Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung 9783666558320, 3525558325, 9783525558324

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Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung
 9783666558320, 3525558325, 9783525558324

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Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus

Herausgegeben von Martin Brecht, Christian Bunners und Hans-Jürgen Schrader

Band 47

Vandenhoeck & Ruprecht

Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung

Herausgegeben von Martin Brecht und Paul Peucker

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-55832-5

Umschlagabbildung: Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf mit den Losungen von 1760. Ölgemälde von Antoniette Sophie Emilie von Damnitz © Unitätsarchiv Herrnhut, GS 423.

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

MARTIN BRECHT Vorwort ...................................................................................................

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HANS SCHNEIDER »Philadelphische Brüder mit einem lutherischen Maul und mährischen Rock« Zu Zinzendorfs Kirchenverständnis .......................................................

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THILO DANIEL »Weil derer allhier immer mehr werden« Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und der Pietismus in Dresden...........

37

HORST WEIGELT Zinzendorf und die Schwenckfelder .......................................................

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EDITA STERIK Die böhmischen Emigranten und Zinzendorf .........................................

97

PIA SCHMID Die Kindererweckung in Herrnhuth, 1727.............................................. 115 HANS-JÜRGEN SCHRADER Zinzendorf als Poet ................................................................................. 134 CAROLA WESSEL (†) »Es ist also des Heilands sein Predigtstuhl so weit und groß als die ganze Welt«. Zinzendorfs Überlegungen zur Mission............................ 163 CRAIG ATWOOD Interpreting and Misinterpreting the Sichtungszeit................................. 174 COLIN PODMORE Zinzendorf und die englischen Brüdergemeinen .................................... 188 MARTIN BRECHT Zinzendorf in der Sicht seiner kirchlichen und theologischen Kritiker

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Inhalt

PAUL RAABE Goethe und Zinzendorf ........................................................................... 229 EBERHARD BUSCH »Hochverehrter Herr Graf nicht so stürmisch!« Karl Barths Stellung zu Nikolaus von Zinzendorf.................................. 239 HANS-CHRISTOPH HAHN Das Bild Zinzendorfs nach seinem Tode ................................................ 256 DIETRICH MEYER Zu Zinzendorfs Gegenwartsbedeutung ................................................... 272 Personenregister ...................................................................................... 287 Autorinnen und Autoren ......................................................................... 294

Vorwort

Der dreihundertste Geburtstag des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf im Jahre 2000 war für die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus Anlaß, eine Tagung über Leben und Werk dieser originellen und fesselnden, aber auch widersprüchlichen und umstrittenen Gestalt des Pietismus zu organisieren. Sie fand im Oktober 2000 in Herrnhut statt, dem Ursprungsort und Zentrum der Brüdergemeine, die als weltweite Kirche aus Zinzendorfs Lebenswerk hervorgegangen ist. Die inhaltliche Vorbereitung der Tagung erfolgte durch das Unitätsarchiv in Herrnhut, in enger Zusammenarbeit mit Dietrich Meyer und Martin Brecht. Mitveranstalter war die Sächsische Landeszentrale für Politische Bildung. Nunmehr können die Texte der Beiträge vorgelegt werden, die während der Tagung vorgetragen und diskutiert wurden. Zinzendorf war von Jugend auf verschiedenen religiösen Einflüssen ausgesetzt. Prägend war die Erziehung durch die Großmutter, Henriette Katharina von Gersdorf, im Schloß in Hennersdorf. Durch sie kam er schon als Kind mit führenden Personen des Pietismus in Berührung. Zinzendorfs religiöses Interesse galt jedoch bereits von früh an den verschiedenen Konfessionen, Strömungen und Richtungen der christlichen Welt. Sein Streben kann als »philadelphisch« bezeichnet werden, denn er suchte die Christen aus den verschiedenen Kirchen miteinander zu verbinden, um so die verborgene Kirche Christi sichtbar zu machen. Das Kirchenverständnis Zinzendorfs und seine philadelphischen Anschauungen im Hinblick auf die Brüdergemeine, die auf Zinzendorfs Gut Bertelsdorf seit 1722 entstand, ist Thema des Beitrags von Hans Schneider. Während diese Gemeinschaft entstand, hielten sich Zinzendorf und seine Ehefrau Erdmuthe Dorothea geb. Gräfin von Reuss in den ersten Jahren viel in Dresden auf, wo er ein Amt als Hof- und Justizrat innehatte. Wegen der von ihm veranstalteten Hausversammlungen kam der junge Reichsgraf in Auseinandersetzung mit dem Superintendenten Valentin Ernst Löscher. Wie weit die Verbindungen zwischen diesen beiden und anderen Schlüsselfiguren in Dresden, Halle und Wittenberg zurückreichten, zeigt Thilo Daniel in seinem Beitrag. Während sich Zinzendorf noch in Dresden aufhielt und sich die mährischen Glaubensflüchtlinge in Herrnhut niederließen, gestattete er auch einer ganz anders geprägten religiösen Gruppe sich in Berthelsdorf anzusiedeln. Die Schwenckfelder, Anhänger des mystischen Spiritualisten Caspar Schwenckfeld von Ossig, waren 1725 in ihrer schlesischen Heimat vor die Wahl

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Vorwort

gestellt, zum Katholizismus zu konvertieren oder auszuwandern. Das ambivalente Verhältnis zwischen dem Ortsherrn und den Schwenckfeldern, ihre Auswanderung nach Amerika und die späteren Bemühungen des Grafen um das Seelenheil seiner Schutzbefohlenen ist Thema des Beitrags von Horst Weigelt. Die Aufnahme der Schwenckfelder war einer der Gründe für Zinzendorfs endgültige Ausweisung aus Sachsen 1736. Außer den deutschsprachigen Mähren und den Schweckfeldern kamen auch zahlreiche böhmische Emigranten in die unmittelbare Nachbarschaft von Herrnhut. So orientierten sich die ungefähr 1000 Tschechen, die sich seit 1725 in Großhennersdorf niederließen, anfänglich auf die Gemeinde in Herrnhut hin. Zinzendorf nahm ihnen gegenüber allerdings eine eher ablehnende Haltung ein. Erst viel später, nachdem die Tschechen schon nach Berlin und Rixdorf weitergezogen waren, kam es unter ihnen zu herrnhutischen Gemeindegründungen. Diese Zusammenhänge werden von Edita Sterik vorgeführt. Ein zentrales Ereignis in der Geschichte der Herrnhuter war die Erwekkung am 13. August 1727. Viele Herrnhuter betrachteten sie als den Anfang ihrer Gemeinschaft. Parallel dazu fand wenige Tage später eine Kindererweckung statt, die in Berichten und Lebenserinnerungen dokumentiert und gleichfalls von der herrnhutischen Historiographie festgehalten wurde. Pia Schmid analysiert die Kindererweckung im Kontext der positiven Wertung von Kindheit innerhalb der Brüdergemeine und sucht nach Vorbildern und Parallelen. Die Kreuzestheologie Zinzendorfs wurde von Gunther Wenz eingehend behandelt; seine Ausführungen sind allerdings an anderer Stelle veröffentlicht worden.1 Zinzendorf hat zu Lebzeiten eine große Zahl von Liedern gedichtet, die mit ebenso großer Begeisterung von der Gemeine angenommen und gesungen, wie sie von den Kritikern abgelehnt oder verabscheut wurden. Für Zinzendorf waren die Lieder nicht ein Produkt der Dichtkunst, sondern unmittelbarer Ausdruck seiner Glaubensüberzeugung. Singen geschieht in Gemeinschaft und wirkt unmittelbar auf das Herz; so dienten die Lieder einerseits dazu, der Frömmigkeit der Gemeine Ausdruck zu verleihen und andererseits zur Einprägung von Zinzendorfs Theologie. Form und Funktion der Poesie Zinzendorfs, die einen inspirativen und spielerischen Charakter hatte, ohne die traditionellen Regeln der Rhetorik oder Dichtkunst der Zeit zu beachten, wird von Hans-Jürgen Schrader untersucht. Die vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts waren eine Blütezeit für die Brüdergemeine, in der neue Gemeinden entstanden, sich eine eigene Organisationsform herausbildete, und »Boten« in alle Welt geschickt wurden. Die Missionstheologie Zinzendorfs und deren Umsetzung ist von der jüngst 1 Gunther Wenz, Ergriffen von Gott. Zinzendorf, Schleiermacher und Tholuck, München 2000.

Vorwort

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verstorbenen Carola Wessel behandelt worden. Es entstanden eigene liturgische Formen und das Leben in den Herrnhuter Gemeinden wurde von einer festlichen Freude beherrscht. Gleichzeitig verengte sich die Frömmigkeit immer mehr auf die Seitenwunde Christi: diese wurde im Anschluß an altkirchliche Lehrweisen als »Geburtsort der Kirche« bezeichnet und fast als ein erotischer Ort der Geborgenheit des Einzelnen empfunden. Den spielerischen und enthusiastischen Tendenzen, die in verschiedenen Gemeinden vorherrschend waren, versuchte Zinzendorf 1749 ein Ende zu setzen. Obwohl er selber maßgeblich an den Entwicklungen beteiligt gewesen war, bezeichnete er diese Zeit als Zeit der Verirrung oder als »Sichtungszeit«. Diese Periode diente lange Zeit dazu, verschiedene Aspekte von Zinzendorfs Theologie, darunter auch solche, die nicht zur Sichtungszeit gehörten, zu marginalisieren. Die Historiographie der Sichtungszeit steht im Mittelpunkt des Aufsatzes des amerikanischen Kirchenhistorikers Craig Atwood. Ähnlich wie in Amerika wird in England die Bedeutung Zinzendorfs für die Brüdergemeine heruntergespielt. Daß Zinzendorf dieses Land viele Male besucht und sogar mehrere Jahre dort gelebt hat, macht deutlich, daß England in seinen Plänen eine große Rolle spielte. Der englische Kirchenhistoriker Colin Podmore behandelt das Verhältnis der Engländer zu Zinzendorf, dessen Bedeutung für die Brüdergemeine in England und sein Verhältnis zur Anglikanischen Kirche. Der predigende Graf war zeit seines Lebens und darüber hinaus scharfer Kritik ausgesetzt. Seine unorthodoxen theologischen Ideen, seine Widersprüchlichkeiten, die enthusiastischen Entwicklungen innerhalb der Brüdergemeine und vieles mehr waren Anlaß für unzählige Streitschriften sowohl von sensationsgierigen Polemikern als auch von ernstzunehmenden Theologen. Diesen Reaktionen geht Martin Brecht nach. Zinzendorfs Wirkung und Rezeption bei Vertretern späterer Generationen bilden den Gegenstand der letzten vier Untersuchungen. Paul Raabe zeigt, wie Goethe, der in seiner Jugend ein enges Verhältnis zur Brüdergemeine hatte, in seinem späteren Leben aus der Begegnung mit dem Pietismus zinzendorfischer Prägung in Verbindung mit christlichen Grundüberzeugungen eine Weltfrömmigkeit entwickelte, die er selbst als seine Privatreligion bezeichnete. Im 20. Jahrhundert war es Karl Barth, der trotz anfänglicher Kritik als eine »späte Liebe« eine Hochachtung vor Zinzendorfs Theologie entwickelte. Eberhard Busch macht deutlich, wie sowohl Barths anfängliche Kritik als auch sein späterer Respekt zwei Seiten haben, von denen die eine jeweils stärker hervortrat als die andere. Hans-Christoph Hahn beschreibt die Rezeption Zinzendorfs nach seinem Tod (1760) innerhalb der Brüdergemeine und darüber hinaus im deutschen Protestantismus. Der Schlußbeitrag von Dietrich Meyer behandelt die Bedeutung Zinzen-

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Vorwort

dorfs für die heutige Zeit. Diese Bedeutung liege nicht so sehr in der Theologie, sondern im weiteren Bereich der evangelischen Gemeinde- und Laienfrömmigkeit. Die Sammlung und Einrichtung der Manuskripte für den Druck erfolgte durch den früheren Herrnhuter Archivar Paul Peucker. Nach seinem Wechsel nach Bethlehem (PA) beteiligte sich Horst Weigelt an der Endredaktion. Der Druckkostenzuschuß wurde von der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus aufgebracht. Im Herbst 2004

Martin Brecht

HANS SCHNEIDER

»Philadelphische Brüder mit einem lutherischen Maul und mährischen Rock« Zu Zinzendorfs Kirchenverständnis

Das Erscheinungsbild der Brüdergemeine zur Zeit Zinzendorfs erweckte bei kritischen Zeitgenossen einen schillernden Eindruck, der auch durch Zinzendorfs mehrdeutige und changierende Erklärungen nur noch verstärkt wurde. Herrnhut firmierte zwar als Teil der lutherischen Parochie Berthelsdorf, und Zinzendorf, der gern Luther zitierte und sich auf die Confessio Augustana berief, pochte auf die lutherische ›Religionstreue‹. Gleichwohl waren aber eine Reihe von institutionellen und liturgischen Neuerungen eingeführt worden, die in der lutherischen Tradition kein Vorbild hatten. In der Wetterau sollte sich dann der neue Gemeinort Herrnhaag in die reformierte Landeskirche einfügen – mit z.T. denselben Personen, die in Herrnhut formell als Lutheraner gegolten hatten. Ferner bestand ein Großteil der Gemeinde – und gerade die aktivsten Mitarbeiter – aus Mähren, die von Hause aus weder Lutheraner noch Reformierte waren. An ihre hussitischen Traditionen wurde angeknüpft; es begegnete die Bezeichnung ›mährische Kirche‹, der Name ›Unitas Fratrum‹ wurde wiederbelebt, das mährische Bischofsamt sowie andere Weihegrade eingeführt, und der Graf ließ sich sogar selbst zum mährischen Bischof weihen. Daneben standen Zinzendorfs Kontakte zu dem Ehepaar Petersen, den Häuptern der deutschen Philadelphier, seine Verbrüderung mit den Inspirierten und anderen Separatisten. So kann es nicht verwundern, wenn dies alles bei außenstehenden kritischen Beobachtern beträchtliche Irritationen auslöste und zu dem Urteil einer »offenbahre[n] Religions-Mengerey der Herrnhuter«1 führte oder zu dem Verdacht, die schwärmerischen, unevangelischen Ansichten würden nach außen nur kaschiert durch apologetische Erklärungen. Das Motto meines Beitrags – »Philadelphische Brüder mit einem lutherischen Maul und mährischen Rock« – spiegelt diesen schillernden Eindruck. Es klingt ganz nach einem Zitat aus einer der zahllosen Streitschriften, die gegen Zinzendorf und Herrnhut erschienen. Drei Komponenten 1 Vgl. Carl Gottlob Hofmann, MANIFESTVM HERRNHVTIANORVM SYNCRETISMVM [...], Wittenberg / Zerbst 1745; deutsche Übersetzung: Die Offenbahre Religions-Mengerey derer Herrnhuther [...], Wittenberg / Zerbst 1745, 21749.

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Hans Schneider

werden hier aufgeführt: die Vorstellung der Brüdergemeine als endzeitlichem Philadelphia, das Luthertum und die böhmisch-mährische Tradition der Alten Brüder-Unität. Diese drei Elemente werden so in Beziehung gesetzt, daß das philadelphische Brüdertum das Primäre und Wesentliche ist, dem die anderen beiden sekundär zugeordnet werden. Das könnte man so verstehen, daß die Herrnhuter philadelphische Brüder sind, bloß mit einem lutherischen Maul reden, also zur Tarnung eine lutherische Sprache führen und sich gewissermaßen mit einem mährischen Rock verkleiden, der ihnen nur als Deckmantel dient. In diesem Sinn hat etwa Johann Albrecht Bengel Zinzendorfs philadelphische Bestrebungen als Kern des gräflichen Denkens und Handelns, als seine »Citadelle«, bezeichnet, während alles andere nur »Außenwerker« seien.2 Jedoch – das angeführte Zitat stammt keineswegs aus einer Streitschrift gegen Zinzendorf, sondern aus dem Munde des Grafen selbst. 1743 erklärte er auf dem Hirschberger Synodus: »Wir sind philadelphische Brüder mit einem lutherischen Maul und mährischen Rock.«3

I. Philadelphia und die philadelphischen Brüder Die ältere Herrnhuter Historiographie4 hat Zinzendorfs kirchliches Wirken und die Gestaltung der Brüdergemeine als die letzte, optimale Verwirklichung von Speners Reformplänen interpretiert. Der bedeutendste Herrnhuter Zinzendorf-Forscher des 19. Jahrhunderts, Hermann Plitt5, sieht die von Spener angeregten, als Aufnahme reformatorischer Anliegen verstandenen Gemeinschaftsbildungen bei Zinzendorf ihre Vollendung finden; »jenes höchste Ziel« sei erreicht, »Gemeinen nach dem Vorbild der apostolischen, ins Leben [zu] rufen«.6 Auch Bernhard Becker, der mit seiner Untersuchung

2 »Diß ist seine Vestung, ja seine Citadelle: diß hat er bißher auf das eiferigste vertheidiget, ohne einiges Nachgeben. Was er hingegen sonst im Thun und im Lehren von sich sehen und hören lässet, das sind bey ihm lauter Aussenwerker, ob es an sich schon noch so wichtig wäre« (Johann Albrecht Bengel, Abriß der so genannten Brüdergemeine, Stuttgart 1751, 205). Vgl. insgesamt Bengels ausführliche Auseinandersetzung mit Zinzendorfs Philadelphia-Vorstellungen 204–272, 308f. 3 UA, R 2.A.8. 4 Vgl. die Bemerkungen zur Forschungsgeschichte bei Leiv Aalen, Die Theologie des jungen Zinzendorf, Berlin / Hamburg 1966 (AGTL 16), 18ff, 358ff. 5 Über ihn vgl. Erich Beyreuther, Art. Plitt, Hermann, RGG3 5 (1961), 418. 6 Hermann Plitt, Die Gemeine Gottes in ihrem Geist und ihren Formen, mit besonderer Beziehung auf die Brüdergemeine, Gotha 1859, 150 (Hervorhebung Plitts). Die gleiche Sicht vertritt Plitt durchgängig in seinem Werk: Zinzendorfs Theologie, I–III, Gotha 1869–1874.

Zu Zinzendorfs Kirchenverständnis

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über Zinzendorf im Verhältnis zu Philosophie und Kirchentum seiner Zeit7 das Zinzendorf-Bild in der Forschung des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat, stellt den Grafen als Spener-Schüler dar, der dessen Programm einer Kirchenreform, den »Ecclesiolismus«, aufgenommen und konsequent weiterentwickelt habe;8 die Verständnislosigkeit und Feindschaft der Landeskirchen und der Schultheologie macht Becker dafür verantwortlich, daß die Unternehmung Zinzendorfs, »soweit sie auf das Ganze der Kirche abgezweckt hat, ihr Ziel nicht erreicht« habe.9 Diese Interpretation Zinzendorfs als Vertreter eines Spenerschen ›Ecclesiolismus‹ kann sich auf Zeugnisse Zinzendorfs berufen. Er betonte sowohl den Charakter Herrnhuts als einer ecclesiola in der lutherischen Kirche10 als auch die geschichtliche Herkunft »von den kleinen ecclesiolis so D. Spener in Frankfurt a.M. angefangen«.11 Auf Luthers Vorrede zur Deutschen Messe, die schon Spener zur Begründung seiner Vorschläge herangezogen hatte, berief sich Zinzendorf wiederholt und mit allem Nachdruck,12 und auch Luthers Befürwortung gegenseitiger brüderlicher Gespräche in den Schmalkaldischen Artikeln wurde vom Grafen zitiert.13 Vergleicht man jedoch die Brüdergemeine mit Speners Konzeption14, so treten die Unterschiede klar hervor. Äußerlich konnte man Herrnhut zwar 7 Bernhard Becker, Zinzendorf im Verhältnis zu Philosophie und Kirchentum seiner Zeit, Leipzig 1886; die 2. (unveränderte) Auflage trägt den Titel: Zinzendorf und sein Christentum im Verhältnis zum kirchlichen und religiösen Leben seiner Zeit, Leipzig 1900. Eine Zusammenfassung seiner Sicht gab der Verfasser, damals Dozent am Theologischen Seminar der Brüdergemeine in Gnadenfeld, in seinem Art. Zinzendorf und die Brüdergemeine, RE2 17 (1886), 513–548. 8 Becker, Zinzendorf, 103ff. Indem Zinzendorf die Tendenzen eines separatistischen Konventikeltums, »das die Auflösung der kirchlichen Bestände unterstützt, abweist, führt er die spenerschen Gedanken auf die Doppelforderung der freien religiösen Geselligkeit und der freien religiösen Association hinaus«; diese Bestrebungen wollte er »organisieren, um sie für die bestehenden Kirchen fruchtbar zu machen« (151, Hervorhebung Beckers). 9 Becker, Zinzendorf 153, Hervorhebung Beckers. »Daß aus dieser Bewegung ein neues selbständiges Kirchentum werden solle, hat Zinzendorf als echter Lutheraner nie gewollt« (154, meine Hervorhebung). 10 Vgl. die Belege bei Becker, Zinzendorf 423ff. 11 UA, Jüngerhausdiarium [künftig: JHD] 1747 Jan. 4, Beil. 10. 12 Die Belege sind zusammengetragen bei Eberhard Teufel, Johann Andreas Rothe, BSKG 30 (1916), 1–69, hier 46, A. 3, und 63. 13 Bedencken als 1726 zu D[resden] die Frage in motum kam: Ob die Gespräche und Ermunterungen redlicher Gemüther in den Privathäusern richtigen Grund vor sich hätten?, in: Zinzendorf, Bedencken und besondere Send-Schreiben, I, Nr. V. Vgl. dazu: Plitt, Zinzendorfs Theologie I, 38f; Becker, Zinzendorf, 106ff; ders./ J.Th. Müller, Art. Zinzendorf, RE3 21, 683; Aalen, 366. Zitiert wird aus den Schmalkaldischen Artikeln, pars II, art. IV, De Evangelio, Latein. und deutsch (WA 50, 241; BSELK 449): »per mutuum colloqium et consolationem fratrum«. Später tritt die Berufung auf Luthers Vorrede zur Deutschen Messe hinzu (vgl. die Belege bei Teufel, BSKG 30 [1916], 46, A. 3). 14 Zur ecclesiola in ecclesia bei Spener vgl. Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 21986, 264–298.

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Hans Schneider

als eine ecclesiola in der lutherischen Parochie Berthelsdorf bezeichnen. Die Verbindung bestand durch den für Predigt und Sakramentsverwaltung zuständigen Pfarrer und die gemeinsamen Gottesdienste in der Berthelsdorfer Pfarrkirche. Doch handelte es sich nicht nur um einen ganzen Ort als ecclesiola – ein Filial als Konventikel in der Parochie –, sondern um ein Konventikel, das Gemeinde zu sein beanspruchte, zudem eine solche, die von Anfang an über die lokale, ja regionale Begrenzung hinausgriff, um schon bald eine weltweit agierende Gemeinschaft zu werden. Von Anbeginn an war das Bewußtsein vorhanden, eine auserwählte Gruppe zu sein. Eindeutige Indizien sind die »exklusiven Abendmahlsfeiern«15, die getrennt vom Berthelsdorfer Kirchenvolk monatlich einmal an einem Werktag stattfanden.16 Über die Zulassung zum brüderischen Abendmahl entschieden nicht der Ortspfarrer, sondern die für die Gemeindezucht zuständigen Ältesten.17 Besonders signifikant sowohl für die Einschätzung der eigenen Gemeinde wie auch für die Bewertung der kirchlichen Sakramentspraxis erscheint, daß Gemeindeglieder, die unter der Gemeindezucht standen und zum brüderischen Abendmahl nicht zugelassen waren, durchaus am ›Kirchenabendmahl‹ teilnehmen durften.18 Die Differenz zu Speners Konzeption wird besonders deutlich, wenn man die Rolle des Pfarrers in der ecclesiola vergleicht.19 Auf das Herrnhuter Gemeindeleben hatte er recht bescheidene Einwirkungsmöglichkeiten. Nur die ›Predigtwiederholung‹ am Sonntag wurde von ihm, daneben in zunehmendem Maße aber von Zinzendorf, geleitet.20 Hingegen ging die Seelsorge ganz in die Hände der ›Gemeinarbeiter‹ über, und auf die Gemeindezucht 15 Ingeborg Posselt, Die Verfassung der Brüdergemeine 1727–1777, Diss. theol. (masch.) Tübingen 1949, 42. 16 Vgl. Hans-Joachim Wollstadt, Geordnetes Dienen in der christlichen Gemeinde. Dargestellt an den Lebensformen der Herrnhuter Brüdergemeine in ihren Anfängen, Göttingen 1966 (APTh 4), 72f, erwähnt zwar in seiner Darstellung des Abendmahls, daß es »neben dem regulären Kirchenabendmahl« gefeiert wurde, schenkt aber diesem wichtigen Sachverhalt keine weitere Beachtung. 17 Ritschls Behauptung: »so lange die Gemeinde auf Herrnhut beschränkt und in der Verbindung mit einer Parochie Berthelsdorf war, konnte Ausschließung vom Abendmahl nur von dem Pastor verhängt werden; den Aeltesten also konnte zu diesem Zweck nur eine untergeordnete denunciatorische Mitwirkung eingeräumt sein« (Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus, III, Bonn 1886 [Reprint: Berlin 1966], 390), ist irrig. 1736 gab Rothe vor der kursächsischen Untersuchungskommission auf die Frage, warum er nicht die vom Herrnhuter Abendmahl Ausgeschlossenen »in besondere Obacht nehme«, folgende Erklärung: »weil die Gemeine ihn diffikultiert hätte, sich um sie so genau zu bekümmern« (Eberhard Teufel, Johann Andreas Rothe 1688–1758, ein Beitrag zur Kirchengeschichte, BSKG 30 [1917], 1–69; 31 [1918], 1–111, hier 30 [1917], 53 Anm. 2). 18 Belege bei Posselt, 13 Anm. 60. 19 Die von Rothe 1724 geschaffene Ämterordnung hatte insofern noch Speners Vorstellung entsprochen, als hier der Pfarrer das Amt des (einzigen) Ältesten innehatte. 20 Vgl. die Herrnhuter Diarien der Jahre 1728ff.

Zu Zinzendorfs Kirchenverständnis

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hatte der Pfarrer keinen Einfluß. Auch die Vorbereitung der Konfirmanden lag in den Händen der Herrnhuter ›Lehrer‹.21 Lediglich vor dem ersten Abendmahlsgang wurde ihm eine Prüfung zugebilligt, die neben der brüderischen Konfirmation stand.22 Wenn er auch gelegentlich als »der beständige Mit-Älteste« bezeichnet wurde,23 so haben ihm die Brüder Befugnisse des Ältestenamts nie eingeräumt.24 Ganz klar wurde dies in einer Ältestenkonferenz ausgesprochen, zu der Pfarrer Rothe eingeladen war: »Es wurde ihm dann auch mit wenigem bedeutet, wie er mit Recht nicht über sie [die Herrnhuter Gemeine] herrschen und gebieten könne, sondern selbige eine Gemeine vor sich selber wäre, und wie er es vor eine Gnade und Ehre zu schätzen habe, daß er unter ihnen sein könne. Man wolle sich zwar weiterhin alles in der Kirche in Berthelsdorf gefallen lassen, doch aus freiem Antriebe und nicht aus einem sonderlichen Recht, das er über sie habe.«25 Auch Zinzendorf selbst verwies darauf, daß der Pfarrer nicht über, sondern unter der Gemeine stehe und damit der Ältestenkonferenz untergeordnet sei, die im Namen der Gemeine die Beschlüsse faßte.26 Daß die Brüdergemeine »eine Gemeine vor sich selber wäre«, fand schließlich noch bei den Toten einen augenfälligen Ausdruck: Auf dem neu angelegten ›Gottesakker‹27 in Herrnhut wurden nur Mitglieder der Brüdergemeine beerdigt, andere Einwohner Herrnhuts auf dem Friedhof in Berthelsdorf.28 Alle diese Erscheinungen wichen sehr deutlich von Speners Konzept einer ›ecclesiola in ecclesia‹ ab und gingen ganz erheblich darüber hinaus. Daß die Herrnhuter Gemeine im äußeren Rahmen der lutherischen Parochie blieb, hatte eine wesentliche Voraussetzung darin, daß Zinzendorf als Grundherr und Patron einen Freiraum schuf, in dem die Brüdergemeine sich unbeeinträchtigt entfalten konnte, so daß das Potential an Konflikten geringer war als dort, wo orthodoxe Pietistengegner die Konventikel in die Separation trieben. Bietet somit die Herleitung von dem ›Ecclesiolismus‹ Speners keine befriedigende Erklärung, so kommt auch eine Anknüpfung an Traditionen der 21 Vgl. Wilhelm Bettermann, Die Geschichte der Konfirmation in der Brüdergemeine, MGKK 34 (1929), 33–37. 67–71. 22 Vgl. UA, R 6.A.a.19.5 (§ 6). 23 Ebd. 24 Das ergibt sich nicht nur aus den Herrnhuter Diarien (vgl. etwa das im Text folgende Zitat), sondern auch aus Rothes eigenen Äußerungen (vgl. Teufel). 25 Herrnhuter Diarium zum 7.1.1728 (UA, R 24.B.91.A 1). 26 UA, R 6.A.a.18.2.c. 27 Vgl. Theodor Bechler, Ortgeschichte von Herrnhut mit besonderer Berücksichtigung der älteren Zeit, Herrnhut 1922, 40ff. 28 Vgl. UA. R 5.A.2.a.81. Die Erklärung Teufels, der neue Friedhof sei angelegt worden, »damit die beschwerliche Verbringung der Särge nach Berthelsdorf wegfalle« (BSKG 31 [1917], 7), trifft daher nicht das eigentliche Motiv.

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Hans Schneider

Alten Brüderunität für die grundlegenden Vorgänge am Beginn der Herrnhuter Gemeindegründung nicht in Betracht.29 Denn nur bei einigen mährischen Emigranten waren sporadische Elemente altbrüderischer Tradition lebendig und Zinzendorf selbst hatte zunächst keine genaueren Kenntnisse der Geschichte und Institutionen der Alten Unität. Erst nachdem die wichtigsten Einrichtungen in Herrnhut getroffen worden waren, lernte der Graf die Brüdergeschichte des Comenius und die altbrüderische ›Ratio disciplinae‹30 kennen und machte sie in Herrnhut bekannt.31 Für seine Leitvorstellungen bei der Gemeindebildung muß man daher andere Wurzeln suchen. Eine Beobachtung, die noch einmal den Kontrast zu Spener deutlich erkennen läßt, führt auf die richtige Spur: Die Herrnhuter Gemeine war von Anbeginn konfessionell heterogen. Ganz abgesehen von den Mähren, deren Konfessionszugehörigkeit ein besonderes Problem darstellte32, zählten zur Brüdergemeine Mitglieder unterschiedlicher konfessioneller Provenienz.33 Sie war, wie es 1729 heißt, »eine Vereinigung verschiedener Catholicken, Calvinisten, Lutheraner, Schwenckfelder, Separatisten von allerley Arten, welche alle den Schaum der Meynungen fahren und sich unter das Geboth der Liebe dieses Orts bringen lassen, da sie denn ohne alle Sectirerey Gott im Geist und in der Wahrheit dienen«.34

29 Ritschls Angaben, daß Zinzendorf vor dem 12. Mai 1727 (Statuten) aus Comenius die Verfassung der Alten Böhmischen Brüderunität kennengelernt habe (Geschichte, III, 243) und daß etwa die Auslosung von vier Oberältesten auf das historische Vorbild der Böhmischen Brüder zurückgehe, sind unzutreffend. 30 Es handelt sich um die von Franz Buddeus herausgegebene Historia Fratrum Bohemorum, Halle 1702, der die Ratio disciplinae beigedruckt ist. 31 Zinzendorf hörte von deren Existenz erst im Juli 1727 auf einer Reise nach Schlesien und beschaffte sich die Werke aus der Zittauer Ratsbibliothek (Historischer Begriff von der Beschaffenheit der Brüder aus Mähren und Böhmen, abgedruckt in ZBG 6 [1912], hier: 115). 32 Vgl. unten Teil III. 33 Zinzendorfs Schulfreund, Friedrich von Wattewille, der von Anfang an wichtige Funktionen in der Gemeine bekleidete, war reformiert, mehrfach werden Separatisten und Gichtelianer erwähnt; vgl. z.B. Zinzendorf, Kurze Relation von Herrnhut und Bertholsdorff, abgedruckt in: Joseph Theodor Müller, Die ältesten Berichte Zinzendorfs über sein Leben, seine Unternehmungen und Herrnhuts Entstehen, ZBG 5 (1911), 93–116; 6 (1912), 45–118.196–217; 7 (1913), 114–120,171–215, hier 6 (1912), 60. Von den aus Schlesien geflüchteten Schwenckfeldern, die Zinzendorf in Berthelsdorf aufgenommen hatte (vgl. Horst Weigelt, Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien, Berlin/New York 1973, 254ff), gehörten einige zur Gemeine (vgl. folg. Anm.). Ausdrücklich gestatteten die Statuten auch Katholiken die Ansiedlung in Herrnhut; vgl. Hans-Christoph Hahn/Hellmut Reichel (Hg.), Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität 1722–1760, Hamburg 1977, 74, § 38. 34 Zinzendorf, Geschichte der verbundenen vier Brüder, abgedruckt in: Müller, Berichte 6 (1912), 89.

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Sogar einer der Ältesten war ein Schwenckfelder!35 In den Statuten der Gemeine vom Mai 1727 wurde ausdrücklich gefordert: »Herrnhut [...] soll in beständiger Liebe mit allen Brüdern und Kindern Gottes in allen Religionen [= Konfessionen] stehen, kein Beurteilen, Zanken oder etwas Ungebührliches gegen Andersgesinnte vornehmen [...]«.36 Über das Abendmahl heißt es, daß »ohne allen Unterschied der Meinungen alle Brüder und Schwestern [...] mit einander communicirten«.37 Bereits diese Bemerkungen, nicht zuletzt die verwendete radikalpietistische Terminologie (»Schaum der Meynungen«38, »Sectirerey«, »Gott im Geist und in der Wahrheit dienen«39) lassen den Schluß zu, daß hinter der Gemeindebildung eine philadelphische Konzeption stand. Unter den Zeitgenossen des Grafen hat schon Johann Albrecht Bengel40 den Philadelphia-Gedanken scharfsinnig als Zinzendorfs eigentliches und Hauptanliegen, erkannt, demgegenüber alles andere nur Beiwerk sei.41 Max Goebel42, der beste Kenner des radikalen Pietismus im 19. Jahrhundert, stellte Zinzendorfs Lebenswerk in den Rahmen der philadelphischen Bewegung,43 und Albrecht Ritschl stimmte hierin mit Goebel überein und wies 35 Vgl. Zinzendorf, Kurze Relation, 68. 36 Hahn/Reichel, 75, § 2. 37 Zinzendorf, Kurze Relation, 60. 38 Mit der Bezeichnung konfessionell-dogmatischer Lehren als bloßer »Meinungen« wurden diese im radikalen Pietismus relativiert oder gar für gleichgültig angesehen. »Schaum« hier im Sinne von Geifer. Zahlreiche Belege für die Polemik gegen die für ihre dogmatischen Theoreme geifernden Orthodoxen bei Gottfried Arnold und Johann Konrad Dippel. 39 Joh 4,23f ist ein locus classicus der Spiritualisten und Radikalpietisten. 40 Zu den beiderseitigen Beziehungen vgl. Gottfried Mälzer, Bengel und Zinzendorf (AGP 3), Witten 1968. 41 Vgl. insgesamt Bengels ausführliche Auseinandersetzung mit Zinzendorfs PhiladelphiaVorstellungen, Abriß 204–272, 308f. 42 Vgl. J.F.Gerhard Goeters, Max Goebel, MRKG 8 (1959). 8–12; Martin Schmidt, Epochen der Pietismusforschung, in: Johannes van den Berg und Johannes P. van Doren (Hg.), Pietismus und Reveil, Leiden 1978, 31–34. 43 »So drangen die Erweckten jeglicher Art dem herrschenden Bruderhasse und Bruderstreite entgegen auf Bruderliebe, und suchten auf diese allgemeine Bruderliebe (griechisch: Philadelphia) auch innerlich und äußerlich sich zu vereinigen. Als Ideal einer solchen unparteiischen, nur das Wesentliche beachtende Vereinigung und Gemeinschaft aller wahren Christen, erschien ihnen nach Wort und Sache in ihrem apokalyptischen Eifer die Gemeinde zu Philadelphia mit ihrer Treue und kleinen Kraft (Offb. Joh. 3, 7–13), wogegen die herrschenden Weltkirchen mit ihren vielen Namenschristen und wenigen Getreuen: Sardes (3, 1–6) genannt wurden, und die Laodicäische Lauheit und Blindheit (3, 14–22) als zukünftig bevorstand. Diese unter den schwärmerischen Pietisten, Chiliasten und Apokalyptikern in ganz Deutschland verbreiteten Ideen kamen [...] um das Jahr 1700 (1695) endlich zu wirklicher Ausführung und Darstellung in der Stiftung von philadelphischen Societäten und Gemeinden, deren letzte und gesegnetste die von Zinzendorf gegründete philadelphische Kirche oder die durch ihn erneuerte Brüderkirche in Herrnhut geworden ist. In sie gingen die Vorläufer dieser Richtung nach kürzerer oder längerer Dauer teils unter teils auf, so daß also der Anfang und das Ende des philadelphischen Periodus in die Zeit unmittelbar vor der Erneuerung der Brüdergemeine oder in den Anfang und bis gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts

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erneut nachdrücklich auf die »ursprünglich philadelphische Richtung« in Zinzendorfs Wirken hin.44 Die Zurückweisung, die dieser Sicht des Grafen durch Herrnhuter Forscher zuteil wurde,45 entsprang teils apologetischen Motiven; man wehrte sich dagegen, Zinzendorf mit radikalpietistischen, ›schwärmerischen‹ Ansichten in Verbindung bringen zu lassen.46 Teils beruhte die Ablehnung aber auch auf einer geringen und oberflächlichen Kenntnis der philadelphischen Literatur und der Variationsbreite der philadelphischen Anschauungen. Erst in der Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Bild gewandelt. Otto Uttendörfer will in seiner letzten großen Arbeit über Zinzendorf und die Mystik47 zeigen, »in wie lebendiger Wechselwirkung Zinzendorf mit dem Geistesleben seiner Zeit und gerade auch mit ihrer mystischen Richtung stand und daß seine geistige Entwicklung nur von da aus voll zu begreifen ist«.48 Dabei werden auch die philadelphischen Vorstellungen berührt. Die umfassendste Untersuchung zum philadelphischen Gedankengut des Grafen liefert die leider zu wenig beachtete Arbeit eines anderen Herrnhuter Forschers, Sigurd Nielsen, über Toleranz und Intoleranz bei Zinzendorf, in der vor allem umfängliches handschriftliches Quellenmaterial ausgewertet ist.49 Nielsen erbringt den überzeugenden Nachweis der prägenden Kraft des Philadelphia-Ideals auf Zinzendorfs Denken und Handeln und seiner – bei allen einzelnen Modifikationen – bleibenden Verhaftung in philadelphischen Vorstellungen. Im Anschluß an diese und andere Arbeiten hat der norwegische Lutheraner Leiv Aalen in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Theologie des jungen Zinzendorf 50 die philadelphische Verwurzelung von dessen Kirchenverständnis entschieden in fällt.« (Max Goebel, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinischwestphälischen evangelischen Kirche, III, Koblenz 1860, 73; Goebels Hervorhebungen). 44 Ritschl, Geschichte III, 195ff. Nach Ritschls Meinung ist dann durch die Bildung der mährischen Brüdergemeine eine Modifikation erfolgt (III, 241ff). 45 Vgl. Bernhard Becker, Zinzendorfs Beziehungen zur römischen Kirche, ThStKr 64 (1891), 321–355, hier 346–348: Zinzendorfs Auffassung sei »nicht nur principiell abweichend von derjenigen der Philadelphener, sondern direkt gegensätzlich« (347). Seine Gegenüberstellung, deren Quellenbasis unbekannt bleibt, zeigt wenig Vertrautheit mit der philadelphischen Bewegung und ihren Grundsätzen, die »katholischen Ursprungs« seien (341). Auf Beckers Darlegungen beruft sich Joseph Theodor Müller, Zinzendorf als Erneuerer der alten Brüderkirche, Leipzig 1900 [Reprint in: Z.MD. 2/XII], 5, A. 3. 46 Diese Tendenz tritt besonders in Beckers Monographie, 237ff, deutlich hervor. 47 Otto Uttendörfer, Zinzendorf und die Mystik, Berlin-Ost, o.J. [1951]. 48 Uttendörfer, Mystik 3. Uttendörfers Kritik an der Zinzendorf-Forschung gilt noch immer: »Wenn [...] die Deutung der geistigen Entwicklung Zinzendorfs manchmal zu einseitig auf seine Beziehungen zum hallischen Pietismus und zum Luthertum beschränkt wurde, war die Ursache eine mangelhafte Kenntnis des Geisteslebens der Wende des 17. und 18. Jahrhunderts« (ebd.). 49 Sigurd Nielsen, Der Toleranzgedanke bei Zinzendorf, Hamburg 1952; Teil II–III unter dem Titel: Toleranz und Intoleranz bei Zinzendorf, Hamburg 1960. 50 S.o. Anm. 4.

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den Mittelpunkt gerückt.51 In der neueren Forschung taucht das Stichwort ›philadelphisch‹ öfter als früher auf. Doch die Relevanz der philadelphischen Vorstellungen wird z.T. dadurch abgeschwächt, daß nur das Motiv der Bruderliebe bzw. der Toleranz zwischen den Konfessionen hergekehrt wird, die ekklesiologischen Implikationen hingegen außer acht bleiben; zudem finden nach Zinzendorfs »Wendung zu Luther« die mystischspiritualistischen Einflüsse weniger Aufmerksamkeit. Wann und wo Zinzendorf die erste Kenntnis von der philadelphischen Gedankenwelt erhielt, ist noch unklar.52 Nach allem, was sich bis jetzt erkennen läßt, hat Zinzendorf die für ihn prägende Bekanntschaft mit ihr durch seine enge Verbindung mit dem frommen Grafenhof Reuß-Ebersdorf, wo er in der Comtesse Erdmuthe Dorothea eine gleichgesinnte Ehefrau fand, 1721/22 gemacht. In einer Rede aus dem Jahr 1747 erzählt Zinzendorf im Rückblick: »Wie meine ganze Führung artig und besonders ist, so habe ich auch das Glück gehabt, daß ich vor 24 Jahren53, ehe die kleine Versammlung zu Berthelsdorf54 ihren Anfang genommen, bin nach Ebersdorff gekommen, und habe daselbst eine solche Gemeine zuerst in meinem Leben gesehen [...]. Ich habe in Ebersdorff angetroffen einen Haufen Seelen, die ohne Unterscheid der Religion [Konfession], der PrivatIdeen, die jegliches hatte, ohne Distinction der äussern Verfaßungen sich [zusammen-] geschlossen hatten [...]. Es lebte in Ebersdorf meine Schwiegermutter55, als

51 Aalen, Theologie, 358ff. 52 Nielsen (Toleranzgedanke, 48f) vermutet, Zinzendorf habe sich die philadelphischen Vorstellungen durch die Lektüre von Schriften Jane Leades angeeignet, deren Kenntnis er aber aus apologetischer Esoterik meist verschwiegen habe. Aus Zinzendorfs Bemerkung in einer Rede von 1750 (UA, JHD 1750, Beil. 9), daß er »den Pordage, die Leade, die Bourignon p. gelesen« habe und der damit verbundenen Zeitangabe »vor 30 Jahren«, folgert Nielsen (12): »Vermutlich wird er die Schriften während seines Aufenthaltes in Holland gelesen haben, wo er verschiedene Bibliotheken besuchte [...].« In Zinzendorfs Reisetagebuch, Attici Wallfahrt durch die Welt (UA, R 20.A.6), verlautet über eine Bekanntschaft mit Schriften der englischen Philadelphier nichts, in öffentlichen Bibliotheken dürften die Schriften auch kaum eingestellt gewesen sein. Im Tagebuch vermerkt Zinzendorf aber, daß er nach seinem mehrmonatigen Aufenthalt in Utrecht bei seinem Weggang u.a. von dem – zuvor nie erwähnten! – »Herrn Loth Fischer [...]Abschied genommen« habe »und sonderlich ihme von Loth Fischer [...] tausend Seegen gewünscht« worden sei (UA 20.A.6, fol. 78). Der aus Nürnberg vertriebene, in Utrecht lebende Schulmeister Loth Fischer war zunächst Anhänger Johann Georg Gichtels, wurde dann Anhänger Jane Leades und übersetzte deren Schriften ins Deutsche, die er seit 1694 in Amsterdam im Verlag Wetstein erscheinen ließ. Während Zinzendorfs Aufenthalt in den Niederlanden kam dort eine Gesamtausgabe [Titelauflage] heraus: Jane Leade, Geistliche Schrifften, Amsterdam 1719. 53 Scil. 1722 (das angebrochene Jahr 1747 – Zinzendorf hielt die Rede am 4. Januar – bleibt bei der Zurückrechnung außer Betracht). Die Zeitangabe zielt auf den Beginn der »kleine[n] Versammlung zu Berthelsdorf«, vor deren Beginn die Bekanntschaft mit Ebersdorf stattfand. 54 Zinzendorfs Schloßecclesiola in Berthelsdorf (s.u.). 55 Gräfin Erdmuthe Benigna zu Reuß-Plauen in Ebersdorf, geb. Gräfin von Solms-Laubach; vgl. die Charakteristik bei Wilhelm Jannasch, Erdmuthe Dorothea Gräfin zu Zinzendorf geborene

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eine Einsiedlerin, es lebten 3, 4 Separatisten da, es lebten Hallenser da, es waren von der alten Darmstädtschen56 und Frankfurtischen57 und Württembergischen58 Erwekkung welche da, es waren von der jetzo wieder aufkommenden59 Orthodoxen-Sorte unter den Frommen da [...]. Dieselben Leute alle zusammen habe ich Jahr und Tag mit einander verbunden gesehen, und so verbunden, daß man keinen Unterschied unter den Leuten observirte, ob sie gleich einen ganz diversen Weg gingen, und jeder auf seinem Sinn blieb und seine Art behielt [...].60 Das war mir ein unumstößlicher Beweis von der Möglichkeit der Ecclesiolarum in Ecclesia. Ich fragte nach: Wo kommt Ihr her? Antwort: Wir kommen von Laubach. Wo kommt Laubach her? Von Frankfurth am Mayn. Und da liefen D. Spener und meine selige SchwiegerGroßmutter61, und die noch jetzt lebende Fürstin von Gedern62 und die damals lebende Landgräfin von Darmstadt63 zusammen in einem Punct. Mit einem Wort, die gantze Concentration der Ecclesiolarum in Ecclesia von dem Moment an, da sie ihren Anfang genommen haben. [...]64 Dieses Gemeinlein hat sich nun immer so fortgepflanzt, und wir haben aus diesem Gemeinlein, aus dieser Anstalt, den [Grund-]Riss zu unsrer gekriegt. Das ist mir nun freilich was wichtiges gewesen, Gräfin Reuß zu Plauen, ZBG 8 (1914) [auch als Separatausgabe: Herrnhut 1915], 8ff und bes. 13–18. 56 Zum frühen (noch zu wenig erforschten) Pietismus in Hessen-Darmstadt vgl. Rüdiger Mack, Forschungsbericht: Pietismus in Hessen, PuN, 13 (1987) 181–226, hier 190–195. 57 Paul Grünberg, Philipp Jakob Spener, I, Göttingen 1893, 159–213. Die Darstellung der ersten Zeit von Speners Wirksamkeit in Frankfurt ist überholt durch J. Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 1970. 58 Christoph Kolb, Die Anfänge des Pietismus und Separatismus in Württemberg, WVLG 9 (1900), 33–93, 358–412; 10 (1901), 201–251; 11 (1902), 43–78. 59 Zinzendorf hatte bei dieser Bemerkung wohl kaum die erneuerte Orthodoxie im benachbarten Gießen (die vorliegende Rede ist in der Wetterau gehalten) im Auge, die mit zunehmender Heftigkeit die Herrnhuter befehdete (vgl. Irwing W. Baumann, Der Kampf der Gießener Theologischen Fakultät gegen Zinzendorf und die Brüdergemeine 1740–1750, BHKG 3 [1929], 1–86), sondern jene Erscheinung im 2. Viertel des 18. Jahrhunderts, die Emanuel Hirsch als »pietistische Dreiviertelorthodoxie« charakterisiert (Geschichte der neuern evangelischen Theologie, II, Gütersloh 1951, 395). 60 Zinzendorf führt hier als Beispiel die Abendmahlspraxis an: »Z[um] E[xempel] es war ein öffentlich Abendmahl in der Kirche in Ebersdorff, das hielt der Pfarrer zu Frise [Friesau, dessen Filial Ebersdorf war], Herr Schubert [der Hofprediger] hielt das Abendmahl im Schloß, meine Schwiegermutter hatte ihr Abendmahl vor sich, meine Schwägerin [Benigna], die jetzt in Pottiga wohnt, hatte vor sich auf ihre Art wieder eins,« [diese Formulierung deutet wohl darauf hin, daß die Comtesse Benigna nicht an den Abendmahlsfeiern teilnahm, sondern in mystischspiritualistischer Weise die ›geistliche Kommunion‹ mit ihrem ›Seelenbräutigam‹ vorzog] »und 3 diverse Pfarrer hielten das Abendmahl unter einer protection, und hatten doch ein Consistorium über sich [...].« 61 Gräfin Benigna von Solms-Laubach, geb. von Promnitz-Sorau; eine Monographie von Jutta Taege-Bizer ist in Vorbereitung. 62 Gräfin Christine von Stolberg-Gedern, geb. Herzogin von Mecklenburg-Güstrow; vgl. Eduard Jacobs, ADB IV, 219; Ritschl, II, 219, 288, 457ff, 515; Grünberg I, 171; III, 222, 268, 399; Mack 203, A. 101. 63 Landgräfin Elisabeth Dorothea von Hessen-Darmstadt, geb. von Sachsen-Gotha; vgl. aber Mack 191, A. 44. 64 Das hier ausgelassene Zwischenstück wird unten zitiert.

