Texte als eine Vielzahl getrennter kleiner Einheiten tradiert wurden, deren Vorgeschichte durch textimmanente Analyse rekonstruiert werden kann. Dabei kritisiert er die Formgeschichtler, wenn sie meinen, sie wären dazu nicht auf (sozial-)geschichtliche Informationen angewiesen. Ganz im Gegenteil, man kann mit ihrer Hilfe einige Jesusüberlieferungen in eine bestimmte Zeit datieren und ihren Sitz im Leben in einem umfassenderen Sinne bestimmen. Als Resultat vieler detaillierter Untersuchungen von Entsprechungen zwischen z.B. archäologischen Münzfunden und konkreter politischer Geschichte auf der einen, Evangelientexten auf der anderen Seite ergibt sich ein neues Bild der Evangelienentstehung. Die älteste Traditionsschicht wurde in Galiläa geprägt, während die große synoptische Apokalypse (Mk 13 parr) und die Passionsgeschichte in Jerusalem und Umgebung lokalisiert ————— 5 G. THEISSEN, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, NTOA 8, Fribourg/ Göttingen 1989 = The Gospels in Context. Social and Political History in the Synoptic Tradition, Minneapolis 1991.

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und in die erste Hälfte der 40er Jahre datiert werden kann. Denn die tiefe Krise 39–41 n.Chr., die der Versuch des Kaisers Caligula hervorgerufen hat, seine Statue im Jerusalemer Tempel aufzustellen, hat einige größere Sammlungen gestaltet und geprägt, die in die Evangelien aufgenommen worden sind, nämlich die synoptische Apokalypse, die Logienquelle und die Passionsgeschichte. Die darauf folgende große politische Krise im palästinischen Judentum, der Krieg gegen Rom 66–70 n.Chr., rief als Reaktion die Entstehung der Evangelien als Ganze hervor. Die drei synoptischen Evangelien repräsentieren somit ein drittes Stadium in der Entstehung der Schriften. Alle Evangelien sind außerhalb Palästinas geschrieben. Mk wurde in Kriegsnähe geschrieben, wahrscheinlich in einem Gebiet nördlich von Palästina, während Mt und Lk eine größere zeitliche und wahrscheinlich auch räumliche Distanz zum Krieg voraussetzen. Die Evangelien sind redaktionelle Kompositionen von Traditionsstoffen aus verschiedenen Kreisen von Tradenten: Sie stammen einerseits von den eigentlichen Jüngern, den sogenannten „Wandercharismatikern“, dazu kommen Erzählüberlieferungen aus breiten Kreisen des Volkes, schließlich Überlieferungen aus Ortsgemeinden. Theißen räumt in diesem Buch den ortsfesten Versammlungen von christusgläubigen Jesusanhängern sehr viel mehr Platz ein, wenn er in ihrem Milieu sowohl die Entstehung der ersten schriftlichen Kompositionen von Jesusstoffen verortet, in die man Material aus den anderen beiden Tradentenkreisen eingefügt habe, als auch die Entstehung der fertigen Evangelien mit ihrem umfassenden narrativen Rahmen. Das Lokalkoloritbuch bringt eine wichtige Erweiterung der Perspektive im Vergleich zum ersten Buch 1977, weil die Überlieferungsstoffe nun mehrere Jahrzehnte der Geschichte einer Bewegung und ein weites Spektrum verschiedener geographischer Orte widerspiegeln. Aber auch dieses Forschungsstadium rückte den historischen Jesus selbst noch nicht ins Zentrum, erst in den 90er Jahren machte sich Theißen an diese Aufgabe.

4. Die Konzentration auf den Charismatiker Jesus Im Jahr 1987 veröffentlichte M.N. Ebertz seine soziologisch-exegetische Arbeit Das Charisma des Gekreuzigten, in der er eine originelle Neudeutung des Charismas Jesu mit Hilfe der soziologischen Deutung des Begriffes durch Wolfgang Lipps durchführt.6 Diese durch Ebertz vertiefte Deutung des Charismakonzepts von Lipps hat Theißen in seinen weiteren Arbeiten übernommen, beginnend mit einem bemerkenswerten Hauptvortrag ————— 6 M.N. EBERTZ, Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, WUNT 45, Tübingen 1987.

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auf der SNTS-Konferenz in Cambridge im Jahr 1988, wo er die Weiterentwicklung seiner Gedanken über Jesus als Charismatiker vorlegte. Hier vertrat er die These, dass Jesus und seine Bewegung nicht nur charismatisch lebten, sondern darüber hinaus eine charismatische Wertrevolution mit einer Übertragung aristokratischer Verhaltensmuster auf die Armen und Marginalisierten anstrebten und innerhalb ihrer eigenen Bewegung auch durchführten.7 Eine entschiedenere Wendung weg vom traditionellen form- und traditionsgeschichtlichen Zugang zu Jesus vollzog Gerd Theißen dann in der Mitte der 1990er Jahre. Vielleicht wurde er dabei auch von jüngeren Forschern in seinem Forschungsseminar beeinflusst. Seine Doktorandin Annette Merz und er veröffentlichten ihr großes gemeinsames Lehrbuch Der historische Jesus im Jahr 1996,8 das trotz seines Lehrbuchcharakters ein umfassender wissenschaftlicher Versuch ist, den historischen Jesus darzustellen. Das erste der 16 Paragraphen ist ein kurzer Überblick über die Jesusforschung, darauf folgen zwei Paragraphen über christliche und nichtchristliche Quellen, im Anschluss daran eine Diskussion und Beantwortung von 14 skeptischen Einwänden gegen die historische Auswertbarkeit der Jesusüberlieferung (§ 4). Die Paragraphen 5–7 stellen den Rahmen der Geschichte Jesu dar: das Judentum im ersten Jahrhundert, dazu den chronologischen, geographischen und sozialen Rahmen des Lebens Jesu. Damit ist die Szene für die beiden Hauptteile des Buches über Jesu Wirken (§ 8–12) und seine Passion und Auferstehung (§ 13–16) vorbereitet. Jedes der neun Kapitel wird durch eine kurze, instruktive Forschungsgeschichte zu dem in ihm jeweils behandelten Thema eingeleitet: § 8: § 9: § 10: § 11: § 12: § 13:

Jesus als Charismatiker: Jesus und seine sozialen Beziehungen Jesus als Prophet: Die Eschatologie Jesu Jesus als Heiler: Die Wunder Jesu Jesus als Dichter: Die Gleichnisse Jesu Jesus als Lehrer: Die Ethik Jesu Jesus als Kultstifter: Das letzte Mahl Jesu und das urchristliche Abendmahl § 14: Jesus als Märtyrer: Die Passion Jesu ————— 7 G. THEISSEN, Jesusbewegung als charismatische Wertrevolution, NTS 35, 1989, 343– 360. Einer seiner Doktoranden legte eine ausgeweitete Deutung von Jesus als sich selbststigmatisierenden Charismatiker vor, in dem er Ebertz weiterführte und in mancher Hinsicht korrigierte. Vgl. H. MÖDRITZER, Stigma und Charisma im Neuen Testament und in seiner Umwelt, NTOA 28, Fribourg/Göttingen 1994. Dazu meine Besprechung in B. HOLMBERG, Karisma som tolkningsmodell i jesusforskningen, SEǖ 67, 2002, 61–77. 8 G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996 = The historical Jesus. A comprehensive Guide, London 1998.

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§ 15: Jesus als Auferstandener: Ostern und seine Deutungen § 16: Der historische Jesus und die Anfänge der Christologie Das Bild von Jesus als eines eschatologisch denkenden Propheten, Lehrers und Heilers ist traditioneller als das Jesusbild in einem Teil der gleichzeitigen amerikanischen Jesusforschung. Deren nicht-eschatologisches Jesusbild charakterisiert Theißen mit dürren Worten als ein Bild, das wohl mehr von kalifornischem als galiläischem Lokalkolorit geprägt ist (S. 29).

5. Aufbruch aus der formgeschichtlichen Skepsis Betrachtet man die Methodologie in dieser Arbeit, die besonders in Kap. 4 (S. 96–124) dargelegt wird, so signalisiert sie einen ganz markanten Aufbruch weg von der Skepsis sowohl „formgeschichtlicher“ als auch „redaktionsgeschichtlicher“ Art bei Theißen. Er hat in einem Aufsatz ein wenig später erklärt, warum er sich nunmehr von der tiefen Skepsis gelöst hat, die ca. 75 Jahre lang in der historischen Jesusforschung, insbesondere in der deutschen Exegese, geherrscht hat.9 Einleitend weist er darauf hin, dass seine Anti-Skepsis sozialgeschichtlich und soziologisch begründet ist – genauso wie die formgeschichtliche Methode selbst. Folgende fünf Argumente sprechen nach seiner Meinung gegen die konventionelle Skepsis: (a) Was wir von der sozialen Situation der urchristlichen Gemeinden wissen, spiegelt sich in den synoptischen Evangelien nicht in jenem Maße wider, wie man das aufgrund formgeschichtlicher Grundsätze erwarten müsste: Ob die Beschneidung für die Mitgliedschaft in ihnen notwendig oder nicht war, wurde schon in den 40er Jahren n.Chr. diskutiert, aber es findet sich kein einziges Jesuswort zu dieser Frage (erst das Thomasevangelium, Log. 53, spricht sich gegen die Beschneidung aus). Ebenso wichtig wie die Regeln für die Mitgliedschaft in einer sozialen Gruppe sind die Definition und die Legitimation ihrer Autoritätsstruktur. Wir wissen, dass es schon früh in der ersten Generation im Urchristentum presbýteroi, epískopoi und diákonoi gab, aber auch zu ihnen findet sich kein einziges Jesuswort. ————— 9 G. THEISSEN/A. MERZ, Den kontroversielle historiske Jesus, in: T. Engberg-Pedersen (Hg.), Den historiske Jesus og hans betydning, København 1998, 50–71, hier 52–55 = Der umstrittene historische Jesus oder: Wie historisch ist der historische Jesus? in: S.M. Daecke/P.R. Sahm (Hg.): Jesus von Nazareth und das Christentum. Braucht die pluralistische Gesellschaft ein neues Jesusbild? Neukirchen 2000, 171–193; erweitert in: G. THEISSEN, Jesus als historische Gestalt, Beiträge zur Jesusforschung, FRLANT 202, Göttingen 2003, 3–32.

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(b) Die Tatsache, dass ein Teil der Jesusüberlieferung, sein radikales Ethos hinsichtlich Familie, Besitz, Erwerbsarbeit, wahrscheinlich von urchristlichen „Wandercharismatikern“ überliefert wurde, die in denselben Rollenmustern wie Jesus lebten, ist eine gewisse Garantie dafür, dass diesem Ethos entsprechende Worte in Übereinstimmung mit seinem Geist bewahrt wurden. Die Kontinuität der Verhaltensmuster erhöht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch die Tradition unverändert bewahrt wurde. (c) Je mehr sozialgeschichtliche, territorialgeschichtliche und archäologische Kenntnisse wir über die Umwelt Jesu haben, umso deutlicher wird, dass Jesus ausgezeichnet in den palästinischen Kontext in die erste Hälfte des ersten Jahrhunderts passt. Der Jesus der Evangelien ist historisch sehr viel besser zu erklären als Produkt der jüdischen Geschichte denn als ein Produkt urchristlicher Phantasie, und das erhöht die Geschichtlichkeit der Tradition im Allgemeinen, auch wenn Einzelheiten unsicher sind. (d) Die Jesusbewegung zeigt eine Reihe gemeinsamer Züge mit anderen millenaristischen Bewegungen. Dazu gehört, dass solche prophetischen Bewegungen von einer charismatischen Person, einem Propheten, geprägt sind. Die Individualität des Propheten erklärt weit besser den Charakter der Bewegung, als dass die Bewegung das Bild des Propheten in der Tradition erklärt – warum sollte das ausgerechnet bei der Jesusbewegung anders sein? (e) Gegen das „redaktionsgeschichtliche“ Argument, dass die Vielfalt der Jesusbilder darauf basiert, dass sich diese Bilder von der Geschichte entfernt haben und anstatt dessen die Christologie der Evangelisten wiedergeben, wendet Theißen ein, dass wir niemals eine Quelle mit der historischen Wirklichkeit selbst, auf die sie hinweist, vergleichen können, sondern immer nur mit anderen Quellen. Gerade die Vielfalt der Quellen und ihre Verschiedenheit bietet für die historische Forschung eine Chance, teils indem Unterschiede zeigen, dass sie in gewisser Weise unabhängig voneinander sind, teils indem trotzdem vorhandene Übereinstimmungen ein umso stärkerer Beleg dafür sind, dass ihnen ein gemeinsamer Kern von Taten und Worten der Person Jesu zugrunde liegt. Dass es möglich ist, aus den verschiedenen Jesusbildern im ersten Jahrhundert ein logisch zusammenhängendes Bild vom historischen Jesus zu rekonstruieren, das zudem plausibel in das Milieu passt, in den ihn die Berichte einordnen, das spricht gegen eine apodiktische Skepsis gegenüber dem historischen Wert der Evangelien.

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6. Hauptkriterium für Echtheit wird das Plausibilitätskriterium Die Konsequenz aus all dem ist, dass Theißen und Merz die bis dahin geltenden Differenzkriterien für Echtheit durch das historische Plausibilitätskriterium ersetzen wollen, nach dem Jesus in den damaligen jüdischen Kontext hineingehört und das Urchristentum hervorgerufen hat (woraus sich eine Kontext- und Wirkungsplausibilität ergibt). In direktem Gegensatz zum früheren Differenzkriterium wird jetzt verlangt, dass es positive Zusammenhänge zwischen Jesus und seinem historischen Kontext in einer Tradition geben soll, damit sie als geschichtlich glaubwürdig gelten kann. Wenn man sich nicht vorstellen kann, dass eine Äußerung oder eine Handlung von einem jüdischen Charismatiker im ersten Jahrhundert stammt, ist sie wahrscheinlich nicht historisch. Das bedeutet keinesfalls, dass Jesus und andere Charismatiker nicht etwas Neues oder unerhörte Dinge gesagt haben könnten, aber auch damit richten sie sich an Menschen in ihrer eigenen Gegenwart, für die sie verständlich gewesen sein müssen. Für beide Typen von Plausibilität gilt, dass sowohl Kohärenz (eine kontextuelle Korrespondenz) als auch Differenz (als kontextuelle Individualität) ein Indiz für Echtheit sein kann. Zunächst einmal handelt es sich um eine Kohärenz durch mehrfache Bezeugung: Wenn ein Motiv, eine Vorstellung oder eine formulierte Aussage in mehreren voneinander unabhängigen „Quellen“ oder Traditionsströmen wie Q, MkEv, dem mt und lk Sondergut, ThomEv und JohEv vorkommt, so ist das jeweilige Material älter als jede dieser Quellen. Die Rede vom „Reich Gottes“ findet sich z.B. in allen sechs Traditionsströmen in verschiedenen literarischen Formen (in Gleichnissen, Paränese, Makarismen, Gebet), fehlt aber weithin in späteren urchristlichen Texten (bei Paulus z.B.), so dass es sich wahrscheinlich um echtes Jesusgut handelt. Sodann finden sich auch Jesusüberlieferungen, die nicht mit dem üblichen Bild eines souveränen, fehlerfreien, mächtigen und bewunderten Jesus in den Evangelien übereinstimmen und die gerade deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit echt sind: Dazu gehören die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer zur Vergebung seiner Sünden; der Konflikt mit der eigenen Familie; der Vorwurf, er stehe mit dem Teufel im Bunde; der Verrat durch einen Jünger und die Flucht seiner Jünger sowie die entwürdigende Kreuzigungsstrafe. Sowohl kontextuelle Korrespondenz und kontextuelle Individualität sind also Indizien für Traditionsmaterial, das wahrscheinlich auf Jesus selbst zurückgeht. 1997 veröffentlichten Gerd Theißen und die Engländerin Dagmar Winter eine ausführliche Diskussion der Suche nach Echtheitskriterien: Die Kriterienfrage in der Jesusforschung: Vom Differenzkriterium zum Plausibili-

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tätskriterium.10 Der umfangreiche Forschungsbericht im zweiten Teil des Buches (S. 28–174) besteht aus Winters Dissertation bei Theißen aus dem Jahr 1995. Diese Arbeit behandelt die zwei wichtigsten Echtheitskriterien in der Jesusforschung: das Differenz- und das Plausibilitätskriterium. Das erste hat lange völlig unbestritten in der Geschichte der Jesusforschung dominiert, dennoch schlagen die Verfasser als Hauptthese des Buches vor, es durch das historische Plausibilitätskriterium zu ersetzen: „Nicht das, was zur jüdischen Umwelt und zum Urchristentum in Differenz steht, soll als echt gelten, sondern was als individuelle Erscheinung plausibel in seinen jüdischen Kontext eingeordnet werden kann und die christliche Wirkungsgeschichte Jesu im Urchristentum plausibel zu erklären vermag“ (S. IX). Plausibilität (d.h. Angemessenheit) ist dabei nicht schlechthin Gegensatz zur Ungleichheit, vielmehr kann (wie auch bei Theißen/Merz) ein plausibler Zusammenhang beides umfassen: Kontinuität und Diskontinuität, Analogie und Differenz, Übereinstimmung und Gegensatz. Das Differenzkriterium wurde in der „Second Quest“ (1953–ca.1980) verwandt, um den Unterschied zwischen Jesus und seinem jüdischen Ursprungsmilieu zu betonen. Auch beinhaltete es eine nicht artikulierte, unter der Oberfläche wirksame Annahme, dass der Exodus der christlichen Kirche aus dem jüdischen Kontext eigentlich schon mit Jesus begonnen habe. Gerade in diesem Punkt aber hat sich die Jesusforschung in den letzten Jahrzehnten verändert: Jesus wird eindeutig mit seinem jüdischen Kontext zusammen gesehen, so dass nun eher die Teile der Evangelientradition, die allzu sehr dem späteren Urchristentum gleichen, verdächtigt werden, nicht auf Jesus selbst zurückzugehen (S. 175). Wie bei allen anderen historischen Gestalten geht die Forschung davon aus, dass der Mensch Jesus mit seinem historischen Kontext verbunden war und dabei weder ganz gleich mit ihm noch ihm gegenüber ganz isoliert war. Gerade die Tatsache, dass so viel im Verhalten und Handeln Jesu als Produkt der jüdischen Geschichte verstanden werden kann, zeigt, dass die Evangelien nicht nur das Produkt urchristlicher Geschichte und Fantasie von Jesus sind (S. 186). Innerhalb seiner Kontextbezogenheit gibt es jedoch mehrere individuelle Züge, welche sich zeigen, wenn man Jesus mit Johannes dem Täufer vergleicht, der ihm in seiner Zeit am nächsten stand. Die gleiche Beobachtung von Individualität wird bestätigt, wenn man seinen Sprachgebrauch betrachtet: das vorangestellte Amen, das Vorherrschen von Bildworten, von Gleichnissen und Rätselrede (meshalim). ————— 10 G. THEISSEN/D. WINTER, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenz- zum Plausibilitätskriterium, NTOA 34, Fribourg/Göttingen 1997 = engl.: The Quest for the Plausible Jesus. The Question of Criteria, Louisville/London 2002.

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Zur historischen Ganzheitsplausibilität gehört sowohl eine Kontinuität nach rückwärts (in Richtung auf das Judentum) als auch eine Kontinuität nach vorne (in Richtung auf das Christentum), die man sich nicht zu einfach vorstellen darf. Genauso wenig, wie Jesus hundertprozentig aus dem damaligen Judentum abgeleitet werden kann oder in Kontinuität mit ihm steht, genauso wenig wurde das Christentum allein von Jesus verursacht. Es wurde auch durch Einflüsse mit jüdischem Hintergrund geprägt, die nicht durch den irdischen Jesus vermittelt wurden, dazu durch seine eigene Geschichte (vgl. z.B. die Konsequenzen des Osterglaubens, die Geistausgießung, die Heidenmission). Dennoch ist ein großer und wichtiger Teil seines Glaubens und der Jesustradition eine Auswirkung dessen, was Jesus gesagt und getan hat. Als eine historische Gestalt hat Jesus also einen reichen Zusammenhang mit seiner ihn umgebenden historischen Wirklichkeit, sowohl der jüdischen als auch der christlichen, aber er behält darin das, was man seine „kontextuelle Individualität“ nennen kann. Was ist nun „Plausibilität“? (S. 206–214) Die lateinische Etymologie des Wortes besagt, dass das Wort einen Sachverhalt bezeichnet, der „zustimmungswürdig“ ist, d.h. der andere (Forscher) überzeugt. Urteile über historische Ereignisse sind immer Wahrscheinlichkeitsurteile, sie sind hypothetisch und überprüfungsbedürftig. Die Alternative „echt oder unecht“ ist dabei nicht einmal die wichtigste Frage in der historischen Arbeit, eher fragen Forscher: Wie lässt sich diese Tradition historisch am besten erklären – stammt sie von dem angegebenen Autor (d.h. Jesus) oder nicht? Um diese Frage zu bejahen, bettet sie Jesus in das galiläische Judentum der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts ein und weist gleichzeitig an ihm Züge von Individualität nach und dazu im günstigsten Fall Indizien für einen wirkungsgeschichtlichen Einfluss auf die spätere Jesusbewegung. Kann man darüber hinaus zeigen, dass die Tradition urchristlichen Tendenzen widerspricht und dass sie in einer Vielfalt unabhängiger Formen oder Traditionsströme im Christentum des ersten Jahrhunderts belegt ist, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie von Jesus selbst stammt. Dabei ist historische Hypothesenbildung eher eine Kunst in den Händen kundiger Forscher als mechanische Anwendung allgemeiner Regeln, und immer kommt es zu einem Zusammenspiel von Einzelnem und Ganzem, wodurch das Bild überprüft, präzisiert und korrigiert wird. Die Entwicklung der Arbeit von Gerd Theißen umfasst eine Kritik an dem, was in seiner Jugend exegetische Selbstverständlichkeit war, etwa an der Idee einer Korrespondenz zwischen Textinhalt und Form auf der einen Seite und sozialer Situation im Leben der Kirche auf der anderen Seite oder die Kritik an der verdeckten Dogmatik des zweifachen Differenzkriteriums. Gleichzeitig zeigt diese Entwicklung eine Kontinuität zur bisherigen For-

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schung durch Weiterführung des soziologischen Ansatzes, der schon in der früheren Formgeschichte angelegt war, und gelangt dabei zu einer neuen und selbstkritischen Methodenreflexion im Rahmen einer klassischen Forschungstradition.

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„Hinterm Horizont geht’s weiter“ Erneute Betrachtung von Gerd Theißens These zum Wanderradikalismus der Jesusbewegung

Als Motto für meinen kleinen Beitrag zu diesem Symposion habe ich eine Zeile aus einem Lied der Rocklegende Udo Lindenberg gewählt. „Hinterm Horizont geht’s weiter“! Sie soll einerseits eine Art Ermutigung für Sie, lieber Herr Theißen, sein – wenn’s denn überhaupt einer solchen bedarf: Nämlich „weiterzumachen“, auch nach der Emeritierung, darüber würden sich weltweit viele Kolleginnen und Kollegen freuen. Aber ich bin sicher, einer solchen Ermutigung meinerseits bedarf es gar nicht. Zum anderen passt die Zeile aber auch zu meinem Beitrag. Ich möchte nämlich wenigstens ansatzweise skizzieren, wie es mit dem Diskurs über die „Wandercharismatiker“ weitergegangen ist, nachdem Gerd Theißen vor nunmehr 30 Jahren diesen Diskurs begründet und damit für das Thema den Horizont abgesteckt hat. Dies ist ja vielleicht eine der größten Ehren, die einem Geistes-Wissenschaftler zuteil werden kann, als Diskursbegründer zu gelten. Diese Ehre kann Gerd Theißen für einige Diskurse in Anspruch nehmen, besonders aber vielleicht für den Bereich der Soziologie der Jesusbewegung. 1977 erschien die kleine, aber äußerst gehaltvolle Schrift „Soziologie der Jesusbewegung“, die dann mehrere Auflagen erlebt hat und in elf Sprachen übersetzt wurde.1 Vor kurzem hat G. Theißen erneut eine leicht überarbeitete und deutlich ergänzte Fassung des Originals publiziert: Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte (2004), in der der Autor selbst noch einmal auch sein Erstaunen darüber ausdrückt, dass sich das Thema der Soziologie der Jesusbewegung, das sozusagen als ein Bächlein begann, inzwischen „zu einem breiten Strom“ entwickelt hat.2 Und wenn man noch genauer hinsieht, so geht Theißens eigene Beschäftigung mit diesem Forschungsthema noch weiter zurück. Ich erinnere an den Aufsatz „Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum“, der schon 1973 erschienen ist.3 ————— 1 G. THEISSEN, Soziologie der Jesusbewegung, München 1977. 2 G. THEISSEN, Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte, Gütersloh 2004, 7. Ich werde nach dieser Ausgabe zitieren. 3 Und zwar in der ZThK 70 (1973), 245–271.

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Der methodische Ansatz hat sich dann in der Soziologie der Jesusbewegung etwas verändert, denn Theißen hat hier vor allem struktur-funktionalistische Annahmen und Modelle zugrunde gelegt, was zum Beispiel von Richard Horsley als zu konservativ kritisiert wurde und neuerdings auch von William Arnal, auf den ich gleich noch eigens zurückkommen werde.4 Allerdings soll in diesem kleinen Rückblick auf die Soziologie der Jesusbewegung jetzt nicht die Debatte um die soziologischen Methoden oder Modelle im Zentrum stehen. Mir geht es vielmehr darum, gleichsam für einen Moment inne zu halten, um insbesondere die kreative Leistung dieser soziologischen Deutung der Jesusbewegung herauszuarbeiten. Die Kreativität dieses Deutungsansatzes zeigt sich gerade auch darin, dass er sofort aufgegriffen wurde und einen interessanten und wissenschaftlich fruchtbaren Diskurs ausgelöst hat, an dem ich selbst das Glück hatte, schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt teilzunehmen.5 Inzwischen ist zu diesem Diskurs um den „Wanderradikalismus“ auch schon eine neutestamentliche Dissertation erschienen: Markus Tiwald, Wanderradikalismus (2002), die an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien entstanden ist. G. Theißen schreibt zu diesem Buch u.a.: „Es ist kein Zufall, dass die gründlichste Verteidigung der These vom ‚Wanderradikalismus‘ von einem Franziskaner stammt.“ Kein Zufall natürlich darum, weil diese These behauptet, dass einige AnhängerInnen Jesu dessen Weisungen „wörtlich genommen haben – etwa die Aufforderung, Haus und Familie zu verlassen und als Wandercharismatiker ein Leben in der Nachfolge Jesu zu führen. Moderne Exegeten leben nicht nach diesen Regeln, aber legen sie oft als Teil einer verbindlichen Tradition aus. Es entlastet, wenn man weiß: Sie wurden von Anfang an nicht wörtlich genommen. Umgekehrt hat ein Mönch es leichter, sie wörtlich zu nehmen.“6 Ich komme auf diese Dissertation noch einmal zurück, wenn ich einige Beiträge zum Diskurs über die Wanderradikalismus-These darstelle. Zunächst freilich werde ich einen Vorschlag dazu unterbreiten, wie die These von Theißen forschungsgeschichtlich zu verorten ist (I.), danach in aller Kürze an die These selbst erinnern (II.), um darauf einige Aspekte aus der exegetischen Debatte über sie zu skizzieren (III.). In einem letzten Teil formuliere ich einige wenige Schlussfolgerungen (IV.).

————— 4 Vgl. THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 12.14. 5 W. STEGEMANN, Wanderradikalismus im Urchristentum? Historische und theologische Auseinandersetzung mit einer interessanten These, in: W. SCHOTTROFF/W. STEGEMANN (Hg.), Der Gott der kleinen Leute. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen, Bd. 2, München-Gelnhausen 1979, 94–120. 6 THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 20.

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I. Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung von Gerd Theißens „Soziologie der Jesusbewegung“ 1977 erschien die schmale, aber äußerst gehaltvolle Schrift „Soziologie der Jesusbewegung“, die dann mehrere Auflagen erlebt hat und in elf Sprachen übersetzt wurde. Und ich habe schon darauf hingewiesen, dass Theißen schon 1973 in einem Aufsatz zum Thema „Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum“ das Thema für sich entdeckt hatte. Von diesem Aufsatz kann man nun die Linien noch weiter ausziehen. Theißen selbst verweist u.a. auf die These von Paul Hoffmann, der kurz vorher (im Jahre 1972) als erster die Ansicht vertreten hatte, dass hinter der Logienquelle (Q) wandernde Propheten stehen.7 Es gilt inzwischen als ausgemacht, dass gerade die Logienquelle der wichtigste Beleg für die Existenz von wandernden Charismatikern ist. Tiwald spricht in seiner Dissertation davon, dass die „Aussendungsrede“ Jesu in der Version der Logienquelle die Magna Charta des Wanderradikalismus sei.8 Wenn wir zeitlich noch weiter zurückgehen, so muss hier auch Georg Kretschmar genannt werden, der u.a. 1964 einen Aufsatz zum Ursprung frühchristlicher Askese veröffentlicht hatte.9 Insgesamt, so darf man wohl feststellen, lässt sich das Modell von den „Wandercharismatikern“ aber mindestens bis auf Adolf von Harnacks Deutung der Didache zurückführen, die er schon kurz nach deren Entdeckung und Publikation (1883) vorlegte.10 Harnack hatte die Didache, die Lehre der 12 Apostel, als eine Art „missing link“11 zwischen den charismatischen Anfängen des Christentums und dem sog. „Frühkatholizismus“ gedeutet. Während dieser „Frühkatholizismus“ sich auf Priester, Rituale und Hierarchie gründete, seien die radikalen Anfänge des Christentums noch durch den unverfügbaren Dienst am Wort geprägt gewesen. Anders gesagt: In seinem Anfang war das Christentum „frühprotestantisch“. Ich gestatte mir eine gleichsam dekonstruktivistische Zwischenbemerkung: Hat eigentlich schon jemand die christlichen Anfänge mit dem Begriff „Frühprotestantismus“ belegt? Ich weiß es wirklich nicht. Aber auch ————— 7 P. HOFFMANN, Studien zur Theologie der Logienquelle, Münster 1972. 8 M. TIWALD, Wanderradikalismus, Frankfurt a.M. u.a. 2002, 98. 9 G. KRETSCHMAR, Ein Beitrag zur Frage nach dem Ursprung urchristlicher Askese, ZThK 61 (1964), 27–67. 10 A. VON HARNACK, Die Lehre der 12 Apostel, Leipzig 1884. 11 S. die treffliche Formulierung von J.A. DRAPER, Wandering Charismatics and Scholarly Circularities, in: R.A. HORSLEY with J.A. DRAPER, Whoever Hears You Hears Me. Prophets, Performance, and Tradition in Q, Harrisburg 1999, 29–45: 34. Draper erinnert daran, dass Harnacks These dem von Max Weber entwickelten Charisma-Konzept vorausgegangen ist, ja, er vermutet sogar, dass Weber sein Konzept unter dem Einfluss von Harnacks Buch zur Didache entwickelt habe, auch wenn dies im Einzelnen nicht mehr nachprüfbar ist.

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wenn dies nicht der Fall wäre, so kann dieser Neologismus uns zum Nachdenken über den Begriff des „Frühkatholizismus“ anregen. Diese Deutungskategorie ist ja nicht nur anachronistisch, d.h., sie bezeichnet ein Phänomen mit einem Begriff, dessen hier verwendete spezifische Semantik erst im Zeitalter des Konfessionalismus entstanden ist. Der Begriff „Frühkatholizismus“ ist vor allem auch damit belastet, dass er gleichsam sein Gegenteil, den Protestantismus oder „Frühprotestantismus“, immer schon mit sich führt, auch wenn wir dieses Gegenteil nicht explizit benennen. Draper schreibt: „The assumption that word comes first and that structure comes as secondary feature of decline derives, of course, from Lutheran theology.“12 Doch möchte ich den Faden wieder aufnehmen. Das Deutungsmodell des Wandercharismatikertums lässt sich durchaus bis auf Harnacks Deutung der Didache zurückführen. Ja, wenn Sie mir für heute nachsehen, dass ich einen ganz großen Bogen schlage, über die Jahrhunderte hinweg und meine eigene These aus dem Jahr 1979 berücksichtige, dann ließe sich sogar behaupten: Als erster hat der Verfasser des Lukasevangeliums die Jesusbewegung unter Verwendung eines ähnlichen Modells gedeutet. Denn die Darstellung der Nachfolge zu Lebzeiten Jesu im Lukasevangelium weist deutlich Züge eines radikalen Lebensstils der Jünger und Jüngerinnen auf, das von Theißen durch die Begriffe Heimatlosigkeit, Familienlosigkeit, Besitzlosigkeit und demonstrative Schutzlosigkeit umschrieben wurde. Ja, es ist ernsthaft zu überlegen, ob nicht schon das Markusevangelium und insbesondere auch die Logienquelle dieses Modell der Jesusnachfolge in nuce enthalten. Doch indem ich dies erwäge, wird mir klar, dass an dieser Stelle einige Klarstellungen bzw. Unterscheidungen notwendig sind. Ich fasse sie in drei Punkten zusammen: 1. Der soziologische Diskurs über die Jesusbewegung ist ein modernes Interpretationskonzept, das Annahmen, Theorien und Modelle der Wissenschaftsdisziplin Soziologie zur Deutung von biblischen Texten heranzieht, hinter denen ein historisches Phänomen vermutet wird: Jesus und die Jesusbewegung. Der moderne Diskurs lässt sich mit einem gewissen Recht bis auf A. von Harnack zurückführen. So einflussreich Harnacks einschlägige Deutung der Didache war, so sehr steht aber auch fest: Den soziologischen Diskurs über die Jesusbewegung im engeren Sinne hat vor dreißig Jahren G. Theißen begründet. 2. Die Wanderradikalismus-These in Bezug auf die Jesusbewegung hat ihre historische Quellenbasis v.a. in den synoptischen Evangelien des NT. Doch auch die Synoptiker enthalten zunächst einmal Deutungen, Interpretationen von Jesus und der Jesusbewegung. Diese Deutungen können ————— 12

DRAPER, Wandering (Anm. 11), 34.

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durchaus Analogien zu modernen Interpretationen aufweisen, speisen sich aber erst einmal aus den symbolischen Universen ihrer eigenen Zeit, Gesellschaft und Kultur am Ende des 1. Jh.s der Zeitrechnung. Sie argumentieren im Kontext einer deutlich anderen diskursiven Formation als der moderner akademischer Diskurse über die (Soziologie der) Jesusbewegung. 3. Die Evangelien sind freilich Interpretationen und nicht per se Repräsentationen der historischen Jesusbewegung. Anders gesagt: Die Darstellungen der Jesusbewegung bzw. der Jünger-Nachfolge in den Evangelien sind nicht das (soziologisch) zu deutende Phänomen selbst, sondern sie stellen die Daten bereit, aus denen auf die historische Jesusbewegung zurückgeschlossen werden kann. Damit hat auch die soziologische Jesusforschung, die ihrerseits eine wichtige Bereicherung der Jesusforschung darstellt, prinzipiell Anteil an den traditionellen Problemen und Aporien der historischen Jesusfrage. Mir liegt daran, von Anfang an – bevor ich auf einige Aspekte des Wisenschaftsdiskurses über Theißens Soziologie der Jesusbewegung eingehe – in Erinnerung zu rufen, dass alle Beiträge zu diesem Diskurs nicht nur an diesen Aporien Anteil haben, sondern an den Vorgaben und Einschränkungen, denen jeder Diskurs unterliegt, auch ein wissenschaftlicher. Anders gesagt: Alle Beiträge zur Soziologie der Jesusbewegung sind wissenschaftliche Konstrukte. Dieser Vorbehalt ist gerade auch in diesem Diskurs nicht selten in Vergessenheit geraten. Ja, ich habe den Eindruck, es wurde um die unterschiedlichen Deutungen gerungen, als ob die eigene Deutung als einzige die historische Wahrheit repräsentiert und die anderen, sofern sie andere Meinungen enthalten, dieselbe verdunkeln. Ich schließe meine eigenen Beiträge zur Sache ausdrücklich in diese Kritik mit ein. Das heißt aber auch für meine heutige knappe Darstellung einiger Aspekte dieses Diskurses, dass ich hier aus meiner Sicht referiere, mich aber bemühen will, Wertungen hinsichtlich der Frage der mehr oder weniger objektiven Repräsentation des Phänomens selbst zu vermeiden. Denn: Auch unsere modernen historisch-soziologischen Deutungen der Jesusbewegung sind Deutungen!

II. Die These Ich skizziere in aller Kürze die Wanderradikalismus-These von G. Theißen. Dazu bin ich in der glücklichen Lage, die vier Hauptthesen der Schrift Soziologie der Jesusbewegung in der Zusammenfassung durch ihren Autor zu zitieren: – Am Anfang des Urchristentums standen heimatlose Wandercharismatiker mit einer radikalen Ethik.

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– Sie gehörten zu einer innerjüdischen Erneuerungsbewegung. – Deren Entstehung war durch eine Krise der jüdisch-palästinischen Gesellschaft bedingt. – Ihre Antwort auf diese Krise war eine Vision von Liebe und Versöhnung.13

Wie schon kurz angedeutet, spielt das Charisma-Konzept von M. Weber eine wichtige Rolle in der soziologischen Interpretation der Jesusbewegung durch Theißen.14 Er greift es auf und wendet es auf die Jesusbewegung als eine „Bewegung von Aussteigern und Wandercharismatikern“ an. Grundsätzlich unterscheidet Theißen „drei komplementäre Rollen“, durch die die Jesusbewegung bestimmt wird: „durch Jesus als den primären Charismatiker, Wanderprediger als sekundäre, Sympathisanten als tertiäre Charismatiker.“ Alle drei „Rollen“ werden dann näher ausgearbeitet, wobei hier nur die der „Wandercharismatiker“ etwas ausführlicher in den Blick kommen soll.15 Das ist auch darum sinnvoll, weil nach Theißen weniger die Sympathisanten bzw. sog. „Ortsgemeinden“ das „Neue des Urchristentums“ verkörpern. „Träger dessen, was sich später als Christentum verselbstständigte, waren vielmehr heimatlose Wandercharismatiker.“16 Dass diese These für die Einschätzung der Entstehung des Christentums von hoher Bedeutung ist, muss nicht eigens betont werden; nicht zuletzt darum, weil ja damit gerechnet werden muss, dass schon relativ bald nach dem Tode Jesu feste Ortsgemeinden in urbanen Zentren des römischen Reiches entstanden sind und „Wandercharismatiker“ – wie der Apostel Paulus – zwar deren Entstehung hervorgebracht, aber dann v.a. für die Kommunikation der Ortsgemeinden untereinander gesorgt haben. Gleichwohl kann Theißen auf eine breite Bewegung von Wanderchrismatikern im Urchristentum verweisen, die von den Zwölf Aposteln, überhaupt die urchristlichen Apostel/innen, den Siebenerkreis, Paulus und Barnabas, bis hin zur Didache, dem wichtigsten späten Zeugnis für das Phänomen, reichen. Vielleicht ist ja sogar der Begriff tropoi kyriou (Lebensform/Verwaltensweisen des Herrn) in Didache 11,8 ein fester Begriff für den Lebensstil der urchristlichen Wandercharismatiker.17 Damit sind wir freilich schon beim Lebensstil der Wandercha-

————— 13 THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 7. 14 Theißen verweist dazu auf M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51972, 140f. Das Konzept ist später von anderen gerade in Bezug auf die Jesusbewegung weiter ausgearbeitet, aber auch kritisiert worden. Ich gehe darauf hier nicht ein. 15 Dazu ausführlicher THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 55–79. 16 THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 55. 17 THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 61. DRAPER, Wandering (Anm. 11), 35, sieht in dieser Formulierung den Besitz von Jesustradition durch die urchristlichen Propheten und nicht die Nachahmung des Lebensstiles Jesu (im Sinne von Heimatlosigkeit, Besitzlosigkeit und Familienlosigkeit) angesprochen.

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rismatiker, der in „analytischen Rückschlüssen“ aus neutestamentlichen Texten erschlossen wird.18 Theißen fasst die Lebensweise der Wandercharismatiker in vier „charakteristischen Merkmalen“ oder auch vier radikalen ethischen Anforderungen zusammen: – das Ethos der Heimatlosigkeit; – das Ethos der Familienlosigkeit; – das Ethos der Besitzlosigkeit; – das Ethos der Schutzlosigkeit. Auf dieser Grundlage lasse sich von „Wanderradikalismus“ sprechen; insbesondere in der Logienquelle trete dieses wanderradikale Ethos „sehr klar“ hervor.19 Nicht unwichtig für das methodische Vorgehen von Theißen ist die folgende Bemerkung: „Wir schließen von diesem ethischen Radikalismus auf Wandercharismatiker als dessen Trägergruppe. Der Schluss gilt freilich nicht umgekehrt.“20 Dieser Rückschluss liegt natürlich gerade aufgrund des Ethos der Heimatlosigkeit nahe. Auf einige (auch umstrittene) Texte, die Theißen für die vier radikalen Verhaltensweisen auswertet, komme ich gleich noch kurz zurück. Zusammenfassend: Alle genannten Merkmale des Wandercharismatikertums lassen sich als Formen von Askese interpretieren. Jedoch ist diese Askese kein Wert in sich. Sie dient einer Wanderexistenz im Dienst der Botschaft. Die Aussendung von Anhängern als Boten war wahrscheinlich eine geniale Idee, um in einer Gesellschaft mit mündlicher Kommunikation ‚massenmedial‘ wirksam zu werden […] Das Wandercharismatikertum der Jesusbewegung […] hat die schnelle Verbreitung neuer religiöser und ethischer Werte im Volk ermöglicht. Es ist eine ‚Erfindung‘ Jesu, könnte aber Vorbilder haben. Denn Jesus setzt sich mit seinem Verbot von Stab und Bettelsack (Mt 10,10) so demonstrativ von kynischen Wanderphilosophen ab, dass sie zumindest als negatives Vorbild gewirkt haben könnten […].21

Schließlich werden noch in einem „vergleichenden Rückschluss“ Analogien des Lebensstils der Wandercharismatiker zu den kynischen Wanderphilosophen diskutiert. Sie sind nach Theißen „historisch nur begrenzt erhellend“, aber „sachlich aufschlussreich“.22 Dass gerade auf diesem Felde im Zuge der späteren Diskurse aufwändige Ansichten formuliert wurden, war wohl zur Zeit der Entwicklung der These noch nicht abzusehen. Ich selbst bezeichnete damals vielleicht überpointiert Theißens Deutung als eine „kynische Interpretation“ der Jesusbewegung, die vor allem auf lukanische Texte ————— 18 19 20 21 22

THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 64–76. THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 64. THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 64f. THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 74. THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 79.

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zurückgreife.23 Was eine „kynische Interpretation“ sein kann, haben Forscher wie G. Downing, J.D. Crossan oder B.L. Mack vorgeführt.

III. Kritische Auseinandersetzungen mit der These von Gerd Theißen Die kritischen Auseinandersetzungen mit der Wanderradikalismus-These von G. Theißen möchte ich unter folgenden Aspekten diskutieren: Es gibt Debatten a) um den methodischen Ansatz, b) um die Textgrundlage insgesamt und die Deutung einzelner Texte, c) um den historisch-sozialen Hintergrund des Wanderradikalismus-Phänomens; hier werde ich einige alternativen Deutungs-Modelle skizzieren. a) Methodischer Ansatz Der methodische Ansatz des Aufsatzes von 1973 war literatur-soziologisch, in dem Buch Soziologie der Jesusbewegung wurde er dann erweitert, insofern hier vor allem struktur-funktionalistische Annahmen und Modelle zugrunde gelegt sind. Insbesondere hat Theißen damals auf die Studie des schwedischen Forschers Hjalmar Sunden zurückgegriffen (Die Religion und die Rollen, 1966) bzw. auf das Charisma-Konzept von Max Weber. Gerade auch diese soziologischen Zugänge waren Gegenstand heftiger Kontroversen, wobei die einen überhaupt den Einsatz soziologischer Modelle in der neutestamentlichen Wissenschaft kritisierten, eine Position, die uns heutzutage nur noch mit Staunen erfüllen kann, während die anderen aus den verschiedensten Gründen die Anwendung genau dieser soziologischen Modelle und Annahmen kritisiert haben. Zum Beispiel Richard Horsley, dem der soziologische Strukturfunktionalismus zu konservativ war, oder neuerdings auch William Arnal, auf dessen ausführliche Auseinandersetzung mit der These vom Wanderradikalismus ich gleich noch kurz zurückkommen werde. Favorisiert wurde demgegenüber zumal ein konflikttheoretisches Modell. Auch das Charisma-Konzept Webers zur Deutung Jesu und der Jesusbewegung ist auf Kritik gestoßen, etwa von Bruce J. Malina,24 aber auch von Jonathan Draper. Letzterer kritisiert einen Zirkelschluss in der Argumentation: Harnacks Deutung der Didache sei Grundlage von Max Webers Charismakonzept gewesen, das dann wiederum auf die ————— 23 24

STEGEMANN, Wanderradikalismus (Anm. 5), passim. B.J. MALINA, Jesus as Charismatic Leader, in: Biblical Theology Bulletin 14 (1984) 55–

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Diadache bzw. das NT angewendet wurde.25 Allerdings gehe ich jetzt nicht auf die Debatte um angemessene soziologische Methoden oder Modelle näher ein. b) Textgrundlage Die wichtigsten Texte der Evangelien, die der Wandercharismatiker-These als Grundlage dienen, finden sich im Markusevangelium bzw. der sog. Logienquelle.26 Von besonderer Bedeutung für die These, dass die Jünger in der Nachfolge Jesu ihre „stabilitas loci“ aufgegeben, also eine Existenz in ständiger Wanderschaft geführt haben, sind Mk 1,16ff und Mk 10,28ff. „Die Berufenen verließen Haus und Hof, folgten Jesus nach und begleiteten ihn in die Heimatlosigkeit.“ Ja, nach Theißen stellten die Berufungsgeschichten „den Wechsel der Lebensform als endgültig dar“.27 Diesen Schluss kann man durchaus aus den genannten Texten ziehen, insbesondere aus Mk 1,18.20. Die berufenen Jünger lassen die Netze zurück bzw. den Vater und die Tagelöhner im Boot und gehen hinter Jesus her. Der Text Mk 10,28ff erinnert an diese Szenen. Im Anschluss an die gescheiterte Nachfolge eines reichen Mannes kommt Petrus auf das positive Gegenbeispiel der Jünger zurück: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt.“ In der Antwort Jesu wird dann deutlich, was sie verlassen haben: ihr Haus und damit auch ihre Familien, d.h. aber in einer Gesellschaft, in der die Familien Subsistenzwirtschaft betrieben haben und Haus bzw. Familie die entscheidenden Wirtschaftseinheiten waren, bedeutete der Vorgang des Verlassens von Haus und Familie nicht nur den Verlust der Heimat, sondern auch den Verzicht auf Familie und Besitz! Aus der Logienquelle werden dann weitere Texte hinzugenommen, insbesondere die sog. Aussendungsrede (Mt 10,5ff par.), die – nach Theißens Verständnis – „das Wanderleben zur Pflicht“ macht!28 Ich zitiere hier die Rekonstruktion der Version der Logienquelle durch das „Internationale Q-Project“ in deutscher Übersetzung:29

————— 25 DRAPER, Wandering (Anm. 11), 44ff. 26 Auf Diskussionen um den Text in Did 11 gehe ich hier nicht ein. 27 THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 65. 28 THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 66. 29 J. M. ROBINSON/P. HOFFMANN/J.S. KLOPPENBORG (Hg.), The Critical Edition of Q. Synopsis, including the Gospels of Matthew and Luke, Mark and Thomas with English, German, and French Translatians of Q and Thomas, Leuven 2000, zur Stelle Q 10,2ff.

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Q 10,2ff 2 Er sagte zu seinen Jüngern: Die Ernte ist zwar groß, Arbeiter gibt es aber ‚nur‘ wenige; bittet daher den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter zu seiner Ernte schicke. 3 Geht! Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter Wölfe. 4 Tragt keinen [[Geldbeutel]], keinen Proviantsack, keine Sandalen und auch keinen Stock, und grüßt niemanden unterwegs. 5 Wenn ihr in ein Haus kommt, sagt [[als erstes]]: Friede [[diesem Haus]]. 6 Und wenn dort ein Sohn des Friedens ist, soll euer Friede auf ihn kommen; wenn aber nicht, [[soll]] euer Friede [[auf]] euch [[zurückkehren]]. 7 Bleibt [[in diesem Haus]], ‚esst und trinkt, was sie euch geben‘, denn der Arbeiter ist seines Lohnes wert. [[Wechselt nicht von Haus zu Haus]]. 8 Und wenn ihr in eine Stadt kommt und sie nehmen euch auf, [[‚esst, was euch vorgesetzt wird‘]]. 9 Heilt die Kranken in ihr und sagt [[ihnen]]: Nahegekommen ist zu euch das Reich Gottes. 10 Wenn ihr aber in eine Stadt kommt und sie nehmen euch nicht auf, dann geht weg [[aus jener Stadt]], 11 schüttelt den Staub von euren Füßen ab. (…) 16 Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf, [[und]] wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat.30

Tiwald, auf dessen Dissertation zum Thema ich schon hingewiesen habe, formuliert: „Die Q-Frage ist die Gretchenfrage der Wanderradikalenforschung“ (er verweist dafür v.a. auf Q 6,29; 9,58.60; 10,4; 14,26). Er geht davon aus, dass die Textgrundlage für die Wanderradikalen-These – gerade wegen der Logienquelle – eindeutig sei, wenn er schreibt, „dass sich die Existenz eines wanderradikalen Ethos in der Logienquelle nicht hinwegdeuten lässt. Auch im Reigen der Deutungsvorschläge zur Theologie der Logienquelle hat sich die Wanderradikalen-These einen festen und inzwischen gut abgesicherten Platz erstritten.“31 Tiwald bezeichnet dann die Aussendungsrede Jesu in der Version der Logienquelle als Magna Charta des Wanderradikalismus: „Der Text ist […] ein Ethos der Wanderradikalen. Zu Lebzeiten Jesu war das arme Wanderleben zunächst aus praktischen Notwendigkeiten entstanden […] Von den Q-Missionaren wird dieser Aspekt des Lebens Jesu als wesentliches Kriterium übernommen. Der realsymbolische Zeichengehalt dieser völlig armen, lediglich auf Gott und den Anbruch seines Reiches vertrauenden Lebensweise hatte seit Ostern sogar noch an Bedeutung gewonnen […] Wanderexistenz und Bedürfnislosigkeit erfüllten neben ihrer Zeichenhaftigkeit aber auch weiterhin den rein praktischen Zweck, an möglichst vielen Orten predigen zu können.“32 Es kann durchaus sein, dass die Wanderradikalen-These in der Erforschung der Logienquelle „einen festen und inzwischen gut abgesicherten Platz“ hat. Ich weise aber darauf hin, dass es auch eine Anzahl von ————— 30 Doppelte eckige Klammern weisen in der Rekonstruktion des Q-Textes auf wahrscheinliche, aber unsichere Rekonstruktionen hin. 31 TIWALD, Wanderradikalismus (Anm. 8), 40. 32 TIWALD, Wanderradikalismus (Anm. 8), 98.

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Q-Spezialisten gibt, die die Meinung von Tiwald ganz und gar nicht teilen. Kloppenborg, Draper oder Horsley, oder auch jüngst William Arnal, um nur einige Q-Spezialisten zu nennen, sind da anderer Meinung. Vor allem würden diese Exegeten nicht mit Tiwalds Aussage übereinstimmen, dass der Text der Aussendungsrede „ein Ethos der Wanderradikalen“ enthält. Insofern stellt sich gerade an diesem Text in den Forschungsdiskursen die „Gretchenfrage“, nämlich die: Wie hältst Du’s mit der These vom Wanderradikalismus der Jesusbewegung? R. Horsley und J. Draper etwa sind der Meinung, dass die wichtigsten proof texts, die für die WanderradikalismusThese herangezogen werden, nämlich gerade auch die Aussendungsreden (Mk 6,6–56; Mt 10,1–11,1; Lk 9,1–11; 10,1–24), „seem […] to provide evidence of a purposeful strategy, a mission of sending and returning, rather than of radical itinerancy“.33 Also: es gehe in diesen Texten nicht um Anweisungen zu einer wanderradikalen Existenz, sondern um vorübergehende Aussendungen, die unter Umständen nur einen Tag oder etwas mehr gedauert hätten. Auch Kloppenborg deutet die Aussendungsreden unter dieser Voraussetzung als „daylong excursions“34. Die Wanderradikalen sind in diesen Auslegungen also auf Kurzstrecken unterwegs und dies auch nur immer vorübergehend. Wandern sei kein Lebensstil, sondern in der antiken Welt ein notwendiges Mittel zur Kommunikation der frohen Botschaft vom Reich Gottes. Um das Evangelium vom Reich Gottes zu verbreiten, bedurfte es in dieser Welt und Kultur der oralen face to face-Kommunikation, der persönlichen Adressierung von Menschen in Rede und Heilungspraxis. In diesem Zusammenhang spielen auch die relativ geringen Distanzen in der hier infrage kommenden Region eine nicht unerhebliche Rolle. So weist z.B. Ben Witherington III., der durchaus im Grundzug die Thesen von G. Theißen schätzt und bestätigt, darauf hin, dass die Reiserouten in dem geographischen Raum Unter-Galiläa auch in einer Zeit, in der Menschen größere Strecken zu Fuß bewältigen mussten, überschaubar waren: „We are talking about an area that is only a little more than 50 miles from the mediterranean coast as its easternmost post. In a given day Jesus could have traveled from Capernaum to Magdala and Chorazin and back to Capernaum by nightfall, or traveled from Nazareth through Cana to Capernaum and back in about a day.“35 Die zentrale These, wonach Wandern keinen Lebensstil, sondern die notwendige Bedingung für die Verbreitung des Evangeliums dargestellt habe, ist insbesondere von US-amerikanischen ExegetInnen vorgetragen worden. Ich werde darauf jetzt zurückkommen. ————— 33 DRAPER, Wandering (Anm. 11), 29. 34 J.S. KLOPPENBORG (Hg.), Excavating Q. The History and Setting of the Sayings Gospel, Edinburgh 2000, 211. 35 B. WITHERINGTON III, The Jesus Quest. The Third Search for the Jew of Nazareth, Downers Grove 1995, 274.

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c) Alternative Deutungen Der Diskurs um die Soziologie der Jesusbewegung, den ich selbst lange Zeit grundsätzlich in Richtung der Wanderradikalismus-These für geklärt hielt, hat nicht nur Modifikationen erfahren. Vielmehr gibt es noch hinter dem Horizont der Wanderradikalismus-These neue, alternative Interpretationen der einschlägigen Texte, die zu grundsätzlich anderen sozialwissenschaftlichen Deutungen geführt haben, die nicht mehr Theißens Modell der Wanderradikalismus-These folgen. Eine Zwischenstellung – zwischen Alternative und Modifikation – nehmen vielleicht die kynischen Interpretationen der Jesusbewegung ein, etwa von John Dominic Crossan oder Burton L. Mack. Sie haben die Wanderradikalismus-These insofern variiert, als sie die kynischen Wanderphilosophen nicht nur wie G. Theißen als eine Analogie zur jüdischen Erneuerungsbewegung Jesu verstanden haben (oder umgekehrt), sondern indem sie die Jesusbewegung selbst als eine kynische Bewegung interpretieren. Nach Crossan war Jesus ein Vertreter jener bäuerlichen, volkstümlichen, mündlichen philosophischen Praxis, die man als jüdischen Kynismus (oder kynisches Judentum) bezeichnen könnte […] (Darunter versteht Crossan) […] vorzüglich eine Lebensform, Widerstand gegen die Zwänge der mediterranen Kultur, gegen die Herrschaft von Ehre und Schande, von Patronat und Klientenwesen, und zwar weniger in der Theorie als in der Praxis eines Lebensstiles, im Aussehen, in der Kleidung, beim Essen, in der ganzen Lebensführung. Diese Kyniker waren sozusagen Hippies in einer Welt augusteischer Yuppies […] Der historische Jesus war also ein bäuerlicher jüdischer Kyniker. Sein Heimatort lag der griechisch-römischen Stadt Sepphoris nahe genug, die Annahme zu gestatten, dass ihm der Kynismus nicht unbekannt geblieben ist. Doch suchte er nicht die Marktplätze der Städte auf, sondern die Weiler und Dörfer Untergaliläas. Seine Strategie, die er ausdrücklich auch seinen Jüngern empfahl, war es, die Botschaft vom Reich Gottes durch kostenloses Heilen und gemeinsames Essen zu verbreiten, und dieser religiöse und ökonomische Egalitarismus negierte die hierarchische und patronale Normalität der jüdischen Religion und der römischen Macht und setzte sie zugleich außer Kraft. Und damit man ihn nicht selbst für den neuen Makler eines neuen Gottes hielt, nahm er nirgends, weder in Nazareth noch in Kafarnaum, dauernd Aufenthalt, sondern kam und ging überall als Wanderer. Er war weder Makler noch Mittler, sondern paradoxerweise der Verkünder der Botschaft, dass es weder zwischen Gott und den Menschen noch zwischen den Menschen untereinander Makler und Mittler geben sollte. Wunder und Gleichnis, Heilen und Essen sollten die einzelnen in unvermittelte leibliche und geistliche Berührung mit Gott bringen und in unvermittelte geistliche und leibliche Berührung miteinander. Er verkündete, mit einem Wort, das keines Vermittlers bedürftige, unmittelbar gegebene Reich Gottes.36

————— 36

J.D. CROSSAN, Der historische Jesus, München 1994, 553f.

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Auch wenn Crossan vor allem die Kommensalität und Tischgemeinschaft der wandernden Jesusjünger betont, die auszogen, um zu heilen und auf Kommensalität mit den von ihnen Geheilten angewiesen waren, so bleibt es bei ihm im gewissen Sinne bei einem radikalen Lebensstil als Manifestation eines radikalen Ethos, und zwar einer Art Gegen-Ethos, das sich gleichsam allen zentralen Werten der mediterranen Kulturen entgegenstellt. Das Problem seiner Kyniker-These ist allerdings, dass er die Jesusbewegung zu einer kynischen Bewegung macht, anstatt sie als eine judäische Analogie zu den griechischen Kynikern zu deuten. Auch Theißen sagt zu diesen kynischen Deutungen: „Als sachliche Analogien zu den Wandercharismatikern hatte ich auf die kynischen Wanderphilosophen hingewiesen. Daraus wurde die m.E. schwer belegbare These entwickelt, Jesus und seine Jünger seien jüdische Kyniker gewesen. Die Kynikerthese rechnet meist mit Wandercharismatikern, interpretiert sie jedoch in einem anderen kulturellen Rahmen.“37 Der kulturelle Unterschied war für ihn schon in der ersten Version der Soziologie der Jesusbewegung (1977) eines der Hauptargumente, den Lebensstil der Kyniker nur als eine Analogie zur Jesusbewegung zu werten. Ein weiterer prominenter Vertreter der Kyniker-Hypothese ist B.L. Mack, der nun genau diese kulturelle Differenz betont: „The Cynic analogy repositions the historical Jesus away from a specifically Jewish sectarian milieu and toward the Hellenistic ethos known to have prevailed in Galilee.“38 Das freilich ist gerade das Problem, dass wir nicht wissen, ob die kynische Philosophie und Lebensführung im damaligen Israel (auch in Galiläa) bekannt war. Auszuschließen ist dies nicht, aber schwer beweisbar. Entsprechend ist die Formulierung von Crossan, die ich gerade zitiert habe, ein deutlicher Hinweis auf diese Unsicherheit: „Sein Heimatort lag der griechischrömischen Stadt Sepphoris nahe genug, die Annahme zu gestatten, dass ihm der Kynismus nicht unbekannt geblieben ist.“ Macks These zum kynischen Jesus fasst Marcus Borg so zusammen: An itinerant teacher, without a home, on the road, one who has deliberately abandoned the world by becoming homeless. As such Jesus taught a kind of wisdom that mocked or subverted conventional beliefs. Jesus was a scoffer (Spötter), a gadfly (Störenfried), a debunker (Wahrheitssucher) who could playfully or sarcastically or with considerable charm ridicule the conventions and preoccupations that animated and imprisoned most people.39

Jesu Heimatlosigkeit charakterisiert in dieser Deutung die Situation eines wandernden Weisheitslehrers, der freiwillig „der Welt entsagt“ hat und ————— 37 THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 21 (Anm. 14). 38 Vgl. B.L. MACK, A Myth of Innocence. Mark and Christian Origins, Philadelphia 1988, 73. 39 M. BORG, Portraits of Jesus, in: H. SHANKS (Hg.), The Search for Jesus. Modern Scholarship Looks at the Gospels, Washington D.C. 1994, 83–103: 92 (Biblical Archaeological Review).

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heimatlos geworden ist, um – wie die griechischen Kyniker – der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Ein Problem für die Kyniker-These ist freilich nicht nur der bisher nicht gelungene Nachweis, dass die kynische Philosophie auch im damaligen Israel eine Rolle spielte,40 schwierig ist dieser Vergleich zumal auch mit Blick auf die „Ausrüstung“ der Kyniker im Unterschied zu den Ausrüstungsvorschriften für die Jesusjünger in der Aussendungsrede. Denn die kynischen Wanderphilosophen trugen gerade einen Proviantsack (pera) bei sich und auch einen Geldbeutel, waren also durchaus bereit, Spenden anzunehmen und mit sich zu nehmen. Anders die Aufforderung Jesu an seine Jünger. Ja, sie sollen nicht einmal einen Stab bei sich haben, also auch auf eine Art „Waffe“ zur Abwehr wilder Tiere verzichten. Diese Nicht-Ausrüstung könnte man als Ausdruck absoluten und demonstrativen Vertrauens auf den Schutz Gottes verstehen. In jedem Fall weicht sie markant vom Habitus der kynischen Wanderphilosophen ab. Crossan stellt sowohl die Aussendungsrede samt (Nicht-)Ausrüstungsregeln für die Jesusjünger wie andere Texte, etwa die Berufungsgeschichten, in einen anderen Zusammenhang bzw. sieht in ihnen eine andere Strategie am Werke. Er deutet die „Unbehaustheit“ (Heimatlosigkeit) Jesu und seiner Jünger als Ausdruck des radikalen Egalitarismus: Den radikalen Sinn des Wanderns der urchristlichen Missionare sehe […] darin, daß dieses Wandern dem symbolischen Ausdruck des unvermittelten Egalitarismus diente, den sie verkündeten. Weder Jesus noch sein Jünger lassen sich an irgendeinem Ort nieder, um nicht in irgendeinem vermittelten sozialen Gefüge Platz zu nehmen. Eben das hätte man von Heilern eigentlich erwarten sollen, daß sie irgendwo Aufenthalt nähmen, eine Gruppe von Anhängern um sich sammelten und die Kranken zu sich kommen ließen. Statt dessen gehen sie selbst zu den Leuten und müssen sozusagen jeden Morgen von neuem anfangen.41

Man merkt dem Text an, wie schwer sich Crossan tut, seine kynische Deutung Jesu durchzuhalten.42 Da tun sich andere Deutungsmodelle leichter, die auf der Basis derselben Texte – zumal auch aus der Logienquelle – die wandernde Existenz der Jünger keineswegs leugnen, doch zugleich Theißens Konzept des Wanderradikalismus nicht übernehmen. Sie deuten die wandernde Existenz Jesu und seiner Jünger anders. ————— 40 Dagegen verhält es sich offenkundig anders mit den Spartanern und ihrer Lebensweise, die Vorbild für Kyniker und Stoiker gewesen sind: S. dazu S. MASON, Josephus, Judea, and Christian Origins. Methods and Categories, Peabody 2009, 239ff und passim, der vor allem die Analogien der Essener zu den Spartanern (bei Josephus) herausarbeitet. 41 CROSSAN, Jesus (Anm. 36), 457f. 42 Vgl. auch seine Formulierung zum Problem der Unterschiede in der Ausrüstung: „Ich nehme an, daß das Verbot (der pera) auf Jesus selbst zurückgeht und im Zusammenhang des funktionalen Symbolismus der von ihm ins Leben gerufenen sozialen Bewegung erklärt werden muß“ (CROSSAN, Jesus [Anm. 36], 448).

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Angedeutet habe ich diese Interpretationen schon unter Hinweis auf Horsley, Draper und Kloppenborg. Insbesondere Richard Horsley hat sich ausführlich mit der These von G. Theißen auseinandergesetzt und ist zu einem deutlich anderen Ergebnis gekommen:43 Nach seiner Deutung waren die Wandercharismatiker keine Wanderradikalen, sondern Verbindungsleute zwischen verschiedenen Ortsgruppen in den galiläischen Dörfern. Ihr Wandern zwischen den Dörfern war somit auch keine dauerhafte Lebensweise, vielmehr sind sie nur vorübergehend nicht sesshaft gewesen. Theißen selbst kritisiert an dieser Deutung, dass aus den Berufungsgeschichten nicht hervorgehe, dass die Jünger nur vorübergehend Haus, Arbeit und Familie verlassen hätten. Dagegen spräche auch Mt 10,23, wo eine missionarische Tätigkeit bis zum Ende der Welt vorausgesetzt werde; ebenfalls führt er gegen diese Deutung die Didache an, in der die Wandercharismatiker als „prinzipiell nicht-sesshaft“ geschildert würden.44 Interessant an Horsleys Deutung ist, wie immer man zu ihr stehen mag, dass sie sozusagen auf demselben Felde (der Soziologie) argumentiert wie Theißen auch, und im Prinzip eine vergleichbare historisch-soziale (Krisen-)Situation voraussetzt. Doch versteht er Jesu Strategie deutlicher vielleicht als Theißen in revolutionären Kategorien, etwa, dass Jesus sich auf die Seite der Armen gegen die Machteliten gestellt habe. Es ist also – wenn man denn Etiketten mag – sein Jesus ein politischer Prophet. Ich kann Horsleys Gegenkonzept hier nicht in extenso darstellen, wichtig ist mir, dass er insgesamt einen anderen Kontext bereit hält für Jesus und die Jesusbewegung. Seinem Jesus geht es darum, das dörfliche Leben in Galiläa zu reorganisieren; dem füge sich auch die ethische Lehre Jesu als Grundlage einer neuen Gemeinschaftsordnung ein. Sie gilt also nicht in erster Linie den wandernden Jüngern als Anweisung für einen radikalen Lebensstil, sondern ganz normalen Leuten. Ähnlich wie Crossan sieht er Jesus darum bemüht, eine radikal egalitäre Gesellschaft zu verkündigen und zu etablieren, aus der Hierarchie und patriarchale Herrschaft verbannt sind. Horsley kritisiert freilich nicht nur die These vom Wandercharismatikertum, er kritisiert auch die KynikerThese!45 Es ist, so wird man mit Respekt sagen müssen, ein umfassender Gegenentwurf, den Horsley vorgelegt und der zu weiteren Debatten eingeladen hat. Ein weiteres Alternativmodell zur These vom Wandercharismatikertum hat William E. Arnal, ein kanadischer Neutestamentler, vorgelegt.46 Arnal ————— 43 R.A. HORSLEY, Sociology and the Jesus Movement, Crossroad 1989. 44 THEISSEN, Jesusbewegung (Anm. 2), 65. 45 R.A. HORSLEY, Jesus and the Spiral of Violence. Popular Jewish Resistance in Roman Palestine, San Francisco 1987, 230f. 46 W.E. ARNAL, Jesus and the Village Scribes. Galilean Conflicts and the Setting of Q, Minneapolis 2001.

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geht u.a. auch auf die Forschungsgeschichte der These ein, die erstmals von Adolf von Harnack in den 1880er Jahren entwickelt worden ist; Gerd Theißen habe Harnacks These dann Hundert Jahre später, in den 1970ern, fortgeschrieben. Der Erfolg Harnacks wie Theißens beruhe, so Arnal, vor allem darauf, dass die Deutungen jeweils zum Zeitgeist gepasst hätten. Arnal macht also bestimmte „Subtexte“ der Wandercharismatiker-Thesen von Harnack und Theißen für deren Rezeptionserfolg verantwortlich. Im Falle von Harnack: Einsame geniale Menschen verbreiten Kultur über die ganze Welt; bei Theißen und anderen sei es die Phantasie für alternative Mittel zur Erneuerung der Gesellschaft gewesen, die die These so attraktiv gemacht hätte. Nun ist es so ein Problem mit der Entdeckung von „Subtexten“, da, wie auch gerade die exegetischen Diskurse über die Jesusbewegung zeigen, schon die Deutung der Texte selbst sehr umstritten ist.47 Und selbst wenn richtig wäre, dass die Wandercharismatiker-These so attraktiv war und ist, weil ihr aktuelle Mentalitäten entgegenkommen, so erklärt dies zunächst nur ihren Erfolg, aber nicht die Frage, ob sie den biblischen Texten gerecht wird. Wichtiger erscheint mir darum die Frage: Was ist nach Meinung von Arnal falsch an der Wanderradikalismus-These jenseits der unterstellten Subtexte? Arnals Antwort in Kürze: Die These habe sowohl methodische Schwächen als auch solche hinsichtlich der Deutung der infrage kommenden Texte bzw. des historischen Milieus, auf das sie sich beziehen. Das Buch enthält längere Ausführungen zur sozialen und wirtschaftlichen Lage Galiläas und kommt in vielerlei Hinsicht zu ähnlichen Ergebnissen wie Horsley: Zumal die Entstehung der hellenistischen Städte Sepphoris und Tiberias habe zu einer Umverteilung geführt, durch die die Eliten in den Städten profitiert haben, zugleich aber die wirtschaftliche Lage auf dem Land und insbesondere die Möglichkeit der Familien, ihren Lebensunterhalt zu gewährleisten, nachhaltig gestört worden sei. Insbesondere die Gruppe der village scribes sei von diesen ökonomischen Veränderungen betroffen gewesen. Diese Gruppe vermutet Arnal hinter den Trägern der Logienquelle. Ihr Interesse sei die Rückkehr zu den traditionellen Werten (wie Reziprozität und Gemeinschaftswohl) gewesen. Ob es überhaupt auf den Dörfern solche village scribes gegeben hat, ist allerdings umstritten, kann hier aber nicht weiter diskutiert werden. Methodisch hält Arnal sowohl Theißen als auch anderen Vertretern der Wandercharismatiker-These vor, dass sie ihre Deutung auf den StrukturFunktionalismus stützen; angemessener für Galiläa im 1. Jh. wäre aber ein ————— 47 G. Theißen hat mich mündlich darauf aufmerksam gemacht, dass die These Arnals bezüglich von Harnack, wonach die un-politische Bewegung der „Wandervögel“ für dessen Wandercharismatiker-These Pate gestanden habe (ARNAL, Jesus [Anm. 46], 19f), schon darum nicht zutreffen kann, weil diese Bewegung erst nach dem Erscheinen von Harnacks Buch (1884) gegründet wurde (nämlich 1896).