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daß Ebersdorff heut zutage unter allen ecclesiolis die erste und älteste ist und noch vorm Waysenhaus in Halle65 [...].«66

Dieses zurückschauende Zeugnis Zinzendorfs ist sowohl in historischer als auch in theologischer Hinsicht ein Schlüsseldokument zum Verständnis seiner Gemeindekonzeption. Zinzendorf mißt dem Ebersdorfer Vorbild für die Herrnhuter Gemeine Modellcharakter bei. Er stellt Herrnhut in eine Traditionskette der von Spener angeregten ecclesiolae, die über Laubach und Ebersdorf zu seiner eigenen »kleinen Versammlung« in Berthelsdorf und zur Brüdergemeine führt. An Zinzendorfs Beschreibung des Ebersdorfer »Gemeinleins« wird deutlich, was er unter einer ›ecclesiola‹ verstand. Dort hat er – »zum ersten mal in meinem Leben« – eine derartige Gemeinschaftsbildung kennengelernt. Nicht die ursprüngliche Konzeption Speners, sondern die Form des Konventikels, die ihm unter den Erweckten in Ebersdorf begegnet war, prägte fortan sein Verständnis von ecclesiola. Diese Feststellung besitzt grundlegende Bedeutung und hat weitreichende Konsequenzen, die von der bisherigen Forschung nur ansatzweise wahrgenommen worden sind. Das Urteil über Zinzendorfs Gemeindegründung in Herrnhut und das zugrundeliegende Kirchenverständnis hängen entscheidend an der Erfassung des besonderen Charakters der Ebersdorfer Schloßgemeinde. Der Herrnhuter Historiker Joseph Theodor Müller hat bereits auf zwei gravierende Differenzpunkte zwischen Speners Konzept und der (Laubacher sowie) Ebersdorfer Schloßgemeinde hingewiesen: Einmal habe sich diese die Wirkung auf die örtliche Kirchengemeinde versagt, indem sie unter der Leitung eines Hofpredigers ein getrenntes Eigenleben führte, »wie sie ja überhaupt nicht, wie Spener es gewollt hatte, von dem gemeinsamen Pastor in der Mitte der Gesamtgemeinde eingerichtet worden war«. Zum anderen sei das Ziel einer Kirchenreform, dem bei Spener die ecclesiola diente, indem durch diese wie durch einen Sauerteig die ganze Kirche in Gärung gebracht werden sollte, völlig zurückgetreten.67 Einen dritten, fun65 Zur Nennung des Halleschen Waisenhauses in diesem Zusammenhang, vgl. Zinzendorfs rückblickende Äußerung: Zinzendorf urteilte im Rückblick über August Hermann Francke: »Ich habe izt nicht zu untersuchen, ob der liebe Herr Prof. Francke [...] die fast unfehlbaren aspecte, die es ums Jahr 90 herum zur philadelphischen Gemeine in Halle hatte, wieder rückgängig gemacht habe, das ist ausser meinem District. Aber ich habe sonst was zu erinnern. Hat der Prof. Francke darinnen etwas besonders, etwas göttliches, einen Vorwurff gehabt, der ihm vielleicht von dem Herrn selbst gemacht worden, seinen Eifer auf etwas gewisses zu figieren und von der philadelphischen Arbeit dadurch wieder abzuziehen, weils noch nicht reiff dazu war, so hat er auch dieses sein Werk als ein solches vor den Augen der ganzen Welt genugsam legitimiret und durchgesetzet [...]« (Müller, Berichte, hier ZBG 7, 198). 66 UA Herrnhut, JHD 1747 Jan 4, Beil. 19. Im Auszug abgedruckt bei Müller, Erneuerer, 11f, und bei Gerhard Reichel, Die Anfänge Herrnhuts. Ein Buch vom Werden der Brüdergemeine, Herrnhut 1922, 103. 67 Vgl. Müller, 12f.

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damentalen Unterschied hat Müller übersehen. Zinzendorf betont in seiner Schilderung, daß es sich in Ebersdorf um einen Zusammenschluß »ohne Unterschied der Religion [= Konfession], [...] ohne distinction der äusseren Verfassungen«, also um eine überkonfessionelle Gemeinschaftsbildung handelte. Den Schlüssel zum Verständnis der Ebersdorfer Gemeinschaft liefert Zinzendorf in einem Zwischenstück seines Berichts, den Müller sowohl in seiner Textwiedergabe als auch in der Interpretation unterschlagen hat: »Hie wil ich kürzlich ein Bekentniß thun, ohne alle umstände. Ich rechne Philadelphia von derselben Zeit her. Wenn wirs auch sind actuellement, so haben wirs doch nicht angefangen, sondern D. Spener. Die Ecclesiolae in Ecclesia sind der Grundgedanke von Philadelphia [...].«

Zinzendorf hat den philadelphischen Charakter der Ebersdorfer Schloßgemeinde richtig erkannt. Er irrt freilich, wenn er diese philadelphische Konzeption auf Spener zurückführt. Denn hier handelt es sich nicht mehr um ein Konventikel der ›ernsten Christen‹, das ins Ganze der lutherischen Kirche hineinwirken will, sondern um die zwar nicht förmlich separierte, doch innerlich abgesonderte Gemeinschaft derer, die keine Reform der ›sardischen‹ Kirche erwarten. Die Unterschiede zu Spener konnte Zinzendorf nicht bemerken, da er dessen Vorstellungen von einer ›ecclesiola in ecclesia‹ nicht in ihrer originären Gestalt, sondern bereits in philadelphischer Interpretation kennenlernte. Wenn Zinzendorf sich künftig auf Speners Pläne berief, stand ihm immer eine ›ecclesiola‹ nach philadelphischem Verständnis vor Augen.68 Die Begegnung mit dem ›unparteiischen‹ Zusammenschluß der Ebersdorfer Schloßgemeinde bedeutete für Zinzendorf ein Schlüsselerlebnis. Es ist bezeichnend, daß das Schlagwort ›philadelphisch‹ von ihm zum ersten Mal im Herbst 1721 nach seinem ersten Besuch in Ebersdorf gebraucht wird in einer Wendung, die sein Selbstverständnis und Sendungsbewußtsein zusammenfassend ausdrückt. In einem Brief an die Großmutter schreibt er: »(Ich kann) nach meiner wenigen Einsicht in die oeconomie GOttes, anders nicht schließen, als daß es in der That wahr sey, daß GOtt mich Unwürdigen zu einem Werckzeuge und Mitarbeiter in seiner philadelphischen Gemeine versehen habe.«69

68 Wir berühren damit ein Problem, das noch der gründlichen Untersuchung bedarf: die unterschiedlichen Ausprägungen des pietistischen Konventikels und die mit dem Schlagwort ›ecclesiola‹ verbundenen divergierenden Vorstellungen. Auch Radikalpietisten, die längst die Hoffnung auf eine Reform der Konfessionskirchen aufgegeben hatten, konnten von zu pflanzenden ›ecclesiolae‹ sprechen. So charakterisierte z.B. Johann Samuel Carl seine wiederholten philadelphischen Bemühungen als Versuche »ad plantandas ecclesiolas in ecclesia« (Brief an die Herrnhuter Gemeine vom 31.7.1730; UA, R 20.C.35.80). 69 UA, R 20.B.22.100 (Fragment).

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Von nun an bildete »der Hauffe, der sich so nach und nach, zur Philadelphia in Liebe sammlen läst«, wie es in einem Gedicht von 1722 heißt,70 ein Leitmotiv seines Denkens und Handelns. Was hat Zinzendorf von den Ebersdorfer Philadelphiern gelernt? Ich beschränke mich hier auf das für die Ekklesiologie Relevante. Bei den heilsgeschichtlichen Spekulationen der Philadelphier spielte die Deutung der sieben Sendschreiben der Johannesapokalypse (an die Gemeinden in Ephesus, Smyrna, Pergamus, Thyatira, Sardes, Philadelphia, Laodicea) auf ebensoviele Perioden der Kirchengeschichte eine zentrale Rolle:71 Auf die Zeit von Thyatira, gedeutet auf die mittelalterliche Papstkirche, »die meine Knechte zu Hurerei und Götzendienst verführte« (Apk 2,20), ist seit der Reformation die Epoche von Sardes gefolgt, wo die Christenheit wohl »den Namen, daß du lebst« (d.h. das wiederentdeckte Evangelium) hat, aber doch geistlich »tot« ist, weil ohne Glaubensfrüchte (Apk 3,1ff). Ihr wird nun die Zeit von Philadelphia (Apk 3,7ff) folgen, die schon anbricht. Jetzt werden die wahren Kinder Gottes, die ausgeharrt, das Wort Christi bewahrt und seinen Namen nicht verleugnet haben (Apk 3,8.10), aus allen vier Winden (Mt 24,31) gesammelt werden zur Brautgemeinde des Lammes (Apk 21). Die Konfessionen sind nicht Kirche, sondern »Sekten«, weil sie den Leib Christi durch ihre dogmatischen Streitereien zerteilt haben; sie werden als Teil »Babels« (Apk 14,8 u.ö.) zugrunde gehen. Die in der Diaspora unter den Konfessionen zerstreuten Kinder (I Pe 1,1) der einen unsichtbaren Kirche sollen gesammelt und »alle eins« werden (Joh 17,21). Der Name Philadelphia (ĭȚȜĮįȑȜijȚĮ) weist zugleich hin auf die Bruderliebe (ijȚȜĮįİȜijȓĮ), die das Verhalten der wahren Kinder Gottes charakterisiert (I Kor 5,2, I Kor 13); sie ist »unparteiisch«, weil sie einen Standpunkt jenseits der sektiererischen Religionsparteien und deren zänkischen und intoleranten Lehr»Meinungen« einnimmt, die den Blick auf das Wesentliche, die »Herzensreligion«, verstellen. In diesen philadelphischen Vorstellungen fand der Graf ein gedankliches Rahmenmodell, in das er seine Erfahrungen zu integrieren vermochte: z.B. die Entdeckung von »Kindern Gottes« auch unter den Katholiken während seiner gerade beendeten Bildungsreise. Von der neugewonnenen philadelphischen Sicht erkannte er die Relativität aller Konfessionsgrenzen, die er mit Act 10,34, einer Lieblingsstelle der Philadelphier,72 biblisch begründete:

70 Ursprünglich Epicedium zum Tod Heinrich II. Reuß (BHZ A 226); wieder abgedruckt in: Zinzendorf, Teutscher Gedichte Erster Theil, Herrnhut 1735, 25 (Nr. XXII). 71 Eine gute Zusammenfassung der heilsgeschichtlichen Spekulationen geben jeweils die Erläuterungen der unten (Anm. 94f.) genannten philadelphischen Bibelwerke. 72 Vgl. z.B. die Erläuterung der Berleburger Bibel z.St. (Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments [...], VI, Berleburg 1731, 64).

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»Denn ich wußte, daß in allerley Volck der Herr die Seinen haben wollte.«73 Nun konnte er sich bemühen, »das Beste in allen Religionen zu entdecken, und wenn es möglich wäre, einzelnen [!] Seelen das Gift ihrer Sectirerey zu nehmen«74, d.h. ihren konfessionellen Absolutheitsanspruch. Er wollte sich vornehmen, sich von nun an »in keinerley Partheylichkeit einzulassen«,75 also einen unparteiisch-überkonfessionellen Standpunkt einzunehmen. 1722 dichtete der junge Graf im Sinne der philadelphischen Hoffnung: »Dann wird nichts als Jesus sein; Reformirte, Lutheraner, Kephisch, Paulisch, Mein und Dein, Bischof, Presbyterianer, Alle Secten gehen ein: Und die Liebe bleibt allein.«76

Allein von Zinzendorfs Bekanntschaft mit dem philadelphischen Gedankengut her gewinnt man eine befriedigende Erklärung für Zinzendorfs weitere Unternehmungen. Als Werkzeug und Mitarbeiter in Gottes philadelphischer Gemeinde zu wirken wurde sein Lebensthema. Dieses Programm stand schon hinter seinen Konventikeln in Dresden.77 Philadelphische Ziele traten auch deutlich in Zinzendorfs gleichzeitigen Projekten in der Oberlausitz zutage, z.B. im ›Bund der vier Brüder‹.78 Später fragt Zinzendorf im Rückblick auf diese Anfänge: »Wozu sind wir denn anno 1722 zusammengekommen? [Friedrich von] Wattewille: Ein Philadelphia zu seyn! Zinzendorf: Weil wir's waren. Niemand von uns hat damals weder ans Luthertum noch andere Religionen gedacht [...]. Von der Mährischen Kirche wußten wir damals nichts; sondern wir hatten die Idee, in einem jeden Lande

73 Hervorhebung von Zinzendorf. 74 Zu den Begriffen ›Sekte‹ und ›Sektiererei‹ im radikalpietistischen Sprachgebrauch vgl. unter zahllosen Belegen z.B. Johann Konrad Dippel: »So ist folglich keine Secte die wahre Kirch / weder die Lutherische noch Papistische / noch Reformirte / noch sonst eine / weilen in keiner überall solche Prediger sind / die das Wort Gottes lauter und rein können vortragen / oder von Gott gesandt und tüchtig gemacht sind« (Eröffneter Weg zum Frieden mit Gott und allen Creaturen, I, Berleburg 1747, 142). 75 Sämtliche Zitate: UA, R 20.A.1.1 (biographischer Rückblick auf die Zeit nach seiner Rückkehr von der Bildungsreise, d.h. nach seinem ersten Ebersdorfer Aufenthalt). 76 Schlußvers der Unionsschrift Zinzendorfs von 1721 /22: Auffrichtige Gedancken Von Christlicher Vereinigung Beiderley Evangelischen Meinungen die sich bis anher unter dem Nahmen der Evangelisch-Lutherischen und Reformirten getrennet haben [...]; ungedruckt, Unitätsarchiv Herrnhut, R 20 D 2.44. Zinzendorf hat später die letzten Zeilen korrigiert: »alle Secten einig sein« bzw. »aller Secten Glaubensgrund« »einiget der Liebesbund«. 77 Vgl. den Beitrag von Thilo Daniel in diesem Band. 78 Vgl. Zinzendorfs Bericht oben Anm. 34.

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die Gemeine des Heilands aufzurichten [...]. Es war alles bey uns auf Apoc. 3 auf eine Philadelphia und auf Joh. XVII calculirt.«79

In den Statuten der Gemeine vom Mai 172780 wurde ausdrücklich gefordert: »Herrnhut [...] soll in beständiger Liebe mit allen Brüder und Kindern Gottes in allen Religionen [= Konfessionen] stehen, kein Beurteilen, Zanken oder etwas Ungebührliches gegen Andersgesinnte vornehmen [...]«.81 Über das Abendmahl in Herrnhut heißt es, daß »ohne allen Unterschied der Meinungen82 alle Brüder und Schwestern [...] mit einander communicirten«.83 In philadelphischer Terminologie konnte der Graf rückblickend sagen: Am 12. Mai 1727 (Datum der Statuten) habe der Heiland »einen Theil des verborgenen Sarden in Thyatira auf einmal zu Philadelphia creiret«,84 d.h. einige der verborgenen Protestanten (Sardes), die unter der Papstherrschaft (Thyatira) gestanden hatten (nämlich die aus Mähren Emigrierten) zu einer brüderlichen Gemeinschaft (Philadelphia) zusammengeschlossen. Auch die literarische Produktion jener Jahre läßt immer wieder die philadelphische Prägung erkennen. Die erste Druckschrift, die in der eigenen Druckerei hergestellt wurde, ein Epicedium auf den jansenistischen Bischof von Boulogne mit dem pseudonymen Druckort »à Saint Amour« (= Philadelphia!), preist die Vorzüge der überkonfessionellen Herzensreligion.85 Der ›französische Arndt‹, die Kardinal de Noailles gewidmete Übersetzung der Vier Brüder von wahrem Christentum ins Französische, erschien Zinzendorf damals noch als eine philadelphische Verständigungsbasis, da Arndts kompilatorisches Werk umfangreiche Auszüge aus den spätmittelalterlichen Mystikern enthielt, also die überkonfessionelle Herzensreligion zu repräsentieren schien; alle ›zänkische‹ antikatholische Polemik wurde in der Ausgabe getilgt.86 Zinzendorfs Katechismus Gewisser Grund 87 enthielt 79 UA, R 2.A.33.B. (September 1753). 80 Vgl. dazu Nielsen, Toleranzgedanke, 34–36. 81 Hahn/Reichel, 75. 82 Zum Begriff ›Meinungen‹ vgl. oben Anm. 38. 83 Wie oben Anm. 37. 84 JHD 1748 Mai 11. 85 BHZ A 233. – Eine bislang unbekannte handschriftliche deutsche Übersetzung befindet sich noch im Berleburger Archiv, K 35; Zinzendorf hat sie offenbar bei seinem Besuch 1730 mitgebracht oder seinen philadelphischen Gesinnungsbrüdern zugeschickt. 86 Les quatre livres du vrai Christianisme de Jean Arndt [...], Amsterdam 1723, 2. Aufl.: Quatre Livres du vray Christianisme de J.A. [...], Paris 1725 (beide Druckorte sind fiktiv). Die Entstehungs- und Druckgeschichte ist noch wenig erhellt. Vgl. die Angaben bei Wilhelm Bettermann, Theologie und Sprache bei Zinzendorf, Gotha 1935, 216, Anm. 9. 87 Gewisser Grund Christlicher Lehre / Nach Anleitung des einfältigen Catechismi seel. Herrn D. Luthers / Auf die untrüglichen Worte H. Schrifft / ohne menschlichen Zusatz und Griffe der falsch-berühmten Kunst / zu allgemeinem Gebrauch gestellet [...], Leipzig 1725. Vgl. zu diesem Katechismus Gottfried Geiger, Zinzendorfs Katechismus »Gewisser Grund« (1725) als seine »Theologie« in der Frühzeit Herrnhuts: PuN 25 (1999), 43–82.

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nicht nur scharfe Kritik an »dem Secten-Wesen der Recht-Gläubigen« und der orthodoxen Theologie88, sondern verriet wiederum das philadelphische Konzept der unsichtbaren Kirche der in allen Konfessionen zerstreuten Kinder Gottes (Diaspora).89 Die letzten Reden unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi vor seinem Creutzes-Tode90 widmeten sich den bei Philadelphiern besonders geschätzten johanneischen Abschiedsreden; fanden sie doch hier ihre Lieblingsmotive – die Sendung des Geistes, das Bleiben in der Liebe, die Feindschaft der Welt und der Synagoge (= verweltlichten Kirche, vgl. auch Apk 3,9!) und die verheißene Einheit (Joh 17,21 – eine Lieblingsstelle Zinzendorfs!91) beieinander.92 Schließlich gehört die Ebersdorfer Bibel93 mit der älteren Marburger Bibel94 und der Berleburger Bibel95, die etwa gleichzeitig zu erscheinen begann, in die Reihe der philadelphischen Bibelwerke. An einer Reihe von Stellen enthalten Zinzendorfs Summarien Wendungen radikalpietistisch-philadelphischer Kirchenkritik.96 Die vielfältigen Unternehmungen des Grafen und seiner Mitarbeiter, nicht zuletzt die ausgedehnte Reisetätigkeit und die Korrespondenz, sollten der Sammlung der wahren Kinder Gottes zur Philadelphia dienen. So heißt es über die Studentenerweckung in Jena, daß sie »auf Philadelphia losge-

88 Gewisser Grund XV. Vgl. die bereits im Titel markierte Frontstellung: »Auf die untrüglichen Worte H. Schrifft / ohne menschlichen Zusatz und Griffe der falsch berühmten kunst«. »Falsch berühmte Kunst« (I Tim 6,20) war ein bei den Radikalpietisten beliebter polemischer Begriff gegen die orthodoxe Theologie. 89 Gewisser Grund, 133 (Fragen, 132–134). 90 Die letzten Reden unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi vor seinem Creutzes-Tode / Das 14. 15. 16. u. 17. Cap. S. Johannis in sich haltend [...], Frankfurt/Leipzig 1725. 91 Vgl. etwa das Zitat bei Anm. 79. 92 Eine besonders nahe literarische Parallele zu Zinzendorfs Schrift ist Eberhard Ludwig Grubers Schrift: Exegetische Reimen-Prob / über die Letste Rede unsers Herrn Jesu Christi / an seine wahrhafftige Jünger / und dessen Hohenpriesterliches Gebet vor dieselbige / in dem 14. 15. 16. und 17den Capitel des theuren Evangelisten Johannis begriffen, abgefasset und mitgetheilet in einfältigem Liebes-Gehorsam [Kryptonym = Eberhard Ludwig Gruber], o.O. 1722. Trotz zahlreicher sachlicher Parallelen, die in der gleichen philadelphischen Tradition begründet sind, läßt sich aber keine literarische Abhängigkeit Zinzendorfs von Gruber nachweisen. 93 Biblia, Die gantze göttliche Heilige Schrifft Altes und Neues Testaments [...], Ebersdorf 1727. Vgl. dazu Kai Dose, Die Bedeutung der Schrift für Zinzendorfs Denken und Handeln, Diss.theol. Bonn 1977, 124–139; Jürgen Quack, Evangelische Bibelvorreden von der Reformation bis zur Aufklärung, Gütersloh 1975, 283–294, die aber den philadelphischen Charakter nicht beachten. 94 Mystische und prophetische Bibel [...], Marburg 1712. Vgl. Quack, 299–304. 95 Die Heilige Schrift Altes und Neuen Testaments [...], I–VIII, Berleburg 1726. Vgl. Martin Hofmann, Theologie und Exegese der Berleburger Bibel, Gütersloh 1937; Quack, 304–322; Martin Brecht, Die Berleburger Bibel. Hinweise zu ihrem Verständnis, PuN 8 (1982), 162–200. 96 Vgl. etwa zu Mk 9; Lk 3; Joh 4; Act 17f, 23, 28; I Kor 1, 3, 4, 6; Gal 6; Phil 3 (»secten«, »sectirerey«, »nahmenreligion«, »äusserliche religion«, »meinungen«, »das ceremonien machen« u.a.).

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gangen« seien.97 Zinzendorfs Unternehmungen im Wittgensteiner Land 1730 zielten ebenso wie die Verbrüderung mit der philadelphischen Gemeinde der Inspirierten auf die Vereinigung der zerstreuten ›Diaspora‹. Sowohl in Berleburg als auch in Schwarzenau versuchte Zinzendorf, eine Gemeindebildung unter den zerstrittenen Separatisten einzurichten, und entwarf nach dem Vorbild der Herrnhuter Satzungen von 1727 Statuten, auf die sich die Separatisten verpflichten sollten. 98 Inhaltlich ist der philadelphische Charakter dieser Grundsätze evident. Es geht um die überkonfessionelle Liebesgemeinschaft der wahren Gläubigen, die in diesen Gemeindebildungen Gestalt gewinnen sollte. Der gedankliche Ausgangspunkt ist die unsichtbare Kirche als »die eigentliche und ganze Gemeinde«.99 Deren Glieder finden sich unter allen christlichen Gruppierungen (»Secten«), ja »vermutlich« sogar unter nichtchristlichen Religionen.100 Jede kirchliche Gemeinschaftsbildung, die sich nur in der »Übereinstimmung der Meinungen und Formen« gründet, d.h. sich nur als Bekenntnis- und Kultusgemeinschaft definiert, »ist eine schädliche Secte«, sofern die »Aenderung des Herzens« fehlt.101 Der Unterschied in der ekklesiologischen Verhältnisbestimmung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche gegenüber der lutherischen Tradition wird deutlich, wenn es heißt: »Die unsichtbare Kirche kann der Welt sichtbar werden durch verbundene Glieder.«102 Zinzendorfs Bedencken und Send-Schreiben, die er 1734 zu veröffentlichen begann, trugen den bezeichnenden Untertitel: »vornehmlich die in der Christlichen Religion herzustellende Gemeinschafft wahrer Kinder Gottes betreffend«.103 Auch die in den 30er Jahren begonnene Mission ist auf diesem Hintergrund zu sehen.104 Während die Hallesche Mission die konfessionelle Prägung der Missionsgemeinden bewußt bejahte, warnte Zinzendorf davor, die Heiden zu »Sektierern« [Angehörigen einer bestimmten 97 UA, R 2.A.17.1, S. 35 (Marienborner Synode 1745); vgl. dazu Nielsen, Toleranzgedanke, 84 Anm. 514. 98 Abgedruckt in: BS I, 362f (Berleburg) und BS I, 40–44 = Freiw. Nachl., 601–605 (Schwarzenau). Die Schwarzenauer Statuten tragen den Titel: Project zur Errichtung einer Gemeine an die įȚĮıʌȠȡĮȞ im Westerwalde. 99 BS I, 362 (Art. 2). 100 Ebd. (Art. 3). 101 Ebd. (Art. 1). 102 Ebd. (Art. 4), meine Hervorhebung. 103 Einer Hohen Standes-Person Seit 1721. gestellte Bedencken und besondere SendSchreiben, In allerhand practischen Materien vornehmlich die in der Christlichen Religion herzustellende Gemeinschafft wahrer Kinder Gottes betreffend [...], Frankfurt und Leipzig 1734 (BHZ A 120.1.1 Teil 1 und 2); ähnlich auch die gleichzeitige Ausgabe mit Nennung des Autors und geringfügigen Änderungen im Titel (BHZ A 120.1.2) und die Ausgabe der dritten Abteilung der Bedenken (BHZ 120.1 Teil 3). 104 Vgl. Leiv Aalen, Kirche und Mission bei Zinzendorf. Aus den Geburtswehen der evangelischen Weltmission, LR 5 (1955), 267–281.

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Konfession] zu machen. Im Kontext seiner philadelphischen Hoffnungen sah er die letzte große Erweckungszeit herannahen. So wie er die Herrnhuter Erweckung als Vorboten einer neuen Zeit betrachtete, so war ihm auch die Mission ein Vorzeichen für die »Zeit der Heiden«. Die »Erstlinge«, die es für den Heiland zu gewinnen galt, waren ihm das Angeld für die Aufnahme der Heidenvölker in die endzeitliche Brautgemeinde. Dann würde auch die Bekehrung Israels erfolgen (Röm 11,25ff). Gesinnungsfreunde wußten den Charakter der Unternehmungen Zinzendorfs richtig einzuschätzen: Samuel Lutz sah in Herrnhut Philadelphia entstehen, und Victor Tuchtfeld sprach von Herrnhut als einer wahrhaftigen philadelphischen Gemeinde,105 und die ›Geistliche Fama‹, das Berleburger Organ der Philadelphier, druckte in ihren ersten Stücken Beiträge über das philadelphische Wirken des Grafen und seiner Mitarbeiter ab.106 Wie die philadelphische Ausrichtung gleichsam als ein roter Faden die weitere Biographie Zinzendorfs und die Geschichte der Brüdergemeine zu seinen Lebzeiten durchzieht, kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden; auch die Einzelheiten seiner Anschauungen und nicht zuletzt die Modifikationen, die der Graf im Lauf der Jahrzehnte vornahm, bedürften einer eingehenden Untersuchung. Jedoch drängt sich auch schon dem flüchtigen Beobachter, wenn er nur ein wenig die Fingerzeige zu erkennen gelernt hat, die Einsicht auf, wie die philadelphischen Vorstellungen das Continuum in den ekklesiologischen Anschauungen des Grafen bilden. Stellvertretend sollen nur drei verschiedenartige, aber jeweils signifikante Vorgänge erwähnt werden: 1. Besonders deutlich treten Zinzendorfs philadelphische Ziele bei seinen Unternehmungen in Pennsylvanien (1741/42) zutage. Hier versuchte der Graf – ungehindert von den Rücksichten, die ihm in der konfessionellen Welt Europas auferlegt waren – aus den verschiedensten Gruppierungen (Lutheraner, Reformierte, Neutäufer, Inspirierte etc.) eine ›Kirche Gottes im Geist‹ zu sammeln.107 2. Während der sog. ›Sichtungszeit‹ wurde in der Mitte des Betsaals auf dem Herrnhaag ein illuminiertes transparentes Bild aufgestellt, »wie der liebe Heiland den Engel der Gemeine in Philadelphia bey der Hand nimt und ihm eine offne Thür [Apk 3,7!] gibt zu allen 4 Welt Theilen und den 105 Vgl. die Belege bei Nielsen, Toleranzgedanke, 38. 106 Geistliche Fama 1 (1730), 47–62 [»H. und H.« = Halle und Herrnhut]; 2 (1731), 25–65 [Christian David], 65–74 [Zinzendorf, Ölblatt des Friedens]. 107 Vgl. John J. Stoudt, Count Zinzendorf and the Pennsylvania Congregation of God in the Spirit, ChH 9 (1940), 366–380; Peter Vogt, Zinzendorf und die Pennsylvanischen Synoden 1742, UnFr 36 (1994), 5–62.

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mancherley nationen derselben«.108 Brüderisch und philadelphisch wurden Synonyme, ein Mitglied der Brüdergemeine war »ein philadelphischer Bruder«, die Brüdergemeine Philadelphia. Ja, sagte der Graf, immer wieder, »wir sinds actuellement«.109 3. Als es 1749 gelang, die Anerkennung der Brüdergemeine durch das englische Parlament zu erhalten,110 konnte Zinzendorf durchsetzen, daß die Bezeichnung ›Mährische Brüder‹ vermieden und statt dessen von der ›Unitas Fratrum‹ gesprochen wurde. Er sei zufrieden, berichtete er im Mitarbeiterkreis, »daß der Name Mährisch so glücklich supprimirt [unterdrückt] und der alte Brüder-Name Unitas Fratrum, auf Griechisch Philadelphia, auf Teutsch Brüder-Gemeine vom Parliament so solenn [feierlich] wider hergestellt worden« sei.111

II. Philadelphia und das lutherische Maul Die Bezeichnungen der Brüdergemeine als Philadelphia und ihrer Mitglieder als philadelphische Brüder begegneten in den für die Öffentlichkeit bestimmten gedruckten Schriften oder nach außen gerichteten Verlautbarungen weitaus seltener, als sie innerhalb der Gemeine, besonders aber im engeren Zirkel der Mitarbeiter Zinzendorfs gebraucht wurden.112 Zinzendorf wußte »Theologia arcana und publica« zu unterscheiden, d.h., »was auf den Dächern zu predigen und was hingegen unter den Brüdern und im Heiligthum zu bewahren ist«.113 Doch wenn sich Zinzendorf zur Rechtfertigung seines philadelphischen Konzepts nicht nur auf Spener, sondern auch auf Luther berief, war das kein bloßer Vorwand. Denn bei aller Apologetik und trotz der ›theologia arcana‹ spricht daraus offenbar ehrliche Überzeugung. Er hat gemeint, Luther so interpretieren zu können, wie er es tat. Zinzendorf begründete sein Bleiben in der lutherischen Kirchenverfassung und seine ›äußere Religionstreue‹ damit, daß die lutherische Konfession im Vergleich zu allen andern die – relativ – beste, und wenn man das Überflüssige beisei108 UA, JHD 1747 Mai 31. 109 S.o. nach Anm. 68. 110 Vgl. den Beitrag von Podmore in diesem Band. 111 JHD 1749 März 29. 112 Wenn Nielsen meint, die Bezeichnung der Gemeine als Philadelphia sei »nie öffentlich nach außen hin« geschehen (Toleranzgedanke, 38, meine Hervorhebung), so ist das nicht zutreffend, wie z.B. Zinzendorfs Discourse über die Augsburger Confession (s.u. Anm. 117) zeigen. 113 Zinzendorf, Theologische und dahin einschlagende Bedencken, Büdingen 1742, 38 (aus einem Schreiben an Prof. R[euß] in T[übingen]. Vgl. Mt 10,27 par.

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te setze (also nach dem eklektischen Grundsatz der Radikalpietisten verfahre, »alles prüfet, das Gute behaltet« [I Thess 5,21]114), eine gesunde Lehre sei.115 In ihrer Substanz – nicht in den Systemen der orthodoxen Schultheologie116 – entspreche sie dem, was Christus und die Apostel als Hauptwahrheiten der Herzenreligion hinterließen. So konnte Zinzendorf auch der Confessio Augustana als »dem Philadelphischen Glaubens-Bekenntnisse«117 Reverenz erweisen und anhand ihrer Lehrartikel »demonstriren, was ein in den Heiland ganz verliebtes und seliges Herz, in einem solchen LehrBekenntnisse […] ohne mühsames Suchen und Nachsinnen darin findet«.118 Die CA ist »das Dessein [Muster] von dem philadelphischen Lehr-Gebäude«,119 »die Confeßion des Kirchleins Philadelphia«.120 Bengel schreibt dazu – polemisch, aber sachlich zutreffend: »Bey seinen Discoursen über die 21 Articul hat er nicht die Confession selbs, sondern seine poetische Summarien über die Confession zum Text genommen: womit er denn einen Transport von der augspurgischen Confession auf seine philadelphische neugemodelte und neue Lehre, der grossen Ungleichheit ungeachtet, zuwege bringt.«121

Die Hauptwahrheiten der Herzensreligion kann »ein in den Heiland ganz verliebtes Herz« aber auch in anderen Konfessionen finden, und so, wie man sie bei Luther oder in der Confessio Augustana entdecken kann, lassen sie sich z.B. auch im Berner Synodus122 antreffen oder auch ganz unter Verzicht auf die konfessionelle Schulterminologie ausdrücken. Als Anknüpfung an Luther wird meist Zinzendorfs angebliche Aufnahme der ›theologia crucis‹ angesehen.123 Dieser vom jungen Luther geprägte 114 Belege bei Hans-Jürgen Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Heinrich Reitz' »Historie der Wiedergebohrnen« und ihr geschichtlicher Kontext (Palaestra 283), Göttingen 1989, 385f, Anm. 82. 115 »[…] daß Religio Lutherana in comparaison aller andern Religionen optima, und wenn man superflua removirt / eine gesunde Lehre sey« (Theologische Bedencken, 38 und 81). 116 Zu Zinzendorfs Beurteilung der Schultheologie vgl. Becker, 342–350. 117 Zinzendorf, Ein und zwanzig DISCOURSE über die Augspurgische CONFESSION [...], o.O. 1748 [1749; Reprint Hildesheim 1963], 61. 118 Discourse, Vorbericht (unpag.) 119 Discourse, 48. 120 Discourse, 57. 121 Bengel, Abriß, 175. 122 Vgl. dazu Ernst Saxer, Zinzendorf und der Berner Synodus, UnFr 29/30 (1991), 151–175; Rudolf Dellsperger, Einheitskonzeption und Bekenntniskonzeption. Die Bedeutung des Berner Synodus für Zinzendorfs Einheitsbestrebungen in Pennsylvanien: ders., Kirchengemeinschaft und Gewissensfreiheit. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte der reformierten Schweiz. Ereignisse, Gestalten, Wirkungen, Bern u.a. 2001 (BSHST 71), 163–181 (dort 175, Anm. 27 weitere Lit.). 123 Nachhaltig wirkten die Arbeiten von Heinz Renkewitz, Luther und Zinzendorf, NKZ 43 (1932), 156–179; ders., Zinzendorf als Theologe des Kreuzes, Luth. 50 (1934), 297–308; Samuel Eberhard, Kreuzes-Theologie. Das reformatorische Anliegen in Zinzendorfs Verkündigung, München 1937 (verdankt prägende Impulse dem Luther-Forscher Hans Joachim Iwand); Gerhard

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und so nur kurzzeitig (1518) begegnende Begriff hat jedoch eine bestimmte Konnotation.124 In der Zinzendorfforschung wird er dagegen größtenteils schlagworthaft gebraucht und soll die zentrale Stellung des Kreuzesgeschehens bei Zinzendorf seit seiner 1734 erfolgten ›Wendung zu Luther‹ bezeichnen. Der Graf hat sich zweifellos oft auf den Reformator berufen, doch seine Lutherrezeption bedarf noch einer sorgfältigen Analyse.125 Luthers Begriff der ›theologia crucis‹ hat Zinzendorf wohl kaum gekannt und sein Verständnis von ›Kreuzestheologie‹ selbständig entwickelt. Immerhin lassen sich beim Grafen seit den 1730er Jahren Akzentverschiebungen beobachten, die jedoch die Ekklesiologie weniger berühren. Betrachtete Zinzendorf wie andere Philadelphier die Herzenstheologie als das süße Wort Gottes, das die wahren Kinder Gottes geschmeckt haben, so nahm er seit den 30er Jahren eine Präzisierung vor. Die Herzenstheologie ist die Kreuzestheologie, die er als die »Lehre vom Leiden Jesu« versteht und als verliebte Betrachtung der »Marter-Schöne« des Bräutigams deutet.126 In diesem Sinn übersetzte er jetzt die Stelle im Sendschreiben an Philadelphia: weil du bewahrt hast to`n lo´gon tv˜ß ušpomonv˜ß mou (das Wort von meiner Geduld) als »weil du das Wort von meinem Leiden bewahrt hast«. Das Festhalten an dieser Leidenslehre wird zum eigentlichen Original-Charakter der philadelphischen Gemeinde.127 In der Ekklesiologie sind indessen gravierende Unterschiede zu Luther und dem Luthertum erkennbar. Ich hebe zwei Punkte heraus: die Bedeutung von Wort und Sakrament und die – damit verknüpfte – Frage der Sichtbarkeit von Kirche. 1. Wort und Sakrament sind für Zinzendorf zwar notwendige, unentbehrliche äußere Mittel – hier unterscheidet er sich von dem konsequenten

Gloege, Zinzendorf und das Luthertum, Jena [1950], wieder abgedr. in: ders., Theologische Traktate (Verkündigung und Verantwortung 2), Göttingen 1967, 40–68; Erich Beyreuther, Zinzendorf und die Christenheit, Marburg 1961, 46ff (»Wendung zu Luther«). 124 Vgl. Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 49–52 (Lit.). 125 Schon Uttendörfer hat in seiner letzten Monographie die einseitige Konzentration auf die Bedeutung des Luthertums für den Grafen kritisiert und diese Einseitigkeit auf »eine mangelhafte Kenntnis des Geisteslebens der Wende des 17. und 18. Jahrhunderts« zurückgeführt (Uttendörfer, Mystik, 3). 126 Discourse, 307. Die Kontinuität der Wahrheitszeugen durch die Jahrhunderte (Graf Elger, Bernhard von Clairvaux, Tauler, die Böhmischen Brüder, Luther, Johann Rist, Valerius Herberger, Angelus Silesius und schließlich die Herrnhuter) »lassen uns nicht ohne Grund hoffen, daß die Braut allemal in ihren Bräutigam verliebt gewesen, und zwar auf gut Biblisch, da Ihm schon im Alten Testament keine andere Schönheit nachgerühmt wird, als die Marter-Schöne« (ebd., Anm. *). 127 Belege bei Nielsen, Toleranzgedanke, 50f.

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Spiritualismus vieler Philadelphier.128 Aber sie sind nicht eigentlich Träger der inneren Gemeinschaft, die sich in der Gemeine verwirklicht; sie konstituieren nicht Kirche. Für Zinzendorf ist Kirche nicht Hör-Kirche im Sinne Luthers, die ex auditu verbi entsteht – das wäre nach Zinzendorf ein äußerliches opus-operatum-Denken.129 Zugespitzt kann man sagen: Glaube und Kirche werden nicht durch Wort geschaffen, sondern nachträglich durch Wort und Sakrament gepflegt. Nicht durchs Wort allein – das sei eine »Wittenbergische lutherische Grille« –, sondern durch geheimnisvolle Krafteinwirkung, in der »was magnetisches und magisches liegt«, handele Christus mit den Seinen.130 Die unmittelbare Christusgemeinschaft geht zwar nicht am Wort der Schrift vorbei, führt aber durch sie hindurch und in gewisser Hinsicht über sie hinaus. 2. Für Luther gilt: »Abscondita est Ecclesia, latent sancti.«131 Die wahren Gläubigen sind in der empirischen Kirche verborgen, und die wahre Kirche ist in ihrer diesseitigen Verborgenheit nur an den dort verwalteten Gnadenmitteln erkennbar. Die Sicht Zinzendorfs wird schon daran deutlich, daß er CA VII in charakteristischer Weise ergänzt – und zwar durch ein damit verknüpftes Luther-Zitat –, aber dadurch entscheidend verändert: »Wir erkennen keine offenbare Gemeine Christi, als wo das Wort GOttes rein und lauter gelehrt wird, und sie auch heilig als die Kinder GOttes danach leben.«132 Die Heiligung wird gewissermaßen zu einer nota ecclesiae. Und diesem heiligen Leben gelten die seelsorgerlichen und die Zuchtmaßnahmen in der Gemeinde. Wie es für Zinzendorf schon während der Kirchengeschichte immer wieder sichtbare Kirchlein, kleine Herden, gab, so wird die unsichtbare Kirche gegenwärtig zur greifbaren Wirklichkeit als aus der Zerstreuung gesammeltes, sichtbar in die Welt gestelltes und an seiner Heiligung erkennbares Philadelphia.133

128 Vgl. etwa seine Auseinandersetzung mit dem Inspirierten Johann Friedrich Rock über Taufe und Abendmahl in: Geheimer Brief-Wechsel des Herrn Grafens von Zinzendorf mit denen Inspirirten [...], Frankfurt am Main/Leipzig 1741, 149f. 129 Vgl. Aalen, 388, dessen Vergleich mit der lutherischen Ekklesiologie ich hier aufnehme. 130 JHD 1751 Dez 24. Heinz Renkewitz, Im Gespräch mit Zinzendorfs Theologie, hg. v. Dietrich Meyer, Hamburg 1980, 30, bemerkt dazu: »Und hier ist ein Gedankengang, der mir bisher unverständlich geblieben ist. Er spielt aber eine große Rolle bei Zinzendorf, und wir können ihn nicht umgehen. Auch scheint hier eine Parallele vorzuliegen zu ganz modernen Gedanken, wie sie uns etwa bei den Theosophen und bei der Christengemeinschaft begegnen.« 131 WA 18, 652,23. 132 Notariatsinstrument 1729, in: BS I, 14f (meine Hervorhebung); weitere Stellen bei Aalen, 378, Anm. 240. 133 Zu Zinzendorfs Projekt einer kirchengeschichtlichen Darstellung der kleinen Gemeinen vgl. Otto Uttendörfer, Zinzendorfs Weltbetrachtung. Eine systematische Darstellung der Gedankenwelt des Begründers der Brüdergemeine (Bücher der Brüder 6), Berlin 1929, 119ff.

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So stellt sich die Frage, ob durch diese Ekklesiologie nicht auch die eschatologischen Schranken einer theologia crucis – in Luthers Sinn – aufgehoben werden. Die Rede vom bereits wiedergekommen Christus »in silentio et pleura«134 während der Sichtungszeit war vielleicht doch nicht nur ein vorübergehender Lapsus, und trotz aller Rede vom »Kreuzreich Jesu«135 und von »Kreuz-Gemeinen« bleibt die Frage, ob nicht ekklesiologisch – um noch einmal Luthers frühe Terminologie aufzugreifen – die Gefahr besteht, in eine theologia gloriae zu verfallen.

III. Philadelphia und der mährische Rock Die mährische Tradition bildete seit den Anfängen Herrnhuts ein latentes Spannungselement. In seiner philadelphischen Schau der Kirchengeschichte meinte Zinzendorf, in der Alten Brüderunität eine jener kleinen Herden erkennen zu können, in denen die unsichtbare Kirche durch verbundene Glieder sichtbar geworden sei.136 Hieran konnte er anknüpfen und die Mähren in seine philadelphischen Pläne hineinnehmen, wenngleich ihm mit der Zeit die Unterschiede sehr bewußt wurden. »Die Mährische Kirche muß nur ihren Namen leihen, wo wir nicht durchkommen können«, konnte er später einmal ungeschützt im internen Kreis sagen, denn sie »findet ein offenes Thor [Apk 3,8!] durch die ganze Christenheit«.137 Indem Zinzendorf die Mähren als Augsburger Religionsverwandte deklarierte, die lediglich eine eigene Kirchendisziplin hätten, und sie in Herrnhut in die lutherische Pfarrei Berthelsdorf eingliederte, später in Herrnhaag sie aber als der reformierten Praxis nahestehend deklarierte,138 versuchte er, den Verdacht einer reichsrechtlich illegitimen vierten Konfession abzuwenden und zugleich unter Hinweis auf die mährische Tradition die besonderen Ordnungen der 134 Vgl. dazu Eberhard, 211–226. 135 Vgl. den Titel der Schrift: Die gegenwärtige Gestalt des Creutz-Reichs JEsu in seiner Unschuld d.i. Verschiedene deutliche Wahrheiten denen unzehligen Unwahrheiten gegen eine bekante Evangelische Gemeine [...] entgegen, Und allen unpartheyischen [!] Gemüthern vor Augen gestellet [...], Frankfurt/Leipzig 1745 (BHZ 173). 136 Vgl. Nielsen, Toleranzgedanke, 38–41. 137 UA, R 2.A.33.B, 585 und 588 (2. Ratstag Lindseyhouse 1753). 138 Nach August Gottlieb Spangenberg, Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf, 8 Theile, [Barby] 1773–1775 [Reprint 1971], 1489, hätte es Zinzendorf gern gesehen, »daß sich Herrnhaag auf die Art an die reformierte, wie Herrnhut an die lutherische Religion […] angeschlossen hätte, mit Beybehaltung der den Brüdern so sehr gesegneten Gemeinordnung und Einrichtung«. In den Verhandlungen mit der Büdinger Regierung ließ er wiederholt auf die Nähe der Mähren zum reformierten Kirchenwesen hinweisen; vgl. etwa General Bedencken das Etablissement der Mährischen Brüder, die sich in die Wetterau gezogen haben, betreffende, ohnvorgreiflich an den Hw. Bischoff Nitschmann gestellet (UA, R 8.4.5.b).

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Brüdergemeine zu rechtfertigen. Endlich konnte dann in England und den englischen Kolonien der Rekurs auf die bischöflich verfaßte alte böhmischmährische Brüderkirche mit angeblich apostolischer Sukzession des Episkopats, die vom Erzbischof von Canterbury anerkannt wurde, die Tätigkeit der Herrnhuter erleichtern.139 J.A. Bengel hat wiederum zutreffend diagnostiziert: »Die mährische Kirchen=Form ist ihm [Zinzendorf] ein dienliches Schema, nur bey einem Theil der grossen Gemeinde im Geist, v. gr. [verbi gratia, zum Beispiel] apud ecclesiam Anglicanam.«140 Doch indem Zinzendorf den Mähren ihre verschütteten Traditionen bewußt gemacht hatte, waren bei ihnen unbeabsichtigt sonderkirchliche Tendenzen freigesetzt worden, die seinen philadelphischen Plänen nicht konform waren. Die Einführung mährischer Weiheämter141 – doch wohl nicht allein durch praktische Gründe motiviert142 – war unbeabsichtigt ein Schritt in diese Richtung. Im März 1735 empfing David Nitschmann, am 20. Mai Zinzendorf selbst die Bischofsweihe der Alten Unität. Vor allem während Zinzendorfs Abwesenheit in Amerika wirkte sich das mährische Selbstbewußtsein in eine Richtung aus, die nicht im Einklang mit seinen philadelphischen Intentionen stand: es stärkte das Verlangen nach kirchlicher Eigenständigkeit. Die Aktivitäten der Generalkonferenz, des interimistischen Leitungsgremiums, zielten auf volle staatliche Legitimation als eigenständige Kirche. Durch eine Generalkonzession Friedrichs II. von Preußen vom 25.12.1742 für die Anlegung mährischer Gemeinden in allen preußischen Landen, der sich Spezialkonzessionen für einzelne schlesische Orte anschlossen, wurde die Brüdergemeine erstmals als selbständige mährische Kirche mit bischöflicher Verfassung anerkannt.143 Für die Gemeinden in der Wetterau, die de facto schon von Anfang an ein eigenständiges Kirchenwesen bildeten, folgte eine gleichartige Bestimmung in einem Vertrag mit den Ysenburger Grafen am 1. Januar 1743.144 Verhandlungen mit anderen Staaten (Niederlande, Herzogtum Sachsen-Gotha) waren im Gange.

139 Vgl. den Beitrag von Podmore in diesem Band. 140 Bengel, Abriß, 538. 141 Vgl. Julius Köstlin, Das Bischoftum in der Brüdergemeine und die katholische und anglikanische Idee der apostolisch-bischöflichen Succession, ThStKr 69 (1896), 34–68; Ernst Benz, Die bischöfliche Ordination und die apostolische Sukzession bei den Böhmischen Brüdern und in der erneuerten Brüdergemeine, in: ders., Bischofsamt und apostolische Sukzession im deutschen Protestantismus, Stuttgart 1953, 56–78. 142 Die Heidenmissionare bedurften, um unangefochten Sakramente spenden und Amtshandlungen vollziehen zu können, einer Ordination, die aber für unstudierte Handwerker von einer lutherischen Kirche nicht zu erlangen war. 143 Vgl. Friedrich Schwenker, Friedrich der Große und die schlesischen Brüdergemeinen, Herrnhut 1937. 144 Vgl. Klaus-Peter Decker, »Gemeine des Lammes« oder »Staat im Staate«? Der Herrnhaag als politisches Modell und sein Ende 1747–1750, JHKGV 52 (2001). 25–51, hier 37f.

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So sah Zinzendorf bei seiner Rückkehr aus Amerika seine Pläne schwer gefährdet. Denn mit der rechtlichen Konstituierung einer mährischen Sonderkirche würde unausbleiblich die Arbeit an der ›Diaspora‹ in den anderen Konfessionen erschwert, wenn nicht gar unmöglich werden. Daher war rasches Handeln geboten. Er ließ alle schwebenden Verhandlungen niederschlagen, die Generalkonferenz auflösen und sich als »vollmächtigen Diener« auf Lebenszeit mit unbeschränkten Vollmachten ausstatten.145 Mit allen Mitteln versuchte er, sein philadelphisches Gemeindeverständnis unter den neuen Gegebenheiten durchzusetzen. Auf diesem geschichtlichen Hintergrund ist auch die Ausbildung der sog. Tropenlehre146 zu sehen. Albrecht Ritschl hat scharfzüngig bemerkt, daß einige diesbezüglichen Ausführungen Zinzendorfs »von einer solchen Undeutlichkeit sind, daß sie sich jeder Darstellung entziehen«.147 In der Tat wechseln in Zinzendorfs Aussagen oft verschiedene Betrachtungsweisen und Gesichtspunkte, so daß ein verwirrender Eindruck entstehen kann. Dies liegt nicht zuletzt in der Art und Weise, wie er die »Vielheit und Mannigfaltigkeit« der Konfessionen und religiösen Gruppierungen als unterschiedliche »tropoi paideias« (IJȡȩʌȠȚ ʌĮȚįİȓĮȢ), Erziehungsweisen Gottes, darstellt.148 Die Brüdergemeine vereinigte nach Zinzendorfs Vorstellung drei Tropen in sich (lutherisch, reformiert, mährisch). Die Mitglieder eines jeden Tropus behalten ihre konfessionelle Prägung, weil sie für den Philadelphier irrelevant sind oder wie Zinzendorf hier positiv sagt: damit der Reichtum der geistlichen Gabenvielfalt erhalten bleibt. Die Intention der Tropenlehre war eine doppelte: Nach außen sollte sie die Brüdergemeine vor der Anschuldigung schützen, eine reichsrechtlich illegale vierte Konfession zu bilden, bzw. den Vorwurf abwehren, »Religionsmengerei« zu treiben. Sie sollte ihr weiterhin ein Wirken in den Konfessionen ermöglichen, gleichzeitig aber ihre Sonderstellung bewahren. Dabei handelte es sich keineswegs nur um kirchenpolitische Taktik. Denn mit der Tropenlehre versuchte Zinzendorf zugleich, innerhalb der Brüdergemeine sein philadelphisches Konzept abzusichern. Zwar beurteilte er die Konfessionen milder als viele andere Philadelphier, aber er enthielt ihnen stets die Bezeichnung als Kirche vor. Sie sind nur Erziehungsanstalten auf Christus hin, die Ermöglichung für das Sichtbarwerden der unsichtbaren Kirche in den kleinen Gemeinden der Kinder Gottes und jetzt in Philadelphia. 145 Meyer, 46. 146 Zur Tropenlehre vgl. Becker, 496–506; Otto Uttendörfer, Weltbetrachtung, 67–96; Müller, Erneuerer, 85–88; Nielsen, Toleranz II, 121–157. 147 Ritschl III, 337. 148 Der Begriff ist von Christoph Matth. Pfaff entlehnt; er findet sich aber auch sonst, z.B. bei dem Gießener Pietisten Johann Henrich May (UnNachr 1709, 48f wird aus Mays ›Theologia Lutheri‹ referiert »Luther habe nicht alles, zumahl qua IJȡȩʌȠȞ ʌĮȚįİȓĮȢ, so wohl gesehen«).

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Schon einige Jahre vor seinem Tod hatte Zinzendorf den Wunsch geäußert, daß »alle Welt bei seinem Heimgang erfahre, daß er geglaubt und daß er zu seinem Philadelphia gehört habe«,149 und für die Arbeit der Gemeine hoffte er, daß künftig »unsere philadelphische Sache recht durchbrechen« [zum Durchbruch gelangen] werde.150 Der Brüdergemeine, die er wesentlich mitgeformt hatte, hatte er ein philadelphisches Gepräge gegeben, sie war in seinen Augen Philadelphia. Ob seine Gemeine nach dem Tod des Grafen eine philadelphische Bruderschaft bleiben und wie sie künftig mit dem »lutherischen Maul« und dem »mährischen« Rock umgehen würde, das mußte der weitere Gang der Geschichte zeigen.151

149 UA, JHD 1747 Mai 22. 150 UA, R 2.A.15.1 (Synodus Marienborn 1745), sess. 6. 151 Den neuesten Überblick über die Geschichte der Brüdergemeine nach Zinzendorfs Tod gibt Dietrich Meyer, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine. 1700–2000, Göttingen 2000 (KVR 4019), 63–159.

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»...weil derer alhier immer mehr werden« Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und der Pietismus in Dresden Dem Archiv der Brüder-Unität zur Grundsteinlegung des Neubaus am 15.12.2000

1. Zinzendorf und Valentin Ernst Löscher Im Herbst des Jahres 1723 hält der Dresdner Superintendent Valentin Ernst Löscher1 in einem Monitum an den Rat der Stadt fest, aus welchen Gründen er auch 1723, wie in den Jahren zuvor, und danach immer wieder aufs Neue, gegen Konventikel, separatistische, außerkirchliche Gruppierungen, auch Einzelpersonen, die sich des Abendmahls enthielten qua Amt vorgegangen ist. Er habe »mehrmahls ... wieder die Verächter des öffentlichen Gottesdienstes und heil. Abendmahls zeugen müssen, weil derer alhier immer mehr werden.«2 Valentin Ernst Löschers Beurteilung der kirchlichen Lage in Dresden stammt aus den frühen zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Offensicht1 Zu Valentin Ernst Löscher vgl. die biographischen Arbeiten von Franz Blanckmeister, Valentin Ernst Löscher. Der Prophet von Kursachsen. Ein Lebensbild, Dresden 1920; Paul Schreyer, Valentin Ernst Löscher und die Unionsversuche seiner Zeit, Schwabach 1938; Martin Rohkrämer, Löscher, Valentin Ernst, RGG3 4 (1960), Sp. 429–430; Hans-Martin Rotermund, Orthodoxie und Pietismus. Valentin Ernst Löschers »Timotheus verinus« in der Auseinandersetzung mit der Schule August Hermann Franckes, (ThA 13), 1959; Claus Petzoldt, Studien zu einer Biographie Valentin Ernst Löschers. Löschers Berufung nach Dresden 1709. Konventikelwesen in Dresden zwischen 1690 und 1750. Katalog der Manuskripte Löschers 1688–1749, Leipzig 1971 (Diss. theol. Leipzig; maschinenschriftlich); Martin Greschat, Zwischen Tradition und neuem Anfang. Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie (UKG 5) 1971, (Habil.theol.) und Horst Weigelt, Art.: Löscher, Valentin Ernst, TRE 21 (1991), 415–419. 2 Ratsarchiv. B.I.56. BL.68v.Das Aktenmaterial befindet sich im Stadtarchiv Dresden. Bestand 2.1 Ratsarchiv B. und D. Kirchen und Schulangelegenheiten: B.I.6. Reformierte Konventikel 1690ff. B.I.14. Separatisten und Böhmisten 1723. B.I.56. Johann Gottfried Oertel 1718ff. B.XV.10. Philadelphische Societät 1718. B.XVI.3. Außerordentliche Sterbensfälle 1679ff. B.XVI.5. Catharina Schröter 1723. B.XVI.6. Beerdigung Reformierter 1670ff. D.XXXII.2. Conventiculum Chr. Leicht 1699.

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liche Fälle der Sakramentsverweigerung waren für ihn ein Alarmsignal und ein Indiz für grundsätzliche kirchliche Probleme. Löscher nahm seine Verantwortung als Superintendent wahr: Aus Sorge des Seelsorgers, so Löschers Begründung, hat er Gemeindeglieder aufgesucht, in Predigten auf das Problem hingewiesen, in verschiedenen Fällen auch obrigkeitliche Maßnahmen eingeleitet.3 Bereits seit 1699, seit der Einführung des Konventikelverbots4 ist Löscher dieser landesherrlichen Regelung, der er auch als Mitglied des Konsistoriums und damit Mitglied der kursächsischen Exekutive verpflichtet war, nachgekommen. Mit seiner Bemerkung meint Löscher vor allem die separatistischen Konventikel. Allerdings waren sie es nicht allein, die Löschers Aufmerksamkeit auf sich zogen: Neben den pietistischen Gruppen und Kreisen sind es auch die reformierten Gottesdienste in der Stadt, die er registriert.5 Doch vor allem pietistische und dort natürlich die separatistischen Gruppen erregen seine Aufmerksamkeit. Aktuell berichtete Löscher von seiner Arbeit in den »Unschuldigen Nachrichten«, neben den Dresdner Akten lassen sich hiermit die Schritte nachzeichnen. Seit 1699 ist es auch immer wieder das kirchliche Spektrum des Pietismus gewesen, das in sein Blickfeld trat. Der Name Magdalena Elisabeth von Hallarts zeugt davon. Sie hatte enge Kontakte zu August Hermann Francke und war dessen wichtigste Ansprechpartnerin in der kursächsischen Residenzstadt. Ihre Kontakte in Hofkreisen verhalfen Francke zu einer guten Ausgangsbasis für seine kirchenpolitischen Aktivitäten in Kursachsen. Die Untersuchungen gegen sie werden bald eingestellt – ohne Ergebnis. Ihre Erbauungsstunden seien lediglich Andachten für die Hausangestellten gewesen. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf erscheint nicht wegen seiner Hausversammlungen in den Akten des Rates der Stadt, die als einzig erhaltene Quelle Auskunft über Löschers Aktivitäten geben können. Allein die Ereignisse um das Erscheinen des »Dreßdnischen Socrates« werden aktenkundig. Dennoch ist auch Zinzendorf einer von denen, die Löscher meint, wenn er sagt, daß »derer alhier immer mehr werden«. Und 1723 ist Zinzendorf für Löscher kein Unbekannter mehr. Für Löscher ist mit der Person Zinzen-

3 Die Dresdner pietistische Szene wird von Claus Petzoldt in seiner Arbeit über Valentin Ernst Löscher skizziert: Studien zu einer Biographie Valentin Ernst Löschers. Löschers Berufung nach Dresden 1709. Konventikelwesen in Dresden zwischen 1690 und 1750. Katalog der Manuskripte Löschers 1688–1749, Leipzig 1971 (Diss. theol. Leipzig, masch.-schr.). 4 Vgl. Hans Leube, Pietistisch-separatistische Bestrebungen in und um Leipzig, BZSKG 37 (1928), 49–69 und ders., Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien (hg. v. Dietrich Blaufuss), Witten 1975 (AGP 13), 177–224. 5 Stadtarchiv Dresden Bestand 2.1 Ratsarchiv B.I.6. Reformierte Konventikel 1690ff.

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dorfs bis dato auch kirchenpolitisch vieles an Hoffnungen verbunden gewesen, die allesamt unerfüllt geblieben waren. Für Löscher war Zinzendorf bei dessen Amtsantritt einer der Parteigänger Franckes in Dresdner Hofkreisen, gleichzeitig ein Fürsprecher separatistischer Gruppen und blieb doch für ihn als Standesherr Gesprächspartner bis in die vierziger Jahre hinein – wenn auch ein kontroverser. Wie kommt es eigentlich zu diesem buntschillernden Bild?

2. Die Wittenberger Einigungsbemühungen Zinzendorfs und die Beteiligung Valentin Ernst Löschers hieran Zur Beantwortung dieser Frage muß man zurückgehen zu Zinzendorfs Einigungsplänen in dessen Wittenberger Studientagen. Der Kontakt läßt sich nämlich bis in diese Zeit zurückverfolgen. Löscher war seinerzeit in Zinzendorfs Einigungspläne zwischen den theologischen Fakultäten Wittenbergs und Halles involviert worden. Seit dieser Zeit genoß er Zinzendorfs Wertschätzung. Wie kam es zu Löschers Beteiligung an den Einigungsplänen? Zwei Ursachen sind zu nennen. Erfahren hat Löscher von Zinzendorfs Vorhaben zuerst durch Gottlieb Wernsdorf.6 Wernsdorf und Löscher standen sich – nicht nur in theologischer Hinsicht – seit Löschers Tagen in Wittenberg nahe.7 Die Übereinstimmung in allen theologischen Grundfragen wie auch der Tonfall ihres umfangreichen Briefwechsels, der eine offene Auseinandersetzung über Wittenberger Personalia, gemeinsame Gegner und ganz private Sachverhalte möglich macht, zeugen hiervon. Bedeutende Ereignisse wie auch persönliche Entscheidungen und Angriffe von außen werden verhandelt. Interne universitäre Auseinandersetzungen und kirchenpolitische Weichenstellungen werden Löscher von Wernsdorf umgehend mitgeteilt.8 Wernsdorf äu-

6 Zu Gottlieb Wernsdorf (1668–1729), Theologe in Wittenberg, seit 1710 Generalsuperintendent und Propst an der Schloßkirche, s. DBA 1356, 72–163; DBA NF 1393, 111–112; Dietrich Meyer, Art.: Wernsdorf, BBKL 15, Herzberg 1999, Sp. 1464–1472. Vgl. Walter Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, Halle 1917, 549–554. 7 Vgl. Greschat, Zwischen Tradition und neuem Anfang, 33, 43. 8 Die Uffenbach-Wolfsche Briefsammlung, heute Teilbestand der Hamburger Staatsbibliothek, verzeichnet 309 Briefe für die Jahre 1694 bis 1729; s. Sup.ep. 75,1 d – 80, 557 d pass. Die erste Mitteilung über Zinzendorfs Einigungspläne vom 28. November 1718 findet sich unter: Sup ep. 79. 131–134; hier: Bl. 133. Daß eine erste briefliche Mitteilung Wernsdorfs erst im November erfolgt ist, spricht nicht gegen diese Aussage. Die in der Uffenbach-Wolfschen Briefsammlung erhaltenen Briefe Wernsdorfs an Löscher weisen eine Lücke vom 29. August (Sup. ep. 80, 125 d) bis zur Abfassung dieses Schreibens auf.

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ßert sich häufig in einem unüberhörbar sarkastischen Tonfall.9 Seine Einschätzung und Einordnung des Vorhabens ist aus ihnen abzulesen. Die erste Bemerkung ist einem Brief vom 28. November 1718 zu entnehmen.10 Wernsdorf schreibt in knappen Worten: »Unser H. Gr. von Zinzendorff will mit aller Gewalt zwischen den Wittebergischen und Hallischen Theologis frieden stifften. Sein project werde nächstens übersenden. der liebe Herr meints wohl gar gut, zweifle aber, daß ers auszuführen capable sey. Jndeßen soll D. Lange, wie er [scil.: Zinzendorf] sagt, sein lose Maul halten«.11

Die Geringschätzung Wernsdorfs wird im Austausch mit Löscher erkennbar. Vor seinem Korrespondenzpartner, dessen Loyalität er gewiß sein konnte, sind Rücksichtnahmen als Konzession an die Gepflogenheiten der Zeit überflüssig. Die drastische Wortwahl entspricht dabei ganz dem Tonfall, der in der Auseinandersetzung um den Pietismus üblich war.12 Daß Wernsdorf angesichts der geringen Bedeutung, die er Zinzendorfs Plänen beimißt, schon im November – unverzüglich nach Bekanntwerden der Pläne in Halle – Löscher davon Mitteilung macht, ist nicht zuletzt in Zinzendorfs Rang begründet. Allein dadurch, daß er als Reichsgraf das Gebiet der Kirchenpolitik betreten hat, war er legitimiert. Die weiteren Mitteilungen Wernsdorfs setzen diese Tendenz fort, bis er zu Beginn des Jahres 1719 Löscher seine endgültige Absage an die Pläne Zinzendorfs mitteilt, nicht ohne zuvor tatsächlich – wie angekündigt – Löscher Zinzendorfs Entwurf seiner Pläne, die »Friedens-Gedancken an die streitende Kirche« mitzusenden. Der letzte Absatz seines Briefes an Löscher lautet, nachdem er im Dezember tatsächlich Zinzendorfs »FriedensGedancken« an Wernsdorf geschickt hat:13 »Mit den Hal.[lischen] hier zu collegiren habe dem Hn Gr von Z. [scil.: Zinzendorf] schon ausgeredet: er inklinirete aber erst Torgau, ob memoriam F. Concordiae, glaube aber er werde auch Wurzen sich gefallen laßen. Er vor seine Person treibts fast sehr ernstlich, und hatt wiederholt 1000 Thaler [...] zu beförderung des friedens her zu 9 Zu Wernsdorfs generell sehr sarkastischem Tonfall vgl. Theodor Wotschke, Die Wittenberger Theologen gegen die Tübinger im Unionsstreite, BWKG 30 (1926), 91–113, 149–179, hier 103, 113. 10 S.o. Anm. 8. 11 S. Sup ep. 79. 131–134; hier: Bl. 133. Vgl. den teilweisen Abdruck bei Blanckmeister, Der Prophet von Kursachsen, 162–163, der die sarkastische Spitze des Briefes allerdings nicht wiedergibt. 12 Der Wunsch, dem Gegner das »Maul« zu »stopfen«, ist eine gängige Umschreibung für die Zielsetzung der pietistischen Streitigkeiten, die sich bei Gottlieb Wernsdorf wie bei Erdmann Neumeister nachweisen läßt. S. hierzu die Nachweise bei Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997 (VMPIG 129), 114–124. 13 S. die kurze Mitteilung in: Sup. ep. 79, 136 d, vom 12.12.1718; vgl. die Wiedergabe bei Blanckmeister, Der Prophet von Kursachsen, 163.

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geben sich erboten, scheint es auch sonsten gut zu meinen, ob aber auch andere, kan nicht wißen.«14

Auf Seiten Löschers scheint das Interesse groß gewesen zu sein. Es ist auffallend, daß Löschers Interesse gerade Ende November 1718 erwacht ist. Löschers intensives Interesse entspricht den Mitteilungen, die Zinzendorf in seinen Aufzeichnungen und in den Briefen15 an Anton Heinrich Walbaum16, ein Mitglied von Zinzendorfs »Senfkornorden« in Halle und zu diesem Zeitpunkt Theologiestudent in Halle, weitergab, der die Rolle des Informanten Franckes einnahm. Über Walbaum hält Francke auch schriftlichen Kontakt zu Zinzendorf. Er wird in der Vermittlungssache allerdings 14 Sup. ep. 143 d, hier: Bl. 148; vgl. die verkürzte Wiedergabe bei Blanckmeister, Löscher, 163. 15 S. hierzu den Briefwechsel Zinzendorfs mit Anton Heinrich Walbaum im Unitätsarchiv Herrnhut. Die Briefe Walbaums, das Friedensgeschäft betreffend, in Abschrift: R.20.A.14.10–16; Briefe vom 20.12.1718, 15.2., 22.2., 1.3. 15.3., 29.3.1719 und 13.3.1720. Die herangezogenen Briefe Walbaums: R.20.C.12.d.305–339, Abfassungsort Halle; hier: 305 vom 21.9.1718; 306 von 25.1.1719; 307 vom 8.2.1719; 308 (in Original und gekürzter Abschrift) vom 8.3.1719; 309 (in Original und Abschrift) vom 15.3.1719; 310 (in Original und Abschrift) vom 22.3.1719; 311 vom 12.4.1719; 312 vom 19.4.1719; 313 vom 23.7.1719; 314 vom 14.2.1720. 16 Zu Walbaum vgl. DBA 1325, 193; Edmund Jacobs, Johann Liborius Zimmermann und die pietistische Bewegung in Wernigerode, Zeitschrift des Harzvereins 31 (1898), 121–226; Edmund Jacobs, Anton Heinrich Walbaum und die pietistische Bewegung in den Herzogtümern Schleswig und Holstein, SVSHKG.B 1 H. 4 und 5 (1900), 31–136; Edmund Jacobs, Pilgerruh und die Grafen Nik. Ludwig von Zinzendorf und Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode, SVHSKG.B 2 H. 2 (1901), 239–287; Gerhard Reichel, Der »Senfkornorden« Zinzendorfs. Ein Beitrag zur Kenntnis seiner Jugendentwicklung und seines Charakters. 1. Teil: Bis zu seinem Austritt aus dem Pädagogium in Halle 1716, Leipzig 1914 (Berichte des theologischen Seminars der Brüdergemeine in Gnadenfeld, 9), 152–154 und Christoph Bochinger, Aus Anton Heinrich Walbaums Tagebuch – Beobachtungen zur Religionskultur und weltweiten Kommunikation des Hallenser Pietismus in der zweiten Generation, in: Erich Donnert (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit, FS Günter Mühlpfordt, Band 1, Vormoderne, Weimar/Köln/Wien 1997, 521–537. Zur allgemeinen Geschichte vgl.: Heinrich Drees, Geschichte der Grafschaft Wernigerode, Wernigerode 1916. Den Pietismus in Wernigerode und die Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 18. Jh. betrachtet exemplarisch Dirk Hempel, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819). Staatsmann und politischer Schriftsteller (Kontext 3), Weimar/Köln/Wien 1997 (Diss. phil. München). Von dem ursprünglich immensen Nachlaß Walbaums sind heute nur noch Teile erhalten: Die erhaltenen Teile seines Briefwechsels, der insbesondere Aufschluß über seine Beziehungen nach Ostfriesland gibt, befinden sich in der Außenstelle Wernigerode des Landeshauptarchives Magdeburg (LHA Magdeburg) Rep. H Stolberg-Wernigerode J: »Briefwechsel des Herzoglich Sachsen=Coburg=Saalfeldischen Geh. Hofraths von Mai 1746 bis Mai 1753 Gast auf Schloß Wernigerode Anton Heinrich Walbaum.« 75 Stücke. Ein weiterer Teil des Nachlasses befindet sich heute – neben anderen ehemaligen Wernigeröder Handschriften und Druckschriften aus den Beständen Christian Ernsts von Stolberg-Wernigerode – in der Universitäts- und Landesbibliothek in Halle. An erster Stelle ist hier das Tagebuch Walbaums (Stolb.-Wern. Yd 35m) zu nennen, das allerdings erst 1720 einsetzt. S. das Bestandsverzeichnis: Hildegard Herricht, Die ehemalige StolbergWernigerödische Handschriftenabteilung. Die Geschichte einer kleinen feudalen Privatsammlung. Mit Titelübersicht und Register Halle 1970 (Schriften zum Bibliotheks- und Büchereiwesen in Sachsen-Anhalt 31).

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erst zu dem Zeitpunkt aktiv, als Zinzendorf ihn zu aktiver Unterstützung zu nötigen sucht.17 Nun zieht Francke sich zurück und warnt Zinzendorf vor den Fallstricken der Orthodoxie. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bedeckt gehalten, und sich – ebenso wie Wernsdorf – alle Optionen offen gehalten, um so weit wie möglich alle taktischen Vorteile zu nutzen, die die ungestümen Aktionen Zinzendorfs zeitigen konnten. Walbaum, Freund aus Hallenser Tagen,18 ist in dieser Angelegenheit also der Mittelsmann Franckes gewesen,19 über den Francke Informationen aus Dresden erhalten hat. Löschers Situation in der kursächsischen Residenzstadt scheint ein plausibles Erklärungsmuster für sein Interesse an Zinzendorfs Plänen anzubieten. Hier liegt das eigentliche Motiv für Löschers Interesse an Zinzendorfs Einigungsplänen.20 Parallel zu diesem negativen Verlauf der Pläne Zinzendorfs in Wittenberg und Halle entwickelte sich ein durchaus nachhaltiges Interesse an Zinzendorfs Versuchen in Dresden. Auslöser hierfür war ein Aufenthalt von Zinzendorfs Hofmeisters Daniel Crisenius im November 1718 in Dresden. Dieser, in dauernder Auseinandersetzung mit seinem Zögling stehend, war dorthin gereist, um seinen Vertrauten Karl Gottfried von Bose, den kursächsischen Gesandten beim Regensburger Reichstag aufzusuchen. Anlaß waren Pläne Zinzendorfs, sich für seine Familie um ein Erzamt zu bewerben. Dieser verwegene Plan veranlaßte Crisenius zum Einschreiten. Dabei sind offensichtlich Zinzendorfs Wittenberger Einigungspläne zur Sprache 17 S.u. den Exkurs zur Rolle Walbaums bei den Vermittlungsplänen Zinzendorfs. 18 Zu Walbaum vgl. die Gneomar Ernst von Natzmer, Die Jugend Zinzendorfs im Lichte ganz neuer Quellen, Eisenach 1894, und Beyreuther 1, 151–153. Walbaums Zuneigung zu Zinzendorf wird in der Literatur seit der Darstellung Natzmers immer wieder mystifiziert und überhöht. Den zweifellosen Höhepunkt in dieser Hinsicht stellt die Darstellung des Wernigeröder Archivrates Eduard Jacobs (Jacobs, Anton Heinrich Walbaum, SSVSH R.2 1 (1897–1900), H. 4, 30–136) dar. Walbaums Verhältnis zu Zinzendorf wird hier ganz aus der Sicht Zinzendorfs und abhängig von den Ergebnissen der Zinzendorf-Forschung dargestellt (ebd. 30–46) Die Quellenauswahl ist äußerst subjektiv. Leider stellt diese Darstellung des Wernigeröder Archivrates Jacobs für die Forschung die wichtigste Quelle dar, da die wichtigen Archivbestände aus Wernigerode heute zu großen Teilen verloren sind (s.o. in diesem Kapitel). Zur Biographie vgl. den neuen biographischen Ansatz bei Christoph Bochinger, Aus Anton Heinrich Walbaums Tagebuch; Bochinger setzt für seine Darstellung bei Walbaums Tagebuch an, das eine der wenigen primären Quellen zur Biographie neben dem nur noch fragmentarisch erhaltenen Briefwechsel ist. Die erhaltenen Briefe finden sich im Unitätsarchiv (UA) wie im AFSt; zum Tagebuch bestand vgl. Bochinger, ebd., 534–535 (Briefregister) und Hildegard Herricht, Die ehemalige Stolberg-Wernigerödische Handschriftenabteilung (s.o.). 19 S. das Tagebuch Franckes AFSt/H 172 : 1 (1718): Hier wird am 23.11. ein Brief Walbaums verzeichnet, der eventuell mit R.20.A.8.b.26 identisch ist (die Herrnhuter Bestände stammen aus AFSt und sind im 19. Jahrhundert in das Unitätsarchiv gelangt; AFSt/H 173 : 1 (1719) verzeichnet am 15.2. einen weiteren Brief Walbaums, der eventuell mit R.20.A.8.b.27 oder 28 identisch ist; am 7.3. wird ein Besuch Walbaums verzeichnet; am 14.3. hat Francke einen Brief an Walbaum abgefaßt. 20 Vgl. Petzoldt, Löscher, 200 Anm. 45; Greschat, Zwischen Tradition und neuem Anfang, 297.

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gekommen. Von dieser Zeit an nämlich ist man unter der Anhängerschaft Franckes bei Hof in Dresden bestens über die Pläne informiert und nimmt mit Francke Kontakt auf, der davon offenkundig überrascht wird. Die Akten der Universität Halle geben hiervon Zeugnis. Zur Anhängerschaft Franckes in Dresden gehörte in maßgeblicher Funktion Magdalena Elisabeth von Hallart.21 Sie nahm umgehend Kontakt zum Superintendenten Valentin Ernst Löscher auf, um ihn zur Teilnahme an Zinzendorfs Vorhaben zu bewegen. Daneben steht Catharina Constantia von Einsiedel,22 Witwe des kursächsischen Geheimen Rats Haubold von Einsiedel. Auch sie war seit einigen Jahren regelmäßiger Gast bei Francke in Halle. Sie nahm sich in besonderer Weise der Pläne Zinzendorfs an. Die Gründe hierfür sind naheliegend, war sie doch Patin Zinzendorfs.

21 Über Magdalena Elisabeth von Hallart geb. Bülow (*1683 †1750), aus Livland stammend, verheiratet mit Baron Ludwig Nikolaus von Hallart, General in kursächsischen, seit 1721 in russischen Diensten, sind kaum weitere biographische Einzelheiten bekannt. Heranzuziehen ist: SächsHStA. Genealogica. von Hallart zur Dimission von Hallarts und den damit offensichtlich in Verbindung stehenden finanziellen Schwierigkeiten des Generals; die Aktenstücke decken den Zeitraum von 1687 bis 1724 ab und warten noch auf eine endgültige Aufarbeitung; UA R.22.4.42 Personalien Magdalena Elisabeth von Hallarts; Trauerrede des Generalleutnants Balthasar von Campenhausen für die verwitwete Generalin von Hallardt; Freiherrlich von Campenhausensches Archiv/Heidelberg, Nr. 463. Vgl. Alexander Glitsch, Verzeichniss der Gemälde in der Gemäldesammlung des Brüder-Unitäts-Archivs zu Herrnhut, Herrnhut o.J. [1893], 51; zum Portrait Magdalena Elisabeth von Hallarts im UA. Guntram Philipp, Die Wirksamkeit der Herrnhuter Brüdergemeine unter den Esten und Letten zur Zeit der Bauernbefreiung (Vom Ausgang des 18. bis über die Mitte des 19. Jhs.), Köln/Wien 1974 (Forschungen zur internationalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 5), 152, Anm. 3. Zur Familie von Hallart vgl. Biographisches Lexikon aller Helden und Militärpersonen 2, 114–115. S.a. BaBA 114, 313–314; Gustav Kramer, August Hermann Francke 2, 294–306 pass.; ders., Zur Jugendgeschichte Zinzendorfs, Kirchliche Monatsschrift 4 (1884), 1–42; ders., Zinzendorfs Versuch, Wittenberg und Halle zu versöhnen, ThStKr 60 (1887), 141–163, und Eduard Winter, Halle als Ausgangspunkt der deutschen Russlandkunde im 18. Jahrhundert, Berlin 1953 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für Slawistik 2), insbes. 95–97, 127–129, 154–156, 276–284; Reinhard Wittram, Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, 2 Bde., Göttingen 1964, Bd. 1, 235–242, 310, 317, 323, 331, 337–338, 341, 377 und 382. 22 Zur Biographie vgl. Walter von Hueck (Hg.), Genealogisches Handbuch der adeligen Häuser. Adelige Häuser A. Band 14, Limburg 1977 (Genealogisches Handbuch des Adels 66), 154–175. Catharina Constantia von Einsiedel-Wolckenburg entstammte dem kärntnischen Adelsgeschlecht der von Mallenthein. Sie war die Tochter des kaiserlichen Oberforstmeisters und Truchsessen Johann Peter Freiherrn von Mallenthein auf Sieghards, Kirchberg, Karlstein und Atzeldorf und der Sophie von Laglberg, Erbin von Atzeldorf. Am 26.6.1700 – ungefähr einen Monat nach der Geburt Nikolaus Ludwigs von Zinzendorf – heiratete sie Haubold von Einsiedel, dessen zweite Ehefrau sie war. Seine erste Ehefrau, Marie Sophie von Gersdorf, war eine Stieftochter Henriette Katharina von Gersdorfs. Catharina Constantia von Einsiedel war am 18.6.1720 in Dresden verstorben. Nach dem Taufbuch der Dresdener Sophienkirche. 1660–1710 (Kommunikanten-, Tauf- und Traubuch) im Dresdener Kirchenbuchamt, (= UA R.20.A.14.a.1; 1b: Kopie des Eintrags; 1a: Abschrift von Oberhofprediger Ammon, 30.5.1828) war sie Patin Nikolaus Ludwigs von Zinzendorf.

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Die Kreise schließen sich. Löscher kannte die pietistische Infrastruktur Dresdens gut. Und er trat – auf deren Initiative hin – in persönlichen Kontakt mit Magdalena Elisabeth von Hallart und Catharina Constantia von Einsiedel entgegen den kritischen Einwänden Wernsdorfs.

3. Das Merseburger Gespräch am 9. Mai 1719: Entwicklung und Zielsetzung Maßgeblich am Zustandekommen des Merseburger Gespräches war also die Initiative der Dresdener Seite, zu der neben Valentin Ernst Löscher als Vertreter der orthodoxen Seite wie auch treue Anhänger aus Speners Zeit in Dresden wie Johanna Margarethe Lincke, die Witwe eines Geheimen-RatsSekretärs23 und Magdalena Elisabeth von Hallart, die Ehefrau des sächsischen Generalmajors Ludwig Nikolaus von Hallart gehörten. Beide zählten nunmehr zum Umfeld August Hermann Franckes in Dresden.24 23 Johanna Margarethe Lincke geb. Büttner, Witwe des Geheimsekretärs Lincke, lebte in Dresden in der Moritzgasse, wohl im elterlichen Haus; sie hatte einen Sohn Gottfried Ludwig, der Jurist war und zeitweise als Mitarbeiter Cansteins in Berlin im Gespräch war; dieser jedoch hatte Zweifel an den Fähigkeiten Linckes (s. Peter Schicketanz [Hg.], Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke, Berlin/New York 1972 [TGP 3,1], Nr.188, Brief Cansteins aus Berlin vom 1.8.1702; AFSt/H C 4 : 564); zu den biographischen Daten s. Stadtarchiv Dresden: Häuserbuch Dresden Altstadt 4, 32–33=Bl. 13. Der Briefwechsel August Hermann Franckes mit Johanna Margarethe Lincke reicht bis in das Jahr 1690 zurück: Erhalten ist ein Schreiben an sie nach Erfurt vom 18.6.1690 AFSt/H D 88 : Bl. 7–8. Francke ist offensichtlich noch aus Erfurter Tagen mit ihr bekannt; darüber gibt ein Brief Johanna Margarethe Linckes an Anna Magdalena Francke aus dem Jahr 1691 Aufschluß: D 81 : 90a–c. Für ihren Sohn Gottfried Ludwig setzt sich Francke ein. So versucht er ihn an Canstein nach Berlin zu vermitteln; s. AFSt/H C 171:41a (s. TGP 3, 1, 336–337, Nr. 351), Halle, den 30.10.1706. Bis ins Jahr 1728 läßt sich der Briefwechsel verfolgen: Johanna Margarethe Lincke beteiligt sich hier an einer Spendensammlung, die in Dresden für das neu eingerichtete Institutum Judaicum Callenbergs aufgebracht worden ist: K 2 (Institutum Judaicum) Bl. 53, Schreiben vom 4.6.1728 an Callenberg und 62.64, Schreiben Johann Michael Winckelmanns aus Dresden vom 22.6.1728. Mit Philipp Jacob Spener stand sie seit dessen Dresdener Tagen in brieflichem Kontakt; einige der Briefe Speners an sie sind von ihr an das Waisenhaus weitergegeben worden: s. die Tagebucheintragung Franckes vom 23.7.1718 (A 172 : 1) und am 11.3.1719 (A 173 : 1), in der die Übersendung von Briefen Speners vermerkt wird. Im Archiv der Franckeschen Stiftungen sind so auch einige Briefe Speners an Johanna Margarethe Lincke erhalten, die sich durch einen sehr vertrauten Tonfall auszeichnen: D 81: 77a–e vom 16.7.161; D 89: 37–46 vom 16.10.1691; D 81: 68–76v dass.; A 166: 8 dass.; D 81: 146–149 aus dem Jahr 1692; D 81 : 795–798 vom 9.11.1698. 24 Den intensiven Kontakt Franckes zu Johanna Margarethe Lincke im einschlägigen Zeitraum belegen die zahlreichen Tagebucheinträge über die beiderseitige Korrespondenz: A 172 : 1 am 25.7., 12.9., 15.9. 30.9., 3.11., 6.11., 8.11., 14.11., 15.11., 24.11., 29.11.; A 173 : 1 am 8.2., 11.3., 14.3. Der Briefwechsel Magdalena Elisabeth von Hallarts Korrespondenz mit Halle ist im Archiv der Franckeschen Stiftungen wie im Francke Nachlaß in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz

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Magdalena Elisabeth von Hallart war mit Zinzendorfs Großmutter Henriette Katharina von Gersdorf und Erdmuthe Benigna von Reuß-Ebersdorf eng vertraut, gehört somit zu den zentralen Gestalten in den Anfängen des Pietismus in Deutschland.25 Zwei Exempel mögen das Gesagte belegen. Im Jahr 1714 läßt sich der Beginn des Kontaktes von Magdalena Elisabeth von Hallart zu August Hermann Francke nachweisen:26 In den ersten Apriltagen des Jahres – über das Osterfest – hat sich das Ehepaar Hallart in Halle aufgehalten. Die Einrichtungen des Waisenhauses gehörten ebenso zum Programm27 wie die seelsorgerlichen Erbauungsstunden Franckes.28 Auf Ausflügen in die Umgebung und bei Tisch werden die Hallarts für die Sache Franckes gewonnen.29 Intensive Bemühungen, einflußreiche Förderer

bis ins Jahr 1714 zurückzuverfolgen; der Briefwechsel umfaßt bis 1723 folgende Signaturen: A 188a:198 an Joachim Lange, 10.1.1715; A 188a:204 an Joachim Lange, 2.4.1715; A 168:54 an die Gräfin Erdmuthe zu Reuß-Ebersdorf in Dresden, 16.5.1715; A 184:8 und eine weitere Abschrift im Universitätsarchiv Halle-Wittenberg Rep. 27, Konv. 1088, Nr. 11 (Fotokopie: AFSt/H A 184 : 54) Relation einer Unterredung mit Valentin Ernst Löscher, 30.1. 1719; A 184:9 Briefextrakt, 15.1.1719; A 184:15 und eine weitere Abschrift im Universitätsarchiv Halle-Wittenberg Rep. 27, Konv. 1088, Nr.16 (Fotokopie AFSt/H A 184 : 61) Abermalige Unterredung mit Löscher, 22.2.1719; A 184:10 Briefextrakt, 18.3.1719; A 184:17; Briefextrakt, 24.3.1719; A 188a:125 an Lange, 10.7.1719; A 188a:263 an Lange, 7.5.1720; A 188a:262 an Lange, 8.11.1720; C 459:15 an August Hermann Francke, 17.3.1721; C 459:16 an Francke, 20.3.1721; C 459:18 an Francke, 08.4.1721; A 188a:287 an Lange, 8.4.1721; C 491:28 an Heinrich XXIII. Graf Reuß, 18.6.1723; des weiteren ein undatierter Briefauszug A 127d:16, 6.4. o.J. Erhalten ist ein Brief des Generals Ludwig Nikolaus von Hallart: A 188a:120 an Lange, 22.1.1719. In den Berliner Beständen (StaBi Berlin, Nachlaß Francke Kapsel 4, Mappe 12) sind folgende Briefe Magdalena Elisabeth von Hallarts erhalten: Sie datieren vom 14.4.1714, 7.5.1714, 5.2.1715, 6.3.1715, 18.7.1717, 30.11.1719 (Briefextrakt), 6.4.1720, 25.6.1720, 20.9.720, 14.10.1720, 7.2.1721, 11.3.1721, 20.7.1722, 10.3.1724, 15.9.1724, 15.6.1725, 17.9.1725, 8.10.1726. Der Kontakt wurde offensichtlich über den Baron Carl Hildebrand von Canstein hergestellt; s. AFSt/H C 4, 429b (abgedr. TGP 3,1, 499–500, Nr. 510), Canstein an Francke, Berlin, den 9.4.1712. In diesem Brief wird Francke der General Hallart vorgestellt. 25 Wilhelm Jannasch, Erdmuthe Dorothea Gräfin von Zinzendorf geborene Gräfin Reuss zu Plauen. Ihr Leben als Beitrag zur Geschichte des Pietismus und der Brüdergemeine dargestellt, in ZBG 8 (1914), 26–28. 26 Die Belege liefert das Tagebuch August Hermann Franckes, AFSt/H A 167: 1 zwischen dem 27.3. («H. General von Hallard u. deßen Fr. Gemahlin mit Hn. M. Hencken [dem Hausprediger] ankommen; welche ich des nachmittags und auf den abend besuchet.«) und dem 5.4. («der H. Gen. von Hallard wieder weggereiset cum coniuge. Vor dem abschiede beyde gesprochen, und ihnen einen Brief u. paquet mitgegeben an den Hn. Gr. Reuß 24ten.[Graf von Reuß-Köstritz]«). 27 AFSt/H A 167: 1: 28.3.: »den H. General Hallard u. deßen Fr. Gemahlin in dem Waysenhause herumgeführet von 9 biß 12 Uhr.« 28 AFSt/H A 167:1 am 31.3. und am 2.4.: »Gen: Hallards u. der Fr. Generalin Bibeln eingeschrieben; wie auch in dero Neüe Testamenter einige erweckungs Sprüche. ... Nach der Predigt [scil.: Röm 6,9–13.14] bey der Fr. D. Beckerin mit der Fr. Gen: Hallartin gesungen una cum Collegis«. 29 AFSt/H A 167: 1 29.3. (Gründonnerstag); 31.03.; 1.4. (Ostersonntag); 2.4.; 3.4.; 4.4.