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Konfliktmodell gewesen. Wenig Aufmerksamkeit würde auch der Frage gewidmet, wie man von der Wanderschaft als einem sozialen Phänomen zu den Texten kommt, die sie ausdrücken. Anders formuliert: Können wir damit rechnen, dass wandernde Charismatiker etwas aufschreiben? Die These habe auch nicht genau exploriert, wie bzw. unter welchen Bedingungen – sozial, ökonomisch, geographisch – Wandern/Reisen im galiläischen Hinterland möglich gewesen ist. Arnal sieht auch keine Unterstützung dieser These durch die Texte selbst. Weder die Didache noch Q – einschließlich des wichtigsten Textes: der Aussendungsrede Q 10,2–12 – würden eindeutig jenes Verhalten anzeigen, das für die Wanderradikalismusthese fundamental ist. Keine Frage: Reisen oder Wandern sei in diesen Texten ein Thema, doch gehe es um Reisen einer mehr normalen und üblichen Sorte, nicht aber um das radikal-ethisch begründete Wandern peripatetischer Lehrer oder Missionare. Das wichtigste Argument Arnals lautet: Die Texte unterstützen nicht die Wanderradikalismus-These. Jedenfalls gelte dies für die Q-Leute, die keineswegs verarmte wandernde Weise gewesen sind. Vielmehr habe es sich um lokale und eher sesshafte village scribes gehandelt, dörfliche Schriftgelehrte. Sie hätten eine inverse Rhetorik der Entwurzelung entwickelt – zum Beispiel: die Armen sind gesegnet; die Hungrigen werden gesättigt werden; und zwar nicht darum, weil sie mittellose Wanderer gewesen sind. Vielmehr sei dies als eine taktische Reaktion auf den plötzlichen Statusverlust zu erklären, den sie im Zuge dramatischer sozialer und ökonomischer Veränderungen erlebt haben. Diese dramatischen Veränderungen sind nach Meinung von Arnal durch die Gründung der galiläischen Städte Sepphoris und insbesondere Tiberias durch König Herodes Antipas im 1. Jh. der Zeitrechnung hervorgerufen worden. Arnal stützt seine eigene These insbesondere auch auf Arbeiten von John S. Kloppenborg, der schon 1991 infrage gestellt hatte, dass die Aussendungsrede der Logienquelle eindeutig auf Wanderradikalismus („itinerancy“) hindeutet: There is little in Q 10 to suggest that the ‚workers‘ were expected to stay for a long duration in any village, or that they intended to ‚found‘ a community there. There is indeed no indication that the ‚workers‘ were leaders at all, either in the communities from which they were sent forth or in the villages that accepted them […] It is important in this regard to note that these workers are not invested with the titles ‚apostle‘ (1Cor 9:1; Did. 11.3–6), ‚prophet‘ (Did. 11.3–11; 13,1), or ‚teacher‘ (Did. 13.2), any of which would have made their role as (potential) leaders clear.48

————— 48 J.S. KLOPPENBORG, Literary Convention, Self-Evidence and the Social History of the Q People, in: J.S. KLOPPENBORG/L. VAAGE (Hg.), Semeia 55 (1991), 77–102: 89f.

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Arnal will diese These seines Lehrers durch Hinweise auf die konkrete „Umwelt“, in der die Träger der Logienquelle operiert haben, weiter untermauern. Auch er verweist auf die begrenzte geographische Ausdehnung dieser Region: „Galilee was very small and very compact, with the result that travel between two points would normally have involved a journey of no more than several hours. Itinerancy ‚would have looked more like morning walks‘.“49 Arnal bezweifelt auch aufgrund der konservativen Einstellungen der ländlichen Bevölkerung, dass diese der öffentlichen Verkündigung von „radikalen“ und „gegenkulturellen“ (countercultural ) Botschaften von Fremden vertraut hätte. Jenseits elementarer Gastfreundschaft auch Fremden gegenüber sei die Aufnahme von Fremden mit einem problematischen Programm ein größeres Projekt gewesen. Umgekehrt biete die Logienquelle mehrere Hinweise darauf, dass ihre Botschaft das sesshafte Leben von Dorfbewohnern und ihrer Familien voraussetze (z.B. Q 6,34f; 12,57–59), ebenso die Fortdauer der Familienbeziehungen (Q 11,11–13; 9,59–62). Die Gegenthese von Arnal, die ebenso auf Vorarbeiten von Kloppenborg zurückgreift, erklärt zum Beispiel die in diesem Zusammenhang immer wieder diskutierte „Ausrüstungs-Regel“ so: The prohibition against carrying purse, knapsack, sandals, and staff not only reflect the very short distances involved but may also be intended to eliminate the appearance of travel and to normalize the activity undertaken. Such figures, then, as they enter a village to approach a fellow village scribe (komogrammateus) or village administrator (komarches), do not take on the appearance of a traveling stranger but rather an acceptable local functionary. That is, the decision not to don Cynic equipment is made to avoid the appearance of beggary that might attach to a stranger, not to radicalize that appearance (and practice) even further.50

Ich verweise zum Schluss auch noch kurz auf Ausführungen zum Thema von Kathleen E. Corley, die insbesondere den Aspekt des sog. a-familiären Ethos betreffen.51 Sie kommt zu einer auffallend anderen Deutung der einschlägigen Texte als die übliche, in der die Aussagen über Zwietracht in den Familien (v.a. Q 12,52f; 14,26f) mit der Wanderradikalismus-These verbunden werden, inhaltlich wie auf der Ebene der Texte selbst (insbesondere mit der Aussendungsrede Q 10,2–12). Der in Q sich reflektierende Familienkonflikt sei, so Corley, nicht ein Konflikt zwischen Männern und Frauen, sondern er betreffe einen Generationen-Konflikt: Eltern gegen Kinder. Corley vermutet darum hinter den ————— 49 ARNAL, Jesus (Anm. 46), 94. Das Zitat vom „Morgenspaziergang“ stammt von J.S. KLOPPENBORG, The Sayings Gospel Q. Recent Opinon on the People behind the Document, in: Currents in Research. Biblical Studies 1 (1993), 9–34: 22 (hier zitiert nach Arnal). 50 ARNAL, Jesus (Anm. 46), 94f. 51 K.E. CORLEY, Women and the Historical Jesus. Feminist Myths of Christian Origins, Santa Rosa 2002, 80ff.

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Texten nicht die Situation von Jesusnachfolgern, die im Zuge der Nachfolge ihre Familien verlassen haben, sondern Konflikte über traditionelle Beerdigungs- und Trauerriten als plausibleren Hintergrund für den Generationenkonflikt (Q 9,59f). Sie geht dabei – wie Kloppenborg, Horsley oder auch Arnal – davon aus, dass angesichts der kurzen Distanzen zwischen den kleinen Städten und Dörfern des antiken Galiläa, Heimatlosigkeit oder wahrer Wanderradikalismus („true itinerancy“) nicht die Situation gewesen sei, die die Logienquelle Q voraussetze. In jeden Fall gelte aber: Wenn Q das völlige Verlassen der Großfamilie befürwortet hat, so sei aufgrund der sozialen Abhängigkeiten innerhalb der Unterschichtfamilien zu erwarten gewesen, dass dieser Schritt des Verlassens der Familie denen, die zurückgelassen wurden, insbesondere Frauen und Kindern, geschadet hätte.52 Diskussionswürdig erscheint mir insbesondere die folgende These von Corley: Obgleich Frauen nirgendwo ausgeschlossen werden (Q 10,2ff), hält sie die Beteiligung von Frauen an der sog. Q-Aussendung als Missionare oder Prophetinnen für nicht beweisfähig. Die Beteiligung von Frauen ist nach Corley allerdings dann denkbar, sofern man nicht die These einer dauerhaften heimatlosen Existenz voraussetzt, sondern mit kürzeren Reisen rechnet. Kulturvergleichende Studien hätten ergeben, dass Frauen aus der Unterschicht, insbesondere der ländlichen Unterschicht, eine höhere Mobilität aufweisen als Frauen der Elite. Sie seien gewohnt, von Stadt zu Stadt zu reisen und sich am Handel, am Tausch und an den Geschäften zu beteiligen. Folglich schließt Corley, dass die Art von Reisen, die sich in Q reflektiert, eher das Alltagsleben des damaligen Palästina abbilden als eine Form organisierten Umherziehens („itinerancy“) mit dem einzigen Ziel der Predigt. In diesem Fall hätte auch die Beteiligung von Frauen an missionarischen Aktivitäten wahrscheinlich nicht das Zerbrechen der Familien verursacht, das in Q 12,52f und 14,26 berichtet werde.

IV. Schlussbemerkung Historische Re-Konstruktionen sind das Ergebnis kreativer Deutungsprozesse. In diesen Interpretationsprozessen finden eine Vielzahl von Entscheidungen statt, die auch anders hätten getroffen werden können bzw. von anderen Interpreten anders getroffen wurden. Freilich gibt es Thesen, die eine große Überzeugungskraft mit sich bringen oder auf der Hand zu liegen scheinen. Eine solche These ist zweifellos die hier diskutierte These von der Jesusbewegung als einer Gruppe von Wandercharismatikern mit einem spezifischen radikalen Lebensstil. Sie hat sich nicht nur schnell und ————— 52

CORLEY, Women (Anm. 51), 81.

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„Hinterm Horizont geht’s weiter“

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weit verbreitet, sie hat sich auch nunmehr schon über 30 Jahre lang im Grundsatz bewährt. Gleichwohl empfinde ich als anregend, kritische Auseinandersetzungen mit dieser These kennen zu lernen, die nicht nur kleinere Modifikationen vorschlagen, sondern sozusagen Gegenmodelle vorstellen, die die einschlägigen biblischen Texte in anderen historischen Kontexten verorten. Insofern haben mich einige kritische Anfragen an die These vom „Wanderradikalismus“ der Jesusjünger und Gegenentwürfe durchaus zu weiterem Nachdenken inspiriert und erneut zu Fragen angeregt: Ging es beim Wandern Jesu und seiner Jünger um einen radikal anderen Lebensstil, oder diente das Reisen vor allem dem Zweck der Kommunikation ihrer Botschaft, die in einer Welt ohne moderne Kommunikationsmedien einfach nötig waren, wenn man Menschen erreichen wollte? War die wandernde Lebensweise Jesu und seiner Jünger eine Dauerexistenz, oder sind sie nur vorübergehend gewandert und immer wieder nach Hause zurückgekehrt? Welchem größeren ethischen Ideal sollte das vierfache radikale Ethos der Heimat-, Besitz-, Familien- und Schutzlosigkeit dienen? Sollte es überhaupt einem größeren Ideal dienen? Oder bleibt es dabei: Als „Formen von Askese“ hatten diese ethischen Forderungen keinen „Wert in sich“. Vielmehr dienten sie „einer Wanderexistenz im Dienst der Botschaft“ und entsprachen einer „genialen Idee, um in einer Gesellschaft mit mündlicher Kommunikation ‚massenmedial‘ wirksam zu werden“. Ich bin auch in Zukunft gespannt auf neue kritische Anfragen und anregende Gegenmodelle.

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Annette Merz

Gerd Theißens Beiträge zur Sozialgeschichte des hellenistischen Urchristentums in der neueren Diskussion

„Het staat als een huis (es steht wie ein Haus)“ – das sagen meine niederländischen Freunde, wenn sie ihre Anerkennung für ein intellektuelles Produkt zum Ausdruck bringen wollen, ein Programm, ein Oeuvre, wo wir Deutschen sagen würden etwas habe Hand und Fuß. Het staat als een huis – für das Werk von Gerd Theißen gilt das ohne jeden Zweifel, es ist ein großes Haus mit wahrlich vielen und sehr verschiedenen Wohnungen. Als ich von den Kollegen Schwier und Lampe gebeten wurde, etwas zu Gerd Theißens Sozialgeschichte der Jesusbewegung und des Urchristentums beizutragen, war mein erster, nahe liegender Gedanke, mich auf die Sozialgeschichte der Jesusbewegung zu konzentrieren. Schließlich vollzog sich die literarische Zusammenarbeit mit Gerd in meinen Heidelberger Jahren fast ausschließlich auf diesem Gebiet und ich denke noch immer gern an diese intensive und fruchtbare Zeit zurück. Andererseits hat Gerd Theißen gerade diesen Teil des Hauses vor wenigen Jahren gewissermaßen „komplett renoviert“ und dabei ausführlich das Gespräch mit seinen Kritikern geführt.1 Zudem fällt kritische Distanz natürlich schwerer gegenüber einer Baustelle, auf der man selbst zeitweise gearbeitet hat. Wenn ich in diesem Beitrag Gerd Theißens Beiträge zur Sozialgeschichte des hellenistischen Urchristentums zum Gegenstand meiner Untersuchung mache, hat das neben der hoffentlich größeren Unvoreingenommenheit auch den Vorteil, dass er zu diesem Thema noch nicht die umfassende Überarbeitung seiner programmatischen Aufsätze aus den 70er Jahren zu Papier gebracht hat und dass gerade in den letzten Jahren eine Reihe Untersuchungen erschienen sind, die versucht haben, an den Fundamenten zu rütteln.2 ————— 1 Vgl. G. THEISSEN, Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte, Gütersloh 2004. 2 Ich konzentriere mich im Folgenden auf ausgewählte Themenaspekte, die in den letzten Jahren im Zentrum der Diskussion gestanden haben. Eine umfassende Würdigung und forschungsgeschichtliche Einordnung der Beiträge von G. Theißen zur Sozialgeschichte des hellenistischen Urchristentums ist nicht beabsichtigt. Vgl. dazu J.H. SCHÜTZ, Introduction, in: G. THEISSEN, The Social Setting of Pauline Christianity, Philadelphia 1982, 1–23; O. REIS, The Uses of Sociological Theory in Theology – Exemplified by Gerd Theissen’s Study of Early Christianity, in: E. KARLSAUNE (Hg.), Religion as a Social Phenomenon, Trondheim, 1988, 161–178; B. HOLMBERG, Sociology and the New Testament. An Appraisal, Minneapolis 1990 sowie

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Gerd Theißens Beiträge zur Sozialgeschichte

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1. Gerd Theißens Beiträge zur sozialen Schichtung der paulinischen Gemeinden in der neueren Diskussion Die wegweisenden Aufsätze zur Sozialgeschichte des hellenistischen Urchristentums und zur theoretischen Profilierung des religionssoziologischen Zugangs zur urchristlichen Geschichte sind bekanntlich in den Jahren 1974–1975 erschienen,3 wurden vielfach übersetzt und noch in jüngster Zeit in Sammelbänden und Anthologien nachgedruckt, was ihren bleibenden Einfluss dokumentiert.4 Sie gelten in der allgemeinen Wahrnehmung der Fachgenossen als Grundpfeiler dessen, was „der neue Konsens“ (new consensus) in der Beurteilung der sozialen Struktur der hellenistischen Gemeinden genannt worden ist.5 Dieser besagt, dass in den urchristlichen Gemeinden der hellenistischen Welt ein repräsentativer Querschnitt der urbanen Gesellschaft der Zeit versammelt war, abzüglich der Mitglieder der höchsten Schichten, der imperialen und dekurionalen Eliten, und – so jedenfalls explizit bei W.A. Meeks6 – abzüglich der Ärmsten der Armen. Dieser „neue Konsens“ wird abgehoben von einem oft mit dem Namen ————— R. HOCHSCHILD, Sozialgeschichtliche Exegese. Entwicklung, Geschichte und Methodik einer neutestamentlichen Forschungsrichtung, NTOA 42, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1999. 3 G. THEISSEN, Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde. Ein Beitrag zur Soziologie des hellenistischen Urchristentums, ZNW 65 (1974), 232–272; DERS., Soziale Integration und sakramentales Handeln. Eine Analyse von 1Kor XI,17–34, NovTest 16 (1974), 179–206; DERS., Theoretische Probleme religionssoziologischer Forschung und die Analyse des Urchristentums, NZSTh 16 (1974), 35–56; DERS., Die Starken und die Schwachen in Korinth. Soziologische Analyse eines theologischen Streits, EvTh 35 (1975), 155–172; DERS., Die soziologische Auswertung religiöser Überlieferungen. Ihre methodologischen Probleme am Beispiel des Urchristentums, Kairos 17 (1975), 284–299; DERS., Legitimation und Lebensunterhalt. Ein Beitrag zur Soziologie urchristlicher Missionare, NTS 21 (1975), 192–221. Diese Aufsätze sind zusammen mit denjenigen zur Soziologie der Jesusbewegung und versehen mit einer forschungsgeschichtlichen Einleitung 1979 in Buchform erschienen: G. THEISSEN, Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 1979 (2. erw. Aufl. 1983, 31989). Wo im Folgenden aus den Aufsätzen zitiert wird, werden die Seitenzahlen dieser Veröffentlichung angegeben. In deutscher Sprache gibt es zur Sozialgeschichte (ausschließlich) des hellenistischen Urchristentums bisher keine Monographie von Gerd Theißen, John H. SCHÜTZ hat jedoch die „Essays on Corinth“ separat herausgegeben unter dem Titel The Social Setting of Pauline Christianity (Philadelphia 1982, paperback 1988). 4 THEISSEN, Soziale Schichtung wurde mindestens 8 mal nachgedruckt, deutsch, englisch, spanisch, italienisch, französisch und japanisch, zuletzt nochmals 2004: „Social Stratification in the Corinthian Community: A Contribution to the Sociology of Early Christianity“, in: E. ADAMS/ D.G. HORRELL, Christianity at Corinth. The Quest for the Pauline Church, Louisville/London 2004, 97–105, die vollständige Liste aller Übersetzungen und Nachdrucke ist zu finden unter der Webadresse: http://www.theologie.uni-heidelberg.de/fakultaet/personen/theissen.html. 5 Die Bezeichnung geht zurück auf A.J. MALHERBE, Social Aspects of Early Christianity, Baton Rouge/London 1977, 31. 6 W.A. MEEKS, The First Urban Christians, London 1983, 73: „The extreme top and bottom of the Greco-Roman social scale are missing from the picture.“ (dt. Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, Gütersloh 1993, 155).

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Albrecht Deissmann verbundenen „alten Konsens“, nach dem die urchristlichen Gemeinden sich aus den ärmeren und ärmsten Bevölkerungsschichten rekrutierten. Nun ist bereits vielfach – und auch durch Gerd Theißen selbst – darauf hingewiesen worden, dass es weder einen alten noch einen neuen Konsens je gegeben hat, betrachtet man die jeweils genannten Autoren und ihre Werke genauer, muss man viel differenzierter urteilen.7 Worum es jedenfalls in Gerd Theißens frühen Beiträgen geht, ist der Nachweis einer deutlich erkennbaren sozialen Schichtung und des Vorhandenseins von Konflikten, die ursächlich, allerdings nicht monokausal mit den sozialen Unterschieden zusammenhängen. Beides ist von Beginn an teilweise enthusiastisch begrüßt, teilweise heftig bestritten worden, ich möchte mich hier konzentrieren auf einige jüngere Beiträge zu dieser Diskussion, auf die G. Theißen z.T. schon reagiert hat. An diesen Reaktionen kann man nämlich gut ablesen, wo kleine Umbauten am ursprünglichen Konzept angebracht wurden, wo neuere Forschung nuancierend integriert wurde. J.J. Meggitt hat 1998 eine Monographie mit dem vielsagenden Titel „Paul, Poverty and Survival“ veröffentlicht.8 Meggitt zufolge waren die paulinischen Gemeinden sozial gesehen relativ homogen und die Hauptherausforderung für die Christen bestand angesichts der allgemeinen Verelendung darin zu überleben: [T]hese believers, including Paul, like virtually all other inhabitants of the Roman empire who were not members of the political elite or their associates, lived subsistence or near subsistence lives, in which their access to necessities was inadequate and precarious. Like their neighbours, non was potentially more than a few weeks away (and many far closer than that) from a life-threatening crisis, with little call on material resources when in such need. They suffered from what we would term absolute poverty.9

In diesem Kontext ist die paulinische Botschaft, die Meggitt unter dem label „Mutualism as a survival strategy“10 zusammenfasst, in erster Linie ein effektives Mittel der gegenseitigen Hilfe und Solidarität zum Überleben. Gerd Theißen hat sich 2001 und 2003 in zwei lesenswerten Beiträgen mit Meggitt auseinandergesetzt.11 Im ersten weist er überzeugend die undiffe————— 7 Vgl. G. THEISSEN, The Social Structure of Pauline Communities: Some Critical Remarks on J.J. Meggitt, Paul, Poverty and Survival, JSNT 84 (2001), 65–68; E.W. STEGEMANN/ W. STEGEMANN, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart u.a. 1995, 249–251. 8 J.J. MEGGITT, Paul, Poverty and Survival, Edinburgh 1998. 9 J.J. MEGGITT, Response to Martin and Theissen, JSNT 84 (2001), 85–94, 85f. 10 MEGGITT, Paul, 163f. 11 G. THEISSEN, Social Structure, 65–84, und DERS., Social Conflicts in the Corinthian Community: Further Remarks on J.J. Meggitt, Paul, Poverty and Survial, JSNT 25.3 (2003), 371– 391.

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renzierte Gesellschaftsanalyse Meggitts zurück. Unterhalb der dekurionalen Oberschicht hat es innerhalb der städtischen Bevölkerung nachweislich große soziale Differenzierungen gegeben und die Frage ist, inwieweit sich diese auch innerhalb der christlichen Gemeinden spiegeln.12 Die objektiven Schwierigkeiten, diese Differenzierungen methodisch überzeugend zu beschreiben, können von dieser Aufgabe nicht entbinden. Meggitt hat insbesondere das in jeder soziologischen Analyse so wichtige komparative Verfahren, hier den Vergleich mit jüdischen Diasporagemeinden und antiken Vereinen, vernachlässigt. Diesen Punkt hat Meggitt eingeräumt und verteidigt. Er verzichte gewissermaßen aus heuristischen Gründen auf die differenzierte Analyse der sozialen Stratigraphie der Gemeinden, um die für die Mehrheit der Christen geltende überwältigende Erfahrung, am Existenzminimum leben zu müssen, nicht aus den Augen zu verlieren: […] this lack of differentiation is deliberate. The central dichotomy between those economically vulnerable and those not is helpful for bringing into view the universality of the experience of privation for the Pauline Christians that, in material terms, a more differential analysis, even if it were possible, would obscure.13

Diese Erklärung unterstellt zum einen, dass eine differenzierte Analyse sozialer Schichtung innerhalb der 99% der Bevölkerung umfassenden Gruppe der Machtfernen de facto nicht möglich ist. Tatsächlich wird man angesichts der komplexen und unvollständigen Quellenlage über Annäherungen an eine zutreffendes Gesamtbild nicht hinauskommen, aber das entbindet nicht von der Aufgabe, es zu versuchen (siehe dazu Abschnitt 2). Zweitens behauptet Meggitt, dass eine solche Analyse zur Verdunkelung des entscheidenden Sachverhaltes beitragen würde. Hier enthüllt sich, dass die Argumentation Meggitts auf einer petitio principii beruht. Er unterstellt, was zu beweisen wäre, dass nämlich Armut bzw. ökonomische Verwundbarkeit eine gemeinsame Erfahrung aller Christen war. Er begeht damit denselben kategorialen Fehler, den er mit einigem Recht der traditionellen Forschung vorwirft. Diese vernachlässigt durch Konzentration auf die wenigen namentlich genannten Gemeindeglieder in ihrer Analyse die in den Quellen mit Schweigen übergangene Masse der Armen. Umgekehrt kann es jedoch auch nicht überzeugen, wenn Hinweise auf soziale Differenzierungen bewusst aus der Analyse ausgeklammert werden. Zweierlei ist nämlich keinesfalls erwiesen: dass Machtferne und Armut immer Hand in Hand gingen und dass die auf Basis sozialwissenschaftlicher Analyse objektiv zu konstatierende größere ökonomische Verwundbarkeit derer, die keine politische Macht zur Sicherung ihrer ökonomischen Position hatten, auch ein————— 12 13

THEISSEN, Social Structure, 71–75. MEGGITT, Response, 86 (Hervorhebung AM).

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herging mit einem subjektiven Bewusstsein, jederzeit von Armut bedroht oder betroffen zu sein und daher aus ökonomischen Gründen auf horizontale Solidarität (mutualism) als Überlebensstrategie angewiesen zu sein. Theißen präzisiert in Auseinandersetzung mit Meggitts Argumenten seine Analyse des Status von Personen, die aus den Korintherbriefen namentlich bekannt sind. Er integriert dabei Theorien, die in den 80er Jahren Bedeutung erlangten, insbesondere die besonders von Wayne Meeks ins Zentrum gestellte Theorie der Statusdissonanz und die von Stegemann und Stegemann in ihrer Urchristlichen Sozialgeschichte betonte Wichtigkeit der Theorien der sozialen Devianz.14 Die bereits 1974 herangezogenen Indikatoren für relativen Wohlstand, nämlich Haus- und Sklavenbesitz, Reisen und Übernahme von Ämtern und Dienstleistungen werden beibehalten, wobei betont wird, dass sie in keinem Fall sichere Schlüsse ermöglichen, wohl aber in Kombination plausible Schlussfolgerungen nahelegen. Ein Synagogenvorsteher und Hausbesitzer wie Crispus (1Kor 1,14; Apg 18,8), und der Gastgeber der ganzen Korinthischen Gemeinde Gaius (Röm 16,23) gelten weiterhin als vergleichsweise wohlhabende und angesehene Gemeindeglieder. Als unterstützendes neues Argument für den höheren sozialen Status derjenigen, die in den Gemeinden Leitungsaufgaben wahrnahmen, werden Schmellers Analysen der sozialen Zusammensetzung von Berufsvereinigungen und Kultvereinen herangezogen.15 Während Berufsvereinigungen oft sehr ranghohe Patrone haben und viele Freie, aber fast keine Sklaven unter ihren Mitgliedern zählen und Ämter oft auf Lebenszeit vergeben, haben Kultvereine einen beachtlichen Prozentsatz von Mitgliedern im Sklavenstand, viel weniger frei geborene Mitglieder und als Patrone höchstenfalls Menschen aus dem Ritterstand. Sie bevorzugen außerdem roulierende Ämter, wahrscheinlich, weil die damit einhergehenden ökonomischen Lasten sich dadurch besser verteilen lassen. Die urchristlichen Gemeinden teilen mit allen freiwilligen Vereinigungen den hohen Anteil an liberti, sie weisen aber insgesamt eine größere soziale Diversität auf, da sie viele Sklavinnen und Sklaven, aber auch viele Freie zu ihren Mitgliedern zählten. Nach Theißen könnte die Einrichtung von dauerhaften Ämtern im Urchristentum nach Analogie der Berufsvereinigungen auf einen gewissen Wohlstand der Amtsinhaber deuten.16 Erastos, der wohlbekannte QKXMQPQOQLVJLRQNGYL(Röm 16,23), dessen mögliche Identität mit dem inschriftlich nachgewiesenen korinthischen ————— 14 THEISSEN, Social Structure, 67–68, 75–84, vgl. MEEKS, First Urban Christians, 70–74; E.W. STEGEMANN/W. STEGEMANN, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart u.a. 1995, 139–140, 214–216 et passim. 15 Vgl. T. SCHMELLER, Hierarchie und Egalität: Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine, SBS 162, Stuttgart 1995. 16 THEISSEN, Social Structure, 75–78.

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Ädilen von Theißen populär gemacht wurde,17 wird anders eingeordnet als 1974: Theißen diskutiert die Möglichkeit, dass die Erwähnung seines städtischen Amtes ein Indikator dafür sein könnte, dass er noch nicht getauft ist, sich vielmehr als Sympathisant und potentieller hochgestellter Patron versteht.18 Auf diese gesellschaftlich gut etablierten Rolle und die schwierige Frage, wie sie im Urchristentum gefüllt wurde, komme ich noch zurück. Dass die urchristlichen Gemeinden in den hellenistischen Städten sozial nicht homogen waren, sondern ein breites soziales Spektrum repräsentieren, erscheint weiterhin – nicht zuletzt aufgrund von Gerd Theißens neuerlichen Beiträgen zur Diskussion – gesichert.19 Ob schon zu Paulus Zeiten vereinzelt Mitglieder der dekurionalen Elite zu den Gemeinden stießen, wird sich wahrscheinlich niemals sicher klären lassen, scheint mir aber eine untergeordnete Frage zu sein. Theißen beendet seine erste Besprechung von Meggitts Buch mit dem Hinweis, dass gerade angesichts der deutlich erkennbaren sozialen Schichtung das radikale urchristliche Egalitätsprinzip, das seinen rituellen Vollzug in der Taufzusage und im Abendmahl fand, eine besondere Herausforderung für die Gestaltung der sozialen Beziehungen innerhalb der Gemeinde darstellte.20 Meggitt tendiert zu einer harmonisierenden Wahrnehmung der paulinischen Gemeinden, in der soziale Homogenität und egalitäres Ethos („mutualism“) korrespondieren. Theißen hatte in seinen frühen Beiträgen die Entwicklung der Ethik des Liebespatriarchalismus als nachgerade unausweichliche urchristliche Reaktion auf die sozialen Ungleichheiten in den eigenen Reihen beschrieben und dafür gerade von feministischer Seite viel Kritik auf sich gezogen.21 Wenn ich die Bemerkungen zu Meggitt richtig interpretiere, dann hält Theißen zwar am Konzept des Liebespatriarchalismus als einer Strategie fest, mit deren Hilfe versucht wurde die Spannungen zu mindern, die resultieren aus dem Widerspruch zwischen radikalem urchristlichen Gleichheitsprinzip und sozialer Realität. Doch verliert das Konzept unter der Hand seinen Allerklärungsanspruch,22 de facto wird nun damit gerechnet, dass der Grundwiderspruch zwischen Selbstverständnis und Sozialstruktur im hellenistischen Urchris————— 17 THEISSEN, Soziale Schichtung, 237–245. 18 THEISSEN, Social Structure, 79–80. 19 Vgl. auch G. THEISSEN, Vers une théorie de l’histoire sociale du christianisme primitif, Ètudes Théologiques de Teligieuses 63 (1988), 199–225. 20 THEISSEN, Social Structure, 84. 21 THEISSEN, Soziale Schichtung, 268–271 und Wanderradikalismus, 104–105. Exemplarisch für die kritischen Stimmen sei verwiesen auf E. SCHÜSSLER-FIORENZA, Zu ihrem Gedächtnis, 114–125 et passim; L. SCHOTTROFF, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Gütersloh 1994, 19–23, 56 et passim. 22 Theißen, Wanderradikalismus, 104 sprach Theißen kategorisch von „drei Sozialformen urchristlichen Glaubens: Wanderradikalismus, Liebespatriarchalismus und gnostische[m] Radikalismus“.

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tentum Ausgangspunkt verschiedener Reaktionen und Entwicklungen war, die differenziert zu beschreiben sind. Im dritten Abschnitt komme ich darauf nochmals zurück, zunächst aber soll das Thema Armut weiterverfolgt werden, auf das Meggitt nachdrücklich aufmerksam gemacht hat. Er hat damit eine Diskussion eröffnet und weiterführende Studien angeregt, die den sozialgeschichtlichen Arbeiten der vergangenen Generation auf Dauer etwas Wesentliches hinzuzufügen haben.

2. Die Diskussion um Armut und die Rolle von Armen in den paulinischen Gemeinden in der neueren Diskussion Dass dem Thema der Massenarmut in der Antike und der Frage, in wie weit die Christinnen und Christen der hellenistischen Städte an ihr partizipierten, in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist sehr zu begrüßen, denn hier besteht echter Forschungsbedarf. Die Paulusbriefe als älteste und wichtigste Quellen sind jedoch gewissermaßen unwillige Zeugen. Im deutlichen Unterschied zur Jesusüberlieferung in den synoptischen Evangelien, in denen Menschen, die unterhalb des Existenzminimums lebten, als wichtige Adressaten der Botschaft und der Wundertätigkeit Jesu ins Licht rücken, wird in der paulinischen Briefliteratur dieser Gruppe keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das wurde (meist stillschweigend) als Indiz gewertet, dass Armut und auf Unterversorgung basierende Krankheit kein zentrales Problem in den paulinischen Gemeinden darstellten. Eine Reihe von neueren Beiträgen zur antiken Sozial- und Wirtschaftsgeschichte lässt dies aber als zumindest fraglich erscheinen. Meggitt hat es zum methodischen Ausgangspunkt seiner Analyse erhoben, die s.E. aufgrund sozial-historischer Analyse erwiesenermaßen chronisch unterernährten städtischen Massen in ihrem Existenzkampf auch da einzubeziehen, wo die Texte sie nicht explizit erwähnen, aber wie gezeigt, ist seine bipolare Analyse so holzschnittartig, dass sie nicht überzeugt. Steven J. Friesen hat in Anknüpfung an Meggitt 2004 im Journal for the Study of the New Testament einen Versuch vorgelegt, relative poverty-scales für das Römische Reich zu etablieren und die ersten Christen auf diesen Skalen einzuordnen.23 Der Untertitel „Beyond the So-called New Consensus“ zeigt deutlich Friesens forschungsgeschichtliche Selbstverortung an. Obwohl ich, wie noch deutlich werden wird, seinen Versuch im Ganzen für nicht weiterführend halte, möchte ich ihn hier besprechen, weil er typisch für eine öfter begegnende Tendenz ist, die Arbeiten von Gerd Theißen wahrzunehmen ————— 23 S.J. FRIESEN, Poverty in Pauline Studies: Beyond the So-calles New Consensus, JSNT 26.3 (2004), 323–361.

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und weil er seinerseits überzeugendere Reaktionen in derselben Zeitschrift hervorgerufen hat. Friesen bestimmt fünf Trends, die angeblich bestimmend sind für die sozialgeschichtlichen Arbeiten des späten 20. Jh.: Der erste und fünfte Trend – „No overt political agenda“ und „No discussion of oppression or class conflict“ – bilden in der Argumentation, die präziser als accusatio zu beschreiben ist, eine Inklusio und werden daher zusammen besprochen. Man gebe sich politisch neutral und betont wissenschaftlich, dahinter aber stehe eine verkappte konservative politische Agenda. Theißen und Meeks, die als prominenteste und einflussreichste Vertreter der Mainstreamforschung zur Zielscheibe werden, seien in ihrer Weigerung, Unterdrückung und Ausbeutung zu analysieren, die spätkapitalistischen Kämpfer im ideologischen Kampf zwischen Marxismus und Kapitalismus in der modernen Variante des consumer capitalism. Es ist typisch für die weithin undifferenzierten Ausführungen, dass Friesen nicht einmal für nötig hält, zu definieren, was er genau unter diesem label verstehen möchte. John Barclay, der die Notwendigkeit der Analyse von „ideological frameworks“, die unbemerkt der exegetischen Arbeit ihren Stempel aufdrücken, ausdrücklich befürwortet, hat in seinem Response-Artikel Friesens Argumenation einer detaillierten Kritik unterzogen und zusammenfassend festgehalten: At this point, arm-waving rhetoric is wholly inadequate: without some close analysis of the links between socio-economic conditions and scholarly constructs, and without some philosophically defensible understanding of ideologies and how they operate, we are left with mere impressions.24

Ich möchte einen gern benutzten Vergleich von Gerd Theißen aufnehmend hinzufügen, dass die Diskussion über die Brillen, die Menschen als Hilfen zu ihrer Orientierung in der Welt tragen, so interessant sie sein mag, doch niemals wichtiger werden sollte als das Gespräch über Welt, die ein jeder durch diese Brille gesehen hat. Daher konzentriere ich mich auf die folgenden Punkte, bei denen es in der Sache um die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit geht. Als zweiten Trend bestimmt Friesen die Tendenz, Armut als Problem zu negieren. Das wird mit Zitaten belegt, in denen Theißen und auch Meeks die im historischen und regionalen Vergleich verhältnismäßig große Prosperität der Städte des Imperium Romanum in der frühen Kaiserzeit betonen, an der viele der ersten Christen partizipierten.25 ————— 24 J. BARCLAY, Poverty in Pauline Studies: A Response to Steven Friesen, JSNT 26.3 (2004), 363–366. 25 Friesen zitiert die englische Übersetzung von THEISSEN, Legitimation, 201. Im Original lautet der Text: „Während Palästina im 1. Jhdt. unter erhöhtem ökonomischen Druck stand, erlebte

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Dazu zwei Bemerkungen: Ein Standardvorwurf von eher konservativer Seite an Gerd Theißens sozialgeschichtliche Analyse der palästinischen Jesusbewegung lautet, dass er ein viel zu negatives Bild von den dortigen ökonomischen Verhältnissen zeichne. Galiläa sei zur Zeit Jesu ein prosperierendes Land gewesen, Armut und soziale Entwurzelung in großem Ausmaß habe es genauso wenig gegeben wie verbreitete antirömische (oder antiherodäische) Ressentiments.26 Bei den hellenistischen Städten ertönt nun – natürlich aus der entgegen gesetzten Richtung – der umgekehrte Vorwurf der unverantwortlichen Ignoranz gegenüber der Verelendung der Massen. Zu beidem ist zu sagen: es liegt an der Komplexität der Aufgabe und dem fragmentarischen und vieldeutigen Charakter der zur Verfügung stehenden Quellen, dass es bisher nicht zufriedenstellend gelungen ist, eine umfassendes und allgemein als plausibel akzeptiertes Bild von der wirtschaftlichen Situation im römischen Reich oder in Teilgebieten davon zu etablieren. Davon noch ganz abgesehen spielt der Standpunkt des Betrachters bei der Beurteilung der Quellen natürlich auch eine Rolle, besonders bei einem so sensiblen Thema wie der Beurteilung von Armut. Theißen ging es jedenfalls darum, den relativ größeren Wohlstand der Stadtbevölkerung gegenüber der Landbevölkerung zu betonen. Seinen neueren Arbeiten habe ich nicht klar entnehmen können, ob er die recht optimistische Sicht von der Partizipation auch der Armen an der Prosperität der hellenistischen Städte im 1. Jh. substantiell verändert hat, hier macht sich das Fehlen einer jüngeren monographischen Bearbeitung bemerkbar. Aber auch unabhängig davon gilt, dass der Vorwurf, Armut sei als Problem wegdefiniert worden, gegenüber Gerd Theißen gerechterweise nicht aufrecht zu erhalten ist. Dies zeigen seine frühen Beiträge zur Analyse der Konflikte beim Herrenmahl und der Opferfleischfrage. Man kann geradezu behaupten, dass die in den 70er Jahren vorgetragenen Überlegungen Theißens über den Ausmaß des Fleischkonsums von Menschen der Unterschicht ein Vorläufer der heutigen modernen Untersuchungsmethoden sind, mit denen die endemische Unterernährung von großen Bevölkerungsgruppen durch Knochenanalysen u.ä. festgestellt wird und auf die sich Meggitt mit großer Emphase beruft.27 Der dritte von Friesen benannte Trend lautet, man habe den Geniekult eines Deissmann, der sich auf Jesus und Paulus konzentriert habe, nur moderat ausgeweitet, indem man sich nun auf die „prominenten“ Mitglieder der pln Gemeinden konzentrierte, diese jedoch fälschlich für repräsentativ ————— die städtische Mittelmeerwelt damals eine wirtschaftliche Blütezeit. Man musste nicht zur allerobersten Schicht gehören, um einen gewissen Wohlstand zu erringen.“ 26 Ein Musterbeispiel dafür ist K.-H. OSTMEYER, Armenhaus und Räuberhöhle? Galiläa zur Zeit Jesu, ZNW 96 (2005), 147–170, G. Theißen wird S. 148 mit Anm. 8 als typischer Vertreter der Armenhaus-und-Räuberhöhle-Mentalität genannt. 27 MEGGITT, Response, 86–87.

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gehalten habe. Dazu ist zweierlei zu bemerken: Gerade die prosopographischen Analysen beschränken sich keineswegs auf prominente Gemeindemitglieder, sie dienen ja z.B. auch dazu, den Anteil von Sklaven bzw. Freigelassenen mit Sklavennamen zu bestimmen.28 Zweitens ist gegen den indirekt gegen Theißen gerichteten Vorwurf, prominente Gemeindeglieder würden fälschlich als repräsentativ angesehen,29 darauf hinzuweisen, dass bereits die allererste Analyse der Schichten in der Gemeinde von Korinth von 1974 neben einem den Individuen gewidmeten Kapitel ein solches über Teilgruppen der Gemeinde enthält, das eingeleitet wird mit der Bemerkung: „Die unteren Schichten treten in der korinthischen Korrespondenz kaum als Einzelpersonen auf. Um so wichtiger ist die Analyse von Aussagen über Teile der Gemeinde.“30 Hier folgen dann bei Theißen nota bene u.a. Beobachtungen aus dem Abendmahlskonflikt und der Organisation der Kollekte, die sachlich im konstruktiven Teil von Friesens Beitrag als Beleg für die beiden untersten seiner Armutsskalen angeführt werden, allerdings ohne Nennung der Übereinstimmung mit Theißens Analyse.31 Das ist zumindest schlechter Stil, wenn nicht Irreführung der Leserschaft. Der vierte Trend oder besser gesagt Vorwurf schließlich lautet: die Hauptanalysekategorie sei diejenige des Sozialstatus geworden. Dies sei unangemessen, denn man könne über diese komplexe Kategorie, die aus vielen Einzelaspekten wie ethnische Abkunft, ordo, Bürgerrecht, Freiheit, Reichtum, Beruf, Alter, Geschlecht und dem Innehaben von öffentlichen Ämtern zusammengesetzt sei, keine irgendwie messbaren Aussagen machen.32 Zweitens diene die Fixierung („preoccupation“) auf den Sozialstatus dazu, die Ausblendung der Armut und ökonomischer Unterdrückungsverhältnisse in der weiteren Analyse zu verschleiern. Die Zuwendung zur ————— 28 Beispielhaft durchgeführt in der Analyse von Röm 16 und anderer römischer Quellen von P. LAMPE, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten. Untersuchungen zur Sozialgeschichte, WUNT 2/18, Tübingen 1987, 21989, 124–300. 29 FRIESEN, Poverty, 332 nimmt Meeks ausdrücklich von diesem Vorwurf aus und schließt den Punkt mit dem globalen Vorwurf: „Most of the representatives of the so-called new consensus have not been so exact as Meeks.“ Da Gerd Theißen neben Meeks der einzige namentlich genannte und in diesem Unterabschnitt explizit als Demonstrationsobjekt gewählte Vertreter des Neuen Konsenses ist (a.a.O., 331: „I illustrate late twentieth-century trends primarily through the work of Gerd Theissen and Wayne Meeks“), darf man Friesen hier wohl unterstellen, dass er auf Theißen abzielt, ohne dies jedoch unterbauen zu können. 30 THEISSEN, Soziale Schichtung, 257. 31 THEISSEN, Soziale Schichtung, 257 geht in seiner Analyse des Abendmahlstreits explizit davon aus, dass die OJG=E= QPVGLvon 1Kor 11,22 solche sind, die in ihrem Alltag hungern und keine Möglichkeit haben sich zu Hause satt zu essen. 32 Friesen knüpft hier an die u.a. von G. Schöllgen geäußerte Vorbehalte an, vgl. G. SCHÖLLGEN, Was wissen wir über die Sozialstruktur der paulinischen Gemeinden? Kritische Anmerkungen zu einem neuen Buch von W.A. MEEKS, NTS 34 (1988), 71–82. Überzeugend ist die Kritik nicht, siehe dazu BARCLAY, Poverty, 366 mit Anm. 3.

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Untersuchung der sozialen Dynamik zwischen ärmeren und reicheren Gemeindegliedern und damit einhergehender sozialpsychologischer Prozesse wird als Weigerung interpretiert, sich wirklich auf die ökonomische Analyse einzulassen, eine bemerkenswert eindimensionale (und m.E. ungerechte) Beurteilung. Im konstruktiven Teil seines Beitrags untersucht Friesen die Möglichkeit, die finanziellen Ressourcen der paulinischen Christen zu messen und sie einzuordnen auf einer für die Gesamtantike gültigen Armutsskala.33 Seine kenntnisreichen Ausführungen zur Berechnung des prozentualen Anteils der Gesamtbevölkerung einer antiken Stadt an jeder der von ihm definierten sieben Skalen sind ausgesprochen lesenswert, zeigen sie doch das ganze Ausmaß der Schwierigkeiten einer solchen Operation ohne jede Beschönigung auf. Es hinterlässt dann allerdings einen zwiespältigen Eindruck, wenn am Ende auf zwei Stellen hinter dem Komma angegeben wird, wie viele Einwohner zu den Kategorien 1–3 zu zählen sind (imperial elites, regional elites, municipal elites, alle charakterisiert als „super-wealthy“), nämlich 1.23% bezogen auf das gesamte römische Reich, 2.8% bezogen auf Städte mit mehr als 10000 Einwohnern. Die ersten Christen finden sich natürlich in den Skalen 4–7, wobei die Berechnung des Anteils derer in den Kategorien 4–5 („moderate surplus resources“ und „stable near subsistence level“) sich beim gegenwärtigen Stand der Forschung als unmöglich erweist und mit 7% bzw. 22% geschätzt wird. Als arm („at subsistence level“, 6. Kategorie) und bettelarm („below subsistence level“, Kategorie 7) gelten 40% bzw. 28% der Stadtbevölkerung. Was ergibt nun Friesens Analyse der in den paulinischen Briefen genannten Christen? Bestätigt sie seine vollmundige Kritik an der Sozialgeschichte des sogenannten Neuen Konsenses? Mitnichten. Friesen kommt im Großen und Ganzen zu präzis derselben vertikalen Anordnung wie Theißen, Meeks oder auch Stegemann & Stegemann. Ganz oben steht Gaius, ganz unten diejenigen, die beim Abendmahl hungrig bleiben. Wenn die Konzentration auf den Sozialstatus die ökonomische Analyse derart verzerren würde, wie Friesen unterstellt, dann ist dies übereinstimmende Ergebnis kaum erklärlich. Die Abweichungen innerhalb der vertikalen Rangfolge betreffen v.a. die wegen der vieldeutigen Quellenlage notorisch schwierigen Fälle des Paulus selbst34 und des Erastos. Was letzteren betrifft hinterlässt die Sicherheit, mit der Friesen meint, eine Zugehörigkeit des Erastos zum höheren Beamtenapparat von Korinth ausschließen zu können, bei mir eher den Eindruck ideologischer Voreingenommenheit als die differenzierte und für ————— 33 34

FRIESEN, Poverty, 337–358.360–361. Zu Paulus vgl. THEISSEN, Social Conflicts, 372–374.

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mehrere Ergebnisse offene Diskussion von Theißen.35 Die Entscheidung über Einzelpersonen mag abweichen,36 das Gesamtbild ist überraschend bestätigt, wie Barclay sehr zu recht feststellt: [T]o place a few, as Friesen tentatively does, among the 7% in PS 4 [poverty scale 4, AM] is to make a claim for a substantial wealth stratification in the Pauline churches – much as claimed by Theissen and Meeks, though with different vocabulary!37

Bleibt noch abschließend zu sagen, dass Friesens Armutskategorien gerade in den besonders umstrittenen Kategorien 4 und 5 („moderate surplus resources“ und „stable near subsistence level“) viel zu vage bleiben, um als weiterführend gelten zu können und dass der von ihm hantierte, ausschließlich an finanziellen Ressourcen orientierte Armutsbegriff zu eindimensional ist, um überzeugend zu sein. Es ist nun einmal nicht zu leugnen, dass Arme in aller Regel nicht allein unter den Folgen ihrer ökonomischen Beschränkung leiden, sondern auch an ihrer sozialen Stigmatisierung. An diesem Punkt hat Peter Oakes interessante Vorschläge in die Diskussion eingebracht, die der Vieldimensionalität des Phänomens Armut besser gerecht werden.38 Armut ist nach Peter Townsends soziologischer Definition der Mangel an Ressourcen, die nötig sind, um partizipieren zu können an den Aktivitäten, Gewohnheiten und der Ernährung, die in einer gegebenen Gesellschaft als normal betrachtet werden.39 Legt man eine solche Definition zugrunde, fällt die von vielen Sozialgeschichtlern hantierte Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut. Armut ist immer relatiert an bestimmte gesellschaftliche Zustände und beginnt deutlich oberhalb des gern als Messpunkt genommenen Subsistenzlevels. Oakes schlägt vor, eine Vielzahl von Deprivationsformen (da bis dx) zu hantieren, an denen man die relative Position einer Person in Bezug auf ihren Zugang zu lebensnotwendigen Gütern und das Ausmaß ihrer Partizipation am gesellschaftlichen Leben messen kann. Man bestimmt etwa erst, ob die zum Überleben notwendige Versorgung mit Lebensmitteln garantiert ist, dann, ob die zu einem gesunden Leben notwendigen Lebensmittel vorhanden sind, und schließ————— 35 Vgl. FRIESEN, Poverty, 354–355 (der sich stützt auf MEGGITT, Paul, 135–141) mit THEISSEN, Soziale Schichtung, 240–245; DERS., Social Structure, 78–80. 36 Auch die finanziellen Möglichkeiten der Phöbe werden von Friesen anders bestimmt als von Theißen, siehe dazu unten Abschnitt 4. 37 BARCLAY, Poverty, 365. 38 OAKES, Constructing Poverty Scales for Graeco-Roman Society: A Response to Steven Friesen’s ‚Poverty in Pauline Studies‘, JSNT 26.3 (2004), 367–371. 39 Vgl. P. TOWNSEND, Poverty in the United Kingdom, Harmondsworth 1979, 31. Die Frage, welchen Armutsbegriff man zugrunde legt, ist ideologisch wie in den praktischen Konsequenzen natürlich von weitreichender Bedeutung. Die öffentlichen Diskussionen über die Regelsätze des Arbeitslosengeldes 2 („Hartz IV“) in Deutschland zeigen das in aller wünschenswerten Deutlichkeit.

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lich, inwieweit Ernährungsstandards, die einem bestimmten sozialen Status einer Person angemessen sind, erreicht werden können. Weitere Deprivationskategorien sind beispielsweise Zugang zu medizinischer Versorgung, die Freiheit von Sklaverei, die Freiheit, über die eigene Zeit selbst bestimmen zu können, die Möglichkeit, sich aus ausbeuterischen Verhältnissen befreien zu können oder die Mittel zum Ausführen bestimmter religiöser Verpflichtungen aufbringen zu können. Die Liste ist natürlich potentiell unendlich, aber es ist nicht schwer, sich auf Kernbereiche zu verständigen. Mir fiel auf, dass Zugang zur Bildung von Oakes nicht genannt wird, obwohl dies gerade im städtischen Milieu natürlich ein wichtiger Faktor sozialen Aufstiegs ist und zudem einer, der nicht in jedem Fall korreliert mit anderen Statusfaktoren. Relative Armutsskalen und auch inhaltlich profilierte Armutsprofile bestimmter Gruppen können dann aus der Kombination bestimmter Deprivationen bestimmt werden. Dabei wird übrigens auch der in vielen Fällen gegebenen Freiheit der Individuen Rechnung getragen, bei Veränderung ihrer Gesamtsituation zu wählen, in welcher Reihenfolge sie sich welche Einschränkungen auferlegen lassen bzw. ablegen.40 Oakes schlägt vor, zu untersuchen, inwieweit die urchristliche Verkündigung Einstellungsänderungen förderte, die eine Veränderung des Armutsprofils mit sich brachten, und ob sich ökonomische Effekte solcher Veränderungen im NT nachweisen lassen. Konkreter wird er leider nicht, er eröffnet einen weiten Horizont für zukünftige sozialgeschichtliche Forschung. Was die paulinischen Gemeinden betrifft, wird man die bisherigen Analysen des sozio-ökonomischen und allgemeinen Status von Individuen und Gruppen in den Gemeinden noch verbessern können durch dermaßen verfeinerte Skalen im Verband mit neuen Erkenntnissen, die Archäologie, Altertums- und vergleichende Kulturwissenschaften liefern. Wirklich interessant jedoch wird es erst, wenn man die Interaktionen von Menschen mit verschiedenem Sozial- oder Armutsprofilen in den christlichen Gemeinden untersucht, zu deren Selbstverständnis fundamental der statusunabhängige Wert jedes einzelnen Getauften gehörte.41 Diese Perspektive prägte bereits die frühen Aufsätze Theißens zum Abendmahlsstreit und zur Götzenopferfleischdebatte in Korinth, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden soll. Ich möchte ————— 40 Oaks verfolgt diesen Punkt nicht weiter, doch lassen sich hier leicht besonders auffällige urchristliche Verhaltensweisen nennen wie das in verschiedenen Quellen (Herm sim V,3,6–7; Const Apost V,20,18 u.ö.) erwähnte diakonische Fasten, auf das G. Theißen hingewiesen hat, vgl. G. THEISSEN, Die Witwe als Wohltäterin. Überlegungen zur urchristlichen Sozialmoral anhand von Mk 12,41–44, in: M. KÜCHLER/P. REINDL (Hg.), Randfiguren in der Mitte (FS Hermann-Josef Venetz), Luzern/Freiburg (Schweiz) 2003, 171–182, 180f. 41 Vgl. G. THEISSEN, Wert und Status des Menschen im Urchristentum, Humanistische Bildung 12 (1988), 61–93.

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vielmehr einige Gedanken aus neueren Veröffentlichungen Theißens besprechen, die eine Anwendung auf andere sozialgeschichtlich relevante Entwicklungen in der Geschichte des hellenistischen Urchristentums beleuchten.

3. Der Widerspruch zwischen Selbstverständnis und Sozialstruktur als Schlüssel zur Sozialdynamik des hellenistischen Urchristentums In der Festschrift für Jerome Neyrey hat Gerd Theißen die Sozialdynamik im Urchristentum durch Widersprüche zwischen Selbstverständnis und Sozialstruktur untersucht, der leitende Vergleichspunkt waren dabei antike Vereine als diejenigen freiwilligen Zusammenschlüsse von Menschen, die soziologisch betrachtet die meisten Berührungen zur Organisation der urchristlichen Gemeinden aufweisen.42 In ihrem Selbstverständnis wollten die ersten Christen kein Kultverein sein, vielmehr treten sie mit dem eschatologischen Programm an, eine neue Menschheit zu repräsentieren. Dazu orientierten sie sich an den primären Institutionen der antiken Welt, Ethnos, Polis und Oikos. Sie wollten das eschatologische Volk Gottes sein, in dem ethnische und soziale Differenzen aufgehoben sind, wer ihm angehörte, war „nicht mehr Grieche oder Jude […], Barbar, Skythe, Sklave, Freier“ (Kol 3,11). Sie orientierten sich an ihrem RQNKVGWOCim Himmel (Phil 3,20), ihre wichtigste Selbstbezeichnung war GXMMNJUKC, was in erster Linie Assoziationen zur Volksversammlung der Polis weckte. Sie versammelten sich als GXMMNJUKCPMCV8QKMQPin privaten Häusern und verstanden sich untereinander als Schwestern und Brüder. In ihrer Organisationsform aber, so die Ausgangsthese von Theißen, der auch hier im Einklang mit einem großen nicht so neuen Konsens ist, weisen sie die meisten Übereinstimmungen mit antiken Vereinen auf. Ich bespreche aus der Vielzahl der in diesem Aufsatz präsentierten Thesen diejenigen, die ich im Blick auf die Frage der Interaktion von Gemeindegliedern mit verschiedenem Sozialstatus besonders interessant finde. Die wöchentlichen Mahlfeiern spielen schon durch ihre Häufigkeit eine herausgehobene Rolle im Gemeindeleben. Theißen hält zunächst fest, dass sie für die Armen auch ganz schlicht ein nicht selbstverständlicher Beitrag zum Lebenserhalt sind: ————— 42 G. THEISSEN, Urchristliche Gemeinden und antike Vereine. Sozialdynamik im Urchristentum durch Widersprüche zwischen Selbstverständnis und Sozialstruktur, in: A.C. HAGEDORN/Z.A. CROOK/E. STEWART (Hg.), In Other Words: Essays on Social Science Methods and the New Testament in Honor of Jerome H. Neyrey, Sheffield 2007, 220–246. Dieser Aufsatz lag mir als Worddatei des Autors vor, daher erfolgen keine spezifizierten Hinweise auf Seitenzahlen.

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Die Attraktivität der frühen christlichen Gemeinden war nicht zuletzt darin begründet, dass sie ca. 50 mal im Jahr ein kostenloses Essen für einfache Menschen anbot. […] Vielleicht entstanden die Agapen auch deshalb, weil man hin und wieder die ärmeren Mitbrüder und Mitschwestern zu einem reichlichen Essen einladen wollte!

Weil die Mahlzeiten immer in Privathäusern gehalten wurden, Essenseinladungen in Privathäuser in der Antike aber Zeichen eines relativen Wohlstands sind, wertet Theißen die regelmäßige Teilnahme am Gemeindemahl als Aneignung von Verhaltensweisen der Oberschicht durch einfache Menschen und erklärt die antike Polemik gegen die verschwenderischen Gastmähler der Christen als Reflex auf dieses standesunübliche Verhalten. Den Gastgebern, die die Räumlichkeiten und wahrscheinlich auch einen Teil des Essens zur Verfügung stellten, kam damit eine besonders wichtige Rolle im Gemeindeleben zu. Sie waren sozusagen die geborenen Amtsträger und konnten nach gemeinantiker Mentalität Ehrungen in verschiedenster Form erwarten. Wenn Paulus die Leistungen einzelner für die Gemeinde in seinen Briefen hervorhebt, dann sind dies in der Tat öffentliche Ehrungen, aber insgesamt betrachtet zeigen die urchristlichen Schriften, dass die antike Wohltätermentalität kritisiert wird (Mt 6,2–4) und das System der Ehrungen sich nicht an materiellen Kriterien orientierte, sondern die Dienstbereitschaft zum zentralen Wert erhob (Lk 22,25–27). Theißen beschreibt eine ganze Reihe von Mechanismen, die die Gemeinden davor bewahrten, zur Sozialklientel weniger Reicher zu werden und die in den eigenen Reihen das Bewusstsein vom statusunabhängigen Wert jedes Getauften wach hielten. Die „Demokratisierung der Wohltätermentalität“ gehört dazu,43 in Teilen des Urchristentums die Besoldung der Amtsträger, und die Kultivierung der aus der frühen Jesusbewegung stammenden Reichtumskritik. Auch dass man anders als antike Vereine im Allgemeinen keine nicht-partizipierenden Patrone akzeptierte, gehört hierher. Theißen rechnet allerdings im Anschluss an John Kloppenborg mit der Möglichkeit, dass die in Jak 2 beschriebene fiktive Szene von dem Reichen und dem Armen, die in die Gemeindeversammlung kommen, das Problem solcher den Gemeindenormen entzogener reicher Patrone zum Hintergrund hat, dass es sie also vereinzelt gegeben hat.44 Ich möchte meinen Beitrag abschließen mit einigen Gedanken zu dem kurzen Empfehlungsbrief für die Überbringerin des Römerbriefes in Röm ————— 43 Vgl. dazu ausführlich G. THEISSEN, „Geben ist seliger als nehmen“ (Apg 20,35). Zur Demokratisierung antiker Wohltätermentalität im Urchristentum, in: Andrea BOLUMINSKI (Hg.), Kirche, Recht und Wissenschaft (FS A. Stein), Neuwied 1995, 197–215, sowie THEISSEN, Witwe. 44 J.S. KLOPPENBORG, Patronage avoidance in James, Hervormde Teologiese Studies 55 (1999) 755–794. Vgl. auch G. THEISSEN, Nächstenliebe und Egalität. Jak 2,1–13 als ein Höhepunkt neutestamentlicher Ethik, in: P. VON GEMÜNDEN/M. KONRAD/G. THEISSEN, Der Jakobusbrief. Beiträge zur Rehabilitierung der „strohernen Epistel“, BVB 3, Münster: 2003, 119–142.

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16,1–2. Denn dieser Text kann einen interessanten Hinweis geben auf die Stellung von (praktizierenden) Patronen in den paulinischen Gemeinden.

4. Phöbe: Schwester und Patronin Gerd Theißen hat nie zu denen gehört, die Phöbe die Rolle einer für Kranke sorgenden Diakonisse zuteilten. Die Gemeinde in Kenchreai wird sich bei ihr getroffen haben, formulierte er 1974 und wies darauf hin, dass die Hilfe, die Paulus und andere von ihr bekommen haben, wohl auch materieller Art war.45 Seither hat die Exegese vor allem herausgearbeitet, dass die abschließende Formulierung MCKICTCWXVJRTQUVCVKLRQNNYPGXIGPJSJMCKGXOQWCWXVQW auf technische Sprache rekurriert und auf eine RTQUVCUKC, eine Patronatsfunktion der Phöbe weist, die sie gegenüber Paulus und vielen anderen wahrgenommen hat. Diese umfasste neben ökonomischer Unterstützung wahrscheinlich vor allem auch die rechtliche Vertretung gegenüber lokalen Behörden.46 Wie präsentiert nun Paulus diese Frau gegenüber einer Gemeinde, der sie unbekannt zu sein scheint? Die Empfehlung der Phöbe wird eingeleitet mit ihrer Vorstellung als unsere Schwester (5WPKUVJOKFGWBOKP)QKDJPVJP CXFGNHJPJBOYP) was sie als Christin und Mitarbeiterin des Paulus kennzeichnet.47 Was die Bezeichnung QWUCP#MCKFKCMQPQPVJLGXMMNJUKCLҏVJLGXP -GIETGCKL betrifft, so habe ich in zwei Beiträgen die These plausibel zu machen versucht, dass dies nicht auf ein Amt in Kenchreai zu beziehen ist, sondern ihren aktuellen Auftrag in Rom beschreibt.48 Für die Übermittlung des Römerbriefes und die Vorbereitung der Spanienmission in Rom ist sie von ihrer Heimatgemeinde zur Unterstützung des Paulus abgeordnet worden, ein Verfahren, für das es Parallelen gibt.49 Auf jeden Fall wird ihre Aktivität als Dienst in oder im Auftrag einer Gemeinde charakterisiert. Die ————— 45 THEISSEN, Soziale Schichtung, 249–250. 46 Vgl. SCHÜSSLER-FIORENZA, Gedächtnis, 217–220 und M. ERNST, Die Funktionen der Phöbe (Röm 16,1f) in der Gemeinde von Kenchreai, Protokolle zur Bibel 1 (1992), 135–147. 47 Paulus versieht seine männlichen Mitarbeiter regelmäßig mit dem Titel „Bruder“, manchmal in Kombination mit anderen Attributen. Vgl. 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; 2,13; 8,18.22–23; 9,3; Phil 2,25; 1Thess 3,2; Phlm 1; Kol 1,1. 48 Vgl. A. MERZ, Im Auftrag der Gemeinde von Kenchreä: Phoebe als Wegbereiterin der Spanienmission, in: B. BECKING/J.A. WAGENAAR/M.C.A. KORPEL (Hg.), Tussen Caïro en Jeruzalem. Studies over de Bijbel en haar Context, Utrechtse Theologische Reeks 53, Utrecht 2006, 83–97 und DIES., Phöbe, Diakon(in) der Gemeinde von Kenchreä – Eine wichtige Mitstreiterin des Paulus neu entdeckt, in: A.M. VAN HAUFF (Hg.), Frauen gestalten Diakonie. Bd. 1: Von der biblischen Zeit bis zum Pietismus, Stuttgart 2007, 125–141. 49 Die nächste Parallele ist 2Kor 8,23, zur Rekrutierung von Gemeindegesandten als Mitarbeiter vgl. auch 1Kor 16,15–18; Kol 4,12f; Phlm 13 und MERZ, Phöbe, 136–137.

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römische Gemeinde ihrerseits wird zu einem doppelten Gegendienst verpflichtet, nämlich sie im Herrn aufzunehmen, wie es Heiligen zukommt, und ihr beizustehen „in welcher Sache sie auch immer eurer bedarf“ (RCTCUVJVGCWXVJ^GXPY^C PWBOYPETJ^\J^RTCIOCVK). Die Aufforderung zu umfassender Hilfsbereitschaft Phöbe gegenüber steht in einer erklärungsbedürftigen Spannung zu der direkt darauf folgenden Begründung, Phöbe sei in der Vergangenheit für viele und auch Paulus selbst eine RTQUVCVKL gewesen, wenn dies auf die Institution des Patronats weist. Friesen bestreitet dies dann auch energisch: Judge’s argument that RTQUVCVKLmeans ‚patron‘ or ‚benefactor‘ here is clearly wrong for two reasons: RTQUVCVKLis not the normal term for a benefactor; and Paul asks the Romans to help her when she arrives, which would be inappropriate for a client (Paul) to do on behalf of his benefactor.50

Was die Terminologie betrifft, ist RTQUVCVKL zwar nicht der normale Ausdruck zur Bezeichnung einer Wohltäterin, wohl aber das griechische Pendant des lateinischen patrona.51 Richtig ist, dass es antiker Konvention zuwiderläuft, dass Klienten sich ihres Patrons annehmen. Hier zeigt sich die Souveränität des Paulus im Umgang mit einer ihm und den meisten anderen Christen sozial übergeordneten Patronin, deren gesellschaftlicher Status dankbar erwähnt wird, jedoch eine charakteristische Neubewertung erfährt. Erstens wird die RTQUVCVKL rhetorisch deutlich nachgeordnet gegenüber den davor genannten und damit gewichtigeren Prädikaten CXFGNHJ und FKCMQPQL. Zweitens wird ihre Patronatstätigkeit eingeordnet in den innerchristlichen Austausch von Diensten, was nicht zum antiken Konzept des Patronats passt, das per definitionem eine Form asymmetrischer Reziprozität darstellt.52 Die Notiz über Phöbe enthüllt, dass die ersten Christen ihrem Selbstverständnis, eine neue Menschheit jenseits sozialer, ethnischer und geschlechtsspezifischer Hierarchien zu repräsentieren, auch Ausdruck gaben, indem sie die Institution des Patronats zugleich respektierten und unterliefen.53 ————— 50 FRIESEN, Poverty, 355. 51 Vgl. BDR § 5.316. 52 Vgl. STEGEMANN/STEGEMANN, Sozialgeschichte, 41–43. 53 Die zuerst von feministischen Theologinnen kritisch aufgearbeitete Geschichte der die Rolle Phöbes unterbewertenden Übersetzungen von Röm 16,1–2 zeigt, dass die bewusst gewählte Spannung zwischen Ausdrücken aus der Sphäre der symmetrischen und der asymmetrischen Solidarität lange Zeit gänzlich vergessen war, wozu das Faktum, dass es sich um einen weiblichen Patron handelt, natürlich beigetragen hat. So liest die Einheitsübersetzung noch stets „sie hat vielen, darunter auch mir, geholfen“ und nach der revidierten Lutherübersetzung hat Phöbe „vielen beigestanden“. New American Bible und New Revised Standard Version übersetzen nun mit „benefactor“ und legen damit den Schwerpunkt einseitig und möglicherweise zu Unrecht auf die ökonomische Seite des patron-client-Verhältnisses. Jede moderne Übersetzung hat damit zu

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Mit dieser kleinen Detailbeobachtung, die sich, wie ich finde, gut einpasst in die Erforschung der Sozialdynamik der sozial differenzierten paulinischen Gemeinden, die Gerd Theißen entscheidend initiiert und über viele Jahre mit wertvollen Beiträgen stimuliert hat, möchte ich schließen. Nicht ohne dem Jubilar noch viele fruchtbare Jahre zu wünschen und den Wunsch zu äußern, er möge am Haus der Sozialgeschichte weiterbauen, und vielleicht irgendwann ein weiteres Stockwerk hinzufügen, etwa in der Form einer Sozialgeschichte der hellenistischen Gemeinden oder auch der Veröffentlichung eines (schon lange konzipierten und in Fragmenten mündlich tradierten) Paulusromans.

————— kämpfen, dass die Institution des antiken Patronats in modernen westlichen Gesellschaften unbekannt und heutigen Menschen auch gefühlsmäßig fremd ist.