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in Dresden zu erhalten, zeitigten somit Erfolg. Die offensichtlich bereits vorher bestehenden Kontakte30 wurden vertieft und untermauert. Bei einem der gemeinsamen Mittagessen, zu denen immer standesgemäße Tischgäste geladen waren, ist es hier auch zum ersten Zusammentreffen mit Nikolaus Ludwig von Zinzendorf gekommen.31 Für beide Seiten hat dies zu einer langanhaltenden Freundschaft geführt. Noch Jahrzehnte später standen Zinzendorf und Magdalena Elisabeth von Hallart in einem intensiven und konstruktiven Briefkontakt. Die Anfänge liegen in der gesellschaftlichen und zugleich zutiefst kirchenpolitisch motivierten Begegnung in Halle, wo die Protagonisten des »frommen hohen Adels« einander vorgestellt worden sind. Das Interesse der Hallarts an dem Enkel der Weggefährtin Henriette Katharina von Gersdorf dürfte groß gewesen sein. Zwei Wochen nach der Rückkehr der Hallarts nach Dresden findet sich im Briefwechsel Franckes mit Heinrich XXIV. zu Reuß-Köstritz ein deutlicher Hinweis auf die Auswirkungen des Besuches in Halle: Magdalena Elisabeth von Hallart ist in den Blick des Dresdener Superintendenten Valentin Ernst Löscher gerückt. Er geht gegen ihre Hausversammlungen und Hausabendmahle vor.32 Im gleichen Zusammenhang korrespondierte auch Johanna Margarethe Lincke mit Francke. Sie war ihm seit Erfurter Tagen bekannt und war eine der zuverlässigsten Mitarbeiterinnen in Dresden. Das wußte man auch andernorts: 1716, lange vor ihrem ersten Zusammentreffen mit Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, hielt sich die Comtesse Erdmuthe Dorothea, jüngste Tochter des Grafen zu Reuß-Ebersdorf, zur Kur in Dresden auf. Neben gesundheitlichen Beweggründen waren auch gesellschaftliche Aspekte Anlaß für den Aufenthalt gewesen.33 Die pietistische Familie wollte hierbei 30 Der Kontakt zur Familie Lincke reicht bis 1690 zurück; s. AFSt/H D 88: Bl. 7–8 August Hermann Francke an Johanna Margarethe Lincke, Erfurt, 18.06.1690 und D 81: 90a–c, 1691 (vgl. o. Anm. 23). S. das Tagebuch August Hermann Franckes des Jahres 1714; AFSt/H A 167:1: Johanna Margarethe hat sich demnach vom 2.3.–6.3. 1714 in Halle aufgehalten, um Rat in Familienangelegenheiten einzuholen. S.a die Tagebucheintragungen Franckes. Vgl. Peter Schicketanz, Carl Hildebrand von Cansteins Beziehungen zu Philipp Jacob Spener, 1967 (AGP 1), 164 und Dietrich Blaufuß, Spener-Arbeiten. Quellenstudien und Untersuchungen zu Philipp Jacob Spener und zur frühen Wirkung des lutherischen Pietismus (EHS.T 46), ²1980, 39 Anm. 40. 31 AFSt/H A 167: 1am 1.4. (Ostersonntag): »Gespeiset bey dem General Hallard. praesentes erant H. Magnif: D. Antonius, Pr. Michaëlis [Christian Benedikt Michaelis], Pr: Lange, Gr. Zinzend. u. H. Crisenius, H. Elers [Heinrich Julius Elers, Leiter des Verlags des Waisenhauses].« Vgl. den Hinweis auf dieses Zusammentreffen bei Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 54. 32 Vgl. Petzoldt, Löscher, 78–80 zu den folgenlosen Untersuchungen im Zusammenhang mit den Konventikeln im Haus Magdalena Elisabeth von Hallarts. Zu deren Grundstück in der Seevorstadt s. den Stadtplan SächsHStA, Riß-Schrank 8, Fach 1, Nr. 5, Bl. 9. (vgl. zu diesem Plan und seiner Entstehung wie auch dem Zeichner Samuel Nienborg: Carl Hollstein, Die Entwicklung des Stadtplanes und Entwurf eines geschichtlichen Häuserplanes vom Anfang des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Dresdner Geschichtsblätter 44 (1936), 206–212, hier 208–210). 33 Vgl. Jannasch, Erdmuthe Dorothea Gräfin von Zinzendorf, 25–28.

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sehr behutsam vorgehen. Der Kontakt zu Henriette Amalie Gräfin Reuß34, einer der schillerndsten Gestalten des kursächsischen Hoflebens, weckte mehr Befürchtungen denn Hoffnungen. So wurde die Tochter in die Obhut von zuverlässigen Freunden überantwortet. Für die Quartiersuche und die alltäglichen Bedürfnisse der Comtesse hatte man Johanna Margarethe Lincke ausgewählt. Für die geistliche Unterstützung war Erdmuthe Dorothea der Kontakt zu Magdalena Elisabeth von Hallart empfohlen worden. Dieser Kontakt läßt sich so auch detailliert nachzeichnen. 1716 hat sich also ein funktionierendes pietistisches Beziehungsgeflecht in Dresden etabliert. In diesem Zusammenhang kommt Magdalena Elisabeth von Hallart 1714 erstmals in Kontakt mit Löscher, der gegen das Konventikel in ihrem Haus in der Seevorstadt vorgegangen ist. Schon an diesen beiden Personen, Johanna Margarethe Lincke und Magdalena Elisabeth von Hallart, wird erkennbar, daß die im weitesten Sinne dem Pietismus zugetanen Kreise in Dresden in Konnex gestanden haben. Die Untersuchungsunterlagen, soweit sie erhalten geblieben sind,35 belegen dies des weiteren. Auch die Namen der Mitglieder anderer Konventikel erscheinen in anderem Zusammenhang im Verein mit hier relevanten Beteiligten. Das ist auch für die Person Valentin Ernst Löschers von Interesse, der dieses Netzwerk aufzudecken und faktisch aufzulösen gesucht hat, ohne dabei zu Erfolgen gekommen zu sein. Seine Durchsetzungsschwäche im gemischtkonfessionellen Kursachsen mit seinen ganz spezifischen religionspolitischen Besonderheiten und seine 34 Henriette Amalie Gräfin Reuß-Greiz war eine geborene von Friesen und damit mit Zinzendorf mütterlicherseits verwandt. Ihr Vater war Heinrich von Friesen. Verheiratet war sie mit Heinrich VI. aus der älteren Linie Reuß-Greiz, General in kursächsischen Diensten. Sie war die Mutter Heinrich II. (1696–1723). Gesprächsthema in der Residenzstadt Dresden war ihre Liaison mit dem Statthalter des Kurfürsten Anton Egon von Fürstenberg. Henriette Amalie Gräfin Reuß zählte zu den einflußreichsten Persönlichkeiten am Hof. Ihr Haus war ein politischer Sammelplatz. Für August Hermann Francke war sie so in späteren Jahren eine wichtige Kontaktperson in Dresden. In ihrem Haus hielt er Erbauungsversammlungen ab. Vgl. Eduard Vehse, Geschichte der Höfe des Hauses Sachsen, Hamburg 1854 (Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation. 5. Abtheilung: Sachsen. 3.–6. Theil), 254 hier: 4.Theil, 41–42 und 5.Theil, 293–302. Bezüglich der Probleme, die die Familie für den Umgang Erdmuthe Dorotheas mit der in Dresden ansässigen Angehörigen sahen vgl. Jannasch, Erdmuthe Dorothea, 26, 28 und 409–410. Vgl. des weiteren Erbe, Zinzendorf und der fromme hohe Adel, 68–69. Zur Geschichte der reußischen Familie vgl. Faul, Vom Vogt zum Fürst – Aufstieg und Politik von Reuss, Familie und Geschichte 2 (1993), 306–314. 35 Zur Quellensituation vgl. Petzoldt, Löscher, 79, der im Rahmen seiner Beschäftigung mit Valentin Ernst Löschers Vorgehen gegen den Pietismus in Dresden auf die Archivsituation – hier konkret bezüglich der Untersuchungen gegen Magdalena Elisabeth von Hallart – in Dresden eingeht. Durch Kriegsverluste sind die Bestände des ehemaligen Ephoralarchives komplett verlorengegangen. Petzoldt greift für seine Untersuchung auf die erhaltenen, sehr unvollständigen Aufzeichnungen Franz Blanckmeisters zurück. Nach Auskunft des Archives der EvangelischLutherischen Landeskirche Sachsens befindet sich der Nachlaß Blanckmeisters jetzt in dessen Beständen. Die Bestände des Archives sind mittelfristig für die Benutzung nicht zugänglich. Zur Verknüpfung der Konventikel untereinander vgl. 155–157.

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schwache Position in Dresden spielen hier hinein. Hinzu kommt offensichtlich die gefestigte Infrastruktur des Pietismus. Löscher ist auf Hinweise angewiesen und hat Schwierigkeiten, die Konventikel, die sich in den unübersichtlichen Grundstücken der Vorstadt trafen, namhaft zu machen.36 Von Konsequenzen kann nicht die Rede sein; die Quellen belegen kein greifbares Resultat der Aktivitäten Löschers. Im Fall Magdalena Elisabeth von Hallart scheitert er gar am Eingreifen der Landesregierung. 1718/19 erscheint Magdalena Elisabeth von Hallart nun als wichtigstes Bindeglied zwischen Valentin Ernst Löscher und Francke, Herrnschmidt und auch Paul Anton im Vorfeld des Merseburger Gespräches.37 Zur gleichen Zeit begegnet Löscher als Kontrahent einiger dem Separatismus zuneigender Konventikel in den vor allem von Handwerkern bewohnten Vorstädten östlich der damaligen Neustadt. Auch eine Gruppe von Gichtelianern unter der Leitung des Arztes Johann Gottfried Oertel ist Gegenstand des Interesses. Alle Gruppen standen mit dem Kreis um Magdalena Elisabeth von Hallart in Verbindung. Bei Zinzendorfs Ankunft in Dresden führt er diesen Kreis weiter und tritt an die Stelle der bisherigen Integrationsfigur des Pietismus in der Stadt. Weit bis in die dreißiger Jahre hinein hält er den Kontakt aufrecht. Das Netz von Beziehungen, das Zinzendorf durch seine Pläne direkt und indirekt aktiviert hat, läßt auch hier den Dresdener Pietismus durch zwei seiner herausragenden Vertreterinnen in den Blick des Interesses treten. Hinzu kommt die für Zinzendorf bedeutsame Rolle Catharina Constantia von Einsiedels, die im Spätsommer 1718 neu im Umfeld des Halleschen Pietismus in seinem Filial Dresden erscheint. Von Magdalena Elisabeth von Hallart kritisch beäugt, agiert sie im Hintergrund.38 Für Francke war sie 36 Vgl. zum Fall des Konventikels im Hause des Generals von Hallart neben der Darstellung Petzoldts, das verfügbare Quellenmaterial: Briefe Franckes an Heinrich XXIV. Graf Reuß, vom 18.4.1714, in: Schmidt/Meusel (Hg.), Briefwechsel, 80–83; Brief Nr. 31 sowie das korrespondierende Schreiben Magdalena Elisabeth von Hallarts an Francke vom 7.5.1714, StaBi Berlin. Nachlaß Francke, K. 4, Mappe 12, Nr. 4, Bll. 7–8. Der Briefwechsel gibt Auskunft über die starke Stellung des Pietismus in Dresden bereits im Jahr 1714. Magdalena Elisabeth von Hallart macht ihren Einfluß bei Hof, im Geheimen Rat und im Oberkonsistorium geltend, um das Vorgehen Löschers zu hemmen und gibt ihm das im Gespräch auch unmißverständlich zu verstehen. In ihrem Brief verweist sie auch auf eine Involvierung Johanna Margarethe Linckes, die mit den Vorgängen so weit vertraut gewesen ist, daß sie Francke gegenüber ausführlich hat Mitteilung geben können. 37 Daneben steht Johanna Margarethe Lincke, die bei der konkreten Umsetzung der Vorschläge Francke in diesem Zusammenhang immer wieder eingeschaltet wird und ihren Erfahrungsschatz in Dresden nützlich einbringen kann. Sie erscheint zwar nicht in der ersten Reihe der Agierenden. Der Briefwechsel August Hermann Franckes zeigt sie gleichwohl neben Magdalena Elisabeth von Hallart als wichtige Ansprechpartnerin in einer Schlüsselfunktion. 38 Die im SächsHStA. Genealogica gesammelten Akten bezüglich des Abschieds von Hallarts aus kursächsischem Dienst im Jahr 1721 weisen auf erhebliche Schulden hin, die zum Teil aus familiären Verpflichtungen herrührten, zum Teil aber auch aus verfehlten wirtschaftlichen

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wegen ihrer Zugehörigkeit zum Hofadel nicht ohne Bedeutung. Daß gerade sie auf Zinzendorf positiven Einfluß ausgeübt hat, zeugt hiervon. Allerdings fehlte ihr das Auge für die Gefahren der Einigungspläne Zinzendorfs. Francke hat andere Wege beschritten, um auf Zinzendorf Einfluß zu nehmen. Im Merseburger Gespräch vom Mai 1719 laufen die verschiedenen Handlungsfäden zusammen, die bis hierher von den Akteuren in Wittenberg, Dresden und Halle gesponnen worden sind.39

Unternehmungen zu erklären sind. Hier müsste – wie für die Biographie Magdalena Elisabeth von Hallarts und ihres Ehemannes Ludwig Nikolaus erhebliche Arbeit im Detail geleistet werden, um die Bedeutung dieser beiden Schlüsselfiguren des Halleschen Pietismus im Kursachsen des beginnenden achtzehnten Jahrhunderts grundlegend aufzuarbeiten. 39 Die umfassendste Darstellung ist bis heute: Gustav Kramer, August Hermann Francke. Ein Lebensbild 2, Halle 1860/1882, 288–317; zur Vorgeschichte: 272–288; vgl. des weiteren, Natzmer, Jugend Zinzendorfs, 224–241; s.a. Walch, RSLK V, 297ff; August Friedrich Gottreu Tholuck, Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im Verlaufe des 17. Jahrhunderts, theilweise nach handschriftlichen Quellen, Hamburg/Gotha 1852, 307 (dessen knappe Darstellung allerdings erhebliche Mängel aufweist) und insbesondere die ausführliche Darstellung Greschats, Zwischen Tradition und neuem Anfang, 297–308. Vgl. auch Martin Schmidt, Spener und Luther, in: ders., Der Pietismus als theologische Erscheinung. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus. Band 2, Göttingen 1984 (AGP 20), 156–181, hier 159–160 Anm. 13, der in anderem Zusammenhang auf die Ereignisse eingeht und eine – wenn auch sehr kompakte – Übersicht über die einschlägigen Bestände des Universitätsarchives wie des Archives der Franckeschen Stiftungen gibt. Vgl. insbesondere die detaillierte Darstellung Greschats, Zwischen Tradition und neuem Anfang, 296–307; s.a. Kramer, Francke 2, 289–317 und von diesem abhängig Natzmer, Jugend Zinzendorfs, 224–241. In der Tradition der Darstellung Spangenbergs wurde die Rolle Zinzendorfs hierbei oft überbewertet, war dieser doch bereits Monate zuvor nicht mehr in Wittenberg anwesend, sondern bereits zu seiner Kavalierstour aufgebrochen. Dieses Dresdener Umfeld hatte nun – 1719 – initialen Anteil am Zustandekommen des Merseburger Gespräches. Aus den Hallenser Quellen, wie aus späteren Äußerungen Zinzendorfs, auf die noch einzugehen sein wird, geht zudem hervor, daß Catharina Constantia von Einsiedel für das Zustandekommen des Merseburger Gespräches ebenfalls von herausgehobener Bedeutung gewesen ist; dies ist ihrem Briefwechsel mit Zinzendorf zu entnehmen, der im November während der Abwesenheit seines Hofmeisters 1718 eingesetzt hat. Sie ermuntert hier Zinzendorf in einem Schreiben vom 20.2.1719 und versichert ihn der Unterstützung des gleichgesinnten Dresdener Hofkreises für seine Unternehmungen, möchte aber ungenannt bleiben, um Komplikationen zu vermeiden. Zinzendorf schildert sie in einem Brief an Francke vom 3.2.1719 als die maßgebliche Instanz, die Löscher zu einem Gespräch mit Francke motiviert habe. Catharina Constantia von Einsiedel hatte sich im September des Jahres 1718 zu einem längeren Aufenthalt in Halle befunden, von dem auch Zinzendorf Kenntnis genommen hat. Ihr Wirken im Vorfeld des Merseburger Gespräches hat sich im Hintergrund abgespielt. Sie will, daß ihr Name nicht öffentlich in Verbindung mit den Plänen Zinzendorfs gebracht wird. So ist es schwer, exakt zu beurteilen, wie groß ihr Anteil am Zustandekommen der Merseburger Unterredungen tatsächlich gewesen ist. Nachweislich stand sie nicht nur mit Zinzendorf in brieflichem Kontakt – Zinzendorf erinnert sich noch Jahrzehnte später daran, sondern auch mit Valentin Ernst Löscher. Auf ihn zumindest scheint sie Einfluß genommen zu haben. Sie ermuntert ihn, an einem Ausgleich festzuhalten.

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4. Die Rolle des Dresdner Pietismus für das Zustandekommen des Merseburger Gespräches Erste schriftliche Informationen über die Dresdner Aktivitäten gehen mit einem Brief der »Generalin« von Hallart am 15. Januar in Halle ein.40 Diese Initiative setzt also nach den Bemühungen Zinzendorfs in Dresden, nach dem Aufenthalt des Hofmeisters Crisenius in der kursächsischen Residenzstadt, ein. Des weiteren geht aus dem Schreiben Magdalena Elisabeth von Hallarts hervor, daß vor ihrer Mitwirkung Catharina Constantia von Einsiedel-Wolckenburg die Gespräche mit Löscher angesponnen hatte, aber im Verlauf der Geschehnisse im Hintergrund blieb. Es lag nicht im Interesse Catharina Constantia von Einsiedels, offiziell in die Pläne involviert zu werden. Gleichwohl hatte sie sowohl in Dresden als auch auf Zinzendorf in Wittenberg großen Einfluß. Der Austausch mit den Dresdner pietistischen Kreisen war rege.41 In Halle aktiviert man mit Catharina Constantia von Einsiedel und der »Generalin« von Hallart zwei Parteigängerinnen in der »Hofstat«, wie Zinzendorf im »Atticus« formuliert hat.42 Beide sind offensichtlich – über die Interessen Halles an dem Gespräch hinaus – bestrebt, Löscher von der pietistischen Position Halles zu überzeugen, ihn zu bekehren.43 Die entscheidende Mittlerfunktion neben Catharina Constantia von Einsiedel nimmt dabei Magdalene Elisabeth von Hallart ein, die in den Aufzeichnungen Zinzendorfs keine Erwähnung gefunden hat. Sie erscheint in 40 AFSt/H A 184 : 9 (Briefextrakt). Vgl. zum folgenden Greschat, Zwischen Tradition und neuem Anfang, 298–308. 41 In der Uffenbach-Wolfschen Briefsammlung findet sich auch ein eigenhändiges Schreiben Catharina Constantia von Einsiedels an Valentin Ernst Löscher. Der Brief ist nicht datiert. Aus dem Kontext der Vorbereitungen des Merseburger Gespräches läßt sich die Abfassung aber recht sicher auf den Anfang des Jahres 1719 datieren. Ihr Brief an Löscher ist – wie auch ihre Briefe an Zinzendorf – unter Verdeckung der Verfasserschaft in Dresden überstellt worden. Der Brief ist mit »CC de EW« gezeichnet. Löscher hat die Verfasserschaft in einer Marginalie aufgelöst. Der Brief zeigt die Rolle Catharina Constantia von Einsiedels. Sie steht in intensivem Kontakt mit beiden Parteien und gibt Informationen weiter. Die Nähe zu den Dresdener Gleichgesinnten, der »Generalin« von Hallart, ist dabei markantes Charakteristikum der Situation im Vorfeld des Merseburger Gespräches: 42 S. das handschriftliche Original im Unitätsarchiv Herrnhut R.20.A.6. Das Tagebuch ist bislang lediglich in diesem handschriftlichen Manuskript zugänglich. Auszüge finden sich abgedruckt in: Otto Steinecke, Zinzendorfs Bildungsreise. An der Hand des Reisetagebuches Zinzendorfs dargestellt, Halle 1900, pass. und in dessen Gefolge bei Beyreuther 1, 161–206. Die hier wiedergegebenen Passagen aus dem Anfang des Tagebuches finden sich bereits bei Natzmer, Jugend Zinzendorfs, 241–249, abgedruckt, ohne dort allerdings ausgewertet zu werden. Die Entschlüsselung der Namen lehnt sich an die Vorarbeiten Natzmers an. 43 Vgl. zu dieser Deutung Greschat, Zwischen Tradition und neuem Anfang, 315.

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den Hallenser und Dresdener Quellen als Movens der Bestrebungen. Ihre Intention wird dabei unverhüllt sichtbar. Ihr Versuch, Valentin Ernst Löscher zu bekehren, ist Triebfeder wie Ursache des Scheiterns zugleich. Löschers angegriffene Position in der Residenzstadt, dem politisch erstarkten Halleschen Pietismus Preußens, der neuen Vormacht des Protestantismus im Reich gegenüber – nötigten den kirchenpolitisch wachen, wie durchaus realitätsbewußten Löscher zur Mäßigung. Mit dem, dem Pietismus nahestehenden, Oberhofprediger Marperger als Opponenten und Gegner bei Hof stand ihm zudem in Dresden selbst ein starker Gegner gegenüber. Eine Hinwendung Löschers zum Halleschen Pietismus jedenfalls erscheint als absurde Hoffnung. In Halle sah man die Pläne Magdalena Elisabeth von Hallarts deshalb durchaus mit Unbehagen, handelte man sich doch wieder den Vorwurf der Aggressivität und des pietistischen Übereifers ein, den man dort gerade zu vermeiden gesucht hatte. Im Januar schreiten in Dresden die Gespräche zwischen Magdalena Elisabeth von Hallart und Valentin Ernst Löscher voran. Am 17. Februar erreichen Francke neue Nachrichten, auf die er negativ reagiert. Bereits im Briefwechsel zu Beginn des Monats hatte Francke deutlich gemacht, daß er von seiner Seite keine Notwendigkeit zu einer Einigung sehe, da er »den Frieden nicht gebrochen« habe. Er warnt nicht nur die Dresdener Ansprechpartner. Am 7. und 14. Februar gehen – wie bereits dargestellt – zwei Briefe an Zinzendorf, die erneut Franckes negative Haltung dessen Bemühungen gegenüber zum Ausdruck bringt.44 Ereignet hatte sich folgendes: Am 30. Januar war – nach Vermittlung Catharina Constantia von Einsiedels – Valentin Ernst Löscher bei der »Generalin« von Hallart vorstellig geworden. Ziel seines Gespräches mit Magdalena Elisabeth von Hallart, das von ihr ausführlich protokolliert und an ihren ehemaligen Hausprediger Hencke in Halle zur Weitergabe an Paul Anton und die dortige theologische Fakultät übersandt worden ist, war sein Wunsch, zwecks eines klärenden Gespräches mit den Hallenser Theologen zusammenzutreffen. Wissend um die Rolle Magdalena Elisabeth von Hallarts in Dresden hatte er sich an sie gewandt. In dieser Hinsicht war seine Taktik auch aufgegangen. Umgehend erreichen die Hallenser die Aufzeichnungen der »Generalin« von Hallart, und geschäftige Beratungen setzen ein. Im Gegenzug gehen ihr Instruktionen zu. Es kommt am 22. Februar zu einem zweiten Gespräch, das ebenfalls von ihr protokolliert worden ist. Anlaß war die Übermittlung der Position der Halleschen Theologen an Löscher. Am 22. Februar wurden die Hallenser Entscheidungen vermittels der »Generalin« von Hallart an ihn weitergegeben. Sie nutzt diese Gelegen44 R.18.A.7.72 und 73 und die Abschriften R.20.A.10.2 und 3; vgl. Natzmer, Jugend Zinzendorfs, 233.

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heit, um Löscher von der Sache Halles zu überzeugen. Eine zweite längere Unterredung, findet statt, über die ebenfalls ein umfangreiches Gesprächsprotokoll nach Halle übersandt wird.45 In den Briefen, die hierüber nach Halle abgehen, zeigt sich Löscher persönlich stark angeschlagen und zu erheblichen Zugeständnissen bereit; doch sind dies wiederum die Schilderungen dritter. Daneben setzt ein Schriftwechsel zwischen Löscher und den Hallenser Theologen ein. Vor allem auf Paul Anton setzt er seine Hoffnungen. Allein seine theologische Position legt er der »Generalin« von Hallart gegenüber am 11. März schriftlich nieder.46 Die Beratungen in Halle dauern im März an und münden in eine harsche Kritik an Löscher und an dessen theologischen Positionen ein.47 Löscher hat wohl weiter auf einem Ausgleich durch ein Gespräch insistiert, dem die Hallenser schließlich unter größten Bedenken zugestimmt haben.48 Am Ende des Abtastens, das von Hallescher Seite mit großem Mißtrauen und unter Anwendung taktischer Raffinessen, auf Seiten Löschers mit Nachdruck, ja fast Übereifer, betrieben worden ist, stand dann tatsächlich das vielbeachtete Merseburger Gespräch. Die Beratungsprotokolle aus Merseburg49 sowie die Schreiben Franckes, die er aus Merseburg nach Halle während der Unterredung gesandt hat,50 zeigen daher auch, daß man in Halle nicht mit einem Einlenken Löschers gerechnet hat, sondern das Gespräch unter kirchenpolitischen, taktischen Gesichtspunkten gesucht hat. Letztlich blieb auf Seiten der Hallenser bis zuletzt einzig das Ziel, von Löscher einseitige Zugeständnisse einzufordern. Zeichen hierfür ist der immer wiederkehrende Versuch, ihn zu einem Besuch in Halle zu bewegen. Dies wäre allein durch die Wirkung eines solch sensationellen Ereignisses Lohn genug für die Unterhandlungen gewesen.51

45 AFSt/H A 184 : 15; eine weitere Abschrift befindet sich im Universitätsarchiv HalleWittenberg Rep. 27, Konv. 1088, Nr.16 (Fotokopie AFSt/H A 184 : 61). Vgl. Greschat, Zwischen Tradition und neuem Anfang, 299. 46 AFSt/H A 184:16 16 Dresden, 11.3.1719 Löscher an Generalin von Hallart. 47 So das Tagebuch Franckes AFST/H 173:1 unter dem Datum vom 16., 17. und 18.3.1719. 48 Vgl. zur Bewertung Greschat, Zwischen Tradition und neuem Anfang, 301–306. 49 Universitätsarchiv Halle-Wittenberg Rep. 27, Konv. 1089, Nr. 37 mit Gesprächsnotizen aus Merseburg; die Tagebucheintragungen Franckes aus Merseburg (AFSt/H A 173 : 1), die stark persönlichen Charakter haben und auf die Gesprächsinhalte nur am Rande eingehen; Universitätsarchiv Rep. 27, Konv. 1089, Nr. 35 Berichte der beteiligten Hallenser Fakultätsmitglieder (Fotokopie AFSt/H A 184 : 74; weitere Ausfertigung AFSt/H A 184 : 22); Sup.ep. 74, 461–494 Bericht Herrnschmidts an Löscher vom 2.10. 1719. Vgl. die Aufstellung bei Greschat, Zwischen Tradition und neuem Anfang, 303 Anm. 550. 50 AFSt/H A 130c : 25 vom 11.5. und A 130c : 30 vom 13.5.; vgl die Tagebucheintragungen unter diesen Daten (AFSt/H A 173 : 1). 51 Vgl. zu dieser Schlußfolgerung Greschat, Zwischen Tradition und neuem Anfang, 315.

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5. Fazit Zwei Jahre nach diesen Ereignissen – im November 1721 – tritt Zinzendorf ein Staatsamt in Kursachsen an und wird Führungskopf des Pietismus in Dresden. Er übernimmt eine gut ausgebaute Infrastruktur – heterogen, aber doch deutlich auf Halle ausgerichtet. Eine wachsende Gruppe von Menschen, die, statt die Abendmahlsgottesdienste zu besuchen, sich in einem Konventikel in der Altstadt ganz in der Nähe der Kreuzkirche treffen. Löscher kannte Zinzendorfs Position bereits seit drei Jahren und er kannte alle Personen in seinem neuen Umfeld – zum Teil bereits seit Jahrzehnten. Er wußte um den Einfluß Franckes bei Hof. Mit Zinzendorf vermutete er einen weiteren ernstzunehmenden Parteigänger Halles am kursächsischen Hof und in der Landesregierung. Er suchte den Austausch, wie er ihn bereits 1719 angeboten hatte. Beider Kontakt sollte Bestand haben. Zinzendorf distanzierte sich von Halle und behielt nicht zuletzt aufgrund des Merseburger Gespräches Valentin Ernst Löscher immer in Achtung. Löschers Furcht vor den frömmigkeitlichen Neuerungen, wie sie das Eingangszitat ausdrückt, zeigt an, daß beide Kinder verschiedener Generationen »Zwischen Tradition und neuem Anfang« gewesen sind. Deren Geschichte in Dresden ist noch lange nicht zu Ende geschrieben.

Exkurs: Die Rolle Anton Heinrich Walbaums in den Monaten von August 1718 bis April 1719 anhand seines Briefwechsels Auf die Rolle Anton Heinrich Walbaums in den ereignisreichen Monaten von August 1718 bis April 1719 ist bereits anhand der Äußerungen Zinzendorfs eingegangen worden. Seinen Briefen an Zinzendorf ist die Haltung des Hallenser Parteigängers zu entnehmen. Sie wird von August Hermann Francke gesteuert und kontrolliert, dem väterlichen Freund und der uneingeschränkten Autorität Walbaums. Dieser Eindruck vom Verhältnis Walbaums zu Francke muß jedenfalls entstehen, besieht man die Briefe Walbaums und deren Inhalt.52 Es ist auch zu berücksichtigen, daß Walbaum mit Francke im Zusammenhang mit Zinzendorfs Vereinigungsprojekt mehrfach konferiert hat, was die Bedeutung Walbaums als Informationsquelle in Halle hervorhebt. Nachweislich sind mehr Briefe abgefaßt worden als er-

52 R.20.A.8.b.26–29; nur der letzte Brief ist exakt datierbar; er stammt vom 10.4.1719.

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halten geblieben sind.53 Die Blickrichtung war dabei jedoch zumeist eindeutig die der freundschaftlichen Beziehung zwischen den beiden Korrespondenzpartnern, die aus deren gemeinsamer Schulzeit in Halle herrührte. Das Verhältnis Zinzendorfs zu seinen Freunden aus der Zeit in Halle, insbesondere zu Walbaum, ist bislang immer aus dem Blickwinkel Zinzendorfs untersucht worden. Hier liegt ein Desiderat der Pietismus-Forschung, ist Walbaum doch allein aufgrund seiner immensen Korrespondenz eine Schlüsselgestalt des Pietismus in Nord- und Mitteldeutschland gewesen. Diese grundsätzliche Beobachtung ist in der Forschung schon öfter gefällt und in ihrer Bedeutung erkannt worden. Es fällt gleichwohl auf, daß die Person Walbaums in ihrer Eigenständigkeit bislang kaum wahrgenommen worden ist. So ist zu beobachten, daß zumeist der Blick für den Pragmatismus und die Nüchternheit verlorengeht, die Walbaum ausgezeichnet haben. Walbaum ist als Persönlichkeit nicht mehr zu erkennen. Er bleibt in der Darstellung bloßer Korrespondenzpartner Zinzendorfs ohne eigene Meinung und Charakteristik. Seine Position und seine Vorstellungswelt bleiben auffällig unterbelichtet. Das Verhältnis zu Zinzendorf wird mystifiziert. Walbaum schreibt an Zinzendorf in offenen Worten, die keine Standesgrenzen zu kennen scheinen. Er scheut nicht vor unverhohlener Kritik zurück, die ihre Rückendeckung in Rat und Meinung Franckes sucht. So liegt gerade im Zusammenhang mit dem Vermittlungsprojekt eine ganze Reihe von Briefen vor, in denen Walbaum mit persönlicher wie inhaltlicher Kritik nicht spart. Der umfangreiche Briefwechsel zeugt davon.54 Walbaum hatte in Halle zu Zinzendorfs Sozietät, dem »Senfkornorden«, gehört.55 Er blieb nach dem Weggang Zinzendorfs aus Halle dessen wichtigster Ansprechpartner neben und nach Francke. Dabei ist Zinzendorf sich der Tatsache wohl bewußt gewesen, daß Walbaum in ständigem schriftlichem wie persönlichem Austausch mit Francke stand. Diese Tatsache hat er zu nutzen gesucht. Sie gereichte ihm jedoch keineswegs immer zum Vorteil. Francke hat die Informationsquelle, die ihm in Walbaum zur Verfügung stand, gerade im Zusammenhang des Zinzendorfschen Vermittlungsprojektes und dem letztlich daraus resultierenden Merseburger Gespräch für seine Interessen zu verwenden gewußt. Es hat sich gezeigt, daß Zinzendorf

53 S. das Tagebuch Franckes AFSt/H 172 : 1 (1718): Hier wird am 23.11. ein nicht erhaltener Brief Walbaums verzeichnet, der eventuell mit R.20.A.8.b.26 identisch ist (die Herrnhuter Bestände stammen aus AFSt und sind im 19. Jh. in das Unitätsarchiv gelangt; AFSt/H 173 : 1 (1719) verzeichnet am 15.2. einen weiteren Brief Walbaums, der eventuell mit R.20.A.8.b.27 oder 28 identisch ist; am 7.3. wird ein Besuch Walbaums verzeichnet; am 14.3. hat Francke einen Brief an Walbaum abgefaßt. 54 S.o. Anm. 15. 55 Reichel, Senfkornorden, pass.

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auch von Wittenberg aus seine Sozietätspläne fortgesetzt hat und daß Walbaum auch hier ein wichtiger Ansprechpartner gewesen ist. Eine Reihe von Besuchen, die Walbaum zusammen mit den beiden anderen in Halle verbliebenen Sozietätsmitgliedern Söhlenthal und Jony56 in Wittenberg abstattet, sprechen dieselbe Sprache. Anton Heinrich Walbaum war ein enger Vertrauter Franckes. Zinzendorf weiß um diese Tatsache. Er nutzt Walbaum als Schaltstation, um Informationen aus Halle zu erhalten, wie umgekehrt, um selbst den Kontakt zu Francke und dessen Halleschem Umfeld aufrecht zu erhalten. So werden in den Briefen die unterschiedlichsten Sachverhalte verhandelt. Wie bereits erwähnt, nehmen die Sozietätspläne großen Raum ein. Die Pläne für eine lateinische Ausgabe von Sekkendorfs »Christen-Staat« stehen am Anfang.57 Die Aufenthalte der Freunde in Wittenberg wurden ausführlich dargestellt. Auch Fragen in Studiendingen werden ausgetauscht.58 Es kann nicht überraschen, daß Zinzendorfs Briefwechsel mit Walbaum sich im einschlägigen Zeitraum auch mit dem »Friedensgeschäft« befaßt.59 Beachtenswert sind hier nicht nur die Positionen, die Zinzendorf und Walbaum austauschen, sondern auch die Wertung, die Walbaum dem Projekt außerhalb des Briefwechsels gibt. Erhalten sind Teile seines Briefverkehrs mit Francke.60 Zeigen bereits die Briefe an Zinzendorf deutlich kritische Aussagen, so wird dieses Bild in den Briefen an Francke noch verstärkt. Walbaum übt dabei nicht nur Kritik an der theologischen Position Zinzendorfs wie an seinem neuem Gewährsmann Wernsdorf, dessen Integrität er in Frage stellt. Es werden auch persönliche Vorwürfe erhoben. Walbaum wehrt sich gegen die Vereinnahmungsversuche Zinzendorfs im Zusammenhang mit den Sozietätsplänen: »Einliegendes von dem Herrn Graven von Zinzendorff habe gewöhnlicher maßen communiciren, und dabey mich erkundigen wollen, ob Ew. Hochehrwürden für rathsam erachten, daß ich dem Herrn Graven seine im kopf habende societet als nur

56 S. Reichel Senfkornorden, 105 Anm. 5. 57 R.20.A.7, 61–63, Wittenberg, 17.4.1718; Zinzendorf schreibt an Walbaum: »Die erste Arbeit unserer Societaet soll sein H Veit Ludewig vom (sic!) Seckendorffs Christen Staat vermehreter und völliger ausgeführet, ans licht zu stellen da wollen wir alle nur vorkommende dinge einbringen, damit keine Entschuldigung da sey, man wiße nicht alles, er kan über ein Alphabet nicht stercker werden. hernach wann Nutzen daraus verspühret wird will ich ihn lateinisch vertiren mit ihrer beyhülff und per Wattenweilium nostrum dem druck daß er in holland (weil er vorneml. vor fremde Nationen soll) mit Einrückung einiger tractatum Dr. Speneri und H. Prof. Franckens promoviren laßen«. Als Titel sieht Zinzendorf vor: »des herrn von Seckendorff Christen Staat übersehen, mit anmerckungen vermehret und zu allgemeinem Nutzen ans licht gestellet von Z. D. S. M.V.MS. zweyer der societatis ... virtutis mitgliedern.« 58 R.20.A.7, 101–105; hier 105 (P.S.). 59 R.20.A.7, 86–87 vom 15.11.1718; 87 vom 30.10.1718, 111–112 vom 20.03.1719. 60 R.20.A.8.b.26–33.

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Eitelkeit und puren Auswurff der eiteln Selbst-Ehre schrifftlig vorhalte; indem er noch nicht aufhöret, mich auf briefen, so er an mich schreibet, te syndice zu nennen, wie beylage zeiget, ohn erachtet ich solches nicht nur61 einmahl depreciret habe: oder ob ichs nur bey meiner nochmahligen schlechten deprecation dieses praedicati laße, und ienes Ew. Hochehrwürden bis auf deßen vermutliche Uberkunft sich vorbehalte, welches gewiß einen viel tiefferen Nachdruck haben mögte.«62

So stellt er den Sachverhalt Francke gegenüber dar. Für den Ablauf des Vermittlungsversuches ist es von nicht unerheblicher Bedeutung, daß August Hermann Francke in der Beziehung zwischen Zinzendorf und Walbaum eine so herausgehobene Rolle gespielt hat. Mit dem hier wiedergegebenen Zitat aus dem Briefwechsel Walbaums mit Francke zeichnet sich ein Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Zinzendorfs Vermittlungsplänen in Halle ab; der Weg dahin ist für die Pläne Zinzendorfs entscheidend gewesen. In Halle hatte man die Aktivitäten Zinzendorfs gespannt verfolgt und seine Schreiben ausführlich zur Kenntnis genommen. Nach erstem direktem brieflichen Austausch Zinzendorfs mit Francke und Lange hat Francke brieflichen und darauf persönlichen Kontakt zu dem ehemaligen Pädagogiumsschüler und jetzigen Studenten Anton Heinrich Walbaum gesucht. Franckes Tagebuchaufzeichnungen belegen schon am 23. November des Jahres 1718 ein ausführliches Gespräch mit Walbaum. Nachdem Zinzendorf selbst sich bereits im Oktober an Francke und Lange gewandt hat, am selben Tag auch ein Brief von Francke an Zinzendorf ausgefertigt worden ist,63 bestellt Francke nun Walbaum zu sich. Sein Ziel ist es, Informationen über die Situation in Wittenberg, die dortigen Aktivitäten und auch über den Wahrheitsgehalt der emphatischen Schilderungen Zinzendorfs einzuholen. Sein besonderes Interesse galt dabei Gottlieb Wernsdorf. Francke läßt es nicht damit genug sein, Walbaum anzuhören. Wissend um dessen enge Beziehung zu Zinzendorf, holt er unabhängige Informationen bei einem Wittenberger Kommilitonen Zinzendorfs ein. Im Tagebuch vermerkt er in dem charakteristischen Stil, der seine Aufzeichnungen ausmacht: »Ein Studiosus Juris von Wittenb., den d. Herr Walbaum zum Herrn Prof. brachte, bezeugte von Herrn D. Wernstorf, daß er viel anders geworden, u.[nd] von Hn D. 61 Wort über der Zeile hinzugefügt. 62 R.20.A.8.b.29, Halle, 10.4.1719; vgl. die Briefe an Zinzendorf vom 8.3. und 15.3. 1719, R20.C.12.308 (=R.20.A.10.5) und R.20.C.12.309 (=R.20.A.10.6) und ferner R.20.A.14.14 vom 29.3.1719, die Zinzendorf gegenüber eben diesen kritischen Ton erkennen lassen. Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 87–88 zitiert aus denselben Schreiben, schwächt die Kritik aber dadurch ab, daß er lediglich die positiv würdigenden Passagen in seine Zitation übernimmt; die Tendenz seiner biographischen Darstellung, Zinzendorf in einem positiveren Licht darzustellen – aus apologetischer Absicht erwachsen – wird hieran erkennbar. 63 AFSt/H A 172 : 1 unter dem Datum vom 23.11.1718. Der Brief ist nicht erhalten geblieben.

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Spenern nunmehro gantz anders judicirte, auch bezeugete, er hätte die hiesigen Herren Theologos nicht verstanden; it. er invet(h)irte nicht mehr, wie bishero, auf dieselben; it. er bezeugte, sie müßten nachgeben, aber die hiesigen Herrn Theologi auch; it. Er bezeugete seine Begierde u.[nd] Verlangen zur Vereinig. Der Herr Graf von Zinzend. hat vieles dazu contribuirt, u.[nd] oft mit ihm conferirt.«64

Zinzendorfs Aussagen werden bestätigt. Sein Engagement in Wittenberg wird gewürdigt, und auch die Person Gottlieb Wernsdorfs wird positiv geschildert. Insgesamt machen die Ausführungen den Eindruck reger Geschäftigkeit um die Vermittlungspläne Zinzendorfs in Wittenberg. Franckes Informationsbedürfnis wird befriedigt. Seine Vorgehensweise ist paradigmatisch für sein Agieren bis zum Mai 1719, dem Merseburger Gespräch mit Valentin Ernst Löscher. Francke handelt vorsichtig und hält sich bedeckt im Hintergrund. Um Informationen zu erhalten, bedient er sich Mittelsmännern, wie Zinzendorfs Hofmeister Daniel Crisenius oder in diesem Fall Anton Heinrich Walbaum und eines nicht genannten Wittenberger Jurastudenten.65 Auf die Rolle, die Anton Heinrich Walbaum in diesen Tagen spielt, wirft das ein bezeichnendes Licht. In den Briefen an Zinzendorf zeigt er sich als Freund und ebenso als harscher Kritiker. Er gibt Klagen und Anklagen an Zinzendorf brieflich weiter. Er befragt ihn und hinterfragt ihn. Die gewonnenen Informationen gibt er umgehend an August Hermann Francke weiter. Angesichts der Aufzeichnungen Franckes in seinem Diarium wird deutlich, daß Walbaums Loyalität ausschließlich Halle gegolten hat. Eine positive Rolle spielt er lediglich für Francke und sein Umfeld. Die Ratschläge, die er Zinzendorf erteilt, die Hinweise auf Joachim Langes Streitschriften, die Anfragen Wernsdorf betreffend, sowie die Rückfragen, die teilweise bis ins Detail hinein Informationen über das Vermittlungsprojekt betreffen, sind die Kritikpunkte und Anfragen Franckes. Dieser bedient sich der Schaltstelle Walbaum in der Hoffnung, auf diesem Weg zuverlässige Auskünfte über Zinzendorf zu erhalten, die dieser aufgrund taktischer Gesichtspunkte wie auch aufrichtiger Ehrfurcht der Autorität Francke gegenüber nicht geben würde. Daß Walbaum sich in diese Rolle fügt, charakterisiert ihn trefflich. Zinzendorf muß das klar gewesen sein, ist Walbaum doch keineswegs unaufrichtig; seinen Briefen ist des öfteren zu entnehmen, daß er Fragen und Bedenken Franckes und Langes übermittelt. Informationen über das intensive Verhör 64 AFSt/H A 172 : 1. unter dem Datum vom 23.11.1718. 65 Bei dem betreffenden Studenten könnte es sich um Johann Heinrich Göttling, einen Hallenser Studenten handeln, der auch in schriftlicher Form Auskunft über die Wittenberger Theologen, namentlich Gottlieb Wernsdorf, gegeben hat. Sie finden sich in den Akten, die im Archiv der Franckeschen Stiftungen im Zusammenhang mit dem Merseburger Gespäch angelegt worden sind: AFSt/H A184:18, Halle, 26.3.1719, von Johann Heinrich Göttling, 3 S., und A 184:19, Ohrdruff, 31.2.1719, Schreiben von Johann Adam Kromayer an Göttling.

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des Wittenberger Jura-Studenten durch Francke hat er allenfalls bei seinem anschließenden Aufenthalt in Wittenberg mitgeteilt. In den Briefen findet sich hiervon keine Spur. Im Februar 1719 bedient sich Francke erneut Walbaums, um parallel zu seinen schriftlichen Absagen an Zinzendorf auch via Walbaum mahnend auf Zinzendorf einzuwirken. Die Briefe Walbaums in dieser Zeit belegen das. An einem einprägsamen Beispiel wird das deutlich: Walbaum konfrontiert Zinzendorf mit den Aussagen eines Wittenberger Kandidaten, der von Wernsdorf aufgrund seiner Beziehungen zu Halle im Examen ungerecht behandelt worden ist.66 Dieser Fall hatte in Halle bereits für Aufsehen gesorgt. Zinzendorf gegenüber nennt Walbaum den Namen des Kandidaten nicht, doch war dieser in Halle sehr wohl bekannt: Johann Heinrich Göttling hatte in Halle schriftlichen Bericht über sein Wittenberger Kandidatenexamen abgeliefert, den man dort für das im Februar 1719 bereits avisierte Gespräch mit Valentin Ernst Löscher nutzen wollte.67 Zinzendorf wird nun durch Walbaum mit diesem Fall konfrontiert. Der Zweck ist offenkundig: Walbaum nimmt als Sprachrohr Franckes Einfluß auf Zinzendorf, um den von der Unredlichkeit Wernsdorfs zu überzeugen. Über Zinzendorfs Reaktion wird Francke auf dem Laufenden gehalten. Neben dem Briefwechsel Walbaums mit Zinzendorf läßt sich so ein brieflicher Austausch rekonstruieren, der zwischen Walbaum und August Hermann Francke stattgefunden hat und das Interesse Halles ebenso belegt wie die negative und daher vorsichtige und abwartende Haltung der Hallenser.68 Daß persönliche Motive bei Walbaum hineinspielen, vervollständigt das Bild, das sich von der für die Einigungsbestrebungen so wichtigen Beziehung Walbaums zu Zinzendorf nachzeichnen läßt. Es ist nämlich unbestreitbar, daß Walbaum in diesen Tagen eine wichtige, erste Ansprechstation für Zinzendorf war, an der er die Wirkmächtigkeit seiner Pläne testete und bei dem er Beifall für sein Vorhaben gesucht hat, um dessen Brisanz er wußte. Wie sehr ihm die Abläufe im Hintergrund dabei bewußt gewesen sind, kann nur erahnt werden. Spätestens im Februar muß ihm aber die Ablehnung der Hallenser vor Augen gestanden haben. Das Scheitern seiner 66 R.20.C.12.d.309 (=R.20.A.10.6) vom 15.3.1719. 67 Der Bericht findet sich so auch in den Akten der Franckeschen Stiftungen, die im Zusammenhang mit dem Merseburger Gespräch zusammengefaßt worden sind: AFSt/H A 184:6 vom August 1718; des weiteren ist ein Brief Göttlings erhalten: AFSt/H A 184:18 vom 26.3.1719. 68 Anhand des Tagebuches Franckes aus dem Jahr 1719 (AFSt/H A 173 : 1) läßt sich folgender Ablauf rekonstruieren: Am 15.2. geht ein Brief Walbaums ein, in dem er Francke über die neuesten Reaktionen Zinzendorfs in Kenntnis setzt; am 7.3. erfolgt ein Besuch bei Francke, woraufhin er am 8.3 einen Brief an Zinzendorf absendet; am 14.3. schreibt Walbaum erneut an Francke; anderntags geht wieder ein Schreiben an Zinzendorf ab; am 27.3. verzeichnet Francke überdies den Besuch von Söhlenthals, eines weiteren Mitgliedes des »Senfkornordens«.

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Pläne ist ihm ins Bewußtsein gekommen. Hierfür allerdings waren keineswegs allein die Aktivitäten der Hallenser, nicht einmal die August Hermann Franckes, maßgeblich. Zinzendorfs Vorgehen hat nicht nur in Halle wie in Wittenberg Mißtrauen geweckt, sondern ganz direkt Schaden angerichtet. So muß die sich verstärkende Ablehnung Walbaums in diesen Tagen auch von der anderen Seite her gesehen werden. Dem loyalen Parteigänger des Halleschen Pietismus und nüchternen Beobachter der Pläne Zinzendorfs ist sein Austausch mit Francke sicher auch als Hilfestellung dem abirrenden Zinzendorf gegenüber erschienen. Der unbedachte Vorwärtsdrang Zinzendorfs hat ihn jedenfalls gleichermaßen persönlich wie in der Sache dauerhaft auf Distanz zu dem einstmaligen Vorbild und Freund gebracht.69 Die Briefe an Zinzendorf weisen das eindeutig nach. Harsche Kritik an den Plänen Zinzendorfs, wie auch persönliche Kritik bestimmen den Ton.70 69 Aufgrund dieser Zusammenhänge ist die Rolle August Hermann Franckes in der Forschung – fußend auf seiner Sichtweise – weitergegeben worden: vgl. Reichel, Anfänge Herrnhuts, 66. 70 Die Vorbehalte gegen Zinzendorf, die aus persönlichen Differenzen erwachsen und mit den Sozietätsplänen in Zusammenhang stehen, werden nicht nur von Walbaum vertreten. In den Beständen des LHA Magdeburg, Außenstelle Wernigerode findet sich in den erhaltenen Teilen des Walbaumschen Briefwechsels eine ganze Reihe Briefe Georg Wilhelm Baron von Söhlenthals an Walbaum. Söhlenthal, der in Halle ebenfalls dem Senfkornorden Zinzendorfs angehört hatte, urteilt wie folgt über Zinzendorfs Unionspläne (LHA Magdeburg H Stolberg-Wernigerode J (Walbaumscher Briefwechsel 68, Bl. 13–14, Söhlenthal an Walbaum, 6.7.1719): »Vielgeliebter Freund, Jch habe wieder meinen willen wegen einiger dazwischen gekommenen verhinderungen die neuliche Post müssen vorbey gehen laßen, ohne an meinen gelibten Freunde zu schreiben unterdeßen berichte ich Jhnen zum voraus daß ich neulich von dem XXIXten Graf Reuß, aus Amsterdam briefe gehabt, darinnen Er mir meldet daß Er unseren Grafen von Zinzendorf daselbst gesprochen, welcher Jhm alsobald zum Mitgliede Seines Ordens gemachet, und dabey gebeten es mir nur zu überschreiben. ... Jch werde mit nächsten an den Graf Reuß schreiben, und Jhm ersuchen, sich doch Ja nicht in dergleichen Poßen einzulaßen der Graf Zinzendorf wird, wie mir eben dieser brief berichtet, nach Paris gehen, und weiß ich also nicht ... wo ich einen brief an Jhm hinkriegen kan. ...«. Auch zu Zinzendorfs Problemen im Zusammenhang mit dem Erzamt nimmt er Stellung und kritisiert Zinzendorfs Darstellung, gegen die er Vorbehalte hegt (a.a.O., Bl. 21–22, o.D.): »Jch übersende hiebey die mir gütigst communicirte Briefe. Wann es zu glauben stehet, daß Dn. Crisenius inscio Comite das Project von dem Ertz-Amte nach regensburg geschicket, so ist es höchst strafbaar. Sonsten habe aus des grafen briefe ersehen daß er wegen der renunciation des Ordens etwas ungehalten ist. Alleine wer kan Jhm helffen! Man kan nicht aus Liebe zu Jhm das, waß man vor Thorheit erkennet, mit machen und also wißentlich einen Narren abgeben. Jch entsinne mich nicht ob Jch Jhm meine meinung, und daß ich mit denen Poßen nichts mehr wolle zu thun haben, schon überschrieben habe. Jch will es unterdeßen noch ein mahl thun, und Sodann mag Er so viele Vornehme und Hohe Standes Personen hinein nehmen als Er will.« Hier verbindet Söhlenthal Vorbehalte an den Schilderungen Zinzendorf mit seinen Sozietätsplänen, die er auch hier wieder als »Poßen« bezeichnet. Zum Friedensgeschäft zwischen Wittenberg und Halle, das Walbaum doch so sehr beschäftigt hat, findet sich im Briefwechsel mit Söhlenthal keine Spur. Allein das Merseburger Gespräch wird noch einmal thematisiert, ohne allerdings Zinzendorfs Beteiligung zur Kenntnis zu nehmen; am 7. Juni (a.a.O. Bl. 7–8), also einen Monat nach dem Gespräch, notiert er kurz in einem Brief an Walbaum: »Jch mögte auch wohl gerne

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Vor allem die Nähe zu Gottlieb Wernsdorf erregt Walbaums Mißtrauen. Er zieht die Integrität des Wittenberger Theologen in Zweifel. Die Kritik ist die eines Hallensers an einem Vertreter der lutherischen Orthodoxie. Geradezu schablonenhaft tauchen die Versatzstücke genuin pietistischer Theologie-Kritik auf. Bezeichnend hierfür sind die regelmäßigen Verweise auf Schriften Joachim Langes. Sie werden Zinzendorf als Maßstab empfohlen, um eine kritische Einschätzung von Wernsdorf zu erlangen. Zinzendorf soll das »falsche und schmeichlerische Wesen des H.[errn] W.[ernsdorf]« erkennen.71 Die Warnungen häufen sich zu Jahresbeginn 1719, als Zinzendorf mit Nachdruck die Einigungspläne zwischen Wittenberg und Halle verfolgt. Eine Zuspitzung erfahren die Einwände Walbaums also hinsichtlich des Einigungsprojektes. Die Vorwürfe sind massiv. Dies hat Auswirkungen auf die Reaktion Zinzendorfs: Keinem anderen gegenüber erläutert Zinzendorf so detailliert sein Vorhaben. Apologetische Züge geben dabei allerdings keineswegs den Ton an. Offen stellt Zinzendorf dar, was ihn umtreibt. Dabei erfährt das Projekt eine Zuspitzung, die in den anderen Quellenbelegen in der Weise kaum wahrzunehmen ist. Walbaum gegenüber kann Zinzendorf die Rolle Halles als die der im Recht befindlichen Partei im innerpietistischen Streit charakterisieren. Aufgabe des Friedensprojektes ist es, die Wittenbergischen Theologen »mit Gott und den Nechsten« zu versöhnen.72 Hatte er im Briefwechsel mit Francke und mit seiner Familie immer wieder betont, daß er in den Wittenberger Theologen Gleichgesinnte sehen könne, so schlägt er hier einen ganz anderen Ton an. Weitaus weniger schmeichelhaft als all das, was er aus den Gesprächen mit Wernsdorf in seinen Tagebuchaufzeichnungen zu berichten weiß, klingt die Einschätzung, die er Walbaum in einem Brief vom 10.3.171973 mitteilt: »Es ist der H. D.[oktor] Löscher ein Sanguineo Melancholicus, von guten Einfällen, guter intention und ie zu weilen schwehr müthig ... . Daß seine intention gut sey, zeiget sein exemplarischer Wandel und harte Straffpredigten, darüber er offt vorgefordert worden ... H. D[oktor] Wernsdorff ist redlich und ietzo in tausendfacher Noth und Angst begriffen, dem kann man fast sicher trauen, wenn er verspricht, sich zu beßern.«

Es spricht ein Gefühl der Überlegenheit aus diesen Aussagen. So entsteht der Eindruck: Zinzendorf hält die Fäden in der Hand. Die Probleme, die wißen, ob die neuliche unterredung mit den Hn löscher den erwünschten effect bey den armen mann gehabt habe«. Vgl. die Briefauszüge bei Jacobs, Zur Geschichte des Pietismus in SchleswigHolstein, II. 266–272 pass., der den Aussagen Söhlenthals allerdings die Zinzendorfkritische Spitze nimmt. Die Briefe Söhlentahls an Zinzendorf finden sich im Unitätsarchiv unter R.20.C.3.e.144–152. 71 R.20.A.14.14 vom 20.3.1719; vgl. R.20.C.12.d.309 (=R.20.A.10.6) 15.3.1719. 72 R.20.A.7, 83–85; hier 83; Brief vom 12.2.1719. 73 S. zu den folgenden Ausführungen: R.20.A.7, 101–105, vom 10.3.1719.

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ihm aus seinen Plänen erwachsen sind, wertet er Walbaum gegenüber herab,74 der in diesem Zusammenhang nachgefragt hatte.75 Auch deutliche Kritik an Joachim Lange kann er vorbringen, wenngleich er damit nicht die Position Halles in Frage stellt, sondern lediglich die Vorgehensweise von dessen vornehmsten Protagonisten: Denn, so Zinzendorf, »hätte aber der H. D. Lange pur wie etwan der H. adjunctus freylinghausen agiret ohne personalien, wäre d H. D. löscher viel ehe zur Erkäntnüß zu bringen gewesen. Nun aber hat das lezte Schreiben H. D. Langens, so er gegen ihn gerichtet, so viel gewürcket, daß er, so viel menschliche Augen sehen können, alß aus einem tieffen Schlaffe erwachet ist, und sich zu versöhnen auf eine so raisonable Art (die aber iedoch zu menagiren bitte) als man erwarten mögen, neml. durch öffentl. revocation seiner bißherigen propositorum erkläret. Aber mahl eine frucht des temperament Melancholici, oder viel mehr der göttl. krafft, welche durch daßelbe in ihm würcket. Hintergieng er mich in diesem stücke, müßte es sich bey persön. zusammenkunfft zeigen, und das ist die andere Ursach welche mich von dem wohlmeinen persvadiret, denn warum solte man auf eine persöhnl. Gegenwarth bedacht seyn, solcher leüte, denen man nach wie sonst spinnefeind wäre. Sehen sie also daß dieses allerdings ex puriori non praesente sed intentione menschlichen Urtheil nach herrühren könne, tete a tete laßen sich kein Ausflüchte finden, wie schrifftlich sondern da muß de Veritate gehandelt, und circa cortium nicht weiter verharret werden... Die grose affection gegen Dr. Spennern. der doch einige seines Vaters principia e.g. nicht zu tantzen heget, machet mich eine gute hofnung schöpfen, denn dieser u.[nd] d H. Pro Rector D. Wernsd.[orf] sind hertzensfreünde.«76

Er schließt: »Mich wundert daß H. D. Lange eine neüe Controversiam schreibet, es hat ja die vorige noch niemand refusiret, ich hoffe ich wolle mit D. Wernsdorff ehestens in Halle seyn, konte sie so lange Anstand haben, wäre es gut, den l. baron mein herzl. compl. ich dencke es ist mir ob ich ihm oder ihnen schreibe, auch M. l. prof. Fr.[ancken] und D. Langen.«77

74 R.20.G.2.d.30 (Abschrift: R.20.A.7, 104 vom 10.3.1719: »Auf des H. v. Globigs Carmen zu kommen, so waren die Umständ daran diese. H. Prof. Poes. Struntz hatte den Carmen nicht zur correctur bekommen, wie es denn eine gewöhnl. Art ist, sehr eilig zu gieng, das gab eine billige Suspicion, man habe etwas darüber. weilen nun der seelge Wechsel der in der Erfüllung gehen solte grose gedruckt, und das wort plurioribus von einen berühmten Deisten pro vergötterung gebraucht worden ist, bildete man sich ein nichts, als ob darauf geziehlet wd. sey, sondern es dürfften andere auf die Gedancken kommen, man censire nichts mehr, ... als aber in Decanat d H. ProR. und Decanus vernommen, daß wir Autor seyen vom H. v. Globig welcher vorgefordert worden, haben sie so gleich ihre Meinung geändert.« Die Anfrage Walbaums findet sich unter R.20.C.12.d.308, vom 8.3.1719 im Unitätsarchiv. S.o. in diesem Kapitel. 75 Vgl. den folgenden Brief Walbaums R.20.A.14.16, vom 15.3.1719 (Briefextrakt). 76 R.20.G.2.d.30 (Abschrift: R.20.A.7, 102–103). 77 R.20.G.2.d.30 (Abschrift: R.20.A.7, 104–105); vgl. mit ähnlichem Inhalt an Walbaum: R.20.G.2.d.40 vom 7.12.1718 (Abschrift: R.20.A.7, 96–97).

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Thilo Daniel

Deutlich wird hieran die massiv von taktischen Gesichtspunkten geprägte Vorgehensweise Zinzendorfs in dieser Angelegenheit. Doch gehen seine Versuche, die Parteien gegeneinander auszuspielen, auch mit einem nicht zu übersehenden Grundton der Unbedarftheit und Unbefangenheit den eingespielten Fronten zwischen Orthodoxie und Pietismus gegenüber einher. Wernsdorf zu einem Gesinnungsgenossen Speners zu erklären und ihn in das Beziehungsgeflecht des Pietismus einzuordnen, um so bei dem Hallenser Weggefährten Walbaum für seine eigenen Pläne zu werben, birgt die Gründe des Scheiterns bereits in sich. Hinzu tritt die massive Kritik an Joachim Lange, der für Walbaum eine nicht hinterfragte theologische Autorität dargestellt hat, wie seine Briefe deutlich machen. Die »FriedensGedancken« werden zur studentischen Fingerübung deklariert und in der Darstellung ihres Verfassers in die Auflagen der Instruktion eingepaßt. Die Abwesenheit des Hofmeisters ausnutzend, geht er die praktische Umsetzung an und versucht hierzu die Gunst seiner Hallenser Freunde zu nutzen. Seine Hoffnung war es, daß dieser Umweg dazu geeignet sein könnte, auf diese Weise bei Francke für das Projekt überzeugender werben zu können, als er selbst es auf direktem Weg vermocht hatte. Die Wertschätzung, die Walbaum bei Francke genoß, kannte Zinzendorf nur zu gut, und er wußte sie für sein Vorhaben zu nutzen. Walbaums Mißtrauen wird von ihm jedoch nicht sonderlich ernst genommen. Walbaum litt unter Zinzendorfs übersteigertem Selbstbewußtsein. Die theologischen Vorbehalte gegen das »Friedensgeschäft« gehen damit einher. Walbaum wirft Zinzendorf vor, er schieße über das Ziel hinaus und übersehe die Gefahr, die sich für einen Pietisten ergibt, wenn er sein Vertrauen in die Stellvertreter der lutherischen Orthodoxie setzt. Erscheint Walbaum gefangen in den pietistischen Denkbahnen, so gewinnt Zinzendorf gerade seine Offenheit für die heiklen Einigungspläne aus den gleichen pietistischen Wurzeln. Umso erstaunlicher muß, von hier aus besehen, die Kehrtwendung in den Anschauungen Zinzendorfs nach dem Scheitern des Vermittlungsprojektes wirken, wie er sie im »Atticus« mitgeteilt hat. Nun nimmt er die Einwände Walbaums auf und gesteht deren Richtigkeit ein. Vor allem die kritische Einschätzung Wernsdorfs teilt Zinzendorf nun voll und ganz. Er macht ihn gar – zusammen mit dem Hofmeister Crisenius – für das Scheitern verantwortlich. Der Briefwechsel mit Walbaum, der auch über den Antritt der Bildungsreise hinaus bis in die dreißiger Jahre hinein fortdauert, gibt über Zinzendorfs ernüchterte Sicht der lutherischen Orthodoxie Auskunft. Er schreibt unter anderem über Wernsdorfs Verhältnis zu Johann Kaspar Haferung, der dem Pietismus nahestand, in enttäuschtem Ton:

Zinzendorf und der Pietismus in Dresden

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»wo D. Hafferung aus Rachgier seine Kinder nach Halle geschicket hätte, wäre der Grund sehr falsch, und ich in meiner Sorge für diesen Mann sehr bekräfftiget, alß die vacantz bey der gen. Superintendentz war, bat er öffentl. in Kirchen Gebethe, wieder die Pietisten, und entschuldigte es, alß ihn die Universitaet und sonderl. der magnificens D. Wernsdorff zu leibe gieng.«78

Noch ein Jahr nach seiner unfreiwilligen Abreise aus Wittenberg ist eine grundlegende Skepsis im Zusammenhang mit allen dortigen Vorgängen und Personen geblieben.

78 S. insbes. R.20.A.7, 122–132; Brief aus Paris vom 24.2.1720.

HORST WEIGELT

Zinzendorf und die Schwenckfelder

Wenige Entscheidungen Zinzendorfs waren so schwerwiegend und weitreichend wie sein Ende 1725 gefaßter Entschluß, den um ihres Glaubens willen in Schlesien verfolgten Schwenckfeldern auf seinen oberlausitzischen Besitzungen Zuflucht zu gewähren. Die Aufnahme dieser schlesischen Schwenckfelder, die sich keiner der reichsrechtlich anerkannten Konfessionen zugehörig betrachteten, war nämlich einer der Gründe, weshalb Zinzendorf am 20. März 1736 definitiv aus Sachsen ausgewiesen wurde. In der Forschung sind bereits mehrfach einzelne Phasen oder Aspekte des Verhältnisses zwischen Zinzendorf und den Schwenckfeldern untersucht worden. Eine zusammenfassende, überblicksmäßige Darstellung der jahrelangen und spannungsreichen Beziehungen zwischen dem Grafen und diesen »Bekennern der Glorie Christi« fehlt jedoch. Die Forschungslücke soll durch diesen Beitrag geschlossen werden. Hierbei soll zunächst den ersten Kontakten zwischen Zinzendorf und den wegen ihres Glaubens unterdrückten Schwenckfeldern nachgegangen werden. Hierauf folgt zweitens die Darstellung ihrer Ansiedlung in Oberberthelsdorf. Sodann wird drittens ihre Emigration nach Amerika thematisiert werden. Viertens wird Spangenbergs Ringen um die Schwenckfelder während seines Aufenthalts in Pennsylvanien nachgegangen werden. Fünftens sollen Zinzendorfs Bemühungen um die nach Amerika ausgewanderten Schwenckfelder und deren Absage an den Grafen skizziert werden. Sechstens erfolgt eine Bilanzierung und Würdigung.

1. Erste Kontakte zwischen Zinzendorf und den Schwenckfeldern Die Anhänger des mystischen Spiritualisten Caspar Schwenckfeld von Ossig hatten nach ihrer Unterdrückung in den Territorien Herzog Friedrichs II. von Liegnitz, Brieg und Wohlau seit etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts in der Gegend zwischen Löwenberg, Goldberg und Haynau allmählich bedeutende Gemeinschaften gebildet.1 Nach mannigfachen temporal und 1 Über Anfänge und frühe Entwicklung des Schwenckfeldertums in diesem Gebiet Niederschlesiens siehe Horst Weigelt, Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien, Berlin/New York 1973 (AzKG 43), 169–219.

Zinzendorf und die Schwenkfelder

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lokal begrenzten Verfolgungen durch die lutherische Kirche und die weltliche Obrigkeit hatten sie hier etwa bis 1660 weitgehend unbehelligt ihrer religiösen Überzeugung leben können.2 1719 wurde jedoch zu ihrer Konversion in Harpersdorf, einem Straßendorf mit hohem schwenckfeldischem Bevölkerungsanteil, eine Jesuitenmission errichtet.3 Anfänglich bemühten sich die Patres Johannes Milan und Karl Xaver Regent darum, die Schwenckfelder gütlich zum Übertritt in die römisch-katholische Kirche zu bewegen. Später, vor allem nachdem der Mission 1725 die iurisdictio parochialis verliehen worden war, griffen sie zu Gewaltmaßnahmen wie angeordnete Unterweisungen und Zwangstaufen. Um sich dem Zugriff der Jesuiten zu entziehen, ließen die Schwenckfelder Taufen und Trauungen insgeheim außer Landes von pietistisch gesinnten lutherischen Pfarrern vornehmen. Verstorbene bestatteten sie heimlich in ihren Scheunen und Gärten. Bei ihren finessenreichen Versuchen, diese Rekatholisierungsmaßnahmen zu unterlaufen, wurden sie übrigens vielfach insgeheim von ihren lutherischen Grundherrn4 und Pfarrern unterstützt. Allerdings war dies obrigkeitlich verboten und wurde bestraft. Als die Repressalien eskalierten, entsandten die Schwenckfelder im Mai 1721 eine dreiköpfige Delegation5 nach Wien, um bei Kaiser Karl VI. religiöse Duldung für ihre Gemeinschaft zu erbitten. Während ihres fast fünfjährigen Aufenthaltes überreichte sie insgesamt 17 Petitionen. Am 30. Juli 1725 wurde ihr jedoch in einer Finalresolution6 mitgeteilt, die Schwenckfelder müßten entweder zur römisch-katholischen Kirche konvertieren oder das Land verlassen.

2 Über diese etwa ein halbes Jahrhundert währende Friedensphase für die dortigen schwenckfeldischen Gemeinschaften und deren Gründe siehe Weigelt, Spiritualistische Tradition, 219–239. 3 Bezüglich der Errichtung der Jesuitenmission in Harpersdorf und ihrer Wirksamkeit unter den Schwenckfeldern siehe Weigelt, Spiritualistische Tradition, 239–260 (Lit.). 4 Besonders von Ernst Konrad von Braun, dem Grundherrn von Armenruh, Harpersdorf und Ober-Langneundorf, der 1720 – bald nach der Errichtung der Jesuitenmission – nach Wien gereist war, um religiöse Duldung für die Schwenckfelder zu erbitten. Siehe hierzu Weigelt, Spiritualistische Tradition, 246. 5 Über die schwenckfeldische Delegation und ihre Interventionen siehe Weigelt, Spiritualistische Tradition, 246–247 u. 253. Eine sehr eindrückliche Schilderung über den Aufenthalt der Delegation in Wien findet sich bei Balthazar Hoffmann, einem Mitglied der Abordnung (A Short and Thorough Report of the Schwenckfelders, in: L. Allen Viehmeyer (Hg.), The Tumultuous Years: Schwenckfelder Chronicles 1580–1750. The Reports of Martin John, Jr. and Balthazar Hoffmann, Pennsburg 1980, 28–69, hier 38–44). 6 Dieses Reskript Kaiser Karls VI. an das Königliche Oberamt Breslau vom 30.7.1725 findet sich handschriftlich in: Stadtarchiv Görlitz, Regal 3, Fach 24 (Vogtshof); Instrumenta ad Modum Operandi (Jesuiten Archiv Harpersdorf), Schwenkfelder Library Pennsburg PA, VN 73–6, S.19– 24; Christian Knauth, Historia Schwenckfeldianismi in Lusatia Sup. d. i. Gründlich historischer Bericht, was es mit denen Schwenckfeldern in Ober-Lausitz besonders in Görlitz [...] gehabt, UB Wroclaw, Akc. 1947/70, 186–189.

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Horst Weigelt

Da jedoch die allermeisten Schwenckfelder eine Konversion ablehnten, stellte sich die Frage, in welchem Land sie Aufnahme suchen und finden könnten.7 Bereits während ihre Delegation in Wien weilte, hatte sich den Schwenckfeldern die Möglichkeit eröffnet, in Brandenburg eine neue Heimat zu bekommen. Deshalb hatten sie schon mit dem pietistischen Waisenhausvater in Züllichau8 Gespräche geführt. Weil sie aber die in Preußen praktizierte Rekrutierung von Soldaten fürchteten, die sie entschieden ablehnten, stellten sie dann kein Aufnahmegesuch an den Preußischen König Friedrich Wilhelm I.9 Als nun die Finalresolution des Kaisers vorlag, richteten die Schwenckfelder am 16. Oktober 1725 ein längeres Schreiben10 an die Mennoniten in Amsterdam. Darin ersuchten sie diese, sich – wie einst bei den Berner Täufern – dafür einzusetzen, daß ihnen in ihrer schlesischen Heimat doch noch religiöse Duldung gewährt oder freie Auswanderung gestattet würde. Hierbei dachten sie an Holland. Als sich die Antwort verzögerte, wandten sie sich am 3. Dezember 1725 erneut an die Mennoniten und fragten nun direkt, ob sie in Holland aufgenommen und eine neue Existenz finden würden.11 Diese Anfrage wiederholten sie in einem Schreiben12 vom 14. Januar 1726. Weil aber ihre Unterdrückung zunahm, wandten sie sich über den ihnen zugetanen Hallenser Johann Christoph Schwedler, Pfarrer an der Grenzkirche Nieder-Wiesa, auch noch hilfesuchend an den Magistrat der Stadt Görlitz13 und vor allem an Zinzendorf. In einem Schreiben14 vom 7 Über die Bemühungen der Schwenckfelder um Auswanderungsmöglichkeiten siehe Weigelt, Spiritualistische Tradition, 253–256. 8 Über das Waisenhaus in Züllichau siehe Walter Wendland, Zur Kirchengeschichte von Züllichau, JBKG 22 (1927), 11–24, hier 19–24. 9 Siehe Antworten der Schwenckfelder auf Zinzendorfs Fragenkatalog, [1732], UA Herrnhut, R.5.A.5.7 (zu Zinzendorfs Frage: »Was uns von des Königes in Preußen Majest. und sonst vor offerten auch in Sachsen geschehen?«). 10 Siehe Brief: Schwenckfelder an die Mennoniten in Amsterdam, 16.10.1725, UB Amsterdam, Bibliotheek der Vereenigde Doopsgezinde Gemeente, Nr. 2908 (Holländische Übersetzung). Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 253. 11 Siehe Brief: Schwenckfelder an die Mennoniten in Amsterdam, 3.12.1725, UB Amsterdam, Bibliotheek der Vereenigde Doopsgezinde Gemeente, Nr. 2909. Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 254. 12 Siehe Brief: Schwenckfelder an die Mennoniten in Amsterdam, 14.1.1726, UB Amsterdam, Bibliotheek der Vereenigde Doopsgezinde Gemeente, Nr. 2911. Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 254. 13 Über das Hilfeersuchen an den Görlitzer Magistrat siehe Horst Weigelt, Das »Kurtze Bekäntnus« der schlesischen Schwenckfelder von 1726. Aspekte zur Frömmigkeitstheologie des Schwenckfeldertums im 18. Jahrhundert, in: Erich Donnert (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 1. Weimar u.a. 1997, 593–602, hier 595–596 u. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 254. 14 Siehe Brief: Schwenckfelder an Zinzendorf, 19.12.1725, gedr. in: August Gottlieb Spangenberg, Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf,

Zinzendorf und die Schwenkfelder

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19. Dezember 1725 baten sie den Grafen darum, ihnen wenigstens während der Wintermonate in der neuen Siedlung Herrnhut Zuflucht zu gewähren. Den Schwenckfeldern war nämlich bekannt, daß Zinzendorf sich bereits seit 1722 vieler Glaubensflüchtlinge aus Mähren und Böhmen sowie anderer Verfolgter angenommen und ihnen eine Ansiedlung in Herrnhut gestattet hatte.15 Hinzu kam, daß er über ihre Situation gut unterrichtet war. Er hatte ihnen bereits einige Jahre zuvor – während ihre Delegation in Wien weilte – einmal zu helfen versucht. Ende August 1723 hatte er – in Begleitung Friedrich von Wattevilles und des Görlitzer Pfarrers Melchior Schäffer – auf seiner ersten Reise nach Schlesien – in Zobten den Freiherrn Otto Konrad von Hohberg, den Landesältesten des Fürstentums Liegnitz, besucht.16 Auf den Besitzungen dieses Adligen, mit dem er mütterlicherseits verwandt war, lebten zahlreiche Schwenckfelder. Als Zinzendorf Einzelheiten von deren bedrückenden Lage erfuhr, entwarf er auf ihren Wunsch hin für sie sogleich »unterschiedliche Schriften an den Kaysserlichen Hof«17 und versprach ihnen, sich ihrer demnächst auch noch persönlich anzunehmen. Dieses Versprechen löste Zinzendorf ein, als er im September 1723 mit Friedrich von Watteville nach Prag zur Krönung von Karl VI. gereist war und am 16. September im kaiserlichen Jagdschloß Brandeis bei Prag in eigenen Angelegenheiten eine Audienz beim Kaiser hatte.18 Wegen der Schwenckfelder hatte er bei dieser Gelegenheit eine Unterredung mit dem 8 Tle. Barby [1773]–1775 [Nachdr. NLZ.L 1–8], hier T. II, 326–327. Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 254. 15 Siehe Dietrich Meyer, Zinzendorf und Herrnhut,in: Martin Brecht u. Klaus Deppermann (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1995, 21. 16 Hierüber siehe Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Geschichte der verbundenen vier Brüder, in: Joseph Theodor Müller (Hg.), Die ältesten Berichte Zinzendorfs über sein Leben, seine Unternehmungen und Herrnhuts Entstehen, ZBG 6 (1912) [Nachdr. NLZ.ZBG 2], 71–108, hier 99; Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 262. Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 254. Allerdings behauptete Zinzendorf 1732 in seinem Bericht an den Oberlandeshauptmann (Brieffragment: Zinzendorf an Friedrich Caspar von Gersdorf, o.D. [August 1732?], UA Herrnhut, R.5.A.2.a.40), daß er von Hohberg besucht worden sei: »Ao 1723 besuchte mich der verstorbene Baron Hochberg auf Polschildern und Armruh etc. stellte mir den bedruckten Zustand dieser armen Leute, und wie Er von der Clerisey gehindert wurde sich ihrer ferner hin anzunehmen, beweglich vor. Es ließen mich auch dieselben unter der Hand ersuchen, beÿ meiner ans Kaÿserl. Hoflager damahls vorseÿenden Reise, ihrer im besten zu gedenken.« 17 Zinzendorf, Geschichte der verbundenen Brüder, 99. Vgl. Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 262. 18 Hierzu und zum Folgenden siehe Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Kurze Relation von Herrnhut und Bertholdsdorff seith der Abreise des Herrn Heitz, in: Joseph Theodor Müller (Hg.), Die ältesten Berichte Zinzendorfs über sein Leben, seine Unternehmungen und Herrnhuts Entstehen, ZBG 6 (1912) [Nachdr. in: NLZ.ZBG 2], 45–68, hier 46; Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 266–267. Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 254–255.

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Horst Weigelt

kaiserlichen Minister Rudolph Siegmund Graf von Sinzendorf und mit dem Direktor des königlichen Oberamts von Schlesien, dem Geheimen Rat Johann A. von Schaffgotsch. Während des Gesprächs bemerkte der Minister, die Schwenckfelder sollten emigrieren.19 Aufgrund dieser Bemerkung wandte sich Zinzendorf in einem Intercessionsschreiben direkt an Kaiser Karl VI. und bat um Einstellung aller religiösen Zwangsmaßnahmen gegen die »hart gepreßten Schwenckfelder in Schlesien«.20 Er schrieb u.a.: »Ich will ihr Wesen nicht in Vertheidigung nehmen: aber, allergnädigster Herr, die Seelen der Menschen zu überzeugen, sind die leiblichen Mittel allzu unvermögend; sie machen nur Heuchler: und es wird Ew. Majestät doch um die wahre Bekehrung der Irrenden zu thun seyn.«

Damit hatte Zinzendorf einerseits signalisiert, daß auch er das »Wesen« der Schwenckfelder nicht billige. Andererseits hatte er unmißverständlich deutlich gemacht, daß er alle Zwangsmaßnahmen in Glaubenssachen für falsch erachtete. Als Zinzendorf nun von den Schwenckfeldern am 19. Dezember 1725 in einem Brief21 gebeten wurde, ihnen wenigstens vorübergehend in Herrnhut Aufnahme zu gewähren, führte er sogleich ein Gespräch mit seiner Großmutter Henriette Katharina von Gersdorf.22 Als diese sich bereit erklärte, die religiös Verfolgten auf ihren Besitzungen in Oberberthelsdorf aufzunehmen, teilte Zinzendorf ihnen dies am 24. Dezember 1725 mit.23 Daraufhin stellte sich bereits vier Tage später eine schwenckfeldische Delegation bei Zinzendorf ein,24 offensichtlich um Einzelheiten abzuklären. In der Nacht vom 14. zum 15. Januar 1726 floh dann erstmals eine größere Anzahl von Schwenckfeldern unter Zurücklassung von Hab und Gut aus ihrer schlesischen Heimat.25 Den Fluchtweg nahmen sie über die Grenzkirche Nieder-Wiesa in das etwa zehn Wegstunden entfernte östliche Gebiet der Oberlausitz. Die Migranten suchten und fanden teilweise in Görlitz und

19 So Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 266–267; die folgenden Zitate ebd. 20 Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 267. 21 Siehe Brieffragment: Schwenckfelder an Zinzendorf, 19.12. 1725, gedr. in: Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 226–227. 22 Siehe Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 255. 23 Siehe Brief: Zinzendorf an Schwenckfelder, 24.12.1725, gedr. in: Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 327. Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 255. 24 Siehe Zinzendorf, Kurze Relation von Herrnhut, 56. Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 255. 25 Hierzu und zum Folgenden siehe Christian Knauth, Historia Schwenckfeldianismi in Lusatia Sup. d. i. Gründlich historischer Bericht, was es mit denen Schwenckfeldern in Ober-Lausitz besonders in Görlitz [...] gehabt, UB Wroclaw, Akc. 1947/70, 190–192; [Christoph Schultz u.a.,] Erläuterung für Herrn Caspar Schwenckfeld, und die Zugethanen seiner Lehre [...], Breslau u. Leipzig 1771, 62–63.

Zinzendorf und die Schwenkfelder

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Umgebung Aufnahme.26 Größerenteils aber lenkten sie ihre Schritte sogleich – oder auch später – weiter nach Herrnhut zu Zinzendorf. Dieser ersten Gruppe folgten bald weitere nach. Allerdings konnten sich zahlreiche Schwenckfelder nicht zu einem Verlassen ihrer Heimat entschließen.27 Deren Anzahl nahm jedoch ständig ab, zumal in den nächsten Jahren eine Reihe von ihnen unter Repressalien zum Katholizismus konvertierte. Als dann Schlesien 1740 von König Friedrich II. von Preußen besetzt worden war und dieser in einem Dekret vom 8. Mai 1741 den Schwenckfeldern Duldung zugesichert hatte,28 hatten diese zwar die lang ersehnte religiöse Freiheit erhalten; nun schlossen sich aber viele von ihnen der lutherischen Kirche an, vor allem bei Eingang einer Ehe mit Partnern, die dieser angehörten. Auch starben viele schwenckfeldische Familien wegen Ahnenschwunds aus. Der letzte Schwenckfelder, der Bauer Melchior Dorn, verstarb 1826 in Harpersdorf.29

2. Die Ansiedelung der Schwenckfelder auf den Besitzungen Zinzendorfs und ihre erneute Ausweisung Die Schwenckfelder, die bei Zinzendorf Zuflucht gesucht hatten, konnten jedoch nicht sogleich in Oberberthelsdorf siedeln. Vielmehr mußten die meisten zunächst noch auf dem Gut Berthelsdorf, das der Graf 1722 mit dem von seinem Vater ererbten Vermögen gekauft hatte, bleiben. Nach dem Tod seiner Großmutter war nämlich das Dorf Oberberthelsdorf seinem Onkel Friedrich Gottlob von Gersdorf als Erbe zugefallen, von dem es Zinzendorf erst 1727 käuflich erwarb.30 In diesem Straßendorf errichteten sich die Schwenckfelder eigene Häuser, von denen einige noch heute vorhanden sind. Sie sind als sog. Schwenckfelderhäuser bekannt und unterscheiden sich deutlich von den in dieser Region üblichen Umgebindehäusern. Bei ihrer Existenzgründung wurden die Glaubensflüchtlinge von den Kollegianten in Haarlem, zu denen sie seit längerer Zeit Verbindung hatten, 26 Zu denjenigen Schwenckfeldern, die in und um Görlitz Asyl suchten und fanden, siehe Weigelt, Bekäntnus; Weigelt, Spiritualistische Tradition, 254–255 u. 263. 27 Über die in ihrer schlesischen Heimat verbliebenen Schwenckfelder siehe Weigelt, Spiritualistische Tradition, 260–276. 28 Siehe Weigelt, Spiritualistische Tradition, 265–269. Durch ein Edikt vom 8.3.1742 wurden dann auch die aus Schlesien geflüchteten Schwenckfelder in ihre Heimat zurückgerufen und ihnen persönliche Glaubens- und Gewissensfreiheit zugesichert. 29 Hierzu siehe Weigelt, Spiritualistische Tradition, 276. 30 Siehe Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 324; Brief: Friedrich Caspar von Gersdorf an Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen 13.9.1732, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 5854, fol. 58r. Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 256.

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Horst Weigelt

finanziell großzügig unterstützt.31 Ihren Lebensunterhalt verdienten sie in der Regel durch handwerkliche Tätigkeiten, vor allem Weberei und Spinnerei. Die meisten von ihnen besaßen offensichtlich auch Gärten und etwas Land. In der Bevölkerung scheinen sie Akzeptanz erfahren zu haben. Jedenfalls berichtete Zinzendorf damals: »Vor der Societaet sind sie wackere Leute, sie arbeiten unermüdet, sie commerciren stark und glückl[ich]. Sie sind durchgängig activ und geschickl[iche], verständige Vögte, und Ackerleute, richtige Zahler, billige Handels=Personen, und sehr saubere Spinner. In der Sitten Lehre sind sie gutte Theoretici und practici, sie dienen jederman, und laßen sich nie umsonst dienen, sie führen durchgängig primo intuitu ein stilles eingezogenes, Ehrbares, Keusches, Demüthiges, unaffectirtes Leben, und wenn man bey näherer Beleüchtung der individuorum anomalien gewahr wird, so sind selbige so rahr und geringschätzig, daß man sich an diesen Leuten versündigte, wenn man daraus einige nachtheilige Consequenz auf das gros ziehen wollte.«32

Wie schon in ihrer schlesischen Heimat setzten die Schwenckfelder auch in Oberberthelsdorf ihre sonntäglichen Konventikel fort, lasen dort die Bibel und Erbauungsschriften, sangen ihre eigenen Lieder und beteten. Auch der religiösen Unterweisung der Jugend schenkten sie verstärkt Aufmerksamkeit. In dieser Zeit, vor allem in den letzten Jahren ihres Aufenthaltes in Oberberthelsdorf, wurde Georg Weiss33 zur führenden Gestalt.34 Das Verhältnis der Schwenckfelder zu dem lutherischen Ortspfarrer Johann Andreas Rothe war distanziert. Jedoch entrichteten sie ihre Kirchenabgaben und ließen anfallende Kasualien, Taufen, Trauungen und Beerdigungen, von ihm vollziehen. An seinen Gottesdiensten nahmen sie sporadisch teil. Dagegen lehnten sie – gemäß des im Frühjahr 1526 von Schwenckfeld propagierten »Stillstandes«35 – die Teilnahme an Abendmahlsfeiern strikt ab. Bezüglich des damaligen Verhältnisses Zinzendorfs zu den Schwenckfeldern hob Spangenberg retrospektiv hervor, daß dieser nicht intendiert habe, die Schwenckfelder »lutherisch zu machen«. Vielmehr hätte er sie 31 Hierzu siehe Brief: Isaak Crajesteijn an Christian Hänisch, 10.5.1726, teilweise gedr. in: Oswald Kadelbach, Ausführliche Geschichte Kaspar v. Schwenkfelds und der Schwenkfelder in Schlesien, der Ober-Lausitz und Amerika, nebst ihren Glaubensschriften von 1524–1860, Lauban [1860], 58–59. Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 256. 32 Brieffragment: Zinzendorf an Friedrich Caspar von Gersdorf, o.D. [August 1732?], UA Herrnhut, R.5.A.2.a.40. 33 Zu Weiss siehe Lester K. Kriebel u. Selina Gerhard Schultz, George Weiss (1687–1740). First Schwenckfelder Minister in Pennsylvania, in: Schwenckfeldiana. Vol. I, Nr. 2, Norristown PA 1941, 5–33 (mit einem Schriftenverzeichnis von Georg Weiss). 34 Siehe Balthazar Hoffmann, A Report of the Trials and Tribulations of the Schwenkfelders in America as seen in Worship, Doctrine, and Confession of Faith to the end of 1749, in: Viehmeyer (Hg.), Tumultuous Years, 70–90, hier 72–73. 35 Über den Verzicht auf Empfang des Abendmahls siehe Weigelt, Spiritualistische Tradition, 73–75.