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Das Neue Testament als literaturgeschichtliches Problem

In seinem Buch Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem (2007) hat Gerd Theißen, der nicht nur Neutestamentler sondern auch ausgebildeter Germanist ist, einen umfassenden Entwurf zu einem alten Problemkreis vorgelegt. Er stellt dabei seinen „Grundriss einer Literaturgeschichte des Neuen Testamentes“ (7) bewusst in die Tradition seines Heidelberger Vorgängers Martin Dibelius (1926) und seines Bonner Doktorvaters Philip Vielhauer (1975), die beide jeweils das Besondere der neutestamentlichen Schriften im Vergleich mit der Literatur der Zeit betonten, während die beiden anderen Heidelberger Autoren, die dankbar erwähnt werden, Klaus Berger (1984) und Albrecht Dihle (1989), mehr die Gemeinsamkeiten der neutestamentlichen Schriften mit der antiken Literatur herausstellten. Die Entwicklung des Neuen Testamentes wird in vier Phasen dargestellt. Die erste Phase (39ff) umfasst die mündlichen Traditionen, die Quelle Q, das Markusevangelium, und die echten Paulusbriefe. Die zweite Phase, die pseudepigraphe Phase (147ff), wird in Einklang mit Annette Merz (2004) als „fiktive Selbstauslegung des Paulus und Jesu“ überschrieben. Dieser Phase werden nicht nur die unechten Paulusbriefe und die Endgestalt der vier Evangelien zugeordnet sondern auch außerkanonische Schriften wie Thomas-, Ägypter-, Nazaräer-, Ebionäer-, Hebräer-, Egerton- und Petrusevangelium sowie das Berliner Fragment eines unbekannten Evangeliums. Die dritte Phase, die funktionale Phase (245ff), führte durch die „Verselbständigung von Teiltexten und Tendenzen“ zur Entstehung der Apostelgeschichte, der Johannesoffenbarung, und des Hebräerbriefes. Die vierte und letzte Phase schließlich wird als „kanonische Phase“ (277ff) bezeichnet, in der das Neue Testament seine endgültige Gestalt findet und einen festen Platz in der „religiösen Weltliteratur“ erhält. Abgeschlossen wird die Darstellung mit einer „Schlussbetrachtung“ (347ff), die die wichtigsten Punkte nochmals thematisiert. Mit forschungsgeschichtlich geprägter Terminologie der „Urliteratur“ (347) und „Kleinliteratur“ (349) lässt Gerd Theißen hier sein sozial-geschichtliches Herz zu Worte kommen. Das Neue Testament wird als „Literatur literaturferner Kreise“ verstanden. „Hier erhielten Menschen eine Stimme, die sonst stumm geblieben wären. […] Für Gebildete mit klassizistischer Ästhetik waren die neutestamentlichen Schriften im Stil kleiner Leute geschrieben,

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Das Neue Testament als literaturgeschichtliches Problem

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sie gehörten zum sermo humilis“ (349). „Die Geschichte der urchristlichen Literatur […] dokumentiert den Weg von charismatischen Anfängen zu einer Kirche mit belastbaren Institutionen. Sie zeigt Spuren einer in den Unterschichten verbreiteten Bewegung, die sehr bald Mitglieder höherer Schichten für sich gewann“ (355f). Das Buch setzt eine Vertrautheit mit den neutestamentlichen Texten und den gängigen Standardwerken bei den Lesern und Leserinnen voraus. Der wissenschaftliche Konsens und gegenwärtige Lehrmeinungen werden nicht ausführlich begründet. Sätze wie „Die These von der Naherwartung als literaturhemmender Faktor ist falsch“ (30), oder „J.G. Herder hat Recht: Die Bibel ist ein Stück Literatur, Poesie der Menschlichkeit, die durch und durch als menschliches Zeugnis geschichtlich gelesen werden muss“ (32), oder „Die urchristlichen Schriften waren gewiss Kleinliteratur. Das haben die Formgeschichtler richtig erkannt“ (33) werden nicht weiter belegt. Die Behandlung des Hebräerbriefes mag als Beispiel für Gerd Theißens sorgfältigen Argumentationsstil dienen. Drei formkritische Alternativen werden diskutiert (266–269). Die erste Möglichkeit besteht darin, dass der historische Paulus etwas mit der Entstehung des Schreibens zu tun hatte. Da der Hebräerbrief aber vom Inhalt und Stil her zu eigenständig ist, scheidet Paulus als Verfasser des gesamten Briefes aus. Aber es wäre doch denkbar, dass er „das Schreiben eines anderen durch ein Postskript autorisiert“ habe, und damit in gewisser Weise ein echter Paulusbrief entstanden sei. Diese Möglichkeit wird aber zurückgewiesen, weil Gerd Theißen an der Datierung des Hebräerbriefes nach 70 festhält. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, dass ein unbekannter Herausgeber eine ursprüngliche Rede durch ein Postskript erweiterte, das so aussah als sei es von Paulus verfasst worden, weil die Rede „nur so eine Chance hatte, in den Kanon aufgenommen zu werden“. Überschrift und Briefschluss wären dann sekundär und stammten von einem Herausgeber. Diese Möglichkeit wird aber ebenfalls abgelehnt, weil der Hebräerbrief nicht nur in den letzten Zeilen, sondern bereits ab 13,1 einem Brief gleicht. Man kann also den Briefschluss aus formkritischen Gründen nicht vom vorhergehenden Text abtrennen. Die Bestimmung als Postskript ist also verfehlt. Die dritte Möglichkeit versteht den Brief als Einheit, ein Text also, der von vorneherein als pseudepigrapher Paulusbrief konzipiert wurde. Die Briefsituation, die dem 1Thessalonicherbrief zugrunde zu liegen scheint, wird als fiktiver Hintergrund des Hebräerbriefes angenommen. Das Ziel des Autors „ist es, neben den an die heidenchristliche Gemeinde in Rom gerichteten Römerbrief einen Brief an die ‚Hebräer‘ in Rom zu schreiben.“ Deswegen lässt er am Ende auch „die aus Italien“ grüßen (13,24). „Nach der Vertreibung der führenden Judenchristen aus Rom durch das Claudiusedikt

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sind einige der Vertriebenen aus Italien bei Paulus. Paulus befindet sich in Griechenland, er ist wie im 1. Thessalonicherbrief von Timotheus getrennt und wartet auf dessen Ankunft.“ Bei Gerd Theißens Diskussion der dritten Möglichkeit wird der Blick des Historikers zum Blick des Literaturkritikers, der die Einzelschrift im Gesamtrahmen des literarischen Kontexts zu verstehen sucht. Denn der Hebräerbrief ist immer Teil der Paulusbriefsammlung und nie ohne die anderen Paulusbriefe überliefert. Doch selbst hier, wenn sich der Blick weitet, möchte Gerd Theißen nur erklären, was den Briefautor bewegte, die Einzelschrift zu verfassen. Nicht das Neue Testament als Literatur ist der Untersuchungsgegenstand, sonder die Vorgeschichte der Sammlung: Wie kam der Hebräerbrief zustande? Zusammen mit seiner Die Religion der ersten Christen: Eine Theorie des Urchristentums (2000) stellt Gerd Theißens in Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem (2007) Ergebnisse seines reichen Gelehrtenlebens zusammen, das sich mit einer Vielzahl von für Theologen unüblichen Ansätzen moderner wissenschaftlicher Disziplinen intensiv und in sehr origineller Art auseinandergesetzt hat: Soziologie, Psychologie, Lokalkolorit, Evolutionsphilosophie, Pseudonymität, Religionstypologie, und nun eben auch mit Literaturkritik. Die Darstellung unterschiedlicher Positionen wird fast ausschließlich in positiver Sprache vorgetragen. Polemik sucht man vergebens. Es scheint, dass der Autor eine in seinen Augen unhaltbare Meinung lieber gar nicht referiert, als sie darzustellen und zu widerlegen. Dabei werden solide exegetische Ergebnisse in systematischer Form präsentiert, um so den Dialog der wissenschaftlichen Theologie mit anderen Disziplinen zu erleichtern und speziell die Bibelwissenschaften aus einer empfundenen gesellschaftlichen Isolation zu befreien. Der Grund für Theißens wunderbare Mischung aus sorgfältiger Erforschung des sozialen Chaos mit all seinen Ausdrucksformen und aus unermüdlichem Eifer, in dem Chaos eine Ordnung zu finden, liegt vielleicht auch in seinem didaktischen Interesse, Studierenden komplexe Sachverhalte und innovative Forschungsansätze bleibend zu vermitteln. Gerd Theißen definiert den Begriff Literatur folgendermaßen: „Von Literatur im strengen Sinne kann man erst sprechen wenn ein Text (1) schriftlich vorliegt und (2) allgemeine Adressaten hat“ (39). An anderer Stelle schreibt er: „Literatur kommt von littera (Buchstabe). Eine Normaldefinition könnte jeden geschriebenen und gedruckten Text als Literatur bestimmen. Aber Quittungen, Formulare und Listen, also Texte ohne zusammenhängende Sätze, sind trotz ihrer schriftlichen Form keine Literatur. […] Literatur sind zusammenhängende mündliche und schriftliche Texte, die ihrer Natur und Intention nach öffentlich sind.“ (17)

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Das Neue Testament als literaturgeschichtliches Problem

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Eine alte Unterscheidung, die schon bei Deissmann (1923) Eingang gefunden hat in die neutestamentliche Diskussion, ist die Unterscheidung von Urkunde und Literatur, die auch heute noch in der Papyrologie bei der Klassifizierung neu entdeckter Papyri eingesetzt wird (Englisch: literature versus document). Wie unterscheiden sich Urkunden von Literatur? Urkunden existieren nur im Original, Literatur existiert nur in Kopien. Auf diesem Hintergrund erscheint der Literaturbegriff Gerd Theißens verwirrend. Bei der Klassifizierung eines Schriftstücks geht es nicht darum ob der Verfasser das Schriftstück für ein breites Publikum konzipiert hat, sondern um die Frage, ob das Schriftstück tatsächlich veröffentlicht wurde. So ist zum Beispiel ein Romanmanuskript, das vom Verlag abgelehnt wird, nicht Literatur sondern Urkunde. Ein Brief, nur für die Geliebte bestimmt, ist Urkunde. Sobald der Brief aber in einem Sammelband veröffentlicht wird, wird die Urkunde zur Literatur. In diesem Sinne sind die Schriften des Neuen Testamentes Literatur, nicht Urkunden. Das Neue Testament als Sammlung ist als Publikation des zweiten Jahrhunderts zu verstehen (Trobisch 2000). Gerd Theißen ist aber nicht am zweiten Jahrhundert interessiert sondern an den Quellen, die zum Neuen Testament verarbeitet wurden, wie oben am Beispiel der Behandlung des Hebräerbriefes gezeigt wurde. Und damit gerät die Untersuchung in eine kaum aufzulösende Spannung. Gerd Theißen liefert eine ausgezeichnete Darstellung der gegenwärtigen wissenschaftlichen Einsichten um die Vorgeschichte des Neuen Testamentes. Das Buch aber hört da auf, wo eine Literaturgeschichte m.E. anfangen müsste, an dem Punkt, an dem das Neue Testament als zweiter Teil der christlichen Bibel zur Literatur geworden ist. Literatur ist eine Kunstform. Die Schriften des Neuen Testamentes sind Schöpfungen, die sich nicht mit der klassischen Literatur des Altertums messen können, wie Gerd Theißen und seine Vorgänger korrekt festhalten. So wie Lieder im Gesangbuch Volkskunst darstellen, so wie die Sonntagspredigt sich nicht mit einem Theatermonolog vergleichen will, so sind auch die neutestamentlichen Schriften keine literarischen Meisterwerke. Aber sie sind Kunst. Und der Umgang mit Kunst ist ein liebevoller Umgang: Liebe hofft alles, Liebe glaubt alles, und Liebe erträgt alles. So kann ein liebevoller Umgang mit Literatur Diskrepanzen ertragen, die dem Historiker unerträglich erscheinen. Warum gehen Dichter mit der historischen Wirklichkeit so großzügig um? Warum stellen Maler die Welt anders dar als man sie mit den eigenen Augen sieht? Warum müssen Musiker Lieder schreiben um die Wirklichkeit zu erfassen? Es gibt darauf keine ganz klare Antwort. Falls der Versuch

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gelingt, bezeichnen wir das Ergebnis als Kunst und die Leute, denen es gelingt, unsere Erfahrung zu verzaubern und zu erweitern, als Künstler. Theologie und Kunst sind verwandt. Das Reden von Gott verweist auf eine menschliche Erfahrung, die sich der intersubjektiven Messbarkeit entzieht, ähnlich wie Schmerz oder Freude oder Trauer oder Einsamkeit. Betrachtet man das Neue Testament als Literatur, so stellt sich die Frage gar nicht, wer den Hebräerbrief geschrieben hat. Selbstverständlich Paulus. Bis ins 8. Jahrhundert wird er in den Handschriften zwischen dem 2Thess und dem 1Tim überliefert, mitten in der Paulusbriefsammlung. Und selbst eine oberflächliche Lektüre des Neuen Testaments stellt fest, dass die Paulusbriefe nach Adressaten benannt sind (An die Römer, Korinther, Galater usw.) während die katholischen Briefe ihre Titel von den Autoren bezieht (Jakobus, Petrus, Johannes, Judas). Der Titel „An die Hebräer“ macht den Lesern klar, dass es sich hier um einen Paulusbrief handelt. Die Frage, die sich den Lesern oder Leserinnen des Neuen Testamentes stellt, ist eine andere: Warum der unterschiedliche Stil? Warum die unterschiedliche Theologie? Und warum schließt Paulus den langen Brief – nur der Römerbrief ist länger – mit den Worten: Ich habe euch heute nur in aller Kürze geschrieben? Das sind die Fragen, die sich dem Literaturkritiker stellen, nicht die Frage der Autorschaft. Diese Gedanken sind als Anregung zum Ausdruck gebracht, in der Hoffnung, dass auf Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem noch ein weiteres Buch folgt, das weiterführt, was hier so meisterhaft begonnen wurde. Denn so ein Buch, das das Neue Testament auf dem Hintergrund des zweiten Jahrhunderts und nicht des ersten Jahrhunderts versteht, ist noch nicht geschrieben.

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Das Neue Testament als literaturgeschichtliches Problem

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Literatur K. BERGER, „Hellenistische Gattungen im Neuen Testament“, in: W. HAASE, Principat 25, 2: Vorkonstantinisches Christentum: Leben und Umwelt Jesu; Neues Testament. Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Berlin 1984. A. DEISSMANN, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-roömischen Welt, Tübingen 1923. M. DIBELIUS, Geschichte der urchristlichen Literatur. Theologische Bücherei, Bd. 58, München 1975 (1926). A. DIHLE, Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit: von Augustus bis Justinian, München 1989. A. MERZ, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus: intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe. Novum Testamentum et orbis antiquus/Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, Bd. 52, Göttingen 2004. D. TROBISCH, The First Edition of the New Testament, Oxford 2000. G. THEISSEN, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem. Schriften der Philosophisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 40, Heidelberg 2007. G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen: eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000. P. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur: Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Vaäter, Berlin 1975.

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Oda Wischmeyer

Was meint „Literaturgeschichte des Neuen Testaments?“ Ein Gespräch mit Gerd Theißen

Am Anfang und am Ende neutestamentlicher Wissenschaft steht das schmale literarische Corpus jener 27 Schriften des entstehenden Christentums, die zwischen 50 und ca. 130 n.Chr. entstanden und im Laufe des 2. bis 4. Jahrhunderts als Kanon des „Neuen Testaments“ neben den bereits bestehenden Kanon der Heiligen Schrift(en) des Judentums in Gestalt der Septuaginta traten. Alle Unternehmungen der neutestamentlichen Wissenschaft, seien sie den Spielarten historischer Forschung, der frühkaiserzeitlichen politischen Geschichte, der Sozial- und Kulturgeschichte, der jüdischen oder hellenistisch-römischen Religionsgeschichte und Philosophie, oder aber den theoriebezogenen Unternehmungen der Soziologie, Psychologie oder Hermeneutik verpflichtet, seien sie also historische Rekonstruktion oder theoriegeleitete Konstruktion und Interpretation des frühesten Christentums, werden auf die literarische Hinterlassenschaft des frühesten Christentums – die neutestamentlichen Schriften und die antiken christlichen Apokryphen sowie die Apostolischen Väter – bezogen, indem man diese als historische Quellen oder als Belege für Theorien für die Geschichte oder das religiöse System des entstehenden Christentums versteht und interpretiert. Die materiale Hinterlassenschaft der Christen beginnt mit den ersten neutestamentlichen Papyri aus dem 2. Jahrhundert, einigen epigraphischen Zeugnissen aus der Zeit um 200 n.Chr. und den ältesten Katakomben und Sarkophagen sowie der Hauskirche aus Dura Europos von ca. 250 n.Chr. Die umfangreichen Arbeiten der materialbezogenen Disziplinen der Archäologie, Epigraphik und Papyrologie bleiben in Bezug auf die Rekonstruktion der Anfänge des Christentums daher der Literatur der ersten Christen nachgeordnet. Die Christen traten zuerst literarisch in Erscheinung. Dieser Umstand hat stets die grundlegende Bedeutung der neutestamentlichen Schriften ausgemacht: Wir haben hier die sog. „Urliteratur“ des Christentums vor uns, ob wir nun diesen Begriff im Sinne des Prozesses der Kanonbildung und der Kirchenväter als „apostolisch“ oder mit der Reformation als „Schrift“ definieren, ob wir den weniger theologisch bestimmten humanistischen Gedanken der Rückkehr zu den ursprünglichen Quellen verfolgen oder ob wir „Urliteratur“ mit den spezifischen Merkmalen der Neuschaffung literarischer Gattungen (Evangelium) und der unauflöslichen

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Was meint „Literaturgeschichte des Neuen Testaments“?

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Bindung an ihren Autor (Gebrauchsliteratur der Paulusbriefe) füllen, die Franz Overbeck dem Begriff gegeben hat, d.h. ob wir nun den theologischen, den historischen oder den literaturgeschichtlichen Zugang wählen. Wenn Gerd Theißen der „neutestamentlichen Literatur“ eine neue programmatische Studie widmet, ist das wissenschaftliche Interesse also dementsprechend groß. Wie geht er das Phänomen der christlichen Urliteratur an? Die Antwort lautet: Natürlich historisch und natürlich theoretisch. Dies Programm möchte ich in meinem Beitrag, der Gerd Theißen zum 65. Geburtstag gewidmet ist, vorstellen und kritisch beleuchten.

I. Die Literatur Ich erschließe Theißens Ansatz in mehreren Schritten. Zunächst stellt sich die Frage: Was versteht Theißen unter „Literatur“? Er diskutiert diese Frage in seiner Einleitung. Literatur definiert er zunächst ganz allgemein und offen: „Literatur sind zusammenhängende mündliche und schriftliche Texte, die ihrer Natur und Intention nach öffentlich sind“.1 Eine zweite Definition präzisiert den Radius des Begriffs: „Literatur sind zusammenhängende mündliche und schriftliche Texte, die ihrer Natur und Intention nach öffentlich sind und nicht in ihrem unmittelbaren Gebrauchswert aufgehen“.2. Dies Merkmal des „überschießenden Sinn(es)“3 – wobei er das vieldeutige Wort „Sinn“4 unbestimmt lässt: meint er „tiefere Bedeutung“, „Wert“ oder „Funktion“? – ermöglicht ihm, die neutestamentlichen Schriften als „Literatur“ im engeren Sinne zu verstehen. Eine weitere inhaltliche Fokussierung bringt ihn zu seiner Textgruppe, den Texten des Neuen Testaments, die er als religiöse Literatur versteht: „Nun haben viele Textsorten5 über ihren Gebrauchswert hinaus einen Wert, religiöse Literatur ebenso wie Dichtung“.6 Sein Ausgangspunkt ist also die religiöse Literatur, die er von vornherein von der Dichtung unterscheidet. Dabei kommt er durchaus auf die literarische Qualität und die mögliche Poetizität der neutestamentlichen Literatur als eines ihrer Merkmale zu sprechen, weist ihr aber einen nachgeordneten Platz an: „Poetizität besteht darin, dass sich Texte in ihrer sinn————— 1 G. THEISSEN, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem, SHAW.PHK 40, Heidelberg 2007, 17. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Vgl. C. HARDMEIER u.a., Art. Sinn, in: O. WISCHMEYER u.a., Lexikon der Bibelhermeneutik, Berlin/New York 2009, 549–556. 5 Theißen meint wohl eher Textgruppen, denn weder religiöse Literatur noch Dichtung stellen eine Textsorte dar. 6 THEISSEN, Entstehung, 17.

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lichen Erscheinungsform […] auf sich selbst beziehen. Im Neuen Testament gibt es viele Texte mit solch einer selbstreferentiellen poetischen Qualität: Hymnen, Seligpreisungen, Doxologien, das Vaterunser. Zur Literaturgeschichte des Neuen Testaments gehört es, dass man die Poesie des Neuen Testaments herausarbeitet. Seine poetische Qualität (im engeren Sinne) ist freilich nicht das Entscheidende“.7 Vielmehr betrachtet Theißen die Aspekte der Bildlichkeit, der Fiktionalität und vor allem der Formensprache als die wichtigeren Konstituenten einer neutestamentlichen Literaturgeschichte: „Diese Formensprache ist der primäre Gegenstand einer Literaturgeschichte des Neuen Testaments“.8 Theißen setzt die „Formensprache“ mit den Gattungen gleich9 und versteht die neutestamentliche Literatur von ihren Gattungen her: „Evangelien und Briefe sind die beiden Grundformen, die mehrfach vertreten sind […]. Die drei Nebengattungen, Apostelgeschichte, Apokalypse und der Hebräerbrief, der notdürftig als Brief gerahmt ist, sind dagegen mit nur je einem Exemplar vertreten“.10 Damit bewegt er sich in Kontinuität zur neutestamentlichen Literaturforschung von Overbeck über die Formgeschichte bis zu David E. Aune. Stets wird die Gattungsfrage als die Leitfrage der historischen Rekonstruktion verstanden. Wenn man Theißens Literaturbegriff mit den Definitionsdiskursen in den Literaturwissenschaften vergleicht, erweist sich dieser Zugang als ebenso aktuell und praktikabel wie differenzierungsbedürftig. Klaus Weimar unterscheidet in seinem Artikel „Literatur“ im „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“ sechs Bedeutungen von „Literatur“11, von denen zwei, nämlich die Bedeutungen (1) und (3) in unserem Zusammenhang wichtig sind. Während (1) die „Gesamtheit des Geschriebenen bzw. Gedruckten überhaupt“12 meint und den Begriff damit deutlich unterbestimmt lässt, schränkt (3) den Radius dessen, was als „Literatur“ verstanden werden soll, rigoros ein. Der Literaturbegriff (3) gilt lediglich der „Gesamtheit besonderer Texte“ und meint den „Gegenstand der Literaturwissenschaft, wobei die Besonderheit ausdrücklich oder unausdrücklich als Literarizität […] gefaßt wird und die unter diesen Begriff fallenden Texte allgemein das Attribut ‚literarisch‘ erhalten“.13 Die hermeneutischen Konsequenzen dieser Spielart des Literaturbegriffs sind gravierend. Weimar beschriebt sie folgendermaßen: „Die praktische Bestimmung einzelner Texte als literarischer gemäß ————— 7 8 9 10 11 12 13

THEISSEN, Entstehung, 18f. THEISSEN, Entstehung, 19. Ebd. THEISSEN, Entstehung, 19f. K. WEIMAR, Art. Literatur, RLW 2, 2000, 443–448. WEIMAR, Art. Literatur, 443. Ebd.

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Was meint „Literaturgeschichte des Neuen Testaments“?

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Bedeutung (3) nehmen Erwachsene in unserem Kulturkreis relativ sicher und jedenfalls selbstverständlich so vor, daß sie ihnen gegenüber eine besondere Lese-Einstellung (Rezeptionshaltung) einnehmen: Man suspendiert die Referenz und läßt dahingestellt sein, ob auch stimmt (zutrifft, jemals der Fall war), was man liest. Die theoretische Bestimmung der Eigenart solcher Texte setzt daher mit Vorteil bei den Anlässen zur automatisierten Wahl dieser Lese-Einstellung an“.14 Weimar nennt solche Signale: das Schriftbild (für Handschriften, die antike Texte überliefern, nur sehr bedingt relevant),15 Überkomplexität der Sprache, Unverträglichkeit mit „den derzeit gültigen Vorstellungen von der Beschaffenheit der Welt“ (ebenfalls für antike Texte nur ganz bedingt anwendbar),16 „Allwissenheit und Omnipräsenz eines Erzählers“17 sowie Fragen im Zusammenhang mit der Autorschaft. Die beiden letzten Kriterien lassen sich auch auf antike Texte anwenden. Weimar fährt fort, indem er den Umgang mit den genannten „Inkompatibilitäten“18 zwischen normaler Welterfahrung und literarischer Darstellung mit dem Begriff der Fiktion beschreibt: „Wenn man […] dergleichen Inkompatibilitäten unaufgelöst bestehen lässt, weil die üblichen Erklärungen (Unwissenheit, Irrtum, Lüge) nicht greifen, dann versetzt man eben damit den betreffenden Text als ganzen in den Zustand Fiktion, und dann hört er auf, qua Sprache als Mittel zu dienen, und wird statt dessen selbst zum Objekt […]. Als literarische Texte qualifizieren sich demnach solche, die nachweislich Anlaß bieten, die übliche Lese-Einstellung abzulösen durch eine andere, und die sich dazu anbieten, als Gegenstand auch zu anderen Zwecken als zu dem der Information über anderes in Gebrauch genommen zu werden: zum Zeitvertreib, zum Genußmittel, als Objekt der Beurteilung […]“.19 Gehen wir mit Weimars Literaturdefinition und ihrem wichtigsten Kriterium, der Aufhebung der Referenzqualität der Sprache auf Wirklichkeit hin, die gleichzeitig ihren Fiktionalitätscharakter ausmacht, an die Schriften des Neuen Testaments heran, dann geraten wir in ein Dilemma. Entweder handelt es sich bei den neutestamentlichen Schriften um Literatur im Sinne Weimars, dann wollen sie nicht-referentiell gelesen werden.20 Dies wäre ganz offensichtlich gegen die Intention und die Rezeption der Texte gerich————— 14 WEIMAR, Art. Literatur, 443f. 15 Insoweit sind die graphischen Hilfen in der Ausgabe von Nestle-Aland (Zitate und Hymnen usw.) natürlich bereits Interpretationshilfen. 16 WEIMAR, Art. Literatur, 444. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Vgl. dazu O. WISCHMEYER, Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, NET 8, Tübingen/Basel 2004, 141–148.

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tet und würde der Theologie ihre erste Grundlage entziehen. Oder aber es handelt sich nicht um literarische Texte, und dann wäre Theißens Ansatz verfehlt. Was wären die Texte des Neuen Testaments dann? Wir müssten sie als Fachtexte21 verstehen, nicht als religiöse Literatur, eine Lösung, die angesichts der poetischen und bildhaften Qualität22 vieler Textpassagen nur schwer vermittelbar ist.23 Nun ist Weimars Literaturdefinition aber bewusst auf die Literaturen des westlichen Literaturkreises der Neuzeit bezogen und beschränkt. Sie lässt sich weder ohne weiteres auf die antike griechischrömische Literatur in toto anwenden, noch rechnet sie mit dem Phänomen religiöser Literatur, wie es Theißen beschreibt. Außerdem gehört zu Theißens Literaturbegriff, wie schon beschrieben, das Kriterium der Fiktionalität durchaus hinzu24, er behandelt die Fiktionalität allerdings sehr dilatorisch, wenn er feststellt: „Für die ersten Christen waren diese Bilder (sc. die bildhafte Sprache der religiösen Literatur) unanfechtbare Realitäten […]. Erst ein modernes Bewusstsein muss mit sich aushandeln, was es als Dichtung und was als Realität betrachtet. Nur bei den dichterischen Texten des Neuen Testaments, bei Gleichnissen und Parabeln, gibt es zwischen antiken Autoren und modernen Lesern von vornherein ein Einverständnis über die Fiktionalität dieser Texte“.25 Diese Lösung erscheint zu glatt. Der Begriff der religiösen Literatur muss genauer bestimmt werden. Theißen selbst trägt dazu bei. Es ist nämlich deutlich, dass Theißen einem differenzierenden Literaturbegriff verpflichtet ist, der sich (1) auf vormoderne Literatur bezieht und (2) zwischen Dichtung und Literatur in dem Sinne unterscheidet, dass der Dichtung die Fiktion zugeordnet ist, während die überwiegende Anzahl der neutestamentlichen Texte zu ihrer Zeit religiöse „Literatur“ im Sinne der Information über Gott und die Menschen darstellte und nicht im Rahmen eines Fiktionalitätskonzeptes verfasst wurde und rezipiert werden wollte.26 Diese wichtige Differenzierung zwischen Dichtung und Literatur in Bezug auf den Fiktionalitätsbegriff, die Theißen einführt, ist für die antike Textwelt insgesamt unerlässlich, wie schon ein kurzer Blick auf Platon zeigt. Hier ist nämlich nicht nur die religiöse Literatur betroffen, sondern vor allem die Philosophie, besonders soweit sie kosmologische Elemente ent————— 21 Vgl. K. SALLMANN, Art. Fachliteratur, DNP 4, 1998, 386–389 mit der Übersicht in 383– 385. Eine mögliche Rubrik wäre die philosophische Literatur. 22 Vgl. THEISSEN, Entstehung, 18f, ausführlich WISCHMEYER, Hermeneutik, 159–171. 23 Vgl. allerdings die Dimension des Mythos bei Platon. 24 THEISSEN, Entstehung, 18: „Religiöse Texte […] teilen […] mit dichterischen Texten vier Merkmale: Poetizität, Bildhaftigkeit, Fiktionalität und Formgebung.“ 25 THEISSEN, Entstehung, 19. 26 Vgl. z.B. die Polemik gegen „Fabeln“ und „Mythen“ in den Pastoralbriefen (1Tim 1,4 und 2Tim 4,4 u.ö.) oder die Skepsis der Jünger gegenüber dem Osterbericht der Frauen in Lk 24,11 (lhqrow # kai?  rÖhßmata).

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hält. Nach der Definition Weimars wäre der Timaios Dichtung, und damit wäre der Kunst des platonischen philosophischen Mythos und seines ironischen Umgangs mit diesem Mythos die Spitze genommen. Die Klassische Philologie hat sich neuerdings verstärkt mit den Fragestellungen der Literaturwissenschaften beschäftigt und kommt zu ähnlichen Differenzierungen wie Theißen.27 Jörg Rüpke formuliert ein klares und dezidiertes Urteil in der Frage der Definition von „Literatur“ in der Antike: „Eine inhaltliche Einschränkung ant(iker) L(iteratur) gemäß neuzeitlicher L(iteratur)-Begriffe, die etwa mit den Kriterien der Ästhetisierung oder der Fiktionalität des Textes arbeiten, wird dem – in Form von Intertextualität indirekt, in ant(iker) Literaturtheorie direkt greifbaren – ant(iken) L(iteratur)-Verständnis nicht gerecht: Expositorische Texte können in poetischer Form verfaßt werden; griech(isch)-röm(ische) Geschichtsschreibung unterliegt der Literaturkritik und wird zum Gegenstand von Literaturgeschichtsschreibung. Die Ausbildung eines […] Literaturbetriebs ist zeitlich wie im Gattungsumfang so beschränkt, daß sie sich nicht als Abgrenzungskriterium für L(iteratur) eignet. Unbeschadet dessen bleiben weite Bereiche ant(iker) Textproduktion außerhalb lit(erarischer) Selbstreflexion“.28 Gerd Theißens Definition der neutestamentlichen Schriften als religiöser Literatur bewegt sich also im Horizont des gegenwärtigen klassischphilologischen Literaturverständnisses. Über Theißens Definition hinaus bleibt hier aber viel Bedarf und Spielraum für weitere Fragestellungen und Klärungen. Wie verhalten sich in den antiken Literaturen „Literatur“ und „Fachliteratur“ zueinander?29 Gibt es „religiöse Literatur“? Und welche Schriften zählen zur „religiösen Literatur“? Eine vertiefte Darstellung der neutestamentlichen Literatur im Rahmen einer Literaturgeschichte müsste diese Fragen bearbeiten und die neutestamentlichen Schriften in diesen Zusammenhängen positionieren.30

II. Das literaturgeschichtliche Problem (1) Gerd Theißen selbst geht nicht diesen Weg weiter, sondern verfolgt gemäß seinem Programm der „Literaturgeschichte“ eine historische Fragestellung. Er hat mit seinem Ansatz die sog. neutestamentlichen „Einleitungsfragen“ auf der Basis der Begrifflichkeit von Franz Overbeck und Martin Dibelius und im Sinne seines Lehrers Philipp Vielhauer in eine wissenschaftliche ————— 27 Vgl. T.A. SCHMITZ, Moderne Literaturtheorie und antike Texte, Darmstadt 2002. 28 J. RÜPKE, Art. Literatur I. Allgemein, DNP 7, 1999, 266–267. Rüpke weist auf den antiken Roman und die Fachliteratur hin. 29 Vgl. SALLMANN, Art. Fachliteratur, 386–389. 30 THEISSEN, Entstehung, bietet ein „Programm“ (37).

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Fragestellung gebracht, indem er das Konzept der Literaturgeschichte wieder zur Geltung bringt. Damit ist die wissenschaftlich unterbestimmte Hilfsdisziplin der „Einleitungswissenschaft“ erneut in einen allgemeinen Zusammenhang gestellt und als „literaturgeschichtliches Problem“ verstanden.31 Wie geht er mit dem Programm der Literaturgeschichte um? Die zentrale wissenschaftliche Frage: „Was wollen wir wissen?“ konkretisiert Theißen für die Sammlung der literarischen Schriften der ersten Christen in zwei Durchgängen. Er beginnt mit der Formulierung dreier Paradoxien, die es aufzulösen gilt: „Das Neue Testament ist also mit drei Paradoxien verbunden: Menschen, die den Untergang der Welt erwarten, schufen eine auf Dauer ausgelegte Literatur, als würde die Welt noch lange bestehen. Menschen aus unliterarischen Schichten griffen zur Feder und schufen eine Literatur, die bis heute lebendig blieb. Menschen, die in ihrer Bibel zu Hause waren (sc. der Septuaginta), schufen eine neue Bibel mit einer Formensprache, die nicht aus der ihnen vertrauten ‚Bibel‘ stammt“.32 In Frageform gebracht, lautet das wissenschaftliche Programm zunächst also folgendermaßen:  Weshalb schuf eine apokalyptische Gruppierung eigene Literatur?  Was motivierte und befähigte Menschen ohne literarische Bildung dazu, dauerhaft erfolgreiche literarische Werke zu verfassen?  Weshalb entwickelten diese Schriftsteller, die bereits eine „Bibel“ und damit eine normative literarische Bibliothek hatten, eine neue „Bibel“ mit neuen Gattungen, die sie nicht aus der Septuaginta übernahmen? Überraschenderweise findet Theißen für diese drei Fragen bereits in der Einleitung Antworten und macht damit zugleich deutlich, dass es bei den drei Paradoxien nicht schon um diejenigen Fragestellungen geht, die er mit seiner Untersuchung beantworten will. (1) Er weist zu Recht darauf hin, dass seit dem Buch Daniel die apokalyptische Naherwartung nicht etwa die Entstehung von Literatur hemmt, sondern eher apokalyptische Literatur hervorbringt. (2) Interessant ist Theißens psychologisch grundierte Erklä————— 31 Vgl. dazu schon die Einleitung von F. HAHN in die Neuausgabe von: M. DIBELIUS, Geschichte der urchristlichen Literatur, hg. von F. HAHN, ThB NT 58, Gütersloh 1975, 12: „Überraschenderweise ist aber bis in unsere Tage hinein das alte Konzept der ‚Einleitung‘ mit seiner literarkritischen Grundausfassung nicht verlassen worden, sondern ist nach wie vor im Gebrauch, auch wenn an Einzelstellen das Problem der mündlichen Überlieferung und damit der formgeschichtlichen Methode berücksichtigt wird. Das Konzept einer urchristlichen Literaturgeschichte, wie es Dibelius bereits im Jahre 1926 skizziert hat, ist bis heute noch nicht wirklich ausgeführt“. 32 THEISSEN, Entstehung, 29f.

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rung des Phänomens, „warum Menschen aus einer unliterarischen Unterschicht literarisch tätig wurden“.33 Er statuiert für die frühchristlichen Schriftsteller: „Ihrem Selbstverständnis nach gehörten sie nicht zu den unbedeutenden Unterschichten, sondern zur Elite der neuen Welt, zu den Erwählten, Heiligen und Berufenen“.34 Theißen sieht also in dem „hohe(n) Selbstwertgefühl“35 der ersten Christen – das religiös begründet ist – den Grund für ihre eigene literarische Produktivität. Sieht man auf Paulus, so ist diese Erklärung unmittelbar einleuchtend. Dasselbe gilt für den zweiten orthonymen neutestamentlichen Schriftsteller, den Apokalyptiker Johannes. Über das Selbstverständnis der übrigen neutestamentlichen Schriftsteller wissen wir dagegen so gut wie nichts. (3) Seine Antwort auf das dritte Phänomen, die „neue Bibel“ der ersten Christen, hat besonderes Gewicht im Horizont des „parting(s) of the ways“ genannten Phänomens. Theißen hält es für wichtig und offenkundig, dass „die Christen schon früh über die Grenzen des Judentums hinaus[drängten]“.36 Er weist darauf hin, dass Paulus mehrere Briefe verfasste, in denen er nicht die jüdische Bibel zitierte. So weit reichen Theißens Erklärungen auf grundlegende Erschließungsfragen zur Entstehung der neutestamentlichen Literatur, die erneut in großer Präzision und Kürze gestellt zu haben ein besonderes Verdienst des Buches ist. Theißens Antworten kann man nun ebenso für plausibel wie vereinfachend halten. Ich denke, dass es für alle drei Fragen sicher zu Differenzierungen kommen muss: (1) Die neutestamentlichen Schriften sind trotz des Endzeitbewusstseins ihrer Verfasser mehrheitlich keine apokalyptischen Schriften. Das führt zu folgender Frage: Welche Impulse führten dazu, dass der Verfasser des Markusevangeliums ein durchaus apokalyptisch basiertes Buch verfasste, in dem die eigentliche Apokalypse mit ihrer Zukunftsrichtung aber auf ein kurzes Kapitel reduziert wurde, während die Konzeption des Buches auf die Vergangenheit, nämlich auf die Erzählung der Worte, Taten und Todesumstände Jesu fokussiert war, so dass als erstes „christliches Buch“ ein personen- und vergangenheitszentriertes „Jesusbuch“ entstand?37 (2) Gehörte Paulus als führender pharisäischer Jude, der eine wie auch immer geartete Ausbildung in Jerusalem genossen hatte, der nach der Apostelgeschichte das römische Bürgerrecht besaß und der als Gesandter des Synhedriums in einer religionspolizeilichen Mission nach Damaskus ge————— 33 34 35 36 37

THEISSEN, Entstehung, 31. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. zur Diskussion um die Gattung allgemein zuletzt den Kommentar von A.Y. COLLINS, Mark. A Commentary, Hermeneia, Minneapolis 2007. Collins selbst versteht das Markusevangelium als „Eschatological Historical Monograph“ (COLLINS, Mark, 42–44).

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schickt wurde, tatsächlich der „unliterarischen Unterschicht“ an?38 Müssen wir hier nicht im Hinblick auf die spezifische jüdische Kultur innerhalb des imperium Romanum unsere Begriffe von Illiterarität und Unterschichten differenzieren? Und was wissen wir über die Verfasser der Evangelien? Ist es beispielsweise angemessen, den Verfasser des Johannesevangeliums als Mitglied der Unterschichten zu charakterisieren?39 Die weiterführende Fragestellung in diesem Zusammenhang muss lauten: Haben die frühkaiserzeitliche literarische Kultur einerseits und die zeitgenössische jüdische literarische Kultur andererseits ähnliche oder unterschiedliche Rahmenbedingungen? Können wir ausschließlich Schriftsteller wie den Verfasser des Aristeasbriefes,40 die jüdisch-hellenistischen Dichter, Exegeten und Historiographen sowie Philo und Josephus (und Justus von Tiberias) als „echte“ Literaten und ihre Schriften als „echte“ Literatur von jüdischer (und urchristlicher!) Seite verstehen, weil sie sich in die Kategorien hellenistischrömischer Literatur und ihrer gesellschaftlichen Kontexte einfügen? Wenn wir das tun, verwenden wir die Koordinaten der dominierenden griechischrömischen Literatur der Zeit, die die Eigenart der umfangreichen und sprachlich, soziologisch, gattungsbezogen und sachlich sehr heterogenen jüdischen Literatur, die in der Septuaginta und damit im alexandrinischen jüdisch-hellenistischen Kultur- und Literaturbetrieb kulminiert, ohne mit ihr identisch zu sein, weder angemessen wahrnehmen noch beschreiben kann.41 Übrigens kann die griechisch-römische Literatur sich auch nur sehr begrenzt selbst beschreiben: Es bleiben nämlich „weite Bereiche ant(iker) Textproduktion außerhalb lit(erarischer) Selbstreflektion“, wie Jörg Rüpke formuliert.42 Als Beispiele nennt Rüpke den Roman und „weite Bereiche der Fach-L(iteratur)“.43 (3) Dass „der Besitz einer Bibel (nicht) die Produktion einer neuen Bibel“ verhindern muss,44 ist schon bei einem flüchtigen Blick auf die frühjüdische Literatur evident. Diese wächst im Zeitalter des Hellenismus stetig, obgleich die Tora im Sinne des Tanak bereits abgeschlossen ist, und die Septuaginta fügt der hebräischen Bibel Israels eine Reihe weiterer Schriften hinzu. Auch die Qumrangemeinschaft hat weitere Schriften neben den Kanon gestellt, die innerhalb der Gemeinschaft mindestens in besonderer ————— 38 THEISSEN, Entstehung, 31. 39 Diese Frage muss gestellt werden, auch wenn Theißen selbst das Phänomen der Literarizität bedenkt und die Vorstellung der Unterschichtenliteratur modifiziert: THEISSEN, Entstehung, 33f, Anm. 34. 40 Vgl. dazu jetzt K. BRODERSEN (Hg.), Der König und die Bibel. Griechisch und Deutsch, RUB18576, Stuttgart 2008. 41 Vgl. I. WANDREY, Art. Literatur IV. Jüdisch-Hellenistisch, DNP 7, 1999, 288–293. 42 RÜPKE, Art. Literatur I. Allgemein, 267. 43 Ebd. 44 THEISSEN, Entstehung, 31.

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Geltung standen. Aber gerade dieser Umstand stellt die Antwort Theißens in Frage, denn die genannten Beispiele fanden ja innerhalb des Judentums statt. Weder die Qumrangemeinschaft noch das alexandrinische Judentum trennten sich in der Weise vom Judentum, wie dies nach Theißen schon Paulus tat. Auch im Rahmen des Frühjudentums begnügte man sich nicht einfach mit „einer Bibel“, sondern war literarisch sehr produktiv, und zwar durchaus innovativ in Bezug auf Gattungen.45 Die These Theißens, dass es kein Zufall sei, dass die ersten eigenen christlichen Schriften im Rahmen der Heidenmission entstanden sind und damit Ausdruck von Trennungsund Innovationsprozessen seien, ist daher zu einfach. Auch der Hinweis auf die Paulusbriefe, in denen nicht auf die Septuaginta verwiesen wird, überzeugt nicht, wenn man die Bedeutung der alttestamentlichen Zitate gerade in den Korintherbriefen, besonders im 2. Korintherbrief, bedenkt.

III. Das literaturgeschichtliche Problem (2) Nach der Auflösung der drei genannten Paradoxien kommt Theißen zu seinem eigentlichen Thema, das er in einem zweiten Durchgang anhand von vier Fragestellungen konkretisiert, die er mit vier wichtigen Ansätzen aus der Geschichte der Forschung idealtypisch verbindet. (1) Herders Verständnis der Bibel als „Poesie der Menschheit“ versteht Theißen als Frage nach der spezifischen Ästhetik der Schriften des Neuen Testaments. (2) Overbecks Konzept von der Urliteratur führt ihn zu dem Gedanken einer Schichtung innerhalb des Neuen Testaments: neben einer – früheren – „Urliteratur“ steht die – spätere – pseudepigraphe Literatur. (3) Das Verständnis der Vertreter der Formgeschichte von den Texten des Neuen Testaments, es handele sich um Volks- und Kleinliteratur, bestätigt Theißen, modifiziert aber diese Vorstellung dahingehend, dass die Verfasser dieser Texte zwar eher für illiterate Unterschichtenangehörige schrieben, selbst aber soziologisch anders eingeordnet werden müssen.46 (4) Die Verortung der neutestamentlichen Literatur in der jüdisch-hellenistischen Koineliteratur, die Marius Reiser vornimmt, modifiziert Theißen deutlich mit Klaus Berger und David E. Aune, die seiner Meinung nach „mit vollem Recht die Formensprache des Neuen Testaments konsequent in die hellenistische Literatur eingeordnet [haben]“.47 Die Auseinandersetzung mit diesen vier Ansätzen, besonders aber mit Overbeck, bringt Theißen nun zu seinem eigenen Programm, das vier Phasen der Entwicklung der urchristlichen Literatur nach————— 45 46 47

Vgl. den ausgezeichneten Überblick bei WANDREY, Art. Literatur IV, 288–293. Siehe meine kritischen Überlegungen oben. THEISSEN, Entstehung, 35.

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weist,48 die er im Verlauf seiner Darstellung im Einzelnen vorführt: (1) die charismatische Phase, in der „die Autorität von Personen“ dominierte.49 Schriften dieser Phase sind die echten Paulusbriefe sowie die Quelle Q und das Markusevangelium. (2) Die zweite Phase gehört der Pseudepigraphie und der „fiktive(n) Selbstauslegung“ des Paulus in den deuteropaulinischen Briefen sowie Jesu in den großen synoptischen Evangelien und dem Johannesevangelium.50 Dies ist die Phase, in der die Tradition dominiert. (3) In der dritten Phase „entstanden Gattungen nach funktionalen Gesichtspunkten“,51 die Apostelgeschichte, die Johannesoffenbarung und der Hebräerbrief. (4) Als letzte folgt die kanonische Phase, in der die Gemeinschaft dominiert. Die Phasen sind nicht im Sinne des Nacheinander scharf voneinander getrennt, sondern überlagern sich und überschneiden sich chronologisch.52 Theißen weist darauf hin, dass dies Phasenmodell einen Fortschritt in der Darstellung der Literaturgeschichte des Urchristentums bedeutet53 und dass dies Programm nicht nur historisch und gattungsbezogen zu verstehen ist, sondern auch die „soziale Dynamik des Urchristentums widerspiegelt“.54 Theißen konzipiert das Unternehmen der „Literaturgeschichte“ explizit im Zusammenhang des geschichtlichen Verstehens von Literatur seit Herder. Allerdings ist die Basis der neutestamentlichen Schriften so gering und der Zeitraum ihrer Entstehung so klein, dass sich eine eigentliche Epochengliederung, wie sie die Literaturgeschichte im Bereich moderner Literaturen erarbeitet, nur schwer durchführen lässt. Andererseits lässt sich die Definition von „Literaturgeschichte“, die Jörg Schönert in dem entsprechenden Artikel im „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“ gibt,55 durchaus als Frage- und Aufgabenstellung an die Schriften des Neuen Testaments herantragen: „Zeitlich artikulierter Zusammenhang von Texten und Textkorpora (Werken) sowie deren Darstellung in synchroner und diachroner Perspektive, vielfach unter Einschluß anderer Wissens- und Ausdrucksformen (symbolischer Formen) sowie von literaturbezogenen Handlungen“. Schönert führt aus, wie Literaturgeschichtsschreibung – die Gerd Theißen ja für die Schriften des Neuen Testaments betreibt – an Interessen gebunden ist, die sich „in der Entscheidung für Konstruktionsmuster, Sinnsetzungen oder Applikationen, die zur Reduktion von Komplexität des literarischen ————— 48 49 50 51 52 53 54 55

THEISSEN, Entstehung, 35. Ebd. Ebd. THEISSEN, Entstehung, 36. THEISSEN, Entstehung, 37. THEISSEN, Entstehung, 33 Anm. 33. THEISSEN, Entstehung, 37. J. SCHÖNERT, Art. Literaturgeschichte, RLW 2, 2000, 454–458, hier: 455.

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Geschehens“ führen, auswirken.56 Wichtig ist der Hinweis darauf, dass Literaturgeschichte heute als eigenständige Perspektive einer übergreifenden Kunst-, Kultur-, Mentalitäts-, Diskurs- oder Sozialgeschichte“ erscheint und „nicht nur auf Texte, sondern auch auf Handlungen zu beziehen [ist], die zu Texten führen, Texte vermitteln und aufnehmen. Dieser Bezug auf Handlungen und Texte verknüpft – systemtheoretisch formuliert – die Geschichte des Sozialsystems Literatur mit der Geschichte des Symbolsystems Literatur“.57 Eben dieser doppelte Ansatz liegt bei Theißen vor. Blickt man auf das Selbstverständnis der antiken Literaturgeschichtsschreibung,58 so treten „Chronologie und Biographie“59 als wesentliche Strukturelemente der Darstellung hervor. Diese beiden Elemente spielen bei Theißen eine wichtige Rolle, besonders was die Biographie der beiden ersten christlichen Schriftsteller – Jesus und Paulus – angeht. Daneben ist die Frage der literaturstützenden Institutionen wichtig, wenn auch für die frühchristliche Literatur nicht von einem Literaturbetrieb60 gesprochen werden kann und die „Schule“ als möglicher Ort eines entstehenden frühchristlichen Literaturbetriebes erst später in Erscheinung tritt.61 Aber die christlichen Gemeinden von Städten wie Ephesus, Antiochia, Smyrna, Korinth und Rom62 müssen spätestens seit dem Ende des 1. Jahrhunderts n.Chr. als Institutionen, die christliche Literatur hervorbrachten und rezipierten, ernstgenommen werden. Hier liegt auch der Verbindungspunkt zwischen der frühchristlichen Literatur und der Geschichte des entstehenden Christentums – d.h. der Entwicklung der frühchristlichen Gemeinden, ihrer Leitungs- und Sozialstruktur, ihres Ethos, ihrer Theologie, ihrer Identitätsbestimmung und ihrer Beziehungen zueinander. Theißens Konzeption, die frühchristliche Literatur mit Hilfe eines historisch-sozialgeschichtlichen Phasenmodells zu erklären, stellt sich also als integraler Teil der gegenwärtigen Literaturgeschichtsschreibung dar, deren ratio Rainer Rosenberg in seinem Artikel „Literaturgeschichtsschreibung“63 als „Darstellung von Literatur in einem historischen Zusammenhang“64 definiert, wobei dieser historische Zusammenhang stark sozialgeschichtlich fokussiert ist und Elemente der Mentalitäts- und der neuen Kulturgeschichte aufnimmt.65 ————— 56 SCHÖNERT, Art. Literaturgeschichte, 455. 57 SCHÖNERT, Art. Literaturgeschichte, 457. 58 Y.L. TOO, Art. Literaturgeschichtsschreibung, DNP 7, 1999, 329–344. 59 TOO, 330. 60 Vgl. T. PAULSEN, Art. Literaturbetrieb, DNP 7, 1999, 317–329. 61 T. VEGGE, Paulus und das antike Schulwesen: Schule und Bildung des Paulus, BZNW 134, Berlin 2006. 62 Vgl. zu Korinth und Rom den 1. Clemensbrief. 63 R. ROSENBERG, Art. Literaturgeschichtsschreibung, RLW 2, 2000, 458–463. 64 ROSENBERG, Art. Literaturgeschichtsschreibung, 458. 65 ROSENBERG, Art. Literaturgeschichtsschreibung, 462.

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Blicken wir an dieser Stelle auf den Ansatz und die leitende Fragestellung von Gerd Theißens Studie zurück, so wird seine Absicht deutlicher. Was Theißen eigentlich bewegt, ist in der Tat die historische Darstellung. Es geht weniger darum, die einzelnen Schriften des Neuen Testaments in ihrer jeweiligen Eigenart als Literatur zu verstehen, d.h. in ihrer je spezifischen historischen (sog. Einleitungsfragen), gattungsbezogenen (Genrefragen), ästhetischen und theologischen Qualität und innerhalb ihrer literarischen Felder darzustellen, sondern nach den jeweiligen historischen Bedingungen der Möglichkeit ihrer Entstehung und ihres historischen Zusammenhangs und ihrer Abhängigkeiten zu fragen. Theißen fragt nach den auslösenden Faktoren, die die neutestamentliche Literatur „in Gang setzen“, und sucht nach den Regeln der Dynamik, die in verschiedenen Wellen, die die Literaturgeschichte als Phasen oder – bei längeren Zeiträumen – als Epochen wahrnimmt, diese Literatur hervorbringen. Theißens historische Fragestellung reicht daher bis zur Kanonisierung jener frühchristlichen Schriften, die zum „Neuen Testament“ werden. Die Phase der Kanonisierung ist in seiner Konzeption integraler Bestandteil des literaturgeschichtlichen Problems, das er bearbeitet. Damit hat er es mit einem der klassischen Probleme jeder Literaturgeschichtsschreibung zu tun, das allgemein formuliert dem „überzeitlichen […] Wert“ der Texte gilt.66 Rainer Rosenberg macht deutlich, dass sich das Problem des Kanonischen strukturell für jede Literaturgeschichtsschreibung stellt, die mit einem qualifizierten, und das heißt selektiven Begriff von Literatur arbeitet, und bringt das Dilemma, das damit jede Literaturgeschichtsschreibung hat, das sich aber für das Alte und Neue Testament in höchster Schärfe stellt, folgendermaßen auf den Punkt: „Dieses Problem – manifest geworden in Gestalt des Kanons – haben auch noch die Darstellungen, die den Kanon in ein vorwiegend aus nicht kanonisierten Texten gebildetes Beziehungsgeflecht einzuarbeiten oder partiell mit andern Titeln zu überschreiben bestrebt sind“.67 Eine Lösung dieses Problems liegt in der konsequenten Anwendung der rezeptionsgeschichtlichen Perspektive auf kanonische Schriften oder Schriftensammlungen, da in der rezeptionsgeschichtlichen Betrachtungsweise der historische und der normative Aspekt produktiv miteinander verbunden werden – ein Aspekt, dem Gerd Theißen nicht eigens nachgeht. Versteht man aber die Kanonisierung eminenter Schriften als wichtigste Phase ihrer Rezeption, dann löst sich die vermeintliche Diastase zwischen den Texten in ihrer historischen Bedingtheit und Begrenztheit einerseits und ihrer Kanonisierung andererseits auf, und die ————— 66 67

ROSENBERG, Art. Literaturgeschichtsschreibung, 459. Ebd.

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Kanonisierungsprozesse werden von ihren textimmanenten Dispositionen her einsichtig.68

IV. Der doppelte Ausgangspunkt der neutestamentlichen Literatur: (1) Jesus Die Qualität einer historischen Darstellung bemisst sich zu einem erheblichen Teil an der Plausibilität der Darstellung der Anfänge, vor allem dann, wenn in ihnen so etwas wie das formative Gesetz der entstehenden Literatur und ihrer Entwicklung vermutet wird. Theißens deutende Darstellung dieser Anfänge ist vielleicht der wichtigste historische Interpretationsvorschlag seiner gesamten Rekonstruktion der formativen Kräfte der frühchristlichen Literatur und verdient daher besondere Aufmerksamkeit. Seine historische Ausgangsthese lautet: „Die beiden Grundformen der neutestamentlichen Literatur gehen auf zwei profilierte charismatische Gestalten zurück. Jesus hat den Anstoß zu einer Traditionsbildung gegeben, die zur Logienquelle und zum MkEv führte. Paulus hat den Gemeindebrief geschaffen. Wenn man diesen persönlichen Faktor hoch einschätzt, muss man mit Jesus und seiner Wirkungsgeschichte beginnen“.69 Theißen arbeitet hier mit einer verblüffenden religionssoziologischen Strukturparallele: dem Charismatiker Jesus und dem Charismatiker Paulus. Indem er Jesus als prophetischen Wanderlehrer darstellt und in die Nähe von Johannes dem Täufer, Judas Galilaios und von kynischen Wanderphilosophen rückt,70 kann er plausibel machen, dass Jesus einerseits selbst „nichts Schriftliches hinterlassen hat“71 und dass andererseits doch gilt: „Der Ursprung der Jesusüberlieferung kann […] in Lehre und Wanderexistenz Jesu gesehen werden“.72 In Weiterführung seiner These vom urchristlichen Wanderradikalismus73 findet Theißen in der Konzeption der Kontinuität zwischen dem Charismatiker Jesus und seinen Jüngern die Brücke zwischen Jesu Verkündigung und ihrer Sammlung und mündlichen und später schriftlichen Sicherung. Die „Überlieferung war insofern relativ gesichert, als die Jünger über Ostern hinaus ihre Wanderexistenz beibehalten haben und – inspiriert durch ————— 68 O. WISCHMEYER, Texte, Text und Rezeption. Das Paradigma der Text-RezeptionsHermeneutik des Neuen Testaments, in: DIES./S. SCHOLZ (Hg.), Die Bibel als Text. Beiträge zu einer textbezogenen Bibelhermeneutik, NET 14, Tübingen/Basel 2008, 155–192, hier: 158–168. 69 THEISSEN, Entstehung, 93. 70 THEISSEN, Entstehung, 46–48. 71 THEISSEN, Entstehung, 41. 72 THEISSEN, Entstehung, 49. 73 G. THEISSEN, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, ZThK 70, 1973, 245–271.

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die Ostererfahrung – weiter missionierten. Wandercharismatiker haben wichtige Teile der Wortüberlieferung Jesu erhalten. Sie konnten glaubhaft das radikale Ethos Jesu vertreten, jenes Ethos der Heimatlosigkeit, Familiendistanz, Besitzkritik und Gewaltlosigkeit“.74 Er fügt hinzu: „Da Jesus selbst ein Wanderprediger gewesen ist, bilden die urchristlichen Wandercharismatiker eine gewisse Garantie dafür, dass uns seine Worte in seinem Geist erhalten sind“.75 Den Prozess von der mündlichen Überlieferung bis zur ersten Verschriftlichung in der Quelle Q beschreibt Theißen folgendermaßen: „Ein sesshafter Christ schreibt Überlieferungen Jesu auf, weil er sie über alles schätzt. Der Strom der mündlichen Überlieferung ist selbstverständlich auch nach dieser ersten Verschriftlichung weitergegangen“.76 Theißen will den Beginn der Evangelienliteratur historisch verständlich machen und arbeitet mit zwei unterschiedlichen Erklärungsmodellen: dem religionssoziologischen Begriff des Charismatikers einerseits und dem Jüngerkreis als wichtigstem Tradentenkreis andererseits.77 Was wird hier erklärt? Stellt man diese Frage, so schärft sich der Blick dafür, dass Theißens Erklärung sich ausschließlich innerhalb des klassischen wissenschaftlichen Paradigmas der Synoptikerexegese bewegt: der Überlieferungs- und der Formgeschichte, ihren Kategorien, ihrer Entwicklung und Modifikation. In der Auseinandersetzung um die neue angelsächsische und skandinavische Traditionsforschung schreibt Theißen: „M.E. ist das neue Traditionsverständnis nur eine Präzisierung der klassischen Formgeschichte“.78 Es geht ihm nach wie vor um die Rekonstruktion der Entstehung der sog. synoptischen Tradition mit Hilfe der Kategorien von Überlieferung, Tradentenkreisen, oral history und memory. Jesus selbst steht am Beginn des Komplexes von Logien und Erzählungen der synoptischen Tradition. Die zunächst mündliche, später schriftliche Überlieferung seiner Worte und der Berichte über seine Taten wird als synthetischer Prozess verstanden: „Zur formativen Phase der Evangelientradition gehören beide, der historische Jesus und das nachösterliche Christentum“ eben des Jüngerkreises und der Gemeinde- und Volksüberlieferung.79 Welche Bedeutung hat in diesem klassischen Ansatz nun der „Charismatiker“ Jesus? Zur Bearbeitung dieser Frage greift Theißen auf die Kategorie ————— 74 THEISSEN, Entstehung, 49. 75 Ebd. 76 THEISSEN, Entstehung, 64. 77 THEISSEN, Entstehung, 45. Zu den anderen Tradentenkreisen (Volk, Ortsgemeinden, besonders die Jerusalemer Gemeinde) siehe passim. 78 Ebd. Vgl. auch G. THEISSEN, Die Erforschung der synoptischen Tradition seit R. Bultmann. Ein Überblick über die formgeschichtliche Arbeit im 20. Jahrhundert, in: R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 12, Göttingen 101995, 409–452. 79 Ebd.

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der Formensprache zurück. Dabei differenziert er die Charismatikerthese, indem er sie durch den weiteren religionswissenschaftlichen Begriff des Stigmas ergänzt: „Als Lehrer faszinierte Jesus seine Zuhörer und lehrte sie in Vollmacht. Als Prophet wurde er abgelehnt – nicht nur in seiner Heimatstadt, sondern auch in Jerusalem. Seine Lehre begründete sein Charisma, sein Prophetentum sein Stigma“.80 Die Formensprache der Verkündigung Jesu erschließt Theißen von der Weisheitslehre und der prophetischen Verkündigung her, die er gleichermaßen als charismatisch definiert hat: prophetische Makarismen und Gerichts- und Sendungsworte, weisheitliche Mahnsprüche, Sprichwörter und Sophiaworte sowie lehrhafte Jüngerregeln, Rechtssätze und gesetzeskritische Antithesen.81 Angesichts dieser Formen, die großenteils alttestamentliche Vorbilder haben, stellt sich aber die Frage nach der Berechtigung der Charismatiker-Kategorie mindestens für die weisheitlichen Spruchformen. Die „Lehre in Vollmacht“ ist ein deutendes Motiv im Markusevangelium, nicht schon Teil der Q-Überlieferung. Sicher lässt sich eine solche Deutung rechtfertigen, sie müsste aber von den Aussagen der Lehre, nicht von ihren literarischen Formen her begründet werden. Als charismatische Form lassen sich vielleicht die Reich-GottesGleichnisse in Mk 4 par verstehen, die keine Parallelen in der frühjüdischen und hellenistischen Literatur haben und mit der Sachevidenz und der Vollmacht ihres Autors arbeiten.82 Ob der Begriff Stigma Jesus als Propheten ausreichend beschreibt, scheint mir fraglich. Im Kontext charismatischer Literatur ist die apokalyptische Dimension der prophetischen Ansage Jesu wichtiger. Theißens Darstellung der weiteren Entwicklung hin zur Quelle Q und zum Markusevangelium kann ich hier nicht diskutieren. Am Schluss seiner Darstellung des Markusevangeliums kommt Theißen auf zwei Themen zu sprechen, die für seine Gesamtkonzeption wichtig sind. Erstens präzisiert er die sozialgeschichtliche Stellung und Wirkung des Markusevangeliums, das er konsequent als Bios liest und dessen zentralen Begriff euöaggeßlion er im Rahmen der Kaiserideologie interpretiert:83 „Die ersten Christen eigneten sich mit einem Bios eine Ausdrucksform der Oberschicht an. Sie griffen sogar zu einer Kommunikationsform der imperialen Oberschicht, wenn sie deren Inhalt ein „Evangelium“ nannten. Sie überschritten damit Grenzen nach oben und gleichzeitig nach unten: Wenn sie einen Gekreuzigten ins Zentrum stellten, so machten sie allen, die sozial unten standen, ein Identifikationsangebot. Das passt zu allgemeinen Tendenzen im Urchristentum: ————— 80 81 82 83

THEISSEN, Entstehung, 54. THEISSEN, Entstehung, 55. Vgl. die knappen, aber erhellenden Bemerkungen bei THEISSEN, Entstehung, 55f. THEISSEN, Entstehung, 84–92: „Ein Bios mit öffentlichem Anspruch“.

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zu einem Abwärtstransfer von Oberschichtenwerten, die von einfachen Menschen angeeignet wurden“.84 Auch wenn man die These von der Gattung des Markusevangeliums als Bios zurückhaltender beurteilen wird,85 bleibt hier ein entscheidender Umstand festgehalten, den Theißen selbst in dieser Präzisierung allerdings nicht benannt hat, da sein Argument stärker sozialgeschichtlich ausgerichtet ist: Jesus von Nazareth ist der erste Jude, dem zeitnah eine Monographie mit biographischen Elementen gewidmet wird, d.h. er ist die erste jüdische prophetisch-weisheitliche Person,86 deren Leben (ausschnittweise) und Sterben und damit auch deren Person87 – am deutlichsten in den Selbstaussagen Jesu formuliert – grundlegende Bedeutung und Sinnhaftigkeit zugesprochen wird.88 Hier tritt in der Tat zum ersten Mal die vita eines Juden in den Mittelpunkt.89 Hier muss an den Personkonzepten des Markusevangeliums einerseits und der Paulusbriefe andererseits weitergearbeitet werden. Die Kategorie des Charismatikers ist hilfreich, aber nicht erschöpfend. Zweitens muss nochmals auf Theißens These hingewiesen werden: „Der erste Anfang der urchristlichen Literaturgeschichte liegt bei Jesus“.90 Dem wird man umso eher zustimmen, als sich mit dieser Perspektive der verschlungene Zusammenhang zwischen mündlicher und verschriftlichter (oder sogar von vornherein nebeneinander mündlich tradierter und schriftlich fixierter91) Jesustradition und ihrer Tendenz zu längeren schriftlichen Komplexen am besten beschreiben lässt. Es leuchtet auch ein, dass für diesen Prozess, der ein erstes wahrnehmbares92 Ergebnis in der Quelle Q hat, die soziologische Kategorie der „charismatischen Literatur“ erhellend ist. Zwar hat Max Weber die Kategorie des Charismas im Rahmen seiner Herrschaftstypologie benutzt, aber die Fragen von Legitimität und Autori————— 84 THEISSEN, Entstehung, 91. 85 Vgl. dazu die differenzierteren Ausführungen bei E.-M. BECKER, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie, WUNT 194, Tübingen 2006, 21–53. 86 In diesem Zusammenhang ist die These H. Kösters von den prophetischen Amtsbiographien immer noch wichtig und nicht genügend ausgeschöpft. 87 Zum Personkonzept vgl. E.-M. BECKER, Die Person des Paulus, in: O. WISCHMEYER (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, Tübingen/Basel 2006, 107–119; DIES./P. PILHOFER (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, WUNT 187, Tübingen 2005. 88 Dies gilt gerade nicht für die Traktate über Abraham u.a. von Philon. 89 Dies geschieht aber nicht in der Form einer Autobiographie. Vgl. dann später die Autobiographie des Josephus. 90 THEISSEN, Entstehung, 92. 91 Ein Gesichtspunkt, den Theißen nicht erwähnt; vgl. aber Arbeiten wie die von A. KIRK, The composition of the sayings source: genre, synchrony, and wisdom redaction in Q, SupplNT 91, Leiden 1998; J.A. LOUBSER, Oral and Manuscript Culture in the Bible: Studies on the Media Texture of the New Testament – Explorative Hermeneutics, Stellenbosch 2007. 92 Präziser formuliert sollte es heißen: „nach Analogie des Thomasevangeliums einer Rekonstruktion zugängliches“.

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tät, die mit dieser Konzeption verbunden sind, stellen sich analog in der Literatur der ersten Christen. Wenn Theißen schreibt, der „Autor“ der Quelle Q habe die Jesuslogien niedergeschrieben, weil sie für ihn so wichtig waren, dann wird er dem Papiasbericht ebenso gerecht wie Webers psychologisch grundiertem Charismabegriff. Hier liegt aber auch das Problem in Theißens Darstellung: Wie passt der Verfasser des Markusevangeliums in diesen Zusammenhang? Theißen selbst macht – vielleicht unabsichtlich – auf das Problem aufmerksam, wenn er konstatiert: „Das MkEv hat einen kunstvollen Aufbau“93 und den geographischen und christologischen Aufriss und ihre Verschränkungen darstellt. Das Markusevangelium ist damit aber nicht die Fortsetzung oder Erweiterung der Quelle Q, sondern ein Neuansatz. Hier wird – m.E. nach 70 n.Chr.94 – Jesusliteratur nicht im Sinne der Fixierung der Traditionen Jesu, sondern im Sinne der Literatur über Jesus geschrieben, die sich trotz ihrer bleibenden Nähe zur mündlichen Tradition und trotz ihrer kulturellen Einbettung in die antike Mündlichkeit eben als Buch präsentiert und als ein solches im Gegensatz zu Q in der christlichen Überlieferung erhalten geblieben ist.95 Das gilt unabhängig von der Frage, ob man für das Markusevangelium die Gattung Bios96 oder „personenzentrierte Erzählung mit historiographischen Elementen“97 in Anspruch nimmt. In beiden Fällen liegt hier ein Buch über Jesus vor, nicht eine Sammlung von Sprüchen Jesu. Dass Theißen das Markusevangelium zur ersten, charismatisch durch Jesus geprägten, Phase der frühchristlichen Literatur rechnet, lässt sich vielleicht nur durch die relativ parallele Datierung des Evangeliums und der Paulusbriefe erklären – ein Argument, das aber an Bedeutung verliert, wenn man z.B. den Kolosserbrief, der nach Theißen in die zweite Phase gehört, zeitlich ähnlich ansetzt. Inhaltlich gehört das Markusevangelium genauso viel oder wenig in den Zusammenhang der „fiktiven Selbstauslegung“98 Jesu, die Theißen in den drei späteren Evangelien findet.

————— 93 THEISSEN, Entstehung, 72. 94 Vgl. die Diskussion bei BECKER, Markus-Evangelium, 76–100. 95 Die längeren Zusätze am Schluss des Markusevangeliums, darauf hindeuten, dass die Stabilität des Textumfanges im Markusevangelium noch nicht die Konsistenz der späteren Evangelien hatte. 96 So Theißen im Anschluss vor allem an D. DORMEYER, Evangelium als literarische und theologische Gattung, Darmstadt 1989. 97 So eher BECKER, Markus-Evangelium. 98 Diesen Ausdruck, der der Briefforschung entstammt, halte ich für die Evangelien insgesamt sehr unglücklich. Die Evangelien prätendieren in keiner Weise, „Selbstauslegung Jesu“ zu sein. Das gilt nicht nur für den auctor ad Theophilum, sondern auch für die anderen Evangelisten.

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V. Der doppelte Ausgangspunkt der neutestamentlichen Literatur: (2) Paulus Theißen ordnet Paulus deutlich Jesus nach: „Wenn man diesen persönlichen Faktor (sc. den Anstoß zur Bildung der Jesustradition) hoch einschätzt, muss man mit Jesus und seiner Wirkungsgeschichte beginnen, ehe man Paulus behandelt.99 Erst der „zweite literaturgeschichtliche Impuls für die Entstehung des Neuen Testaments“ geht von Paulus aus“.100 Das ist richtig, wenn man Theißens Prämissen teilt. Geht man dagegen von dem Umstand aus, den Theißen selbst ausführlich darlegt, dass die ersten Sammlungen der Paulusbriefe den nucleus des späteren Kanons bilden, kann man auch zu einem anderen Urteil kommen. Die wichtigsten Begriffe, mit denen Theißen die Paulusbriefe literaturgeschichtlich erfasst, sind der Begriff der Krise und die Heidenmission. Theißen erkennt drei Elemente der Krise, die zu der Mutation der (nicht erhaltenen) Privat- bzw. Freundschaftsbriefe des Paulus hin zu gemeindeleitenden Schreiben führten: (1) „Konflikte mit der nichtchristlichen Umwelt“101, vor allem Gefangenschaft, (2) „Konflikte mit einer Gegenmission“102 und (3) „Konflikte mit seinen Gemeinden“103. In Bezug auf die Heidenmission zieht Theißen eine wichtige Parallele zum Markusevangelium: Wenn sich die Christen „mit ihrem Evangelium – hier dem Markusevangelium – an alle Völker (oder alle Heiden) wandten, so war ihre Literatur „interkulturell“. Das passt zur Öffnung einer ursprünglich jüdischen Gruppe für Nicht-Juden, eine Öffnung, die mit Paulus verbunden war, dem zweiten Anfang der urchristlichen Literatur“.104 Dieser Gedanke ist sehr fruchtbar, weil er die nur schwer zu fassende Nähe und Distanz der neutestamentlichen Schriften zur antiken jüdischen Literatur eher darstellbar macht. Bei der literaturgeschichtlichen Darstellung der Paulusbriefe zeigt sich trotzdem eine gewisse Schwäche, die auf der Parallelisierung der beiden Charismatiker, Jesus und Paulus, beruht. Sicher verwendet Paulus mündliche Gemeindetraditionen, – ein seit Rudolf Bultmann bekannter und in traditionalen antiken Kulturen zudem eher selbstverständlicher Umstand. Aber diese Traditionen formen nicht seine Briefe. Diese sind vielmehr Ergebnis einer literarischen Anstrengung des Paulus, die Theißen selbst treffend so beschreibt: „Paulus hat den Gemeindebrief geschaffen, indem er den antiken Freundschaftsbrief durch Anlehnung an Herrscherbriefe und ————— 99 100 101 102 103 104

THEISSEN, Entstehung, 93. Ebd. THEISSEN, Entstehung, 94. THEISSEN, Entstehung, 95. Ebd. THEISSEN, Entstehung, 92.

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Was meint „Literaturgeschichte des Neuen Testaments“?

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den ‚literarischen Brief‘ umgestaltet hat“.105 Hier frage ich mich, weshalb Theißen nicht den Neuanfang des Paulus stärker akzentuiert und ihn als den beschreibt, der er in literaturgeschichtlicher Perspektive ist: der erste christliche Autor im Vollsinn des Begriffs?106 Paulus lässt sich durchaus religionssoziologisch als Charismatiker im Sinne Webers erfassen, zugleich aber ist er literarisch gesehen ein Autor. In einer Literaturgeschichte der neutestamentlichen Schriften vermisst man diesen Begriff und die damit verbundenen Überlegungen zur literarischen Orthonymität.

VI. Schluss Das letzte Wort im Zusammenhang mit der Ursprungsphase der Literaturgeschichte des Urchristentums, um die es in diesem Beitrag ging, soll Theißen haben: „Paulus und der Markus-Evangelist sind somit die entscheidenden Gestalten der ersten Phase der urchristlichen Literatur. Beide schufen eine personbezogene Literatur, die in den Evangelien auf Jesus, in den Briefen auf Paulus konzentriert war“.107 Ob man dieser Analogie zustimmen möchte oder nicht – die personbezogene Komponente der neutestamentlichen Literatur und ihre Funktion im Zusammenhang der Entstehung der urchristlichen Literatur und ihrer formativen Phase weiter zu erforschen wird ein wesentlicher Impuls von Theißens Problemanzeige sein.108

————— 105 THEISSEN, Entstehung, 108. 106 Vgl. O. WISCHMEYER, Paulus als Autor, in: DIES., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments. Hg. von E.-M. BECKER, WUNT 173, Tübingen 2004, 289–307. 107 THEISSEN, Entstehung, 135. 108 Damit geht Theißen über die Konzepte von Overbeck, Dibelius und Vielhauer hinaus. Eine Neubearbeitung von P. Vielhauers Literaturgeschichte des Neuen Testaments wird diesen zusammen mit vielen anderen Impulsen Gerd Theißens ausarbeiten müssen.

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Rekapitulation des israelitischen Zeichensystems, Rekapitulation der Welt, Rekapitulation der menschlichen Seele als Person

In der Religions- und Christentumstheorie von Gerd Theißen ragen zwei Themenkomplexe dadurch heraus, dass sie besonders kontrovers diskutiert werden. Es ist zum einen die Auffassung, Jesus habe eine „Revitalisierung der jüdischen Religion“1 betrieben; zum anderen ist es seine Rezeption der Evolutionstheorie, wie er sie systematisch in seinem Buch „Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht“2 in den großen Linien entfaltet hat. Ich möchte mich diesen beiden Themen zuwenden und unter dem Titel „Rekapitulation der Welt – Rekapitulation der menschlichen Seele als Person“ zeigen, warum ich einigen Einwänden gegen die Rede von der Revitalisierung der jüdischen Religion zustimme, warum ich aber andererseits Theißens Rezeption der Evolutionstheorie für eine notwendige und überaus gelungene Innovation ansehe. Gleichzeitig werde ich einige kleinere kritische Anmerkungen zu zwei Elementen in Theißens Theorie machen, die mir eigentlich sehr sympathisch sind: zum Abschluss des christlichen Zeichensystems mit dem biblischen Kanon und zu Theißens Rekonstruktion der Frühgeschichte des Abendmahls. Hier hat mich die Rekonstruktion des Religionswissenschaftlers und Ostkirchenkundlers Bertram Schmitz überzeugt.

1. Grundlegendes zu Theißens semiotischer Theorie des Urchristentums In seinem Buch „Die Religion der ersten Christen“ beschreibt Theißen die Entstehung des Christentums als „die Entstehungsgeschichte einer neuen Religion, die sich von ihrer Mutterreligion“, dem Judentum, „ablöst und verselbständigt“ (RdeC 27). Theißen definiert Religion in diesem Werk3 ————— 1 So wörtlich G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 32003 (EA 2000; im Folgenden: RdeC), 71 u.ö. 2 Vgl. G. THEISSEN, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984. 3 In Theißens älteren Werken gibt es auch vorläufig eine eher psychologisch-ontologische Definition von Religion. „Religion ist Sensibilität für Resonanz und Absurdität der Wirklichkeit“

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bekanntlich semiotisch: „Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt“ (RdeC 19).4 Dementsprechend wird die Ablösung des Christentums vom Judentum dargestellt als die Entstehung eines autonomen Zeichensystems mit eigener Selbst- und Fremdreferenz und mit der Fähigkeit zur Selbstorganisation aufgrund impliziter Axiome. Gut protestantisch geht Theißen davon aus, dass die Entstehung des christlichen Zeichensystems mit der Kanonbildung zu einem Abschluss kommt. Diese Auffassung werde ich im Folgenden zumindest dahingehend modifizieren, dass semiotisch wichtige Elemente des christlichen Zeichensystems erst nach Abschluss des Kanons zu ihrer abschließenden Formulierung gekommen sind. Dies gilt beispielsweise für das Verhältnis von Gott, Christus und Geist im christologischen und trinitarischen Dogma. Im Christentum ist eine semiotische Bewegung in Gang gesetzt worden, die ungebremst zur Bildung einer völlig neuen, gegenüber dem Alten Testament und dem Gott des Alten Testaments ablehnend eingestellten Religion hätte führen können – und bei Markion tatsächlich auch dazu geführt hat. Wenn zu Jesus Christus (und zum Heiligen Geist) gebetet wird, wenn Christus zahlreiche Funktionen von Gott Vater einnimmt und wenn die LXX-Bezeichnung kyrios von JHWH auf Christus übertragen wird, dann ist in der Tat das monotheistische Zeichensystem im Prinzip in Frage gestellt. Diese Infragestellung wird „am Anfang als Durchführung des monotheistischen Glaubens verstanden. Der eine und einzige Gott, neben dem alle anderen Götter ‚nichts‘ sind, hat durch seinen einzigen Sohn und Gesandten alle anderen Mächte und Gewalten (d.h. alle anderen Götter und numinosen Mächte) unterworfen und besiegt“ (RdeC 83). Soweit bekannt brechen im ganzen Neuen Testament keine Konflikte zwischen Juden und Christen wegen einer wie auch immer gearteten christlichen Leugnung des Monotheismus aus. Dass unbewusst aber eine Auflehnung gegen den Gott des Alten Testaments bereits bei Paulus angenommen werden kann, zeigt Theißen unter Berufung auf die Testamentssymbolik in Gal 3/4 und die Ehesymbolik in Röm 7,1–6. Beide Bilder setzen den Tod des Erblassers bzw. des Ehemannes voraus. „In der Bildhälfte wird der Tod des Vaters [bzw. des Ehemanns, M.L.] vorausgesetzt, in der Sachhälfte wird er geleugnet, oder genauer: durch den Tod Christi ersetzt […]. Eigentlich zielt das Bild des Paulus auf ————— (Argumente für einen kritischen Glauben. Oder: Was hält der Religionskritik stand?, München 1978, 49). 4 Semiotisch relevante Aussagen finden sich auch in anderen Schriften Theißens, insbesondere in den auf die Praktische Theologie ausgerichteten Büchern: G. THEISSEN, Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh 2003 (im Folgenden: ZBm) oder G. THEISSEN, Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994 (im Folgenden: ZdG).

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den Gedanken: Gestorben ist der Gott des Gesetzes. Aber diesen Gedanken muß er natürlich unterdrücken. Er wäre Blasphemie, ja noch schlimmer: Wenn wir Röm 7,1–4 im Zusammenhang mit den vorhergehenden Ausführungen über den Machtwechsel (Röm 6,12ff) lesen und noch im Ohr haben, was dort über die ‚Schreckensherrschaft der Sünde‘ gesagt wurde, so muß die erste Ehe von vornherein in ein schlechtes Licht rücken.“5 Die Dynamik einer Entgegensetzung von Christus und JHWH bricht erst jenseits der Grenzen des Kanons richtig auf. Erst im Gegenüber zur Ablehnung des Gottes des Alten Testaments bei Markion und in der Gnosis findet das Christentum über zahlreiche Debatten hinweg einen Ausgleich in den Dogmen von Nikaia und Chalcedon. Im Vergleich selbst noch zu relativ späten Schriften des NT wie zum Hebräerbrief 6 und den johanneischen Schriften7 betont dieser dogmatisch für die meisten christlichen Kirchen leitend gewordene Ausgleich stärker die Gleichheit von Christus und Gott.

2. Die Trennung von Judentum und Christentum in semiotischer Sicht Die ersten Schritte zur Verselbständigung des christlichen Zeichensystems sind nach Theißen bereits bei Jesus gegeben. Jesus gehört „in eine Kette von innerjüdischen Erneuerungsbewegungen seit der Makkabäerzeit – in eine nie abreißende Reihe von Versuchen, die jüdische Religion zu revitalisieren“ (RdeC 63). Die Kritik an dieser Redeweise kommt von zwei Richtungen. Zum einen wird gesagt, dass die jüdische Religion keine Revitalisierung nötig hatte. Sie war nicht, wie Schleiermacher in seinen Reden vom Judentum gesagt hatte, eine tote Religion und musste wiederbelebt werden.8 Das Judentum der Zeit Jesu war eine ausgesprochen lebendige, missionarisch erfolgreiche und in den Verhaltensweisen zahlreicher Menschen verankerte Religion: Makkabäer, Essener, Pharisäer, Sadduzäer, Täufer, Zeloten und andere Gruppierungen sind Belege für eine pluralistische, religiös lebendige und kreative Welt. Auch wenn in dieser Kritik die Metapher der Revitalisierung gegen die Absichten des Autors Theißen ausgelegt wird – Theißen übernahm den Ausdruck Revitalisierung aus der Ethnologie, wo Revitalisierung keine Aussage über ihre fehlende Lebendigkeit einer Religion oder Kultur impliziert, sondern Synonym ist zu nativistischer Religion ————— 5 G. THEISSEN, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983, 248f. 6 Christus ist dort immer noch Geschöpf. 7 Christus ist dort der Logos Gottes. Er wird zwar als „Gott“ angeredet, wie sein genaues Verhältnis zu Gott ist, lässt sich noch vielfältig deuten. 8 Vgl. F. SCHLEIERMACHER, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Hamburg 1958, 159.

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oder Erneuerungsbewegung – so ist hiermit doch ein wichtiges Thema angeschnitten. Muss man Jesus nicht stärker mit dem Judentum verbinden und gleichzeitig das Neue, das mit ihm beginnt, spezifischer benennen? Dies ist nämlich der Ansatz der Kritik von der anderen Seite. Hier wird gesagt, dass Jesus von Theißen zu stark mit jüdischen Reformbewegungen parallelisiert wird. Wenn das Christentum aus dem Judentum als eigene Religion entstehen konnte, dann ist es historisch zumindest wahrscheinlich, dass sich bis in die Anfänge Motive der Trennung finden. Offenbarungstheologen lehnen überdies Titel wie „Die Entstehung des Christentum aus dem Judentum“9 ab: Das Christentum ist von Gott her entstanden. Das betont bereits vor der Dialektischen Theologie beispielsweise der junge Schleiermacher: Er schreibt über das Judentum: „Auch rede ich [sc. Schleiermacher] nicht deswegen von ihm [sc. dem Judentum], weil es etwa ein Vorläufer des Christentums wäre: ich hasse in der Religion diese Art von historischen Beziehungen, ihre Notwendigkeit ist eine weit höhere und ewige, und jedes Anfangen in ihr ist ursprünglich.“10 Über Theißen hinaus möchte ich nun folgendes festhalten: Die Semiotik hat den Vorteil, dass sie beides, die Kontinuität und den Bruch mit dem Judentum zum Ausdruck bringen kann, indem sie das Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem bedenkt und dabei die Revolution, die im Christentum geschieht, präzise zum Ausdruck bringt. Dabei ist es allerdings wichtig, den Blick nicht vorrangig auf das Zeichensystem als System zu richten, sondern das Entstehen von Zeichen, die Semiose zentral zu bedenken. Man kann einsetzen damit, dass man die Parteienbildungen im Judentum stärker soziologisch und semiotisch differenziert. Es gibt drei soziologisch relevante semiotische Motive, die in jeder Bewegung mehr oder weniger dominant vorkommen: 1. Ein militantes Identitätsmotiv. Semiotisch bedeutet dies eine Heraushebung abgrenzender Traditionen, die wiederholt, zusammengezogen und neu profiliert werden. Soziologisch richten sich diese Gruppen gegen eine Überfremdung durch die pagane Welt. Es findet sich politisch aggressiv vor allem bei Makkabäern und Zeloten, evasiv in der Qumrangemeinde.11

————— 9 So der Titel der zum Zeitpunkt des Symposiums für Prof. Theißen gerade erschienenen Nummer der Berliner Theologischen Zeitschrift, 25. Jg./H. 1 (2008). 10 SCHLEIERMACHER, Über die Religion, 159. 11 Vgl. G. THEISSEN, Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums, München 1977, 36.

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2. Ein Reformmotiv, das innerhalb der jüdischen Tradition neue Akzentsetzungen vornimmt. Legitimität gewinnen die Reformer durch Reinterpretation der heiligen Schriften und durch sozialen Erfolg im Gewinnen von Anhängerschaft. Eine Verschiebung innerhalb der Zentren der Zeichenwelt kann durchaus auch solchen Reformern gelingen, etwa die Verschiebung vom Tempel hin zur Tora nach 70 im rabbinischen Judentum. Es geht aber im Wesentlichen um die Modernisierung der religiösen Tradition, die als solche nicht in Frage gestellt wird. Allegorische Interpretation ist besonders im hellenistischen Judentum ein Mittel solcher Modernisierungs- und Reformprozesse. Charakteristisch für die unterschiedlichen wörtlichen und übertragenen Interpretationen ist ihre Toleranz. In der Regel beansprucht keine die endgültige Deutung zu sein. Es werden immer wieder neue Interpretationen und Kommentare möglich. Das Judentum ist bis heute ein Beispiel für diese Toleranz und Kreativität. 3. Ein Rekapitulationsmotiv, bei dem die gesamte Tradition noch einmal neu gedeutet und auf eine neue, nunmehr alles entscheidende Mitte bezogen wird. Das besondere dieses Motivs ist, dass Tradition nicht bloß vielfältig neu ausgelegt wird, sondern, dass die Aussagen der Tradition auf neue Personen und Gegenstände bezogen werden, die das Zentrum der Zeichenwelt einnehmen. Dabei findet eine Umkehrung der Richtung statt: Es wird am Ende der Entwicklung nicht mehr so sehr gefragt, ob Jesus dem alttestamentlichen Messiasbild entspricht, sondern ob das alttestamentliche Messiasbild Jesus entspricht. Am Ende der Entwicklung steht nicht Jesus Christus auf dem Prüfstand, sondern die LXX bzw. die Texte der hebräischen Bibel. Markion und die Gnostiker fragen sich mit negativem Ausgang, ob die LXX in den Kanon gehört. Semiotisch gesprochen: die Signifikanten erhalten neue Signifikate, die sie umprägen und die ihrerseits zum Kriterium der Signifikanten werden; die Worte werden extensional in einer bestimmten Weise neu definiert und von Realitäten in der Welt her neu bestimmt und beurteilt. Diese Neudefinitionen sind zumindest in ihrem zentralen Teil auch nicht offen für andere Interpretationen. Dass Jesus von Nazareth der Messias ist, steht im Christentum keiner möglichen Neuinterpretation offen.12

————— 12 Wenn man Metaphern aus der Biologie verwenden will, geht es beim verschärften Identitätsmotiv um die Bildung durchsetzungsfähiger Atavismen, beim Reformmotiv um Weiterentwicklung innerhalb einer Art (Anagenese), bei der Rekapitulation aber um die Verzweigung hin zu einer neuen Art (Kladogenese).

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3. Rekapitulation als semiotische Revolution in der Religionsgeschichte – ein frühes Anzeichen für die Verselbständigung einer Religion Das Rekapitulationsmotiv der ersten Christen ist seiner Tendenz nach umfassend; es bezieht die gesamte jüdische Tradition mit ein. Es entwickelt sich im Horizont eschatologischer Erfüllungsgewissheit und ist als solches auch nicht auf das Christentum beschränkt. Auch an anderen Orten in der Religionsgeschichte gibt es Rekapitulationen, oder wie man auch sagen kann: semiotische Revolutionen. Die Rede von semiotischen Revolutionen hat den Vorteil, dass die alles umwendende Bewegung einer solchen Rekapitulation gut zum Ausdruck kommt. Dennoch kann es umfassende Reinterpretationen der Tradition geben, die nicht zu einer neuen Religion führen. Die Reformation ist dafür ein gutes Beispiel. Deshalb ist auch die Rede von der Rekapitulation von bleibender Bedeutung, weil sie die Schaffung eines neuen Caput, eines neuen Hauptes eines Zeichensystems besonders betont, den Relektüreaspekt aber weiterhin festhält. Immer wenn ein Rekapitulationsmotiv mit allen seinen Elementen dominant wird, dann kommt es früher oder später zur Bildung einer neuen Religionsgemeinschaft. Man kann die Unterscheidung von Reform und Rekapitulation auch an anderen religionsgeschichtlichen Zusammenhängen durchspielen. Im Islam zeigt sich ein ursprüngliches, in den mekkanischen Suren deutlich hervortretendes Reformmotiv mit dem Ziel, Juden und Christen über ihre Widersprüche zurück zur wahren Religion Abrahams zurückzuführen.13 Die ersten Anhänger Mohammeds beteten wie die Juden in Richtung Jerusalems, sie verwendeten offensichtlich auch die biblischen Psalmen als Gebete, Mohammed verstand sich in biblischer Traditionslinie als Prophet, er übernahm den aus arabischen Bibelübersetzungen geläufigen Gottesnamen Allah und bezog sich zu einem großen Teil auf Traditionen, die zwischen Juden und Christen kontrovers waren. Erst mit der Änderung der qibla in Richtung Mekka wurde der Bruch definitiv. Die Anhänger Mohammeds waren keine jüdisch-christliche Gruppierung mehr, sondern eine eigene Religion. Die Rekapitulationsdynamik, die bereits vorher bei dem Versuch, die Gegensätze von Juden und Christen zu überwinden, eingesetzt hatte, führte zur Entstehung einer neuen Religion mit einem eigenen Zentrum. Mittel dieser Rekapitulation ist ähnlich wie schon in Gal 3,6–8; 4,21–31 die Neuzuordnung der Abraham-Sara-Isaak vs. Abraham————— 13 Vgl. dazu B. SCHMITZ, Der Koran: Sure 2 „Die Kuh“. Ein religionshistorischer Kommentar, Stuttgart 2009.

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Hagar-Ismael-Tradition14 und die Neuidentifikation von Worten wie „die Ungläubigen“. Wichtig ist dabei Folgendes: Mit dem Prozess einer semiotischen Revolution oder Rekapitulation hat man ein semiotisches Kriterium, das es erlaubt, in einem frühen Stadium zu beurteilen, ob eine religiöse Gruppierung auf dem Weg zur Bildung einer neuen Religion ausgehend von einer Mutterreligion ist. Dieses Kriterium kann neben dem in der Regel erst in späteren Phasen feststellbaren, von Andreas Feldtkeller15 entwickelten und in der „Religion der ersten Christen“ aufgenommenen Kriterium der Selbst- und Fremdreferenz dazu dienen, um die Ablösung einer Religion von einer Mutterreligion zu beschreiben.16 Rekapitulation liegt nur dann vor, wenn alle vier Merkmale gemeinsam auftreten: 1. Neuidentifizierung vom Signifikanten auf neue Signifikate, bzw. von verheißenen Gestalten auf aktuell Lebende oder vor kurzem Verstorbene 2. Etablierung eines neuen Zentrums der Zeichenwelt,17 das zum Kriterium des traditionellen Zeichensystems wird 3. Im Umkreis des neuen Zentrums der Zeichenwelt: Keine Toleranz gegenüber interpretativem Pluralismus 4. Relektüre der gesamten Tradition der Mutterreligion mit dem Ergebnis einer bewussten Annahme, Ablehnung oder Neuinterpretation.

————— 14 Vgl. als erster Überblick K.-J. KUSCHEL, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, Düsseldorf 2001, 168–210. 15 Vgl. A. FELDTKELLER, Identitätssuche des syrischen Urchristentums. Mission, Inkulturation und Pluralität im ältesten Heidenchristentum, Freiburg i.Ue./Göttingen 1993. DERS., Im Reich der syrischen Göttin. Eine religiös plurale Kultur als Umwelt des frühen Christentums. Studien zum Verstehen fremder Religionen, Gütersloh 1994. 16 Zu den semiotischen Kriterien der Entstehung einer neuen Religion treten selbstverständlich auch geographische (das Entstehen eigener Kultgebäude), soziale (der Aufbau einer eigenen Organisation, Kenntlichkeit der Mitglieder nach außen) und rituelle (Aufnahmeriten, eigene Feiertage, Ablehnung der Riten der Mutterreligion usw.) Kriterien. 17 Theißens Rede vom Zentrum einer Zeichenwelt erinnert von ferne an die alte Charakterisierung von Sekten als religiöse Gruppierungen, in denen zu Christus als Zentrum noch ein zweites Zentrum hinzugetreten sei. Bei näherem Hinsehen wird man feststellen, dass dies bei keiner der christlichen Sondergemeinschaften der Fall ist. Zwei Zentren gibt es nur während einer kurzen Zeit, wenn eine neue Religion sich von der Mutterreligion ablöst. Dies ist unter den größeren Gruppierungen nur bei den Kimbanguisten und allenfalls bei den Mormonen zu beobachten. Adventisten, Neuapostolische oder auch Zeugen Jehovas sind demgegenüber dem Phänomenbereich der Reformen, die Christus als Zentrum beibehalten, zuzurechnen.

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Zur Illustration sollen diese Kriterien auf die Entwicklung des Reformhinduismus, auf die lutherische Reformation und auf die neuere Entwicklung des Kimbanguismus bezogen werden. Der Reformhinduismus ist eine relativ vielfältige Erscheinung. Im Rahmen dieses Aufsatzes soll nur Mahatma Gandhis reformierte Form des Hinduismus näher betrachtet werden. Er kann verstanden werden als eine Modernisierung des Hinduismus, die aus der Begegnung mit der christlich geprägten europäischen Welt entstanden ist. Gandhi lehnt einige traditionelle Elemente ab (Witwenverbrennung, Kastenwesen) und betont andere wie Toleranz gegenüber anderen Religionen und das Prinzip der Gewaltlosigkeit (Ahimsa). Es kommt zwar zu einer relativ kompletten Relektüre der Tradition (4. erfüllt) und zu Akzentverschiebungen, nicht aber zur Etablierung eines neuen Zentrums, das sich ausschließend gegen anderen Auslegungen verhält (2. und 3. nicht erfüllt). Neuidentifikationen werden im Reformhinduismus wie überall im Hinduismus vorgenommen (1. erfüllt).18 Die lutherische Reformation kommt der Entstehung einer neuen Religion insofern schon näher, als in der Rechtfertigungsbotschaft sola fide, sola gratia und solo Christo ein eigenes Zentrum gebildet wird (2. erfüllt), das das einzige und entscheidende Kriterium des traditionellen Zeichensystems (3. erfüllt) wird19 und zur Reinterpretation des gesamten Zeichensystems der christlichen Kirchen führt (4. erfüllt). Im Zusammentreffen dieser drei Elemente unterscheidet sich die Reformation von den gleichzeitigen Reformbewegungen. Die Reformation führt immerhin zur Bildung einer neuen Konfession. Dass sie nicht zur Bildung einer neuen Religion führt, liegt daran, dass die Identifikationen, die der Protestantismus vornimmt, sich von kleinen Ausnahmen abgesehen20 nicht als neu verstehen, sondern eine Rückkehr zum ursprünglichen christlichen Verständnis, wie es sich bei Paulus und Augustinus findet, darstellen (1. nicht erfüllt). Das für eine Rekapitulation wichtigste Merkmal einer Identifikation mit lebenden oder vor kurzem verstorbenen Personen und eine Beurteilung der Tradition von diesen Personen aus findet in der Reformation gerade nicht statt. Weiter auf dem Weg zu einer neuen Religion ist der Kimbanguismus gegangen.21 Hier finden massive neue Identifikationen statt. Bereits zu Lebzei————— 18 Axel MICHAELS beschreibt Identifikation geradezu als die Grundform hinduistischer Religiosität, vgl. DERS., Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München 1998. 357–377. 19 Der Streit, ob die Rechtfertigungslehre ein Kriterium unter anderen oder das Kriterium der Tradition ist, geht genau über die Frage der Tiefe der semiotischen Neuorientierung. 20 Solche neuen Ausnahmen sind die Identifikation Luthers mit Elia oder vielleicht auch die, freilich im Mittelalter bereits mehrfach vorgenommene Identifikation des Papstes mit dem Antichristen. Diese Identifikationen betreffen aber nicht das Zentrum des Zeichensystems. 21 Vgl. zur Darstellung des Kimbanguismus meine ausführlichere Darstellung (gemeinsam mit W. KHAL-TAMBWE NUNGA „Lobgesänge aus zerfallenen Hütten“, MD des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 60/01, 2009, 9–15.

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ten Simon Kimbangus begann sich eine Sonderlehre zu entwickeln, die heute zu den Schwierigkeiten des ÖRK und der katholischen Kirche mit den Kimbanguisten führt. Simon Kimbangu wurde als der Paraklet angesehen und deshalb vor allem in den Liedern der Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist identifiziert. Nach dem Tod des Gemeindeleiters Diangiedas übernahm der mittlere Sohn Simon Kimbangus, Dialungana (1916–2001) die Leitung der EJCSK. Er baute die Reihe der Identifikationen offiziell weiter aus, so dass die Kimbanguisten davon ausgehen, dass die Trinität in verklärter Form (als „transfiguration“) unter ihnen erschienen sei: Simon Kimbangu entspräche dem Heiligen Geist, der älteste Sohn Kisolokele, der eine politische Karriere im Kongo verfolgt und die Kirche unterstützt hatte, entspreche Gott dem Schöpfer und er selbst, Dialungana sei der wiedergekommene Jesus Christus. Am 10. April 2000 wurde diese Lehre offizielle Lehre der EJCSK. Bereits 1999 wurde beschlossen, das Weihnachtsfest auf den 25. Mai zu verlegen. Der 25. Mai ist der Geburtstag Dialunganas, nach „inspirierten Berechnungen“ aber auch der angeblich wahre Geburtstag Jesu von Nazareth. Trotz der Kritik an der neuen kimbanguistischen Trinitätslehre durch den Dekan der kimbanguistischen Hochschule Nguapitschi und anderer, eher traditionell christlich orientierter Kimbanguisten, unterstreicht die Leitung mit dem ältesten Sohn Dialunganas, der den Namen Simon Kimbangu trägt, weiterhin die Bedeutung dieser Lehre. Diese Entwicklungen führten dazu, dass bereits in den 1990er der ÖRK die Mitgliedschaft der EJCSK kritisch zu beurteilen begann. Eine Kommission hat damals ihre Mitgliedschaft bestätigt.22 Im Juli 2004 hat die katholische kongolesische Bischofskonferenz demgegenüber beschlossen, alle ökumenischen Kontakte mit der EJCSK auszusetzen. Nach der Einschätzung von Kennern bedeutet die Trinitätslehre der EJCSK eine offizielle Anerkennung eines Glaubens, der bei zahlreichen Kimbanguisten bereits vor der Leitung der Kirche durch Dialungana vorhanden war. 1983 unterschied Susan Asch in ihrer Doktorarbeit „L’Église du prophète Simon Kimbangu: de ses origines à son rôle actuel au Zaire“ (Paris: Editions Karthala 1983) einen reformistischen Kimbanguismus, der ökumenisch kompatibel westliche und traditionelle Theologie rezipierte und der von Diangienda gefördert wurde, von einem populären Kimbanguismus, der sich bereits seit der Gefängniszeit Simon Kimbangus in Richtung auf die heutigen Lehren bewegte.23 Man findet im Kimbanguismus also neue Identifikationen (1. erfüllt), eine gewisse, nicht beliebig interpretierbare Etablierung eines neuen Zent————— 22 Ich danke für diese Auskunft Frau Dr. Dagmar HELLER (Bossey). 23 1988 vertrat Gérard BUAKASA in seinem Buch „Le Zaire face au développement du sousdéveloppement. Essai d’une analyse des écarts d’une societé africaine“ (Kinshasa/Libreville/ München) sogar die These, dass es einen christlichen und einen nichtchristlichen Kimbanguismus gebe.

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rums mit der Familie Kimbangus (2. und 3. teilweise erfüllt) und eine Relektüre eines großen Teils der christlichen Tradition, da über das bereits Gesagte hinaus Kikongo, die Sprache Kimbangus als die Sprache der Menschheit vor dem Turmbau zu Babel angesehen wird. Der zentrale Pilgerort des Kimbanguismus N’kamba wird mit Jerusalem identifiziert (4. erfüllt). Die Kimbanguisten sind deshalb eine christliche Kirche, die sich aber in einigen Jahrzehnten zu einer eigenen Religion entwickeln könnte.

4. Rekapitulation bei Johannes dem Täufer und im Neuen Testament Die Logik der Rekapitulation beginnt bereits vor Jesus Christus. Bereits bei Johannes dem Täufer finden wir mit der Taufe eine Neudefinition Israels. Nur wer getauft ist, gehört zum Volk, das das Heil erlangt. Die Tradition der Volkwerdung durch Exodus und Eisodos wird aufgenommen, aber nicht bloß neu interpretiert, sondern neu zugeordnet, an andere Menschen verteilt. Es findet, wenn man so will, eine Uminterpretation statt, die ihre hermeneutischen Gewaltsamkeiten besitzt und die notwendig die Frage nach der Vollmacht zu solchem Tun aufwirft. Jesus und der Täufer gehören deshalb auch nicht in eine Reihe mit dem samaritanischen Propheten, von dem Josephus in Antiquitates 18,85 schreibt, der versprach, die Tempelgeräte auf dem Garizim zu finden. Es geht nicht vorrangig um Legitimität durch Traditionsgüter, sondern um eine semiotische Revolution, um die souveräne Neubestimmung der traditionellen Zeichenwelt. Diese Neubestimmung erfasst im Christentum die gesamte hebräische Bibel. Deshalb ist das Christentum auch mit dem Judentum näher verbunden als eine Reformbewegung, die sich nur auf einige Themen und auf bestimmte Traditionen bezogen hat. Das Christentum muss demgegenüber durch seine eigene Logik alles neu interpretieren. Wenn Jesus den Zwölferkreis beruft, dann ist dies eine Wiederaufnahme der uralten Stämmetradition verbunden mit einer Neudefinition von Israel. Wenn Jesus auf einen Hügel steigt, um die Antithesen zu den 10 Geboten zu verkünden, dann wird die Tora noch einmal neu und anders gesagt. Wenn der synoptische Jesus Gottesknechtslieder auf sich bezieht und beim Abendmahl die Deuteworte der Passaliturgie auf seine Person umwidmet, dann ist dies eine Neubestimmung des Signifikats. Dabei ist wichtig: Es ist für die Rekapitulationstheorie nicht entscheidend, welche Bibelstelle man dem historischen Jesus zuschreibt und welche nicht. Wichtig ist nur die These, dass von Johannes dem Täufer bis hin zu den Spätschriften des biblischen Kanons diese Dynamik der Umbesetzung des Signifikats wirksam ist.

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Die drei Hauptprobleme, die Theißen in seiner Theorie der urchristlichen Religion benennt, werden von hier aus zwanglos erklärbar: 1. Die Verbindung von Mythos und Geschichte erklärt sich als Rekapitulation der israelitischen Mythen. Sowohl die eschatologische Erwartung, als auch die alten Mythen von Schöpfung und Exodus werden auf die Gegenwart bezogen. 2. Die Verbindung von archaisch anmutender Normverschärfung und Relativierung von Normen erklärt sich aus der Reprise und verändernden Rekapitulation der israelitischen Ethik. 3. Der Rückgriff auf älteste Riten – Theißen geht sogar über das Judentum hinaus und sieht im Abendmahl Reminiszenzen an kannibalistische Riten – ist ebenfalls Beleg für diese Rekapitulationsdynamik.

5. Das Abendmahl als Beispiel mehrfacher Rekapitulationsansätze Die Frühgeschichte des Abendmahls gehört aktuell zu den besonders kontrovers diskutierten Themen. Die Ursache für diese Kontroverse lässt sich semiotisch beschreiben. Die semiotische Revolution des Urchristentums wurde im Bezug zum Abendmahl mehrfach durchgeführt, so dass es zu einer Art permanenter Revolution kam. Man kann insgesamt fünf Schritte unterscheiden: 1. Der Ausgangspunkt sind die Mahlgemeinschaften Jesu. Bereits sie standen in eschatologischen Zusammenhängen und nahmen das Festmahl der Gottesherrschaft vorweg. Dieser Typus eines eschatologisch orientierten Abendmahls ohne Bezug auf den Tod Jesu hat seine Spuren noch in Didache 9–10 und 1. Kor 10, 3f.16–18 hinterlassen. Semiotisch handelt es sich um eine Identifikation einer Verheißung: Das eschatologische Freudenmahl wird gleichnishaft bereits jetzt gefeiert und in Gleichnissen erläutert. 2. Das letzte Mahl Jesu war nach Theißen eine prophetische Zeichenhandlung, die nicht nur die eschatologische Erwartung verstärkte und im Kontext der Todesnähe Jesu stattfand, sondern auch eine pointierte Tempelkritik vortrug.24 „Die kultkritische Symbolhandlung gegen den Tempel fand ihre Ergänzung in der kultstiftenden Symbolhandlung beim letzten ————— 24

Vgl. G. THEISSEN/A. MERZ, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 383.

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Mahl, wobei Jesus keinen die Zeit überdauernden Kult stiften wollte. Er wollte nur den obsolet gewordenen Tempelkult vorübergehend ersetzen: Jesus bietet den Jüngern einen Ersatz für den offiziellen Kult, an dem sie entweder nicht teilnehmen können oder dessen Teilnahme kein Heil vermitteln kann – bis ein neuer Tempel kommt. Dieser ‚Ersatz‘ ist ein schlichtes Essen. Das letzte Mahl wird durch eine neue Deutung zum Ersatz für den Tempelkult“.25 Diese Deutung ist meines Erachtens historisch möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich. Ihre Probleme sind, dass sie das letzte Mahl Jesu etwas überlädt (Reich-Gottes-Bezug, Todesnähe, Tempelkritik) und dass die gottesdienstlichen Spuren der Tempelkritik in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tod relativ gering sind. Der Tempel ist offensichtlich bis zu dem nach der Tempelzerstörung verfassten Hebräerbrief keine besondere Kontroversthematik zwischen nachösterlicher Jesusbewegung und traditionellem Judentum. Nach der Apostelgeschichte suchen die Apostel sogar weiterhin den Tempel auf und nutzten ihn als Ort für Gebet, Versammlungen und zur Mission (vgl. Apg. 2,46; 3,1. 11; 5,12–16.42 u.ö.). In den frühen Abendmahlstexten wird der Tempel nicht erwähnt. 3. Deshalb hat Theißen auch in „Die Religion der ersten Christen“ den – bereits früher immer als Hypothese dargestellten – Bezug des letzten Mahles zur Tempelkritik etwas zurückgenommen,26 um stärker zu betonen, dass das letzte Mahl Jesu bereits die Verbindung zu seinem Tod nahelegte. Die möglicherweise schon frühe Uminterpretation der Abendmahlstexte auf den Tod Jesu machte aus dem Abendmahl erst eine Feier, die sakramentale Qualität erhalten konnte. „Durch die Beziehung auf Jesu Opfertod wurden die Sakramente potentiell offen dafür, die ganze Opfersemantik und alle Opferfunktionen an sich zu ziehen und zu einem Äquivalent für den Opferkult zu machen.“ (RdeC 193). 4. Die Sakramentalität der Abendmahlselemente Brot und Wein erklärt sich folgendermaßen: Bereits bei seinem letzten Mahl hat Jesus von Nazareth die Elemente als Symbole für seinen Leib und sein Blut im Sinne prophetischer Zeichenhandlungen angesehen. Vielleicht repräsentierten sie zunächst im Sinne von Joh 13 die Liebeshingabe Jesu in einem noch re————— 25 A.a.O., 382. 26 RdeC 180, Anm. 11, verweist noch auf die entsprechenden Abschnitte. In „Der historische Jesus“, 192, schreibt THEISSEN dann aber sehr klar zu Taufe und Abendmahl: „Solche konkurrierenden prophetischen Symbolhandlungen konnten und wollten die traditionellen Riten nicht ersetzen – und wurden auch nicht so verstanden. Die ersten Christen partizipierten weiter am Tempelkult. Sie lehnten keineswegs die Opfer ab.“

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lativ unspezifischen Sinne. Wenn nun das Abendmahl auf seinen Tod gedeutet wurde, konnten sie als heilige Orte seiner Gegenwart verstanden werden. Aus einer Feier mit dem Auferstandenen als personal präsent erlebtem Mahlteilnehmer in der Emmauserzählung (Lk 24, 13–35) wird eine Feier, bei der Christus vor allem in den Elementen gegenwärtig ist. Dieses Verständnis ist schon in 1. Kor 11,23–25 vorhanden.27 5. Die Deutung des letzten Mahles Jesu als Passamahl findet sich exklusiv bei den Synoptikern. Es bedeutet eine Rekapitulation der israelitischen Passatradition, wenn sie auf das letzte Mahl Jesu angewendet wird. Eine solche Deutung lag wahrscheinlich nahe, weil das letzte Mahl Jesu in zeitlicher Nähe zum Passafest stattfand. „Wenn diese Überlegungen stimmen, so wäre Jesus zwar zum Passafest nach Jerusalem gezogen. Aber bevor er Passa dort feiern konnte, wurde er hingerichtet.“28 6. Während das rabbinische Judentum als Reformbewegung das Priestertum nach der Zerstörung des Tempels mehr oder weniger auf sich beruhen lässt,29 sucht das Christentum als Rekapitulationsbewegung neue Signifikate für das Priestertum: im Hebräerbrief ist Christus der Priester nach der Ordnung Melchisedeks (Man beachte den Rückgriff auf Archaisches), im 1. Petrusbrief findet man das allgemeine Priestertum und in der katholischen Messopfervorstellung werden die Pfarrer als Nachfolger des alttestamentlichen Priestertums angesehen. Erst ab jetzt kommt es zu einer massiven Übertragung von Elementen des Tempelkultes (Priester, Weihrauch) und des großen Versöhnungstages (Messopfervorstellung, Gang ins Allerheiligste, Reinigungen des Priesters usw.) auf die Eucharistie. Die Herausarbeitung dieser intensiven Verbindung von Tempelkult und Eucharistie verdanken wir einer noch recht neuen religionswissenschaftlichen Habilitationsschrift, der 2006 erschienenen Arbeit „Vom Tempelkult zur Eucharistiefeier“ von Bertram Schmitz. Da diese Arbeit Anregungen des jüdischen Gelehrten Leo Trepp aufnimmt, soll sie als die Trepp-Schmitzsche These im Folgenden kurz erläutert werden.

————— 27 Vgl. dazu THEISSEN/MERZ, Der historische Jesus, 359f. 28 A.a.O., 376. 29 Vgl. dazu B. SCHMITZ, Vom Tempelkult zur Eucharistiefeier. Die Transformation eines Zentralsymbols aus religionswissenschaftlicher Sicht (Studien zur orientalischen Kirchengeschichte Bd. 38), Berlin 2006.

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Die Trepp-Schmitzsche These als Alternative zur Verbindung von Tempelkritik und Eucharistie bei Jesus Dass die Eucharistie ein Ersatz für den Tempelkult darstellt, hat Theißen zu Recht beobachtet. Er hat diese Substitution bereits sehr früh angesetzt: „Vielleicht hat Jesus nur gesagt: ‚Dies ist der Leib für euch‘ – und damit gemeint: Dies Brot tritt jetzt für euch an die Stelle der sonst im Tempel verzehrten Opferspeise, an die Stelle des Leibes des geopferten Tieres“.30 Anders sieht Leo Trepp die Entwicklung: Den frühen Christen diente „die Synagoge als Vorbild. Dies änderte sich mit der Zerstörung des Tempels. Jetzt bemühten sich die Christen, einen Gottesdienst zu schaffen, der in ihrer Vorstellung dem ehemaligen Tempelgottesdienst entsprach, betrachteten sie sich doch als seine Erben. Aber weder Juden noch Christen hatten nach einigen Generationen noch ein genaues Bild vom Tempelgottesdienst. Zudem hatte eine große Zahl von Heiden den christlichen Glauben angenommen, die keinerlei Erinnerung an den Tempel hatten. Die Rabbinen verboten die Übernahme gewisser Tempelriten, die Christen übernahmen sie. Dazu zählt die priesterliche Hierarchie. Hiernomynus schreibt: ‚was Aaron, seine Söhne und die Leviten im Tempel waren, sind jetzt die Bischöfe, Priester und Diakone in der Kirche.‘ […] Vom Tempel übernahm man die kultischen Gewänder, den Weihrauch und vor allem den Altar, auf dem der Priester in der Messe das heilige Opfer darbringt.“31 Viel ausführlicher als Trepp entwickelte der Religionswissenschaftler Bertram Schmitz die These, dass nach der Zerstörung des Tempels eine „Erbaufteilung“ zwischen Kirche und Synagoge stattgefunden habe, bei der die Kirche Tempelkult, Priestertum, Weihrauch, Opfer, Psalmengesang und den Versöhnungsritus im Abendmahl geerbt habe, während das rabbinische Judentum die Toragelehrsamkeit, die Reinheitsgebote und die Heiligung des Alltags erhalten hat. Insbesondere in der Betonung des koscheren Essens steht jedes jüdische Haus in der Nachfolge des Tempelkults. Für unseren Zusammenhang besonders wichtig ist, dass Schmitz aufzeigt, dass die Eucharistie die christliche Entsprechung zum Jom Kippur ist. Dies gilt zumindest in drei Punkten: – Die Position: Während Jom Kippur im Tempelgottesdienst das Ritual ist, dem der höchste Stellenwert zukommt, ist es im Christentum die Eucharistie.

————— 30 31

THEISSEN/MERZ, Der historische Jesus, 382. L. TREPP, Der jüdische Gottesdienst. Gestalt und Entwicklung, Stuttgart u.a. 1992, 280f.

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– Die Intention: In beiden Ritualen wird zweierlei vermittelt: unüberbietbare Gottesnähe und Sündenvergebung. – Phänomenologie des Ablaufs: a) Vorgänge  Der Akteur präpariert sich durch Waschung, Kleiderwechsel, Gebet und die Gegenstände.  Das Allerheiligste (Kapporet/Altar), an dem sich die rituelle Gegenwart Gottes befindet, wird mit Weihrauch umhüllt.  Im Zentrum wird ein Blutopfer zur Sündenvergebung zelebriert (Stier/Blut Christi).  Das Opferritual wird verbalisiert und gedeutet zur Vergebung der Sünde.  Das zu Opfernde wird als Träger der Sünden verstanden.  Die Präparation wird aufgelöst. b) Personen  Hohepriester bzw. Priester/Bischof als Instrument des Hohepriesters Jesus Christus.  Ganz Israel – Die Gemeinde (als Corpus Christi)  In beiden Fällen agiert der (Hohe-)Priester für die ganze Gemeinschaft. c) Gegenstände  Opfergaben: Stiere, Bock/Jesus Christus.  Das Blut (und Fleisch) der Tiere – Der Wein (und das Brot) als Christi Blut (und Fleisch).  Weihrauch.  Die Zeremonialkleidung des Hohepriesters bzw. überhaupt des Klerus.  Der Opferaltar und die Kapporet – Der Altar (die Opferplatte, das Altarsymbol).  Die Schriftrolle – Die Agende.32

Darüber hinaus zeigt Schmitz auf, dass es in der syrischen Eucharistieliturgie (Qurbana) bis heute noch zahlreiche Überbleibsel des Bezugs auf den Jom Kippur gibt. Um nur die wichtigsten zu nennen: Ähnlich wie beim jüdischen Versöhnungsfest muss der Priester sich zuerst reinigen, um die Eucharistie feiern zu können. Der syrische Priester tritt hinter den Vorhang und ruft die Gemeinde auf: „Bittet für mich, damit ich für würdig befunden werde, das heilige und lebendige Opfer für die ganze Kirche darzubringen“.33 „Entscheidend für den Altar ist in der syrischen Tradition ein Holz————— 32 SCHMITZ, Vom Tempelkult zur Eucharistiefeier, 123f. 33 J. MADEY, Anaphora – Die göttliche Liturgie im Ritus der syro-antiochenischen Kirche und der Malankarischen Kirche, Kottayam (Indien)/Paderborn 41995, 24. Zit. nach SCHMITZ, Vom Tempelkult zur Eucharistiefeier, 119.

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täfelchen (tablitho), welches den Opferort symbolisiert“.34 Dieses Täfelchen entspricht der Kapporet (Röm 3,25). Der syrische Priester küsst die vier Ecken des Altars wie im Jom Kippur-Ritual die vier Hörner des Opferaltars mit Blut besprengt wurden.35 Schmitz betont, dass er mit dieser Rekonstruktion ohne intensivere pagane Einflüsse auskommt, um die Geschichte des Abendmahls zu erklären. Er zeigt vielmehr anhand des Hebräerbriefs die Transformation philonischer Theologumena im Christentum auf. Nach der Trepp-Schmitzschen These wurde die Deutung des Abendmahls als Passamahl nach 70 n.Chr. abgelöst durch seine Reinterpretation als Ersatz für den Versöhnungstag im Tempel. Der Anfang dieser Ersetzung hat sich im Hebräerbrief schriftlich überliefert. Vollständig durchgeführt wird er aber erst in den Liturgien und Theologien der Alten Kirche. Nimmt man diese Rekonstruktion an, dann kann man sagen: Die Abendmahlshandlung und die Elemente Brot und Wein waren mehrfachen Reinterpretationen ausgesetzt, die jeweils die gegenwärtige Geschichte in ihrer Weise mit einer Rekapitulation des Alten Testaments verbunden haben. Eine erste Rekapitulation verbindet das Abendmahl mit dem Passafest, eine zweite mit dem Versöhnungstag. Eine erste Rekapitulation sieht in Brot und Wein eschatologische Speise, Manna vom Himmel, eine zweite Rekapitulation sieht in Brot und Wein Orte der versöhnenden Gegenwart Christi. Davor und daneben sind Brot und Wein Symbole der Hingabe Jesu, seines Todes, der endzeitlichen Versammlung der Gemeinde und der Gemeinschaft der Christen. Ein solcher akkumulativer Symbolismus führt, vor allem wenn der zum Tempel analoge Opfercharakter und die Ansprüche der Priesterhierarchie dominant werden, zu Verdeckungen des ursprünglichen Sinns des Abendmahls.

6. Rekapitulation des Zeichensystems der israelitischen Religion und Rekapitulation der Welt Semiotisch kann man also, und dies ist meine These, das wesentlich Neue, das durch das Christentum in die Welt gekommen ist, als manchmal einmalig, manchmal mehrfach vollzogene semiotische Revolution oder als Rekapitulation des Zeichensystems der jüdischen Religion beschreiben. Dies berührt sich mit einem noch sehr neuen Vorschlag des in Lausanne lehrenden Systematikers Pierre Gisel. In seinem 2007, in den Presses universitaires de France erschienen Buch „La théologie“ beschreibt er, dass das ————— 34 35

SCHMITZ, Vom Tempelkult zur Eucharistiefeier, 119, Anm. 62. A.a.O., 122.

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Besondere des Christentums inhaltlich näher bestimmt werden kann durch die Rede von der Rekapitulation der Welt und der Seele.36 Schon vor Irenäus von Lyon findet sich in der Bibel bekanntlich die Rede von der Rekapitulation, anakephalaiosis. Recapitulare ist eine der Vulgataübersetzungen von CXPCMGHCNCKYUCUSCKVCRCPVCin Eph. 1,10. Hier hat recapitulatio bereits einen umfassenderen Sinn. Es geht nicht allein um eine Rekapitulation der biblischen Zeichensprache, sondern um eine Rekapitulation des Alls. Die letzte, umfassende Legitimation einer revolutionären Rekapitulation der biblischen Zeichensprache ist eine radikale Veränderung in der Welt. Was dies bedeutet, kann man unter anderem durch Theißens Rezeption der Evolutionstheorie verdeutlichen. Theißen zufolge ist Jesus Christus nicht nur eine Mutation menschlichen Verhaltens, sondern er ist der Durchbruch des antiselektionistischen Protestes. Dieser Protest ist in allen Bereichen der Kultur wirksam, er findet aber in Jesus von Nazareth seinen zentralen Ausdruck. Theißen schreibt: Die zentrale Wirklichkeit begegnet uns auf allen Ebenen der Evolution und des eigenen Lebens als von außen gegebene Lebenschance und Lebensdruck, als Resonanz und Absurdität, als gelungene und scheiternde Anpassung. Innerhalb der bisherigen (biologischen und kulturellen) Evolution verhalten sich Lebenschance und Lebensdruck immer so, daß Lebenschancen nur in dem Rahmen zur Verfügung stehen, den selektiver Druck zulässt. Gelungene Anpassung gibt es nur, soweit es die selegierenden Faktoren der Wirklichkeit zulassen. In mythischer Sprache ausgedrückt: Die Güte Gottes wird durch sein Gericht begrenzt. Alles Leben steht unter dem Vorzeichen, daß es auf ein Vernichtungsgericht zuläuft, welches seine Grenzen absteckt. Alle Lebenschancen sind bedingt. In der Verkündigung Jesu wird dies Verhältnis umgekehrt: Gott erscheint als der, der Lebenschancen gerade denen gibt, die eigentlich dem Gericht verfallen sind und daher scheitern müssten. Der Zuspruch einer unbedingten Lebenschance – unabhängig von der Drohung des Gerichts – ist das Zentrum der Verkündigung Jesu und des Neuen Testamentes. Wenn die Grunderfahrung des Täufers der das Leben bedrohende verschärfte Selektionsdruck ist – dargestellt in mythischen Phantasien vom unmittelbar bevorstehenden Gericht –, so ist die Grunderfahrung Jesu: Aufhebung des Selektionsdrucks. Das

————— 36 Vgl. P. GISEL, La théologie. Paris 2007, 12: „Le christianisme, comme religion constituée dans la seconde moitié du IIe siècle (par delà la dissidence juive qu’il représentait d’abord), est issu d’une recomposition du judaïsme exposé à l’acculturation, et il s’inscrit dans une mouvance plus large, hellénistique et gnosticisante, même s’il en corrige une prégnance forte en se présentant et se pensant comme attestation d’une ‚récapitulation de la création‘ (c’est alors un motif central), non comme offre d’un salut d’en haut qui permettrait à l’humain de sortir de sa situation exilée, pour le christianisme, le crée – la matière, les corps et l’histoire – est traversé d’une dramatique, qu’un ‚salut‘ prend en charge et porte à achèvement.“

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Leben hat eine Chance. Gott ist gütig. Anders ausgedrückt: Die Grundbedingungen der Realität lassen sehr viel mehr menschliches Fehlverhalten zu, als alle Weltuntergangspropheten wahrhaben wollen. Das wird nicht als Aufforderung verstanden, so fortzufahren wie bisher. Die Möglichkeit des Gerichts bleibt bestehen. Aber das Vertrauen auf die Güte Gottes, also darauf, daß menschliches Fehlverhalten nicht sofort zur großen Katastrophe führt, wird zur Grundlage von Verhaltensänderung, zweifellos eine bessere Grundlage als die Angst vor dem totalen Kollaps.37

Theißen spricht hier von einer Umkehrung. Die Evolutionsgeschichte bekommt ein neues Caput, ein neues Haupt, der gütige Gott und Jesus Christus, der Beispiel gelungener Anpassung an die zentrale Wirklichkeit ist. Dies gilt, in aller Vorläufigkeit und Begrenzung, als Glaubens- und Hoffnungsaussage; aber immerhin: Theißen gelingt es mit dieser Deutung, Anschluss zu gewinnen an die Großtheorie, die trotz postmoderner Infragestellungen nach wie vor die große integrative Theorie für Lebens- und Humanwissenschaften ist: die Evolutionstheorie in ihrer dynamischen Variante, die auch eine Evolution der Evolutionsfaktoren mit bedenkt. Theißen zeigt eine Übersetzungsmöglichkeit der biblischen Zeichenwelt in die Zeichenwelt der modernen Wissenschaften, bei der Jesus Christus auch in der modernen Zeichenwelt der Evolutionstheorie oder der modernen Psychologie eine analoge und zentrale Rolle einnehmen kann. Er ist sich dabei dessen bewusst, dass diese Übersetzung, wie jede Übersetzung ihre Grenzen hat. Sie kann nicht alles wiedergeben, was in der biblischen Zeichensprache gesagt wird, es geht bei der Übersetzung auch vieles verloren. Die Möglichkeit der Übersetzung festzuhalten, ist aber von großem Wert für den christlichen Glauben, weil auch hier das semiotische Gesetz gilt: was in diesem pluralistischen Universum mit unterschiedlichen realistisch zu interpretierenden Zeichensystemen relativ analog erkannt wird, gehört zu einem Kern gemeinsam anerkannter Realität; was in der einen Sprache so, in der anderen aber ganz anders erkannt wird, ist demgegenüber verstärkter Fraglichkeit ausgesetzt. Im Rückblick auf Theißens Theorie der Entstehung des Christentums scheint das Buch über Evolutionstheorie weiter zu gehen als „Die Religion der ersten Christen“. In der Evolutionstheorie ist Christus mehr als eine Mutation menschlichen Verhaltens, sondern Exponent einer grundlegenden Veränderung der Gesetze der Welt. Theißen nähert sich hier also stärker dem Rekapitulationsgedanken.

————— 37

G. THEISSEN, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984, 145f.

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7. Rekapitulation der menschlichen Seele als Person Die Rekapitulation von Welt und Zeichensystem hat im Christentum natürlich auch Folgen für eine Rekapitulation der menschlichen Seele. Pierre Gisel beschreibt diese „Rekapitulation“ der Seele als ein Einräumen einer Stelle für Selbsterkenntnis durch den Glauben. De même, c’est à l’encontre de la cristallisation et de la quasi-récapitulation en forme de personne que propose le christianisme à l’enseigne de la foi, avec ce qui pourra s’y dire de tourments de l’âme, que le judaïsme rappelle souvent qu’il vit de la verticalité de la seule Loi, radicalement transcendante et ne pouvant, à ce titre, que l’absolu d’une pure obéissance. Soulignons que, en sa posture chrétienne, la foi peut donner lieu à connaissance – la connaissance des ‚mystères de Dieu‘, qui est connaissance du cœur, via expérience et épreuve – et être objet de connaissance, aussi vrai que l’humain comme tel y est engagé justement, voire transformé : il y est en procès, et il y est exprimé.38

Auch im Anschluss an Theißen besteht diese Rekapitulation im Kern darin, dass im Gegenüber zur größeren Akzeptanz, die der Mensch von Gott her empfängt, eine größere Toleranz gegenüber der Vielschichtigkeit des Menschen ermöglicht wird. Der Mensch muss sich nicht mehr als gut oder böse, als Sohn des Lichts oder der Finsternis zuordnen, sondern er kann das Böse in sich als seine Realität wahrnehmen ohne gleichzeitig das Gute leugnen zu müssen. Ambiguitätstoleranz gegen sich selbst und gegen andere wäre ein moderner sozialpsychologischer Ausdruck für diese Neue, das in Römer 7 in großer Klarheit zum Ausdruck kommt.39 „Was Paulus in Phil 3 verschweigt – nämlich wie er im Lichte der ‚Erkenntnis Jesu Christi‘ (Phil 3,8) seine vorchristliche Zeit sieht – eben das entfaltet er in Röm 7, wobei er seinem eigenen Schicksal allgemeingültige Form gibt, jedoch durch das typische GXIYseine hohe Ich-Beteiligung verrät. Phil 3 und Röm 7 ergeben erst zusammen ein zutreffendes Bild: Der demonstrative Gesetzesstolz des Pharisäers Paulus war Reaktionsbildung auf einen unbewussten Gesetzeskonflikt, in dem das Gesetz zum angstauslösenden Faktor geworden war. Paulus konnte sich damals sein Leiden unter dem Gesetz nicht eingestehen. Als aber durch die Begegnung mit Christus die Hülle von seinem Herzen fiel, erkannte er die Schattenseiten seines Gesetzeseifers.“40 Diese Toleranz ermöglicht die Konstitution des Menschen als Person, die sich zu ihren Neigungen, Trieben und unbewussten Motiven bekennt, nicht ————— 38 GISEL, La théologie, 13. 39 Vgl. dazu L. KRAPPMANN, Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart 1969 und J. REIS, Ambiguitätstoleranz. Beiträge zur Entwicklung eines Persönlichkeitskonstruktes, Heidelberg 1997. 40 THEISSEN, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, 244.

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aber auf diese festgelegt bleibt. Stattdessen zeichnet Theißen die paulinische Anthropologie nach als ein Nebeneinander von ganzheitlichem und dualistischem Menschenbild, das sich nur durch die Transformationsdynamik verstehen lässt, die jeden Christen nach Paulus erfasst. „Man sieht sehr schnell, dass bei Paulus nicht etwa ein wertvoller Teil im Menschen erhalten bleibt, während der andere verfällt. Vielmehr sind ‚Vernunft‘ (noûs) und ‚innerer Mensch‘ ebenso erneuerungsbedürftig wie der äußere Mensch. Umgekehrt wird aber der Leib (das sôma) verwandelt. […] Das göttliche Pneuma ergreift den Menschen und verwandelt ihn“41 Diese Entwicklung zur Person ist nicht auf Paulus beschränkt. Die Gnosis realisiert nach Theißen die Möglichkeit, „dass der Mensch auch eine höhere mit ihm verbundene Kraft verdrängt und vergißt.“42 Außerdem ist der Hirt des Hermas zu nennen. „Nicht nur ein so intellektuell sensibler Theologe wie Paulus gelangte in seiner Exploration des Menschen zur Erkenntnis eines tiefendynamischen Unbewussten im Menschen, sondern auch der sehr viel schlichtere Hermas. Voraussetzung dieser Entwicklung ist die strenge urchristliche Moral, die durchschnittliche Christen überforderte und zu Verdrängungen und Leugnungen führen mußte. Eigentlich müßten die durch Taufe und Geist transformierten Christen von Sünden frei sein. Der intellektuell hochstehende Hebräerbrief hält an dieser Fiktion fest. Für ihn gibt es für die Bekehrten keine zweite Chance der Bekehrung. Die große Bedeutung des Hermas ist die Aufdeckung dieser Verleugnung: Die Christen wollen zwar nicht wahrnehmen, daß sie voll normwidriger Impulse sind, aber sie dürfen sich das eingestehen, weil sie eine zweite Chance zur Umkehr erhalten.“43 Auch wenn man das Bild wahrscheinlich noch durch zahlreiche andere, nichtchristliche Entdeckungen der Ambiguitätstoleranz im Menschen ergänzen muss,44 beginnt sich eine Spur eines Menschseins, das von der Rekapitulation der Seele als Person ausgeht, vom Neuen Testament durch die Geschichte bis zum heutigen Tag hin zu ziehen.

————— 41 G. THEISSEN, Erleben und Verhalten der ersten Christen, Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007, 84f. 42 A.a.O., 108. 43 A.a.O., 108. Die besondere Bedeutung des Hirten des Hermas hat Petra von Gemünden entdeckt. Vgl. dazu: P. V. GEMÜNDEN, Affekte und Affektkontrolle im antiken Judentum und Urchristentum, in: G. THEISSEN/P. VON GEMÜNDEN (Hg.), Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des frühen Christentums, Gütersloh 2007, 249–270. 44 Zu denken wäre etwa an die griechische Tragödie oder an die römische Liebeslyrik, die aber beide sich normalerweise nicht dem Gedanken der Transformationsdynamik nähern.

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8. Einige Konsequenzen Wenn man Rekapitulation des israelitischen Zeichensystems als Grundmotiv des entstehenden Christentums ansieht, dann bedeutet dies, dass eine enge Beziehung des Christentums zum so genannten Alten Testament vorliegt. Ohne das Alte Testament kann semiotisch gesprochen kein Neues Testament entstehen. Rabbinisches Judentum und Christentum sind etwa zeitgleich entstehende, intensiv auf das AT bezogene Religionen, die semiotisch unterschiedlich mit demselben Erbe umgehen. Die christliche, oftmals christologische Interpretation des Alten Testaments ist deshalb alles andere als ein Randthema der neutestamentlichen Theologie. Schwieriger zu entscheiden ist, was daraus folgt, dass sich das Christentum seit etwa Ende des 1. Jahrhunderts nicht nur zum Judentum, sondern auch zur griechisch-römischen Antike wie zu einer Mutterreligion verhalten hat und eine Rekapitulation der paganen Mythologie (Christus- Orpheus, Christus- Sol, usw.) vollzogen hat.45 Man kann dies als synkretistische Überfremdung verurteilen, kann darin aber auch ein Modell sehen, wie das Christentum auch mit anderen Religionen umgehen kann? Auf diese Frage kann man nur eine Antwort geben, wenn man die Rekapitulation des Kosmos zu Grunde legt. Auch die paganen Religionen gehören zum Kosmos. Deshalb werden auch sie von Christus rekapituliert. Eine kritische Integration und Neuinterpretation der heidnischen Religionen wird deshalb auch hier der Weg sein, den christliche Theologie gehen soll.

————— 45 Vgl. z.B. H. RAHNER, Griechische Mythen in christlicher Deutung, Basel 1984. J.B. FRIEDMAN, Orpheus in the Middle Ages, Cambridge/Mass. 1971. M. WALLRAFF, Christus Verus Sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike, Münster 2001.

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Ansätze zur psychologischen Auslegung im hellenistischen Judentum und frühen Christentum

Psychologische Auslegung ist keine moderne Art der ‚Exegese‘ – sie ist sehr alt und hat eine lange Tradition.1 In der neutestamentlichen Wissenschaft der letzten hundert Jahre ist sie jedoch mehrheitlich ausgeklammert worden:2 Ihr schlagen verbreitet Misstrauen und Ablehnung entgegen. Sie steht unter dem Verdacht, kein ‚seriöser‘, wissenschaftlicher Umgang mit der Bibel zu sein. Zudem gehe sie, so ein häufig geäußerter Vorwurf, an der theologischen Intention der Texte vorbei.3 G. Theißen hat die Vorbehalte in der Einleitung seiner „Psychologische[n] Aspekte paulinischer Theologie“ 1983 pointiert formuliert: „Jeder Exeget hat gelernt: Eine psychologische Exegese ist eine schlechte Exegese“.4 Diese Meinung hat sich auch in Äußerungen zu diesem Buch von G. Theißen niedergeschlagen. Daher zeugt es von Mut und innerer Unabhängigkeit, dass G. Theißen es gewagt hat, sich gegen den mainstream (ganz besonders im deutschsprachigen Kontext) diesem Forschungsfeld weiter zuzuwenden. Ja, dass er seine Forschungen ausgeweitet hat hin zu einer Psychologie der urchristlichen Religion, die er vor allem in seinem 2007 erschienenen Buch „Erleben und Verhalten der ersten Christen“ niedergelegt hat.5 ————— 1 Diese Tradition ist (bisweilen) eng mit der antiken Psychologie verbunden. 2 In W.G. KÜMMEL, Das Neue Testament im 20. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht, SBS 50, Stuttgart 1970 und in M. EBNER/B. HEININGER, Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis, 2. verb. und erw. Aufl. 2007, Paderborn u.a. 2007 spielt z.B. die psychologische Exegese keine Rolle. 3 Vgl. dazu: M. LEINER, Die drei Hauptprobleme der Verwendung psychologischer Theorien in der Exegese, ThZ 53, 1997, 289–303, hier 293. 4 G. THEISSEN, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, FRLANT 131, Göttingen 1983, 11. 5 G. THEISSEN, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007. G. Theißen bezieht darin eine in der neutestamentlichen Wissenschaft seit dem ersten Weltkrieg oft ausgeklammerte oder an den Rand gedrängte Dimension in seine exegetischen Überlegungen mit ein und ermöglicht so ein breiteres Verstehen. Schon 1985 hat H.-J. Venetz grundsätzlich festgestellt: „Wenn biblische Texte wirklich ‚nicht vom Himmel gefallen‘ sind, tragen sie auch auf all ihren Ebenen bzw. Traditionsstufen den Stempel menschlicher Mehrdimensionalität. […] eine dieser vielen Dimensionen auszuklammern, würde sich auf die Interpretation der Texte fatal auswirken“ (H.-J. VENETZ, „Mit dem Traum, nicht mit dem Wort ist zu beginnen“. Tiefenpsychologie als Herausforderung für die Exegese? in: B. BENEDIKT/A. SOBEL [Hg.], Der Streit um Drewermann. Was Theologinnen und Psychologinnen kritisieren, Wiesbaden/Berlin 1992, 28–38, hier: 36f, Erstveröffentlichung in: Orientierung 49, 1985, 192–195).