Zinzendorf und die Schwenkfelder

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»gern als arme Sünder zu Jesu Christo gebracht«.36 Er hätte sie also als Irrende betrachtet, die des Heilands bedürften. Diese Aussage steht jedoch nicht nur in einem gewissen Gegensatz zu der Sicht der Schwenckfelder37 sondern auch zu einer Bemerkung, die Zinzendorf 1732 dem Oberamtshauptmann gegenüber gemacht hat. Diesem gegenüber hob er damals ausdrücklich hervor, daß inzwischen bereits »ca. 20 Familien und genau so viele Einzelpersonen«38 der Schwenckfelder zur lutherischen Kirche übergetreten seien. Deshalb dürfte die Behauptung Oswald Kadelbachs, der sich im 19. Jahrhundert als einer der ersten mit der Geschichte des Schwenckfeldertums befaßt hat, der Wahrheit näherkommen: »In Berthelsdorf hatte Graf Zinzendorf sich ebenfalls als Reformator der Schwenkfelder gezeigt und mit Eifer an ihrer Bekehrung zu wirken gesucht«.39 In diesselbe Richtung weist auch die Tatsache, daß die Schwenckfelder in dieser Zeit von zwei Grundherrn Aufnahmeofferten erhielten, falls sie Oberberthelsdorf wieder verlassen würden, nämlich von Kynau, Besitzer des unweit von Berthelsdorf entfernten Ortes Strahwalde und von Oberstleutnant von Brand, Schutzherr und Lehensträger der an der alten Straße von Bautzen nach Görlitz gelegenen oberlausitzischen Stadt Weißenberg.40 Die auf den Besitzungen Zinzendorfs angesiedelten Schwenckfelder konnten nur sechs Jahre relativ unbehelligt ihrer religiösen Überzeugung leben. Dann gerieten sie erneut in den Blick der Öffentlichkeit. Auf beharrliches Betreiben von verschiedenen Seiten, wohl nicht zuletzt auch des Jesuiten-Paters Regent,41 protestierte Kaiser Karl VI. Anfang August 1731 durch Graf Leopold von Waldstein beim sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. dagegen, daß Zinzendorf kaiserliche Untertanen aus Mähren zu sich gelockt und auf seinen Besitzungen aufgenommen habe. Er forderte eine »nachdrückliche Untersagung solchen Gebahrens und um Ausantwor-

36 Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 325. 37 Siehe Balthazar Hoffmann, Report, 46: »Secretly Zinzendorf was establishing his own church at that time. It was his very intention to propose that we join his church and become a part of its congregation. We, who were in need of refuge and were not fully aware of his methods, accepted his offer as an act of charity and most of us quietly maintained our belief in our doctrine«. 38 Brieffragment: Zinzendorf an Friedrich Caspar von Gersdorf, o.D. [August 1732?], UA Herrnhut, R.5.A.2.a.40; in englischer Übersetzung gedr. in: Elmer Gerhard u. Selina Gerhard Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians in Saxony, 1723–1734, in: Schwenckfeldiana. Vol. I, Nr. 4: The Schwenckfelders and the Moravians Two Hundred Years Ago (1723–1742). Norristown PA 1944, 7–12, hier 8–10. 39 Kadelbach, Ausführliche Geschichte, 63. 40 Siehe Antworten der Schwenckfelder auf Zinzendorfs Fragenkatalog, [1732], UA Herrnhut, R.5.A.5.7 (zu Zinzendorfs Frage: »Was uns von des Königes in Preußen Majest. und sonst vor offerten auch in Sachsen geschehen?«). 41 Siehe Kadelbach, Ausführliche Geschichte, 63–64.

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tung der an den genannten Orten befindlichen Emigranten«.42 Das mit dieser Angelegenheit betraute Geheime Konsilium empfahl dem Kurfürsten, Zinzendorf sogleich ein weiteres »Auslocken« von Mähren zu untersagen; die »Ausweisung der Emigranten« sollte jedoch »verschoben werden« bis Erkundigungen eingezogen wären, »was für Leute man in ihnen vor sich habe«.43 Der Kurfürst billigte diese Vorgehensweise am 20. August 1731.44 Daraufhin wurde die ganze Angelegenheit dem Amtshauptmann Georg Ernst von Gersdorf auf dem Vogtshof zu Görlitz übergeben.45 Da dieser in einem Schreiben46 erklärte, daß die Recherchen im Staatsinteresse behutsam erfolgen müßten und nur vor Ort vorgenommen werden könnten, wurde er am 8. November 1731 vom Geheimen Konsilium angewiesen, eine Untersuchung vorzunehmen und einen Bericht mit Stellungnahme vorzulegen.47 Die Untersuchung48 fand dann vom 19. bis 22. Januar 1732 in Herrnhut bzw. Oberberthelsdorf statt. Die kleine Kommission, die nur aus dem Görlitzer Amtshauptmann und dem Protokollanten Heinrich Gottlob Modrach bestand, nahm am religiösen Leben der Brüdergemeine teil, hatte Unterredungen mit Zinzendorf und verhörte mehrere Wortführer der Mähren. Von den Schwenckfeldern befragte der Amtshauptmann offensichtlich lediglich 42 Brief: Kaiser Karl VI. an Leopold von Waldstein, o.D. [vor 15. August 1731], Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 5854, fol. 3r–v; teilweise gedr. in: Ferdinand Körner, Die kursächsische Staatsregierung dem Grafen Zinzendorf und Herrnhut bis 1760 gegenüber. Nach Acten des Hauptstaatsarchivs zu Dresden, Leipzig 1878, 16. Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 257. 43 Brief: Geheimes Konsilium an Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen, 16.8.1731, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 5854, fol. 5v–6r. Vgl. Körner, Kursächsische Staatsregierung, 17; Weigelt, Spiritualistische Tradition, 257. 44 Siehe Brief: Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen an Geheimes Konsilium, 20.8.1731, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 5854, fol. 8r. Vgl. Körner, Kursächsische Staatsregierung, 17; Weigelt, Spiritualistische Tradition, 257. 45 Siehe Körner, Kursächsische Staatsregierung, 17; Weigelt, Spiritualistische Tradition, 257. 46 Brief: Georg Ernst von Gersdorf an Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen, 15. September 1731, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 5854, fol. 11r. Vgl. Körner, Kursächsische Staatsregierung, 17; Weigelt, Spiritualistische Tradition, 257. 47 Siehe Brief: Geheimes Konsilium an Georg Ernst von Gersdorf, 8.11.1731, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 5854, fol. 17r–v u. loc. 1892, Bl.2.Vgl. Körner, Kursächsische Staatsregierung, 17; Weigelt, Spiritualistische Tradition, 257–258. 48 Der begleitende Sekretär hat während der Untersuchung ein Protokoll geführt, das aber bisher nicht gefunden wurde; siehe Brief: Georg Ernst von Gersdorf an Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen, 15.3.1732, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 5854, fol. 41r–50v; gedr. in: Körner, Kursächsische Staatsregierung, 85–91, hier 87. Über Anlaß und Verlauf dieser Untersuchung gibt es jedoch von einem namentlich nicht bekannten Mitglied der Brüdergemeine einen ausführlichen Bericht, dessen Schluß leider fehlt oder verlorengegangen ist: Kurtze einfältige aber zuverläßige Nachricht von der Gelegenheit und endlichen Fortgange der Königl. Commission in HErrnhuth, welche sich daselbst am 19, 20, 21 und 22ten befunden hat, UA Herrnhut, R.5.A.2.a.25 (Acta Publica Justicia 1724–1736), (17 unpag. Seiten). Über die Untersuchungsverhandlungen vgl. auch Friedrich Sigwart Hark, Der Konflikt der kursächsischen Regierung mit Herrnhut und dem Grafen von Zinzendorf. 1733–1738, NASG 3 (1882), 1–65, hier 7; Körner, Kursächsische Staatsregierung, 17–18; Weigelt, Spiritualistische Tradition, 258.

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Balthasar Hoffmann, der »dem Berichte nach sich am besten zu fassen und expliciren wußte«.49 Durch ihn versuchte er etwas über die Flucht aus Schlesien zu erfahren. Das meiste über die Schwenckfelder erfuhr er aber nur durch Zinzendorf. Dieser berichtete ihm, daß die Schwenckfelder ihre Kinder zwar in der Kirche zu Berthelsdorf taufen ließen, sie wären aber »zu keiner Religion zu bringen«. Er hätte sie »auf solche Weise geduldet«, wie dies auch der Magistrat in Görlitz mit den dortigen Schwenckfeldern getan habe. Am 15. März 1732 legte der Görlitzer Amtshauptmann – über das Oberamt in Bautzen – seinen Kommissionsbericht50 vor. Seine diesem Bericht angefügte Stellungnahme fiel hinsichtlich der Mähren und anderer Glaubensflüchtlinge nicht ungünstig aus. Bezüglich der Schwenckfelder meinte er dem ebenfalls beigelegten Protokoll nichts hinzusetzen zu können, außer daß die Schwenckfelder »vermuthlich wohl annoch dürften zu disponiren sein«, ihre Kinder in die evangelische Schule zu geben. Georg Ernst von Gersdorf hegte also offensichtlich keine Hoffnung, daß die Schwenckfelder ihre religiöse Überzeugung ändern würden. Noch bevor der Görlitzer Amtshauptmann Georg Ernst von Gersdorf aber seinen Bericht abgefaßt und an den Kurfürsten gesandt hatte, kam es offensichtlich zum Kontakt zwischen Zinzendorf und seinem Vetter, dem Bautzener Oberamtshauptmann Friedrich Caspar von Gersdorf. Jedenfalls schrieb dieser am 28. Februar 1732 an Zinzendorf: »Ob sich die Schwenckfelder mainteniren werden, scheint zweifelhafft«51. Gersdorfs Zweifel hinsichtlich einer Fortdauer ihres Aufenthalts in Oberberthelsdorf wuchsen in den nächsten Wochen anscheinend noch an. Denn am 27. März äußerte er sich bereits über Modalitäten ihrer Abschiebung: »Mit denen Schwenckfeldern möchte es vielleicht so kommen, wie ich gesagt, doch ist’s nicht gewiss, u. würde sehr in der Stille nach und nach geschehen«.52 Als dann der vom 15. März 1732 datierte Kommissionsbericht des Görlitzer Amtshauptmanns Georg Ernst von Gersdorf in Dresden eintraf, wurde das Oberkonsistorium am 29. April 1732 beauftragt, »das Gutachten des Amtshauptmanns zu examiniren und anzuzeigen, ob durch die Untersuchungen und Vorschläge desselben der so wichtigen Sache hinlänglich gerathen und allen Mißbräuchen und Besorgnissen für künftige Zeiten 49 Bericht Georg Ernst von Gersdorf an Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen, 15.3.1732, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 5854, fol. 41r–50v; gedr. in: Körner, Kursächsische Staatsregierung, 85–91, hier 87; die folgenden Zitate ebd. u. 91. 50 Bericht: Georg Ernst von Gersdorf an Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen, 15.3.1732, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 5854, fol. 41r–50v; gedr. in: Körner, Kursächsische Staatsregierung, 85–91. 51 Brief: Friedrich Caspar von Gersdorf an Zinzendorf, 28.2.1732, UA Herrnhut, R.5.A. 20.b.18. 52 Brief: Friedrich Caspar von Gersdorf an Zinzendorf, 27.3.1732, UA Herrnhut, R.5.A. 20.b.19.

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ausreichend vorgebeugt sein dürfte«.53 Am selben Tag befahl aber der Kurfürst dem Oberamtshauptmann durch das Geheime Konsilium, er solle nähere Erkundigungen über die Schwenckfelder in der Oberlausitz einziehen.54 Dieser forderte daraufhin Zinzendorf – ähnlich wie den Görlitzer Magistrat55 – am 17. Juli auf, innerhalb von zwei Wochen über die Schwenckfelder zu berichten.56 Um dieser Aufforderung nachkommen zu können, verlangte Zinzendorf von den Schwenckfeldern innerhalb einer Woche die präzise Beantwortung von dreizehn Fragen.57 Diese betrafen vor allem ihre genaue Mitgliederzahl, ihre in Schlesien erlittenen Verfolgungen, ihre Kontakte nach Preußen und zu anderen Grundherrn im Kurfürstentum Sachsen sowie zu den Mennoniten in Holland, die Anzahl der inzwischen zur »Evangelischen Religion« und zur »Catholischen« Konvertierten. Aufgrund ihrer detaillierten Auskunft58 verfaßte Zinzendorf einen sehr ausführlichen Bericht59 an den Oberamtshauptmann Friedrich Caspar von Gersdorf. Darin zollte er den Schwenckfeldern hinsichtlich ihres Sozialverhaltens, ihres Lebensstils und ihrer Frömmigkeit hohes Lob. Er bemerkte allerdings auch, daß er nicht alle ihre Glaubenslehren gutheißen könne. Sodann hob er hervor, daß bereits etwa zwanzig Familien und fast ebensoviele Alleinstehende zum Luthertum übergetreten seien.60 Abschließend wies er noch darauf hin, daß die Ansiedlung der Schwenckfelder für die Wirtschaft des Landes äußerst vorteilhaft sei, was der Görlitzer Magistrat noch besser bestätigen könne. Deshalb sollte ihnen schon um der Prosperität des Landes willen ein weiterer Aufenthalt gestattet werden. 53 Brief: Geheimes Konsilium an Oberkonsistorium, 29.4.1732, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 1892, fol. 1r–v u. loc. 5854, fol. 54r–55r. Vgl. Körner, Kursächsische Staatsregierung, 18; Weigelt, Spiritualistische Tradition, 258. 54 Bezüglich dieses Befehls siehe Brief: Zinzendorf an Friedrich Caspar von Gersdorf, o.D. [August 1732?], UA Herrnhut, R.5.A.2.a.40. Vgl. Kadelbach, Ausführliche Geschichte, 65. 55 SieheWeigelt, Das »Kurtze Bekäntnus«, 601. 56 Brief: Friedrich Caspar von Gersdorf an Zinzendorf, 17.7.1732, UA Herrnhut, R.5.A.5.5. Am 26.7.1732 wiederholte Gersdorf seine Aufforderung (ebd. R.5.A.4.10). 57 Siehe Brief: Zinzendorf an die Schwenckfelder, o.D., UA Herrnhut, R.5A.5.6 (Verordnung [Fragen Zinzendorfs] an die in Herrnhut und Berthelsdorf wohnenden Schwenckfelder). 58 Siehe Brief: Schwenckfelder an Zinzendorf, o.D., UA Herrnhut, R.5.A.5.7 (Antworten der Schwenckfelder auf Zinzendorfs Fragenkatalog). 59 Brieffragment: Zinzendorf an Friedrich Caspar von Gersdorf, UA Herrnhut, R.5.A.2.a.40. Eine Passage aus diesem Brieffragment findet sich ebd. R.5.A.2.a.25 (Acta Publica Justicia 1724– 1736), (unpaginiert). 60 Diese Angabe ist etwas geschönt. Denn Zinzendorf hatte nicht gefragt, wieviele Schwenckfelder während ihres Aufenthalts in der Lausitz konvertiert seien, sondern in den letzten zehn Jahren. Die Auskunft der Schwenckfelder (siehe Brief: Schwenckfelder an Zinzendorf, o.D, UA Herrnhut, R.5.A.5.7 (Antworten der Schwenckfelder auf Zinzendorfs Fragenkatalog)), lautete: »Soweit wir uns besinnen können, werden dieselben etwa in 25 Familien und etliche 20 eintzele Persohnen bestehen«.

Zinzendorf und die Schwenkfelder

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Noch ehe dann der Bericht61 des Oberamtshauptmanns Friedrich Caspar von Gersdorf an das Geheime Konsilium vom 19. Dezember 1732 in Dresden eintraf, hatte sich das dortige Oberkonsistorium bereits im November gegen eine weitere Aufenthaltsgenehmigung der Schwenckfelder ausgesprochen.62 An der drohenden Abschiebung konnte auch die Tatsache nichts ändern, daß Zinzendorf am 26. Januar 1733 dem Oberamtshauptmann in Bautzen mitteilte, sämtliche Schwenckfelder hätten mit Freuden den »Eyd der Treue abgeleget«; lediglich Gewissens- und Glaubensfreiheit hätten sie sich ausbedungen.63 Nicht unerwartet, aber doch sehr schnell, erteilte – nach dem Tod Friedrich Augusts I. von Sachsen am 11. Februar 1733 – dessen Sohn und Nachfolger Kurfürst Friedrich August II. am 4. April 1733 in einem Reskript64 den Schwenckfeldern – im Unterschied zu den Herrnhutern, die toleriert wurden – das »Consilium abeundi«. Allerdings wurde ihnen hierfür eine Frist von einem Jahr eingeräumt. Die Emigration sollte jedoch nicht in einer Kolonne, sondern familienweise bzw. einzeln erfolgen. Dadurch wollte man ein Publikwerden dieser Landesverweisung vermeiden. Übrigens wurde in demselben Reskript die an Zinzendorf ergangene erste Landesverweisung vom 22. November 1732 zurückgenommen. In einem Begleitschreiben65 wurde Zinzendorf vom Oberamtshauptmann ausdrücklich ermahnt, sich strikt gemäß der kurfürstlichen Anordnung zu verhalten. Nicht betroffen von diesem Emigrationsbefehl waren diejenigen Schwenckfelder, die sich nach ihrer Flucht aus Schlesien in und um Görlitz niedergelassen hatten. Erst zwei Jahre später, am 30. Mai 1736, wurden auch sie durch ein an den Görlitzer Magistrat gerichtetes Reskript66 ge61 Über diesen nicht mehr vorhandenen Bericht siehe Körner, Kursächsische Staatsregierung, 22–23. Bezüglich des Datums siehe Schreiben: Kurfürst Friedrich August II. von Sachsen an Friedrich Caspar von Gersdorf, 4.5.1733, UA Herrnhut, R.5.A.2.25 (Acta Publica Justicia 1724– 1736, 8 Seiten unpag.). 62 Siehe Brief: Oberkonsistorium an Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen, November 1732, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 5854, fol. 61r–65v u. ebd. loc. 1892, fol. 13r– 15r. Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 258. 63 Siehe Brief: Zinzendorf an Friedrich Caspar von Gersdorf, 26.1.1733, UA Herrnhut, R.5.A.3.10. 64 Siehe Reskript: Kurfürst Friedrich August II. an Friedrich Caspar von Gersdorf, 4.4.1733, UA Herrnhut, R.5.A.2.a.46 u. R.5.A.5.18; Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 6854, fol. 82r–v; gedr. in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Büdingische Sammlung Einiger In die KirchenHistorie Einschlagender Sonderlich neuerer Schrifften, Bd. 3. Büdingen 1744–1745. [Nachdr. NLZ Ergbd. 9], 12–13. Vgl. Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 803; Hark, Konflikt, 11; Körner, Kursächsische Staatsregierung, 23–24; Weigelt, Spiritualistische Tradition, 258. Zinzendorf erhielt von diesem Reskript auf der Rückreise von Tübingen nach Herrnhut in Ebersdorf Kenntnis. 65 Siehe Brief: Friedrich Caspar Gersdorf an Zinzendorf, 13.4.1733, UA Herrnhut, R.5. A.5.17 u. R.5.A.4.14. 66 Siehe Reskript: Kurfürst Friedrich August II. von Sachsen an Friedrich Caspar von Gersdorf, 30.5.1736, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, loc. 5854, fol. 106r–v. Vgl. Hark, Konflikt, 8; Körner, Kursächsische Staatsregierung, 24; Weigelt, Spiritualistische Tradition, 263–264.

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zwungen, die Oberlausitz zu verlassen. Eine Eingabe67 des Bürgermeisters und des Magistrats, in der nicht zuletzt auf den wirtschaftlichen Nutzen der Schwenckfelder hingewiesen wurde, war auch hier vergebens gewesen.

3. Zinzendorfs Bemühungen um Vermittlung eines neuen Exils für die Schwenckfelder in Amerika Gegen den Emigrationsbefehl intervenierten die Schwenckfelder bemerkenswerterweise nicht beim sächsischen Kurfürsten. Vielmehr sahen sich alsbald nach einem neuen Zufluchtsort um.68 Nach schwenckfeldischer Überlieferung hatten Abgesandte oder kleinere Delegationen bereits in den Jahren zuvor in Hamburg, in der Mark Brandenburg, in der Grafschaft Ysenburg, in der oberlausitzischen Stadt Weißenberg und in Anhalt bei Fürst August Ludwig von Anhalt-Köthen wegen eines neuen Exils sondiert.69 Sie hatten sich nämlich auf den Gütern Zinzendorfs nie sehr wohl gefühlt. Gesichert ist, daß sie sich nun in ihrer Not wiederum an ihre mennonitischen Freunde in Amsterdam wandten.70 Zinzendorf hatte aber offensichtlich bereits seinerseits Überlegungen wegen eines neuen Aufenthaltsorts der Schwenckfelder angestellt, zumal er diese – vor allem nach Ablegung des Treueids Anfang 173371 – als seine Untertanen betrachtete. Hierbei rückte sehr rasch Georgia, wo nach General James Edward Oglethorpes Plan Glaubensflüchtlinge zu äußerst günstigen Konditionen Aufnahme finden sollten, in Zinzendorfs Blickfeld. Hatte er doch schon damals mit dem Gedanken gespielt, in dieser Kolonie gegebenenfalls eine Anzahl von Mähren und Herrnhutern anzusiedeln.72

67 Vgl. Hark, Konflikt, 8; Weigelt, Spiritualistische Tradition, 263–264. 68 Nach Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 803) sollen die Schwenckfelder sogar »zu erkennen« gegeben haben, »daß sie sehr froh seyn würden, wenn sie an einem andern Orte, durch seine Vermitttlung, unterkommen könten«. 69 Siehe Howard Wiegner Kriebel, The Schwenkfelders in Pennsylvania. A historical sketch, Lancaster PA 1904, 29f. Bezüglich ihrer Anfrage bei Fürst August Ludwig von Anhalt-Köthen siehe Hoffmann, Short and Thorough Report, 48. Im Herbst 1730 reiste Georg Schultz nach Weißenberg, um sich nach einem neuen Refugium für die Schwenckfelder umzusehen; hierzu siehe Andrew Berky (Hg.), The Journals and Papers of David Schultze, Volume I. 1726–1760, Pennsylvania 1952, 11–12. 70 Vgl. Brief: Schwenckfelder an Zinzendorf, o.D. [nach 23.10.1733], UA Herrnhut, R.5. A.5.20 u. R.14.A.2.2.a. 71 Siehe Brief: Zinzendorf an Friedrich Caspar von Gersdorf, 26.1.1733, UA Herrnhut, R.5. A.3.10. 72 Vgl. Horst Weigelt, Geschichte des Pietismus in Bayern. Anfänge – Entwicklung – Bedeutung, Göttingen 2001 (AGP 40), 277.

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Als Zinzendorf den Schwenckfeldern Georgia als Emigrationsziel vorschlug, erklärten diese im Herbst 1733, daß ihnen dieser Südstaat inzwischen auch von ihren holländischen Freunden empfohlen worden sei.73 Nach deren Schreiben wäre eine Auswanderung dorthin »ohne einige Unkosten, von Fracht, Speiß und Trank« möglich; »Land« würde man erhalten und darüber hinaus eine einjährige Unterstützung. Ihre Freunde hätten sich bereit erklärt, für sie eine Auswanderung zu diesen Konditionen bei dem König von England zu erwirken. Sie, die Schwenckfelder, wären also bereit, in Zinzendorfs Vorschlag einzuwilligen. »So haben wir uns entschlossen, ein solches, so uns ohn unser Gesuch kömmt, im Nahmen Gottes, und in gewisser Maaße, als eine Schickung Gottes anzunehmen«. Bedingung wäre jedoch, daß ihnen in Georgia eine gemeinschaftliche Ansiedlung, Religionsfreiheit und ungehinderte Ausübung ihrer Berufe und Gewerbe garantiert würden. Unter diesen Maßgaben sollte er mit dem Englischen Gesandten in Kopenhagen u.a. wegen des »Landes und Transports halben« verhandeln. Da Zinzendorf auf dieses Schreiben der Schwenckfelder nicht sogleich reagierte, wandten sie sich »abermal« brieflich an ihn und baten ihn »samtlich und hertzlich disfalls für uns gantz verlaßende fernerhin gnädigst zu sorgen und Berathung zu halten«.74 Sie erklärten sich unter den bereits genannten Bedingungen zur Emigration nach Georgia bereit. In einer beigefügten Erklärung75 versicherten sie nochmals, daß sie »geneigt wären die Reise dorthin [sc. nach Georgia] vorzunehmen und Fuß in selbiges Land zu setzen«. Sie ersuchten den Reichsgrafen offiziell »disfalls wegen des Transports, Beschafftenheiten der LandsArten und wegen der einzurichtenden Verfaßungen Unterhandlung zu thun«. Unterzeichnet war die »Uhrkund« von den vier führenden Schwenckfeldern Melchior Kriebel, Georg Weiß, Balthasar Jäckel und Balthasar Hoffmann »im Nahmen aller«. Mit dieser Erklärung, so meinte Zinzendorf, hätten sich die Schwenckfelder weiterhin unter seinen Schutz gestellt und seiner Fürsorge anvertraut, auch wenn sie nun seine Besitzungen verließen und nach Amerika emigrierten. Er betrachtete sie – wie deutlich werden wird – auch in Zukunft als seine Untertanen.

73 Hierzu siehe Brief: Schwenckfelder an Zinzendorf, o.D. [nach 23.10.1733], UA Herrnhut, R.5.A.5.20 u. R.14.A.2.2.a; in engl. Übersetzung gedr. in: Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 11; die folgenden Zitate ebd. 74 Brief: Schwenckfelder an Zinzendorf, o.D., UA Herrnhut, R.5.A.5.19 u. R.14.A.2.2.b; in engl. Übersetzung gedr. in: Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 11–12. 75 Brief: Melchior Kriebel, Georg Weiß, Balthasar Jäckel u. Balthasar Hoffmann an Zinzendorf, o.D., UA Herrnhut, R.5.A.5.21 u. R.14.A.2.2.c; in engl. Übersetzung gedr. in: Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 12; die folgenden Zitate ebd.

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Zinzendorf entsprach dem Wunsch der Schwenckfelder.76 Er stellte einen Antrag bei den Trustees for establishing the colony of Geogia in America und nahm Ende 1733 – ohne sich namentlich zu erkennen zu geben – über Christoph Karl Ludwig von Pfeil Unterhandlungen77 mit dem englischen Gesandten in Kopenhagen auf. Nach Zinzendorfs Plan sollten die Schwenckfelder aber nicht allein nach Georgia emigrieren. Dorthin sollten sie vielmehr von seinem Vertrauten August Gottlieb Spangenberg – und möglicherweise auch noch von einer kleinen Gruppe von Mähren und Herrnhutern – begleitet werden. Am 6. Januar 1734 erreichte Zinzendorf von den Trustees die Zusicherung, daß er »500 Acker Land« und für jeden »Vasallen«, den er »mitbringe«, 50 Acre kostenlos erhalten werde.78 Dieses Angebot wollte er, so schrieb er an Johann Hertel, den Hofmeister seines Vetters Ludwig Friedrich zu Castell-Remlingen, »im Nahmen des Herrn akzeptieren« und vor allem seine Schwenckfelder dort ansiedeln, »wenn sie wollen, wie sie Mine machen«. Anfang 1734 faßten die Schwenckfelder jedoch den Entschluß, nicht nach Georgia, sondern nach Pennsylvanien zu emigrieren. Von diesem neuen Plan hatte zumindest Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf noch vor ihrem Abzug aus Oberberthelsdorf Kenntnis erhalten.79 Die mehrfach geäußerte Auffassung, die Schwenckfelder hätten erst nach ihrem Abzug aus der Oberlausitz in Holland die ältere englische Kolonie Pennsylvanien als Emigrationsland gewählt und Zinzendorf somit getäuscht,80 ist also unzutreffend. Es waren wohl mehrere Gründe, die die Schwenckfelder zu diesem Entschluß veranlaßt haben. Erstens scheinen ihnen damals nicht alle Konditionen erfüllt worden zu sein, die sie Zinzendorf gegenüber genannt hatten.81 Ob dieser aber überhaupt sämtliche Wünsche der Schwenckfelder bei 76 Siehe Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 803–804. 77 Siehe Brief: [Zinzendorf] an N. N., o.D. [etwa November 1733], UA Herrnhut, R.5. Vgl. Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 803. 78 Brief: Zinzendorf an Johann Georg Hertel, 6.1.1734, UA Herrnhut, R.20.C.11.89.b; die folgenden Zitate ebd. 79 Brief: [Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf] an Geheimen Rat [von Gersdorf], o.D., UA Herrnhut, R.5.A.2.a.57; auszugsweise in engl. Übersetzung gedr. in: Gerhard u. Schultz, Schwenckfelders and Moravians, 12 (hier wird der Brief Zinzendorf zugeschrieben). 80 So u.a. J. Taylor Hamilton u. Kenneth G. Hamilton, History of the Moravian Church. The Renewed Unitas Fratrum 1722–1957, Bethlehem PA 1967, 82; Joseph M. Levering, A history of Bethlehem, Pennsylvania 1741–1908, with some Account of Its Founders and Their Early Activity in America, Bethlehem PA 1903 (Reprint New York 1971), 32; Levin Theodore Reichel, The Early History of the Church of the United Brethren (Unitas Fratrum) Commonly Called Moravians, in North America, A.D. 1734–1748, Nazareth PA 1888, 52.Vgl. zum Ganzen Weigelt, Spiritualistische Tradition, 259. 81 Nach Johann Philipp Fresenius (Bewährte Nachrichten von Herrnhutischen Sachen. Bd. 3. Frankfurt u. Leipzig 1748, 238) habe dagegen Zinzendorf auf Nachfrage einiger Schwenckfelder eingeräumt, daß er wegen ihrer Wünsche überhaupt noch nicht geschrieben hätte: »Als aber die

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seinen Verhandlungen zur Sprache gebracht hat, ist unbekannt, scheint aber eher zweifelhaft. Da also nicht alle Bedingungen erfüllt worden waren, betrachteten die Schwenckfelder sich Zinzendorf gegenüber frei, anders zu entscheiden.82 Zweitens hatten sie inzwischen von einigen ihrer Glaubensgenossen, die bereits vor einigen Jahren nach Pennsylvanien ausgewandert waren, günstige Nachrichten über diese englische Kolonie erhalten. Vor allem hatte Georg Schultz83 – der erste Schwenckfelder, der nach Pennsylvanien emigriert war – in Briefen Pennsylvanien in glühenden Farben geschildert.84 Auch rieten nun ihre holländischen Freunde, die Kollegianten, dringend von einer Auswanderung nach Georgia ab, befürworteten hingegen eine Emigration nach Pennsylvanien und sicherten ihnen ihre volle Unterstützung zu.85 Drittens erblickten die Schwenckfelder in der Wahl Pennsylvaniens als Emigrationsland wohl auch eine günstige Gelegenheit, sich aus der religiösen Einflußsphäre Zinzendorfs zu lösen.86 Diese Annahme ist deshalb begründet, weil sich die Schwenckfelder bereits in den letzten Jahren mehrfach nach einem Zufluchtsort umgesehen hatten.87 Die Berechtigung dieser Vermutung wird auch daran evident, wenn man die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen ihnen und Zinzendorf in die Betrachtung einbezieht. Obgleich die Schwenckfelder also entgegen Zinzendorfs Plan nicht mehr nach Georgia, sondern nach Pennsylvanien auswandern wollten, war dieser weiterhin entschlossen, ihnen eine Begleitung mitzugeben. Aus den Quellen wird leider nicht recht deutlich, welche Funktion diese eigentlich innehaben sollte. Wahrscheinlich sollte ihr vor allem eine religiöse Betreuung des Auswandererzuges obliegen. Zunächst dachte Zinzendorf daran, den Schwenckfeldern den aus Oberharpersdorf gebürtigen Christoph Wiegner88 als BeZeit ihres Termins genahet, so hätten sie ihn gefragt: ob er es ausgemacht? So habe er aber noch nicht geschrieben gehabt, und also seyen sie offentlich hieher [Pennsylvanien] gezogen«. 82 Hoffmann, Short and Thorough Report, 48: »Since it was the Count´s intention that we should go to Georgia and since certain conditions could not be met at that time, this was a way of getting away from the Count (although not without some hardships).« 83 Georg Schultz war bereits 1731 nach Pennsylvanien emigriert; 1733 folgten dreizehn bzw. elf Schwenckfelder; siehe Berky (Hg.), Journals and Papers, 12–13, 17–39. 84 Berky (Hg.), Journals and Papers, 37. 85 Über die Gründe, weshalb die Kollegianten von Georgia abrieten, siehe Brief: August Gottlieb Spangenberg an Zinzendorf, 21.12.1734, UA Herrnhut, R.14.A.6.a.2. Zur Sache: [Schultz u. a.,] Erläuterung, 64. Siehe auch Brief: Christoph Schultz an Anton N., 6.4.1768, Schwenckfelder Library Pennsburg PA, VC 3–7,4. Vgl. Weigelt, Spiritualistische Tradition, 259–260. 86 Vgl. Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 12: »So he [Zinzendorf] tried to persuade the Schwenckfelders who were living on his baronial possessions to move thither [sc. Geogia] with some Moravians; this they refused to do and said openly and honestly that they were not going to be the Count´s vassals, and so moved to Pennsylvania.« 87 Siehe S. 76 88 Zu Wiegner siehe Samuel Kriebel Brecht (Hg.), The Genealogical Record of the Schwenkfelder Familie Seekers of Religious Liberty Who Fled From Silesia to Saxony and Thence to

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gleiter mitzugeben.89 Dieser damals erst 22Jährige gehörte zu einer kleinen Gruppe von Schwenckfeldern, die Anfang 1726 aus Schlesien geflohen war, sich aber in Görlitz niedergelassen hatte. Er war belesen und stand anderen Frömmigkeitsrichtungen äußerst aufgeschlossen gegenüber. Vor allem hatte er engen Kontakt zu Zinzendorf und der Herrnhuter Brüdergemeine gefunden. Häufig hielt er sich in Herrnhut auf und weilte vom 24. September 1733 bis 9. März 1734 sogar in Ebersdorf.90 Dorthin war er von der Brüdergemeine gesandt worden, um das religiöse Leben, vor allem das daniederliegende Gemeinschaftswesen, zu reaktivieren.91 Wegen seiner engen Beziehungen zur Herrnhuter Brüdergemeine dürften gegen Christoph Wiegner schon damals bei seinen schwenckfeldischen Glaubensgenossen gewisse Vorbehalte oder sogar Mißtrauen bestanden haben. Etwas später faßte Zinzendorf jedoch den Entschluß, die Schwenckfelder nicht nur von Wiegner nach Amerika begleiten zu lassen, sondern ihnen auch noch Spangenberg als Betreuer mitzugeben. Zinzendorf unterbreitete Spangenberg Anfang des Jahres 1734 seinen Wunsch von Stralsund aus.92 Diesem Vorschlag stimmten Wiegner und Spangenberg Ende April 1734 zu.93 Während sie ursprünglich beabsichtigt hatten, zusammen von Herrnhut aufzubrechen und von Pirna aus auf der Elbe mit einem Schiff nach Hamburg zu fahren, beschlossen sie am 12. Mai eine getrennte Abreise. Spangenberg plante, zunächst über Ebersdorf nach Württemberg zu gehen, und Wiegner wollte sich inzwischen seinen lang gehegten Wunsch erfüllen und die radikalpietistischen Gemeinschaften in Berleburg, Schwarzenau und Büdingen besuchen. In Frankfurt am Main wollten sie sich dann zur gemeinsamen Weiterreise treffen. Am 13. Mai erklärte der in Görlitz wohnende Schuhmacher Christoph Baus, mit dem Wiegner freundschaftlich verbunden war und der auch mit der Herrnhuter Brüdergemeine in enger Verbindung stand, daß auch er ein starkes Bedürfnis verspüre, mit nach Pennsylvanien zu reisen; drei Tage später wurde dieses starke Verlangen

Pennsylvania in the Years 1731 to 1737, New York 1923, 1176–1177; Peter C. Erb (Hg.), The Spiritual Diary of Christopher Wiegner, Pennsburg PA 1978, VII–XXXIII (Introduction). 89 Am 26. Dezember 1733 teilte ihm Zinzendorf mit, daß er sich bereit halten sollte. Vgl. Erb (Hg.), Spiritual Diary, 62–63 (29.12.1733): »On the 29th the Count [Heinrich von Reuss] told me that Count Zinzendorf wished to inform me I was to prepare myself. He would need me as a commissioner.« 90 Ebd., 51–75 (24.9.1733 – 9.3.1734). 91 Ebd., XXV (Introduction). 92 Siehe Jeremias Risler, Leben August Gottlieb Spangenbergs, Bischofs der evangelischen Brüderkirche, Barby 1794, 94–95. Wann Zinzendorf Spangenberg diesen Auftrag gab, ist hier nicht vermerkt. 93 Erb (Hg.), Spiritual Diary, 79 (30.4.1734): »He [Spangenberg] asked me if I would accept him as a companion on the trip to Pennsylvania. He told me of his calling from Leipzig and what the Count had written. [...] We agreed to go in the name of the Lord.«

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gutgeheißen.94 Am 25. Mai erklärte Spangenberg jedoch, daß er noch nicht mitreisen könne; er stellte aber in Aussicht, zwei Wochen später nachzukommen.95 Wiegner drängte er jedoch zum baldigen Aufbruch mit der Bemerkung: Wenn er weiterhin auf ihn warte, würde er jede Gelegenheit verpassen, von Herrnhut wegzukommen. Aus dieser kurzen Äußerung Spangenbergs sowie aus den Tagebuchnotizen Wiegners wird deutlich, daß dieser keineswegs auf eine Emigration nach Amerika erpicht war.96 Am 26. Mai brachen Wiegner und Baus von Herrnhut nach Pirna an der Elbe auf. Bereits hier oder auch erst unterwegs schloß sich ihnen noch der Herrnhuter Georg Bönisch97 an. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sollte er – Frau und Kinder zurücklassend – die Funktion übernehmen, die eigentlich Spangenberg zugedacht gewesen war.98 Denn Bönisch, aus Kunwald gebürtig und von Beruf Maurer, war seit 1725 fest in der Brüdergemeine verwurzelt und hatte Zinzendorf als Heiduck auf dessen Reisen nach Schwarzburg, Berleburg und Frankfurt am Main begleitet. Durch Losbefragung war entschieden worden, daß Wiegner und seine Begleiter die gesamte Strecke nach Bremen zu Fuß, und nicht teilweise mit einem Schiff, zurücklegen sollten.99 So zogen sie von Herrnhut über Pirna, Lichtenstein, Greiz, Schleiz, Ebersdorf, Schwarzenfels, Erfurt, Wanfried, Eschwege und Münden nach Bremen.100 Von hier fuhren sie mit dem Schiff nach Amsterdam, wo sie am 24. Juni ankamen und noch am gleichen Tag nach Haarlem weiterreisten. Hier wurden sie »von Menonisten mit sehr hertzl[icher] Liebe angenommen«. Allerdings waren diese aufgebracht darüber, daß die beiden Herrnhuter Bönisch und Baus mitreisen wollten; Wiegner wurde deshalb »sehr scharff befragt«. Am nächsten Tag zogen sie nach Rotterdam, wo sie von Johann van Bouton zu dem Schiff begleitet wurden, das die Schwenckfelder nach Amerika bringen sollte. 94 Ebd., 79 (16.5.1734). 95 Siehe ebd., 80 (25.4.1734). 96 Vgl. ebd., XXVIII–XXIX (Introduction). 97 Über Bönisch (Böhnisch) siehe Felix Moeschler, Alte Herrnhuter Familien. Die mährischen/böhmischen und österreichisch-schlesischen Exulanten, Herrnhut 1922, 18–19. Ohne jeglichen Beleg behaupten J. Taylor Hamilton u. Kenneth G. Hamilton, History of the Moravian Church, 82), daß er die Schwenckfelder auf deren Ersuchen hin begleitet hätte. 98 Nach John R. Weinlick (Count Zinzendorf: The Story of his Life and Leadership in the Renewed Moravian Church, New York 1956, 120) sollten Baus und Bönisch auch nach Siedlungsmöglichkeiten für die »Herrnhuter« Ausschau halten: »The Schwenkfelders had left for Pennsylvania and two of the Herrnhuters had gone along to help them get settled and to explore the possibilities there for the Moravians themselves.« 99 Erb (Hg.), Spiritual Diary, 84 (24.6.1734). 100 Über die Reise von der Lausitz nach Holland siehe Brief: Christoph Wiegner [mit Unterschriften von Georg Bönisch u. Christoph Baus] an NN, 26.6.1734, UA Herrnhut, R.14. A.21.2 (Fotokopie in Library of Congress Washington); in engl. Übersetzung gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, 84–87; die folgenden Zitate ebd.

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Bevor aber Wiegner und Baus sowie vielleicht auch Bönisch in Herrnhut aufbrachen, hatten bereits zwischen dem 20. und 28. April 1734 vierzig Schwenckfelderfamilien, d.h. etwa 180 Personen, Oberberthelsdorf nach und nach grüppchenweise verlassen. Vor ihrer Abreise hatten sie sich an Zinzendorf oder an dessen Frau mit dem Ansuchen gewandt, nur bis Pirna an der Elbe getrennt abziehen zu müssen, von dort aus dann aber gemeinsam mit dem Schiff nach Hamburg reisen zu dürfen. Durch die Wahl dieses Transportmittels würden sie ihres Erachtens »der Allerhöchsten Königl. Meinung satsam nachleben« und »folglich mit ihrem aus ziehen kein sonderl[iches]. aufsehen verursachen«.101 Da Zinzendorf seit Mitte März auf einer Reise nach Stralsund war und erst am 8. Mai nach Herrnhut zurückkehrte, nahm seine Gemahlin Erdmuthe Dorothea die Angelegenheit in die Hand.102 Weil ihr jedoch die Entscheidung zu heikel war, wandte sie sich wegen ihrer »bißherigen Schwenkfeldischen Unterthanen« an den Geheimen Rat von Gersdorf, der den Kurfürsten um dieses Zugeständnis bitten oder ihr einen Rat geben sollte. Auch sollte dieser sich dafür verwenden, daß die Emigranten einen Paß erhielten, oder sie, Erdmuth Dorothea von Zinzendorf, ihnen ein Begleitschreiben ausstellen dürfe, »damit wenn sie durch fremder H[erre]n Land kommen, daselbst nicht abermals angehalten und an ihrer Reise verhindert werden«. Tatsächlich bestiegen die Schwenckfelder in Pirna Schiffe und fuhren gemeinsam nach Altona, wo sie am 17. Mai ankamen.103 Hier wurden sie von der wohlhabenden mennonitischen Großkaufmannsfamilie van der Smissen gastlich aufgenommen und verköstigt. Von Altona segelten sie am 28. Mai in drei kleineren holländischen Booten nach Amsterdam. Infolge der stürmischen See wurde jedoch der Konvoi getrennt. Zwischen dem 4. und 6. Juni trafen die drei Schiffe mit den Schwenckfeldern in Haarlem ein. Hier wurden sie von ihren holländischen Freunden, besonders von den Bankiers Byuschanse,104 gastfrei aufgenommen. Diese Bankierfamilie übernahm darüber hinaus auch die Passagekosten für alle Schwenckfelder. Am 19. Juni fuhren sie auf der Maas nach Rotterdam, wo sie am 21. Juni an Bord des englischen Schiffs St. Andrew gingen.

101 Brief: Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf an Geheimen Rat [von Gersdorf], o.D., UA Herrnhut, R.5.A.2.a.57; gedr. in engl. Übersetzung in Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 12; die folgenden Zitate ebd. 102 Gerhard u. Schultz (ebd., 12) gehen jedoch davon aus, daß Zinzendorf der Schreiber dieses Briefes gewesen sei, den sie in den Herbst 1733 datieren. 103 Über die Reise der Schwenckfelder von Altona nach Philadelphia siehe ReiseBeschreibung von Altona bis Pensylvanien. In: [Schultz u.a.,] Erläuterung, (Anhang), 450–461. 104 Über das Engagement der Brüder Abraham, Isaac und Johann Byuchanse für die Schwenckfelder siehe Berky (Hg.), Journals and Papers, 45.

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Zur Konsternation der Schwenckfelder und ihrer Wohltäter stellte sich am 25. Juni auf dem Schiff auch Wiegner mit den beiden Herrnhutern Baus und Bönisch ein.105 Hier hofften diese drei – allerdings vergeblich – , daß Spangenberg noch rechtzeitig eintreffen werde, um mit ihnen nach Pennsylvanien zu reisen. Obgleich die St. Andrew voll besetzt war und Baus und Bönisch nicht auf der Passagierliste standen, konnten beide durch Entrichtung einer direkten Gebühr von je 30 Thalern an den Kapitän noch Plätze erhalten. Am 29. Juni verließ die St. Andrew den Hafen, konnte aber wegen navigatorischer Probleme und Flaute das holländische Küstengewässer erst am 11. Juli verlassen. Eine Woche später erreichte man Plymouth, von wo man am 29. Juli absegelte. Nach einer beschwerlichen und entbehrungsreichen Überfahrt mit zehn Todesfällen erreichten die Schwenckfelder Emigranten am 22. September 1734 Philadelphia. Tags darauf begaben sie sich auf das Rathaus, um den vorgeschriebenen Eid zu leisten. Dies geschah aufgrund ihrer religiösen Überzeugung durch Handschlag und nicht durch Erheben der Schwurhand.