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Petra von Gemünden

Die Vorbehalte gegen die psychologische Exegese haben viele Gründe.6 Einer der wichtigsten ist der Anachronismusverdacht, den Lucien Febvre, einer der Begründer der École des Annales, im Jahr 1938 formuliert hat:7 Der Anachronismus stelle sich unbewusst ein, „wenn Menschen sich, so wie sie sind, in die Vergangenheit projizieren, mit ihren Empfindungen, ihren Vorstellungen, ihren intellektuellen und moralischen Vorurteilen – und die sodann […] in ihren Helden all das wiederfinden, was sie zuvor hineingesteckt haben […]“.8 Die Gefahr des Anachronismus besteht generell in der historischen Wissenschaft, liegt aber bei einer psychologischen Zugangsweise besonders nahe und ist folglich zu reflektieren und im Auge zu behalten.9 Wir werden darauf zurückkommen. Bevor wir weitergehen, sei präzisiert: Was genau ist eine psychologische Auslegung? Eine psychologische Exegese will, so die Definition von G. Theißen, „[…] menschliches Verhalten und Erleben soweit wie möglich beschreiben und erklären“.10 Sie versucht „Texte als Ausdruck und Vollzug des menschlichen Erlebens und Verhaltens zu deuten“.11

*** In diesem Aufsatz möchte ich näher darauf eingehen, dass wir im antiken Judentum und im Neuen Testament nicht nur „Texte als Ausdruck und Vollzug menschlichen Erlebens und Verhaltens“ finden,12 sondern dass wir dort auch schon psychologische Interpretationen biblischer Texte in dem Sinne finden, dass sie in diesen Texten das Verhalten und Erleben von Menschen in einem vorwissenschaftlichen Sinne sichtbar machen. Es han————— 6 Hier werden neben dem Anachronismusverdacht häufig der textwissenschaftliche Naivitätsverdacht, der Trivialitätsverdacht und der Vorwurf des Reduktionismus geäußert. Weiter wird auf das Problem des Quellendefizits hingewiesen. Zu diesen Vorbehalten vgl. zusammenfassend THEISSEN, Erleben und Verhalten, 21–32. 7 In Deutschland wurde der Anachronismusverdacht besonders deutlich von K. Berger formuliert: K. BERGER, Historische Psychologie des Neuen Testaments, SBS 146/147, Stuttgart 1991. K. Berger wendet sich in diesem Buch dezidiert gegen die Anwendung moderner psychologischer Theorien auf das Urchristentum. M. Leiner hat darauf hingewiesen, dass sich K. Berger gleichwohl mit der Rede von der „eidetischen Wahrnehmung“ eines Begriffs bedient, den der Marburger Psychologe E.R. Jaensch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt hat und der folglich der modernen Psychologie entstammt (M. LEINER, Psychologie und Exegese. Grundfragen einer textpsychologischen Exegese des Neuen Testaments, Gütersloh 1995, 123). 8 L. FEBVRE, Geschichte und Psychologie, in: DERS., Das Gewissen des Historikers, hg. und aus dem Franz. übers. von U. Raulff, Berlin 1988, 79–90, hier: 86 (= L. FEBVRE, Histoire et Psychologie, in: DERS., Combats pour l’histoire, L’Ancien et Le Nouveau, Paris 1992 [1953], 207– 220, hier: 215). THEISSEN, Erleben und Verhalten, 26. 9 10 THEISSEN, Psychologische Aspekte, 11. 11 THEISSEN, Psychologische Aspekte, 11. 12 THEISSEN, Psychologische Aspekte, 11.

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Ansätze zur psychologischen Auslegung

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delt sich dabei um Texte, die sich in unterschiedlicher Weise auf einen anderen Text beziehen und ihn (mit oder ohne Anhaltspunkt am auszulegenden Text) psychologisch deuten. Drei Arten von Beziehungen zwischen auszulegendem und psychologisch auslegendem Text möchte ich im Folgenden unterscheiden, indem ich drei von G. Theißen vorgestellte Kategorien für meinen Untersuchungsgegenstand adaptiere:13 Ich unterscheide – zu immer bewussterer psychologischer Auslegung fortschreitend – I) zwischen Text und symbolisierendem Kontext, II) zwischen (mythischem) Text und (psychischem) Paralleltext III) zwischen Prätext und Text.

I) Text und symbolisierender Kontext Hier gewinnt ein Ereignis oder eine Sache, die zur äußeren Welt gehört, durch Einbettung in einen größeren Kontext einen symbolisch-psychologischen Mehrwert an Sinn. Deutlich wird das bei der Heilung des Taubstummen in Mk 7,31–37 und der Heilung des Blinden in Mk 8,22–26: Formal stellen die beiden Perikopen Therapien dar. Im Kontext von Jesu Frage an die unverständigen Jünger: „Habt ihr denn keine Augen, um zu sehen, und keine Ohren, um zu hören?“ (Mk 8,18)14 gewinnen diese beiden Heilungsgeschichten15 einen psychologisch-symbolischen Mehrwert:16 Zum akustischen Hören kommt das (innere) Verstehen, zum visuellen Sehen die innere Erleuchtung. Dieses psychologische Verständnis können wir für die Blindenheilung in Mk 8,22– 26 durch die Interpretation der Blindenheilung in Joh 9 stützen: Auch dort geht es um die Erkenntnis – und daraus folgend Anerkenntnis Jesu –, wenn ————— 13 THEISSEN, Psychologische Aspekte, 57. 14 Jer 5,21b; Ez 12,2. Nach Mk 7,18, vgl. 8,17.21; 6,52 sind die Jünger (immer noch) unverständig (a0su/nhtoi). Dieses Unverständnis besteht nach „7,1–30 … darin, dass nicht das Halten jüdischer Kultvorschriften den Menschen vor Gott rein macht, sondern der innere Mensch, der lebendige Glaube“ (L. SCHENKE, Die Wundererzählungen des Markusevangeliums, SBB 5, Stuttgart 1974, 280). 15 Mk 7,31–37 und Mk 8,22–26. 16 Vgl. K. KERTELGE, Die Wunder Jesu im Markusevangelium. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, StANT 23, München 1970, 160f.163f; SCHENKE, Die Wundererzählungen des Markusevangeliums, 279 („[…] so geht es dem Evangelisten gerade darum, dass Jesus hier Ohren öffnet. Dieses Tun Jesu ist ihm Symbol und Sinnbild dafür, dass nur der Herr selbst die tauben Sinne der Gemeinde für seine ‚Lehre‘ öffnen kann“). Zu Mk 8,22–26 vgl. W. GRUNDMANN, Das Evangelium nach Markus, ThHK 2, Berlin 61973, 164f.; E. KLOSTERMANN, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1936, 77. Gegen eine „allegorische“ Bedeutung von Mk 8,22–26 wendet sich J. ROLOFF, Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den Jesus-Erzählungen der Evangelien, Göttingen 1970, 130f.

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Jesus in Joh 9,39 sagt: „Um zu richten, bin ich in diese Welt gekommen; damit die Blinden sehend und die Sehenden blind werden“ und anschließend die Pharisäer als Blinde bezeichnet.17 Jesus, der diese Worte im Johannesevangelium spricht, ist der, der im Kontext von sich sagt: „Ich bin das Licht der Welt!“ (Joh 8,12, vgl. Joh 9,5).18 Jesus, das Licht der Welt, evoziert den Dualismus von Licht und Finsternis, der das Johannesevangelium durchzieht.19 Damit wird die mythische Dimension angesprochen. Wir sind nun beim nächsten Punkt: dem psycho-mythischen Parallelismus.

II) (Mythischer) Text und (psychischer) Paralleltext Hier bezieht sich der psychologienahe Text nicht referentiell auf den mythischen Text, sondern steht parallel zu diesem. G. Theißen hat dafür den Begriff „psycho-mythischer Parallelismus“ geprägt.20 Hier stehen also ein innerer (psychischer) und ein äußerer (mythischer) Vorgang parallel zueinander: Der eine bildet sich im anderen ab. Zwei Beispiele möchte ich dafür anführen: 1) In der Sapientia Salomonis greift der Verfasser auf die neunte ägyptische Plage von Ex 10,21–29 zurück.21 Diese bestand in einer tiefen Finsternis, die ganz Ägypten heimsuchte, während sich die Israeliten in Ägypten ————— 17 Diese Interpretation wird durch das Bildfeld gestützt: So ist „Blindheit“ in Ez 12,2; Jer 5,21; Ps 69,24f.; Mt 15,13 und Apk 3,17 metaphorisch im Sinne von geistiger Blindheit verwandt, vgl. auch die tufloi\ th=? kardi/a? Joh 12,40; 2Kor 4,4; Mt 13,14–17; Mk 4,12; Apg 28,26f., J.A. FITZMYER, Essays on the Semitic Background of the New Testament, London 1971, 396. Zu Joh 9,39ff. vgl. O. CULLMANN, Der johanneische Gebrauch doppeldeutiger Ausdrücke als Schlüssel zum Verständnis des Vierten Evangeliums, in: O. CULLMANN, Vorträge und Aufsätze 1925–1962, hg. v. K. Fröhlich, Tübingen/Zürich 1966, 176–186, hier: 183. Vgl. weiter: 1Joh 2,11: „Wer seinen Bruder haßt, ist in der Finsternis (skoti/a), … die Finsternis hat seine Augen blind gemacht (h9 skoti/a e0tu/flwsen tou\j o0fqalmou\j au0tou=)“. In der paganen Literatur bezeichnet ‚Blindheit‘ häufig den Zustand der Unwissenheit (a!gnoia), vgl. Parmenides (H. DIELS, Fragmente der Vorsokratiker griechisch und deutsch, Bd. I, Zürich 1951) 28 B 6,7; Demokrit (H. DIELS, Fragmente der Vorsokratiker griechisch und deutsch, Bd. II, Zürich u.a. 1921) 68 B 175; Pindar, Nem 7,23; Plato rep. VI,506 C; VII,518C; Plato Phaidr 270 D.E; Plato Gorg 479 B; E. LESKY, Art. Blindheit, RAC 2, 1954, 433–446, hier: 442; W. SCHRAGE, Art. † tuflo&j, † tuflo&w in: ThWNT VIII, Studienausgabe Stuttgart u.a. 1990, 270–294, passim, sowie Sophoc.Oed.R. 367ff. und dazu H. MUSURILLO, Symbol and Myth in Ancient Poetry, Westpoint (Conn.) 21977, 88: „[…] in his vision, Oedipus is blind (367), whereas Teiresias, though blind, can see.“ 18 Die Vorstellung innerer Erleuchtung ist ebenfalls durch das Bildfeld gestützt, da schon im Alten Testament der Vorgang menschlicher Erkenntnis als Erleuchtung (durch das Licht Gottes) bezeichnet werden kann, vgl. Ps 4,7; 112,4; 119,105; Spr 4,18. 19 Joh 8,12; Joh 1 u.ö. 20 Vgl. THEISSEN, Psychologische Aspekte, 56. 21 In SapSal 17,1–18,4 ist der Exodusbericht stark psychologisierend überarbeitet, vgl. D. GEORGI, Weisheit Salomos, JSHRZ III/4, Gütersloh 1980, 462 Anm. ad 17,1–18,4. Die psychologische Überarbeitung weist starke Parallelen zur hellenistischen Psychologie auf, vgl. J.M. REESE, Hellenistic Influence on the Book of Wisdom and its Consequences, AnBib 41, Rom 1970, bes. 101f. und 21ff.

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im hellsten Licht befanden.22 Der Verfasser der Sapientia Salomonis parallelisiert nun in SapSal 17,21 die bedrückende Finsternis mit der inneren Not der Ägypter:23 Aber über ihnen allein war eine bedrückende Nacht ausgebreitet, ein Bild der Finsternis, die sie in der Zukunft aufnehmen würde, sich selbst aber waren sie bedrückender als die Finsternis.24

Wie der Kontext zeigt,25 hat die ‚Finsternis‘ ihren Ursprung im Hades,26 ist also mythisch konnotiert. Neben der Finsternis, welche die Ägypter bedrückt, steht die noch größere innere, psychische Bedrückung der Ägypter, die im Textzusammenhang als Zusammenfassung der Halluzinationen und der Furcht27 der Ägypter aufgrund ihres schlechten Gewissens erscheint.28 2) Ein zweites Beispiel sei aus dem Neuen Testament angeführt: Paulus schreibt in 2Kor 4,6: „Denn Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten,/ der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben“.29 ————— 22 Vgl. Ex 10,21–23. 23 K. SIEGFRIED, Die Weisheit Salomos, in: Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments in Verbindung mit Fachgenossen übers. und hg. v. E. KAUTZSCH, Bd. I, Darmstadt 4 1975 (= Tübingen 1900), 476–507, hier: 504, Anm c: „ ‚sie waren sich selbst schwerer‘ [durch die Gewissensangst]“, vgl. G. ZIENER, Der Weg zum Leben: Gerechtigkeit und Weisheit. Das Buch der Weisheit, SKK.AT 20, Stuttgart 1970, 25: „Mit der Finsternis verbindet sich das Gefühl der Ohnmacht und unüberwindlicher Angst; sie wird zum Bild der jenseitigen Finsternis, welche die Gottlosen erwartet.“ ZIENER, Weg, 25 weist darauf hin, dass die Plage dem göttlichen Erziehungsgrundsatz: „Womit einer sündigt, damit wird er bestraft“ entspricht: „Weil die Ägypter die Israeliten eingeschlossen hielten, welche der Welt das Licht der Offenbarung bringen sollten, wurden sie zur Strafe des Lichtes beraubt und in Finsternis eingeschlossen (18,4). Den Israeliten wurde dagegen hellstes Licht geschenkt (18,1) und die strahlende Wolkensäule als Führerin auf unbekannten Wegen: Während der Gottlose hoffnungslos in Finsternis eingeschlossen ist, bewegt sich der Gerechte frei, von der Weisheit (10,17) geführt.“ 24 SapSal 17,21, Übers. GEORGI, Weisheit Salomos, Hervorhebung von mir, P.v.G.; vgl. die Übersetzung von D. WINSTON, The Wisdom of Solomon. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB, Garden City, New York 1979, 303: „[…] over them alone there stretched oppressive night, an image of the darkness which was to receive them; yet they were to themselves more burdensome than darkness“. 25 SapSal 17,14b. 26 Zur Hölle als Ort der Finsternis vgl. P. HEINISCH, Das Buch der Weisheit, übersetzt und erklärt, Exegetisches Handbuch zum Alten Testament 24, Münster 1912, 325. Auf einer griechischen Inschrift von Cotiaeum begegnet der Hades als „dunkles“ Land, vgl. REESE, Hellenistic Influence, 23. 27 „[…] des folles appréhensions“, so C. LARCHER, Le Livre de la Sagesse ou La Sagesse de Salomon III, Etudes Bibiliques N.S. 5, Paris 1985, 981. 28 LARCHER, Livre de la Sagesse III, 981. Vgl. C.L.W. GRIMM, Commentar über das Buch der Weisheit, Leipzig 1837, 355: „Drückender als die Finsterniß waren sie sich selbst, nämlich durch ihr Inneres, ihr böses Gewissen.“ 29 Lutherübersetzung. J. HÉRING, La Seconde Epître de Saint Paul aux Corinthiens CNT(N) VIII, Neuchâtel, Paris 1958, 42 will o$j durch o$ korrigieren und schlägt die Übersetzung vor: „car c’est Dieu qui a dit: que la lumière surgisse des ténèbres, et c’est elle (o$) qui a brillé dans nos coeurs.“

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Im ersten Teil des Verses (2Kor 4,6a) rekurriert er auf das „Und Gott sprach: Es werde Licht“ (kai\ ei]pen o9 qeo/j Genhqh/tw fw=j) von Genesis 1,3 und damit auf den Schöpfungsmythos. Im zweiten Teil des Verses (2Kor 4,6b) parallelisiert er der Schöpfung des Lichts den hellen Schein, den Gott in „unsere Herzen“ gegeben habe, spricht also die menschliche Innendimension an. Die mythische und die psychische Dimension stehen hier ohne direkte Verbindung nebeneinander. Der Bezug des Lichts auf das Innere ist gleichwohl im Bildfeld schon vorbereitet, wie ein Blick auf Ps 111,4LXX zeigt, wo es heißt, dass den Rechtschaffenen ein Licht in der Finsternis aufgeht (e0cane/teilen e0n sko/tei fw=j toi=j eu0qe/sin) – hier ist ‚Licht‘ schon metaphorisch gebraucht.

III) Prätext und Text Der direkte Bezug eines psychologisch interpretierenden Textes auf einen Prätext kommt wohl am häufigsten vor. Hierher gehören Allegoresen, die den Prätext (oder Namen aus dem Prätext) in einem anderen Sinn als dem buchstäblichen (a1lla a0goreu&ei) auf psychologische „Theorien“ oder/und Vorgänge hin deuten.30 Vier Beispiele möchte ich dafür anführen: 1) Sowohl (Ps-)Aristeas31 als auch Philo von Alexandrien32 deuten das Gebot in Dtn 14,6 allegorisch, wonach jedes Tier, das gespaltene Klauen hat und das wiederkäut, gegessen werden darf: Nach (Ps-)Aristeas weist es „für die Einsichtigen auf die Erinnerung“, denn das Wiederkäuen sei „nichts anderes als ein Gedenken an Leben und Bestehen […]“.33 Philo versteht das Wiederkäuen als Wiederholungsvorgang, bei dem sich ein Schüler durch fortgesetzte Übungen die Lehre einprägen könne. Die gespaltenen Klauen stehen bei ihm – über die Deutung (Ps-)Aristeas hinausgehend – für die notwendige Unterscheidung und Sonderung der Gedanken.34 ————— 30 Diese Deutung ist vorbereitet in der antiken psychologisierenden Mythen- und besonders Homerdeutung, vgl. J. PÉPIN, Mythe et allégorie. Les origines grecques et les contestations judéochrétiennes, Paris 21976 (1958), 221–242; F. BUFFIERE, Les mythes d’Homère et la pensée grecque, Collection d’Etudes Anciennes, Paris 1973. H.-J. KLAUCK, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten, NTA NF 13, 2., durchges. Aufl. mit einem Nachtrag, 21986 (1978), 32ff. (passim). Allegoresen können, müssen aber nicht psychologisch sein. 31 Übersetzung hier und im Folgenden aus: N. MEISNER, Aristeasbrief, JSHRZ II/1, Gütersloh 21977, 35–85. 32 Die Übersetzungen aus Philo von Alexandria folgen in diesem Aufsatz, wenn nicht anders angegeben, der Ausgabe von L. COHN, u.a. (Hg.), Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung, Bd. I–VII, Berlin 1909–1964 (= Philo, Deutsch). 33 Arist 153f. Begründet wird das daselbst: „[…] denn er [sc. der Gesetzgeber] ist der Meinung, daß das Leben durch die Nahrung seinen Bestand hat.“ 34 Philo spec. IV,106–109. Vgl. Philo agr 131ff.145ff. Geht es Philo um „jede Einprägung von Wissen“, so (Ps.-)Aristeas ‚nur‘ um die Erinnerung des Gottesgedankens, vgl. I. HEINEMANN,

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2) Ausgehend von der Paradieserzählung in Gen 2,4b–3,24 deutet Philo in seinem Allegorischen Kommentar Adam auf den Verstand (nou=j),35 Eva auf die Sinnlichkeit (ai1sqhsij),36 die Schlange (o!fij) auf die Lust (h9donh&).37 Während die Schlange, also der Affekt der Lust (h9donh&), auf jeden Fall schlecht sei,38 gilt ihm die ai1sqhsij in Legum Allegoriae III,67 ————— Philons griechische und jüdische Bildung. Kulturvergleichende Untersuchungen zu Philons Darstellung der jüdischen Gesetze, Hildesheim/New York 21973, 162; J.N. RHODES, Diet and desire: The Logic of the Dietary Laws According to Philo, EThL 79, 2003, 122–133, hier: 126f., sowie Arist 155f, wo das Gedenken ausgehend von Dtn 7,18 ganz auf Gott bezogen wird: „Deshalb gebietet er [sc. der Gesetzgeber] auch in der Schrift: ‚Gedenke des Herrn, der an dir das Große und Wunderbare getan hat.‘ Wenn man nämlich überlegt, erscheint einem zunächst die Konstitution des Körpers groß und herrlich, und zwar in der Verwertung der Nahrung wie in dem differenzierten Zweck jedes einzelnen Gliedes; (156) weit mehr aber noch bleiben die Sinne, die Tätigkeit und Bewegung des Geistes, auch die Fähigkeit, stets schnell zu handeln, sowie die Erfindung der Künste unübertrefflich.“ Auch die Bestimmung, dass keine wilden, sondern nur zahme Tiere zu opfern sind, wird in Arist 170 psychologisch interpretiert, wie ihre Begründung zeigt: „damit die Opfernden sich keiner Schlechtigkeit bewusst sind“, da der Opfernde seine „ganze Seelenhaltung“ darbringe. (P. WENDLAND, Der Aristeasbrief, in: E. Kautzsch, Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments in Verbindung mit Fachgenossen übers. und herausgegeben, Bd. II: Die Pseudepigraphen des Alten Testaments, Darmstadt 41975 [= 1900], 1–31, hier: 19, übersetzt: „seine Seelenrichtung“). 35 Vgl. Philo LA I,90: „unter Adam ist der erdhafte und vergängliche Verstand (gh/i+non kai\ farto\n nou=n) zu verstehen“; Philo LA I,92: 0Ada&m, toute/stin o9 nou=j. 36 Philo LA II,5.24. In Philo LA III,56 findet Philo in der Formulierung von Gen 3,12, wo es nicht heißt: „Die Frau, die du mir gegeben hast (h9 gunh&, h4n e1dwkaj e0moi/)“, sondern wo es heißt: „mit mir (met' e)mou=)“ die Wahrheit ausgedrückt, dass die Sinnlichkeit (Eva) dem Verstand (Adam) gegenüber frei und ungebunden sei und ihm nicht immer gehorche, vgl. P. HEINISCH, Der Einfluss Philos auf die älteste christliche Exegese (Barnabas, Justin und Clemens von Alexandria). Ein Beitrag zur Geschichte der allegorisch-mystischen Schriftauslegung im christlichen Altertum, Alttestamentliche Abhandlungen 1/2, Münster 1908, 86. Zu Eva als ai1sqhsij vgl. Philo Cher. 57.60. 37 Philo LA III,68. In Philo LA II,71ff. wird die Schlange von Gen 3,1 als Symbol der Lust (h9donh&) gedeutet, da (vgl. Philo LA II,74) sowohl die Bewegung der Schlange als auch die der Lust polu&plokoj, d.h. „vielverflochten” (Übers. I. CHRISTIANSEN, Die Technik der allegorischen Auslegungswissenschaft bei Philon von Alexandrien, Beiträge zur Geschichte der biblischen Hermeneutik 7, Tübingen 1969, 68f.) bzw. „windungsreich“ (Übers. HEINEMANN, Philo, Deutsch III) und poiki&lh, d.h. „vielgestaltig“ (Übers. CHRISTIANSEN, Technik, 69) bzw. „mannigfaltig“ (Übers. HEINEMANN, Philo, Deutsch III) sei: Sie winde sich „durch alle Unterteile des vernunftlosen Bestandteiles unserer Seele hindurch“ (durch den Gesichtssinn, das Ohr, den Bauch; Philo LA II,75f.) und sei in jedem einzelnen dieser Teile (unserer Seele) mannigfaltig (Philo LA II,75. I. HEINEMANN, Philo, Deutsch III, 75 Anm. 2 verweist auf die Übereinstimmung mit Dio von Prusa 4 § 101 und 8 § 21f., wo die h9donh& in ihrer Mannigfaltigkeit dargestellt ist). 38 Philo LA III,68: „Aber die Schlange, die Lust (h9donh&), ist an und für sich schlecht; deshalb ist sie bei dem Weisen überhaupt nicht vorhanden, nur der Schlechte hat Genuss von ihr“ (so Philo in seinem Kommentar zu Gen 3,14f.); Philo LA III,76: „[…] sie (sc. die Schlange) ist ein verderbenbringendes, von Natur mordlustiges Geschöpf. Das Schicksal, das so dem Menschen die Schlange bereitet, schafft die Lust der Seele“. Nach Philo LA III,113 ist die h9donh& Ursprung aller Affekte (pa&qh). Daneben kann Philo aber auch die stoische Lehre von den vier Grundaffekten rezipieren.

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als ein me&son, „ein Mittelding“, das „zwischen Gut und Böse hin und her schwankt“.39 Dem nou=j, also dem Verstand, untergeordnet kommt der ai1sqhsij als dessen Gehilfin durchaus eine positive Funktion zu:40 Sie vermittelt ihm die Sinneseindrücke und ermöglicht ihm die Erkenntnis.41 Diese positive Funktion der ai1sqhsij, der Sinnlichkeit, stellt Philo in der allegorischen Interpretation von Gen 4,1 („Adam erkannte sein Weib“) in De Cherubim 58ff. dar: Zu der Zeit als der Geist (nou=j) noch keinen Umgang mit der Sinnlichkeit (ai1sqhsij) pflegte, habe er kein Sehorgan gehabt, mit dem er die Außenwelt hätte erfassen können. Der nou=j allein sei blind42 und ohnmächtig gewesen und zwar, so präzisiert Philo, „nicht was die grosse Masse so (blind und ohnmächtig) nennt, wenn sie einen an den Augen Erblindeten erblickt, denn dieser ist nur eines Sinnes beraubt und befindet sich im vollen Besitz der anderen; der Geist aber war aller Sinneskräfte beraubt, wirklich ohnmächtig, nur die Hälfte einer vollkommenen Seele […]“ (Philo Cher. 58f).43 Da der Geist (nou=j) ohne die Stützen der Sinneswerkzeuge gewesen sei, „war […] tiefes Dunkel über alle Körper ausgebreitet.“ Gott nun, der die Erfassung „auch der festen Körper gewähren wollte, füllte die Seele ganz aus, indem er den anderen Teil dem zuvor gestalteten einfügte; und diesem gibt er den Zunamen ‚Weib‘ und den Namen Eva, meint aber damit die Sinnlichkeit“ (Philo Cher. 60). Die Änderung, die sich mit dem Hinzukommen der Sinnlichkeit, der ai1sqhsij, voll————— In Philo LA II,72 kommt der h9donh& anders als in Philo LA III,68.76 insofern eine positive Funktion zu, als das Begehren und die für das Begreifen der Gegenstände nötige Vereinigung von nou=j und ai1sqhsij auf sie zurückgeht (W. VÖLKER, Fortschritt und Vollendung bei Philo von Alexandrien. Eine Studie zur Geschichte der Frömmigkeit, Leipzig 1938, 86 Anm. 1 nennt Philo LA II,71–76 „fast ein[en] kleine[n] Hymnus auf die h9donh&“. W. BOUSSET, Jüdisch-Christlicher Schulbetrieb in Alexandria und Rom. Literarische Untersuchungen zu Philo und Clemens von Alexandria, Justin und Irenäus, Hildesheim/New York 1975, 77, fragt im Hinblick auf Philo LA II,72: „Sollte sich hier epikureische Lebensweisheit mit stoischer Erkenntnistheorie in irgend einem jüdischen Geist auf diese Weise amalgamiert haben?“, optiert dann aber für poseidonianisches Milieu als Hintergrund). In Philo LA II,79ff. wird der Schlange von Gen 3,1 jedoch eine „andere Schlange“, die eherne Schlange von Num 21,8, entgegengesetzt, die im Unterschied zu ersterer fest und unbeweglich ist und die Besonnenheit verkörpert (siehe das vergleichende Schema bei CHRISTIANSEN, Technik, 70). 39 Philo LA III,67, vgl. VÖLKER, Fortschritt, 81. Daneben findet sich bei Philo auch eine negative Wertung der ai1sqhsij, vgl. besonders Philo LA II,50 und VÖLKER, Fortschritt 81f. 40 Schon in der stoisch-kynischen Diatribe wird der rechte Gebrauch der durch die Sinne hervorgerufenen Vorstellungen betont, vgl. HEINEMANN, Allegorische Erklärung, Philo, Deutsch III, 107 Anm. 1. 41 Vgl. Philo her. 53, wo der ai1sqhsij die Rolle der Sklavin (zur Bedienung) der Erkenntnis (e)pisth&mhj) zukommt. 42 In Philo LA III,108 heißt es in der Auslegung von Gen 3,14a umgekehrt, dass die Sinnlichkeit (ai1sqhsij) blind sei, „da sie vernunftlos ist (a3te a1logoj ou]sa), weil sie das Auge des Denkens entbehrt: nur durch diese begreifen wir ja die Dinge wirklich, nicht durch die Sinnlichkeit.“ 43 Vgl. BOUSSET, Schulbetrieb, 75.

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zieht, beschreibt Philo folgendermaßen: „[Die Sinnlichkeit] ergoss […] durch jeden ihrer Teile wie durch Fensteröffnungen eine Fülle von Licht in den Geist, zerstreute die Finsternis und setzte ihn in den Stand, in voller Klarheit und Deutlichkeit die Beschaffenheit der Körper zu betrachten. (62) Er [sc. der nou=j] aber, wie aus finsterer Nacht vom strahlenden Sonnenlicht erhellt oder aus tiefem Schlaf erwacht oder wie ein Blinder, der plötzlich wieder sieht, fand auf einmal alles, was geschaffen ist, Himmel, Erde, Wasser, Luft, Pflanzen, Tiere, ihre Haltung, Beschaffenheit, Kräfte, Zustände, […]“ (Philo Cher. 61f).44 Der Verbindung von Adam (nou=j) und Eva (ai1sqhsij) entspringen nach Gen 4,1 Kain, nach Gen 4,2 Abel. Philo rekurriert bei seiner Auslegung von Gen 4,1 in De Cherubim auf das etymologische Verständnis von „Kain“ als „Besitz“45 und interpretiert Kain als den dünkelhaften Wahn (oi1hsij), der darin bestehe, dass die ai1sqhsij meine, alles was sie sehe, höre, schmecke, rieche und fasse, sei ihr Besitz, und dass sie sich einbilde „alles selbst erfunden und gestaltet zu haben“ (Philo Cher. 57). Das entspricht auch der Vorstellung des Geistes (nou=j) nach der Verbindung mit der ai1sqhsij: Der nou=j meint nach Philo Cher. 64, alles, was er schaue, sei sein Besitz. Folglich steht Kain für eine Haltung des Geistes,46 die Wahrgenommes und Wahrnehmung sich selbst zuschreibt47 und autozentriert ist. In De Sacrificiis interpretiert Philo die Geburt Abels in Gen 4,2, indem er Kain und Abel als Ausprägungen zweier (in der Seele) einander „bekämpfende Anschauungen (do/caj)“ interpretiert:48 „[…] die eine schreibt dem [menschlichen] Geiste (tw??= nw=?) alles zu als dem Leiter der Vorgänge im Denken und Empfinden, im Bewegen und Innehalten, die andere hält sich an Gott. Die Ausprägung der ersten ist Kain, genannt ‚Besitz‘ (kth=sij), weil er alles zu ————— 44 Statt ‚Öffnungen‘ (so COHN in: Philo, Deutsch) wurde mit BOUSSET, Schulbetrieb, 71 ‚Fensteröffnungen‘ übersetzt; zum Bild der ‚Fensteröffnungen‘ vgl. Philo QG II,34. Philo Cher. 60 erinnert sehr, so die Anm. von COHN in Philo, Deutsch z.St., an die Lehre Heraklits von der ai1sqhsij und dem lo/goj und vom menschlichen nou=j im wachen und schlafenden Zustande bei Sextus Empiricus, Adversus mathematicos VII,126ff. (DIELS, Fragmente der Vorsokratiker I,69ff.). 45 Kain bedeutet kth=sij, vgl. Philo Cher. 65. V. APTOWITZER, Kain und Abel in der Agada, den Apokryphen, der hellenistischen, christlichen und muhammedanischen Literatur, Veröffentlichungen der Alexander Kohut Memorial Foundation Bd. 1, Wien/Leipzig 1922, 15–18 sieht im Hintergrund eine Sage von der Teilung des Weltbesitzes unter Kain und Abel. 46 Philo Cher. 65: „Dies ist diejenige Sinnesart in uns (tro&poj e0n h9mi=n), die Mose mit dem Namen Kain ausdrückt, was ‚Besitz‘ bedeutet […]“, Übers., cf. C. NOACK, Haben oder Empfangen. Antithetische Charakterisierungen von Torheit und Weisheit bei Philo und bei Paulus, in: R. DEINES/K.-W. NIEBUHR (Hg.), Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. I. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum, 1.–4. Mai 2003, Eisenach/Jena; Tübingen 2004, 283–307, hier: 290. 47 Philo Cher. 63f. 48 Philo sacr. 1ff.

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besitzen meint (pa&nta kekth=sai dokei=n), die der anderen Abel; denn er wird erklärt als der (alles) auf Gott Beziehende‘ (a0nafe/rwn e0pi\ qeo/n)“ (Philo, Sacr. 2). Kain charakterisiert für Philo also eine autozentrische Geisteshaltung, die alles sich selbst zuschreibt,49 während Abel eine theozentrische Geisteshaltung repräsentiert, die alles auf Gott als einzigen Urheber bezieht.50 Eine Koexistenz dieser konträren Anschauungen ist nicht möglich: Sobald die Brüder geboren sind, müssen sie sich trennen.51 Während Adam und Eva bei Philo für den nou=j und die ai1sqhsij und deren gegenseitiges aufeinander Angewiesensein stehen, repräsentieren Kain und Abel zwei konträre und einander ausschließende innerpsychische Erkenntnismodi.52 3) In seiner allegorischen Auslegung von Gen 27,18f. interpretiert Philo die beiden Figuren Esau und Jakob in Quaestiones in Genesim VI,20653 als verschiedene Anlagen (Neigungen)54 in der Seele eines jeden Menschen: So ist Esau in mir, die unbeugsame Eiche, die sich nicht erniedrigen kann und haarig, (ein) Wesen, […], das irrationalen und unreflektierten Trieben (Impulsen) nachgibt. In mir ist auch Jakob, unbehaart und nicht grob. In mir ist auch der Greis (senex) und der Jüngling, der Fürst und der, der kein Fürst ist, der Reine und der Unreine.55

————— 49 Kain repräsentiert eine „Haltung des Geistes […], die alle Fähigkeiten des Denkens als Zentrum seelischer Aktivität sich selbst zuschreibt“, NOACK, Haben oder Empfangen, 290. Diese Haltung wird in Philo sacr. 3 als „Selbstliebe“ charakterisiert. 50 Sie wird in Philo sacr. 3 als „Gottliebende Anschauung“ charakterisiert. Zu diesem Ideal vgl. auch Philo mut. 213 und dazu D. ZELLER, Selbstbezogenheit und Selbstdarstellung in den Paulusbriefen, ThQ 176, 1996, 40–52, hier: 42. (Zur Antithese Selbstliebe – Gottesliebe vgl. W. WARNACH, Selbstliebe und Gottesliebe im Denken Philons von Alexandrien, in: H. FELD/J. NOLTE [Hg.], Wort Gottes in der Zeit, FS K.H. Schelkle, Düsseldorf 1973, 198–214). 51 Philo sacr. 3. 52 NOACK, Haben oder Empfangen, 289. 53 Teilt man die Philo QG nur in vier Bücher, so handelt es sich um Philo QG IV,206. 54 C. MERCIER, Quaestiones et Solutiones in Genesim III – IV – V – VI e versione armeniaca. Traduction et notes. Complément de l’ancienne version latine. Texte et apparat critique, traduction et notes par F. PETIT, Les Oeuvres de Philon d’Alexandrie 34B, Paris 1984, 457: „L’âme de chacun de nous a en elle beaucoup de dispositions […]“. Leicht abweichend davon übersetzt R. MARCUS, Philo, Questions and Answers on Genesis. Translated from the Ancient Armenian Version of the Original Greek, Philo in Ten Volumes and two Supplementary Volumes, Supplement I, LCL 380, Cambridge, London 31971 (1953), 502: „that the soul of each of us has, as it were, several kinds of man in itself.“ 55 Philo QG IV,206 = VI,206. Übers. von Philo QG IV,206 = VI,206 aus dem Lateinischen von R. Dorn-Wiedenmann: „Die Seele eines jeden von uns trägt gleichsam vielfältige Menschen in sich, gemäß den unterschiedlichen Ereignissen der Gleichen: Und so könnte man sagen, dass in mir Esau ist, eine unbeugsame Eiche, unfähig sich zu neigen, behaart, ein glaubhaftes Beispiel für jemand, der der Tugend fremd ist, maßlos in seinen Antrieben, der einhergeht in rohen und unge-

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Verschiedene (einander entgegengesetzte) biblische Gestalten können also für Philo dialektisch und dynamisch in einem jeden von uns existieren.56 4) Auch im Neuen Testament beobachten wir eine psychologische Interpretation innerhalb der Allegorese in der allegorischen Auslegung des Gleichnisses vom vierfachen Acker (Mk 4,13–20). Der Samen, der auf felsigen Boden fällt, wird dort auf Menschen interpretiert,57 die das Wort zunächst mit Freude aufnehmen, die aber keine Wurzel, d.h. keine innere Festigkeit,58 ‚in sich‘ (e0n e9autoi=j) haben,59 sondern ‚Augenblicksmenschen‘ sind.60 So bleibt die Freude (xara&) zeitlich begrenzt: „Wenn Drang————— zähmten Trieben. In mir ist auch Jakob. Linkisch jener, nicht roh (laevis ille, non scabrosus). In mir sind ein Greis und ein Jüngling, ein Fürst und einer, der kein Fürst ist, das Schöne und das Hässliche.“ Vgl. auch Philo QG V,138 (= IV,138): „Apertis ergo oculis tuis spiritualibus, o mens, vide illum, qui in te est pro exemplo, Isaacum, Risum tristitiae expertem; eum, qui super omnia a Deo facta sine interruptione gaudet jugiter.“ – „Ouvrant donc tes yeux spirituels, ô intellect! vois celui qui est en toi comme modèle, Sahac, le rire sans tristesse, lui qui, sans interruption, se réjouit toujours de tout ce qui a été créé par Dieu.“ (Text und Übers.: C. MERCIER, Quaestiones et Solutiones in Genesim, Les Oeuvres de Philon d’Alexandrie 34B, z.St., Hervorhebung v. mir, P.v.G.). 56 Vgl. J. LAPORTE, Philo in the Tradition of Biblical Wisdom Literature, in: R.L. WILKEN (Hg.), Aspects of Wisdom in Judaism and Early Christianity, University of Notre Dame. Center for the Study of Judaism and Christianity in Antiquity 1, London 1975, 103–141, hier: 133: „[…] he who wants to understand Philo must know that each biblical type has its opposite, and that they coexist in each of us dialectically and […] dynamically“. J. Laporte sieht Philos extensiven Gebrauch der Methode der Gegensätze („method of contraries“) in einem Rückgriff auf die biblische Weisheitsliteratur begründet, da kein Grieche, abgesehen von Heraklit, „has ever made of this method the basic element of his dialectics“ (LAPORTE, Philo, 133). 57 In der markinischen Deutung des Gleichnisses vom vierfachen Acker fällt die Inkonzinnität auf, dass der Same auf das Wort, aber auch auf die Menschen (genauer: die HörerInnen des Wortes) gedeutet werden kann. Die Unschärfe des Bildes hängt zum Teil damit zusammen, dass sich hier zwei Metaphernkomplexe überschneiden (vgl. P. VON GEMÜNDEN, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt, NTOA 18, Freiburg [Schweiz]/Göttingen 1993, 226). Daher bleibt auch das Verständnis von Mk 4,17 „sie haben keine Wurzel in sich“ in der Schwebe, wie KLAUCK, Allegorie, 202, herausgearbeitet hat: Die Formulierung kann sowohl meinen, dass „sie selbst nicht fest im Glauben verwurzelt sind“, als auch, dass „sie das Wort in ihrem Inneren keine Wurzel schlagen ließen.“ – Matthäus hat im Unterschied zu Markus und Lukas die Saatmetapher konsequent auf die HörerInnen bezogen (vgl. auch Mt 13,38), 58 Zu r(iz/ a als Metapher für innere Festigkeit bzw. inneren Halt vgl. 1Kor 9,11 und Joh 4,36f. und V. GEMÜNDEN, Vegetationsmetaphorik, 227. Das Verständnis der Wurzellosigkeit als innerer Haltlosigkeit entspricht dem der Weisheitsliteratur, vgl. H.-J. KLAUCK, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten, NTA NF 13, Münster 21986 (1978), 202. 59 Das e0n e9autoi=j wird von Lk gestrichen. 60 Zur Übersetzung von pro&skairoi/ (ei0sin) mit „Augenblicksmenschen“ vgl. J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus. 1. Teilband. Mk 1–8,26, EKK II/1, Zürich u. a., 173.175. pro/skairoj ktl., das im martyrologischen Zusammenhang verwandt wird (4Makk 15,2.5.23; vgl. Hebr 11,25 und B. GERHARDSSON, The Parable of the Sower and its Interpretation, NTS 14 [1967/68], 165–193, 176 mit Anm. 2), meint hier: unbeständig, wetterwendisch sein. Gnilka vermutet in Markus, EKK II/1, 175, dass hier auch die Bedeutung „die Fahne nach dem Wind hängen“ mitschwinge. Lukas ändert, indem er in Lk 8,13 zwei Zeitphasen unterscheidet: Die Menschen glauben eine Zeit lang, doch sie fallen ab in der Zeit der Versuchung (e0n kairw?= peirasmou= ersetzt dabei die beiden Begriffe „Trübsal und Verfolgungen“ von Mk 4,17. Peirasmo&j

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sal oder Verfolgung wegen des Wortes kommt, nehmen sie Anstoß“ (Mk 4,17).61 In Mk 4,18f werden die in die Dornen Gesäten auf die gedeutet, die das Wort hörten, aber letztlich fruchtlos bleiben, da die Sorgen der Welt (me/rimnai tou= ai0w=noj) und der Trug des Reichtums (a)pa&th tou= plou=tou) und die Begierden (e0piqumi/ai) „nach allem Übrigen“ eindringen (ei0sporeuo&menai)62 und das Wort ersticken.63 In der allegorischen Deutung der Saat, die zugrunde geht und keine Frucht bringt, wird also der Misserfolg der Aussaat reflektiert und durch eine Kausalattribution an äußere und innere, psychologische Faktoren erklärt: Eine Kausalattribution an das Äußere liegt vor, wenn Drangsal und Verfolgung kommen, wenn die Sorgen der Welt, der Betrug des Reichtums und Begierden das Pflänzlein ersticken (vgl. auch das Kommen des Satans in Mk 4,15).64 Eine Kausalattribution an das Innere liegt vor, wenn auf die Wurzellosigkeit des Menschen rekurriert wird und wenn wir daran denken, dass Sorgen verinnerlicht werden, der Reichtum uns betrügt und Begierden in uns eindringen. Lukas ————— bezeichnet bei Lukas „die Versuchung, die die Kraft des einzelnen überfordert“, vgl. KLAUCK, Allegorie, 208). 61 Bei qli=yij dürfte weniger an die eschatologische Drangsal, sondern eher an die gegenwärtige Bedrängnis und Not gläubiger Existenz gedacht sein (KLAUCK, Allegorie, 203; V. GEMÜNDEN, Vegetationsmetaphorik, 227). Hier sei, so KLAUCK, Allegorie, 204, nicht an „die großen Christenverfolgungen im römischen Reich“ zu denken, „sondern an die Anfeindungen und Nachstellungen, von denen die Apg berichtet (Apg 8,1; 13,50)“. 62 Ei0sporeuo&menoi (Mk 4,19) fehlt bei Matthäus. Lukas ersetzt es durch poreuo&menoi (Lk 8,14): Während die Begierden nach Markus in den Menschen eindringen, sind es die Menschen, die nach Lukas „gehen“ (poreuo&menoi) und auf dem Weg den Lastern begegnen, (M.-J. LAGRANGE, Evangile selon Saint Luc, EB, Paris 1921, 242; KLAUCK, Allegorie, 208f. m. Anm. 111). 63 In Mt 13,22 fehlen die Begierden: Matthäus warnt nur vor den Sorgen der Welt und vor dem Trug des Reichtums. Lukas hat noch stärker verändert: Er streicht in Lk 8,14 tou= ai0w=noj nach den Sorgen (merimnw=n), warnt also generalisierend vor allen Sorgen, Lukas streicht das Wort „Trug“ (a0pa/th) vor Reichtum, will also vor dem Reichtum an sich warnen, und ersetzt ai9 peri\ ta\ loipa\ e0piqumi/ai durch Lüste des Lebens (h9donw=n tou= bi/ou), da e)piqumi/a und e0piqumei=n bei ihm positiv konnotiert sind, wie Lk 22,15 zeigt (e0piqumi/a e)pequ/mhsa tou=to to\ pa/sxa). Möglicherweise ist die Ersetzung von e0piqumi/ai durch h9donai/ auch dadurch begünstigt, dass die h9donh& in der hellenistischen Umwelt regelmäßig in listenartigen Aufzählungen von „Lebensumstände[n] und ähnliche[n] Äußerlichkeiten“, die sich negativ auf die Lebensführung auswirken (können), begegnet (vgl. M. WOLTER, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 309). Zur negativen Konnotation von h9donai/ bei Lukas vgl. KLAUCK, Allegorie, 208. 64 Auffallend ist, dass es in Mk 4,19 (im Unterschied zu Matthäus und Lukas) von den Begierden heißt, dass sie hineingehen (ai([…] e0piqumi/ai ei0sporeuo/menai). Sie werden also offensichtlich nicht im Inneren verortet, sondern dringen von außen in den Menschen ein. Die Begierde kommt also von außen wie in Mk 4,15 der Satan: Vom Satan heißt es dort, dass er alsbald kommt (e1rxetai), von den Begierden, dass sie (in den Menschen) hineingehen (e0piqumi/ai ei0sporeuo/menai). Das lässt an eine dämonologische Konnotation denken und bedeutet eine Steigerung von Mk 4,15 zu Mk 4,19. Zur Verbindung psychologischer und dämonologischer Vorstellungen vgl. P. VON GEMÜNDEN, Affekte und Affektkontrolle im antiken Judentum und Urchristentum, in: dieselbe, Affekt und Glaube, NTOA/StUNT 73, Göttingen 2009, 309-328.

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spricht in Lk 8,14 das hellenistische Ideal der persönlichen Reifung hin zur Vollendung an, wenn er nicht nur vom Erstickt-Werden, sondern explizit auch vom Nicht-zur-Vollendung-Kommen spricht (ou0 telesforou=sin).65 Einen Ansatz zur psychologischen Interpretation finden wir (über den Markustext hinausgehend) schließlich sowohl in Mt 13,23 als auch in Lk 8,15 im Hinblick auf den bzw. das auf die gute Erde Gesäte: Bei Matthäus durch redaktionelle Einführung des „Verstehens“, bei Lk durch redaktionelle Ergänzung des Herzens (kardi/a). In Mt 13,23 (diff. Lk 8,15) ergänzt Matthäus das Hören durch das Verstehen (sunie/nai, in Opposition zum Nicht-Verstehen in Mt 13,19, auch dort matthäische Redaktion).66 Hören und Verstehen sind für Matthäus Voraussetzungen für das Fruchtbringen und das Tun (poiei=n, diff. Mk 4,20; Lk 8,15): Dabei geht das Verstehen bei Matthäus über das intellektuelle, kognitive Verstehen hinaus,67 wie der engere Kontext zeigt, wo das NichtVerstehen im Anschluss an Jes 6,9f.LXX mit dem verstockten Herzen (des Volkes) in Zusammenhang gebracht wird.68 Das Verstehen zielt bei Matthäus auf die pragmatische Dimension. In Lk 8,15 wird der gute Boden explizit allegorisch auf das Herz gedeutet: „oi3tinej e0n kardi/a? kalh?= kai\ a0gaqh?= a0kou/santej to\n lo/gon […]“. Das Hören mit einem „edlen und guten Herzen“ nimmt das in der hellenistischen Umwelt bedeutsame Vortrefflichkeitsideal der kaloka)gaqi/a auf, das sich sonst nicht im Neuen Testament, aber in der Septuaginta findet.69 Schon in Lk 8,12 (//Mt 13,19) bietet Lukas über Markus 4,15 hinausgehend kardi/a: Dort nimmt der Teufel bei Lukas das Wort von ihrem Herzen weg, hier dagegen wird das Wort „mit einem guten und edlen Herzen“ gehört und festgehalten, so dass sie „Frucht in Standhaftigkeit“ (e0n u9pomonh==?) bringen können. Sowohl in Lk 8,12//Mt 13,19 als auch in Lk 8,15 beobachten wir also eine Tendenz zur psychologisierenden Interpretation.

————— 65 Das Verb kann sowohl das pflanzliche Fruchtbringen als auch die menschliche Lebensführung und Entwicklung bezeichnen, vgl. WOLTER, Lukasevangelium, 309. 66 Zu sunie/nai bei Matthäus vgl. G. BARTH, Das Gesetzesverständnis des Evangelisten Matthäus, in: G. BORNKAMM/G. BARTH/H.J. HELD, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1, Neukirchen-Vluyn 41965, 54–154, hier: 99–104; ad Mt 13,19.23 vgl. besonders 100. 67 Zur kognitiven Dimension des ‚Verstehens‘ vgl. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/2, Zürich/Braunschweig 1990, 318: Beim matthäischen Verstehen gehe es „zunächst um eine Angelegenheit des Kopfes […]: Es ist eine Parabel (13,19–23), eine Scheltrede (15,10) oder ein rätselhafter Ausspruch (16,12; 17,12), also eine Lehre, die die Jünger mit Jesu Hilfe verstehen.“ 68 Vgl. LUZ, Matthäus, EKK I/2, 318. 69 Vgl. 2Makk 15,12; 4Makk 1,10; 3,18; 4,1; 11,22; 13,25; 15,9; Tob 5,14; 7,7; 9,6) und WOLTER, Lukasevangelium, 310.

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*** Nach dieser Übersicht möchte ich mit einigen Beobachtungen, Mutmaßungen und Fragen schließen: 1) Wir konnten insgesamt in den Textauslegungen eine psychologische Tendenz feststellen, ohne dass damit gesagt ist, dass diese Auslegungstendenz in den Prätexten schon wirklich verankert ist. Das passt zu der Beobachtung, dass sich psychologische Vorstellungen und Reflexionen gerade in hellenistisch-römischer Zeit eines ganz besonderen Interesses erfreuten, was mit dem großen Individualisierungsschub in dieser Zeit zusammen hängen mag.70 2) Im Hinblick auf Symbole und Metaphern ist zu fragen, ob es im frühen Christentum nicht eine Tendenz zur Remythisierung gab. Die symbolisch gedeutete Blindenheilung von Joh 9 ist im Zusammenhang mit der Vorstellung von Jesus als dem Licht der Welt zu lesen und beide sind wiederum in den größeren Kontext des mythischen Gegensatzes von Licht und Finsternis einzuordnen. 3) Im Hinblick auf die psychomythischen Parallelismen stellt sich die Frage, ob in diesen nicht insofern eine Besonderheit antiker Selbstreflexion zum Ausdruck kommt, als innere Vorgänge parallel zu mythischen Vorgängen stehen, ohne dass innere Vorgänge auf mythische (objektive) Vorgänge reduziert würden, wie wir das mit der Furcht und der Finsternis in SapSal 17 beobachten konnten.

————— 70 Zum Individualismus in der paganen hellenistischen Philosophie vgl. A.D. NOCK, Conversion: The Old and the New in Religion from Alexander the Great to Augustine of Hippo, Brown Classics in Judaica, Oxford 1988 (= 1933), 164–186. Zum psychologischen Interesse in hellenistisch-römischer Zeit vgl. die jüdischen und christlichen Schriften dieser Zeit und im paganen Bereich die Philosophie, die Rhetorik, die hellenistische Geschichtsschreibung (vgl. J. PALM, Über Sprache und Stil des Diodorus von Sizilien, Lund 1955, 164–171), die Traumdeutung (vgl. das Traumbuch des Artemidor [2. Jh. n.Chr.], der neben theorematischen allegorische Träume kennt, die auf Vorgänge des Seelenlebens anspielen, vgl. die Definition in Artemid., Onirocr 1,2: „Allegorisch sind diejenigen Traumgesichte, die ein Ding durch ein anders anzeigen, wobei die Seele auf natürliche Weise in ihnen mit verhüllten Anspielungen spricht.“ (Übers.: K. BRACKERTZ; Artemidor von Daldis, Das Traumbuch. Aus dem Griechischen übertragen, mit einem Nachwort, Anmerkungen und Literaturhinweisen versehen von K. Brackertz, Zürich 1979, 11), zur Ausdifferenzierung der allegorischen Traumgesichte vgl. Artemid., Onirocr 1,2 (BRACKERTZ, Traumbuch, 13–17, Griechisch: Artemidori Daldiani, Onirocriticon Libri V, rec. R. A. Pack, BSGRT, Leipzig 1963, 7–11).

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4) Bei einer Reihe von psychologischen Auslegungen, besonders deutlich bei der Auslegung der Speisegebote im Aristeasbrief und bei Philo, liegt die Frage nahe, ob psychologische Auslegungen typische Sekundäraneignungen von Texten sind, die man sich in ihrer ursprünglichen Absicht nicht (mehr bzw. nicht mehr ausschließlich so) aneignen kann. 5) Diese psychologischen Auslegungen erfolgten nicht nur unbewusst, sondern durchaus auch bewusst, was bei Philo von Alexandrien besonders deutlich wird. Die psychologischen Auslegungen sind nicht ‚nur‘ Ausdruck einer Alltagspsychologie, sondern zeugen bisweilen auch von einer bewussten Auseinandersetzung mit antiker Psychologie: In SapSal 17 setzt sich der Verfasser vor allem mit epikuräischer Philosophie auseinander,71 und Philo zeigt sich besonders von (mittel-)platonischer und stoischer Philosophie beeinflusst. 6) Da biblische Texte in der Antike auch psychologisch rezipiert wurden, ist eine psychologische Auslegung per se noch kein Anachronismus. Schwierig ist für uns heute eher die Art und Weise, wie die Texte rezipiert wurden – ein Philo von Alexandrien hätte mit seiner Exegese heute im Proseminar keine Chance. 7) Wichtig an diesen antiken psychologischen Auslegungen (auch biblischer) Texte ist, dass diese selbst wieder direkt oder indirekt Anhaltspunkte für antikes psychologisches Verständnis enthalten und uns Informationen für die historische Rückfrage liefern. Sie helfen uns also, dem Problem des Anachronismus zu begegnen und auch zu klären, ob es Entsprechungen zwischen unseren modernen und den antiken Theorien gibt.72 8) Psychologische Auslegungen biblischer Texte stehen im hellenistischen Judentum und im frühen Christentum im Dienste der Theologie. Sie wollen theologisch sein und nicht die Theologie durch Psychologie ‚ersetzen‘: Der symbolischen Deutung der Blindenheilung geht es um vertieftes Sehen durch Christus, die Allegorese des Sämannsgleichnisses ist am Fruchtbringen des Wortes interessiert, die psychologische Interpretation von Kain und Abel propagiert die theozentrische im Gegensatz zur autozentrischen Geistesorientierung.

————— 71 72

REESE, Hellenistic Influence, 22ff. Vgl. dazu: THEISSEN, Erleben und Verhalten, 27.

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Petra von Gemünden

Psychologische Exegese, wie sie sich in den aufgeführten Beispielen aus neutestamentlicher Zeit schon anbahnt, stellt also nicht prinzipiell in Frage, „dass die Bibeltexte kerygmatisch gelesen sein wollen“,73 so betonte G. Theißen 2005 zu Recht in seiner Einführung zum Themenheft „Psychologische Exegese“ in der Evangelischen Theologie.

————— 73

G. THEISSEN, „Zu diesem Heft“ EvTh 65–2, 2005, 83–85, hier: 85.

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Elisabeth Parmentier

Die „Zeichensprache des Glaubens“. Inspiration für die Praktische Theologie als theologische Sprachlehre

Die Praktische Theologie wird immer wieder aufgefordert, Rechenschaft über ihre eigene Existenz und ihren spezifischen epistemologischen Ort in der Theologie abzulegen. Von allen theologischen Disziplinen hat sie es am schwersten, ihre „Identität“ zu erklären, denn sie vollzieht sich an der Schwelle zwischen Universität und Kirche, Wissenschaft und Alltag, zwischen Theologie und Glaube, Theologie und anderen Humanwissenschaften. Somit läuft sie doppelt Gefahr: entweder nur als Bindeglied zwischen den „eigentlichen“ theologischen Disziplinen angesehen zu werden oder nur als deren Annex, als Ort der Einführung in die Praxis kirchlichen Lebens.

1. Korrelation als Herzstück der Praktischen Theologie Zwei Definitionen bestimmen zurzeit die Forschung in Praktischer Theologie. Die erste geht von der Theologie und der kirchlichen Verkündigung aus und sieht praktische Theologie als „Kommunikation des Evangeliums“. Die zweite interpretiert den Alltag und die Praxis der Menschen als theologische Orte und versteht ihre Aufgabe als „Hermeneutik gelebter Religion“, die den Spagat zwischen dem, was die Menschen „wirklich glauben“ und der lehrmäßigen Verkündigung analysiert.1 Diese beiden Richtungen bilden jedoch keine Alternative, sondern zwei Pole der schwierigsten Operation der praktischen Theologie, die auch ihre zentrale Aufgabe ist: die Korrelation. Korrelation ist von entscheidender Wichtigkeit, da sie letztendlich die Interpretationen und Orientierungen, die in der Forschung und Ausbildung vorzunehmen sind, bestimmt. Nach klassischer Auffassung ist Korrelation bipolar und verbindet die biblische Offenbarung als Vorgabe mit den Fragen der Menschen. So Paul ————— 1 N. METTE, Einführung in die katholische praktische Theologie, Darmstadt 2005, geht von der Kommunikation des Evangeliums aus; In die „gelebte Religion“ führen soziologische Forschungen ein, z. B. K.-P. JÖRNS, Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben, München 1997 oder empirische Studien. Vgl. insgesamt C. GRETHLEIN/H. SCHWIER (Hg.), Praktische Theologie. Eine Theorie- und Problemgeschichte, Leipzig 2007.

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Elisabeth Parmentier

Tillich: „Ein theologisches System muss zwei grundsätzliche Bedürfnisse befriedigen: Es muss die Wahrheit der christlichen Botschaft aussprechen, und es muss diese Wahrheit für jede Generation neu deuten. Theologie steht in der Spannung zwischen zwei ‚Polen‘: der ewigen Wahrheit ihres Fundamentes und der Zeitsituation, in der diese Wahrheit aufgenommen werden soll“.2 Neuere Ansätze bevorzugen ein tripolares Modell der Korrelation: zwischen Bibel, Theologie und Erfahrung des Glaubens. So wird versucht, diese drei Pole, die eher dazu tendieren, sich zu verselbstständigen, in der christlichen Verkündigung zusammenzubinden.3 Heute wird bewusst die Fremdheit und Sperrigkeit der biblischen Überlieferung gegenüber menschlichen Erwartungen betont, die geradezu die Möglichkeit der Korrelation als Verbindung der Pole in ihrer Verschiedenheit eröffnen. Korrelation ist von Spannungen und Verlagerungen der Pole gekennzeichnet. Entscheidend für die Korrelation ist die Qualität dieser Verbindung, damit sie ihr Ziel erreicht, ein ansprechendes Wort für die jeweils spezifischen Adressaten zu sein. Und dies, je nach dem angestrebten Ziel, als Analyse einer Situation oder einer Problematik in der Forschung, als pastorale Ermutigung in der Seelsorge, als Zuspruch in der Predigt, usw. Wo liegt nun die Einheit in der Verschiedenheit dieser Gebiete der Praktischen Theologie? In den folgenden Zeilen wird die These vertreten, dass sie sich weiterentwickeln sollte als ziel- und adressatenorientierte Sprachanalyse und Sprachschöpfung. Denn christliche Identität muss in der heutigen Welt überzeugend formuliert werden können.

2. Die Forschung von Gerd Theißen als Einübung in Korrelation Gerd Theißen betreibt Theologie als Religionswissenschaftler und Exeget, aber immer mit dem Ziel, den Kreis der Wissenschaft für heutige Mitmenschen zu öffnen, um sie in eine lebendige Beziehung zur christlichen Botschaft zu bringen. Das Theißen-Oeuvre arbeitet mit einem holistischen Modell von Korrelation, in dem sich biblische und theologische Untersuchung bemüht, jeweils spezifische Adressaten anzusprechen und in einen „Dialog“ zu bringen, ein für das ganze Oeuvre äußerst wichtiges Konzept. ————— 2 P. TILLICH, Systematische Theologie I, 1951, 9. Katholische Theologen nehmen zu der Bibel die Tradition, wohingegen bei evangelischen Modellen die Tradition auf der Seite der Theologie steht. 3 J. ANSALDI, L’articulation de la foi, de la théologie et des Ecritures, Cerf, 1991, nennt dieses Zusammenbinden „le nouage“.

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Die „Zeichensprache des Glaubens“

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Derselbe religionswissenschaftliche Ansatz, die Definition von Religion als „Zeichensprache“, führt zu drei Arten von Korrelation, die Theißen für den Dialog mit heutigen Menschen fruchtbar macht: – Eine Theorie des Urchristentums: In dieser religionswissenschaftlichen Forschung, die vom wissenschaftlichen und nicht vom theologischen Standpunkt aus argumentiert, dominiert die Korrelation der Bibel und der Theologie mit den Humanwissenschaften (Anthropologie, Soziologie, Psychologie);4 – Eine „offene Bibeldidaktik“ und eine Homiletik: In diesen Versuchen einer Elementarisierung des christlichen Glaubens für die Kommunikation von KatechetInnen und PredigerInnen mit Christen, aber auch mit Menschen anderer Religionen und anderer Konfessionen, dominiert die Korrelation der Bibel und der Theologie mit existentieller Erfahrung;5 – Predigten und Gedichte: In der spezifischen Aufgabe christlicher Verkündigung wird dieselbe Korrelation in die Tat bzw. in die Sprache der Poesie (Gedichte, meditative Texte) und/oder der Zusage (Predigten) umgesetzt.6 „Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt“.7 Dieses Zeichensystem kombiniert drei Ausdrucksformen: Mythos, Ritus, Ethos, deren Interaktion nicht willkürlich funktioniert, sondern durch Regeln geleitet wird. Theißen vergleicht das mit den grammatischen Regeln einer Sprache, die, nachdem verschiedene Generationen in sie „hineinwachsen“, durch sie weiterleben, in allen möglichen Variationen auch kreativ ihren „Geist“ weitergeben und somit die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart überbrücken. So lässt sich auch auf nicht klassische Weise erklären, inwiefern die Bibel kanonischen Charakter hat: weil sich kraft dieser „Grammatik“ in jeder Generation das biblische Zeichensystem immer wieder neu rekonstruieren lässt. So mündet die religionswissenschaftliche Forschung in der Enthüllung dieser inneren Regeln der Konstruktion, ihrer „Axiome“ und ihrer „Grundmotive“. Dabei ist nicht nur das Resultat bemerkenswert, sondern auch die Methode der Schritte für den Dialog mit den Mitmenschen: ————— 4 G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000. DERS., Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007. 5 G. THEISSEN, Zur Bibel motivieren. Aufgaben Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh 2003 (hier: Bibeldidaktik); DERS., Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994. 6 G. THEISSEN, Protestantische Akzente. Predigten und Meditationen, Gütersloh 2008. 7 THEISSEN, Die Religion der ersten Christen, 19.

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– Als erstes sucht Theißen nach der Korrelation von göttlicher Offenbarung und menschlicher Erfahrung innerhalb der biblischen Tradition. Er zeigt Tiefenstrukturen biblischer Textwelt.8 – Als zweites macht er diese Zeichensprache der christlichen Tradition für heutige Menschen zugänglich. Der Dialog mit säkularen Weltanschauungen, mit anderen Kirchen oder mit anderen Religionen ist dabei keine Nebentätigkeit für praktisch-kommunikative Zwecke, sondern eine innere Notwendigkeit der Forschung selbst.9 So stellt er sich als Aufgabe, jedes biblische Motiv auch als ein „Lebensmotiv“ zu deuten, das „Entsprechungen“ zwischen den elementaren Strukturen der Sache des Glaubens und den existentiellen Erfahrungen von Menschen herstellt. Dabei ist das Ziel nicht unbedingt, dass diese Außenstehenden in das „Haus“ der biblischen Bilder einkehren, sondern dass sie es wertschätzen und ein „Einverständnis“ entstehen kann.10 – Einen dritten Schritt, der in früheren Schriften nur angedeutet ist, unternimmt Theißen in der Bibeldidaktik. Er erweitert den Versuch „profaner Analogien“ auf die wissenschaftliche Forschung. Von dem gemeinsamen Grundaxiom ausgehend, dass der Wirklichkeit ein „vorgegebener Sinn“ vorausgeht, versucht er, mit Ansätzen der evolutionären Theorie eine Resonanz zu finden, und entwickelt dafür eine evolutionäre Deutung seiner Grundmotive. „Die Welt der harten Selektion nach dem Kriterium ‚geeignet und nicht geeignet‘, ‚kompetent und inkompetent‘ ist nicht die ganze Wirklichkeit. Die entscheidende Botschaft aus jener größeren und umfassenderen Welt lautet: Dort ist jeder Mensch unbedingt anerkannt – ohne Ansehen der Person, des Geschlechts, der Rasse, der Herkunft, unabhängig von seinen Taten und seiner Kompetenz. Diese unbedingte Anerkennung kann man in unserer Erfahrungswelt nur mit dem vergleichen, was Menschen als Liebe erfahren – das Bewusstsein, schlechthin akzeptiert zu sein. Die ————— 8 Zwei Grundaxiome: Monotheismus und Glaube an einen Erlöser, 14 Grundmotive biblischen Glaubens: Schöpfungsmotiv, Weisheitsmotiv, Wundermotiv, Entfremdungsmotiv, Hoffnungsmotiv, Umkehrmotiv, Exodusmotiv, Stellvertretungsmotiv, Einwohnungsmotiv, Glaubensmotiv, Agapemotiv, Positionswechselmotiv, Gerichtsmotiv, Rechtfertigungsmotiv. 9 „Das Ziel wäre nicht Einverständnis in Form eines Bekenntnisses, sondern Verständnis für das Bekenntnis – auch bei denen, die es nicht nachsprechen. Ziel wäre Achtung vor dem Glauben des anderen und ein besseres Verständnis der eigenen Haltung“ (THEISSEN, Bibeldidaktik, 110). 10 THEISSEN, Zeichensprache des Glaubens, 33. Die 14 „Elementaren Lebensmotive“ im heutigen Leben, die den biblischen Grundmotiven entsprechen sind: elementares Kreaturgefühl; elementare Sinnbejahung; elementares Wundererleben; elementares Entfremdungsgefühl; elementare Hoffnung; elementare Umkehrchance; elementares Aufbruchbewusstsein; elementares Füreinandersein; elementares Tiefenerleben; elementares Grundvertrauen; elementare Mitmenschlichkeit; elementare Statusüberwindung; elementare Gewissenserfahrung; elementare Lebensbejahung (in: THEISSEN, Bibeldidaktik, 193–201).

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Botschaft, die diese unbedingte Anerkennung vermittelt, die den Selektionsdruck aufhebt – das ist das Evangelium“.11 – Als viertes Ziel wird angeboten, die Beziehung zu Gott zur Sprache zu bringen. Denn auch Religionswissenschaft soll nicht ausblenden, dass jede Religion sich als Begegnung mit einer „transzendenten Macht“ versteht. Die biblischen Texte können bei den LeserInnen einen Sinn für „Ewiges, Unbedingtes und Verantwortung“ wecken, indem sie Resonanz bieten für grundlegende existentielle Erfahrungen.12

3. Korrelation zwischen der biblischen und der heutigen Welt Diese Forschung kommt drei theologischen Grundproblemen der Praktischen Theologie entgegen: Wie funktioniert Tradition, nicht nur als Traditum sondern als Traditio, als lebendige Vermittlung einer „Sprache“? Wie wird sie über Generationen hinweg aktualisiert und wie belastbar bleibt sie für Anfragen aus neuen Lebenskontexten? Welche performative Kraft liegt ihr inne, so dass sie nicht nur interpretiert wird, sondern die Macht hat, Menschen zu interpretieren und zu verändern? Die Korrelation von biblischer Grammatik und menschlicher Erfahrung bietet kein fixiertes Modell von theologischen Antworten auf menschliche Fragen. Ihre theologischen Aussagen werden nicht harmonisiert, sondern in Dialog miteinander gesetzt. Wird der Bibel bei Theißen Priorität eingeräumt, so dient sie nicht als Behälter vorgegebener Glaubenswahrheiten, die nur übersetzt sein müssten. Die christliche Tradition stellt sich als Dialograum dar, in dessen „Geist“ neue Formulierungen der Zeichensprache christlichen Glaubens entstehen können. Tillich versuchte, die „ewige Wahrheit“ in die menschliche „Zeitsituation“ hinein zu bringen, nach der klassischen Unterscheidung von ewiger Wahrheit und historischer Situation. Theißen arbeitet mit einem semiotischen Modell des Zusammenspiels der Grundelemente und Grundstrukturen, die sich durch die Zeiten weiterbilden, in der Ipseität, nicht in der Wiederholung.13 Da in einem Zeichensystem dessen Elemente miteinander in Beziehung stehen, und nicht nur in einer vorgegebenen und funktionellen Entsprechung von Signifikant und Signifikat, sondern in neuen Möglichkeiten der Entsprechungen, bleibt die Grundsprache erhalten, jedoch in neuen Variationen und Neuschöpfungen, wie es die biblischen Texte zeigen. ————— 11 THEISSEN, Bibeldidaktik, 58. 12 THEISSEN, Bibeldidaktik, 190. 13 Paul Ricoeur benützt diesen Ausdruck „Ipseité“ (was durch Zeiten hindurch sich selbst treu bleibt) im Gegensatz zu „Identité“, die nur eine Wiederholung desselben wäre.

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Die dabei entstehende Frage für die Leserin ist: Wo ist die einende und verbindende Mitte in solch einem offenen innerbiblischen Dialog und in der stetigen gegenseitigen Korrektur der Texte zu finden? Welche innere Dynamik treibt sie? Theißen sieht einen „Kanon im Kanon“, aber im Sinn einer „Internalisierung“ der Logik der beiden Grundaxiome, die jedem Basismotiv unterschwellig zu Eigen sind. Der Religionswissenschaftler betont, dass er keine Harmonisierung anstrebt, weil die Bibel keine Heilsgeschichte nach vorgelegtem Plan verfolgt, sondern eine „Dialoggeschichte“ bezeugt. Als Theologe fragt er: Gibt es für diesen Dialog eine gemeinsame Mitte? Und antwortet: Fundamental für alle Texte ist Gott. „Alles andere dient dazu, Zugang zu ihm zu finden“.14 Gott ist aber durch seinen Geist zugänglich, der an das „lebendige Wort“ gebunden ist. Dann fragt die Leserin: Wie kann ich mit Theißen nach diesem „Geist der Bibel“ suchen? Dieser lässt sich nicht in eine Aussage pressen, sondern öffnet einen Interpretationsraum im Zusammenspiel der Grundmotive. Diese Motive geben einen Deutungsrahmen, der auf eine letztgültige Wirklichkeit bezogen ist.15 Der Neutestamentler geht methodisch vor und verdrängt im synchronischen Durchgang den diachronischen nicht. Der Glaube an einen Erlöser steht als spezifisches Grundaxiom für die christliche Religion. Jesus Christus wird als „Zentrum der religiösen Sprache“ im Neuen Testament angesehen, da mit ihm alle Grundmotive verbunden sind, meistens im Widerspruch zu den Erwartungen der Welt.16 Können menschliche Erfahrungen auf eine Begegnung mit dem Glauben an eine Transzendenz vorbereiten? Theißen antwortet: Gerade die für das säkulare Bewusstsein irritierenden Erfahrungen können dank biblischer Erfahrungen gedeutet werden, insbesondere „Transzendenz-, Kontingenz- und Resonanzerfahrungen“, die „Umstrukturierungsprozesse“ einführen.17 Als Rätsel bleibt, wie der Glaube an eine Transzendenz vorbereitet werden kann, wie der säkulare Leser über eine seinsmystische Grundgewissheit hinauskommen kann bis hin zu der personalen Beziehung von Gott zum Menschen. Für Theißen sind das Unbedingte und das Ewige „nicht mit dem lebendigen Gott identisch“, bilden aber einen möglichen Zugang zum Verständnis des biblischen Gottes.18 Ist die hier angestrebte Begegnung Maïeutik, die zum Vorschein bringt, was schon im Leben vorhanden ist, oder konstituiert sie Neues? Ist solche Sprache nur etwas, was der Hörer durch sein Leben kennt und in den ————— 14 15 16 17 18

THEISSEN, Bibeldidaktik, 122. THEISSEN, Bibeldidaktik, 166. Z.B. in Themen der Hoffnung, der Stellvertretung, des Gerichts. THEISSEN, Bibeldidaktik, 190–200. THEISSEN, Bibeldidaktik, 190.

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Texten wiederentdeckt, oder ist in einer solchen Sprachlehre das Sprachgeschehen nicht nur hermeneutisch, sondern auch konstitutiv für neue Perspektiven?

4. Performative Sprache An dieser Frage vollzieht sich eine Wende, die die besondere Fruchtbarkeit des Theißen-Oeuvres zeigt. Der Autor bleibt nicht der Versuchung von Analogien verhaftet, in denen LeserInnen sozusagen nur die Spiegelung ihrer Wünsche oder Sehnsüchte entdecken. Vielmehr betont er die innere Umwälzung in Texten: „Die Sprachkraft religiöser Texte hängt eng mit ihrem semantischen Störungspotential zusammen, d. h mit ihrer Fähigkeit, neue Verbindungen von Signifikant and Signifikat anzuregen – und dabei neue Bedeutungen zu evozieren“.19 Das Störende in den Texten erlaubt es, von der reinen Analogie zwischen menschlichen Erwartungen und biblischer Offenbarung zu Aussagen zu kommen, die dem Geist der Zeit widerspenstig sind. Damit wird eine für die Korrelation äußerst wichtige Herausforderung benannt: die Funktion der Sprache, die zum Sprachereignis strebt: „Die Reaktualisierung von Texten im innerbiblischen Traditionsprozeß ist demnach nicht ein Abrufen vorhandener Möglichkeiten aus seiner kollektiven Zeichensprache, sondern eine ständige semantische Störung vorgegebener Bedeutungen. Gerade die durchschlagenden ‚Sprachereignisse‘ reaktivieren das Zeichensystem durch semantische Störung“. Religiöse Sprache sagt Neues, provoziert neue Einsichten und neue Haltungen.20 Dies ist für die Praktische Theologie von äußerster Wichtigkeit: In diesem Prozess der Weitergabe christlicher Tradition handelt es sich nicht einfach um eine Aktualisierung oder eine Übersetzung. Es geht erstens darum, eine nicht-religiöse Sprache für christliche Erfahrung zu finden. Und zweitens vielmehr darum, durch die Sprache und dank der christlichen Sprache, zur Offenbarung, die sich darin ausdrückt, Zugang zu finden, in einer sich immer weiterentwickelnden gedanklichen und sprachlichen Kreativität. Bemerkenswert im Werk von Theißen ist die Rolle der Sprache, die nicht nur Realität ausdrückt, sondern gestaltet. Sprache wird hier nicht als Kommunikationsmittel angewendet, um einer höheren Sache zu dienen, sondern ist in sich schon Theologie, agierendes Wort, das existenzielle Relevanz und spirituelle Kraft hat. Der Geist der Bibel setzt sich durch, nicht nur ————— 19 20

THEISSEN, Zeichensprache, 20. THEISSEN, Zeichensprache, 20; 21 (Zitat).

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dank der wissenschaftlichen und theologischen Erklärungen, sondern vielmehr durch seine eigene Kraft. Durch die Betonung des Wortgeschehens wird parallel zur Hermeneutik der biblischen Zeichensprache eine Sprachlehre entworfen, die inspirierend für die Praktische Theologie werden könnte. Somit könnte sie sich als Sprachschule des Glaubens verstehen, im Sinne des ehemaligen Vorhabens von Gerhard Ebeling: „Die Grundstruktur des Wortes ist darum nicht Aussage – das ist eine abstrakte Abart des Wortgeschehens –, sondern Mitteilung, gewiss nicht in dem abgeblassten Sinne von Information, sondern in dem gefüllten Sinn von Partizipation und Kommunikation […]. Wo Wort recht geschieht, lichtet sich die Existenz (und das heißt selbstverständlich stets: die Existenz im Miteinander […]. Eben dazu soll das Wort dienen, dass sich der Mensch als Mensch herausstellt […]. Denn seine Bestimmung ist, als Antwort zu existieren. Er ist gefragt, was er zu sagen hat. Seine Existenz ist, recht verstanden, Wortgeschehen, das im Worte Gottes seinen Ursprung hat und, diesem Worte antwortend, Raum gibt durch rechten, heilsamen Gebrauch des Wortes.“21

5. Praktische Theologie als Sprachschule des Glaubens Das Theißen-Oeuvre als Experiment von adressatbewussten Versuchen, eine Sprache zu entwickeln, die theologische Forschung und spirituelle und existentielle Suche heutiger Menschen lebendig formuliert, bietet eine inspirierende Grundlage für eine Praktische Theologie als theologische Sprachschule des christlichen Glaubens, die versuchen sollte, je nach Adressat und Kontext die Zeichensprache des Glaubens auf die adäquateste Weise zum sprechen zu bringen, um heutiges Leben zu hinterfragen, herauszufordern und umzugestalten. Eine solche Aufgabe ist für die Zukunft der praktischen Theologie – als Theologie und nicht als Religionswissenschaft – besonders interessant in einem französischen Kontext. In Frankreich neigt Praktische Theologie dazu, in zwei extreme Richtungen zu flüchten: in eine religionswissenschaftliche Hermeneutik gelebter Religion im Schutz der staatlichen (laïzistischen) Universität, oder in eine strikt ekklesiale Pastoraltheologie im Schutz der Kirchen. Sie könnte sich mutiger profilieren gerade in der Verbindung der kritischen Analyse gelebter Religion und im Versuch theologischer Antworten, aber nicht als Antwortsystem (wie etwa Systematik), ————— 21 G. EBELING, Wort Gottes und Hermeneutik (1959), in: Wort und Glaube Bd. 1, Tübingen 1960, 342f.

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und nicht als angewandte Pragmatik, sondern als Theologie des Wortes, die an dem geglückten Treffen von Gotteswort und Menschenwort arbeitet.22 Die Signatur eines großen Couturiers heißt „la griffe“, die Kralle! Denn die von ihm entworfene Kleidung ist einmalig, und hat einen spezifischen Touch, weckt ein Glücksgefühl für die, die sie tragen. Dieser spezifische Touch, eine Mischung von Sensibilität für heutige Fragen, von wissenschaftlicher Akribie und schöpferischer Originalität, gehört zweifellos dem Theißen-Oeuvre an. Ein weniger angenehmer Effekt von Krallen ist, dass sie mitunter auch unter die Haut gehen, ja sogar Narben hinterlassen. Die französischsprachige Theologie hat das Glück, dass sie dank vieler Übersetzungen von der „Theißen-Griffe“ schon aufgekratzt wurde. Es bleibt die Aufgabe, diese Inspiration umzusetzen in Versuche einer theologischen Sprachlehre, die in einem jeweils persönlichem, kontextuellen und adressatenbewussten Einzelprodukt, das das Markenzeichen seines biblischchristlichen Zentrums trägt, Menschen anspricht und die Begegnung mit Gott möglich macht.

————— 22 Vgl. E. PARMENTIER (Hg.), La théologie pratique. Analyses et prospectives, Strasbourg 2008, 69–86.

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Helmut Schwier

Im Dialog mit der Bibel Gerd Theißens Impulse für Theorie und Praxis der Predigt

„Zur Bibel motivieren“ – so lautet nicht nur der Titel von Gerd Theißens Bibeldidaktik, sondern dies ist auch eine angemessene Zusammenfassung seiner Arbeiten und Intentionen in den anderen praktisch-theologischen Handlungsfeldern. Ich konzentriere und beschränke mich auf die praktische Homilektik,1 die bei Gerd Theißen aus der Rechenschaft über die eigene Predigtpraxis erwachsen ist. Wie lässt sich Predigt definieren und welche Aufgaben und Bestimmungen hat sie zu erfüllen? Theißen zeigt – in den Formulierungen bewusst positiv und motivierend, während die Homiletiker häufig nur von der Krise der Predigt schreiben – in seiner Homiletik fünf Chancen der Predigt: die Chance zur Aktualisierung der biblischen Zeichenwelt, die Chance zur Entfaltung der Sinnpotentiale des „offenen Textes“, die Chance zur Dialogaufnahme mit Gott, die Chance zur Vermittlung von Lebensorientierung und Lebensgewinn und schließlich die Chance der Kommunikation zwischen Predigenden und Gemeinde. Dies führt zur kompakten Definition: „Eine Predigt ist eine Rede in einem Gottesdienst, in welcher ein Gemeindeglied stellvertretend für alle die biblische Zeichenwelt durch Auslegung eines Bibeltextes reaktualisiert, in der Hoffnung, durch Dialogaufnahme mit Gott Lebensgewinn zu vermitteln“.2 Ich nehme diese Konzeption auf und setze sie drei einfachen Fragen aus: Wie macht man das? Wie wird das in der Gemeinde rezipiert? Was ist daran bleibend wichtig?

————— 1 Im Beitrag von Elisabeth Parmentier wird die Verbindung mit der Theoriebildung des Gesamtfachs Praktische Theologie dargestellt und kritisch diskutiert. 2 G. THEISSEN, Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994, 23; ähnlich: DERS., Exegese und Homiletik. Neue Textmodelle als Impulse für neue Predigten, in: U. POHL-PATALONG/F. MUCHLINSKI (Hg.), Predigen im Plural. Homiletische Perspektiven, Hamburg 2001, 55–67, hier 56.

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Im Dialog mit der Bibel

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1. Wie macht man das? Diese Frage wird in Theißens Homiletik selbst beantwortet, da hier die handwerklichen Gestaltungsaspekte in den einzelnen Kapiteln eigens und ausführlich behandelt werden. Die vielfältigen Vorschläge sind konkret, praxiserprobt und zielen auf formal wie stilistisch abwechslungsreiche Predigten – ein Anspruch, den der Prediger Gerd Theißen selbst einlöst und der auf theologischen Grundeinsichten beruht.3 Auf der Grundlage der Grundmotive biblischen Glaubens werden biblische Texte als Variationsfeld der Predigt beschrieben, die zu unterschiedlichen Variationen – z.B. der Metaphern, der Rollen und Handlungen – anregen. Weiterhin wird empfohlen, Bilder und Narrationen zu gebrauchen, nicht einfach als bloße Illustrationen, sondern auch als Angebote zur kognitiven Umstrukturierung; außerdem kann man Texte homiletisch kommentieren, indem sie rekontextualisiert werden – meist durch Personen und Figuren, von denen erzählt wird und die dann Fragestellungen oder Perspektiven anschaulich verkörpern. Immer wieder weist Gerd Theißen darauf hin, dass klare Gedanken und Argumentationen zu einer evangelischen Predigt gehören; dennoch brauche sie, weil sie kein Referat ist, noch weiteres: Anrede, Ruf, Appell, ein Werben und Bitten,4 eine hermeneutisch verantwortete Verwendung von Bildern,5 aber auch mit den verschiedenen Kommunikationsebenen vertraute Predigende. Schließlich gehören die unterschiedlichen Dimensionen – die personale, soziale und kosmische Dimension – als strukturierende Elemente zu vielen von Theißens eigenen Predigten. Dadurch werden die Predigten nicht auf die personale Dimension eingeengt, auch wenn auf ihr der Schwerpunkt liegt. Anregend und beispielhaft sind diese vielfältigen Gestaltungsvorschläge, weil sie mit den prinzipiellen Überlegungen eng verbunden sind und immer neu den Dialog mit Gott und die existenziellen Fragen betonen. Wie manche andere hat auch Gerd Theißen zugestimmt, eine seiner Predigten einem Praxistest zu unterwerfen. Den haben wir in unserer empirischen Untersuchung zur Predigtrezeption 2006 gewagt. ————— 3 Vgl. auch THEISSEN, Exegese und Homiletik, 56–66. 4 Vgl. THEISSEN, Zeichensprache, 105. 5 „In der Predigt […] muss die Einheit von Gedanken und Bild, Vernunft und Sinnlichkeit, Wort und Emotion erlebbar sein. Die heutige Predigt leidet nicht an Gedankenreichtum, sondern an Gedankenarmut. Sie leidet nicht an Bildarmut, sondern an Bildinflation, d.h. an Bildern, die nichts wert sind. Wir brauchen durchdachte Bilder, die dazu inspirieren, neue Gedanken und Bilder zu entwickeln. […] Die Bibel ist ein Reservoir mächtiger Bildschöpfungen. Sie ist Poesie des Heiligen und inspiriert zu neuen Bildern und Gedanken“ (G. THEISSEN, Predigen in Bildern und Gleichnissen. Metapher, Symbol und Mythos als Poesie des Heiligen, EvTh 66, 2006, 341– 356, zit. 356).

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2. Wie wird eine Predigt in der Gemeinde rezipiert? In unserer Untersuchung haben wir unter anderem auf die Predigt zum Zweifler Thomas zurückgegriffen.6 Diese Predigt wurde in zwei Gemeinden, in Freiburg und in einer dörflichen Gemeinde in der Nähe Neckargemünds als „Radiopredigt“ vorgespielt;7 die Hörenden konnten mit Hilfe kleiner Geräte, deren Einstellungen wiederum von einem Zentralgerät permanent abgefragt und erfasst wurden, anonym und unabhängig voneinander während des Hörens der Predigt angeben, wie stark sie von der Predigt bzw. den jeweiligen Predigtteilen und -sequenzen angesprochen werden.8 Zunächst wird hier die Predigt von Gerd Theißen dokumentiert, einschließlich einer Zeilenzählung, die für die schriftliche Predigtanalyse (s.u.) wichtig ist, und einer Zeitleiste, die der gesprochenen Version entspricht, auf die die Hörenden reagiert haben.

Predigt 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Thomas der Zweifler ist in uns oft lebendiger als Jesus der Auferstandene. Denn Zweifler sind wir alle, wenn auch in verschiedenem Maße. | Zweifler sind auch alle Glaubende. Da gibt es Menschen mit einem Glauben, der mehr im Zweifel daran besteht, ob die verbreitete Ablehnung des Glaubens recht hat. | Das sind Anfänger im Zweifeln. Da gibt es Fortgeschrittene. Die zweifeln der Reihe nach an allem, aber für sie ist die Frage interessanter geworden, | was sie trotzdem am christlichen Glauben festhält. Und dann gibt es reife Zweifler. Sie haben wenig Gewissheiten. Aber diese geben ihnen Halt genug, | um viele Fragen offenzulassen. Für manche gehört auch die Osterbotschaft zu diesen offenen Fragen. Es ist unbestreitbar: | Man kann wie Thomas Jesus nachfolgen, von seinem Geist ergriffen sein, und ratlos vor den Ostergeschichten stehen. So einen modernen Thomas wollen wir heute |1| durch die verschiedenen Lektionen des Zweifels begleiten. Die erste Lektion beginnt damit, dass unser Thomas beschließt, Theologie zu studieren. | Denn er sagt sich: Man muss einer Sache auf den Grund gehen. Von Ostern wissen wir nur durch die Texte des Neuen Testaments. | Also muss man sie studieren; in Griechisch, mit Konkordanz, Lexikon, Grammatik, Kommentar. Das Ergebnis lautet in Kurzfassung: Die Ostergeschichten sind so schlecht nicht bezeugt. | Die bekanntesten Einzelzeugen stehen zu Jesus in einem besonderen Verhältnis: Petrus verleugnete Jesus,

Zeit .10

.20 .30 .40 .50

1.00

.10 .20

.30

————— 6 G. THEISSEN, Die offene Tür. Biblische Variationen zu Predigttexten, München 1990, 125–132. 7 Alle verwendeten Predigten waren vorher von einem professionellen Sprecher aufgenommen worden. 8 Zu Methodik, Verlauf und Ergebnissen der Untersuchung vgl. insgesamt H. SCHWIER/S. GALL, Predigt hören. Befunde und Ergebnisse der Heidelberger Umfrage zur Predigtrezeption, Heidelb. Studien zur Predigtforschung Bd.1, Berlin 2008.

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Im Dialog mit der Bibel 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Paulus verfolgte seine Anhänger. | Jakobus war sein Bruder. Außerdem werden Frauen genannt, deren Zeugnis damals wenig galt und deshalb heute umso mehr wiegt. | Alt sind die Überlieferungen auch. Paulus sagt, er hätte sie von anderen empfangen und weitergegeben, als viele Augenzeugen noch lebten. |2| Über das leere Grab lassen die Gelehrten viel Gras wachsen. Die einen sagen so, die anderen anderes, die meisten gar nichts dazu. | Inzwischen hat unser moderner Thomas 103 Bücher zum Thema gelesen; aber als routinierter Zweifler sagt er sich: Vielleicht steht im 104. Buch noch ein ganz | durchschlagendes Argument. Und darum liest er das 104. Buch usw. Bis ihm beim 120. Buch jenes unbekannte Buch einfällt, | das ein noch unbekannter Privatdozent in 150 Jahren schreiben wird und das er nie, nie wird lesen können – und das vielleicht die Wahrheit endgültig ans Licht bringen wird. | Da möchte unser Thomas am liebsten verzweifeln. Denn er wird nie wissen, was man nach seinem Tode wissen wird. Aber noch schlimmer: | Selbst wenn er es wüsste, so bliebe er in der Welt der Vorstellungen, Argumente und Hypothesen. Niemals wird er aus dieser Welt heraustreten können, |3| um die Realität mit ihr zu vergleichen. In ihr sitzen wir alle wie die Spinne in ihrem Netz. Und er fragt sich: Wie unterscheiden wir überhaupt | Phantasie und Realität, Einbildung und Wirklichkeit? Da er keine Zeit hat, noch einmal | 120 Bücher zu dieser Frage zu lesen, beruft er sich auf seine Alltagserfahrung: Wir merken die Wirklichkeit daran, dass sie weh tut. | Wer sich an einer Kante eine Wunde schlägt, hat in diesem Augenblick keine philosophischen Probleme, die Realität der Außenwelt nachzuweisen. Wenn etwas störend und verletzend – | als Krankheit oder Unrecht – in unser Leben eingreift, dann sind wir überzeugt, es mit etwas Wirklichem zu tun zu haben. Thomas wird bewusst: | Er sucht nach den Schmerzen, die Wirkliches erkennbar machen. Wundmale sind nicht nur die Erkennungszeichen des Herrn, sondern der Wirklichkeit überhaupt. |4| Das hat ihm in der Welt der Bücher gefehlt, in denen er nur abgedämpft den Spuren menschlichen Schmerzes begegnete. Dort lebte er in der Welt der Annahmen und Vorstellungen, | aber nicht in der Welt, wo man leidet, wo Menschen gefoltert und gekreuzigt werden. Jedoch erkennt Thomas auch, dass es in der Welt der Bücher | eine Analogie zum schmerzhaften Zusammenstoß mit der Realität gibt: Auch in ihr spüren wir am intensivsten, dass wir uns nicht nur mit unseren eigenen Gedanken, sondern mit der Realität | auseinandersetzen, wenn wir eine Annahme korrigieren, wenn wir eine Theorie unter dem Druck der Tatsachen aufgeben müssen. Auch das tut weh. | Auch das schmerzt. Thomas hat damit die erste Lektion des Zweifels absolviert, die historisch-kritische Lektion. | Er ist zur Einsicht gekommen: Er muss ins Leben hinaus, da, wo es richtig weh tun kann.

189 .40 .50 2.00 .10 .20 .30

.40 .50 3.00 .10 .20 .30 .40 .50 4.00

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5.00 Einige Mitstudenten haben |5| Verständnis für sein Problem und führen ihn in Kreise ein, in denen man über seine historisch-kritische Phase lächelt. Ihr Verein nennt sich „Seele und Symbol“. | Ihre zentrale Lehre ist, die Aussagen der Bibel seien Teil einer allgemeinen Bildersprache der Menschen, die unbewusste Tiefen in uns erschließt. | Dort liege die eigentliche Realität. Der Eingeborene, der auf seinem Weg zum Schamanen von einem Ungeheuer verschlungen wird, um sich dessen Kräfte anzueignen, | mache dieselben Erfahrungen wie Jona, der vom Walfisch verschlungen und zu neuem Leben ausgespuckt wird. Die Erfahrung des Jona | wiederhole sich in Tod und Auferstehung Jesu und in allen Christen, die sich mit ihm kreuzigen und begraben lassen, um ein neues Leben zu beginnen. | Alle diese Bilder und

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Helmut Schwier Symbole verkörperten dieselbe universale Wahrheit: Wir werden nur wir selbst, wenn wir uns mit Schmerzen und Todesangst von unserem alten Leben trennen. |6| Das neue Leben aber melde sich im Traum. Im Traum spreche Gott zum Menschen mit Hilfe der universalen Symbolsprache. | Und weil die historisch-kritischen Gelehrten diese Bildersprache nicht kennen, blieben sie bei Oberflächlichem stecken. Thomas der Zweifler | war zunächst fasziniert: Wenn Tod und Auferstehung Jesu Bilder von Prozessen in uns sind – Bilder einer radikalen Veränderung des Lebens, | die Unbewusstes umgreift und bewusster Steuerung entzogen ist –, dann können wir unmittelbar ihre Wahrheit erfahren. Wir spüren sie in uns. | Wir haben Gewissheit. Denn diese Wahrheit ist ein Teil unserer selbst. Thomas der Zweifler hatte nur ein Problem, | das seine Symbolfreunde nicht lösen konnten. Er träumte nicht so schöne Träume, wie man sie in ihren Kreisen erwartete. Seine Träume waren wirr, abgehackt, |7| oft blutrünstig, meist obszön, häufig voller Todesangst. Noch lange klangen Kindheitserinnerungen an Bombennächte in ihnen nach. | Nur selten hatte er einen Traum, der ihm wie eine Offenbarung erschien. Ein solcher Traum war der folgende: Er musste durch einen langen, | dunklen Tunnel. Und er spürte sofort: Das war der Tod. Und da sah er durch den Tunnel den Tod ihm entgegenkommen. Er war ein | großes Insekt mit einem riesigen Stachel, dem Stachel des Todes, der ihn durchbohren würde. Er hatte wahnsinnige Angst, konnte nicht weglaufen. | Da merkte er plötzlich, wie das Unwesen unsicher wurde. Die Angst in ihm schien auf das Untier überzugehen. Es drückte sich ängstlich zur Seite, | als sei er von einer unsichtbaren Schutzwand umgeben. Und er wurde immer mutiger, als sei er immun gegen den Stachel des Todes. Er passierte das Untier |8| und sah in der Ferne des dunklen Tunnels ein Licht größer werden. Er erwachte. Es war hell. Das Merkwürdige war: | In der nächsten Nacht träumte er wieder einen Traum wie zur Korrektur des ersten Traumes. Da sagte ihm ein Arzt, dass er unheilbar krank sei. Und der Stein der Todesangst | lag schwer auf seinem Herzen, und er konnte ihn nicht wegwälzen. Und Thomas lernte: Die Schmerzen, die uns bis in die Träume hinein quälen, | sind nicht nur Schmerzen der Selbstverwirklichung. Tod und Endlichkeit sind harte äußere Gegebenheiten – nicht nur innere Prozesse. | Gewiss muss die Osterbotschaft eine Bildersprache sprechen, die bis ins Innerste dringt. Aber sie muss selbst von außen kommen – so wie Tod und Endlichkeit von außen | auf uns zukommen. Deshalb machte sich Thomas erneut auf die Suche nach der Realität, nach einer äußeren Realität. |9| Er suchte nicht nur die Schmerzen seiner Selbstverwirklichung, sondern den Schmerz, der die absolute Realität offenbart: die „Wundmale des Herrn“.

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.10 | Im dritten Stadium seines Zweifelns geriet er in einen Kreis von Esoterikfreunden, die ihm Kontakt mit einer außermenschlichen Realität verhießen. Sie erzählten ihm von Gedankenübertragung, | Telepathie, zweitem Gesicht, prognostischen Ahnungen und betonten, das sei nur für Anfänger. Thomas hörte mit roten Ohren zu. | Dass sich Verstorbene im Leben ihrer Angehörigen bemerkbar machen, war hier das Allergewöhnlichste. Hier kam sich Thomas mit seinen Zweifeln wie ein Häretiker, ein Außenseiter vor. | Manches, was ihm erzählt wurde, klang absolut glaubwürdig. Er wollte nicht ausschließen, dass es eine für uns undurchschaubare Informationsübertragung | von Sterbenden (und Verstorbenen) auf ihnen Nahestehende gab.

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Als man ihn aber einlud, an einer Sitzung teilzunehmen, wo man einen solchen Totengeist |10| erscheinen lassen wollte, lehnte er entsetzt ab: Zwischen spontan sich ereignenden „Zeichen“ und einer solchen Manipulation des Außernormalen | durch Menschen war ein gewaltiger Unterschied. Fluchtartig und verwirrt verließ er den Esoterikerkreis. Zum Glück hatte er einen afrikanischen Freund. | Der erzählte ihm, dass man in seiner Heimat ganz selbstverständlich in Kontakt zu den Verstorbenen stehe. In der Kirche hätten sie bei der Osterpredigt | andere Schwierigkeiten als in Europa. Hier, in Europa, fragten die Leute: Kann denn das überhaupt geschehen, dass ein Toter aus dem Nichts neu geschaffen wird? | Bei ihm zu Hause aber fragte man: Was ist daran Besonderes? Ist Jesus etwa in einer anderen Weise lebendig als unsere Ahnen, | die uns in Träumen erscheinen und hilfreiche Weisungen geben? Da sei die Geschichte vom ungläubigen Thomas eine richtige Hilfe. Der wollte nicht nur den Auferstandenen sehen, |11| sondern dessen Wundmale spüren, die Zeichen von Hinrichtung und Folterung. Er möchte sich vergewissern, dass etwas stärker ist als der gewaltsame Tod, | mit dem Jesus endete. Viele Farbige in seiner Heimat erlitten einen gewaltsamen Tod. Besonders im Süden sei die Situation entsetzlich. | Hier stehe man einem perfekten Unterdrückungssystem gegenüber, angesichts dessen die Erfahrungen der Ahnen verblassen. Mit so viel Bosheit hätten die Ahnen einfach nicht gerechnet. | Aber in den Christen, die dort dem Unrecht entgegentreten, inhaftiert und gefoltert werden, begegne die Kraft der Auferstehung, die Hoffnung, | über die Gewalt zu siegen. Christen in Europa sollten von ihnen lernen, in den Wundmalen Jesu die Spuren von Leid und Unterdrückung zu sehen. | Das Gespräch mit dem afrikanischen Freund rückte vieles zurecht. Aber es warf neue Fragen auf: Nie würde Thomas die Ungebrochenheit teilen können, |12| mit denen andere Kulturen den Kontakt zum Jenseits aufnehmen. Er war kein Afrikaner. Er war Bewohner einer Kultur des Zweifels und der Skepsis. | Und er war ein stolzer Bewohner dieser Kultur. Wenn die Osterbotschaft ihn treffen sollte, dann musste sie ins Zentrum dieser Kultur des Zweifels sprechen | und von da aus die Tiefen der Seele und die Grenzen der Erfahrung durchdringen. Thomas musste noch eine letzte Lektion des Zweifels absolvieren. | Daher schloss er sich einem Klub radikaler Aufklärer an. Hier galt die These: Wer nach Sinn sucht, hat sich verlaufen, | sei Opfer einer psychischen Fehlentwicklung oder körperlichen Dysfunktion. Menschliches Leben sei ein winziges Krustenphänomen | auf einem kleinen Planeten. Je klarer der Mensch seine Stellung im riesigen Weltall durchschaue, um so schmerzlicher wird ihm die Sinnlosigkeit seines Daseins bewusst: |13| einer Zufallserscheinung, bei der sich Materie überkompliziert selbst organisiert habe, so dass sie manchmal zu viel über sich nachdenke. | Die menschlichen Organismen seien auf Selbsterhaltung programmiert, und daher trügen sie in sich Programme für Werte und Maßstäbe. Diese seien für das | Funktionieren der Gesellschaft und die psychische Balance des Einzelnen notwendig, ansonsten aber eine Illusion, die suggeriere, alle Mühe lohne sich irgendwann einmal, | wo doch alles unaufhaltsam dem kosmischen Wärme- oder Kältetod entgegentreibt. Der Weise durchschaue diese Illusion. Auch er, Thomas, | sei eingeladen, dem privilegierten Kreis der illusionslosen Weisen beizutreten. Man müsse zugeben: Der Verlust aller Illusionen täte am Anfang weh. | Aber dafür tausche man etwas unvergleichlich Besseres ein: einen Blick auf die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist, jenseits unserer Wün-

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Helmut Schwier sche und Träume. |14| Mit dieser Botschaft entließ man ihn. Thomas fragte sich: War das der Schmerz, der ihn die letztgültige | Wirklichkeit spüren lassen sollte? Bestand er darin, alle Illusionen zu kreuzigen, damit die nackte Wahrheit aus ihrem Scheitern auferstehen könne? | War der Weltprozess ein riesiger Strom, der in den Abgrund stürzt – die Menschen schwimmen darauf und wissen nichts davon? Eine wohltätige Totalillusion | bewahrt sie vor dem Blick ins Nichts. Nur einige Gelehrte wissen es. Aber sie verbreiten ihre Einsicht mit leiser Stimme. | Denn sie haben nichts anzubieten, was ihren Nihilismus menschlich erträglich macht – abgesehen von der privilegierten Lust, ein Gelehrter zu sein und alles zu durchschauen. | Hier unterbreche ich die Erzählung von Thomas, um mich in seinen inneren Dialog einzuschalten. Ich meine: |15| Was die radikalen Aufklärer sagen, ist eine authentische Möglichkeit, die Welt zu erleben und zu deuten. Sie ist mir selbst viel zu vertraut, als dass ich sie weginterpretieren könnte. | Sie ist „Nihilismus“ – die Entdeckung, dass nichts in der erfahrbaren Welt unbedingten Halt im Leben und im Sterben geben kann. | Ich finde in dieser Welt zwar viel Anlass zu einem begrenzten Vertrauen – einem Vertrauen, das an die Bedingung gebunden ist, dass mein Körper funktioniert, dass die Gesellschaft nicht aus den Fugen gerät, | dass wir etwas Glück haben. Gott sei Dank wachsen wir alle mit solch einem bedingten natürlichen Vertrauen auf. Aber in der Konfrontation | mit der Wirklichkeit wird dieser Mut zum Leben gekreuzigt. Er stirbt einen vielfachen Tod – durch Erfahrungen der unvermeidlichen Niederlagen des Lebens, | aber auch durch Einsichten in das, was ist. Aber immer wieder geschieht ein Wunder. Dieser Mut zum Leben ersteht neu aus dem Nichts. |16| Ich kann ihn letztlich so wenig begründen und erklären wie die Existenz der Welt überhaupt. Ja, dieser neue, unbedingte Mut zum Leben ist selbst eine Schöpfung aus dem Nichts. | Nirgendwo spüre ich die Macht, die das Nichts ins Sein ruft, die Totes lebendig macht, die das Dasein in jedem Augenblick bewirkt und erhält, | deutlicher als in diesem Mut zum Leben. In ihm erlebe ich Gottes schöpferische Macht. Ohne Nihilismus würde ich nie verstehen, | was creatio ex nihilo bedeutet: Schöpfung aus dem Nichts. Die Osterbotschaft sagt uns allen: Diese aus dem Nichts schaffende Macht | ist in euer Leben getreten. Sie ist stärker als das Nichts, in dem der Strom der Wirklichkeit verschwindet. Sie ist dieselbe Macht, aus der dieser Strom kommt. | Die Osterbotschaft will nicht primär einige esoterische Hinterzimmer der Welt oder die unbewussten Keller des Herzens aufschließen – |17| das alles tut sie, all das kann sie, all das sei unbestritten –, aber sie konfrontiert uns vor allem mit dem, der alle Wirklichkeit schafft und erhält | – von den fernsten Galaxien bis zu den kleinsten Pantoffeltierchen, von den Rhythmen des Lebens bis zu unserem Atmen, Denken und Sein. | Diese Macht ruft euch zu: Wer meinen Ruf hört, der ist schon vom Tod zum Leben hinübergegangen. Er erhält neuen Lebensmut, | der aus dem Nichts erschaffen ist. Sie ruft: Bringt Liebe in die Welt. Denn nur daran könnt ihr erkennen, dass ihr vom Tod zum Leben hinübergegangen seid. | Wer nicht liebt, der bleibt im Tod. So der erste Johannesbrief. Sie haucht euch ihren Geist ein, wie sie dem leblosen Adam | ihren Geist einhauchte, und gibt euch den Auftrag, Schuld zu vergeben, Kranke zu heilen, Traurige froh zu machen. Sie wälzt den Stein der Todesangst |18| immer wieder von eurem Herzen und nimmt dem Tod seinen Stachel. Sie verlässt euch nicht in den Tunneln des Schreckens, und im finsteren Tal ist sie bei euch.

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| Diese Macht gibt sich an ihren Wundmalen zu erkennen. Sie begegnet euch mitten in den Schmerzen des Lebens, | wo Verzweiflung und Nihilismus sich breitmachen. Zu dieser Macht spricht der zum Glauben gekommene Thomas, wenn er zu Jesus sagt: „Mein Herr und mein Gott“ | – und ihn so nennt, wie Jesus nur am Anfang des Johannesevangeliums genannt wird: Gott. Denn diese Macht umgibt uns immer und überall. | Oder wie das Johannesevangelium sagt: Alle Dinge sind durch sie geworden und ohne sie ist nichts geworden, was geworden ist. | Sie ist das Licht für die Menschen, und in ihrem Lichte sehen wir das Licht. Lasst mich mit einem Bild abschließen, mit dem ich mir in sehr unvollkommener Weise |19| die Gegenwart dieser Macht vor Augen führe. Sie erscheint mir wie ein riesiges Feld aus elektromagnetischen Wellen, für das wir keine natürlichen Organe haben | – das wir aber an seinen Wirkungen spüren, etwa wenn wir durch Eisenspäne seine Struktur vergegenwärtigen oder durch Funken seine Macht sichtbar machen. | Es ist überall vorhanden. Nur manchmal schlägt ein Funke in unsere begrenzte Alltagswelt. Die Ostererscheinungen sind ein solcher Funke. | Nicht die Erscheinungen sind wichtig. Wichtig ist das Kraftfeld, aus dem sie stammen und das uns überall umgibt. Dieses Kraftfeld können wir immer spüren, | auch wenn die Ostererscheinungen in der Vergangenheit verblassen. Keiner von uns konnte ihr Zeuge sein. Aber in jeden von uns kann der Funke | eines unbedingten Mutes zum Leben und zum Sterben fliegen. Und dann darf jeder von uns die Seligpreisung auf sich beziehen: „Selig sind die, |20| die nicht gesehen und doch geglaubt haben!“ Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne | in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.

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Diese theologisch anspruchsvolle Osterpredigt, von Gerd Theißen am 10. April 1988 im Heidelberger Universitätsgottesdienst gehalten, erfindet einen „modernen Thomas“ und lässt ihn verschiedene Lektionen des Zweifels durchlaufen. Daraus ergibt sich folgende Gliederung:9 Einstieg: Thomas der Zweifler und unsere Zweifel (Z. 1–14) Lektion 1: Theologiestudium (Z. 16–63) Historisch-kritisches Ergebnis (Z. 18–29) Welt der Bücher (Z. 29–41) Realität und Phantasie (Z. 43–63) Lektion 2: Symbole und Träume (Z. 65–117) Verein „Seele und Symbol“ (Z. 65–87) Schöne Träume – wirre Träume (Z. 88–93) Zwei unterschiedliche Todesträume (Z. 93–108) Tod als äußere Realität (Z. 109–117) Lektion 3: Esoterik und afrikanische Deutung (Z. 119–162) Im Esoterikkreis (Z. 119–133) ————— 9 Zur Analyse und zu den Befunden der empirischen Untersuchung bzgl. dieser Predigt vgl. ausführlich SCHWIER/GALL, Predigt hören, 68–89.

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Die Deutung des afrikanischen Freundes (Z. 133–153) Neue Fragen (Z. 154–162) Lektion 4: radikale Aufklärung und Nihilismus (Z. 164–191) Die Botschaft der radikalen Aufklärer (Z. 164–182) Innerer Dialog des Thomas (Z. 183–191) Unterbrechung bzw. Abbruch der Erzählung und positive Entfaltung: Osterbotschaft als Mut zum Leben (Z. 192–259) Beteiligung am inneren Dialog: Nihilismus/creatio ex nihilo (Z. 192– 213) Erläuterung: Osterbotschaft als umfassende Macht (Z. 214–222) Anruf, Zuspruch und Appelle (Z. 223–244) Modernes Bild für die Gegenwart der Ostermacht (Z. 245–259) Kanzelsegen (Z. 260–261) Die Predigt schildert erzählend und erläuternd den Weg eines modernen Zweiflers Thomas, der unterschiedliche Lektionen des Zweifels durchschreitet. Dadurch entsteht eine „homiletische Erzählstruktur“10, der die Hörenden in der Abfolge der „Lektionen“ als Begleiter des Thomas folgen. Die hier im Hintergrund stehenden weltanschaulichen Positionen und Fragestellungen werden durch die Erfindung der Figur und die Erzählstruktur kontextualisiert und anschaulich. Dem Predigtverlauf folgend werden in der ersten Lektion das knappe historisch-kritisch fassbare Ergebnis der Osterereignisse (Z. 20ff), die unhintergehbare hypothetische Struktur von Wissenschaft (Z. 37ff) und die Kritik am radikal-konstruktivistischen Verständnis von Wirklichkeit (Z. 44ff) geschildert. In der zweiten Lektion schließt sich die Auseinandersetzung mit symbolisch-tiefenpsychologischen Deutungen biblischer bzw. religiöser Geschichten (Z. 67ff) an, die die Ambivalenz von Träumen beispielhaft und unter Aufnahme der paulinischen Rede vom „Stachel des Todes“ darstellt (Z. 95ff); dies mündet in eine erneute Bekräftigung harter äußerer Gegebenheiten durch die Erfahrung von Tod und Endlichkeit (Z. 109ff), die erneut zur Suche nach der Realität und ihrem harten Schmerz führt (Z. 114ff). Das dritte Stadium führt diese Suche jedoch nicht aus – wirkt also auf der Erzählebene retardierend –, sondern beschreibt zunächst esoterisches Gedankengut von Gedankenübertragung und Kontaktaufnahme mit Verstorbenen (Z. 119ff) und führt dann – inhaltlich vermittelt über den afrikanischen Ahnenglauben – zu afrikanischen Osterdeutungen im Kontext des politischen Befreiungskampfes gegen perfekte und brutale Unterdrückungsregime (Z. 134ff); abschließend wird Thomas erneut als stolzer „Bewohner einer Kultur des Zweifels und der Skepsis“ (Z. 157f) geschildert. In der letzten Lektion werden die kosmolo————— 10

THEISSEN, Zeichensprache, 98.

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gisch begründeten Positionen der radikalen Aufklärer und der Nihilismus dargestellt (Z. 164ff), gegenüber denen anschließend die Osterbotschaft als „Schöpfung aus dem Nichts“ (Z. 213) positiv entfaltet wird. Erzähltechnisch fungiert der Prediger als auktorialer Erzähler, der den Weg der von ihm erfundenen Figur erzählt und durch zahlreiche Kommentierungen ergänzt; diese bieten zusätzliche Informationen, z. B. das Ergebnis der historisch-kritischen Exegese (Z. 20ff), oder innere Entwicklungen und Lernfortschritte, wie z. B. bei der Alltagserfahrung harter Realitäten (Z. 44ff). Auffällig ist hier die häufige Verwendung des „wir“11, die innerhalb der Kommentierungen stilistisch stört und am ehesten durch Konvention der Predigtsprache motiviert ist. Diese Form der Erzählung mit Kommentierungen prägt den gesamten Teil der „Lektionen“.12 Prägnant sind die verwendeten Bilder und Metaphern, die als Variation biblischer Bilder,13 meist aus dem Predigttext, erkennbar sind und z. T. im Verlauf, dann aber am Ende wieder aufgenommen werden: „Wundmale“ (Z. 50, 117, 143, 152, 235), „Stachel des Todes“ (Z. 97f, 102f, 233), „Stein der Todesangst“ (Z. 107, 232), „Strom der Wirklichkeit“ (Z. 186, 216), „Tunnel (des Schreckens)“ (Z. 95ff, 233f). In ihnen dominieren die Hinweise auf Tod und Schmerz, die, obwohl sie als aufgehoben deklariert werden, sprachlich präsent bleiben. Auch der Abschlussvergleich mündet in den Mut zum Leben und zum Sterben. Die positive Entfaltung der Osterbotschaft ist apologetisch-antwortend: Sie knüpft an die Beschreibung des Nihilismus an, deutet diesen als Entdeckung, „dass nichts in der erfahrbaren Welt unbedingten Halt im Leben und im Sterben geben kann“ (Z. 196f), schildert Erfahrungen gelingenden, aber begrenzten Vertrauens (Z. 197ff) und beschreibt den unbedingten „Mut zum Leben“ (Z. 202ff) als wunderbare creatio ex nihilo, als „Gottes schöpferische Macht“ (Z. 211f). Nach diesem Abschnitt in erläuternder Sprache folgen Anruf, Zuspruch und Appelle, die sich in der zweiten Person Plural direkt und in schneller Folge an die Hörerinnen und Hörer wenden: „Diese Macht ruft euch zu“ (Z. 223) – „Sie ruft“ (Z. 226) – „Sie haucht euch ihren Geist ein“ (Z. 229) – „Sie wälzt den Stein der Todesangst immer wieder von eurem Herzen“ (Z. 232f) – „Sie verlässt euch nicht in den Tunneln des Schreckens, und im finstern Tal ist sie bei euch“ (Z. 233f) – „Sie begegnet euch mitten in den Schmerzen des Lebens“ (Z. 235f). Diese direkte Kommunikation bleibt aber andererseits indirekt und unpersönlich, weil der Prediger Anruf und Appelle nicht selbst ausspricht, ————— 11 Vgl. in diesem Abschnitt nur Z. 44, 48, 57–59. 12 Abwechslung bieten in der Erzählung das Auftreten verschiedener ungenannt bleibender Nebenfiguren: Mitstudenten (Z. 65), Esoterikfreunde (119f), der afrikanische Freund (Z. 134). 13 Vgl. THEISSEN, Zeichensprache, 27ff.96ff.

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sondern sie durch die Osterbotschaft (Z. 214) bzw. die Macht (s.o.) sprechen lässt. Diese Macht wird danach mit dem Thomas der biblischen Geschichte als Christus, als „mein Herr und mein Gott“ angesprochen (Z. 238ff). Die Predigt endet mit einem modernen Vergleich (Kraftfeld aus elektromagnetischen Wellen – Z. 245ff), um die unsichtbare, aber dennoch gegenwärtig wirksame Kraft der göttlichen Ostermacht vor Augen zu führen. Das Ich des Predigers wird jetzt greifbar (Z. 245f), wodurch der Vergleich weitere Bedeutsamkeit erhält. Er wird dann kurz ausgeführt (Z. 251ff) und mündet schließlich in den Zuspruch der Seligpreisung aus dem Predigttext, den jeder auf sich beziehen darf (Z. 257ff), wenn „der Funke eines unbedingten Mutes zum Leben und zum Sterben“ (Z. 256f) in ihn fliegt. Damit ist die theologische Zuspitzung dieser Deutung der Osterbotschaft erreicht und applizierend zum Ausdruck gebracht. Allerdings bleibt auch bei diesem Zuspruch die Applikation indirekt; hier wird sie zur bedingten Erlaubnis an „jeden von uns“ (Z. 256.257). Der theologische und intellektuelle Anspruch dieser Predigt verwirklicht sich in der Darstellung und Auseinandersetzung mit den verschiedenen theologischen, philosophischen und weltanschaulichen Positionen, die im gesellschaftlichen Diskurs eine Rolle spielen, denen die Hörer als Begleiter des Thomas begegnen und in deren Sachgehalte samt der persönlichen, sozialen, gesellschaftlichen sowie kosmischen Dimensionen sie verwickelt werden, und zwar in der Regel ohne Abschreckung durch unverständliche Fachsprache.14 Der Predigtschluss wird zum Höhepunkt, indem er die prägnanten sprachlichen Bilder und Metaphern erneut aufgreift und weiterführt; allerdings bleiben Anruf, Appelle und die Applikation der abschließenden Seligpreisung indirekt und bedingt. Wie wurde diese Predigt in den Gemeinden rezipiert? Die Graphik mit der Mittelwertkurve vermittelt einen Eindruck.

————— 14 Ob Begriffe wie „universale Symbolsprache“ (Z. 79), „Telepathie“ (Z. 121), „Dysfunktion“ (Z. 166) und „Nihilismus“ allgemein verständlich sind, kann bezweifelt werden. Zudem sind einige Sätze zu komplex und sehr lang (vgl. Z. 32ff, 55ff, 69ff, 82ff, 158ff, 167ff, 173ff), werden aber durchgängig durch kurze Sätze in einer gewissen Balance gehalten.

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Predigt-2A – Theißen – Lobenfeld/Freiburg (N=45) Mittelwertsverlauf

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Fig.1: Mittelwertsverlauf – „von der Predigt angesprochen“ In Figur 1 ist der ausgeprägte Mittelwertsverlauf ablaufsimultaner Rückmeldungen der Hörer als Angesprochensein von der Predigt dargestellt; die hier nicht wiedergegebenen Mittelwertsverläufe der Stadt- und der Landgemeinde sind im Übrigen nahezu deckungsgleich. Zu Beginn geschieht ein rascher Anstieg, bei etwa vier Minuten geht die Kurve über die Skalenmitte, erreicht einen ersten Höhepunkt, um dann aber wieder deutlich unter die Skalenmitte abzufallen. Im Intervall von etwa sechs bis zehn Minuten behält sie dieses Niveau bei, um auf einen zweiten Höhepunkt bei etwa 12 Minuten anzusteigen, danach auf den Tiefpunkt des Verlaufs abzufallen, dann aber ab 14 Minuten stetig ansteigend das Maximum bei etwa 19 Minuten zu erreichen. Wie ist dieser Verlauf zu deuten? Es geht in dieser Predigt um Thomas den Zweifler, und es geht um den Glauben der Menschen unserer Zeit. In einer ersten Phase werden die Hörer mitgenommen in das Studium der Theologie, eine historisch-kritische Sicht der Quellen, die Welt der Bücher und eine Welt der Annahmen und Vorstellungen. Doch das ist dem Zweifler Thomas nicht genug, er sucht einen anderen Weg. Soweit sind die Hörer mit dem modernen Thomas im Mittel auch mitgegangen, sie sind angesprochen, der erste Höhepunkt im Verlauf ist erreicht. Die anschließende Suche in einer Gruppe „Seele und Symbol“, im Traum das neue Leben zu erkennen, die Sprache Gottes in Symbolen zu entziffern und darin zu sich selbst zu kommen, lässt die Hörer zunächst

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abwarten, dann skeptisch reagieren, zumal es dem modernen Thomas auch selbst nicht gelingt, sich in seinen Träumen mit Schmerzen und Todesangst vom alten Leben zu trennen; das Angesprochensein der Hörer, der Kurvenverlauf ist abgesunken. Die weitere Suche in einem Esoterikkreis, die Skepsis des modernen Thomas etwa gegenüber Versuchen der Kommunikation mit Verstorbenen bildet sich in einem auf niedrigem Niveau bleibenden Verlauf ab. Als dann ein afrikanischer Freund Thomas die Selbstverständlichkeit dieser Anschauungen in den Traditionen seiner Heimat darlegt, verbunden mit Schilderungen des gefährdeten Leben der Menschen dort, steigt das Interesse der Hörer wieder an, zumal die neue Erzählfigur anschaulich ist. Als Bewohner einer Kultur des Zweifels und der Skepsis ist aber auch dies aber für Thomas keine Lösung. Seine Suche bei einem Klub radikaler Aufklärer schließlich sehen die Hörer sehr skeptisch, ihre Reaktionen zeigen, sie sind davon nicht überzeugt, der Kurvenverlauf fällt auf einen Tiefpunkt. Sinnsuche vergebens, alles sinnlos, das menschliche Leben eine Zufallserscheinung, das ist den Hörern nicht genug, das kann es für sie nicht sein. Nach diesen Wegen und Irrwegen des modernen Thomas auf der Suche, das Ostergeheimnis zu begreifen, von denen der Prediger erzählt, ist eine Klärung notwendig: Der Prediger nimmt Stellung, persönlich und in der Deutung der Osterbotschaft, im Vertrauen auf das Leben, trotz der Konfrontation mit der Wirklichkeit, trotz der Erfahrungen der Niederlagen und der Einsichten in die reale Welt. Die Worte des Predigers zur Osterbotschaft: „Diese aus dem Nichts schaffende Macht ist in euer Leben getreten. Sie ist stärker als das Nichts, in dem der Strom der Wirklichkeit verschwindet, sie ist dieselbe Macht, aus der dieser Strom kommt“15 – hier blicken die Hörer wieder aufwärts; sie sind überzeugend angesprochen mit: „bringt Liebe in die Welt, denn nur daran könnte ihr erkennen, dass ihr vom Tod zum Leben hinübergegangen seid. Wer nicht liebt, der bleibt im Tod. So der erste Johannesbrief“.16 Die Hörer werden mitgenommen, sie sind angesprochen, der Höhepunkt im Verlauf wird erreicht. Das hält auch über das eingefügte Bild eines riesigen Kraftfeldes hinweg, das wir nur in seinen Wirkungen spüren, ein kurzes Absinken im Verlauf, im Abschluss. Insgesamt bemerkenswert ist hier der stetige Anstieg über fünf Minuten nach dem Tiefpunkt im Verlauf, der das vergebliche Bemühen des Thomas gezeigt hatte. Die Hörer gehen also den vom Prediger erzählten, mitunter sehr mühsamen und langen Weg des modernen Thomas mit; sie entscheiden auch, ————— 15 16

Z. 214ff – ab 16.40. Z. 226ff – ca. 17.40.

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welche Lektionen für sie überflüssig sind oder in Sackgassen führen und wann sie – aufgrund der klaren Lektionen-Struktur erleichtert – wieder neu einsteigen. Eine Darstellung in Quartilen würde zeigen, dass die Grundrichtungen sich wie im Mittelwertsverlauf fortbewegen, allerdings mit zwei stark angesprochenen oberen Vierteln und zwei deutlich schwächeren unteren Vierteln.17 Die Predigt hat also auch polarisiert. Außerhalb ihres ursprünglichen Kontextes der Universitätsgemeinde hat sie eine Hälfte der Hörer sehr stark angesprochen und diese geistig angeregt und theologisch gebildet. Eine von Predigten stark erwartete lebenspraktische Orientierung wurde hier zu wenig wahrgenommen;18 der Weg des modernen Thomas war für drei Viertel nachvollziehbar, aber nur für zwei Viertel anregend und interessant; den abschließenden Vergleich mit dem Kraftfeld hat nur ein Viertel als klärend gehört.19 Viele der eingangs genannten handwerklichen Gestaltungsmomente sind in der Predigt verwendet worden. Das haben auch die Hörer bemerkt und vor allem die verständliche Sprache und den klaren Aufbau gelobt. Deutlich ist aber ebenso, dass diese Momente auch aus der Sicht der Hörer sekundär sind. Sie sind nicht einfach nebensächlich, sondern werden seitens der Hörer bei den Predigern vorausgesetzt – wer als Prediger dieses Handwerk nicht beherrscht, hat die Chancen schon im Ansatz verspielt; aber ob eine Predigt als ansprechend gehört wird, das entscheidet sich an Inhalten und an deren Relevanz für die eigene Lebenssituation.20 Äußerungen einzelner Teilnehmer in den abschließenden Gruppengesprächen tendieren außerdem zu einer kritischen Einschätzung der verwendeten Bilder, die möglicherweise als eher „uneigentliche“ Rede eingeschätzt werden; dem wird von anderen widersprochen.21 Die auf Bildern und Gleichnissen fußende „Poesie des Heiligen“22 wird zumindest nicht von allen Hörerinnen und Hörern erwartet und geschätzt, was wahrscheinlich an den verinnerlichten spezifischen Predigttraditionen, den eigenen Hörgewohnheiten und vermutlich dem jeweiligen Verhältnis zur Poesie liegt.23

————— 17 Vgl. SCHWIER/GALL, Predigt hören, 86 (Fig. 3/3.3). 18 Vgl. SCHWIER/GALL, Predigt hören, 80f. 19 Vgl. SCHWIER/GALL, Predigt hören, 81 (Tab. 2/3.3). 20 Zum Verhältnis von Bibel- und Lebensbezug vgl. SCHWIER/GALL, Predigt hören, 237– 239.242–244, zur rhetorisch-handwerklichen Seite vgl. ebd., 239–241.244–247. 21 Vgl. SCHWIER/GALL, Predigt hören, 88f. 22 S. o. Anm. 5. 23 Noch stärkere Vorbehalte werden übrigens gegenüber narrativen Predigten geäußert: vgl. SCHWIER/GALL, Predigt hören, 43–46.

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3. Was ist wichtig und weiterführend an Gerd Theißens praktischer Homiletik? Dazu formuliere ich meine Einsicht in fünf Thesen: 1. Auch unsere empirische Untersuchung zeigt, dass die befragten Personen – in der Mehrheit mit der Kirche Verbundene – von der Predigt viel erwarten. Auch bzgl. der Hörerseite besteht kein Anlass, dass sich Predigende von „homiletischen Killerparolen“24 einschüchtern lassen. Die Predigthörer sind keineswegs unkritische Konsumenten der Kanzelrede, und ihre Erwartungen an die Predigt sowie ihre Erfahrungen mit ihr sind größer und besser als manche Homiletiker meinen.25 2. Unter den fünf genannten Chancen sind vor allem die theologische und die existentielle Dimension – der Dialog mit Gott und die Vermittlung von Orientierung und Lebensgewissheit – von zentraler Bedeutung, auch aus der Sicht der Predigthörer. 3. In Fortschreibung liberaler Homiletik sind gerade diese beiden Dimensionen so zu gestalten, dass sie nicht als autoritäre Verkündigung, sondern als Dialog mit der Bibel ausgeführt werden, weil dort Innen- wie Außenstehende der Zeichensprache der christlichen Religion zuverlässig begegnen. 4. Die derzeit wieder entdeckten dramaturgischen und performativen Ansätze bringen als wichtige Ergänzung die Einsicht in den nicht hintergehbaren Aufführungscharakter der Predigt im Gottesdienst neu zur Geltung.26 Anrede, Appell, Werben und Bitten müssen in der Predigt vollzogen werden. Als Predigende brauchen wir nicht nur sprachlich-poetische Kompetenzen zur Bild- und Metaphernvariation, sondern auch mehr Mut zu direkten Kommunikationsformen. 5. Differenzierter als mit Gerd Theißens hier stark reformiert geprägter Perspektive ist meines Erachtens in diesem Zusammenhang auch das Verhältnis von Liturgie und Predigt zu bestimmen. Der Gottesdienst ist nicht bloß der liturgische Rahmen der Predigt, sondern die Feier der im Namen Gottes versammelten Gemeinde, in der gesungen, gebetet, ————— 24 Vgl. G. THEISSEN, Über homiletische Killerparolen oder die Chancen protestantischer Predigt heute, PrTh 32 (1997) 179–202. 25 Das gilt, entgegen mancher Vorurteile, besonders auch für ältere Predigthörer; vgl. dazu H. SCHWIER, Predigen (nicht nur) für alte Menschen, in: T. KLIE/M. KUMLEHN/R. KUNZ (Hg.), Praktische Theologie des Alterns, Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs Bd. 4, Berlin/New York 2009, 431–447, hier 431–439. 26 Vgl. insgesamt A. GRÖZINGER, Homiletik, Lehrbuch Praktische Theologie Bd. 2, Gütersloh 2008, 283–328.

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Abendmahl gefeiert27 und eben auch gepredigt wird.28 Ein Charakteristikum der (evangelischen) Predigt ist, dass sie sowohl in die gottesdienstliche Feier eingebettet ist, als auch dass sie die Liturgie – systemisch formuliert – „verstört“. Eine gegenwärtig noch zu entwickelnde praktisch-theologische Theorie, die Homiletik und Liturgik zu integrieren sucht, 29 hat diesen doppelten Aspekt in den Mittelpunkt zu stellen und zu reflektieren. D.h.: die Predigt hat Chancen, weil und insofern sie ein religiöses Ritual darstellt und dieses gleichzeitig kritisch verändert, und zwar sogar als institutionalisierte „Verstörung“ des autopoietischen Systems Liturgie. Dabei sind Darstellung und „Verstörung“ an den Axiomen, Motiven und Sinnpotentialen der Bibel zu orientieren. Zur Bibel zu motivieren, ist also eine bleibende Aufgabe von Predigt und Gottesdienst, denn im sich vollziehenden Dialog mit der Bibel, ihrer Zeichensprache und Grammatik werden die theologische und die existentielle Dimension orientierend, vergewissernd und erneuernd wirksam. Dieser Dialog ist exegetisch, systematisch und praktisch-theologisch immer neu konstruktiv wie kritisch zu reflektieren.

————— 27 Zu Gerd Theißens Verständnis und Gestaltung des Abendmahls vgl. THEISSEN, Der Sinn des Abendmahls. Zehn Thesen und eine Abendmahlsliturgie, PTh 93 (2004) 352–360. 28 Vgl. auch H. SCHWIER, Religiöse Kommunikation im Gottesdienst. Liturgiegeschichtliche, rezeptionsästhetische und performative Aspekte, in: C. MAGIN/H. SCHWIER (Hg.), Kanzel, Kreuz und Kamera konkret. Ein Gottesdienstprogramm aus Heidelberg, Beiträge zu Liturgie u. Spiritualität Bd. 20, Leipzig 2008, 97–112, hier 109–112. 29 Vgl. hierzu die Problemanzeigen bei M. MEYER-BLANCK, Evangelische Gottesdienstlehre heute. Ein Überblick, ThLZ 133 (2008) 3–20 und bei H. SCHWIER, Liturgische Praxis und Theorie vor der Qualitätsfrage, in: M. MEYER-BLANCK/K. RASCHZOK/H. SCHWIER (Hg.), Gottesdienst feiern. Zur Zukunft der Agendenarbeit in den evangelischen Kirchen, Gütersloh 2009, 170–179, hier 172–174.

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Globaler Klimawandel, globale Klimakatastrophe: Mythische Elemente in der kulturwissenschaftlichen und medialen Diskussion1

Bei der öffentlichen Kommunikation des Themas Klimawandel in Deutschland spielt der Begriff der Klimakatastrophe, der sich mit Lexemen wie Klimaapokalypse, Sintflut etc. abwechseln kann, eine herausragende Rolle. Dieser Sprachgebrauch führt uns dazu, mythische Elemente in der Kommunikation des Themas Klimawandel zu identifizieren und ihre Leistung zu beleuchten. Nach einer Einordnung des Begriffs Klimakatastrophe in die Geschichte dieses Themas in Deutschland werden Prozesse der Remythisierung von Natur und Klima im kulturwissenschaftlichen Diskurs und in den Printmedien anhand von Beispielen untersucht und gewürdigt.

1. Ausgangspunkt: Historische Einordnung des Begriffs „Klimakatastrophe“ in Deutschland Am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert warnte der schwedische Wissenschaftler S.A. Arrhenius, dass ein weiterer Anstieg des CO2-Gehalts den natürlichen Treibhauseffekt anthropogen verstärken und – nach mehreren hundert Jahren – zu einer globalen Erwärmung führen wird.2 In Deutschland war es vor allem der Meteorologe H. Flohn, der in den 1940er Jahren die Frage nach dem menschlichen Einfluss auf das globale Klima weiterführte.3 ————— 1 Modifizierte Fassung des am 4. Juli 2008 an der Universität Heidelberg auf einem Symposium zu Ehren von Gerd Theißen gehaltenen Vortrags. S.A. ARRHENIUS, On the influence of carbonic acid in the air upon the temperature of the 2 ground, Philosophical Magazine and Journal of Science 41, 1896, 237–276; DERS., Lehrbuch der kosmischen Physik, Bd. 2, Leipzig 1903, 1026. Arrhenius’ Erklärung wurde etwa 1938 von Callendar zur Erklärung der Erwärmung, die über die ersten Dekaden des 20.Jahrhunderts registriert worden war, herangezogen: G.S. CALLENDAR, The artificial production of carbon dioxide and its influence on temperature, Quarterly Journal of the Royal Meteorological Society 64, 1938, 223–239. Siehe H. VON STORCH/N. STEHR, Anthropogenic climate change: a reason for concern since the 18th century and earlier, Geogr. Ann. 88 A (2), 2006, 107–113. H. FLOHN, Die Tätigkeit des Menschen als Klimafaktor, Zeitschrift für Erdkunde 9, 1941, 3 13–22.

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Globaler Klimawandel, globale Klimakatastrophe

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In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bis in die frühen 1940er Jahre hatte man weltweit immerhin eine massive Erwärmung beobachtet. Gegenüber den späten 1930er und frühen 1940er Jahren jedoch lag die globale bodennahe Jahresmitteltemperatur in den folgenden drei Jahrzehnten meist wieder auf etwas niedrigerem Niveau. Entsprechend trat spätestens ab den 1960er Jahren die Befürchtung einer bevorstehenden Eiszeit in den Fokus der internationalen Diskussion4 – auch unter dem Eindruck der gerade entdeckten Periode der jüngeren Dryas vor etwa 10.000 Jahren, in der sich die mittlere globale Sommertemperatur um ca. 2°C abgekühlt hatte und eine mehr-hundertjährige Kaltzeit begann.5 Als Hauptursache der Abkühlung nach den 1940er Jahren wurde die globale Abschattung durch Aerosol-Partikel in der Atmosphäre ausgemacht, die im Zuge der urbanen industriellen Prozesse und durch die Verbrennung fossiler Energieträger emittiert worden waren – Global Dimming. In den 1960er und 1970er Jahren machte sich die Politik die Umweltthemen zunehmend zu Eigen: 1972 beschloss die erste Welt-Umweltkonferenz in Stockholm das United Nations Environmental Program (UNEP); 1978 verabschiedete der US-Kongress ein nationales Klimaprogramm. Die Präsidenten Kennedy, Nixon und Ford hatten sich alle mit Maßnahmen zur Bekämpfung von Global Cooling befasst, 1974 hatte Außenminister Kissinger in einer Rede vor den Vereinten Nationen zu mehr Anstrengungen der Forschung angesichts der klimatischen Veränderung aufgerufen.6 Seit Ende der 1970er Jahre etablierte sich jedoch in der wissenschaftlichen Diskussion die Theorie, dass die durch die Industrialisierung veränderten Konzentrationen von CO2 und anderen Klimagasen in der Atmosphäre einen globalen Anstieg der Temperaturen in den unteren Bereichen der Atmosphäre verursachen.7 Schließlich lässt sich für die globale bodennahe Mitteltemperatur seit den 1970er Jahren ein bis heute ununterbrochener Zunahme-Trend beobachten. Ein für die öffentliche US-amerikanische Diskussion entscheidendes Ereignis war schließlich der Auftritt des NASA-Forschers James Hanson im Juni 1988 vor dem USKongress, der dort öffentlich – und zeitgleich mit einer Hitze- und Dürre————— 4 J.M. MITCHELL JR., Recent secular changes of global temperature. In: Annals of the New York Academy of Sciences 95, 1961, 247–249. Siehe dazu VON STORCH/STEHR, Anthropogenic climate change, 109. B. FRENZEL, 40000 Jahre Geschichte des Klimas in der Alten Welt, in: J.L. LOZÁN et al., 5 Warnsignal Klima. Wissenschaftliche Fakten, Hamburg 1998, 65–71. Siehe zum Ganzen W. BEHRINGER, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2 2007, 246f. BEHRINGER, Kulturgeschichte, 250f. 6 BEHRINGER, Kulturgeschichte, 251. Behringer weist auf die National Academy of Scien7 ces in den USA hin, die es 1979 glaubhaft fand, das eine Verdoppelung des CO2-Gehalts gegenüber der vorindustriellen Zeit eine Erwärmung von 1,5–4,5 Grad C weltweit mit sich bringen würde.

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welle in Teilen der USA – erklärte, er sei zu 99% sicher, dass die globale Erwärmung eine Tatsache sei.8 Es gab sogar Forscher, die den schrillen Begriff der Katastrophe für die Folgen der globalen Erwärmung benutzten. Eine herausragende Rolle in Deutschland spielte dabei der Aufruf der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) von 1986 mit dem Titel „Warnung vor einer drohenden Klimakatastrophe“. Dort wurde ein Anstieg des Meeresspiegels um 5–10 Meter als Folge eines Anstiegs der mittleren bodennahen Temperatur um 9°C in Polnähe für möglich gehalten. Dadurch würden niedrig liegende Küstengebiete (Niederlande, Norddeutschland) überschwemmt. Die katastrophale Konsequenz gemäß DPG wäre sogar, dass die „Lebensfähigkeit“ auf der Erde in Frage stehe. Die Wissenschaftler verbanden die Warnungen von Beginn an mit Forderungen an die Politik nach Einschränkung der verursachenden Emissionen von sogenannten Treibhausgasen.9 Mit I. Neverla lässt sich die zweite Hälfte der 1980er Jahre – näherhin die Jahre 1986–1988 – als die erste entscheidende Periode für die öffentliche Karriere des Klimathemas in Deutschland bezeichnen, die dadurch charakterisiert war, dass es zu einer Politisierung der klimawissenschaftlichen Erkenntnisse kam.10 Nach der schrillen Warnung vor der Klimakatastrophe durch Wissenschaftler und den untauglichen Versuchen, diesen starken Begriff wieder zu relativieren, ging dieses Wort, zumal es zeitgleich in den Medien aufgegriffen und resonant verstärkt wurde, massiv in den Sprachgebrauch der politischen Parteien über.11 Weingart et al. (2008) ————— 8 R. GRUNDMANN/N. STEHR, Klimawissenschaft als Akteur in der öffentlichen Arena, in: W. HAUSER (Hg.), Klima. Das Experiment mit dem Planeten, Eine Sonderausstellung des Deutschen Museums, Zentrum Neue Technologien, vom 07.11.2002 bis 15.06.2003, Stuttgart 2002, 384–397, hier 393. Zum Aufruf der DPG von 1986 siehe P. WEINGART et al., Von der Hypothese zur Katast9 rophe. Der anthropogene Klimawandel im Diskurs zwischen Wissenschaft, Politik und Massenmedien, Opladen/Farmington Hills 22008, 49f; GRUNDMANN/STEHR, Klimawissenschaft, 394f. Der Aufruf wurde später in einer bezüglich der Folgen abgemilderten, sprachlich zurückgenommenen Fassung gemeinsam mit der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft (DMG) publiziert: DPG/ DMG: Warnung vor drohenden weltweiten Klimaänderungen durch den Menschen, Physikalische Blätter 43, 1987, 347–349. Die DPG hingegen verwendet den Begriff Klimakatastrophe noch heute: DPG, Klimaschutz und Energieversorgung in Deutschland 1990–2020, September 2005, II. 10 I. Neverla sieht in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die Phase „when the scientific discourse became politicized as well as the political discourse discovered the scientific findings.“ Sie nennt dies „a process of synchronic co-orientation between the three fields of science, politics and media which took place in the 1980s regarding the climate issue“. I. NEVERLA, The IPCC-reports 1990–2007 in the media. A case study on the dialectics between journalism and natural sciences, Paper to be presented in the panel „A global dialogue on climate change?“ to the ICA-Conference „Global Communication and Social Change“, Montreal, May 22nd–26th, 2008, 1–14, 4. Die Analyse von WEINGART et al., Hypothese, 9–108, differenziert in noch wesentlich mehr Teilphasen innerhalb der einzelnen spezifischen Diskurse, die in Wissenschaft, Politik und Medien stattfanden. Bei gröberer Betrachtung kann man jedoch auch mit Neverlas Unterteilung auskommen. 11 WEINGART et al., Hypothese, 90–96.