4. Spangenbergs Ringen um die Schwenckfelder während seines Aufenthaltes in Pennsylvanien Nachdem die Schwenckfelder106 nach einer fast viermonatigen Reise in Philadelphia an Land gegangen waren – einige schwenckfeldische Familien kamen erst in den nächsten Wochen und Monaten mit anderen Schiffstransporten nach107 – blieben sie den Winter über in Philadelphia und Umgebung. Im nächsten Jahr konnten sie sich dann etwa 150 km nordwestlich von Philadelphia in Berks County, in Northampton County, in Goshehoppen und in Skippack ansiedeln. Ihre vielfachen Versuche, ein geschlossenes 105 Siehe Erb (Hg.), Spiritual Diary, 84 (24.6.1734). Vgl. Brief: Christoph Wiegner [mit Unterschriften von Georg Bönisch u. Christoph Baus] an NN, 26.6.1734, UA Herrnhut, R.14. A.21.2 (Fotokopie in Library of Congress Washington); in englischer Übersetzung gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, 84–87. 106 Über die Schwenckfelder in Amerika siehe Peter C. Erb (Hg.), Schwenkfelders in America: Papers Presented at the Colloquium on Schwenckfeld and the Schwenkfelders, Pennsburg, Pa. September 17–22, 1984. Pennsburg PA 1987; Norman Dollin, The Schwenkfelders in Eighteenth Century America. Ph.D. Dissertation. New York, Colombia Universitary 1971; Kriebel, Schwenckfelders in Pennsylvania; Viehmeyer (Hg.), Tumultuous Years, 28–157. 107 Abgesehen von dem Auswandererzug von 1734 sind zwischen 1731 und 1737 noch fünf kleinere Gruppen von Schwenckfeldern mit zusammen 38 Personen nach Amerika emigriert. Insgesamt traten 219 Schwenckfelder die Überfahrt an, aber nur 206 erreichten Amerika. Siehe Brecht (Hg.), Genealogical Record, 37–40.

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Siedlungsgebiet zu finden, führten zu keinem Erfolg.108 Auch zog eine nicht unbeträchtliche Anzahl von ihnen später in andere Gegenden Amerikas weiter.109 Das religiöse Leben der schwenckfeldischen Immigranten in Pennsylvanien war – trotz der Gewährung weitgehender Freiheiten – in den ersten Jahren keineswegs geordnet und rege. Begründet war dies einmal darin, daß die Schwenckfelder im Unterschied zu früher nun recht weit voneinander entfernt wohnten. Versammlungen konnten nicht mehr mühelos durchgeführt werden; auch die persönliche Kommunikation untereinander war nicht mehr jederzeit möglich. Sodann standen die einzelnen schwenckfeldischen Familien vor der Herausforderung, sich neue Existenzen schaffen zu müssen. Diese war zeitintensiv und band Kräfte. Schließlich fehlte den Schwenckfeldern nun vor allem ein kritisches Gegenüber, das eine religiöse Profilierung notwendig gemacht hätte. In diesen schwierigen Jahren nach der Einwanderung bemühte sich Georg Weiss110, der im November 1735 von neun schwenckfeldischen Hausvätern zum Prediger gewählt worden war,111 nach Kräften darum, das Konventikelwesen und die religiöse Unterweisung der Jugend wieder zu reaktivieren.112 Nach dessen Tod 1740 wurde Balthasar Hoffmann,113 einer der schwenckfeldischen Delegierten am Wiener Hof, zur führenden Persönlichkeit der Schwenckfelder. Bereits 1735 war er – neben David Seipt – zum Ältesten der Schwenckfelder gewählt worden. Auf Zinzendorfs Wunsch hin sollte Christoph Wiegner, zusammen mit dem ihm sehr vertrauten Bönisch, wie erwähnt, gewissermaßen eine geistliche Betreuung der Schwenckfelder übernehmen. Wiegner hatte sich im Mai 1735 in Skippack eine Plantage gekauft und darauf ein geräumiges Haus errichtet, das er zusammen mit seiner Mutter Susanna und seiner Schwester Rosina sowie mit Bönisch bewohnte.114 Christoph Baus hatte sich wohl 108 Siehe Brief: Christoph Wiegner und Georg Bönisch an Zinzendorf, 15.2.1735, UA Herrnhut, R.14.A.21.3 (Fotokopie in Library of Congress Washington); in englischer Übersetzung gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, 100–102. 109 Von den ursprünglich eingewanderten 34 Familien siedelten nach 25 Jahren nur noch 20 Familien zusammen. 110 Zu Weiss siehe Kriebel u. Schultz, Weiss, mit einem Schriftenverzeichnis von Georg Weiss. 111 Siehe Erb (Hg.), Spiritual Diary, 116 (9.11.1735). 112 Über die Tätigkeit von Georg Weiss in Pennsylvanien siehe Elmer Gerhard u. Selina Gerhard Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians in Pennsylvania (1734–1742), in: Schwenckfeldiana. Vol. I, Nr. 4, 12–29, hier 18–20; Balthazar Hoffmann, Report of the Trials. 113 Zu Hoffmann siehe Elmar Gerhard, Balthasar Hoffmann (1687–1775). Scholar, Minister, Writer, Diplomat, in: Schwenckfeldiana. Vol. I, Nr. 2. Norristown PA 1941, 35–52, mit einem Schriftenverzeichnis von Balthasar Hoffmann. 114 Siehe Brief: Christoph Wiegner an NN, 8.11.1735, UA Herrnhut, R.14.A.21.5 (Fotokopie in Library of Congress Washington); in englischer Übersetzung gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, 113–116. Über Susanna und Rosina Wiegner siehe Berky (Hg.), Journals and Papers, 181.

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schon Ende 1734 in Germantown – 14 Meilen entfernt – niedergelassen; jedoch blieben Wiegner und Baus weiterhin in Kontakt.115 Wiegners Farm wurde in den nächsten Jahren zu einem bedeutenden Begegnungszentrum, wo Erweckte unterschiedlichster Denominationen für kürzere oder längere Zeit weilten. Auch gehörte Wiegner zu den »Associated Brethren of Skippack«, die sich hier – in der Gegend zwischen Schippach (Skippack), Friedrichstown (Frederic Township), Oley und Germantown – 1736 zwecks gegenseitiger Erbauung und missionarischer Aktivitäten unter den deutschen Siedlern zusammengeschlossen hatten. Trotz anfänglicher Zusammenarbeit116 mit den Schwenckfeldern stieß Wiegner bei diesen – insbesondere bei Weiss – bald vielfach auf Zurückhaltung oder sogar Ablehnung.117 Diesen war es nämlich nicht verborgen geblieben, daß er zu den unterschiedlichen Denominationen in Pennsylvanien alsbald regen Kontakt aufnahm. Auch erschienen ihnen Wiegners enges Verhältnis zu den beiden Herrnhutern Bönisch und Baus sowie seine Briefkontakte zu anderen Herrnhutern verdächtig. Nicht ohne Grund argwöhnten sie, Wiegner wolle sie letztlich den Herrnhutern zuführen. Um die Schwenckfelder doch noch zu gewinnen, begab sich Spangenberg auf Weisung Zinzendorfs im März 1736 von Georgia aus nach Pennsylvanien. Spangenberg hatte im Frühjahr 1735 eine neunköpfige Gruppe von Mähren und Herrnhutern nach Georgia begleitet.118 Deren dortige Ansiedlung war aufgrund einer Anregung der Trustees erfolgt.119 Als nämlich die Schwenckfelder diese Kolonie als neues Zufluchtsland abgelehnt hatten, regten die Trustees an, daß sich doch die Brüdergemeine um diesen Siedlungsraum bewerben solle. Diese ging darauf ein und entsandte Spangenberg nach London, um nähere Konditionen zu vereinbaren. Hier führte er zahlreiche und schwierige Gespräche mit General James Edward Oglethorpe, dem Gouverneur von Georgia, und mit James Vernon, dem Sekretär der 115 Siehe Brief: Christoph Wiegner an NN, 8.11.1735, UA Herrnhut, R.14.A.21.5 (Fotokopie in Library of Congress Washington); in englischer Übersetzung gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, 113–116. 116 Anfang November 1734 bat der Schwenckfelder Georg Schultz den Herrnhuter Bönisch, der eng mit Wiegner verbunden war, darum, ihm bei den Maurerarbeiten an seinem neuen Haus behilflich zu sein. So verbrachte er acht Wochen bei der Familie Schultz; siehe Berky (Hg.), Journals and Papers, 56. 117 Hierzu und zum Folgenden siehe Briefe: Christoph Wiegner u. Georg Bönisch an NN, 7.11.1735, UA Herrnhut, R.14.A.21.2 (Fotokopie in Library of Congress Washington); in englischer Übersetzung gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, 106–112; Christoph Wiegner an Zinzendorf, 11.11.1736, ebd. R.14.A.21.6 (Fotokopie in Library of Congress Washington); in englischer Übersetzung gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, 124–129. 118 Diese Mähren und Herrnhuter hatten sich in der Nähe von Savannah niedergelassen; von hier aus sollten sie unter den Indianern missionieren. 119 Hierzu und dem Folgenden siehe J. Taylor Hamilton u. Kenneth G. Hamilton, History of the Moravian Church, 82–84.

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Trustees. Anfang Februar 1735 segelte Spangenberg dann mit seiner Gruppe von England ab und ging zwei Monate später in Savannah an Land, um am Fluss Ogeechee, eine Tagesreise von der Salzburger Siedlung Eben Ezer entfernt, zu siedeln. Am 23. Februar 1736 landete dann ein zweiter Transport mit 20 Herrnhutern unter Führung von Bischof David Nitschmann in Savannah. Nachdem die erste Aufbauarbeit in dieser Herrnhuter Niederlassung geleistet war, brach Spangenberg – wie vorgesehen – am 15. März 1736 nach Pennsylvanien auf. Hier sollte er Wiegner und den Herrnhuter Böhnisch in der Betreuung der Schwenckfelder unterstützen, beziehungsweise diese erst richtig in Angriff nehmen. Böhnisch kehrte allerdings im November des folgenden Jahres nach Europa zurück.120 Zugleich wollte Spangenberg nach Möglichkeiten Ausschau halten, die christliche Botschaft unter deutschen Siedlern und Indianern zu verbreiten. Nach einer äußerst stürmischen Überfahrt von Charlestown langte Spangenberg Anfang April in New York an und suchte in Pennsylvanien am 4. April 1736 sogleich Christoph Wiegner auf. Dessen geräumiges Heim wurde bis zu seiner Rückkehr nach Europa im Frühjahr 1739 sein Standquartier121. Auf der Farm seines Gastgebers arbeitete er in der Landwirtschaft mit, soweit ihm dies bei seinen weitausgreifenden missionarischen und seelsorgerlichen Aktivitäten möglich war.122 Von hier aus nahm Spangenberg alsbald Kontakt zu den Schwenckfeldern auf und ließ nichts unversucht, um »zu probiren ob er den Schwenkfeldern das Blut des Lamms ans Hertz bringen und die Gnade, der sie in Herrnhuth entgangen noch einkriegen«123 könne. Er nahm an ihren Konventikeln teil und pflegte regen Umgang mit ihnen. Seine Akkomodation ging so weit, daß er sich sogar nach schwenckfeldischer Mode – grauer Rock ohne Knöpfe und Taschen – kleidete. Anfänglich scheinen seine Bemühungen, zumindest bei einem Teil der Schwenckfelder, Akzeptanz gefunden zu haben. Hoch erfreut meldete Wiegner im August 1737 nach der Oberlausitz, daß Spangenberg »unter den Schwenckfeldern in solcher gnade gearbeitet« habe, daß »er würklich 120 Siehe Erb (Hg.), Spiritual Diary, 149 (21.11.1737). 121 Spangenbergs Aufenthalt in Pennsylvanien erfuhr allerdings zwei größere Unterbrechungen. Vom 10. September 1736 bis 16. Oktober 1736 weilte er – in Vertretung von Bischof David Nitschmann – zur Visitation auf St. Thomas; von 28. Juli bis November 1737 hielt er sich in Georgia auf, wo die Siedlung der Brüdergemeine durch eine große Krise ging. 122 Über Spangenbergs Wirken in Pennsylvanien während seines ersten dortigen Aufenthalts siehe Gerhard Reichel, August Gottlieb Spangenberg. Bischof der Brüderkirche, Tübingen 1906, 96–116; Reichel, Early History, 68–72; Risler, Leben August Gottlieb Spangenbergs, 131–158. Vgl. auch Brief: August Gottlieb Spangenberg an Isaac Lelong, 9.6.1738, UA Herrnhut, R.15.B.a.10.80. 123 Acta Synodi ecclesiae Fratrum Gotha anno 1740, UA Herrnhut, R.2.A.3.A.1, 197 (Sessio X (17.6.1740), Top 19). Vgl. hierzu auch Brief: Christoph Wiegner an Zinzendorf, 11.11.1736, UA Herrnhut, R.14.A.21.6 (Fotokopie in Library of Congress Washington); in englischer Übersetzung gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, 124–129.

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einen eingang in vieler Hertzen gekriegt«.124 Sein »Hertz war recht voll von Erbarmung und Liebe gegen die Seelen und seine Liebe und Beugung gegen sie hat ihre Härte gebrochen, er hat sie überwunden u. die guten Seelen sind zu ihm geneigt«.125 Weil offensichtlich auch Spangenberg selbst diesen Eindruck gewonnen hatte, forderte er Zinzendorf im Juni 1737 dringend auf, nach Pennsylvanien zu kommen.126 Doch dann erwachte bei vielen Schwenckfeldern Zurückhaltung oder sogar Widerstand gegen Spangenberg. Mit Nachdruck wies vor allem Georg Weiss, die führende Gestalt der Schwenckfelder und ihr erster Prediger, darauf hin, daß der Spiritualismus die Schwenckfelder von der Brüdergemeine trenne. Angesichts des Mißerfolgs war Spangenberg so frustriert, daß er Zinzendorf am 21. Mai 1738 in einem Schreiben riet, alle weiteren Bemühungen um die Schwenckfelder aufzugeben.127

5. Zinzendorf und die Schwenckfelder in Pennsylvanien Im Herbst 1741 entschloß sich Zinzendorf, zusammen mit einer kleinen Schar enger Vertrauter,128 zu einer Reise nach Pennsylvanien.129 Über die 124 Brief: Christoph Wiegner, Georg Bönisch, Christoph Baus u. a. an NN [Zinzendorf?], 4.8.1737, UA Herrnhut, R.14.A.21.7 (Fotokopie in Library of Congress Washington); in englischer Übersetzung gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, 139–145. 125 Brieffragment: [Christoph Wiegner] an NN, 14.8.1737, UA Herrnhut, R.14.A.21.8 (Fotokopie in Library of Congress Washington); in englischer Übersetzung auszugsweise gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, 145–146. 126 Siehe Brief: August Gottlieb Spangenberg an Zinzendorf, Juni 1737, auszugsweise zitiert in: Reichel, August Gottlieb Spangenberg, 92–93. 127 Über Spangenbergs diesbezügliche Aufforderung an Zinzendorf siehe Brief: August Gottlieb Spangenberg an Zinzendorf, 21.5.1738, UA Herrnhut, R.9.A.a.1.16. Vgl. Arthur J. Lewis, Zinzendorf, the Ecumenical pioneer: a Study in the Moravian Contribution to Christian Mission and Unity, London 1962, 141–142; Risler, Leben August Gottlieb Spangenbergs, 148–153. Vgl. Conferenz in Ebersdorf 1739, UA Herrnhut, R.2.A.2.1.59 (11.6. 1739): »Seine vocation hat er [sc. Spangenberg] treulich vollstreckt, ein Opfer vor die Schwenkfeldter für 3 Jahr worden, biss er den Staub von seinen Füßen geschüttelt zum Gericht über sie [Mt 10, 14], und hat sich mit Wießnern [sc. Wiegner] von ihnen gethan«. 128 Dieser gehörten an: Zinzendorfs Tochter Benigna, sein Sekretär Johann Jacob Müller, Rosina Nitschmann, Abraham und Judith Meinung, der schottische Presbyterianer David Bruce sowie Johann Heinrich Müller. 129 Besonders wichtige Quellen zu Zinzendorfs Aktivitäten in Pennsylvanien sind: Peter Vogt (Hg.), Authentische Relation. Von dem Anlaß, Fortgang und Schlusse der am 1sten und 2ten Januarii Anno 1741/2 in Germantown gehaltenen Versammlung einiger Arbeiter derer meisten Christlichen Religionen und vieler vor sich selbst Gott-dienenden Christen-Menschen in Pennsylvania, Nachdr. d. Ausg. Philadelphia 1742 mit einer engl. Übersetzung. Hildesheim u.a. 1998 (NLZ.L 30); Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Pennsylvanische Nachrichten von dem Reiche Christi, o. O. 1742 [Nachdr. NLZ Hauptschr. 2]; Nikolaus Ludwig v. Zinzendorf, Büdingische

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dortigen religiösen Verhältnisse, besonders über die defizitäre pastorale Betreuung der deutschen Siedler sowie über Missionsmöglichkeiten unter den Indianern hatte er seit geraumer Zeit Kenntnisse. Zudem war er zwischen 1736 und 1739 von mehreren Seiten, nicht zuletzt auch von Spangenberg, aufgefordert worden, nach Pennsylvanien zu kommen. Aber erst auf der Synode in Gotha 1740 wurde dann ein konkreterer Plan bezüglich Pennsylvanien gefaßt.130 Danach sollte Zinzendorf vor allem die in Pennsylvanien lebenden unterschiedlichen deutschsprachigen Kirchen und Gemeinschaften näher zusammenführen und seelsorgerlich betreuen. In diesem Zusammenhang sollte ein Schulwesen eingerichtet werden. Darüber hinaus wollte Zinzendorf in Amerika Möglichkeiten einer Indianermission131 erkunden. Am 29. November 1741 traf Zinzendorf, der zuvor sein Bischofsamt niedergelegt und unter dem Pseudonym Herr von Thürnstein oder Bruder Ludwig132 seine Reise angetreten hatte, auf einem Segelschiff in New York ein. Zunächst verschaffte er sich einen ersten Überblick über die unterschiedlichen Kirchen und religiösen Sondergemeinschaften133 unter den deutschstämmigen Einwanderern in Pennsylvanien. Alsbald verfolgte er dann mit Eifer den Plan, diese differierenden Konfessionskirchen und GeSammlung Einiger In die Kirchen-Historie Einschlagender Sonderlich neuerer Schrifften. 3 Bde. Büdingen 1740–1745 [Nachdr. NLZ Ergbde. 7–9]; Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Eine Sammlung Offentlicher Reden, [...] In dem Jahr 1742. Mehrentheils In dem Nordlichen Theil von America [...] gehalten.2. Tle. 2. Aufl. Büdingen 1746 [Nachdr. NLZ Hauptschr. 2]; Fresenius, Bewährte Nachrichten, 87–872 (»Americanische Nachrichten Von Herrnhutischen Sachen«). Eine Zusammenstellung weiterer einschlägiger Quellen zu dieser Thematik findet sich bei Vogt (Hg.), Authentische Relation, VIII–XI (Einleitung). Über Zinzendorfs Interesse an Pennsylvanien und seinen dortigen Aufenthalt siehe besonders: John B. Frantz, Schwenkfelders and Moravians in America. In: Erb (Hg.), Schwenkfelders in America, 101–111; J. Taylor Hamilton u. Kenneth G. Hamilton, History of the Moravian Church, 88–93; Lewis, Zinzendorf, the Ecumenical Pioneer, 138–150; Meyer, Zinzendorf und Herrnhut, 42–45; Vogt (Hg.), Authentische Relation, XX–XXI (Einleitung); Peter Vogt, Zinzendorf und die Pennsylvanischen Synoden 1742, UF 36 (1994), 5– 62; Weinlick, Count Zinzendorf, 151–178. 130 Über den Pennsylvanien Plan wurde auf folgenden Konferenzen bzw. Synoden verhandelt: Conferenz in Ebersdorf 1739, UA Herrnhut, R.2.A.2.1, 11 ( 9.6.1739); 59–60 (11.6.1739). Acta Synodi ecclesia Fratrum Gotha anno 1740, ebd., R.2.A.3.A.1, 137–138 (Sessio VI [15.6. 1740], Top 23); 197 (Sessio X [17.6.1740], Top 19); 225 (Sessio XII [18.6.1740]); 239 (Sessio XIV [19.6.1740]); 243 (Sessio XVI [20.6.1740]). Sommer Synodus Marienborn 1741, ebd., R.2. A.5.B.1, 24 (Sessio III [27.6.1741]). 131 Auf Zinzendorfs damalige Indianermission im Staat New-York und Connecticut kann hier nicht eingegangen werden. Siehe hierzu die in Anm. 129 genannte Literatur. Vgl. auch Levin Theodore Reichel (Hg.), Missions-Atlas der Brüder-Unität. Herausgegeben vom MissionsDepartement der Unitäts-Aeltesten-Conferenz zum Besten der Brüder-Mission, Herrnhut 1860, Karte Nr. 3. 132 Zinzendorf hatte auch noch andere Namen, so nannte er sich beispielsweise im Verkehr mit den Quäkern Friend Louis. 133 Mennoniten, Lutheraner, Reformierte, Wittgensteiner, Neutäufer, Schwenckfelder und Inspirierte.

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meinschaften auf der Grundlage der sich damals bei ihm ganz allmählich ausbildenden und Konturen gewinnenden Tropenidee134 näher zu einer »Gemeinde Gottes im Geist« zusammenzuführen. Hierbei intendierte er keine Union der verschiedenen Partikularkirchen und christlichen Gemeinschaften zu einer einzigen Kirche mit einer uniformen Lehrdoktrin und einem einheitlichen Kultus. Vielmehr wollte er diese kirchlichen Gemeinschaften – unter Bewahrung ihrer jeweils eigenen Glaubenslehren, Riten und Ordnungen – lediglich in nähere Verbindung bringen, damit sie sich besser verstehen und gegenseitig stärken könnten. Außerdem sollte durch die sich so bildende »Gemeinde Gottes im Geist« etwas von der Herrlichkeit des Leibes Christi sichtbar werden. Um diese »Gemeinde Gottes im Geist« zu sammeln, fanden auf Zinzendorfs Initiative hin seit Anfang Januar bis Juni 1742 insgesamt sieben Pennsylvanische Synoden oder Konferenzen statt.135 Auf seine Bitte hin richtete Heinrich Antes, der spiritus rector der sich inzwischen wieder aufgelösten »Associated Brethren of Skippach«, am 26. Dezember 1741 an alle Kirchen und Gemeinschaften – auch an die Schwenckfelder – ein Zirkularschreiben. Darin wurde zu einer »Versammlung« eingeladen, »nicht der meynung mit einander zu zanken, sondern in der liebe zu handeln, von den wichtigsten Glaubens-Artickeln, um zu sehen wie nahe man einander im grunde werden könte, und im übrigen in meynungen die den grund der Seligkeit nicht stürzen, einander in der liebe zu tragen, damit alles richten und urtheilen unter denen abgemeldten seelen möchte gemindert und aufgehoben werden«.136 An der ersten Synode, die vom 11. bis 12. Januar 1742 in Germantown in einem unbewohnten Haus von Theobald Endt durchgeführt wurde, nahmen außer Wiegner noch zwei Schwenckfelder teil. Zur zweiten Synode, die am 25. und 26. Januar in Falckner´s Swamp im Anwesen von Georg Hübner stattfand und auf der Zinzendorf für die Folgezeit zum Präsidenten gewählt wurde, erschienen überhaupt keine Schwenckfelder, obgleich sich Zinzendorf in der Zwischenzeit um deren Teilnahme bemüht hatte. Durch deren Fernbleiben fühlte sich Zinzendorf brüskiert. Auf der dritten Versammlung, vom 21. bis 23. Februar 1742 in Oley bei Johann de Turck, 134 Über Zinzendorfs Tropenidee siehe Meyer, Zinzendorf und Herrnhut, 46 u. 97, Anm. 208 (Lit.). Über Zinzendorfs damaliges Kirchenverständnis vgl. auch Vogt (Hg.), Authentische Relation, XIII–XIV u. LXV, Anm. 28–30. Inwieweit Zinzendorf damals auch vom philadelphischen Kirchenverständnis beeinflußt war, bedarf näherer Untersuchung. 135 Über diese Synoden oder Konferenzen siehe besonders: Lewis, Zinzendorf the Ecumenical Pioneer, 144–146; Vogt (Hg.), Authentische Relation, VII–XXXV, LXIII–LXX bzw. XXXVII–LXX; Vogt, Zinzendorf und die Pennsylvanischen Synoden, (Lit.). Diese Synoden wurden auch nach Zinzendorfs Abreise bis 1748 fortgesetzt. 136 Vogt (Hg.), Authentische Relation, 35.

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stellte sich wiederum kein Schwenckfelder ein. Man besprach aber auf dieser Zusammenkunft die Differenzen zwischen Zinzendorf und den Schwenckfeldern. Zinzendorf erklärte sich zur Aussöhnung bereit, allerdings »ohne in der sache einen schritt zu weichen«.137 Auf der vierten Synode, vom 21. bis 23. März in Germantown im Haus von John Ashmead, wo Zinzendorf für mehrere Monate sein Standquartier hatte, bedauerte man, daß die Schwenckfelder versehentlich keine Einladung erhalten hätten und beschloß, sie nochmals ausdrücklich einzuladen. Dennoch erschien auf der nächsten, der fünften Synode, die in der Reformierten Kirche in Germantown vom 18. bis 21. April abgehalten wurde, kein Schwenckfelder. Auf der sechsten Synode, die vom 16. bis 18. Mai im Hause von Lorenz Schweitzer in Germantown stattfand, wurde dann aber der Beschluß gefaßt, denjenigen Denominationen und Gruppen, die bislang nicht teilgenommen hatten, keine Einladung mehr zugehen zu lassen. Die siebente Synode, die am 13. und 14. Juni in Philadelphia bei Edward Evans tagte, erhielt einen besonderen Akzent dadurch, daß dort eine Woche zuvor die sogenannte »See-Gemeine«, eine Gruppe von 56 Siedlern der Herrnhuter Brüdergemeine, eingetroffen war.138 Diese »See-Gemeine« wurde zum inneren Kern der am 25. Juni 1742 gegründeten Bethlehemer Gemeine. Auf dieser siebenten Synode – die Zusammenkünfte waren inzwischen längst mehr oder weniger ein Instrumentarium Zinzendorfs geworden – stellte man im Abschlußbericht bezüglich der Schwenckfelder fest,139 daß sich diese in einem jämmerlichen Zustand befänden. Ein »eigentlich Systema« hätten sie nicht. Zinzendorf habe sich von ihren »Lehrern« abgewendet, sei aber »in der zärtlichen liebe zu den gliedern dieser Secte [...] noch ungeändert«. Eine »genugsame(n) anzahl« von ihnen habe ihm zwar unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß »sie seiner weder bedürffen, noch theil mit ihm haben wollen«. Zinzendorf hege aber die Gewißheit, daß Christus die Schwenckfelder noch »zu seiner Kirche sichtbar vereinigen« werde, sobald sie ihres trostlosen Zustands inne würden. Dieses abschließende Urteil, daß die Schwenckfelder keine Gemeindeorganisation hätten, steht allerdings in einem gewissen Widerspruch zu der während der Synode gemachten Feststellung: »daß sie [die Schwenckfelder] wider ihr eigenes bisheriges geständniss, dennoch eine geschlossene 137 Siehe Vogt (Hg.), Authentische Relation, 55, Abschnitt XIX. 138 Über die Ankunft der »See-Gemeine« (»Sea Congregation«) siehe Vogt (Hg.), Authentische Relation, 109 u. 136, Anm. 159. Über die Reise dieser »See-Gemeine« von Philadelphia (17.6.1742) über Germantown nach Bethlehem, wo sich am 25.6.1742 die Haus-Gemeine konstituierte, siehe Kenneth G. Hamilton (Hg.), The Bethlehem Diary. Volume I. 1742–1744, Bethlehem PA 1971, 14–20; hinsichtlich des Begriffs »Sea Congregation« siehe ebd., 233. 139 Hierzu und zum Folgenden siehe Vogt (Hg.), Authentische Relation, 115, Abschnitt VI; die folgenden Zitate ebd.

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Einrichtung haben, (wenigstens wenns gegen den Heyland geht)«.140 Dies ergäbe sich »ganz deutlich« aus den Unterschriften ihrer Briefe an Zinzendorf. Auch ist es »sehr wahrscheinlich«, daß ihr verstorbener Prediger Georg Weiss eine festere Gemeindeorganisation intendiert habe und »daß ihm aus Separatistischen Principiis zur unzeit widerstanden worden« sei. Zinzendorf hat sich aber auch außerhalb dieser Synoden um die Schwenckfelder bemüht. Er führte mehrfach Gespräche mit ihnen und konferierte mit anderen über sie. Die Unterredungen mit den Schwenckfeldern begannen Anfang 1742 mit einem Eklat. Als er an Epiphanias auf der Farm von Wiegner, seiner Operationsbasis,141 eine Predigt hielt, nahm auch eine Anzahl Schwenckfelder teil. Sehr wahrscheinlich noch am selben Tag, oder auch erst in der Woche darauf, anläßlich der ersten Synode (11. bis 12. Januar) in Germantown, suchten acht von ihnen ein Gespräch mit Zinzendorf. In der Unterredung142 attackierte dieser die Schwenckfelder. Laut ihren Aufzeichnungen143 befragte sie Zinzendorf nach ihrem Gemeinschaftsleben, ihrem Bekenntnis und anderem. Er bezichtigte Caspar Schwenckfeld und ihren vor kurzem verstorbenen Prediger Georg Weiss der Irrlehre. Vor allem kritisierte er, daß sie, die Schwenckfelder, keine Gemeinschaft darstellten. Wenn er gewußt hätte, so bemerkte er, daß sie »keine Gemeine« würden, wären sie »aus Sachsen nicht gekommen«. Er forderte sie auf, eine Gemeinde zu bilden und die Sakramente zu gebrauchen. Hieraus wird deutlich, daß Zinzendorf die Schwenckfelder für einen Haufen religiöser Individualisten hielt. Falls sie sich nicht zur Bildung einer Gemeinschaft bereit fänden, werde er nicht »ruhen und mit vielfältigen Thränen, Seufzen, und alle Kräfte daran setzen«, damit er ihnen »Seelen [...] entreissen möge«; ihre »Kinder« werde er seinem »Heilande abweinen«, damit sie »dem Irthum entrissen und der Hölle entführet werden«. Die Schwenckfelder verstanden diese Erklärung dahingehend, daß Zinzendorf willens war, ihre »Bekehrung« weiterhin beharrlich zu betreiben. Denn sie erwiderten, daß sie wegen vieler Verfolgungen Deutschland verlassen hätten und auch bereit wären, »wieder ein ander Oertgen« aufzusuchen; sie dächten jedoch nicht daran, von dem zu »weichen«, was sie »erkant« hätten. Daraufhin 140 Vogt (Hg.), Authentische Relation, 107, Abschnitt IX; die folgenden Zitate ebd. 141 Bereits am 19.12.1741 hatte sich Zinzendorf erstmals bei Wiegner in Skippack aufgehalten. 142 Über diese Unterredung siehe Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 21–24; Kriebel, Schwenckfelders in Pennsylvania, 112–113. 143 Diese Aufzeichnungen über die Unterredung einiger Schwenckfelder mit Zinzendorf, Anfang Januar 1742, sind gedr. in: Fresenius, Bewährte Nachrichten, 248–255 (»Kurtzer aber gründlicher [von den Schwenckfeldern, nebst obigen Briefen, selbst communicirter] Extract der Formularien, womit Herr Graf von Zinzendorf gegen einige der Schwenckfelder Freunde in Pensilvanien sich ausgelassen, und was selbem von erwehnten Freunden entgegen gesetzt oder geantwortet«); in englischer Übersetzung gedr. in: Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 22–24). Die folgenden Zitate ebd., 250 u. 252–254.

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präzisierte Zinzendorf seinen Entschluß mit folgenden Worten: »Ich folge euch doch nach; und wo ich nicht hin kan, schick ich meine Leute hin, und ich verfolge euch, so lang, bis ich euch zerstöhrt habe, und euch die Kinder entrissen«. Zinzendorf war nämlich der Überzeugung, daß er über die Schwenckfelder »Macht« habe und verpflicht sei, ihre »Seelen zu retten«. Zweifelsohne bezog er sich hierbei auf die »Uhrkund«144 von 1734, in der sich die Schwenckfelder – anläßlich ihres Entschlusses zur Emigration nach Georgia – seiner Obhut anvertraut hatten. Er wähnte, diese Unterstellung unter seinen fürsorglichen Schutz beziehe sich nicht nur auf Georgia, sondern gelte auch für Pennsylvanien. Am 10. Januar 1742 besuchte Zinzendorf in Begleitung des Brüderbischofs David Nitschmann den Separatisten Johannes Eckstein, der mit Spangenberg eng kooperiert hatte.145 Man kam unter anderem auf die Schwenckfelder zu sprechen. Als Zinzendorf seine Angriffe gegen diese wiederholte, verteidigte sie Eckstein. Darüber war Zinzendorf erzürnt und erklärte, daß er Christus darum bitten könne, sie aus seinem Munde auszuspeien (Apk 3, 16). Diese Auffassung Zinzendorfs, daß die Schwenckfelder ihm Leib und Seele anvertraut hätten und somit seine Schutzherrschaft noch fortbestände,146 beschäftige wenig später die Behörden. Zinzendorf wandte sich nämlich deswegen an die Obrigkeit.147 Diese soll jedoch das Fortbestehen der Oberhoheit verneint haben, weil Zinzendorf die Passagegebühren nach Amerika für die Schwenckfelder nicht gezahlt hätte. Am 9. März 1742, am Tag vor der Eröffnung der vierten Synode in Germantown, sprach Wiegner mit Zinzendorf über die Schwenckfelder.148 Dabei hielt er dem Grafen vor, er befinde sich diesen gegenüber in mancher Hinsicht im Irrtum. Daraufhin richtete Zinzendorf am 20. März 1742 einen Brief149 an die Schwenckfelder. Darin erklärte er, daß er sie künftig unbe144 Siehe Spangenberg, Leben des Herrn von Zinzendorf, 1419: »Er [sc. Zinzendorf] hielt ihnen [sc. den Schwenckfeldern] ein gewisses Schreiben vor, worin sie ihn 1734. bey ihrem bevorstehenden Exilio, ersucht hatten, sich ihrer ferner nach Leib und Seele anzunehmen«. Vgl. oben S. 77. 145 Hierzu u. dem Folgenden siehe Briefwechsel zwischen Johannes Eckstein und Zinzendorf (gedr. in: Fresenius, Bewährte Nachrichten, 256–258, 258–259) und Johannes Ecksteins »Erzehlung, was vorstehende Briefe veranlasset habe« (ebd., 259–261); in englischer Übersetzung gedr. in: Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 24–26. Vgl. Kriebel, Schwenckfelders in Pennsylvania, 113. 146 Spangenberg (Leben des Herrn von Zinzendorf, 1419) war der Auffassung, daß die Schwenckfelder Zinzendorf zwar einst gebeten hatten, »sich ihrer ferner nach Leib und Seele anzunehmen«, aber jetzt »des Sinnes nicht mehr« waren. 147 Hierzu und zum Folgenden siehe Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 24; Kriebel, Schwenckfelders in Pennsylvania, 113–114. 148 Hierzu und zum Folgenden siehe Kriebel, Schwenckfelders in Pennsylvania, 115–116. 149 Brief: Zinzendorf an die Schwenckfelder, 20.3.1742, gedr. in: Fresenius, Bewährte Nachrichten, 239–243; in englischer Übersetzung gedr. in: Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 26–27. Vgl. Kriebel, Schwenckfelders in Pennsylvania, 115–116.

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helligt lassen werde, falls es bei ihnen innerhalb von drei Monaten zu einer ordentlichen Gemeindeorganisation käme. Wenn das nicht der Fall sei und sie weiterhin bei ihrer Glaubensüberzeugung blieben, dann wollte er sich ihrer mit Eifer annehmen. Darauf entgegnete Balthasar Hoffmann am 12. April 1742 im Namen anderer Schwenckfelder in einem kurzen Antwortschreiben,150 daß sie von ihrer bisherigen Überzeugung »nicht werden weichen, und nichts davon fahren können lassen«. Zinzendorfs Aufforderung, an der vierten Synode teilzunehmen, lehnten sie kategorisch ab. Als Zinzendorf erkennen mußte, daß seine Bemühungen um die Schwenckfelder bei diesen auf entschlossene Ablehnung stießen,151 sandte er ihnen einen Brief.152 Darin erinnerte er sie nochmals daran, daß sie ihm einst die geistliche und weltliche Fürsorge schriftlich angetragen hätten. Dieses Dokument wolle er ihnen aber nicht vorlegen, da sie damit nur sophistisch umgehen würden. Jedoch legte er seinem Brief eine Erklärung153 bei, die sie unterschreiben sollten. Darin sollten sie ihn von jeglicher Fürsorgepflicht und Verantwortung entbinden. Diesen Revers sandten die Schwenckfelder jedoch ununterschrieben zurück. In einem Schreiben154 forderten sie Zinzendorf auf, ihnen das umstrittene Schreiben von 1734 vorzulegen, in dem sie sich angeblich seiner leiblichen und seelischen Fürsorge unterstellt hätten; anderenfalls wollten sie keinerlei Notiz mehr von ihm nehmen. Sodann erklärten sie, sie seien entschlossen, bei ihrer Glaubensüberzeugung zu verharren. Unterschrieben war der Brief – nach Zinzendorf – fast von den selben Personen, die ihm 1734 ihr irdisches und ewiges Wohlergehen anvertraut hätten. Am 20. Januar 1743 segelte Zinzendorf mit einer kleinen Reisegesellschaft nach Europa zurück,155 letztendlich zutiefst enttäuscht über das 150 Brief: Balthasar Hoffmann u. a. an Zinzendorf, o.D. [12.4.1742], UA Herrnhut, R.14. A.16.I.20; gedr. in: Fresenius, Bewährte Nachrichten, 244–245; in engl. Übersetzung gedr. in: Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 27–28. Das folgende Zitat ebd., 244. 151 Über Zinzendorfs Replik auf dieses Schreiben Hoffmanns vom 12.4.1742 und die Reaktion der Schwenckfelder siehe Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 28; Kriebel, Schwenckfelders in Pennsylvania, 116–118. 152 Brief: Zinzendorf an Christoph Wiegner, Balthasar Hoffmann, Melchior Kriebel, o.D. [nach 12.4.1742], gedr. in: Fresenius, Bewährte Nachrichten, 245–246; in engl. Übersetzung gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, XXIX; Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 28. 153 Diese Erklärung ist gedr. in: Fresenius, Bewährte Nachrichten, 246; in engl. Übersetzung gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, XXIX; Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 28. 154 Brief: Balthasar Hoffmann, Melchior Kriebel, David Seibt, Christoph Hübner, Caspar Kriebel an Zinzendorf, o.D., gedr. in: Fresenius, Bewährte Nachrichten, 247–248; in engl. Übersetzung gedr. in: Erb (Hg.), Spiritual Diary, XXX; Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 28. 155 Über Zinzendorfs Abreise siehe Hamilton (Hg.), The Bethlehem Diary, 138 (24.1. 1734).

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Ergebnis seines Aufenthalts in Pennsylvanien. Neben vielen anderen Vorhaben – vor allem sein ekklesiologisches Konzept von einer »Gemeinde Gottes im Geist« – waren auch seine Bemühungen gescheitert, die Schwenckfelder – unter Aufgabe ihres Spiritualismus und gewisser Glaubensvorstellungen – in einer festeren Gemeinschaft zu organisieren oder sie sogar an die Brüdergemeine heranzuführen. Ja, eigentlich hatte er das Gegenteil bewirkt. Durch seine Aktivitäten sind sich die Schwenckfelder nämlich erst wieder ihrer eigenen Tradition stärker bewußt geworden. In den nächsten Jahren kam es bei ihnen zur Ausbildung von Verfassungsstrukturen. 1782 konstituierte sich die Society of Schwenkfelders und 1909 erfolgte die Gründung der Schwenkfelder Church mit eigener Constitution.156

6. Zusammenfassung und Ausblick – Zwischen Toleranz und Glaubenswahrheit Das Verhältnis Zinzendorfs zu den Schwenckfeldern war – so kann man zusammenfassend sagen – äußerst ambivalent. Er war – eigentlich von Anfang an – zutiefst davon überzeugt, daß ihr »Wesen«157, ihre Christologie und Soteriologie sowie ihre fehlende ekklesiologische Struktur nicht zu billigen seien, und wollte die »Irrenden« einer »wahren Bekehrung« zuführen. Hierzu fühlte er sich nach ihrer Ansiedlung in Oberberthelsdorf nicht zuletzt auch als ihr Grundherr verantwortlich. Zu einer Veränderung von Glaubensüberzeugung sind aber, so hatte er in seiner Eingabe an Kaiser Karl VI. betont, »leibliche(n) Mittel« untauglich. Äußerliche Zwangsmaßnahmen brächten nämlich »nur Heuchler« hervor. Auf ein solches Vorgehen gegenüber den Schwenckfeldern hatte Zinzendorf während ihres achtjährigen Aufenthalts auf seinen Besitzungen in der Oberlausitz verzichtet. Dies war von ihnen übrigens auch uneingeschränkt anerkannt worden.158 Allerdings ruhte auf ihnen zweifelsohne ein nicht geringer Erwartungsdruck. Zinzendorf ging sicherlich davon aus, daß sie sich der Herrnhuter Brüdergemeine anschließen würden. Diese Hoffnung war nicht ganz unbe-

156 Hierzu siehe Weigelt, Art. Schwenckfeld/Schwenckfeldianer, TRE 30, 712–719, hier 718. 157 Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 267; die folgenden Zitate ebd. 158 Unterredung einiger Schwenckfelder mit Zinzendorf, Anfang Januar 1742, gedr. in: Fresenius, Bewährte Nachrichten, 248–255; hier 254: »Ihr seyd gegen acht Jahr unter mir gewest, (NB. im Schutz) und wird nicht können bezeuget werden, daß ich euch leiblich oder geistlich verfolget. Antwort. Nein«! In engl. Übersetzung gedr. in: Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 22–24, hier 23: »Zinzendorf – You were about eight years under my protection; it cannot be said that I persecuted you temporally or spiritually. Answer – No!«

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gründet, da sich ihr im Verlauf der Jahre eine Reihe von Schwenckfeldern angeschlossen hatte oder mit ihr sympathisierte. Nachdem die Schwenckfelder, die auf seinen Besitzungen Aufnahme gefunden hatten, dann 1734 größtenteils nach Amerika emigriert waren, setzte Zinzendorf seine Bemühungen um sie fort. Dies geschah zunächst durch Christoph Wiegner, der sich, obwohl eigentlich Schwenckfelder, eng an die Brüdergemeine angeschlossen hatte, und durch den Herrnhuter Sendboten Georg Bönisch sowie durch Spangenberg. Dann widmete er sich während seines Amerikaaufenthalts vom 29. November 1741 bis 9. Januar 1743 selbst dieser Aufgabe. Obgleich sein Ringen um die Schwenckfelder bei diesen von Anfang an auf Zurückhaltung oder Ablehnung stieß, war er entschlossen, energisch und eindringlich an ihrer Bekehrung zu arbeiten. Darauf wollte er wegen seiner Verantwortung als ihr Schutzherr und wegen seines »Reformations-Amt[es] an der Schwenckfeldischen Religion«159 seine ganze Kraft konzentrieren. Gegebenenfalls würde er, so drohte er, den Heiland darum bitten, sie – weil sie weder heiß noch kalt wären – aus seinem Mund auszuspeien.160 Dieses Verhalten Zinzendorfs wurde in der Forschung unterschiedlich gedeutet. Einerseits sah man darin Zinzendorfs autoritäre, ja repressive Personstruktur. Er sei gewohnt gewesen, daß man sich seiner Überzeugung anschließe und seinem Willen beuge. Abweichende Meinung oder sogar offenen Widerspruch habe er letztlich nicht geduldet. Dieses Urteil findet sich vor allem in schwenckfeldischer Literatur. Andererseits meinte man, dieses Verhalten Zinzendorfs müsse aus der Extremsituation verstanden werden, in der er sich in Amerika befunden habe. Nahezu alle Projekte, die er in Pennsylvanien verfolgt hatte, vor allem sein Plan einer »Gemeinde Gottes im Geist«, waren mehr oder weniger gescheitert, sieht man einmal von der Konsolidierung der Herrnhuter Brüdergemeine ab.161 Zinzendorf hat 159 Brief: Christoph Wiegner, Balthasar Hoffmann u. Melchior Kriebel, o.D. [nach 12.4. 1742], in: Fresenius, Bewährte Nachrichten, 245–246, hier 246; in engl. Übersetzung gedr. in: Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 28. 160 Siehe Brief: Johannes Eckstein an Zinzendorf, o.D. [Januar 1742], gedr. in: Fresenius, Bewährte Nachrichten, 256–258, hier 256: »Nachdeme [...] Herr Graf [...] unter vielen andern Reden und Worten, über die Schwenckfelder, in die harte Worte ausbrach, er, Herr Graf, wolte sein Recht an gedachte Schwenckfelder verfolgen, und nicht nachlassen, und wo sie sich ihme nicht ergeben würden, so wolte er den Heyland bitten, daß er sie ausspeyen solte [vgl. Apk 3,16]; Worüber er etlichmal ausspeyete.« Vgl. Johann Ecksteins Erzehlung, was vorstehende Briefe veranlasset habe, ebd. 259–261, hier 261: »worauf er [sc. Zinzendorf] dann im Eifer ausbrach, und unter viel andern Worten sagte: sie [sc. die Schwenckfelder] wären keine Gemeine: er wolte sein Recht an sie verfolgen, und nicht nachlassen: er wolte den Heyland bitten, daß er sie ausspeyen solte, und er selbst speyete dabey auch etlichmal aus«. In engl. Übersetzung gedr. in: Gerhard u. Schultz, The Schwenckfelders and the Moravians, 24–26. 161 Über Zinzendorfs Einfluß bei der Etablierung der Brüdergemeine in Pennsylvanien siehe Weinlick, Count Zinzendorf, 151–178, bes. 158–178.