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kennzeichnen daher diese Phase des politischen Diskurses treffend als „Katastrophismus“.12 Im Folgejahr 1987 wurde eine Enquêtekommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ des deutschen Bundestages eingerichtet, paritätisch besetzt mit Wissenschaftlern und Parlamentariern, die eine Art von nationalen, parteiübergreifenden Konsens zur Seriosität und Dringlichkeit des Klimaproblems darstellte und bewirkte.13 Ein Jahr später, 1988, kam es zum Auftritt von James Hanson vor dem US-Kongress (siehe oben) und im gleichen Jahr richteten die Vereinten Nationen (UNEP) und die World Meteorological Organization schließlich das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ein, in dem auch viele deutsche Wissenschaftler involviert waren und sind. Bisher erschienen vier Sachstandberichte des IPCC zum Klimawandel (1990, 1995, 2001, 2007), am letzten haben mehrere hundert internationale Fachwissenschaftler mitgearbeitet. Für die Sachstandberichte werden Artikel aus Fachzeitschriften, die den wissenschaftlichen Review-Prozess durchlaufen haben, im Interesse einer Einschätzung des Status des Klimawandels, seiner Auswirkungen, möglicher Anpassungsmaßnahmen sowie seiner Kosten und möglicher politischer Reaktionen ausgewertet. Ziel ist, einen wissenschaftlichen Konsens über das Phänomen Klimawandel herzustellen, um damit den Vereinten Nationen und den Einzelstaaten wissenschaftlich begründete Handlungsoptionen zu eröffnen. Für die Rezeption des Themas im innerdeutschen politischen Diskurs und die Entscheidung der Bundesregierung zu einer 25%igen CO2Reduzierung bis 2005 gegenüber 1990 im Vorfeld der UNCED-Konferenz von Rio de Janeiro (1992) hatte jedoch die konsensuelle Vorarbeit der Enquêtekommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ ab 1987 den Ausschlag gegeben.14 Als zweite, entscheidende Periode für die Öffentlichkeitsbedeutung des Klimathemas nach der zweiten Hälfte der 1980er Jahre müssen die Jahre 2006–2007 angesehen werden – nach Neverla eine Periode, in der Klimawandel in Nordwesteuropa zu einer Leitidee oder grand narrative in der Öffentlichkeit wurde. Schon die schweren Hurrikanschäden 2004 und vor allem 2005 (Katrina) hatten die Frage nach einem Einfluss des Klimawandels auf die tropischen Wirbelstürme erneut zugespitzt. Die Jahre 2006– 2007 besiegelten die endgültige Transformation von einem spezialisierten Wissenschaftsthema zu einer öffentlichen und journalistischen ‚Meta-Perspektive‘, die Zusammenhänge zu vielen anderen Themen, z.B. Naturkatastrophen, Bevölkerung, Energie oder Artenvielfalt, herstellen ließ.15 Auslöser ————— 12 WEINGART et al., Hypothese, 65ff mit vielen Belegen. 13 WEINGART et al., Hypothese, 69ff. 14 WEINGART et al., Hypothese, 69ff. 15 NEVERLA, IPCC-reports, 8: „An indicator for this transformation process is the change from politicized science to mediaticized science (IPCC, Al Gore) as triggers for the journalistic coverage.“

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für diese Transformation waren in Europa nicht allein die Wirkung des 2006 in den USA produzierten Dokumentarfilms An Inconvenient Truth von Al Gore und die Teilveröffentlichungen des vierten Sachstandberichtes des IPCC im Februar, April und Mai 2007 gewesen. Beiden – dem IPCC und Al Gore – wurde im Oktober 2007 der Friedens-Nobel-Preis verliehen.16 Vielmehr war auch die Veröffentlichung des Werks „The Economics of Climate Change“ des ehemaligen Chefökonoms der Weltbank, Nicholas Stern, im Herbst 2006 wegbereitend, wodurch das Thema als ein relevantes in Ökonomie und Politik angekommen ist. Stern hatte dargelegt, dass bei Verweigerung von rechtzeitigen, substanziellen Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgas-Emissionen jährlich etwa 5–20% des Welt-Bruttoinlandsprodukts zur Abdämpfung der Gesamtfolgen aufgewendet werden müssen. Hingegen könnten diese Ausgaben vermieden werden, wenn frühzeitig 1% des Welt-Bruttosozialproduktes in die Vermeidung von Emissionen investiert würde.17 Der Winter 2006/07 war in der Nordhemisphäre der wärmste seit Beginn der Messreihe 1880, Skirennen wurden wegen Schneemangels abgesagt. Vielen erschien dieser Winter als typisch für den Einfluss des Klimawandels. In der Kategorie Entertainment trugen die von Al Gore initiierten weltweiten Live-Earth-Konzerte am 7.7.2007 zur Publikumswirkung des Themas bei. Die erwähnten Meilensteine in der öffentlichen Wahrnehmung des Klimawandels und seiner möglichen ökonomischen Implikationen wurden 2007 auch ordnungspolitisch von der Bundesregierung und von der EU-Kommission in Gestalt von substanziellen Reduktionszielen bis 2020 aufgegriffen, beim G8 in Heiligendamm waren Maßnahmen gegen den Klimawandel Gegenstand politischer Absichtserklärungen, nachdem schon zwei Jahre zuvor auf dem G8 in Glen-eagles wichtige Weichen gestellt worden waren. Die Präsenz des Themas durch mehrere Ereignisse mit großem Nachrichtenwert transformierte die Diskussion in den Jahren 2006–2007 in einen breiten, selbst-referentiellen öffentlichen Diskurs. Klimawandel und – insbesondere in der Sprache der Medien und Politiker – Klimakatastrophe wurden zu einem Meta-Thema. Es kann also nicht verwundern, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort Klimakatastrophe zum Wort des Jahres 2007 kürte.18 Wir fragen im Folgenden, durch welche kulturhistorischen Voraussetzungen und medialen Mechanismen dieses Thema, das ————— 16 Al Gores Film und der vierte IPCC-Report waren nach NEVERLA, IPCC-reports, 5ff, die entscheidenden Auslöser für die Öffentlichkeitsbedeutung. 17 N. STERN, The Economics of Climate Change. The Stern Review, Cambridge 2007. 18 GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHE SPRACHE, Pressemitteilung vom 7. Dezember 2007 (www. gfds.de): „Klimakatastrophe wurde als Wort des Jahres gewählt. Dieser Ausdruck kennzeichnet prägnant die bedrohliche Entwicklung, die der Klimawandel nimmt.“

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in der öffentlichen Diskussion so eng mit dem Aspekt der Katastrophe verbunden worden war, mythisch aufgeladen werden konnte.

2. Verstärkungen des Themas auf dem Weg einer Remythisierung der Natur 2.1 Kulturwissenschaftliche Reflexionen einer Remythisierung von Natur und Klima Die Phänomene Klimawandel und assoziiert damit zunehmende Wetterkatastrophen werden im intellektuellen Diskurs gelegentlich als Widerspruch gegen die Beherrschbarkeit der Natur durch die technische Zivilisation interpretiert. Im Klimawandel bzw. in Natur- und Umweltkatastrophen zeige sich eine Reaktion, ein Antwortverhalten der Natur, die unter der Verfügungsperspektive der industriellen Kultur leide – sie gewinnt in solch einer Interpretation quasi-mythische Selbsttätigkeit. Im Folgenden vergegenwärtigen wir uns diese Position in wenigen Beispielen. In dem Buch „Media and Apocalypse“ (1992) analysierte der Medienwissenschaftler C. Smith im Anschluss an die heftigen Waldbrände des Jahres 1988 im US-amerikanischen Yellowstone-Nationalpark und andere Umweltkatastrophen die Verwendung des Konzepts Katastrophe in den amerikanischen Nachrichten. Er schließt sich dabei einem soziologischen Katastrophenmodel an, nach dem „disasters are inevitable accidents that catch us by surprise only because of our incorrect assumption of the world being an orderly place in which government and corporate institutions protect us from harm.“19 Hingegen wird die „richtige“ Annahme, nämlich dass wir vor Naturkatastrophen letztlich nicht geschützt werden können, als Inbegriff eines modernen Mythos verstanden:20 In a larger sense, catastrophes are part of a modern myth that focuses attention on natural powers beyond our control and on the blundering efforts of humans to deal with the fruits of the industrial revolution. Great natural disasters humble us in face of primeval forces beyond our control, and industrial disasters remind us that our most sophisticated technology is subject to sudden and dramatic failure when we least expect it.21

————— 19 C. SMITH, Media and apocalypse: news coverage of the Yellowstone forest fires, Exxon Valdez oil spill, and Loma Prieta earthquake, Contributions to the Study of Mass Media and Communications, No. 36, Westport u.a. 1992, 169. 20 Siehe WEINGART et al., Hypothese, 93, 137. 21 SMITH, Media, 15.

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Dieser Mythos erzählt also von den Naturmächten, die in Naturkatastrophen aufscheinen – ein Kern an Autonomie der Natur, der zivilisatorischer Kontrolle trotzt. Der Natur wird eine mythische Selbsttätigkeit mit demütigender Kraft zugewiesen. Es handelt sich um den Gegenentwurf zu der zivilisatorischen Allmacht, welche die US-Naturparks einst als eine „die nationale Identität beschwörende, konstruierte Landschaft“ und „Freilichtmuseum“ (C. Mauch) erschaffen hatte.22 Dies wird als Missverständnis eines urban geprägten Journalismus entlarvt, der in der falschen Annahme gefangen ist, „that nature is static – that the current state of any landscape, such as Yellowstone National Park, is pretty much fixed and can be preserved as it is.“23 Der Mythos von unkontrollierbaren Naturmächten bestreitet die tatsächliche Verfügbar- und Kontrollierbarkeit der Natur, was sich in Naturkatastrophen äußert. Verwandt mit dieser Sicht mythischer Selbsttätigkeit der Natur ist die Perspektive, die die Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin U.U. Frömming gegenüber dem Klimawandel, der als Ursache von zunehmenden Naturkatastrophen gesehen wird, entwickelt.24 Seit Max Webers Arbeiten25 verbreitete sich der Eindruck, dass mit der Entzauberung der Welt im Ausbreitungsbereich der jüdisch-christlichen Kultur, als die Naturräume aller sie schützenden numinosen Wesen bzw. Gottheiten entblößt wurden, der Mensch mehr als je zuvor in die Lage gesetzt war, diese Naturräume nach alleiniger Maßgabe seines zweckrationalen und ökonomischen Verstandes zu nutzen. Der Entmythologisierung der Naturräume stand die „Lokalisierung von einem einzigen Universalgott in architektonisch extra entworfenen heiligen Gebäuden (Kirchen, Moscheen, Tempeln usw.)“ gegenüber.26 Kon————— 22 C. MAUCH, Das Janusgesicht des American Dream: Natur und Kultur in der US-amerikanischen Geschichte, in: B. HERRMANN (Hg.), Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2007–2008, Graduiertenkolleg Interdisziplinäre Umweltgeschichte, Göttingen 2008, 1–21, hier 15f. MAUCH legt dar, wie die großen US Nationalparks ursprünglich aus einer Allianz zwischen den Naturadvokaten und den Touristikinteressen der Eisenbahngesellschaften zustande kamen. „Als die großen Nationalparks eingerichtet wurden, galten demnach weder funktionierende Ökosysteme noch die traditionelle Gewerbelandschaft (Spuren der industriellen Forstwirtschaft wurden […] notorisch eliminiert) als schützenswert, sondern eine die nationale Identität beschwörende, konstruierte Landschaft. […] Hinter solchen Inszenierungen steckte die Vorstellung vom Naturpark als einem großen Freilichtmuseum, das einerseits unberührt wirken, andererseits Millionen von Besuchern anziehen würde […].“ 23 SMITH, Media, 66. 24 U.U. FRÖMMING, Klimawandel und kulturhistorische Prädispositionen. Über den Wandel der ästhetischen und affektiven Wahrnehmung von Umwelt und Naturgefahren in der okzidentalen Moderne, in: B. HERMANN (Hg.), Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2007– 2008, Graduiertenkolleg Interdisziplinäre Umweltgeschichte, Göttingen 2008, 65–85. Siehe außerdem auch U.U. FRÖMMING, Naturkatastrophen. Kulturelle Deutung und Verarbeitung, Frankfurt/ New York, 2006, 154ff. 25 M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, 1922. 26 FRÖMMING, Klimawandel, 68.

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sequenterweise verschwanden, wie Frömming darlegt, religiös bzw. mythisch und affektiv begründete Schutzzonen wie Wälder, Flüsse, Quellen und Berge, wo Naturgeister lokalisiert waren; es verschwanden die damit in Verbindung stehenden rituellen Aufenthalte an solchen Orten, wie sie heute noch aus asiatischen Gesellschaften bekannt sind. Damit wurden auch Tabus und Verbote aufgelöst, welche solche Naturräume schützten. Letztlich ist es diese Entzauberung der Natur, welche – nach weiteren entscheidenden Wegmarken wie Aufklärung und französischer Revolution – eine Epoche beginnen ließ, in der die Menschheit auf ihre Umwelt mit globalen Folgen einwirkte. Typisch für die Qualität dieser globalen Folgen ist, dass zyklische Stoffflüsse, wie sie für natürliche Ökosysteme typisch und stabilisierend sind, durch unidirektionale ersetzt sind, welche die Ökosysteme überfordern: Ressourcen werden der Umwelt relativ schnell entzogen und damit erschöpft, Abfallprodukte werden der Umwelt relativ schnell zugeführt und akkumulieren sich dort. Besonders eindrücklich hat diese Epochencharakteristik M. Himmelheber durch die Metapher der Explosion formuliert: Die Naturvorgänge, auch die gewaltigsten, sind in die großen Kreisläufe des Werdens und Vergehens eingebettet. Der Lawinenhang begrünt sich nach einigen Sommern wieder […]; demgegenüber tragen die vom Menschen ausgelösten technischen Explosionen das Merkmal des prinzipiell Antizyklischen, das unsere gesamte Technik kennzeichnet, die linear vom Rohstoff über das Industrieprodukt zur Schutthalde, von einem vermeintlichen plus-Unendlich zu einem vermeintlichen minus-Unendlich verläuft.27

Diese Epoche, die etwa 1800 begann und u.a. die Veränderung des Weltklimas durch die Emission von CO2 und anderer Treibhausgase im Zuge industrieller Prozesse zur Folge hat, wurde als Anthropozän bezeichnet.28 Die Klage über den Verlust des kosmologischen Orientierungswissens im Anthropozän, einer Orientierung, die, von Affekten bestimmt, auf der Seite des poetischen Blicks, des Irrationalen und Ganzheitlich-Heilenden steht,29 ————— 27 M. HIMMELHEBER, Der Explosionsmythos. Über einen wissenschaftlichen Anschauungszwang, in: J. DAHL/H. SCHICKERT (Hg.), Die Erde weint. Frühe Warnungen vor der Verwüstung, Stuttgart 1978, 162–178, hier 163. 28 Siehe M.M. VON TILZER, The fifth element: on the emergence and proliferation of life on earth, in: B. HERRMANN (Hg.), Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2007– 2008, Graduiertenkolleg Interdisziplinäre Umweltgeschichte, Göttingen 2008, 171–208, hier 196f. 29 Zur Charakterisierung des heilenden Blickes zitiert FRÖMMING, Klimawandel, 72, K. RÖHRING, Der heilende Blick. Von der Befähigung, die ökologische Partitur des Planeten zu lesen, in: K.M. MAYER-ABICH (Hg.), Wege zum Frieden mit der Natur, München 1984, 32–49, hier 46: Der heilende Blick „blickt gleichsam mit den Fingern, dem Körper und seinen Organen. Er streicht über Rinde, Schuppen, Federn, Fell und Haut […]. Er schwimmt durch das Wasser und liegt im Gras. Er ist ein lachender Blick und ein weinender, ein wacher und ein müder, einer mit Angst und Zorn geladen, besetzt mit Affekten. Es ist ein poetischer Blick.“

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zugunsten eines Verfügungswissens über die Natur, das affektlos dem spaltenden Blick der Wissenschaften entspricht und die technisch-industrielle Revolution ermöglichte, wurde in der intellektuellen Kultur vielfältig formuliert. Wie Frömming feststellt, wird im philosophischen Diskurs des 20. Jahrhunderts […] die Thematik des Verlustes des ‚Orientierungswissens‘ und die Überbewertung des ‚Verfügungswissens‘ in periodischen Abständen zu einem heimlichen Lieblingsthema. Die Macht der naturwissenschaftlichen Kognition und die Ohnmacht der anderen, das heißt symbolischen, religiösen oder ästhetischen Kognition von Natur standen berechtigter Weise im Zentrum der Debatte um die Krise der Moderne.30

Die Antworten auf diese Not waren und sind nicht trivial. Die Natur an sich vermag modernes Orientierungswissen nicht zu stiften, da unser Denken nicht mehr hinter den Zugang einer analysierenden, differenzierenden und im Grunde hypothetischen Naturwissenschaft zurück kann. In Anlehnung an den „poetischen Blick“ bei J. Mittelstrass sieht Frömming das Orientierungswissen der Moderne bei der modernen Kunst aufgehoben, die sich dem zweckrationalen Diktat nie unterworfen habe. Dichtung und bildende Kunst, von Hölderlin bis Beuys, seien nie ohne sinnliche Wahrnehmung der Natur ausgekommen, etwa durch den Rückgriff auf die griechische Mythologie und Orientierung an der Metapher der heiligen Wildnis als gewaltsames, fremdes, unvermitteltes Faszinosum. Die Kunst habe die verloren gegangenen Götter ersetzt oder zurückgeholt; exemplarisch an der modernen Kunst zeige sich, dass die Idee einer totalen Entzauberung der Welt nicht gelingen kann. An dieser Stelle wird auch der Klimawandel von Frömming eingeordnet, denn auch dieser widerspricht der Entzauberungsabsicht, da Klimawandel und damit verbundene häufigere Naturkatastrophen Verwunderung auslösen: Nicht zuletzt die vielen schweren Naturkatastrophen zu Beginn des 21. Jahrhunderts und die Erkenntnisse der Klimaforschung haben jedoch die Grenzen der menschlichen Naturbeherrschung aufgezeigt und damit transnational Verwunderung und Ehrfurchtgefühle gegenüber der Natur rehabilitiert.31

Naturgefahren und -katastrophen sind nach Frömming zum Mittelpunkt einer neuzeitlichen Naturästhetik geworden, die von Affekten bestimmt ist und die ähnlich wie die Medien, welche darüber berichten, transnational bzw. global ist.32 Darin stecke eine bestürzende und befreiende Ambivalenz: ————— 30 FRÖMMING, Klimawandel, 73. 31 FRÖMMING, Klimawandel, 77. 32 Hier berührt Frömmings Interpretation die von SMITH, Media, 15, der Naturkatastrophen als Teil eines modernen Mythos über „natural powers beyond our control“ begreift (s.o.).

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Einerseits die zerstörerische Kontingenz der Natur in den Zügen des Zerstörerischen, Grausamen, Überwältigenden für die menschliche Gesellschaft,33 andererseits die zu diesem Korrespondenzhintergrund kontrastierende bejahte und schöne Kontingenz der Natur.34 Bei diesem Doppelaspekt der Natur wird die „zerstörerische Kraft als Ausdruck ihrer Empfindsamkeit, ihrer ‚Beantwortung‘ unseres Vergehens gegen sie“ gesehen.35 Auch an anderer Stelle spricht Frömming von der „Antwort des Klimas“ auf die Erfindungen und kulturellen Gewohnheiten der Moderne.36 Solche Rede (Empfindsamkeit der Natur, Beantwortung des Vergehens gegen sie) lässt die Natur als etwas erscheinen, das zu Antwortverhalten fähig ist, quasi ein beseeltes Wesen mit autonomen Zügen, wie wir es in der Tat in den zahlreichen Aussagen nach der Art „die Natur/das Klima schlägt zurück“ in der zeitgenössischen europäischen Rezeption der Naturschutz- und Klimadebatte wiederfinden.37 Entsprechend diagnostiziert Frömming genau diese „neue Form ästhetischen und affektiven Empfindens gegenüber der Natur“ bei einer breiten Öffentlichkeit: Die Natur wird durch die Klimadebatte wieder mehr und mehr zu einem handelnden Wesen stilisiert und rückt damit – bei aller Differenz – in eine schmeichelhafte Nähe zur antiken Naturanschauung. Dass eine Remythologisierung nicht die Lösung des Klimaproblems sein kann, liegt auf der Hand. Die Wiederaneignung einer Naturästhetik, wie sie von Hölderlin bis Beuys beschrieben wurde, die Neuinterpretation der Naturästhetik innerhalb der Kunst, ein emotionales Erleben der ‚äußeren Natur‘ als ‚innere Natur‘ und umgekehrt […] brauchen wir dahingegen mehr denn je.38

————— 33 Das Grausame der Naturkatstrophe kann jedoch auch in einen übergreifenden „Katastrophenoptimismus“ eingebettet sein, wie ihn C. MAUCH typischerweise in der US-amerikanischen Gesellschaft identifiziert. Hier passe jedes Desaster „zur amerikanischen Fortschrittsideologie, zur Stehauf-Mentalität. Sie bauen Häuser mit Vorliebe dort, wo das Sturmrisiko besonders groß ist, in Florida und Texas. […] Die Risiken lassen sich versichern, rückversichern und die Rückversicherung lässt sich abermals rückversichern, da spielt auch die Wall Street mit. Das Ganze ist zu einem großen Casino der Natur geworden.“ Auszug aus dem Interview „Reflektieren über Reichtum und Risiko“ in der Süddeutschen Zeitung vom 12.11.2008. 34 FRÖMMING, Klimawandel, 70. 35 FRÖMMING, Klimawandel, 70. 36 FRÖMMING, Klimawandel, 79. 37 Dieser Interpretationsansatz war bereits der Umweltbewegung vertraut. Siehe J. LOVELOCK, Das Gaia-Prinzip – die Biographie unseres Planeten. Frankfurt 1993, 272: „Gaia ist in meinen Augen weder die gütige, allesverzeihende Mutter noch eine zarte, zerbrechliche Jungfrau, die einer brutalen Menschheit hilflos ausgeliefert ist. Vielmehr ist sie streng und hart. Denen, die die Regeln einhalten, verschafft sie eine stets warme, angenehme Welt; unbarmherzig aber vernichtet sie jene, die zu weit gehen. Ihr unbewusstes Ziel ist ein Planet, der für das Leben bereit ist. Stehen die Menschen diesem Ziel im Wege, werden sie […] eliminiert“. T. DORN, Der Spiegel 2/2009, 127, zitiert den Schriftsteller Carl Amery: „Das Waldsterben ist der untrüglich einsetzende Versuch der Gaia, d. h. des Lebewesens Erde, sich durch eine gewaltige Operation einer misslungenen Spezies zu entledigen“. 38 FRÖMMING, Klimawandel, 80f.

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Die Stilisierung der Natur zu einem handelnden Wesen ist nichts anderes als eine Remythisierung – ein Kennzeichen des Mythos ist die Animierung. Frömming widerspricht zwar formal einer solchen Mythisierung der Natur, partizipiert aber an anderen Stellen ihrer Arbeit sprachlich an diesem Konzept – es scheint mächtig zu sein. In der Tat hat diese Form der QuasiMythisierung der Natur Konjunktur. Man denke auch an assoziierbare wissenschaftliche Konzepte von Autopoiesis wie die Gaia-Hypothese von James Lovelock und Lynn Margulis, nach der die Erdoberfläche einschließlich der gesamten Biosphäre als eine Art von Über-Organismus betrachtet werden kann, der Bedingungen schafft und erhält, welche die Evolution komplexerer Organismen ermöglicht. Es handelt sich freilich dabei um ein sich selbst regulierendes und organisierendes chemisch-biologisches System („Geophysiologie“), nicht um ein „Lebewesen“. Allerdings wurde dies in der mythologischen Rezeption durch die New-Age- und ÖkologieBewegung gelegentlich ausgeblendet und daraus eine beseelte Erde – die Muttergöttin Gaia – gemacht, die „sich bewusst rächen und die Menschen für den ihr zugefügten Schaden auch bestrafen [konnte] – durch den Klimawandel beispielsweise.“39 In der Belletristik ist an den jüngst großen Erfolg des Romans Der Schwarm von Frank Schätzing zu erinnern, nach dem eine maritime, einzellige Lebensform aufgrund ihres zellulären Zusammenschlusses als Kollektivintelligenz in Erscheinung tritt, andere maritime Organismen beeinflusst und hinter Angriffen auf den Menschen aus dem Ozean steht. Auch dort wird zumindest ein Teilbereich der Natur unter dem Aspekt des Katastrophalen animiert und quasi personalisiert.40 Was Frömming allerdings als neuzeitliche Naturästhetik feiert, die bestürzende Ambivalenz der Natur als bejahte, schöne Natur und – andererseits – zerstörerische Naturgewalt, wobei die zerstörerische Kraft auch eine Beantwortung unseres Vergehens gegen die Natur darstelle, ist in traditionsgeschichtlicher Perspektive mit altem Volksglauben über den Zusammenhang von Tun und Ergehen vergleichbar. Es ist analog zur alten Vorstellung der Naturkatastrophe als Strafe Gottes für die Vergehen der Menschen, nur dass die Adresse des Vergehens und die Auslösung der Strafe ————— 39 P. STEINBERGER, Spiel ohne Grenzen, Süddeutsche Zeitung, 7./8.02.2009. 40 Interessanterweise sieht sich SCHÄTZING auch selbst als Interpret des aktuellen wissenschaftlichen Wissens für die Allgemeinheit: „[Die Leute] suchen Antworten, aber sie wollen nicht einfach mehr wissen, sondern mehr verstehen. Doch wir haben heute eben keinen Galileo oder Da Vinci mehr, der die Welt als Ganzes erklärt. Alles zerfällt in Spezialgebiete, völlig unübersichtlich, und die Spezialisten verstehen einander auch nicht. […] Deshalb finden Unterhaltungsautoren wie Michael [Crichton, EF] und ich uns zunehmend in der Position, den Leuten zumindest die groben Zusammenhänge ihres Planeten begreiflich zu machen. Auf die Wissenschaft ist da kein Verlass“ (Der Stern, 7/2005, 44). Das heißt nichts anderes, als dass der spaltende Blick der Wissenschaften keine ganzheitliche Orientierung mehr zu vermitteln vermag und daher die Stunde der Erzähler gekommen ist, die diese Aufgabe mit ihren Formen zu bewältigen haben.

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von Gott auf die Natur verschoben worden sind. Wir kommen darauf später zurück. 2.2 Zwischenschritt: Was macht die Qualität des Mythischen aus? In religionswissenschaftlich-formaler Sicht wird im Mythos als „traditioneller Erzählung“ ein Vorgang wiedergegeben, der – als Darstellung eines religiösen Symbolsystems – einzelne bedeutungsvolle Szenen in bestimmter Abfolge anordnet. Der Ausgangspunkt des Mythos ist oft labil, also für Veränderungen offen, während der Schluss stabil, also nicht mehr veränderlich, ist und somit eine klare Richtung enthält. Er bietet Orientierung durch Identifikation, was auch bedeutet, dass die durch einen (kultischen) Mythos bestimmte Person keine rationale Distanz zu dem Mythos hat und sich ihm deshalb nicht zu entziehen vermag: Der Mythos […] taucht jene Mächte, Gewalten und Personifikationen der Naturkräfte in das Licht eines Verstehens, das nicht von der Distanz des Begreifens bestimmt ist, der Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität, sondern von einem Fühlen und Erleben, das die Adressaten des Mythos zu Mitspielern in dem Drama macht, von dessen Protagonisten der Mythos erzählt.41

Doch sind Explikationsstufen des Erzählten, die den Vorgang stärker rationalisieren, möglich.42 Der Mythos kann sprachlich oder auch als Bilderfolge oder Tanz wiedergegeben werden. Von solchen Beobachtungen abgeleitet ist insbesondere die Nähe zu audiovisuellen Medien hier von Bedeutung – die Kulturwissenschaftlerin Frömming konstatiert zu Recht, „dass Mythen eine Form von Medien sind“ und dass Mythos und Medien beide „eine ‚sinnmiterzeugende‘ Kraft […] darstellen“.43 Das ist gerade auch im Hinblick auf die unten zu berücksichtigende Existenz mythischer Motive in den bebilderten Formen moderner Massenmedien von Bedeutung: Den Platz der Mythologie und ihrer Orientierungsvermittlung haben in der westlichen wie nicht-westlichen Moderne zu einem bedeutenden Teil inzwischen die Kunst und die Medien eingenommen, die nun der symbolische Erkenntnisgegenstand bei der menschlichen Konstruktion ontologischer Verflechtungen geworden sind.44

————— 41 C.F. GEYER, Mythos. Formen – Beispiele – Deutungen, München 1996, 90. 42 Dazu grundlegend F. STOLZ, Der mythische Umgang mit der Rationalität und der rationale Umgang mit dem Mythos, in: H.H. SCHMID (Hg.), Mythos und Rationalität, Gütersloh 1988, 81–106, hier 82f. 43 FRÖMMING, Naturkatastrophen, 186.188. 44 FRÖMMING, Naturkatastrophen, 216. Ähnlich auch SMITH, Media, 151 im Blick auf das Medium Fernsehen: „the essence of television news: a merging of visual elements taken intellectually as facts but which, as symbols, serve deeper and less conscious emotional needs. In televi-

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Über die „traditionelle Erzählung“ oder Textlichkeit des Mythos hinaus zählt G. Theißen als weitere Charakteristika die Funktion und die Denkstruktur des Mythischen auf.45 Ein wesentlicher Aspekt mythischer Denkstrukturen in unserem Zusammenhang ist die Tendenz, Dinge als beseelt erscheinen zu lassen: „Animation ist […] die erste Kategorie mythischen Denkens. Die mythische Welt ist eine Welt von Willen und Intentionen, die in allen Dingen wirken.“46 Auch eine Tiefenidentität von Personen, die für unsere Alltagswahrnehmungen getrennt sind, ist charakteristisch und kann zu generischen Personen- oder Sachkategorien führen – in jedem Menschen wiederholt sich eine Urschuld, jeder Mensch ist Adam. Die Funktion liegt oft darin, dass eine soziale Lebensform begründet oder – bei eschatologischen Mythen – mit visionärer Kraft in Frage gestellt wird.47 Gerade letzteres, die Perspektive eines eschatologischen Mythos, bei dem – etwa in der Rahmengattung der Apokalypse ausgeführt – eine bestimmte soziale Lebensform mit negativer Entwicklung, Strafgericht u.s.f. sanktioniert wird, ist in unserem Themenzusammenhang von Bedeutung. Ein solcher eschatologischer Mythos wird angesichts der zerstörerischen Kraft von Naturgewalten, die als eine Folge unseres industriell-menschheitlichen Vergehens gegen die Natur dargestellt werden, unter der expliziten Perspektive der Katastrophe in grellen Bildern und Texten in den Massenmedien formuliert – wir beleuchten dies näher im folgenden Abschnitt. Darüberhinaus entspricht den religionswissenschaftlichen Kategorien des Mythischen auch die generische Attributierung des Vergehens (industrielle Gesellschaft qua Verbrennung fossiler Energieträger) und die Tendenz zur Animierung der Natur, die beispielsweise „antwortet“ oder „zurückschlägt“. Der hier zu identifizierende Mythos betrifft die industrielle Zivilisation. Freilich sind die erwähnten mythischen Motive in den Medien nur jeweils fragmentarisch angedeutet, es handelt sich somit um weitgehend latente beziehungsweise halbstumme Mythen (F. Stolz), die nicht vollständig erzählt werden und dadurch „auch dem kritischen Zugriff des Diskurses und der emanzipierten Rationalität entzogen“ sind.48 Gerade aufgrund die————— sion pictures, we may find elements that are both signs and symbols, and that simultaneously serve needs that are practical and mythical.“ 45 G. THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 21–22. 46 THEISSEN, Religion, 22. 47 THEISSEN, Religion, ib.; STOLZ, Umgang, 93, weist zurecht darauf hin, dass auch bei apokalyptischen Entwürfen die für den Mythos konstitutive Erzählstruktur und das Konzept eines narrativ repräsentierten wirklichkeitssetzenden Vorgangs erhalten bleiben. 48 STOLZ , Umgang, 100, mit Bezug auf die Beschreibung der „Mythen des Alltags“ nach R. Barthes (1964). Als Beispiel eines halbstummen Mythos rekonstruiert Stolz die von „heutiger Vulgäranthropologie“ und Clichés durchsetzte Geschichte von dem durch Prägung seitens Elternhaus, Schule und Gesellschaft verengten und dabei seiner ursprünglich vielfältigen Lebensmög-

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ser halb versteckten Erscheinungsweise können die modernen Alltagsmythen erfolgreich und faszinierend sein – es ist die Form, die allein übrig bleibt, wenn eine Koexistenz mit dem übermächtigen rationalen Verfügungswissen unserer technisch-industriellen Kultur möglich sein soll. Wie die „alten“ Mythen bewirken auch diese latenten Mythen „Orientierung durch Identifikation“ und werden insbesondere über die bebilderten Massenmedien der Moderne vermittelt.49 2.3 Die massenmediale Mythisierung des Themas Klimawandel in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit Eine generelle Randbedingung für den Umgang der Öffentlichkeit mit dem Thema Klima ist, dass Klimatrends und der anthropogene Klimawandel nicht unmittelbar wahrnehmbar sind. Denn die relevanten Untersuchungszeiträume überschreiten normale Erfahrungshorizonte und die Parameter aus instrumentellen meteorologischen Messungen sind mit erheblichen Unsicherheiten der Interpretation verbunden – insbesondere hinsichtlich der Zuweisung von Ursachen für systematische Veränderungen. Wie P. Pansegrau zu Recht feststellt, bleibt daher die wissenschaftliche Konstruktion eines anthropogenen Klimawandels hypothetisch. Nicht-Wissenschaftler können aufgrund dieser Eigenschaften Klimawandel nur über die Kommunikation der (Massen-)Medien wahrnehmen – nur auf diesem Wege lässt sich öffentliche Relevanz des Themas erfahrbar machen.50 Die Medien, gerade auch der Wissenschaftsjournalismus, spielen dabei keineswegs nur eine Rolle als bloße Übersetzer in einem letztlich linearen Kommunikationsprozess, wie in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft häufig angenommen wird. Eine solche Annahme verkennt, wie unter den Medien mit immer drastischeren Darstellungen um die knappe Ressource Aufmerksamkeit ————— lichkeiten beraubten Menschen, der sich jedoch von diesen Zwängen befreit, indem er sich selbst erkennt, liebt und zu einem ganzen Menschen verwirklicht. Dieser Mythos wirkte in vielen Bereichen der Freizeitkultur und Religion. Neue politische Mythen behandelt GEYER, Mythos, 97. 49 Siehe SMITH, Media, 150, der auf die Hypothese eingeht, dass „television news is a form of drama rather than a source of information and that it has taken the place of oral myths that passed cultural traditions from generation to generation […] Gaye Tuchman […] has said that, reports of news events are stories […] in which they [the reporters, EF] can locate themes and conflicts of a particular society. These events get retold as essentially the same story from year to year and even from decade to decade.“ Weitere Beispiele dafür, wie bebilderte Medien mythische Motive transportieren, bei SMITH, Media, 151. 50 P. PANSEGRAU, „Klimaszenarien, die einem apokalyptischen Bilderbogen gleichen“ oder „Leck im Raumschiff Erde“. Eine Untersuchung der kommunikativen und kognitiven Funktionen von Metaphorik im Wissenschaftsjournalismus anhand der Spiegelberichterstattung zum ‚anthropogenen Klimawandel‘. Dissertation Universität Bielefeld 2000, 69ff.

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gerungen wird. Es geht um die Marktchancen der Medien, welche wiederum ihre Produktionsbedingungen steuern. Informationen verkaufen sich am Markt, wenn sogenannte Nachrichtenwerte erreicht werden. Dies sind u.a. Negativität, Sensationalität, Überraschung, Bedeutsamkeit, Eindeutigkeit, Kohärenz und Kontinuität der Informationen.51 Die neuere Medienforschung geht davon aus, „dass Medien, ebenso wie andere gesellschaftliche Bereiche auch, ihre spezifische Wahrnehmung der Realität jeweils neu konstruieren und kommunizieren“.52 Dieser Prozess wird durch die für den Markterfolg wichtigen Randbedingungen, wie es die Nachrichtenwerte sind, gesteuert. Im Anschluss an eine Arbeit der Soziologin und Linguistin P. Pansegrau zeigen Weingart et al., wie die Medien mit Hilfe eines von der Leitmetapher der Klimakatastrophe abhängigen Metaphernsystems ein zunächst unanschauliches Wissenschaftsthema mit Nachrichtenwerten anreicherten und für den Nachrichtenmarkt attraktiv machten. Systematisch untersucht wurde das insbesondere an der Berichterstattung des Magazins DER SPIEGEL. Die Medien vertieften dabei gezielt den von der deutschen Wissenschaft ab 1986 angebotenen Katastrophendiskurs, allerdings hatten die katastrophischen Konnotationen bei der medialen Aufbereitung des Klimathemas bereits Ende der 1970er Jahre begonnen.53 Der Begriff der Klimakatastrophe, dem auch Klimaapokalypse, Öko-Katastrophe, KlimaGAU und ähnliche Extrembegriffe zur Seite standen, gewährte Sensationalität, Negativität und Eindeutigkeit, aber als langjährige Leitmetapher auch Kohärenz der Berichterstattung. Die in zeitgleichen wissenschaftlichen und politischen Diskursen stets betonten wissenschaftlichen Unsicherheiten wurden in den deutschen Medien eher bagatellisiert und in den Schatten der gesicherten Informationen getaucht. Somit hat der Mediendiskurs die „Transformation von der Hypothese zur Katastrophe vollzogen.“54 Allerdings änderte sich die Beurteilung nach dem Ende der 1980er Jahre, indem die Klimatologen, die immer noch viele ungelöste Fragen diskutierten, deswegen zunehmend ironisiert und hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit hinterfragt wurden. Gleichwohl blieb das Konzept der erwarteten Klimakatastrophe bis Ende der 1990er Jahre zunächst noch bestehen, um seitdem – insbesondere vom SPIEGEL, aber auch von anderen Medien – zunehmend ironisiert und als von den Medien inszenierte Klima-Hysterie gebranntmarkt zu werden (freilich ohne Reflexion der eigenen Beteiligung an diesem Prozess): „Klimakatastrophe geht auch wieder vorbei, diesen Weltun————— 51 WEINGART et al., Hypothese, 30f., 87–90. 52 WEINGART et al., Hypothese, 88. 53 WEINGART et al., Hypothese, 90ff. DER SPIEGEL schrieb bereits 1979 von der „KlimaApokalypse“ (9/1979, 212). 54 WEINGART et al., Hypothese, 91.

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tergang werden wir auch überleben“.55 Vielsagend ist insbesondere die Titelseite des SPIEGEL Nr. 19 vom Jahr 2007, auf der über einer weiblichen Comic-Figur mit der Sprechblase „Hilfe […] die Erde schmilzt“ das Motto „Die große Klima-Hysterie“ prangt. Im Vergleich dazu war auf der Titelseite des SPIEGEL Nr. 33 vom Jahr 1986 der Kölner Dom, der aus einer horizontweiten Wasserfläche noch herausragt, unter dem Titel „Die KlimaKatastrophe“ und dem Untertitel „Ozon-Loch, Pol-Schmelze, TreibhausEffekt: Forscher warnen“ zu sehen. Diese Titelseite, die auf die öffentliche Warnung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft vor der „drohenden Klimakatastrophe“ im Jahre 1986 Bezug nahm (siehe oben), hatte den Durchbruch der Klimafrage unter dem Leitbegriff der Katastrophe zu einem bevorzugten Medienthema markiert. Daran wird klar, welchen Weg DER SPIEGEL vom emotional affizierenden, symbolhaften Katastrophengemälde zur ironisierenden Distanznahme in zwei Jahrzehnten gegangen ist.56 Auch für andere Printmedien gilt ähnliches.57 Mit den häufigen Katastrophenalarmen und der konkreten Ausmalung des globalen Untergangs musste dieser an Glaubwürdigkeit einbüßen und der Aufmerksamkeitswert für die Skepsis gegenüber dem Klimawandel ansteigen. Der Klimawandel-Mainstream mit seinen abgenutzten katastrophischen Konnotationen evoziert die Lust an der Kunde von skeptischen Positionen und Dissens als neue Gestalt der attraktiven Nachrichtenwerte Negativität und Überraschung. Daher wurde nun die Skepsis zunehmend medial inszeniert.58 In der treffend als Katastrophismus der Medien59 bezeichneten Phase der 1980er und 1990er Jahre spielten insbesondere mythische Elemente eine ————— 55 DER SPIEGEL, 15.10.2001. WEINGART et al., Hypothese, 17f., nennen viele weitere Beispiele. 56 In der Ausgabe 2/2009, 156f, veröffentlichte DER SPIEGEL sogar einen Essay von THEA DORN mit dem Thema „Lust an der Apokalypse. Was hinter der Katastrophenrhetorik steckt“. Dorns Analyse ist für den SPIEGEL pikant: „Das Geschäft mit der Angst dürfte das in Wahrheit älteste Gewerbe der Welt sein. […] So wie Starbucks uns jeden Monat mit einem anderen ‚Coffee Highlight‘ bei Laune hält, kredenzen uns die Massenmedien mittlerweile den Untergang des Monats“ [Hervorhebung E.F.]. 57 Vergleiche z.B. die Oszillationen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) (z.B. 15.04.1992: „Offenbar kann das Klima der Erde sich rascher wandeln als man lange annahm – mit dramatischen Folgen […]“ versus z.B. 23.03.2007: „Ist der Klimawandel nichts als Schwindel?“). 58 Vergleiche dazu S. SONTAG, Aids und seine Metaphern. Aus dem Amerikanischen von H. Fliessbach, München und Wien 1989, 92: „Mit der Inflation des apokalyptischen Geschwätzes ist die zunehmende Entwirklichung der Apokalypse gekommen. Ein permanentes modernes Szenario: die Apokalypse lauert […] aber sie kommt nicht.“ Siehe WEINGART et al., Hypothese, 18: „Je intensiver die Berichterstattung über den anthropogenen Klimawandel, je eindeutiger die Warnungen vor einer Katastrophe, desto interessanter werden die von den Medien repräsentierten ‚skeptischen Positionen‘ zum Klimawandel. […] Für die Medien ist unerheblich, ob die Gewichte zwischen den Wissenschaftlern die den anthropogenen Klimawandel für erwiesen halten und den Skeptikern […] ungleich sind. Für sie ist der Dissens als solcher berichtenswert.“ (vgl. 108). 59 WEINGART et al., Hypothese, 90ff.

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große Rolle bei der affirmativen Ausgestaltung der kommenden Klimakatastrophe. P. Pansegrau hat ein System aufeinander bezogener Metaphernfelder (metaphorische Szenarien) analysiert, die im Diskurs des Magazins DER SPIEGEL auf die Leitmetapher Klimakatastrophe hingeordnet sind. Dazu gehören unter anderem die Metaphernfelder „Katastrophe und Untergang“, „Überhitzung“, „Krieg und Revolution“, „Bibel und Verkündigung“ sowie „Justiz und Kriminalität“. Quer zu Pansegraus metaphorischen Szenarien stellen wir hier pars pro toto metaphorische Phrasen aus SpiegelTexten der Jahre 1985–1995 zusammen, die große Resonanz mit grundlegenden Dimensionen des Mythischen, insbesondere des eschatologischen Mythos (siehe oben), aufweisen60: Generischer Blick auf den Menschen der industriellen Kultur und sein Klima-Vergehen: Bei seiner Tat hat der Klimaverbrecher Mensch eine Reihe deutlicher Spuren hinterlassen / der Angeklagte hatte die Aufheizung der Atmosphäre nicht gestanden / zerstörerischer Erfindungsgeist des Menschen / der geschundene Planet / Mensch hat sich den Planeten erobert / angefangen, die Natur totzuschlagen / die vom Menschen verursachten Klimasignale / anthropogener Klimaschaden / Erderwärmung von Menschen verursacht / größte Brandstiftung aller Zeiten / Lebensgrundlagen auf der ganzen Erde bedroht oder vernichtet? / Entfesselung eines Weltenbrandes. Prodigien, heilige Ankündigung und unvermeidliches Eintreten eines negativen, sanktionierenden Eschatons (Verderben, Katastrophe): Atmosphäre zeigte Warnzeichen / ein unmissverständliches Zeichen wird auftauchen / Vorboten der Klimakatastrophe / deutliche Signale für die kommende Klimakatastrophe / Naturkatastrophen nur Vorboten einer apokalyptischen Entwicklung / apokalyptische Vorreiter der globalen Erwärmung / apokalyptisches Szenario / vorhergesagte Öko-Katastrophe / Klimaszenarien, die mehr und mehr einem apokalyptischen Bilderbogen gleichen / Werk der Gerechtigkeit / eindringliche Horrorvision / für rettende Umkehr zu spät / Treibhaussintflut / Sintflut / die düsteren Prognosen der Klimaforscher / Hiobsbotschaften der Klimaforscher / Menetekel-Meldungen / erste Erfolge der digitalen Klimaorakel / bloße Orakelei / düstere Botschaft / Kassandra der Wissenschaft.

————— 60 Wir referenzieren im Folgenden nicht die zugehörigen einzelnen Ausgaben des Magazins DER SPIEGEL. Zugrunde liegt die Auswertung von PANSEGRAU, Klimaszenarien, 71ff, für den Zeitraum 1985–1995, wo die Texte geboten werden.

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Raum des Heiligen, der Gemeinde und der Deutung des Eschatons – die Klimaexperten: Gemeinde der Klimaforscher / Weltgemeinde der Klimaforscher / Meteorologe träumt, dass Erwärmung ‚die Erde in Garten Eden verwandelt, und nicht in Katastrophengebiet‘ / rangältester Prophet der Klimakatastrophe / Lücken in den Formel-Gebilden der Klima-Propheten / 200 Klimapropheten aus aller Welt / Glaube der Klimatologen an Computerprophetie / prophezeien Computermodelle. Die letzte Wirklichkeit – Natur und Naturkatastrophen als beseelte, machtvolle Wesenheiten: Wie, wo, wann die Natur zurückschlägt / die wütende Natur / als die Natur wie ein großer Watschenmann über die BRD herfiel / Raupenexplosion als Strafgericht der Natur / erhitzte Mutter Erde / tobende Naturgewalten / Monsterwirbel, der sich wälzt / Killer-Hurrikane / zerstörerische Stürme fallen über Europa her / Katastrophen haben überfallen. Die Metaphernfelder des Magazins DER SPIEGEL unterstützen diverse moderne Mythen, nicht nur einen. Aber die Version eines eschatologischen Mythos der Klimakatastrophe kommt dabei erkennbar vor: Es gibt ein Vergehen der industrialisierten Menschheit gegenüber der Natur (Klima, Planet), das in der Emission von Treibhausgasen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe und der daraus resultierenden Aufheizung der Erdatmosphäre besteht und das in ein katastrophales Eschaton aus entfesselten Naturgewalten mündet. In diesem Eschaton, das sich schon jetzt in einzelnen Vorboten ankündigt, schlägt die Natur zurück. Die ausgewählten prophetischen Deuter dieser kommenden Katastrophe sind die Klimaforscher und ihre Modelle. Im Grunde thematisiert dieser eschatologische Mythos, der von Ferne an traditionelle jüdisch-christliche Apokalyptik erinnert, die Folgen und Grenzen der technisch-industriellen Kultur. Dieser Mythos klingt in der deutschen Medienwelt auch über den SPIEGEL hinaus an.61 Von Naturwissenschaftlern existieren Äußerungen, die einen schwachen Ausgangspunkt für die apokalyptisch-prophetische Zeichnung ihrer Rolle in ————— 61 SPIEGELONLINE vom 2.2.2007 „Uno schlägt Alarm – Klima-Apokalypse naht“. Siehe etwa auch Financial Times Deutschland (FTD) 29.3.2007 „Globaler Warnsinn. Die Szenarien von der Klimaapokalypse […]“ , sueddeutsche.de 12.6.2006 „Apokalypse im Trend. Hamburg ist im Meer versunken, Millionen Klimaflüchtlinge sind auf dem Weg […]“, sueddeutsche.de 15.1.2009 über den scheidenden Präsidenten Busch: „Er hat die sich anbahnende Klimakatastrophe einfach ignoriert“, sueddeutsche.de 17.12.2008 „In 80 Seiten gegen die Klimakatastrophe“, Süddeutsche Zeitung 7./8.2.2009 „Forscher wollen die Klimakatastrophe mit künstlichen Eingriffen stoppen […] Die Gefahr des planetaren Kollaps ist groß wie nie.“

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der mythischen Variante der story abgaben.62 Darüberhinaus gibt es viele Äußerungen einer physikalisch rationalisierten Version der story von der Verursachung des Klimawandels durch die technisch-industrielle Gesellschaft.63 Wie sehr die mythische Variante, bei der Verfehlung und Sündenstrafe thematisiert werden, in der Breite wirkt, zeigt zum Beispiel die Bewertung der Elbeüberschwemmungen 2002 als mit dem Klimawandel im Zusammenhang stehende Sintflut durch die Sächsische Zeitung am 17.8.2002: Nun ist sie [die Flut] also da […] vor der eigenen Haustür. Das berührt […] weil diese ‚Sintflut‘ so viel unerbittlicher als ferne Katastrophen die Frage nach dem Warum stellt, nach begangenen ‚Sünden‘, nach deren Verursachern. Wir können heute auch ohne konkreten wissenschaftlichen Beleg davon ausgehen: An der Erderwärmung sind nicht allein periodische kosmische Veränderungen schuld, […] sie ist ebenso eine Folge der Lebensweise.“64

————— 62 PANSEGRAU, Klimaszenarien, 115, verweist auf die Äußerung von H. FLOHN, Frankfurter Rundschau, 24.4.1975: „Die Klimatologen haben jetzt die gleiche Rolle wie Kassandra vor dem Zusammenbruch Trojas, hätte man ihr geglaubt, wäre Troja sicher gewesen.“ Freilich wurde auch die Rede von modellgestützten zukünftigen Klimaszenarien, die immer durch vorgegebene Annahmen über die Entwicklung der Ökonomien und der Treibhausgasemissionen bedingt sind, als Rede von Prognosen missverstanden. 63 Arbeitskreis Energie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Warnung vor der drohenden Klimakatastrophe 1986, nach Frankfurter Rundschau, 19.9.1986: „Um die drohende Klimakatastrophe zu vermeiden, muss bereits jetzt wirkungsvoll damit begonnen werden, die weitere Emission der genannten Spurengase drastisch einzuschränken”. T.R. KARL/N. NICHOLLS/J. GREGORY, Das Klima der Zukunft, Spektrum der Wissenschaft, Dossier 1: Klima, 2002, 6–11: „In den vergangenen 20 Jahren ist der Menschheit bewusst geworden, dass sie durch ihr Wachstum und durch den technologischen Fortschritt wahrscheinlich begonnen hat, einen Klimawandel auf unserem Planeten herbeizuführen. […] Diese Erwärmung führen Klimatologen zumindest teilweise auf menschliche Aktivitäten zurück – insbesondere auf die Verfeuerung fossiler Brennstoffe zur Elektrizitätsgewinnung und zum Antrieb von Kraftfahrzeugen. […] Von besonderem Interesse sind die Folgen für das Klima […] die Häufigkeit von Extremereignissen wie Temperaturrekorden, Hitzewellen, Starkniederschlägen oder Dürren, die Landwirtschaft und Ökosysteme schwer schädigen und ganze Gesellschaften erschüttern können.“ W.F. RUDDIMAN, How did humans first alter global climate? Scientific American, March 2005: „With the advent of coal-burning factories and power plants, industrial societies began releasing carbon dioxide and other greenhouse gases into the air. Later, motor vehicles added to such emissions. In this scenario, those of us who have lived during the industrial era are responsible not only for the gas build-up in the atmosphere but also for at least part of the accompanying global warming trend.“ 64 Sintflut wurde nach den Augustüberschwemmungen 2002 im Zusammenhang mit dem Klimawandel eine in der wissenschaftsjournalistischen Publizistik oft anklingende Kategorie. Beispielsweise gab J. KACHELMANN ein Buch heraus mit dem Titel „Die große Flut – unser Klima, unsere Umwelt, unsere Zukunft“ (2002), in dem sich Titel finden wie „Regen – Segen – Sintflut“ (H. Graßl) oder „Vor uns die Sintflut“ (M. Rauner). DER SPIEGEL, 34/2002, titelte: „Die Sommer-Sintflut“.

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Sogar in wissenschaftlichen Publikationen hallt die Vorstellung des Klimawandels als Sündenstrafe nach.65 Die mythischen Varianten, die sich mit den Themen Sünde und Sündenstrafe, Sintflut, Apokalypse „an den großen Mythen und den archaischen Ängsten der Menschheit orientieren, ermöglichen die Konstruktion der für die Berichterstattung notwendigen Nachrichtenwerte“66 – das unmittelbar Identifikation Erheischende, unmittelbar Affizierende des Mythischen war die Kategorie, deren man sich medial bedienen wollte. Die an archaische Ängste rührende Vorstellung der überwältigenden Wettererscheinung als strafendes Handeln einer höheren, in der Natur wirkenden Gottesmacht hat alte Wurzeln.67 Sie beginnt mit den strafenden Wettergottheiten in Mesopotamien und angrenzenden Gebieten (Baal Hadad) und wirkt auch im Alten Testament sowie im jüdisch-christlichen Traditionsstrom fort. In allen Kulturen, in denen diese Vorstellung auftritt, ist sie „mit einer von den Tiefen der Erde getrennten Gottesfigur verknüpft, die sich ungebunden im Bereich des Himmels und der Lüfte bewegt.“68 Später erscheint eine analoge Argumentationsfigur hinter mittelalterlichen Interpretationen von Clustern aus niederschlagsreichen und kühlen Witterungsphasen der sogenannten Kleinen Eiszeit (Höhepunkt im späten 16. und 17. Jahrhundert), die im Zusammenhang mit Missernten, Mangelernährung und Krankheiten als Strafgericht Gottes für Sünden verstanden werden. Insbesondere die Hexerei repräsentiert das paradigmatische Verbrechen der Kleinen Eiszeit (W. Behringer). Auch das in der zeitgenössischen Interpretation teuflische Wirken der Hexen ist Folge der menschlichen Vergehen. Der zürnende Gott straft in Entsprechung zu einem kollektiven Sündenkonto.69 ————— 65 R.B. ALLEY, Temperatursprünge. Das instabile Klima, in: Spektrum der Wissenschaft. Dossier 2, 2005, 8: „Allerdings ist ziemlich sicher, dass Umweltsünden wie der massive Ausstoß von Treibhausgasen das Risiko einer plötzlichen und lang anhaltenden Klimaänderung erhöhen.“ Siehe ausführlicher BEHRINGER, Kulturgeschichte, 275f. 66 PANSEGRAU, Klimaszenarien, 125. 67 Religionsgeschichtliche Überblicke bei U. BRUNOTTE, Die Bühne der Götter. Figurationen religiöser Meteorologie, in: P. LUTZ/T. MACHO, Zwei Grad: Das Wetter, der Mensch und sein Klima, Göttingen 2008, 43–49; BEHRINGER, Kulturgeschichte, passim. 68 BRUNOTTE, Bühne, 44, mit Belegen (44–48); zu Baal-Hadad siehe BEHRINGER, Kulturgeschichte, 80. 69 BEHRINGER, Kulturgeschichte, 165–195. Auch die Taten der Hexen wurden als Folge der Verfehlungen betrachtet (180). Siehe auch S. PFISTER, Von der Hexenjagd zur Risikoprävention. Reaktionen auf Klimaveränderungen seit 1500, in: P. LUTZ/T. MACHO, Zwei Grad: Das Wetter, der Mensch und sein Klima, Göttingen 2008, 56–61, hier 59–60: Zwischen den 1580er und den 1630er Jahren traten außergewöhnlich viele extrem kalte Monate im Sommerhalbjahr auf und in diese Zeit fielen die hohen Opferzahlen durch Massenprozesse und Massenverbrennungen von Hexen.

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Auch weitere Wetterkatastrophen, wie etwa die Burchardi-Flut von 1634, welche die nordfriesische Küstenlandschaft stark veränderte, wurde als zornige Heimsuchung Gottes nach moralischen Verfehlungen verstanden70 und das Schema ist, wie wir oben gesehen haben, auch weit nach der Aufklärung noch heute im Zusammenhang mit dem Klimawandel auffindbar. Nicht nur das skizzierte religiöse Interpretationsschema trägt wirkungsgeschichtlich zur Erwartung einer vernichtenden Vergeltung für das industrielle Vergehen im eschatologischen Mythos der Klimakatastrophe bei (nur dass jetzt statt Gott die Natur selbst zum Souverän geworden ist). Vielmehr fördern weitere kulturelle Prädispositionen die Attraktivität des Katastrophischen und des damit einhergehenden hohen Nachrichtenwertes Negativität: Zum Beispiel das Medium Fernsehen, wo zahlreiche Reportagen das Drama der Hilflosigkeit nach Naturkatastrophen inszenieren und dabei beim Zuschauer Angstlust erzeugen – „der Zuschauer der Katastrophe genießt nicht das Leiden der anderen, sondern seine Distanz dazu […] die lustvolle Unbetroffenheit durch das Leid dort draußen fordert komplementär die ‚Betroffenheit‘ als politisch korrekte Haltung. Man konsumiert die Sensationen des Unheils.“71 Möglicherweise steckt aber hinter dem Gebannt-Werden durch das Katastrophale im Grunde ein archaisches Element aus der Entwicklungsgeschichte des modernen Menschen, der über Jahrtausende auf der Hut sein musste vor individuellen Katastrophen in Gestalt von Buschbränden, Säbelzahntigern, konkurrierenden Sippenverbänden u.s.f.: Die Antizipation der Umkehrung des Guten, der hellwache Blick auf die Möglichkeit einer katastrophalen Wende, begründete die Anpassungskraft und den Erfolg des homo sapiens. Das könnte den unwiderstehlichen Reiz, den das Katastrophale auf uns ausübt, ein Stück weit erklären.72

3. Kritische Perspektiven auf die aktuelle Remythisierung der Natur Die Praxis einiger Medien, im Anschluss an den drastischen Begriff der Klimakatastrophe wissenschaftsjournalistische Texte mit Elementen mythischer Rede aufzuladen, muss kritisch gewürdigt werden: Die Verwendung von Elementen wie „Orakel“, „Prophet“, „Sünde“, „Sintflut“, „Apokalypse“, beseelte und „zurückschlagende Natur“ mag zwar vom Standpunkt der ————— 70 M. JAKUBOWSKI-TIESSEN, „Erschreckliche und unerhörte Wasserflut“. Wahrnehmung und Deutung der Flutkatastrophe von 1643, in: M. JAKUBOWSKI-TIESSEN/H. LEHMANN (Hg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, 179–200. 71 N. BOLZ, Die Angstindustrie hat eine Religion erfunden. Chrismon 11, 2008, 34. 72 Vergleiche SONTAG, Methapern, 91f.: „Der Geschmack am Szenario des schlimmsten Falles verrät das unbewusste Bedürfnis, die Furcht vor dem als unbeherrschbar Erlebten zu meistern.“

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Nachrichtenwerttheorie als Erfolg zu bewerten sein, da diese Elemente als erratische Versatzstücke inmitten klimawissenschaftlicher und klimapolitischer Informationen beim aufgeklärten Leser einen Verfremdungseffekt erzielen und damit zusätzlich affizieren. Da mythische Rede aber aufgrund archaischer Wirkmechanismen immer dazu tendiert, durch Identifikation anstelle von rationaler Durchdringung zu orientieren, ist ihr bewusster Einsatz in wissenschaftsjournalistischen Texten kontraproduktiv. Sie vermag durch Verfremdung und Evozierung alter, angstbehafteter kultureller Prädispositionen Nachrichtenwerte zu erhöhen, stört aber damit reflexive und rationale Distanz. Gerade diejenigen, die unter dem Stichwort Klimatismus gegen das Heraufziehen einer vermeintlichen Klima-Religion polemisieren, machen diese Entwicklung immer wieder an der resonanten Ausmalung einer angstbefrachteten Klimakatastrophe durch die Medien fest.73 Allerdings ist es nicht widerspruchsfrei, wenn ausgerechnet professionelle Journalisten und Publizisten, die angesichts des aktuellen KlimawandelMainstreams mit einer medialen Fokussierung und Inszenierung ihrer abweichenden Meinung rechnen können, einen auf medialen Mechanismen beruhenden Klimatismus kritisieren. Andererseits meldet sich in der quasi-mythischen Projektion eines „Antwortverhaltens“ der Natur auf die technisch-industrielle Gesellschaft, wie wir es bei U.U. Frömming fanden, eine Reaktion auf einen schwerwiegenden Mangel der Moderne zu Wort. Es geht dabei um die einseitige historische Emanzipation der Sphäre des Kulturell-Sozialen (unter Einschluss der Technik) von der Sphäre der Natur. Ein von der Natur als unabhängig konstruiertes Entwicklungspotenzial des Kulturell-Sozialen gehörte im zwanzigsten Jahrhundert zu den quasi axiomatischen Voraussetzungen der Sozialund Kulturwissenschaften. R. Konersmann analysiert, wie noch bei Goethe, Herder und Alexander von Humboldt der Klimabegriff „Natur und Kultur in ein Verhältnis der Kohabitation“ bzw. „wechselseitiger Inklusivität“ ————— 73 Z.B. M. HORX in Cicero 11/2004, Die hysterische Gesellschaft: „In der Ökonomie der Aufmerksamkeit sind die Akteure auf drastische Bilder angewiesen. […] In Verbindung mit den modernen Medien wuchert so eine ‚Headline Amplified Anxiety‘ (Easterbrook), ein durch die Medien in ihrer verzweifelten Suche nach Auflage und Empörung verstärkter ‚Markt der Bedrängnis‘ (Pascal Bruckner), eine ‚Symbolindustrie der Angst‘.“ DERS. in Die Presse, 29.12.2007: „Die Klima-Religion ist der adäquate Kult einer Medien-Erregungsgesellschaft geworden“. BARTSCH, EDERER, HORX, LOTTER, MAXEINER, REICHHOLF, WEIMER in FAZ, 5.9.2007, Nr. 206, 35: „[…] kümmert es wenig, wie die Medien hysterische Stimmungen produzieren.“ BOLZ, Angstindustrie, 34, „So erfindet der Humanismus der Massenmedien die Menschheit als Gemeinschaft der Ängstlichen; er stiftet eine Ökumene der apokalyptischen Drohung.“ Siehe zum Religionsvorwurf auch J. JOFFE in DIE ZEIT, 18.10.2007 „‘Ich bin Dein Gore und Du sollst keine andere Götter haben neben mir.‘ Der Klimatismus als neue weltliche Religion“. M. FLEISCHHACKER in Die Presse, 4.5.2007: „Klimawandel als Religion“. G. BÖSS, WELTONLINE, 13.07.2007: „Klimaschutz. Die am schnellsten wachsende Weltreligion.“

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setze, das man heute als ökologisch zu bezeichnen hätte: „das ganze Beziehungsgeflecht, das sich zwischen Mensch und Natur immer schon entsponnen hat.“74 Im frühen neunzehnten Jahrhundert beginne jedoch „das klimaspezifische Zusammenspiel von Natur und Kultur“ zu erodieren: „Das Klima wurde zur verborgenen und schließlich vergessenen Dimension menschlicher Existenz.“75 Im Gefälle dieser Entwicklung liegt ein wesentliches Grundaxiom der Sozialwissenschaften seit E. Durkheim, das allerdings erst später zur konsequenten Wirkung kam. Es lässt sich mit dem Soziologen N. Stehr so charakterisieren: „Dort wo der Umweltdeterminismus aufhört, fangen die Sozialwissenschaften an. […] Die Trennung zwischen Sozial- und Naturwissenschaften wird in ihnen [sc. den Arbeiten Durkheims] zementiert und zelebriert.“76 Entsprechend ist die Geschichte der Sozial- und Kulturwissenschaften im zwanzigsten Jahrhundert in Teilen auch Auseinandersetzung mit Theorien weitgehender Naturdeterminierung des Menschlichen in Gestalt von Sozialdarwinismus, Rassismus, Klimadeterminismus und Soziobiologie. Die dabei leitende Prämisse war, dass der Wandel zur modernen Gesellschaft und zu erstrebenswerten Lebensbedingungen eine weitgehende Emanzipation von dem unmittelbaren Einfluss und von der Abhängigkeit von Umweltfaktoren einschloss. Die Befreiung vom […] Naturalismus ist daher eine Art von intellektueller Emanzipation.77

Zum Hauptthema für die Sozialtheoretiker wurde die Frage nach notwendigen gesellschaftlichen Voraussetzungen für soziale Ordnung, gerade nicht etwa nach Naturkräften als Erklärungsvariablen für gesellschaftliche Prozesse. Auch die akademische Theologie partizipierte an dieser Emanzipation von der Natur, wie der Wandel der Interpretation von Genesis 1,28 (Herrschaft des Menschen über die Erde – dominium terrae) exemplarisch zeigt. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert war der Mensch aus theologischer Perspektive noch mit der Natur Teil eines organischen Ganzen, das er zu respektieren hat und an dessen Vervollkommnung er als Mitwirkender bei der Schöpfung Verantwortung trägt. Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wird das dominium terrae und der Prozess seiner Vervollkommnung anders verstanden: Er findet als Selbstdarstellung und Identitätsbildung des Menschen durch Arbeit im Medium der Natur statt und Vervollkommnung geschieht als Lösung von aller Naturabhängigkeit. ————— 74 R. KONERSMANN, Unbehagen in der Natur. Veränderung des Klimas und der Klimasemantik, in: P. LUTZ/T. MACHO, Zwei Grad: Das Wetter, der Mensch und sein Klima, Göttingen 2008, 32–37, hier 33– 35, mit Belegen. 75 KONERSMANN, Unbehagen, 36. 76 N. STEHR/H. v. STORCH, Von der Macht des Klimas. Ist der Klimadeterminismus nur noch Ideengeschichte oder relevanter Faktor gegenwärtiger Klimapolitik? Gaia 9, 2000, 187–195. 77 Ebd.

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Dieser Prozess des Kulturstrebens setzt auf Naturwissenschaft und Technik als zentrale Mittel.78 Vor dem Hintergrund des menschgemachten Klimawandels ist jedoch die gesellschaftliche Konstruktion des Kulturell-Sozialen als unabhängig von der Natur zu einem anachronistischen Relikt geworden. Denn der menschgemachte Klimawandel und die Charakteristik der letzten zwei Jahrhunderte als Anthropozän79 bedeuten nichts anderes als die Erkenntnis einer massiven Einwirkung gesellschaftlicher Prozesse auf die Natur in Gestalt des Klimasystems und umgekehrt deren nicht weniger substanzielle Rückwirkung auf die Entwicklungsbedingungen des Sozialen. Genau diese Botschaft formuliert die quasi-mythische, auf das Ganze der Erde bezogene Rede von der Natur, die in Gestalt des Klimawandels auf den Umweltstoffwechsel der technisch-industriellen Zivilisation „antwortet“. Die Frontstellung der Emanzipation des Sozialen von der Natur ist obsolet, da der gesellschaftliche Stoffwechsel mit der natürlichen Umwelt diese in bestimmte Richtungen gezwungen hat und diese Pfade wiederum in massiver Weise auf die Entwicklungsmöglichkeiten der sozialen Systeme zurückwirken.80 Die Kultur- und Sozialwissenschaften beginnen gerade, ihre diesbezügliche Aufgabe zu avisieren.81 ————— 78 U. KROLZIK, Die Wirkungsgeschichte von Genesis 1,28, in: G. ALTNER (Hg.), Ökologische Theologie. Perspektiven zur Orientierung, Stuttgart 1989, 149– 163. 79 Über die oben genannte Definition des Anthropozän hinaus rechnet der Paläoklimatologe W. Ruddiman sogar die Periode seit ca. 8000 Jahren bereits zum Anthropozän. Denn seit der neolithischen Revolution vor 8000 Jahren, bei der durch Fällung von Bäumen und die einsetzende Landwirtschaft in substanzieller Weise die Treibhausgase CO2 und CH4 frei wurden, und seit dem Beginn des bewässerten Reisanbaus in Indochina vor 5000 Jahren, der ebenfalls CH4 freisetzte, seien die entsprechenden atmosphärischen Konzentrationen dieser Treibhausgase nach einer Phase des Absinkens deutlich angestiegen. Dadurch sei der durch die astronomischen Erdparameter (MilankovicParameter) vorgegebene Weg in die nächste Eiszeit durch menschliche Aktivität gestoppt und bereits in einen Erwärmungstrend umgedreht worden. Siehe RUDDIMAN, Humans, 46–53. Allerdings gibt es gegen diese interessante These gewichtige naturwissenschaftliche Einsprüche, siehe E. JANSEN et al., Palaeoclimate, in: S. SOLOMON et al. (Hg.), Climate Change 2007: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Fourth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Cambridge/New York 2007, 460. 80 Daher folgert KONERSMANN, Unbehagen, 37, ganz richtig: „Die Natur – das ist die Lehre des Klimas – hat aufgehört, etwas Gleichgültiges zu sein.“ STEHR/VON STORCH, Klimadeterminismus, 187–195: „Der Emanzipation der Gesellschaft von der Natur folgt die paradoxe Entwicklung, dass diese Emanzipation eine neue Abhängigkeit schafft, wie etwa im Falle des anthropogenen Klimawandels.“ 81 Siehe den Aufruf der Kulturwissenschaftler L. HEIDBRINK, C. LEGGEWIE und H. WELZER: „Von der Natur- zur sozialen Katastrophe“ in: DIE ZEIT vom 1.11.2007, Nr.45: „Schwere Verwerfungen, die vom Klimakrieg in Darfur bis zum Verlust der Überlebensräume der Inuit reichen, demonstrieren die Körper- und Raumlosigkeit sozial- und kulturwissenschaftlicher Theorien; es ist Zeit, dass sie aus der Welt der Diskurse und Systeme zurückfinden zu den Handlungen und Strategien, mit denen soziale Wesen ihr Dasein zu bewältigen suchen.“ Für die Autoren sind die Folgen des Klimawandels „ein Gegenstand der Sozial- und Kulturwissenschaften“. Siehe auch C. LEGGEWIE/H. WELZER/L. HEIDBRINK, KlimaKultur – ein transdisziplinärer Projektverbund, in: P.

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So gibt es einerseits eine horizonterweiternde Botschaft des Mythos von der antwortenden Natur, die in Gestalt des Klimawandels eine unübersehbare Herausforderung und insofern auch Randbedingung für die weitere gedeihliche Entwicklung der sozialen Systeme setzt. In poetischer Rede, oder allgemeiner im Medium der Kunst, sind mythische Elemente, die ein Antwortverhalten der Natur bzw. des Klimas darstellen, keinesfalls zu kritisieren. Sie können einen unverzichtbaren emotionalen Anschub beitragen, der aus der Betrachtung des Ganzen kommt.82 Denn der ganzheitliche, kosmologische Horizont gehört zur Charakteristik mythischer Rede.83 Anders verhält es sich mit Texten, die anzeigen, dass in ihnen natur- und sozialwissenschaftliche oder ökonomische Sachverhalte zur Darstellung kommen sollen – hier lenkt das unmittelbar Affizierende des Mythischen von der reflexiven und rationalen Distanz ab. Anteile an beiden Bereichen, dem rationalen und dem mythischen, hat der schillernde Leitbegriff des Klimawandelthemas im öffentlichen und politischen Diskurs in Deutschland, der Begriff der globalen Klimakatastrophe. Die Klimakatastrophe wurde als sich „bereits anbahnende“ globale Katastrophe schon mit der Gegenwart verbunden. Einerseits ist Katastrophe auch ein rationaler Begriff für die zerstörerische Umkehrung des Geordneten, der Inbegriff von Verderbnis. Andererseits wurde die Bedeutung von „Klimakatastrophe“ durch die assoziierten Begriffe Klimaapokalypse, Sintflut, Strafgericht u.s.f. weiter mythisch angereichert. Der Begriff erscheint sowohl sachlich wie aufgrund der mythischen Konnotationen ungeeignet, den Klimawandel rational zu beschreiben. Die wichtigsten Gründe dafür sind: – Bei vielen Rezipienten des bereits in die Gegenwart projizierten Begriffs der Klimakatastrophe verschwimmt die fraglose Existenz von Wetterkatastrophen lokalen oder regionalen Ausmaßes mit dem, was auf der Ebe————— LUTZ/T. MACHO, Zwei Grad: Das Wetter, der Mensch und sein Klima, Göttingen 2008, 176–182. Schon 1980 hatten sich G. Böhme und J. Grebe für das Konzept einer sozialen Naturwissenschaft ausgesprochen, in dem es – unter dem Bild des Stoffwechsels mit der Umwelt – um einen Entwurf von Reproduktionszusammenhängen geht, „in dem gesellschaftliche Ziele mit den Möglichkeiten der Natur abgestimmt werden“ (G. BÖHME/J. GREBE, Soziale Naturwissenschaft. Über die wissenschaftliche Bearbeitung der Stoffwechselbeziehung Mensch-Natur, in: G. BÖHME, Alternativen der Wissenschaft, Frankfurt 1980, 245–270, hier 261). 82 In diesem Sinne ist wohl der Titel des Buchs von J. LOVELOCK, The Revenge of Gaia. Earth’s Climate Crisis and the Fate of Humanity, Basic Books, 2006, zu verstehen, das auf Lovelocks website noch mit dem Untertitel „Why the Earth is Fighting Back – and How We Can still Save Humanity“ angekündigt wurde (www.ecolo.org/lovelock/lovebioen.htm). Lovelock nutzt im Zusammenhang seiner Gaia-Theorie mythische Konnotationen, um hervorzuheben, dass er das Ganze der planetaren Physis thematisieren will. Im Inneren des Buchs folgt sofort die Entmythologisierung: „I call Gaia a physiological system because it appears to have the unconscious goal of regulating the climate and the chemistry at a comfortable state for life“ (ib., 15). 83 Siehe STOLZ, Umgang, 84: Mythen „rechnen mit einem Kosmos; aber sie erhellen ihn nur partiell. “

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ne des planetaren Klimasystems passiert. Letzteres kann für sich genommen weder heute noch zukünftig Merkmale des Katastrophalen aufweisen, da sich die Katastrophe immer nur – in Abhängigkeit von Verwundbarkeit und Anpassungskraft – in den sozialen und ökologischen Systemen einstellt, nie auf der Ebene des planetaren Klimasystems selbst.84 Dass der Klimawandel in diversen Regionen aufgrund der gegebenen Verwundbarkeit der ökologischen und sozialen Systeme zu immer stärkerem Anpassungsdruck und auch zu irreversiblen Schäden führen kann, ist Forschungskonsens. In solchen regionalen Systemen kann es in der Zukunft somit zu katastrophalen Auswirkungen kommen, wenn die Anpassungsfähigkeit nicht gesteigert und der Klimawandel nicht reduziert werden kann. Katastrophale Auswirkungen globalen Ausmaßes können für die Gegenwart jedoch nicht identifiziert werden. – Die mythische Aufladung, die mit dem Begriff Klimakatastrophe gegeben ist, evoziert mit archaischen Angstbildern verknüpfte Untergangsphantasien. Diese Angstbesetzung stört die rationale Distanz und die Gestaltungszuversicht, die gebraucht werden, um Gesellschaft, Politik und Ökonomie so umzusteuern, dass die Anpassung gesellschaftlicher Strukturen an den Wandel rational geplant und die Emission von immer mehr Treibhausgasen zurückgefahren werden können. Vergessen wird beim Katastrophentenor auch, dass der Klimawandel in einigen Regionen und für einige sozioökonomische Sektoren wahrscheinlich auch Vorteile gegenüber der Gegenwartslage bringen wird.85 – Abseits von der Hervorrufung archaischer Ängste werden bei vorwiegend skeptisch-rational eingestellten Zeitgenossen gegenteilige Haltungen ausgelöst: Aufgrund zu häufiger Wiederholung, dadurch verursachter alarmistischer Abnutzung und einer irrealen Projektion in die Gegenwart erscheint diesen Zeitgenossen die Rede von der Klimakatastrophe vollkommen überzogen und geradezu „entwirklicht“. Schlägt das Pendel in völlige Skepsis aus, so kann es zu einer relativierenden Fehleinschätzung der tatsächlichen Herausforderung des Klimawandels kommen. Denn tatsächlich sind alle Wissenschaften sowie alle gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Kräfte zu einer globalen, konzertierten Anstrengung zur Vermeidung eines an Tempo und Intensität gesteigerten Klimawandels herausgefordert.

————— 84 Entsprechend ist auch die Rede von „Klimaschutz“ zu interpretieren – schutzbedürftig sind jedenfalls die ökologischen und sozialen Systeme, nicht das Klima. 85 Beispiele: Die Nordverschiebung der Isothermen könnte für Regionen der hohen Breiten, etwa Skandinavien, Sibirien oder Kanada, reduzierte Heizkosten im Winter, verbesserte Bedingungen für Land- und Forstwirtschaft oder den Tourismus bringen.

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Gerd Theißen

Neutestamentliche Christologie und modernes Bewusstsein1

Wer neutestamentliche Texte historisch-kritisch liest, stößt immer wieder auf ein zentrales Problem: den Widerspruch zwischen dem Selbstverständnis der gedeuteten Texte und deren moderner Analyse. Dieser hermeneutische Konflikt hat drei Aspekte.2 Historische Fragestellung deckt erstens die Relativität der Überlieferungen von Jesus auf. Angesichts der Wunder Jesu ruft die Menge im Neuen Testament: „Das haben wir noch nie gesehen!“ (Mk 2,12). Der Historiker ergänzt: Das hat es schon oft gegeben, oder genauer: Das hat man sich schon oft erzählt. Er gibt sich erst zufrieden, wenn er die Gestalt Jesu in viele Analogien und Parallelen eingebettet hat, teils um sie für den modernen Menschen zu deuten, teils um sie modernisierenden Umdeutungsversuchen zu entziehen. Das Neue Testament aber insistiert darauf, dass die Gestalt Jesu analogielos und einzigartig ist. Historische Forschung fragt zweitens nach der Bedingtheit geschichtlicher Phänomene. Es ist ihre Pflicht, Überlieferungen aus ihrem realen Lebenszusammenhang, d.h. aus den damaligen sozialen, ökonomischen, politischen und psychischen Bedingungen heraus verständlich zu machen. Sie neigt daher dazu, Texte als Widerspiegelung traditionsgeschichtlicher Abhängigkeiten, sozialer Spannungen oder psychischer Konflikte zu deuten. Das Neue Testament dagegen versteht die Christusüberlieferungen als Wiedergabe unableitbarer göttlicher Offenbarung. Die Frage ist: Offenbaren sich im Neuen Testament die Absichten Gottes oder gesellschaftliche Spannungen und unbewusste Konflikte? ————— 1 Antrittsvorlesung vom 29.10.1980 an der Universität Heidelberg. Ihre Gedanken habe ich ausgearbeitet in: G. THEISSEN, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1983 = Biblical Faith. An Evolutionary Approach, London 1984 = Philadelphia 1985; Come cambia la fede. Una prospettiva evoluzionistica, Torino 1999; La fe bíblica. Una perspectiva evolucionista, Estella 2002. Eine russische Übersetzung erscheint ca. 2009. Die Antrittsvorlesung wird hier ohne Änderungen wiedergegeben. Nur die Rechtschreibung wurde angeglichen und im Manuskript vorhandene Notizen für eine zukünftige Überarbeitung ausgeführt. Diese Antrittsvorlesung wird hier zum ersten Mal veröffentlicht, nachdem ein Versuch, sie vor 29 Jahren zu veröffentlichen, scheiterte. 2 Der Begriff des „hermeneutischen Konfliktes“ stammt von P. RICŒUR, Die Interpretation (frz. 1965), Frankfurt 1979, 70; DERS., Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen II (frz. 1969), München 1974, 196ff.

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Ein dritter Aspekt des hermeneutischen Konfliktes ergibt sich aus den zuvor genannten: Moderne Forschung deutet notwendigerweise immanent, d.h. aufgrund von Analogien und Korrelationen, durch Beziehung auf Bekanntes und Vertrautes. Dass eine historische Gestalt grundsätzlich das Feld des Bekannten und Vertrauten verlässt und eine prinzipiell fremde Welt eröffnet, muss modernen Prämissen zutiefst widersprechen. Eben das aber behauptet das Neue Testament. Jesus ist ihm der Offenbarer schlechthin. Er macht einen Bereich zugänglich, der bisheriger menschlicher Geschichte unzugänglich war und nur durch ihn zugänglich wurde. Es kann kein Zweifel daran bestehen: Zwischen modernem Bewusstsein und neutestamentlichem Selbstverständnis herrscht ein tiefgreifender hermeneutischer Konflikt. Relativität, Bedingtheit und Immanenz sind fast apriorische Kategorien des modernen Bewusstseins.3 Das Bewusstsein der Einzigartigkeit, Unbedingtheit und Offenbarung aber prägt die neutestamentliche Christologie. Ihren gemeinsamen Nenner hat sie in der Überzeugung, dass mit Jesus eine neue Welt beginnt, welche die alte Welt ablöst. Gerade dieser eschatologische Rahmen neutestamentlicher Christologie aber wird vom hermeneutischen Konflikt getroffen. Das eschatologische Bewusstsein hat Analogien: Viele erwarteten damals das nahe bevorstehende Weltende und ahnten seinen Anfang in gegenwärtigen Begebenheiten. Das eschatologische Bewusstsein hat Ursachen: Die apokalyptischen Erwartungen der Zeit reagieren auf den Konflikt zwischen Hellenismus und Judentum mit all seinen kulturellen, politischen, ökonomischen und sozialen Aspekten. Vor allem aber lässt sich das eschatologische Bewusstsein nur mühsam als Offenbarung verstehen. Die Naherwartung war ein Irrtum. Sollte Gott sich in Irrtümern offenbaren? Der skizzierte hermeneutische Konflikt ist das Schicksal jeder Theologie in moderner Zeit. Er ist der „garstig breite Graben“, von dem Lessing sprach.4 Ihn zu verharmlosen, wäre sinnlos. Man würde weder den Ansprüchen des Neuen Testamentes noch denen des modernen Bewusstseins ge————— 3 Vgl. E. TROELTSCH, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898), in: Gesammelte Schriften II, Tübingen 1913, 729–753. Troeltsch nannte drei Prinzipien des historischen Bewusstseins: Kritik, Analogie und Korrelation (734), die zu einer Relativierung von Absolutheitsansprüchen führen. Im Folgenden wird der erste Punkt, die Kritik an der Historizität des in den Quellen enthaltenen, nicht diskutiert. Nicht der historische Jesus, sondern die neutestamentliche Christologie steht zur Debatte. Ein Rückgang hinter die Texte ist nicht notwendig, um festzustellen, was das Neue Testament von Christus sagt und glaubt. G.E. LESSING, Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1977), in: Lessings Werke III, 4 hg. von K. WÖLFEL, Frankfurt 1967, 307–312. Dass Lessing nicht die oben skizzierte Problematik meint, ist mir bewusst. Sein „garstig breiter Graben“ zwischen zufälligen Geschichtswahrheiten und notwendigen Vernunftwahrheiten ist etwas anderes.

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recht. Vielmehr muss man tun, was jeder vernünftige Mensch ersucht, wenn er auf einen garstigen Graben stößt: Er versucht, eine Brücke zu bauen. Er kann dabei im Graben landen. Aber das sollte niemanden zur Schadenfreude verleiten. Der Versuch, den ich heute vortragen will, besteht in der Auswertung einer biomorphen Metapher: Der Mutationsbegriff soll als Modell neutestamentlicher Christologie dienen, um den hermeneutischen Konflikt argumentativ zu bearbeiten. Die Metapher stammt einerseits aus der modernen Wissenschaft, ist also diesseits des Grabens beheimatet, hat andererseits aber einen Anhaltspunkt jenseits des Grabens, im Neuen Testament: Jesus gilt hier als neuer Mensch, in dessen Bild wir verwandelt werden (1 Kor 15,44ff). Vielleicht zeigt diese Metapher einen Weg, den hermeneutischen Konflikt zu überwinden. Mancher wird diesem Weg freilich misstrauen. Die Verwendung von Metaphern führt ins schwer durchschaubare Zwischenreich von Poesie und Realität, Phantasie und Wirklichkeit.5 Für theologisches Nachdenken sind Metaphern und Bilder jedoch unerlässlich. Das zeigen die Gleichnisse Jesu. So wie seine Bilder aus dem Erfahrungsmaterial seiner Zeit schöpfen, so muss es erlaubt sein, mit dem Erfahrungsmaterial unserer Zeit neue theologische Metaphern zu entwerfen und zu gestalten. Metaphern verwirren durch zwei Eigenschaften: Sie sind (1) Übertragungen von einem bildspendenden auf einen bildempfangenden Bereich. Ob sie erhellend sind, hängt davon ab, ob zwischen beiden Bereichen eine partielle Strukturverwandtschaft bei gleichzeitiger Distanz besteht. Die Gefahr ist groß, dass das Denken archaischem Analogiezauber verfällt und oberflächliche Parallelen auswertet, anstatt erhellende Modelle zu entwerfen. Metaphern bringen (2) zugleich Sachverhalte und Wertungen zum Ausdruck. Die wertende Sprache von Poesie, Liebe und Religion ist voll von Metaphern. Ihre appellative Wärme verschmilzt, was kritische Analyse gerne auseinander halten möchte: Aussage und Stellungnahme, Deskription und Appell. Die Gefahr ist groß, dass beim Gebrauch von Metaphern der Wunsch Vater des Gedankens wird. Wir müssen auf beide Probleme eingehen. D.h. den kognitiven Gehalt der Metapher so klar wie möglich herausarbeiten und ihre appellativen Implikationen bewusst machen. Daraus ergeben sich vier Teile für unseren Vortrag. Einleitend soll zunächst die kognitive Struktur der Metapher dargestellt werden – zunächst unabhängig von ihrer Anwendung auf die hermeneutischen Probleme des Neuen Testaments. ————— 5 Zur Theorie der Metapher vgl. E. JÜNGEL, Metaphorische Wahrheit, in: P. RICŒUR/E. JÜNGEL, Metapher, Sonderheft EvTh 1974, 71–122; K.E. LØGSTRUP, Vidde og prægnans. Sprogfilosofiske betragtninger, Kopenhagen 1976, 74–94.

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In den beiden Hauptteilen soll dann der hermeneutische Konflikt von zwei Seiten her diskutiert werden. Erstens untersuchen wir die Frage, inwiefern die Mutationsmetapher das moderne Bewusstsein der Relativität, Bedingtheit und Immanenz integrieren und gleichzeitig Raum für das Selbstverständnis der Texte lassen kann. Wir beginnen hier den Brückenbau diesseits des Grabens, vom Standpunkt modernen Bewusstseins aus. Zweitens ist zu fragen: Wie kann das neutestamentliche Bewusstsein einer mit Christus eingetretenen Weltenwende mit Hilfe der Mutationsmetapher zum Ausdruck gebracht werden? Hier beginnen wir jenseits des Grabens. Abschließend soll auf einige Konsequenzen für die neutestamentliche Wissenschaft wie für das christliche Leben hingewiesen werden.

I. Zum kognitiven Gehalt der Mutationsmetapher Mutationen sind Veränderungen der genetischen Information, eine Neuorganisation von Nukleinsäuresequenzen.6 Die neukombinierten Elemente sind bei allen Lebewesen dieselben. Der genetische Kode ist universal. Die genetische Information bleibt in der Regel über den Generationswechsel hinaus konstant und garantiert so, dass alle Exemplare einer Art einander ähneln. Jedoch lässt die Natur einen kleinen Spielraum, eine Fehlergrenze, eine Variationsmöglichkeit. Die meisten Abweichungen innerhalb der genetischen Information führen zu Störungen des Organismus oder einer verringerten Lebenstüchtigkeit und setzen sich daher nicht durch. Ganz selten jedoch treten Mutationen auf, welche seine Funktionalität erhöhen. Die betreffenden Individuen erhalten eine größere Chance als andere, sich zu vermehren. Diese ungleiche Chance, genetische Information von einer Generation auf die andere zu übertragen, wird Selektion genannt. Wichtig ist: Während die Selektion in eine bestimmte Richtung hin arbeitet – nämlich in Richtung auf eine erhöhte Funktionalität, sind Mutationen ohne Richtung. Sie geschehen zufällig. Man kann nicht voraussagen, wo und wann und in welcher Gestalt sie auftreten. Wohl gibt es neben den spontan auftretenden Mutationen auch induzierte – induziert durch Temperaturschwankungen, Strahlen oder Chemikalien. Aber auch diese Mutationen sind richtungslos, d.h. radioaktive Strahlen bringen keine Mutation hervor, die den Organismus leichter Strahlen ertragen lassen. Sie erhöhen vor allem die Quantität der Mutationen7 und damit indirekt die Chance, durch blinden ————— 6 Vgl. R.W. KAPLAN, Die Mutation als Motor der Evolution, in: H. v. DITFURTH (Hg.), Evolution II, Hamburg 1978, 13–29. R. SIEWING (Hg.), Evolution, Stuttgart 1978, 319–336; H. v. DITFURTH, Kinder des Weltalls, Hamburg o.J., 213–234: „Der Motor der Evolution“. 7 Einschränkend sei angemerkt, dass Mutagene bestimmte Mutationstypen hervorrufen, aber es handelt sich dabei nicht um an das Mutagen angepasste Typen; vgl. KAPLAN, Mutation, 21.

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Versuch und Irrtum zu einer höheren Strahlenverträglichkeit zu gelangen. Vom Resultat her gesehen kann man die produktiven Mutationen daher als Antwort auf ein Problem deuten, als habe ein bestimmtes Problem gerade die ihr angemessene Lebensform hervorgerufen. Die Evolutionstheorie erklärt jedoch diesen teleologischen Schein durch das Zusammenspiel von Mutation und Selektion,8 d.h. kausal und ohne teleologische Begriffe heranziehen zu müssen. Bildspendender Bereich der Mutationsmetapher ist also die biologische Evolution, bildempfangender Bereich die menschliche Geschichte. Soll eine Metapher Licht auf den metaphorisch benannten Gegenstand werfen, so muss es eine partielle Ähnlichkeit oder Kontinuität zwischen bildspendendem und bildempfangendem Bereich geben. In unserem Fall heißt das: Es muss eine Kontinuität zwischen biologischer Entwicklung und menschlicher Geschichte vorhanden sein. Dieses Postulat kann hier nicht entfaltet werden. Ich kann hier nur meine Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass die Evolutionstheorie auf dem jetzigen Stand unseres Wissens und Irrens am besten geeignet ist, die Einheit der Wirklichkeit begrifflich dazustellen,9 und d.h. eine durchgehende Kontinuität von der materiellen über die biologische bis zur kulturellen Evolution aufzuweisen, wobei jede Evolutionsstufe neue Prinzipien einführt.10 Die kulturelle Evolution entwickelt z.B. Technologien statt Organe, einsichtiges Lernen statt blinden Versuchens und Irrens, kontrollierbare Institutionen statt naturwüchsiger sozialer Beziehungen, obwohl wir nach wie vor vom Schicksal unserer Organe abhängig sind, oft blind drauf los versuchen und irren und unsere sozialen Beziehungen hin und wieder recht atavistisch gestalten. Man darf nie vergessen: Nach universalgeschichtlichen Maßstäben hat die kulturelle Evolution eben erst begonnen. Verglichen mit den Jahrmillionen der Gesamtevolution ist die überschaubare menschliche Geschichte fast wie ein Nichts.11 Universalgeschichtlich gesehen sind wir immer noch fast ————— 8 Hinzu kommen weitere Evolutionsfaktoren, vor allem die Populationsgröße und lokale Separation sowie die effektivere Ausnutzung der Mutationen durch die Sexualität; vgl. G. OSCHE, Evolution, Freiburg 1972, 41f. 9 Hierzu muss ich auf H. v. DITFURTH, Im Anfang war der Wasserstoff, Hamburg 1972; C. BRESCH, Zwischenstufe Leben. Evolution ohne Ziel?, München 1977, verweisen. 10 Eine Zusammenstellung von Merkmalen der kulturellen Evolution findet sich bei OSCHE, Evolution, 110f, und G. VOLLMER, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1975, 84–86. Die Eigenständigkeit der kulturellen Evolution zeigt sich schon in der Steinzeit; vgl. G. FREUND, Evolution der Kulturen, in: SIEWING (Hg.), Evolution, 397–410. 11 Nach dem bekannten Vergleich der bisherigen Weltzeit nach dem „Urknall“ mit einem Tag von 24 Stunden träte der Mensch mit der letzten Minute auf. Stellt man sich nun wiederum die menschliche Geschichte – also diese letzte Minute – als einen Zeitraum von 50 Jahren vor, so hätte homo sapiens 39 Jahre in Höhlen gewohnt, hätte vor etwa drei Jahren mit der Agrarwirtschaft begonnen, vor zwei Jahren die großen Religionen gegründet, vor etwa 15 Monaten die Druckerpresse erfunden und vor 10 Tagen die Elektrizität entdeckt. Das Beispiel hier nach F. HACKER,

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gleichzeitig mit dem Erwachen der Menschheit in den altorientalischen Zivilisationen, ihrer Transformation in Griechenland und Israel, der Verschmelzung beider Traditionsbereiche in der hellenistisch-römischen Welt sowie deren Tradierung und Wiederbelebung in der europäischen Geschichte – bis hin zu den Revolutionen der Neuzeit. Im Grunde stehen wir noch immer im Übergang zwischen biologischer und kultureller Evolution. Das letzte Jahrhundert suchte angestrengt nach dem „missing link“ zwischen Primaten und Menschen, zwischen biologischer und kultureller Evolution (und die meisten Theologen hofften, es ließe sich nicht finden). Unser Problem ist anders: Wir erleben uns selbst als „missing link“, als Übergang vom Tier zum wahren Menschen. Das mag unsere anthropozentrische Eitelkeit verletzen, die sich gerne als unüberbietbare Krone der Schöpfung auffasst. Es ist aber auch eine Hoffnung angesichts der erschreckenden Ausartungsbereitschaft des Menschen, wie sie gerade in unserem Land offenbar geworden ist. Es ist eine Hoffnung, dass der Mensch, der für Auschwitz verantwortlich ist, möglicherweise nur ein Übergang ist. Das Urchristentum gehört zu den wenigen Gruppen, welche diesem Übergangsbewusstsein schon früh Ausdruck verliehen haben. Das Neue Testament sagt: „es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden“ (1 Joh 3,2). „Die Sehnsucht der Schöpfung wartet auf das Offenbarwerden der Herrlichkeit der Söhne Gottes“ (Röm 8,19). Sind wir aber ein Übergang im Strom der Evolution, so ist das Auftreten neuer Gestalten des Lebens nicht nur denkbar, sondern wahrscheinlich.12 Zumal die kulturelle Evolution durch eine unheimliche Beschleunigung von Metamorphosen auf vielen Gebieten gekennzeichnet ist: Für den Bereich des Erkennens hat man den Mutationsbegriff schon als Metapher verwandt, um jene plötzlichen Paradigmenwechsel zu erfassen, in denen traditionelle Erkenntnisse neu kombiniert werden und alles in ein neues Licht setzen.13 Bei der Entwicklung menschlicher Verhaltensweisen gibt es ähnliche Sprünge, z.B. die ersten demokratischen Experimente in Griechenland. Nichts spricht dagegen, auch sprunghafte Veränderungen unserer tiefsten Einstellungen zur Gesamtwirklichkeit als Mutationen des religiösen Bewusstseins zu verstehen: Nicht nur dies oder jenes, die ganze Wirklichkeit wird plötzlich in neuem Licht erfah————— Aggression, Hamburg 1973, 351. Dagegen ist die biblische Zeitrechnung 1000 Jahre gleich ein Tag (Ps 90,4; 2 Petr 3,8) ein blasser Euphemismus – auch dann, wenn man andere Berechnungen zugrunde legt. 12 Ich gebe einige beliebige Beispiele für die Verwendung der Mutationsmetapher für Phänomene der kulturellen Evolution: v. DITFURTH, Kinder, 226, denkt an den Einfall menschlicher Phantasie, FREUND, Evolution, 409, an das Auftreten neuer Formen von Werkzeugen in der Steinzeit, K. LORENZ (in HACKER, Aggression, 138), an das Aufbegehren der Jüngeren gegen die Kultur der Eltern. 13 So C.F. v. WEIZSÄCKER, Die Rückseite des Spiegels, gespiegelt, in: DERS., Der Garten des Menschlichen, München 1977, 187–205, dort 196ff unter Berufung auf K. Popper.

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ren. Im Urchristentum geschah nun solch eine plötzliche Umstrukturierung unseres Bewusstseins. Sie wird im Neuen Testament auf die Gestalt Jesu zurückgeführt. Will man mit modernen Begriffen ausdrücken, was das Neue Testament von Jesus sagt, so liegt m.E. die Mutationsmetaphorik am nächsten. Zu fragen ist freilich, ob es sich dabei nur um einen mehr oder weniger illustrativen Vergleich handelt – oder ob diese Metaphorik analytische Kraft besitzt, um den hermeneutischen Konflikt zwischen modernem Bewusstsein und neutestamentlichem Selbstverständnis zu artikulieren, zu bearbeiten und womöglich zu überwinden. Wir beginnen mit unseren Überlegungen zunächst diesseits des „Grabens“ und behandeln die Mutationsmetapher als Ausdruck modernen Bewusstseins.

II. Die Mutationsmetapher als Ausdruck modernen Bewussteins Zu zeigen ist, dass die christologische Mutationsmetapher in der Lage ist, die drei Aspekte modernen Bewusstseins – Relativität, Bedingtheit und Immanenz – voll zu integrieren, ohne den Zugang zum neutestamentlichen Selbstverständnis zu verbauen. Wir besprechen die drei genannten Punkte nacheinander.

1) Das Problem historischer Relativität Historisch-kritische Forschung hat unglaublich viele Analogien zu allen Aussagen des Neuen Testaments gesammelt. Selbst so zentrale Aussagen wie die von der Feindesliebe haben ihre Parallelen. Epiktet sagt, der Kyniker solle den wie seinen Bruder lieben, der ihn schlägt (diss. III, 22,54). Man kann sagen: Fast alle Elemente des Neuen Testaments haben ihre Parallelen. Manche Exegeten scheinen es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, bei solchen Parallelen nun doch im Einzelnen die Überlegenheit und Einzigartigkeit des Neuen Testamentes nachzuweisen. Das ethisch Bedenkliche ist, dass dabei andere Aussagen oft unzulässig abgewertet werden. Man denke nur an die vielen abwertenden Urteile über das damalige Judentum, von dem sich dann Jesus umso strahlender abheben soll. Versteht man die Gestalt Jesu aber als Mutation menschlichen Daseins, so wird man von vornherein damit rechnen müssen, dass alle Elemente durch und durch traditionell sind. Mutationen bestehen per definitionem in Neukombination traditioneller Elemente. Die Evolution arbeitet mit dem Vorhandenen. Und sie ist fähig, aus Vorhandenem erstaunlich Neues zu schaffen. Man wird daher die Suche nach Analogien rückhaltlos bejahen können, ohne das

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Neue bei Jesus in Frage stellen zu müssen: Es liegt nicht in den einzelnen Elementen, es liegt in deren Kombination. Ja, man wird die Suche nach Parallelen grundsätzlich positiv werten. Zeigen Parallelen doch, dass in Jesus universale Tendenzen zum Ausdruck kommen, jene Tendenzen, welche die alten Apologeten den lógos spermatikós nannten, der überall auf Jesus hinweist.14 Historischer Relativismus beruft sich jedoch nicht nur auf Analogien zu einzelnen Elementen und Traditionen. Auch die Gesamterscheinung Jesu hat gewisse Analogien: andere Gestalten, die wie eine Offenbarung wirkten oder einen entsprechenden Anspruch erhoben. Man denke etwa an den Lehrer der Gerechtigkeit. Auch solche Parallelerscheinungen lassen sich von der Mutationsmetaphorik her integrieren. Es zeigt sich ja immer wieder, dass es Parallelmutationen gibt,15 sei es, dass sie in die dieselbe Richtung weisen, sei es, dass sie alternative Entwicklungsmöglichkeiten aufweisen. In der Tat ist zu erwägen, ob die 500 Jahre bis zu Christi Geburt nicht eine „Achsenzeit“ (K. Jaspers)16 bilden, in der verschiedene neue Gestalten menschlichen Lebens auftraten: die Propheten und Sokrates, Buddha und Jesus, Gestalten, die bis heute paradigmatischen Wert haben und immer eine Transformation menschlichen Verhaltens und Erlebens bewirkt haben. Solche kulturellen Parallelmutationen stellen uns entweder vor die Aufgabe, uns zwischen ihnen zu entscheiden oder ihre divergierenden Ansätze zu integrieren. Halten wir fest: Die Mutationsmetaphorik erlaubt es uns, den historischen Relativismus ohne Vorbehalt zu akzeptieren, ohne deshalb die Einzigartigkeit Jesu und des durch ihn bewirkten Wandels menschlicher Überzeugungen bestreiten zu müssen. Die Möglichkeit bleibt offen, dass seine Einzigartigkeit zu einer singulären Entscheidung herausfordert. Auch das Neue ist immer nur eine Rekombination des Alten – und ist doch deswegen nicht weniger neu. 2) Das Problem der historischen Bedingtheit Das Problem historischer Bedingtheit tritt heute besonders scharf ins Bewusstsein, je mehr man nach den sozialen und psychischen Faktoren hinter den neutestamentlichen Texten fragt. Dass zwischen dem Auftreten Jesu und einer Krise der jüdisch-palästinischen Gesellschaft ein intimer Zusammenhang besteht, ist mir evident. Es stellt sich daher mit Recht die Frage: ————— 14 15 16

Vgl. die Stellensammlung bei E. SPIESS, Logos Spermatikos, Leipzig 1871, 2–5. OSCHE, Evolution, 36 und 73. K. JASPERS, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949.

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Ist das Urchristentum Widerspiegelung sozialer Krisen? Ist es gar nur illusionäre Reproduktion der Widersprüche antiker Sklavenhaltergesellschaft, wie die marxistische These lautet?17 Nun gibt es zwei gute Argumente gegen die deterministische Krisendeutung des Urchristentums. Einmal wurzeln in derselben palästinischen Situation ganz verschiedene religiöse Bewegungen: Essener, Pharisäer, Zeloten und die von Jesus ins Leben gerufene Bewegung. Zweitens aber erstreckt sich dieselbe Bewegung über ganz verschiedene Gebiete: Sie verbreitete sich bald auch außerhalb Palästinas unter anderen Bedingungen als im Ursprungsland. Wenn aber dieselbe Ursache (also dieselbe soziale Situation) ganz verschiedene Wirkungen hat, umgekehrt aber dieselbe Wirkung in verschiedenem ursächlichem Zusammenhang auftreten kann, so können die erkennbaren sozialen Ursachen nicht ausreichen, die konkrete Gestalt der neuen Bewegung zu erklären. Vielmehr scheint die Situation einen Spielraum zu lassen, der verschiedene Antwortmöglichkeiten offen lässt. Überzeugte Deterministen brauchen sich damit freilich nicht zufrieden zu geben. Sie können mit zwei Argumenten kontern: Erstens mit dem Argument der Quellenlage. Es lautet: Wüssten wir über die konkreten sozialen Hintergründe mehr, so könnten wir auch ihre unterschiedliche Gestalt soziologisch erklären. Was uns als Offenheit der Situation erscheint, sei in Wirklichkeit mangelndes Wissen um die Situation. Das Argument ist unwiderlegbar; nur hilft es nicht weiter, weil die Gegenthese genauso unwiderlegbar ist. Es kommt darauf an, wer plausibel machen kann, dass der andere die Beweislast zu tragen hat. Damit sind wir beim zweiten, dem forschungsstrategischen Argument: Der deterministische Standpunkt könnte geltend machen, dass er forschungsstrategisch fruchtbarer ist. Bei deterministischen Prämissen wird man immer weiter nach ursächlichen Zusammenhängen und Korrelationen forschen. Ein konsequenter Indeterminist könnte dagegen die Hände in den Schoß legen. Mit der Beschreibung des Phänomens wäre die Arbeit getan. Freilich ist auch dieses Argument nicht überzeugend: Der konsequente Determinist weiß im Allgemeinen von vornherein recht gut, was die prima causa geschichtlichen Geschehens ist und kann sich daher Einzelargumente ersparen. Ob man nun die neutestamentliche Geschichte a priori als Offenbarung Gottes oder als Offenbarung antiker Klassenkämpfe wertet – extreme Positionen sind forschungsstrategisch in gleicher Weise steril. ————— 17 So M. ROBBE, Der Ursprung des Christentums, Leipzig 1967, 219f, eine nichtmarxistische Deutung habe ich vorgelegt in: G. THEISSEN, „Wir haben alles verlassen“ (Mc X,28), in: Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 1979, 106–141, und in: DERS., Soziologie der Jesusbewegung, TEH 194, München 1977.

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Quellenlage und Forschungsstrategie scheinen einen Mittelweg zu empfehlen: die Suche nach determinierenden Faktoren – bei gleichzeitiger Annahme von Spielräumen, vor allem aber Offenheit gegenüber jedem sich aus den Quellen aufdrängenden Ergebnis. Die Argumente halten sich die Waage. Ein abschließendes Urteil scheint nicht möglich zu sein. Vielleicht kann die Mutationsmetaphorik durch einen Schluss a minori ad maius weiterhelfen. Nach allem, was wir derzeit wissen, treten Mutationen spontan und unvorhersagbar auf.18 Wohl gibt es induzierte Mutationen. Bei ihnen lässt sich jedoch nur die Häufigkeit, nicht die Richtung ursächlich bestimmen. Wenn aber schon innerhalb der biologischen Evolution mit einem nicht völlig determinierten Spielraum zu rechnen ist, ja gerade in diesem kleinen Spielraum, dieser Fehlergrenze und Unschärfe, das Geheimnis der schöpferischen Entwicklung zu suchen ist, um wie viel mehr gilt das für die kulturelle Evolution, die in ihrem Erscheinungsbild unverkennbar mehr Offenheit, Flexibilität und Innovationsfreudigkeit zeigt. Um es möglichst drastisch auszudrücken: Jene Spontaneität und Unvorhersagbarkeit, die wir den Mutationen in den Bakterienkulturen unserer Laboratorien zugestehen, sollten wir auch den großen schöpferischen Impulsen innerhalb unserer eigenen Kultur zuschreiben.19 3) Das Problem historischer Immanenz Historische Deutungen mit Hilfe von Analogie und Kausalität sind immanente Deutungen. Sie erklären die Geschichte aus sich selbst. Auch die Mutationsmetaphorik stellt die Gestalt Jesu zunächst konsequent in einen immanenten Zusammenhang, ja, sie hat einen ausgesprochen „materialistischen“ Zug, wenn sie menschliche Geschichte als Teil der allgemeinen Evolution begreift. Dennoch eröffnet gerade die Mutationsmetaphorik die Möglichkeit, mit einer über die bisherige Geschichte hinausgehenden Of————— 18 Natürlich wird auch bei den sogenannten „spontanen“ Mutationen nach möglichen Ursachen geforscht: natürliche Strahlen, Wärmebewegung der Moleküle, Enzymen; jedoch handelt es sich hierbei um mikrophysikalische einzelmolekulare Reaktionen, die statistischen Gesetzen unterliegen, jedoch nicht streng determiniert sind; vgl. KAPLAN, Mutation, 27f. 19 Damit soll die Frage nach ursächlichen Zusammenhängen keineswegs abgewertet werden. Im Gegenteil: Während wir in der biologischen Evolution nur mit blindem trial and error rechnen können, ist menschliche Geschichte durch bewusste Antwortversuche auf gegebene Situationen und Probleme gekennzeichnet, mögen diese Antwortversuche auch nach wie vor ein gutes Stück blinden Versuchs- und Irrtumslernens enthalten. Intendierte Problemlösungen aber müssen notwendigerweise eine große Affinität zu den Problemen zeigen, auf die sie antworten. Die Zusammenhänge mit der Situation müssten also hier noch sehr viel deutlicher hervortreten – gerade deshalb, weil die Situation nicht nur blind wirkende Ursache, sondern bewusst registrierte Herausforderung (im Sinne von challenge and response) ist.

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fenbarung zu rechnen, wenn wir „Offenbarung“ als Erschließung von Bereichen definieren, die sonst prinzipiell unzulänglich waren – wobei zum vollen Offenbarungsbegriff natürlich gehört, dass diese unbekannte Wirklichkeit sich von sich selbst erschließt. Jede der großen produktiven Mutationen besteht in einer Erschließung eines neuen Lebensraumes, sei es durch Entwicklung neuer Organe, sei es durch Entwicklung neuer Verhaltensweisen, die neue ökologische Nischen bewohnbar machen. Man denke nur an die Eroberung des Landes durch das Leben oder die Erschließung der Nacht durch warmblütige Säugetiere. Lassen Sie mich eine kleine Fabel erzählen. Was würde wohl ein wechselwarmer Dinosaurier gesagt haben, wenn ihm eine Maus von den Geheimnissen der Nacht erzählt hätte – ihm, dem die Nacht so unzugänglich war wie dem Fisch das Land? Würde er nicht gesagt haben: „Kleine Maus, du bist so schwach und klein, dass ich dich tottreten könnte, ohne es zu merken. Was du erzählst, ist Unsinn und Torheit!“ Nehmen wir an, es handle sich um eine intelligente Maus, die Paulus gelesen hat – vielleicht würde sie antworten: „Ja, aber diese Torheit ist weiser als die Weisheit der Dinosaurier, und diese Schwäche ist stärker als die Stärke der Dinosaurier!“ Fabula docet: Wir können nicht ausschließen, dass wir uns in der Situation des Dinosauriers befinden, der Unglaubliches zu vernehmen meinte. Denn auch unsere Umwelt ist begrenzt. Was wir erleben, ist nicht die Welt an sich. Wenn wir den Grundgedanken einer umfassenden Evolution akzeptieren, so müssen wir aber mit der Möglichkeit rechnen, dass auch in unserem Lebensbereich (kulturelle) Mutationen auftreten, welche Erfahrungen in einem uns unzugänglichen Bereich vermitteln. Die Mutationsmetaphorik enthält so eine Offenbarungstheorie, d.h. sie weist die Möglichkeitsbedingungen von Offenbarung auf.20 Was auf diesem Wege erfahren wird, muss immer auf einer Selbsterschließung der sich offenbarenden Wirklichkeit basieren. Sie muss von sich her auf das Bewusstsein des Menschen in irgendeiner Form einwirken. Fassen wir vorläufig zusammen. Die christologische Mutationsmetaphorik integriert alle drei Elemente kritischen Bewusstseins: Relativismus, Bedingtheit und Immanenz – und legt doch gleichzeitig die Möglichkeit einer das Leben fordernden, unableitbaren und als Offenbarung erfahrenen Mutation nahe, ohne diese allgemeine Möglichkeit als Wirklichkeit behaupten zu können oder zu wollen. Eben das aber tut das Neue Testament. Es geht zweifellos über das hinaus, was wir als allgemeine Möglichkeit ahnen ————— 20 Dasselbe gilt natürlich nicht nur für außernormale kognitive Fähigkeiten, sondern auch für außernormale praktische Begabungen, z.B. für die Wundergabe, die Jesus zweifellos besessen hat, mag die Wundertradition diese auch gewaltig übersteigert haben. Solche Wundergaben sind kein singuläres Phänomen. Sie begegnen unvorhersagbar bei einigen Menschen.

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und vermuten können. Es behauptet, dass tatsächlich eine entscheidende „Mutation“ eingetreten ist. Wir gehen daher im zweiten Hauptteil vom Neuen Testament aus.

III. Die Mutationsmetapher als Ausdruck des neutestamentlichen Bewusstseins Wir stellen uns jetzt auf die andere Seite des Grabens. Alles bisher Gesagte könnte ja prinzipiell auf alle großen Neueinsätze innerhalb der kulturellen Evolution passen. Jetzt ist zu fragen: Passt die Mutationsmetapher auch zu diesem einen konkreten Neuansatz, von dem das Neue Testament zeugt? Ist sie geeignet, nicht nur dem modernen Bewusstsein, sondern auch der neutestamentlichen Christologie gerecht zu werden? Dabei verstehen wir unter Christologie eine Einheit von historischem Jesus und dem von ihm bewirkten kerygmatischen Christus als Gegenstand des Glaubens. Wir behandeln beides zusammen, weil beides im Neuen Testament miteinander verschmolzen ist: Wir entdecken im kerygmatischen (oder mythischen) Christus untilgbare Spuren des historischen Jesus und in den Überlieferungen von ihm die Aura des kerygmatischen Christus. Drei Aspekte neutestamentlicher Christologie seien in diesem Zusammenhang diskutiert: Christus gilt im Neuen Testament als Mitte der Schöpfung, als Vorwegnahme des Endes und als Widerspruch zur alten Welt. Er hat kosmische, antizipatorische und eschatologische Bedeutung. Es braucht nicht betont zu werden, dass damit nicht alle Aspekte neutestamentlicher Christologie genannt sind. 1) Zum kosmischen Aspekt neutestamentlicher Christologie Christus hat im Neuen Testament eine kosmische Funktion. Alles ist durch ihn geschaffen, alles ist auf ihn hin geschaffen. Er ist die Mitte der Schöpfung. Es ist unmöglich, über diese Aussagen hinwegzugehen – nicht nur deshalb, weil sie nun einmal im Neuen Testament stehen, sondern aus sachlichen Gründen. Religion ist sachlich ein Versuch, menschliches Leben als Antwort auf die Gesamtwirklichkeit zu leben.21 Symbole, die nicht für die Gesamtwirklichkeit transparent sind (sondern nur noch für die unbewussten Tiefen der Seele oder soziale Postulate) verlieren bald ihre religiöse Kraft. ————— 21 Vgl. etwa F. Schleiermachers berühmte Definition, Religion sei „Anschauung des Universums“, in: F. SCHLEIERMACHER, Über die Religion (1799), hg. von H.J. ROTHERT, Hamburg 1958, 31.

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Die christologische Mutationsmetapher kann nun insofern die kosmische Stellung Christi veranschaulichen, als sie nahe legt, nach evolutionären Tendenzen zu fragen, die in der Gestalt Christi zur Erscheinung kommen. Hier seien zwei einander entgegengesetzte Tendenzen genannt: die Tendenz zu immer größeren Einheiten und Bindungen auf der einen Seite und zu immer größerer Selbstständigkeit auf der anderen Seite. Tendenzen, die auch unabhängig von Christus erkennbar sind, die aber im Lichte der Christologie neu aufleuchten. Ich begnüge mich zum ersten Punkt mit dem Bekenntnis des Molekulargenetikers C. Bresch (1977), das man als Christ ohne Einschränkung übernehmen kann, auch wenn es nicht von Christus spricht:22 Elementarteilchen ziehen sich an, Atome gehen Bindungen ein, Zellen werden zur Menschheit. In allen Phasen der Evolution besteht das ewig gleiche Ziel, durch Vereinigung Teil eines Mehr zu werden. Bereitschaft zur Integration ist die Urkraft aller Entwicklung. Auf der Stufe des Menschen nennt man das ‚Liebe‘. Mehr Liebe zur Menschheit braucht der Mensch. Mehr Bereitschaft, sich in die Lage des anderen zu versetzen, mehr Barmherzigkeit für die Hilfebedürftigen, mehr Solidarität für den Schwachen, mehr Verantwortung jedes einzelnen für das Ganze.

Es bedarf keines langen Kommentars: Wenn dieses Bekenntnis eine Tendenz in der Wirklichkeit trifft, so hätten Christus und das Urchristentum einen wichtigen Platz in der Gesamtevolution. Denn hier findet sich eine Gesamtdeutung der Wirklichkeit, in der die Liebe Grund und Sinn des Universums ist. Die zweite Tendenz scheint der ersten zu widersprechen. Es ist die Tendenz nach schärferer Abgrenzung und Selbstständigkeit.23 Schon die chemische Evolution führt zu Elementen und Gebilden, die sich als Einheit gegen andere Einheiten behaupten können. Einzeller entwickeln eine Grenze zwischen Innen und Außen. Kompliziertere Organismen vergrößern zunehmend ihre Unabhängigkeit von der Umwelt. Der Mensch schließlich ist sich dessen bewusst, dass er sein Leben verantwortlich steuern muss – nicht von außen her, sondern von innen aus seinem Personzentrum her, auch gegen seine Umwelt und seine affektiven Impulse. Und auch hier tat Jesus einen entscheidenden Schritt, als er einerseits die Unabhängigkeit von sozi————— 22 23

BRESCH, Zwischenstufe Leben, 298. Vgl. v. DITFURTH, Im Anfang, 336ff.

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aler Außensteuerung in jenem „Ihr habt gehört – ich aber sage euch!“, forderte, andererseits aber die Freiheit gegenüber dem eigenen Inneren, als er die Verantwortung für spontane sexuelle und aggressive Impulse einschärfte (Mt 5,21ff). Die Spannung zwischen jener Verantwortung, die uns auch gegenüber der Gruppe und dem eigenen Innenleben distanzieren kann, und der Liebe, die uns mit allem verbindet, charakterisiert das Urchristentum und entspricht zwei kosmischen Tendenzen, die hier innerhalb der kulturellen Evolution ihre Fortsetzung finden. Christus setzt insofern vorhandene kosmische Tendenzen fort. Aber nicht nur das, er antizipiert auch Noch-nichtVorhandenes. Das führt zum zweiten Punkt: 2) Der antizipatorische Aspekt neutestamentlicher Christologie Die neutestamentliche Christologie ist vom Bewusstsein geprägt, dass Jesus nicht nur die Zukunft ankündigt, sondern in seiner Person antizipiert. Auch das lässt sich von der Mutationsmetapher her erfassen: Einen antizipatorischen Zug hat jede produktive Mutation. Antizipiert sie doch per definitionem zukünftige allgemeine Möglichkeiten. Als Illustration seien Beobachtungen am Industriemelanismus von Schmetterlingen genannt.24 Infolge der Industrialisierung färbten sich in einigen Gebieten Englands die Birkenwälder grau und schwarz. Die weißen Birkenspanner, die ansonsten die beste Schutzfarbe und Überlebenschance hatten, wurden nun leicht erkennbar und Opfer ihrer Feinde. Nun hatte es schon immer hin und wieder schwarze Mutationen gegeben, solange die Birkenwälder jedoch weiß waren, waren sie der Selektion zum Opfer gefallen. Nun aber erhielten sie die besseren Überlebenschancen. Nach und nach wurden die Schmetterlinge schwärzer. Die schwarze Farbe, die einmal dysfunktional war, erwies sich in einer geänderten Situation als Überlebenschance. Man ist versucht ein fabula docet hinzuzufügen: Jesus war solch ein schwarzer Schmetterling, der zunächst aus dem Weg geräumt wurde, dessen Daseinsform aber später eine Überlebenschance darstellen könnte. Seine Ethik der Feindesliebe schien ja in der bisherigen Weltgeschichte ein nicht praktizierbarer Traum zu sein. Aber es könnte eine Situation eintreten und sie ist wohl schon eingetreten, in der unser Überleben davon abhängt, wie weit es uns gelingt, zwischenmenschliche Aggression zu reduzieren und unsere Verhaltensweisen gegenüber dem Feind zu ändern. Der Faden der weiteren Evolution auf unserem Planeten liegt in unseren Händen. Wir sind für das Geschick der kulturellen Evolution verantwortlich. Wir sind verantwortlich dafür, dass sie ————— 24

Nach OSCHE, Evolution, 58.

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weiter gehen kann und die Erde bewohnbar bleibt. Wir wiederholen so in globalem Rahmen die Erfahrung Israels: Das gelobte Land ist nur bedingt verliehen, nämlich auf die Bedingung hin, dass bestimmte ethische Forderungen erfüllt werden. Die Missachtung der Gebote führt zum Exil. Nur dass uns bei Nichtachtung lebenserhaltender Gebote kein Exil erwartet, sondern das Ende – die Zerstörung menschlichen Lebensraumes durch einen globalen Krieg, der, mag er auch noch so wahrscheinlich erscheinen, doch nicht unvermeidbar ist. Die Evolution mutet uns heute einen Schritt über alles bisher Dagewesene hinaus zu: den Verzicht auf Krieg und Vernichtung. Das hat es noch nie gegeben. Wir haben eine so klar definierte Aufgabe, den Frieden,25 dass das Gerede von der totalen Orientierungskrise unter uns verstummen sollte. Rückblickend aber scheint es uns so, als antizipiere das Gebot der Feindesliebe – vor ca. 2.000 Jahren formuliert – eine Situation, die sich erst heute abzeichnet. Jesus erfüllt dann aber nicht nur schon vorhandene kosmische Tendenzen, sondern er antizipiert auch gegen die Wirklichkeit Noch-nicht-Vorhandenes. Ja, dieser Widerspruch gegen die vorhandene Wirklichkeit ist noch schärfer. Damit kommen wir zu einem eschatologischen Aspekt. 3) Ein eschatologischer Aspekt neutestamentlicher Christologie Nach allgemeiner neutestamentlicher Überzeugung geschah in Jesus nicht nur ein Neuansatz neben anderen. Sondern die entscheidende Wende von einer unheilvollen Welt zu einer neuen Schöpfung. Hier scheint die christologische Mutationsmetaphorik an ihre Grenzen zu stoßen. Mutationen geschehen immer wieder; und es scheint willkürlich zu sein, einer von ihnen einen entscheidenden Platz einzuräumen. Jedoch hat es faktisch entscheidende Neuansätze in der Evolution gegeben. Irgendwann einmal hat sich die erste lebende Zelle gebildet, alles folgende Leben in seiner Struktur bestimmt und damit den Übergang von materieller zu biologischer Evolution vollzogen. Damals gelang ein unwahrscheinlicher Schritt: In allen geschlossenen Systemen nimmt die Entropie zu, der Organisationsgrad nimmt ab. Die biologische Evolution aber konnte das Entropieprinzip unterlaufen (nicht aufheben), indem sie ständig neue Energie in der Umwelt abbaut wie in einem offenen System, das neue Energiezufuhr erhält. Die Erde ist gegenüber der Sonne und ihrer Energie ein offenes System. Die Frage ist nun, ob solch ein einschneidender Schritt über das Bisherige hinaus noch einmal ————— 25 Vgl. C.F. v. WEIZSÄCKER, Das Friedensproblem, in: DERS., Der Garten des Menschlichen, 35–46, 42: „Die Fähigkeit zum Frieden beginnt, […], wo der Feind, auch der Gegner im Kampf der Wahrheiten geliebt werden kann.“

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möglich ist. Nach neutestamentlichem Bewusstsein steht auch Jesus an einem kosmischen Übergang. Ein neuer Äon beginnt mit ihm. Ohne dieses Bewusstsein lässt sich die neutestamentliche Christologie nicht verstehen.26 Und doch erwies sich gerade dieses eschatologische Bewusstsein vordergründig als ein Irrtum. Der erwartete Übergang zu einer neuen Welt trat nicht ein. Die Verarbeitung dieses Problems entscheidet über die Glaubwürdigkeit der Theologie. Gerade eine evolutionäre Mutationsmetaphorik kann vielleicht die Wahrheit in diesem vordergründigen Irrtum aufdecken. Ist doch die ganze menschliche Geschichte ein Übergang zwischen zwei kosmischen Epochen, zwischen biologischer und kultureller Evolution. Mit unseren psychischen Archaismen und sozialen Atavismen sind wir tief in der alten Welt verwurzelt. Wir leben alle katà sárka, aber wir sind dazu berufen, katà pneûma zu leben, nach den Verhaltensmustern einer neuen Welt. Dieser Grundstruktur menschlicher Geschichte als eines Konfliktes zweier Welten gibt das Urchristentum klaren Ausdruck. Das sei inhaltlich näher ausgeführt. Die biologische Evolution arbeitet mit Mutation und Selektion als den beiden wichtigsten Evolutionsprinzipien. Die christologische Mutation hat nun insofern innerhalb der kulturellen Evolution einen singulären Charakter, als sie jenes zweite Evolutionsprinzip, die Macht der Selektion in Frage stellt. Urchristlicher Glaube besteht in einer antiselektionistischen Revolte, die oft schroffe und bizarre Formen annimmt und gerade in ihrem Widerspruch gegen modernes Bewusstsein aktuell ist. Selektion bedeutet: Vermehrte Fortpflanzungschancen. Im Neuen Testament werden dagegen die Kastrierten gepriesen (Mt 19,12ff). Paulus propagiert den Verzicht auf Sexualität (1 Kor 7,1ff). Selektion bedeutet: Aggression gegen den Fremden, der das eigene Territorium bedroht. Das Neue Testament fordert Feindesliebe (Mt 5,43ff) und verheißt den Sanftmütigen den Besitz des Landes (Mt 5,5). Selektion bedeutet: Bevorzugung des in der Hierarchie oben Stehenden, damit jene sich durchsetzen, die ihre Tüchtigkeit im Gerangel um die Hackordnung erwiesen haben. Das Neue Testament aber sagt: „Wer unter euch der Erste sein will, sei der Sklave aller“ (Mk 10,44). Selektion bedeutet: Bevorzugung des Starken und Gesunden. Das Neue Testament aber macht den Einsatz für den Schwachen zur Pflicht: die Nächstenliebe (Lk 10,29ff) und zeigt in seinen Wundergeschichten eine Identifikation mit den aussichtslos Erkrankten. ————— 26 Ich gebe hierin der kosmisch-apokalyptischen Deutung des Neuen Testaments, insbesondere der Theologie des Paulus, unbedingt Recht. Diese Interpretierung wurde von E. KÄSEMANN, Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969; DERS., An die Römer, HNT 8a, Tübingen 1973, entwickelt.

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Vor allem aber arbeitet das Selektionsprinzip mit den Mitteln des Leidens und Todes. Nur weil Dysfunktionales verringerte Lebenschancen erhält – also weniger Raum, weniger Nahrung, weniger Sicherheit –, nur weil es schließlich zugrunde geht, ist Entwicklung zu größerer Funktionalität möglich. Der Tod ist der Preis für die Entwicklung zu höheren Lebensformen – ein harter Preis.27 Machen wir uns klar, was das bedeutet: Alles Funktionale, alles Zweckmäßige, all jene Stunden, in denen wir uns in unserem Dasein behaglich fühlen –, all das basiert auf dem Leiden unzähliger Kreaturen. Warum erfreuen wir uns unserer Augen, sei es zu alltäglicher Orientierung, sei es zum sublimen Kunstgenuss? Doch nur, weil Millionen von Lebewesen zugrunde gehen mussten, die nicht ausreichend sehen konnten. Plastisch und plakativ gesagt: Der Affe, der schlecht sah und den Ast verfehlte, auf den er springen wollte, war bald ein toter Affe und schied daher als unser Stammvater aus.28 Nimmt man das ernst, so eröffnen sich fast buddhistische Perspektiven: Ist nicht alles Dasein Leiden? Basiert nicht auch unser Glück auf dem Elend anderer – nicht nur auf dem Leid längst vergangener Organismen, sondern auch auf dem durch geschichtliche Verhältnisse zugefügten Leid anderer Mitmenschen? Gibt es nicht jene Verstrickung, die man früher „Erbsünde“ nannte? Buddhismus und Urchristentum sind beide Ausdruck einer antiselektionistischen Revolte, auch wenn sie in fast entgegengesetzter Weise rebellieren. Buddhistische Meditation überwindet das Leid durch Aufhebung der Motivation zum Leben. Urchristlicher Glauben bringt dagegen seinen antiselektionistischen Protest am klarsten im Glauben an die Auferstehung des Gekreuzigten zum Ausdruck. Hier wird der Stachel der Selektion, der Tod, in Frage gestellt. Hier wird der Ohnmächtige als Weltenherr proklamiert, das Opfer als Priester, der Verurteilte als Richter, der Ausgestoßene als Mitte der Gemeinschaft. Was in der Selektion als dysfunktional durch den Tod ausgeschieden würde –, hier wird es zum Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung und zur Grundlage unbedingter Motivation zum Leben. Die antiselektionistische Revolte des Urchristentums bringt m.E. innerhalb der bisherigen kulturellen Evolution am klarsten den Übergang zu einer kosmischen Epoche zum Ausdruck, die nicht mehr ausschließlich von den Gesetzen biologischer Evolution beherrscht und in der das Selektionsprinzip durch das Solidaritätsprinzip abgelöst wird. Hinweise auf diesen Übergang finden sich überall in der Menschheitsgeschichte. Kultur beginnt überall dort, wo die Macht der Selektion eingeschränkt wird.29 Das Neue ————— 27 Vgl. C.F. v. WEIZSÄCKER, Der Tod, in: DERS., Der Garten des Menschlichen, 145–166. 28 So C.G. Simpson nach VOLLMER, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 103. 29 Das geschieht durch Heilung von Krankheiten, Geburtenkontrolle, Veränderung der Umwelt, Tradierung von Wissen usw. Doch betont VOLLMER, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 86, mit Recht: „Die Entwicklung (sc. des Menschen) muß als eine biologisch-kulturelle Einheit gesehen

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Testament jedoch verlangt radikaler als alles andere die Verpflichtung auf die neue Welt und verkündigt ihren Anbruch in der Gestalt Christi. Zu betonen ist jedoch: Ebenso wie innerhalb der biologischen Evolution alle physikalischen und chemischen Gesetze, wenn auch in neuem Rahmen, weiter gelten, ebenso gelten auch innerhalb der kulturellen Evolution die alten Gesetze. Enthusiasmus, der das verkennt, kann gefährliche Folgen haben. Wir leben nach wie vor en sarkí, und das heißt nach dem Neuen Testament zweierlei: Erstens: Der Konflikt zwischen alter und neuer Welt geht durch jeden Einzelnen hindurch. Niemand gehört ganz der neuen Welt an. Jeder verstrickt sich – auch bei besten Absichten – in eben jene Verhaltenszusammenhänge, denen er doch entrinnen wollte. Urchristlicher Glaube betont daher: Jeder Mensch ist auf Vergebung angewiesen. Die antiselektionistische Revolte wird nicht von selbstgerechten Heiligen, sondern „gerechtfertigten Sündern“ durchgeführt. Eine Aufteilung der Menschen in Gerechte und Ungerechte, Kinder des Lichtes und der Finsternis ist nicht möglich! Zweitens: Der Konflikt zwischen alter und neuer Welt zeigt sich nicht nur in der von innen erlebten Absurdität der Sünde, sondern auch im Leiden. Nach wie vor ist Leiden unumgänglicher Bestandteil jeder Entwicklung. Das Urchristentum ist auf der einen Seite ein vehementer Protest gegen erlittenes Leid. Die Hilfe für die Beschädigten und Behinderten ist ihm keine Nebensache. Auf der anderen Seite aber verleiht es dem freiwillig übernommenen Leiden eine neue Würde: Es gilt als Leiden um der neuen Welt willen, als Leiden in der Nachfolge Christi. Wir können zusammenfassen: Die Mutationsmetapher ist geeignet, um wichtigen Aspekte des modernen Bewusstseins wie der neutestamentlichen Christologie gerecht zu werden. Jesus und der durch ihn bewirkte christologische Glaube sind innerhalb der kulturellen Evolution eine „Mutation“ (d.h. eine Neukombination und Veränderung traditioneller Elemente), die nach vorne weist und die Entwicklung voran bringt. Das, was aber in ihr nach vorne weist, ist die partielle Suspendierung des zweiten Grundprinzips der bisherigen biologischen Evolution, der Selektion. Die Mutationsmetapher kann als Modell zum Ausdruck bringen, dass eine evolutionäre Sicht der Welt prinzipiell mit neuen Gestalten des Lebens rechnen muss, die über unsere Möglichkeiten hinausgehen. Sie kann andererseits jene neutestamentlichen Aussagen verständlich machen, welche Christus als Vollendung der Schöpfung und Beginn einer neuen Welt deuten. Die Mutationsmetapher kann daher zu einer teilweisen Horizontverschmelzung zwischen ur————— werden. Jedenfalls behalten auch hier die Gesetze der biologischen Evolution ihre Gültigkeit. Wie der Energie-Erhaltungssatz der Physik auch für die lebende Zelle gilt, so wirken die Gesetze der Evolution (sc. der biologischen Evolution) auf den Menschen […]“.

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christlichem und modernem Bewusstsein führen – ganz unabhängig davon, dass der evolutionäre und der theologische Deutungsrahmen verschieden sind. Ganz unabhängig davon, dass auch ganz verschiedene Wertungen dabei sichtbar werden: Die neutestamentliche Einstellung zu Sexualität und Leiden muss zutiefst unmodern erscheinen. Man sollte hier nichts uminterpretieren! Wer eine Brücke über einen Graben bauen will, muss nicht voraussetzen, dass die Landschaft diesseits und jenseits des Grabens gleich sei. Im Gegenteil: Brücken sind umso wertvoller, je mehr sie eine ganz andersartige Landschaft zugänglich machen.

IV. Konsequenzen aus der Mutationsmetapher Abschließend sei gefragt: Welche Aufgaben stellen sich einer neutestamentlichen Wissenschaft, welche das Urchristentum als Zeugnis von einer grundlegenden „Mutation“ unseres Daseins versteht? Und welche Impulse ergeben sich daraus für das christliche Leben? Die Aufgaben neutestamentlicher Exegese seien anhand drei neuer exegetischer Methoden skizziert: Strukturalistische Untersuchungen hätten die Aufgabe, die formalen Muster herauszuarbeiten, welche die Mannigfaltigkeit neutestamentlicher Aussagen organisieren. Gibt es so etwas wie eine verborgene Grammatik dieser Zeichenwelt? Meine Vermutung ist, dass so verschiedene Themen wie Ethik, Wunderglaube, Eschatologie und Christologie von einer antiselektionistischen Grundstruktur her gestaltet werden. Liegt etwa darin das Neue des Urchristentums, welches all die traditionellen Elemente umgestaltet hat? Religionspsychologische Untersuchungen hätten die Aufgabe, die Auseinandersetzung des Menschen mit seinen psychischen Archaismen in religiösen Symbolen und Riten bewusst zu machen – eine Auseinandersetzung, bei der es nicht nur Siege, sondern auch Niederlagen gibt, wie die Exzesse der Religionsgeschichte zeigen. Das Urchristentum kann m.E. nur als Revolte gegen die Gebundenheit an archaische Instinkte verstanden werden. Religionssoziologische Untersuchungen hätten schließlich die Aufgabe, denselben Wandel auf sozialer Ebene zu untersuchen. Kulturelle Evolution geht weniger auf der Ebene des Individuums als durch Entwicklung neuer Sozialformen vor sich, die wiederum auf das Individuum zurückwirken. Welche Sozialformen entwickeln Gruppen, die sich durch einen antiselektionistischen Protest scharf von dieser Welt unterscheiden? Wie können sie sich innerhalb der damaligen gesellschaftlichen Bedingungen stabilisieren? Mit welchen Kompromissen geht das vor sich? Und mit welchen Kompromittierungen?

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Die Mutation menschlichen Lebens wird im Urchristentum eindeutig auf die Gestalt Jesu zurückgeführt. Diese ist nur in ihrer Wirkung greifbar. Das gilt von jeder Mutation. Prinzipiell wird sie uns erst durch Änderungen des Phänotyps sichtbar, während uns die auslösenden Änderungen des Genotyps verborgen bleiben; faktisch aber fällt sie oft erst durch ihre Verbreitung in einer größeren Population auf. So wie uns nun im biologischen Bereich Mutationen vor allem durch ihre Wirkungen zugänglich werden, welche wir mit Sicherheit auf eine entscheidende Anfangsmutation zurückführen können, so dürfen wir auch bei der neutestamentlichen Christologie gewiss sein, dass sie Auswirkung jener einzigartigen konkreten Anfangsmutation ist, deren Niederschlag die uns vorliegenden neutestamentlichen Texte und die Geschichte des Christentums sind. Eine solche Analyse urchristlichen Glaubens als einer durch den historischen Jesus hervorgerufenen Mutation menschlichen Daseins stellt das Selbstverständnis des Urchristentums in einen übergreifenden Rahmen und soll hier „Theorie der urchristlichen Religion“ genannt werden. In ihrem Mittelpunkt steht die neutestamentliche Christologie. Der hier skizzierte Vorschlag läuft darauf hinaus, sie als antiselektionistische Revolte zu deuten. Mit diesem Stichwort lässt sich auch eine zentrale Aufgabe für das christliche Leben andeuten: die Überformung des Selektions- durch das Solidaritätsprinzip, das auch den Feind umfasst. Es ist fast unmöglich, zu einem Konsens darüber zu gelangen, was positiv zu geschehen habe. Wohl aber kann man darüber einig werden, wovon wir uns abzuwenden haben. Hier sei nur ein Punkt genannt. Gerade in unserem Land geschah der schrecklichste bekannte Verrat an den Prinzipien kultureller Evolution. In den Konzentrationslagern wurde Selektion auf eine sinnlosere und brutalere Weise betrieben, als es in der biologischen Evolution überhaupt denkbar wäre. Diese Geschehnisse verpflichten jeden, der in diesem Land aufgewachsen ist. Sie verpflichten zum Widerstand gegen alle Versuche von Menschen, gegenüber dem jeweils Schwächeren „Selektion“ zu spielen. Sie verpflichten vor allem zum Frieden. Denn was in den Konzentrationslagern sichtbar wurde – der satanische Wille, ein ganzes Volk zu vernichten –, kann bei keiner modernen Kriegsführung sicher ausgeschlossen werden, sofern sie bereit ist, sich der modernen Waffen wirklich zu bedienen. Ohne die Fähigkeit zum Frieden werden wir den uralten Gesetzen der Selektion zum Opfer fallen. Die antiselektionistische Revolte des Christentums aber wäre gescheitert.

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Autorinnen und Autoren Faust, Eberhard, Dr., Geoecologe, Head of Research: Climate Risks and Natural Hazards, Geo Risks Resarch/Corporate Climate Centre, Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft Holmberg, Bengt, Prof. Dr., em. Professor für Exegese des Neuen Testaments an der Universität Lund Lampe, Peter, Prof. Dr., Professor für Neutestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg; Hon. Prof. der Universiteit van die Vrystaat, Bloemfontein, Südafrika Leiner, Martin, Prof. Dr., Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Jena Luz, Ulrich, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., em. Professor für Neues Testament an der Universität Bern Merz, Annette, Prof. Dr., Professorin für Kultur- und Literaturgeschichte des frühen Christentums an der Universität Utrecht Parmentier, Elisabeth, Prof. Dr., Professorin für Praktische Theologie an der Universität Strasbourg Räisänen, Heikki, Prof. Dr. Drs. h.c., em. Professor für Neutestamentliche Exegese an der Universität Helsinki Schwier, Helmut, Prof. Dr., Professor für Neutestamentliche und Praktische Theologie an der Universität Heidelberg Stegemann, Wolfgang, Prof. Dr., Professor für Neues Testament an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau Theißen, Gerd, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., em. Professor für Neutestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg Trobisch, David, Prof. Dr., Throckmorton-Hayes Professor of New Testament Literature and Languages, Bangor Theological Seminary, Maine von Gemünden, Petra, Prof. Dr., Professorin für Biblische Theologie an der Universität Augsburg Oda Wischmeyer, Prof. Dr., Professorin für Neues Testament an der Universität Erlangen-Nürnberg

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