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diesem Mißerfolg in einem Brief an seine Frau Erdmuthe Dorothea kurz vor seiner Abreise aus Amerika am 12. März 1742, in erschüttender Weise Ausdruck verliehen.162 Darin versuchte er, Spangenberg zumindest teilweise für das Desaster mitverantwortlich zu machen. Dieser hätte ihn erstens den deutschen Siedlern »gar nicht recommandirt« und ihm zweitens verschwiegen: »Die Wild u. die hiesigen Eingebohrenen sind fast nur in der Farbe unterschieden«. Angesichts dieser Situation stand Zinzendorf offenkundig unter einem gewaltigen psychologischen Druck, der sich in einem aggressiven Verhalten gegen die Schwenckfelder entlud. Hinzu kam, daß Zinzendorf von dritter Seite gegen die Schwenckfelder aufgebracht und instrumentalisiert worden wäre. Man hätte ihm »manche Dinge« über sie zugetragen. Dadurch wäre Zinzendorf »zu einer Härte gegen sie verleitet« worden, die »ihre Ankläger viel eher verdient hätten«.163 Es stellt sich jedoch die Frage, ob das Verhalten Zinzendorfs den Schwenckfeldern gegenüber nicht nur psychologisch, sondern vor allem von seiner Theologie her gedeutet werden muß. Aufgrund seiner sich damals allmählich herausbildenden Tropenlehre stand Zinzendorf an sich anderen Kirchen und religiösen Gemeinschaften tolerant gegenüber. Erblickte er doch in ihnen unterschiedliche Erziehungsweisen Gottes, die es dankbar zu akzeptieren gelte. Allerdings mußten diese Kirchen und Gemeinschaften sich zu einigen elementaren christlichen Glaubenswahrheiten bekennen. Dies war aber nach Zinzendorf bei den Schwenckfeldern nicht gegeben. Besonders deren Christologie und Soteriologie sowie ihr spiritualistisches Verständnis von Wort und Sakrament hielt er für irrig oder zumindest defizitär. Nicht zuletzt vermißte er bei ihnen auch gemeindliche Strukturen.164 Deshalb sah er keine Möglichkeit, ihnen tolerant zu begegnen. Ja, als ultima ratio war er sogar zu einem repressiven Agieren entschlossen. Da ihm eine solche Vorgehensweise in Pennsylvanien nicht möglich war, wollte er wenigstens von seiner seelsorglichen Verantwortung ihnen gegenüber entbunden sein. Allerdings war er der festen Hoffnung, daß der »HERR [...] diesem verlassenen Häufflein, so balde es sich fühlen wird, einen Heyland aus ihnen erwecken, und sie alsdenn zu seiner Kirche sichtbar vereinigen wird«.165

162 Hierzu und dem Folgenden siehe Brief: Zinzendorf an Erdmuth Dorothea von Zinzendorf, 19.3.1742, UA Herrnhut, R.14.A.16.IV.4. 163 Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 1419. Diese Beurteilung folgt zum Teil wörtlich dem Abschlußbericht der siebenten Synode, siehe Vogt (Hg.), Authentische Relation, 115, Abschnitt VI. 164 Siehe Vogt (Hg.), Authentische Relation, 115, Abschnitt VI: »Kein eigentlich Systema haben sie nicht«. 165 Vogt (Hg.), Authentische Relation, 115, Abschnitt VI.

EDITA STERIK

Die böhmischen Emigranten und Zinzendorf

Das erste Mal wurden Angehörige der alten böhmischen Brüder-Unität im Jahre 1481 zur Emigration gezwungen. Die Verbannung traf die Brüder in Mähren infolge ihrer Einladung von Waldensern aus Brandenburg nach Mähren – also von Vorfahren einiger der späteren Gründer Herrnhuts. Die Emigranten zogen zunächst nach Moldavien. Im 18. Jahrhundert unternahm die erneuerte Brüder-Unität auf Grund einer Initiative der Berliner Böhmen einen Versuch, die Nachkommen dieser ersten brüderischen Emigranten zu finden.1 Zur zweiten Emigration von Böhmischen Brüdern aus ihrer Heimat kam es im Juni 1548, als König Ferdinand die Auflehnung der böhmischen Städte und Stände gegen ihn während des Schmalkaldischen Krieges strafte, und die Brüder-Unität, die ihm sowieso ein Dorn im Auge war, als den ideologischen Urheber des Aufstandes betrachtete. Ungefähr 800 Personen wurden damals aus den königlichen Gütern in Böhmen vertrieben. Sie zogen Richtung Polen und Preußen. Es entstand ein polnischer Zweig der böhmischen Brüder-Unität, der neun Jahre später seinen eigenen Bischof bekam. Auf diesem Wege kam bekanntlich im 18. Jahrhundert die Bischofsweihe der alten Brüder-Unität auch an die beiden ersten Bischöfe der erneuerten Brüder-Unität, Nitschmann und Zinzendorf. Mit der Niederlage am Weißen Berg bei Prag im November 1620 wurde die Zeit der strengen Gegenreformation in Böhmen und Mähren eingeleitet, die 160 Jahre dauern sollte. Die harten Verfolgungen aller Nichtkatholiken verursachten eine umfassende, 160 Jahre andauernde Emigration. 1 Anfang der dreißiger Jahre sollen die Nachkommen der ersten vertriebenen Böhmischen Brüder dem böhmischen Prediger Macher in Berlin einen Brief geschrieben haben, in dem sie die in Berlin notleidenden böhmischen Emigranten zu sich in das Kaukasische Gebirge eingeladen hätten. (Rixdorfer Diarium, 18.11.1766, Gemeinarchiv der Brüdergemeine in Berlin-Neukölln). Der Brief war allerdings in den sechziger Jahren nicht mehr auffindbar. Die mündliche Überlieferung unter den Emigranten in Berlin wird aber gestützt von einer Anmerkung in Heinrich Mildes Vorrede zu seiner tschechischen Ausgabe des kleinen lutherischen Katechismus von 1734. Im Sommer 1768 begab sich also Josef Kuþera (geb. 1741 in Brþekoli bei Chrudim) aus der böhmischen Brüdergemeine in Berlin in Begleitung eines deutschen Bruders Namens Becher auf die Reise über Sarepta in Rußland Richtung Terek und Kaukasisches Gebirge, wo die Nachkommen der alten Brüder noch in drei Dörfern leben sollten. (Archiv der Brüder-Unität, [weiterhin nur UA]: R.15.R.1.2). Kuþera und Becher kamen jedoch wegen kriegerischer Auseinandersetzungen in jener Gegend nicht bis ans Ziel.

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Im 17. Jahrhundert konnte man unter den böhmischen Emigranten die Böhmischen Brüder, Utraquisten und Lutheraner noch deutlich voneinander unterscheiden. In der Lausitz und in Sachsen hatten sich alle Emigranten in die lutherische Kirche einzuordnen. Die Utraquisten hatten mit dieser Auflage keine zu großen Schwierigkeiten, wohl aber die Böhmischen Brüder, die sehr an ihrer besonderen Gemeindelebensordnung hingen und wegen der Einfachheit ihrer Gottesdienste, aber auch wegen ihrer Beziehungen nach Polen und in die Schweiz noch mehr im Calvinismusverdacht standen als die übrigen Böhmen. Die Brüder zogen letzten Endes alle weiter. Der stärkste Strom der brüderischen Emigration im 17. Jahrhundert ging sowieso nach Polen und Ungarn. Die katholischen Missionare im böhmischen Königreich arbeiteten unermüdlich. Trotzdem meldeten im Jahre 1651 noch viele böhmische Dörfer eine fast geschlossene nichtkatholische Bevölkerung. Die ungenügende Dichte der katholischen Pfarrämter ermöglichte an manchen Orten zwar illegale, jedoch halböffentliche nichtkatholische Gottesdienste in Häusern und manchmal sogar in Kapellen oder Kirchen. Es fehlte jedoch je länger desto mehr an theologisch fundierter geistlicher Betreuung der Nichtkatholiken. Die Prädikanten mit einer theologischen Ausbildung wurden immer weniger. Die Laienprediger blieben ohne eine eindeutige theologische Führung und die reformatorischen Gedanken und evangelische Literatur wurden aufgenommen, wie sie gerade ins Land kamen. Die alten Traditionen der böhmischen Reformation wurden zwar weiterhin eifrig gepflegt, aber die ehemals verschiedenen Strömungen der böhmischen Reformation wurden immer weniger auseinandergehalten, bis sie zu einer etwas verschwommenen Einheit verschmolzen. Die besonderen, schwierigen Bedingungen, unter denen die verfolgten Nichtkatholiken lebten, ließen außerdem auch noch einige neue Akzente aufkommen (z.B. das Brotbrechen beim Abendmahl), die im 18. Jahrhundert schon ebenfalls als Bestandteile der böhmischen Reformation empfunden wurden. In dieser vermischten Tradition gewann jedoch das Erbe der Brüder-Unität eine herausragende Bedeutung.2 Unter der Regierung Karls VI. kam es zur Verschärfung der Rekatholisierungsmaßnahmen, denen aber bald Erweckungen unter der böhmischen Bevölkerung folgten. Diese konträre Entwicklung bewirkte verständlicher2 Joseph Theodor Müller, Geschichte der Böhmischen. Brüder, Bd. 3. Herrnhut 1931, 377, meint, im 18. Jahrhundert wären die »Reste der böhmischen Unität« von den anderen Nichtkatholiken zu unterscheiden gewesen. Dem ist nicht so. Es gab im 18. Jahrhundert wohl noch vereinzelt Familien mit einer ununterbrochenen brüderischen Familientradition, aber die überlieferte Lehre und Tradition entsprach nicht mehr in allen Stücken der Lehre der Brüder-Unität. Auch diese Familien lebten in der vermischten und angereicherten böhmischen Reformationstradition, ähnlich wie die meisten Nichtkatholiken. In den historischen Quellen werden oft die Hussiten, »die alten Böhmen« und die Böhmischen Brüder nebeneinander genannt, ohne Unterschiede zu machen.

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weise eine verstärkte Emigrationswelle. In der Lausitz tauchten Anfang der zwanziger Jahre des 18. Jahrhunderts in mehreren Orten größere schutzsuchende Gruppen von neuen böhmischen Emigranten auf. Es flüchteten aus dem Land des böhmischen Königs tschechisch sprechende wie auch deutsch sprechende nichtkatholische Untertanen, denen die gewaltsame Unterdrückung ihres Gewissens unerträglich war, oder die sich wegen ihres heimlichen Glaubens einer unmittelbaren, lebensbedrohenden Gefahr ausgesetzt fühlten. Es war die Zeit der Gründung von Herrnhut. Die Gründer der neuen Kolonie kamen aus dem Kuhländchen in Mähren. Was brachten sie an geistlichem Gut und an Reformationstradition mit? Wenn wir ihre Reibungen untereinander, vor allem aber die Schwierigkeiten zwischen ihnen und dem lutherischen Prediger Rothe bedenken, müssen wir zu dem Schluß kommen, daß sie Ähnliches mitbrachten wie auch die tschechisch sprechenden Emigranten. Es war vor allem ihr kindlicher Glaube und die kindliche Hingabe an Christus, die schon für die Frömmigkeit der alten Böhmischen Brüder so charakteristisch waren.3 Die Hauptstütze dieses Glaubens und dieser Hingabe war bei den Emigranten keine bestimmte Konfession,4 keine theologisch begründete Lehre. Ihr einfältiger Glaube suchte seine Wegweisung vor allem in der Bibel. In der Lausitz ging der große Wunsch der Emigranten, frei und ohne Angst die Bibel lesen zu dürfen, in Erfüllung. Nun sehnten sie sich nach Auslegung der Heiligen Schrift, und wo sie die fanden, wurden sie zu dankbaren und unermüdlichen Zuhörern. Sie fragten nicht viel (ähnlich wie bei der verbotenen Literatur zu Hause), ob der Ausleger der helvetischen oder augsburgischen Konfession anhänge.5 Es war nur wichtig, daß er die Bibelworte mit Hilfe von anderen Bibelworten auslegte. Sie stellten andauernd Fragen, wenn sie anderer Meinung waren.6 Natürlich hatten sie ihre

3 Ferdinand Hrejsa, DƟjiny kĜest’anství v ýeskoslovensku, Bd. 4, Praha 1948, 33. 4 Wenn die Emigranten in ihrer Frömmigkeit und ihren Traditionen von der lutherischen Kirche nicht verstanden wurden, beriefen sie sich auf die »Böhmische Konfession«. Unter diesem Begriff verstanden sie nicht etwa die Böhmische Konfession von 1575 oder die Konfession der Brüder-Unität, sondern eher die Art ihrer (böhmischen) Frömmigkeit mit der besonderen Tradition und spezifischen Akzenten. 5 Das sagte auch Zinzendorf über die mährischen Brüder: »Ich habe observiert, daß unsre Brüder sich nicht eigentlich um die Differenz der Religionen bekümmert haben. Haben sie eine schöne lutherische Postille gehabt und es hat ihnen darin etwas geschmeckt, so haben sie sie gebraucht, und so auch eine reformierte und wenige sind mit sektiererischen Ideen inficiert gewesen.« (zit. Joseph Theodor Müller, Zinzendorf als Erneuerer der alten Brüderkirche, Leipzig 1900, 22). 6 Auch den tschechisch sprechenden Emigranten, die im Jahre 1741 um Aufnahme in die Brüder-Unität baten, lag eine wichtige Frage am Herzen: Warum betet man in der erneuerten Brüder-Unität das Vaterunser nicht? Ob sie die aufrichtige Antwort, die sie erst nach vier Monaten von der »böhmischen Konferenz« in Herrnhaag (am 1.4.1742) erhielten, befriedigte? Sie lautete:

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eigenen Vorstellungen und Gewohnheiten, die von der Situation herrührten, aus der sie herkamen. So nahmen sie Anstoß an Bildern in der Kirche, am Beichtstuhl und Chorrock, an Kerzen, Oblaten, lehnten jeden Eid ab, pflegten in kleinen Gruppen sich zu ihren Andachten zu sammeln usw.7 Sie verteidigten ihre Traditionen ziemlich hartnäckig, aber sie ließen sich notfalls durch eine sehr geduldige, biblisch begründete Beweisführung auch vom Besseren belehren. Unter diesem Aspekt ist es nur sehr verständlich, daß Graf Zinzendorf, nachdem er sich der geistlichen Führung seiner Kolonisten in Herrnhut intensiv gewidmet hatte, bald auch gute Erfolge erzielte.8 Die tschechisch sprechenden Emigranten gründeten in den zwanziger Jahren in der Lausitz neben den älteren bedeutenden Exulantengemeinden in Zittau und Gebhardsdorf zwei weitere größere Kolonien in Großhennersdorf und in Gerlachsheim. Die böhmische Kolonie in Großhennersdorf war knapp drei Jahre jünger als Herrnhut,9 wuchs aber zahlenmäßig viel schneller. Als Herrnhut ab 1727 unter Zinzendorfs Leitung eine ausgeprägte, eigenständige, dynamische geistliche Entwicklung einschlug, waren auch die Hennersdorfer davon sehr beeindruckt. Ähnlich ging es den Gerlachsheimer Böhmen, die erst Ende des Jahres 1729 eine größere Gemeinde mit eigenem Katecheten gebildet hatten. Das Gemeindeleben der deutschsprachigen Mähren in Herrnhut, die sich auf die alte böhmische BrüderUnität beriefen, galt für die tschechisch sprechenden Böhmen, die sich ebenfalls auf die Böhmischen Brüder beriefen, als Vorbild. Auch die böhmischen Prediger, der Hennersdorfer Johann Liberda und der Gerlachsheimer Augustin Schulz, pflegten enge Beziehungen zu Herrnhut. Jedoch die drei Exulantengemeinden in Herrnhut, in Hennersdorf und in Gerlachsheim entwickelten sich unterschiedlich, denn sie wurden jeweils von ihrem Prediger und seinen Bibelauslegungen nachhaltig beeinflußt. Während Zinzendorf sehr darum bemüht war, seine Mähren in die lutherische Kirche restlos zu integrieren, ließ sich Liberda von den böhmischen »Es ist dies keine verbotene Sache in unsern Gemeinen, es kann solches beten, wer nur will, warum aber solches gar wenig geschieht, wissen wir selbst nicht.« (UA: R.6.B.I.a.4.). 7 Müller, Geschichte der böhmischen Brüder, 370. 8 Es war allerdings etwas schwierig z.B. mit der äußeren Zierat und Liturgie im Gottesdienst. Dafür hatten die Emigranten kein Verständnis. Zinzendorf unterstützte seine intensive Bibelarbeit mit den Emigranten durchaus mit Veränderungen (auch Zugeständnissen) im praktischen Gemeindeleben. An der Lebensordnung der Gemeinde lag den mährischen (wie auch den tschechischen!) Emigranten sehr, und in dieser Hinsicht waren ihre ziemlich ausgeprägten (eindeutig von der brüderischen Tradition herrührenden) Wünsche nicht weit entfernt von den Wünschen des Grafen. Joseph Theodor Müller versäumte es aber, auch die Lehranschauungen und Traditionen der tschechisch sprechenden Emigranten (die sehr ähnlich denen der Mähren waren) in Erwägung zu ziehen, als er über den Beitrag der Mähren zu den Herrnhuter Statuten urteilte. (Müller, Zinzendorf als Erneuerer, 22ff). 9 Allerdings verhandelten die böhmischen Emigranten schon Ende des Jahres 1722 über die Gründung einer böhmischen Exulantenkolonie in Großhennersdorf mit der dortigen Herrschaft.

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Traditionen beeinflussen und war bereit, den Emigranten in einigen ihrer Forderungen nachzugeben (Brotbrechen, Konventikel, Mission im Heimatland). Prediger Schulz in Gerlachsheim hielt sich dagegen eher bedeckt. Um sich mit den Emigranten z.B. über das Brotbrechen nicht auseinandersetzen zu müssen, ließ er sich nicht ordinieren. Dabei predigte er eifrig über die Fragen, die ihm am wichtigsten erschienen, und die Böhmen waren ihm »gehorsam wie die Kinder dem Vater«.10 Ähnliche Anhänglichkeit erfuhren auch Liberda und Zinzendorf. Der böhmische Prediger Liberda besuchte Herrnhut oft, wo er auch mit Bibelauslegungen diente.11 Ein besonders lieber Freund wurde ihm in Herrnhut Zinzendorfs Hofmeister Tobias Friedrich. Den Grafen bewunderte Liberda, und er »liebte ihn in der Wahrheit«.12 Liberdas Unterschrift finden wir auch unter den Herrnhuter Statuten.13 Die Verbindungen zwischen den Mähren und Böhmen waren wohl auch sonst ziemlich eng. Die Herrnhuter teilten einige Spendengelder mit den Hennersdorfern,14 und die ledigen Brüder, die im Oktober 1728 in einem Flügel des Waisenhauses zusammengezogen waren, sollten unter anderem auch »im Böhmischen« unterrichtet werden.15 Die Hennersdorfer Böhmen gingen fleißig missionieren in ihr Heimatland. Durch sie erfuhren immer mehr Nichtkatholiken in Böhmen von Herrnhut, und die deutschen Herrnhuter Brüder fanden auf ihren Reisen nach Mähren öfters einen Unterschlupf auch in tschechischen Familien. Es bleibt noch eine unbeantwortete Frage: Wie und im welchem Maße beeinflußten die zahlreichen böhmischen Emigranten in unmittelbarer Nachbarschaft die Entwicklung in Herrnhut? Es ist kaum denkbar, daß diese ungefähr 1000 Tschechen, die sich Ende der zwanziger Jahre an Herrnhut orientierten, hier vollkommen ohne Einfluß geblieben wären.

10 Lebenslauf des Predigers Augustin Schulz, heimgegangen den 15. April 1752 in Berlin. In: Nachrichten aus der Brüdergemeine 1850, 652. 11 Vgl. Hans-Christoph Hahn u. Hellmut Reichel (Hg.), Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder, Hamburg 1977, 103. – Auch David Cranz (Historie der Böhmischen Emigranten und besonders der Böhmisch-Mährischen Brüder-Gemeinen zu Berlin und Rücksdorf, Ms. im Gemeinarchiv der Brüdergemeine Berlin-Neukölln [auch im UA] I. Teil, 42) weiß davon zu berichten, daß Liberda »zu Anfang mit dem Herrn Grafen von Zinzendorf und den übrigen Aeltesten und Arbeitern zu Herrnhut in gutem Verständniß gelebt und unter Böhmen und Deutschen in großer Kraft und Segen gestanden sein soll.« 12 So schrieb er in seinem Brief vom 28.3.1730 an Tobias Friedrich: »Den Herrn Grafen, welchen ich liebe in der Wahrheit, grüße und küsse ich herzlich.« (UA: R.6.A.a.28). 13 UA: R.6.A.a.15.1.a. 14 So bekamen die Hennersdorfer z.B. im Januar 1731 aus Herrnhut 40 Reichstaler – einen Anteil an Spendengeldern, die aus England gekommen waren (UA: R.6.A.a.25). 15 Otto Uttendörfer, Alt Herrnhut. Wirtschaftsgeschichte und Religionssoziologie Herrnhuts während seiner ersten zwanzig Jahre (1722–1742), Herrnhut 1925, 84.

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Nachdem es in Hennersdorf zwischen der Herrschaft und den böhmischen Emigranten zu ernsthaften Auseinandersetzungen gekommen war, hofften Liberda und seine Tschechen, Unterstützung in Herrnhut zu finden. Liberda kaufte dort im September 1731 ein Haus,16 das sich bald mit tschechisch sprechenden böhmischen Emigranten füllte. Hier fanden vor allem einige der neuen Emigranten Zuflucht, denen Frau Henriette von Gersdorf die Aufnahme in Hennersdorf verweigert hatte. Die neu angekommenen Tschechen waren zuerst unter den Deutschsprechenden in Herrnhut verloren. Sie verstanden die Sprache nicht, kannten sich in den Gemeindeordnungen nicht aus und mußten ermahnt werden, was sie dürfen und was nicht.17 Ratlos und oft vergeblich suchten sie nach Verdienstmöglichkeiten. In größter Not gingen sie auch in den umliegenden Dörfern betteln. Ihre Sehnsucht nach Bibelauslegungen in ihrer Muttersprache blieb ungestillt. Sie wurden in Herrnhut geduldet, aber von Zinzendorf schon etwas mißtrauisch beobachtet.18 Als ihr Klagen über die geistliche Verlassenheit bis zu Zinzendorfs Ohren kam, erklärte sich der Graf bereit, gleich am nächsten Morgen vor dem Gottesdienst für sie eine Ansprache zu halten, natürlich mit Hilfe eines Dolmetschers. Sonst sollten sich die Böhmen gedulden, bis Prediger Liberda von seiner längeren Reise zurückkomme.19 16 »Den 6. September ward dem Herrn Liberda, böhmischen Prediger in Groß Hennersdorf mit Bewilligung der ganzen Gemeine in dem zu solchem Ende zusammenberufenen Gemeine-Rat das Gemeine-Haus, so neben Augustin Neissers, des Messerschmieds Hause liegt, verkauft für 250, sage zweihundertfünfzig rthl. mit der Bedingung, daß er jährlich wenigstens zehn rthl. Abtragen solle, und niemanden anders hinein setzen, als solche Brüder, deren Grund rechtschaffen u. ihr Wandel nach der Lehre Christi unanstössig ist, welches er nicht allein als versprochen, sondern über das sich freiwillig offeriret, alle viertel Jahr wenigstens fünfzehn rthl. abzutragen. Geschehen sub obigem dato allhier, welches er hiebei eigenhändig bezeugt. NB. Er hat so gleich 10 rtl bezahlt.« (Protokolle des Gemeinrats und anderer Konferenzen 1731, UA: R.6.A.a.25.82, S. 72. 17 Am 6.10.1731: »Die böhmischen Leute in H. Liberda Haus sollen 1. keine Späne holen, 2. nicht in Busch gehen, 3. nicht am Born sondern an der Bach waschen wie andere auch, 4. Joseph Anton soll sie erinnern über diese Puncte, 5. ihre Kinder zu Hause halten.« (Ebenda, 79). 18 Am 3.11.1731: »Der Herr Graf brachte vor, es wäre eine große confusion unter böhmischen Leuten in Herrnhut zu besorgen, weil sie eine unordentl. Lebensart gewohnt sind, ob sie sich würden ernähren können.« (Ebenda, 86). 19 Am 3.11.1731: »Martin Linner und Andres Hickel wurden gebeten, zu den hiesigen böhmischen Leuten zu gehen, und sie zu fragen, was ihr Sinn u. Zweck hier wäre, weil sie sich beschweren, daß sich niemand ihrer annehme im geistl. ... Hickel ging zu den Böhmischen sogleich, u. kam dann einer in die Gemeine u. brachte s. Sache vor: A. Hickel verdeutschte es: er hätte schon vor 3 Jahren gesehen, daß es mit ihrem tun nicht recht wäre, es wäre aber noch keine tiefe Einsicht gewesen, vor einem Jahr aber hätten sie die Sache besser untersucht u. wären zusammengekommen; darüber wären sie bei ihren Pfarrern verfolgt worden. Er hätte sein Gut verkauft, aber das Geld hätten sie ihm zurückbehalten, u. er wäre leer davon gegangen. Er wurde gefragt, ob sie wollten, daß die Herrnhuter ihnen etwas gutes zureden sollten, ob böhmisch oder wie sie es verlangten, bis Liberda kommt. Er antwortete, das wünschten sie vom Herzen. Da versprach Herr Graf, er wollte ihnen morgen früh vor der Kirche eine Rede halten, u. die da böhmisch könnten, sollten es ihnen verdeutschen [sic!].« (Ebenda, 85–86).

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Die Untersuchungskommission der sächsischen Regierung stellte im Januar 1732 fest, daß in Herrnhut eine beträchtliche Zahl der »neulichst emigrirten Stockböhmen«20 anwesend war. Es ist schon seltsam, daß die Kommission damals keinen einzigen Dolmetscher fand, um die Böhmen hören zu können, denn bei anderen Gelegenheiten war ein Dolmetscher schnell zur Hand.21 Doch die Kommission empfahl dem Kurfürsten, auch den Stockböhmen die Zuflucht in Herrnhut zu gewähren, und für Herrnhut einen Adjunkten, der »der böhmischen Sprache wohl kundig were«, berufen zu lassen. Im März 1732 kam eine größere Gruppe von Böhmen nach Herrnhut, die als Unruhestifter aus Großhennersdorf ausgewiesen waren.22 Die Verhältnisse in Großhennersdorf wurden jedoch auch nach ihrer Ausweisung nicht besser und so kamen immer mehr Böhmen aus Hennersdorf freiwillig nach Herrnhut, darunter auch solche, die Frau Henriette schon als ihre Untertanen betrachtete. Die Tschechen verhandelten in Herrnhut über den Kauf von zwei weiteren Häusern, und der Herrnhuter Gemeinrat war so großzügig, daß er diese Kaufverträge auch genehmigte. Die Lage war jedoch sonst sehr kompliziert, und Zinzendorf reagierte öfters nervös und ungehalten. Nicht nur die Auseinandersetzung wegen der Tschechen mit seiner Tante Henriette sondern auch die Eigenwilligkeit der tschechischen Emigranten bereiteten ihm Sorgen. Er konnte unmöglich die Untertanen seiner Tante behalten, aber die Tschechen wollten sich nicht voneinander trennen. Zinzendorf störten unter anderem ihre häufigen Missionsreisen nach Böhmen sehr, die in Herrnhut ohne Genehmigung schon seit 1724 verboten waren.23 20 So im Bericht vom 15.3.1732, der sich auf den Besuch des Untersuchungskommissars Georg Ernst von Gersdorf in Herrnhut am 19. Januar 1732 bezieht: »Wie aber dermahlen in Herrnhuth auch eine Anzahl gantz neulichst emigrirter und angekommener sogenannter Stockböhmen ... wegen damahligen Mangels eines Interpretis noch nicht vernommen gewesen ... Und weilen schlüßlich ratione derer letzthin angekommenen Stock-Böhmen ... so viel, daß sie ebenermaßen wegen des Religions-Zwangs und Dranges entwichen seyen, erscheinet, so würde wohl, wenn Ew. Königl. May. auch dieselben armen Leuthe beyzubehalten in hohen Königl Gnaden geruhen wollten, mit denenselben ohnmaßgeblich auch also, wie mit denen, die aus Mähren ausgegangen, zu verfahren seyn, jedoch könte in Absicht auf dieselbigen, zu einem Adjuncto oder Catecheta auf kein anderes Subjectum reflectiret werden, alß auf ein solches, welches zugleich der böhmischen Sprache wohl kundig were.« (Staatsarchiv Dresden, Geheimes Konsilium VII, Bd. 47). 21 Es gab mehrere Männer in Herrnhut, die sonst als Dolmetscher dienten (Martin Linner, Andreas Hickel, Joseph Anton, Johann B. und Anton Seyfart. Später (1741) dolmetschten David Hans und Augustin Leupold. Auch der Böhme Martin ýejka aus Großhennersdorf sprach ausreichend deutsch. 22 Es gab zwar zwischen der Großhennersdorfer Herrschaft und den Böhmen mehrere Streitpunkte, aber freie Missionsreisen in ihr Heimatland verteidigten die Emigranten besonders heftig, wie es auch aus dem Schreiben der Frau Henriette an ihren Vetter Zinzendorf hervorgeht (Büdingische Sammlung ... Das XVII Stück. Büdingen 1744, 657ff). 23 Cranz, Historie der böhmischen Emigranten, I. Teil, § 42. Das eifrige Missionieren der Tschechen in Böhmen hatte auch die schnell zunehmende Zahl der tschechisch sprechenden

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Zu seinen Ohren kam sicher auch ihr Verlangen nach dem Brotbrechen beim Abendmahl. Die böhmischen Exulanten fühlten sich zunehmend von Zinzendorf mißverstanden und fingen langsam an zu begreifen, daß die Freiheit, wie sie ihnen im Sinne lag, in Herrnhut nicht möglich sei. Sie suchten nach einer anderen Lösung. Am 28. Juni 1732 ließ Graf Zinzendorf den Böhmen sein Ultimatum24 bekannt geben: binnen 14 Tagen sollten sie sich entscheiden, ob sie in Herrnhut bleiben wollten oder nicht. Sollten sie (allerdings nur die, die Frau Henriette nicht beanspruchte) bleiben, wollte er sie zwischen Herrnhut und Berthelsdorf ansiedeln. Auf keinen Fall sollten sie sich unter die Deutschen mischen. Wenn sie aber nicht bleiben wollten, dann hatten sie seine Güter unverzüglich zu verlassen. Zinzendorf hoffte wohl noch, die Tschechen im Einvernehmen mit ihrem Prediger Liberda in die von ihm vertretbare Bahn lenken zu können. Jedoch er verrechnete sich. Liberda stand eindeutig auf der Seite seiner Böhmen. Ungefähr im Juli überwarf sich Liberda schwer mit Zinzendorf und bald danach verhandelte er mit dem preußischen König um die Aufnahme der böhmischen Emigranten. Im Herbst 1732 waren die ca. 350 bis 400 Deutschen in Herrnhut die Minderheit, denn die tschechisch sprechenden Emigranten im Ort zählten über 500 Personen und täglich kamen weitere Böhmen dazu. Alle Häuser in Herrnhut waren überfüllt. Obwohl sich die Herrnhuter Einwohner sehr hilfsbereit zeigten, mußten einige der Böhmen letztlich doch auch auf den Straßen übernachten. Am 10. Oktober löste sich die überspannte Lage: die Tschechen sangen vor Zinzendorfs Haus den Psalm 116, und anschließend zogen sie alle, bis auf eine einzige Familie,25 in Richtung Berlin davon. Emigranten zur Folge. Cranz verdächtigt Liberda, er hätte schon in Großhennersdorf beabsichtigt, mit der Zahl seiner Böhmen die Zahl der deutschsprechenden Emigranten in Herrnhut zu übertreffen. 1732 war diese Gefahr in Herrnhut für kurze Zeit Wirklichkeit geworden. 24 Cranz, Historie der böhmischen Emigranten, I. Teil, § 41. – Vgl. Gustav Skalský, Z dƟjin þeské emigrace v 18. století, ChotƟboĜ 1911, 143. 25 Dieser einzige in Herrnhut gebliebene tschechische Familienvater, Wenzel Zlatnik (deutsch auch: Goldschmied), war ein leiblicher Bruder des Franz Zlatnik, eines besonders hartnäckigen Anführers der Tschechen bei den Auseinandersetzungen in Großhennersdorf und Herrnhut. Wenzel Zlatnik mußte sich nach dem Weggang seiner Landsleute aus Herrnhut verantworten: »Am 12. octob. [1732] – 1. ist Wentzel Gold-Schmidt ein Böhmischer, welcher einen Dolmetscher mit sich brachte nahmens Johann B. vorgefordert. – 2. er ist gefragt worden, warum er hierher gezogen. Antwort: Bei wahren Kindern Gottes zu sein und auch so zu wandeln. – Ob ihn die Lieb schon geändert oder ob er noch were wie andere Böhmen, die ausgezogen sind. Antwort: er preiße Gott, waß an ihm geschehen, er wiße wahrhaftig, daß er geändert were. Wir fragten, obs schon lang were, er sagte noch kein ganzes Jahr. Hierauf hießen wir in wilkomen im Reich Gottes und wünschten in [sic] viel Gnade, sagten auch daß er unß ermahnen sollte, hingegen wolten wir es auch bei ihm thun.« (Protokoll der Ältestenkonferenz vom 12.10.1732, UA: R.6.A.a.25.63) – Wenzel Zlatnik blieb in Herrnhut höchstens zwei Jahre, dann zog er mit seiner Familie ebenfalls nach Berlin und wurde dort im März 1735 als Zeuge zur Ordination von David Nitschmann geladen. Er selbst entschied sich 1746 für die polnische Brüder-Unität (also die böhmisch-

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Zinzendorf war äußerst enttäuscht.26 Er betrachtete das Benehmen der Böhmen als gottlos, und wenn er überhaupt jemals eine Sympathie für die Tschechen empfand,27 dann hat sie sich durch diese Erfahrung in ein tiefes, grundsätzliches Mißtrauen verwandelt.28 Die weggezogenen Böhmen brachen ebenfalls, bis auf wenige Ausnahmen, endgültig mit Zinzendorf und Herrnhut. Nach dem Scheitern der großen Hoffnungen der böhmischen Emigranten, in Großhennersdorf ein zweites tschechisches Herrnhut aufbauen zu können, gewann für die Nichtkatholiken in Böhmen die etwas jüngere Emigrantenkolonie in Gerlachsheim an Bedeutung. In Gerlachsheim blieb die Anziehungskraft von Herrnhut auch nach dem Weggang des Großteils der Hennersdorfer Böhmen unbeschadet. Spätestens ab 1735 fing der böhmische Prediger Schulz an, in Gerlachsheim unter reformierte Gemeinde in Berlin). Dreißig Jahre später wurde in das Rixdorfer Diarium eingetragen: »Den 6.4.1775 schickte der hiesige reformirte Schulhalter Wenzel Zlatnik eine schriftliche Bitte nach Berlin an die Ältesten der Böhmischen Brüdergemeine, daß sie ihm fröhliche Überwindung und ein seliges bevorstehendes Ende möchten erbitte. Er erzählt überdies umständlich, wie er bei der Ordination unseres seligen David Nitschmann durch den Daniel Ernst Jablonsky in Berlin am 13. März 1735 als erbetener Zeuge zugegen gewesen sei, samt einen anderen Böhmen namens Jan Janik.« (Gemeinarchiv der Brüdergemeine in Berlin-Neukölln.) 26 Am 19.10.1732: »Bei Gelegenheit der böhmischen affaire ward erinnert, daß die Gemeine sich alles Ernstes zu befleissen habe, allem Schein einer Rebelion abzuhelfen. Man sollte zusehen, daß die Schande dem l. Heiland nicht auch von uns angethan werde wie von den Böhmen, die aus dem Lande gezogen. Die Böhmen haben etwas geschenkt genommen, die es hernach an anderen Orten ausgesagt u. die Gemeine damit prostituirt, es solle auch noch gründlich untersucht werden, und es solle es niemand verhehlen, sonst solle ein solcher von Herrnhut weggejagt werden. Aus solchen Dingen folgt endl. eine Verarmung unserer Freiheit u. daß wir als weltleute müssten tractirt werden mit weltl. straffen, Gefängnissen etc. Es solle auch alles geschenkte bezahlt u. den Böhmen nachgeschickt werden. Der Herr Graf sagte noch dabei, daß wenn dergl. Dinge öfters vorkommen, ihm aller Mut entfiele etc und würde er von Herrnhut wegjagen, wer nicht dem rechten Zweck nachkommen wird. Allen jungen Purschen kündigte er an, die sich im 1/4 Jahr nicht bekehren werden, die sollen ohne Bedenken weggewiesen werden. Herrnhut soll nur blos zur Gemeinschaft der wahren Nachfolger Christi dienen, anders nicht.« (Protokolle des Gemeinrats, UA: R.6.A.a.25.83, S. 137/138.) 27 Zinzendorf verhielt sich ja anfangs recht kritisch auch den mährischen Exulanten gegenüber. »Sobald man die Brüder als eine Nation und nicht als ein Volk aus einer Nation herausgenommen sieht, so sind sie sehr schlechte Leute. Die mährische und böhmische Religion ist viel schlechter, als die lutherische und reformierte, die böhmische Confession reicht der augsburgischen nicht das Wasser. Das möchte noch alles gegangen sein, aber der Genius hat nichts getaugt«, meinte Zinzendorf. (Müller, Zinzendorf als Erneuerer, 2, Zitat S. 101). 28 Zinzendorf glaubte auch, daß der Aufenthalt und das Benehmen der Böhmen in Herrnhut an seiner eigenen ersten Ausweisung aus Sachsen am 28.10.1732 schuld wären. Diese Anschuldigung hat auch Cranz (Historie der böhmischen Emigration, § 42) übernommen. Zinzendorf mußte sich zwar wegen des Weggangs der Böhmen aus Sachsen verantworten (Staatsarchiv Dresden, Geheimes Konsilium VII, Bd. 47, sein Schreiben vom 19.12.1732). Müller (Zinzendorf als Erneuerer, 45) hat jedoch andere Hintergründe des Verfahrens gegen Zinzendorf erkannt. Die Untersuchungskommision war ja schon im Januar 1732 in Herrnhut tätig und ihre Fragen hatten andere Schwerpunkte.

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seinen Zuhörern die Herrnhuter Ordnungen einzuführen. Die Emigranten, die sich nicht in diese Ordnungen und in diese Frömmigkeitsart einfinden konnten, mußten früher oder später weiter ziehen. Die Gebliebenen waren alle Bewunderer von Herrnhut. Auch wenn sie kein einziges Wort deutsch verstanden, sehnten sich alle danach, mindestens einmal Herrnhut besuchen zu können, um dort die »Wirkung des Heiligen Geistes« zu erleben. Laut späterer Erzählungen der Emigranten habe Leonhard Dober einige Male Gerlachsheim besucht, und der Prediger Schulz habe sich sogar bei der Einführung der brüderischen Ordnung von Zinzendorf persönlich beraten lassen.29 Über Zinzendorfs Haltung gegenüber den Emigranten in Gerlachsheim fand ich keine Nachricht aus dieser Zeit. Die glaubwürdigen späteren Berichte bezeugen jedoch nur sein Mißtrauen – auch den Gerlachsheimern gegenüber.30 Die Gerlachsheimer mußten in den ersten Monaten des Jahres 1737 ihre Kolonie verlassen. Auch sie, ca. 400 Personen an der Zahl, kamen im Frühjahr desselben Jahres nach Berlin. Als Zinzendorf 1738 seine berühmten Reden in Berlin hielt, entging dies den ehemals Gerlachsheimer Tschechen nicht, und wer von ihnen nur einige Worte deutsch verstand, wollte ihn wenigstens einmal hören. Die Böhmen in Berlin gerieten so bald in Verdacht des Herrnhutismus. Die böhmischen Prediger unterschrieben am 28. März 1738 eine Erklärung, die diesen Verdacht von den Emigranten abwenden sollte.31 Die Verhältnisse der böhmischen Emigranten in Berlin gestalteten sich schwierig. Die böhmischen Prediger verstanden sich untereinander nicht, und die ehemals Großhennersdorfer und Gerlachsheimer Böhmen lebten sich – nicht ohne Schuld der Prediger – immer mehr auseinander. In der Lausitz hatte Graf Zinzendorf seine Anhänger selbstverständlich auch in den älteren böhmischen Kolonien. Im Oktober 1738 gründeten der schon in der Emigration geborene Tscheche Daniel Thomas und der Emig29 Cranz, Historie der böhmischen Emigration, § 37. 30 Es war für Zinzendorf sicher allein schon die Tatsache unangenehm, daß die aufsehenerregende Emigration der Jahre 1735–1736 aus Böhmen nach Gerlachsheim ihm zu Last gelegt wurde. Die Gerlachsheimer Böhmen dachten nicht daran, ihre Missionsreisen in ihr Heimatland einzustellen. Ende April 1736 brachten zwei Gerlachsheimer Böhmen auf einmal 72 Personen aus der Landskroner Herrschaft über die Grenze. Im Herbst kam aus der gleichen Gegend eine weitere Gruppe von 21 Personen. Kein Wunder, daß der Fürst Liechtenstein seine Untertanen mit kaiserlicher Unterstützung in Dresden reklamierte. Die darauffolgende Untersuchung richtete sich zuerst gegen Herrnhut. (Seit Oktober 1732 galt ja für die böhmischen Emigranten in Sachsen und in der Lausitz Aufnahmeverbot.) Die Gerlachsheimer Böhmen wurden inzwischen durch den Hauptmann in Bautzen gewarnt und retteten sich rechtzeitig nach Cottbus und Berlin. Zinzendorf, gegen den im Frühjahr 1736 sowieso eine neue Untersuchung wegen der Lehre und der Konventikel eingeleitet wurde, wurde jedoch zusätzlich belastet, auch wenn sich letztlich in der Frage der Emigrantenauslockung seine Unschuld herausstellte. 31 Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle, C 375/35 (»Zuverlässige Nachricht«).

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rant Jan VejdČlek (deutsch Gewinn genannt) eine herrnhutisch gesinnte Glaubensgemeinschaft in Zittau. Ähnliche Gruppen entstanden unter den Böhmen in Gebhardsdorf, in Großhennersdorf und in Dresden. Die Berliner Böhmen unterhielten mit den böhmischen Emigranten in der Lausitz rege Verbindungen und im Herbst 1739 gründeten sie nach dem Zittauer Vorbild ebenfalls ihren Brüderverein. Sie distanzierten sich deswegen von den anderen Berliner Böhmen und für eine gewisse Zeit sogar auch von ihrem, früher so geliebten, lutherischen Prediger Augustin Schulz. Am 17. Dezember 1741 kamen die Vertreter aller dieser böhmischen herrnhutisch gesinnten Gruppen gemeinsam nach Herrnhut, um ihre Aufnahme in die Gemeine zu erbitten. Der Ablauf der folgenden Verhandlungen, den ich aus Zeitgründen hier nicht schildern kann, ist bezeichnend. Die leitenden Brüder in Herrnhut und auch die Generalkonferenz der BrüderUnität in Marienborn reagierten freundlich aber zögernd. Für die Gruppen in der Lausitz führten die Verhandlungen bekanntlich zur Gründung der Kolonie Niesky, die jedoch vom Anfang an (durch das Los bestätigt) nicht als eine rein böhmische Kolonie gegründet wurde, obwohl für sie (auch durch das Los bestimmt) ein tschechischer Name gewählt wurde.32 Die eifrigen Berliner Böhmen33 wurden bei diesen Verhandlungen um die Aufnahme von der »böhmischen Konferenz« in Herrnhut nicht so richtig zur Kenntnis genommen. Ihre konkreten Fragen wurden entweder ausweichend beantwortet, oder fast grob und beleidigend abgewiesen. Den Grund nannte später David Cranz: »Weil aber um die Zeit, näml. im Jahre 1742 der Ordinarius Fratrum, der die Böhmen von Hennersdorf und Gerlachsheim her und ihre Gemütsbeschaffenheit, Gesinnung, wie auch ihre Schicksale seit dem am besten kannte, in America abwesend war, so wurde diese Sache bis zu seiner Wiederkunft verschoben«.34

Cranz drückte sich hier vorsichtig aus. Es war in der Brüder-Unität wohl kein Geheimnis gewesen, daß besonders diese Tschechen bei Zinzendorf als unruhige, gottlose Menschen galten, auch wenn sie wie die Gerlachs-

32 Fragen für das Los: »daher wir gerne den eigentl. Plan des Heilands mit Trebus gewußt, wurde also folgendes gefragt: 1. der Heiland hat uns durch Trebus nur auf die Böhmische Gemeine helfen wollen. 2. Trebus ist eigentl. zur Gemeine gemeynt. 3. leer. Es traf: Trebus ist eigentl. zur Gemeine gemeynt *.« (So am 30.3.1742 in Herrnhaag. UA: R.6.B.I.a.4). 33 Sie schrieben gleich den anderen Gruppen auf Wunsch der Herrnhuter »böhmischen Konferenz« einen Bericht über ihre Einrichtungen und über ihr Verhältnis zur Brüder-Unität. Unter anderem betonten sie, daß sie sich schon immer Brüder nannten. Ihre Zusammenkünfte waren ähnlich wie in Herrnhut eingerichtet. Den engsten Kreis (in Chören organisiert) bildeten 40 Personen, zu den allgemeinen Gottesdiensten kamen regelmäßig an die 300 Personen. (UA: R.5.A.8) . 34 Cranz, Historie der böhmischen Emigration, § 2.

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heimer der hussitischen Tradition entsagten35 und die brüderische betonten. Als die herrnhutisch gesinnten Böhmen in Berlin Ende des Jahres 1743 beim König um die Erlaubnis baten, sich ein eigenes Bethaus bauen zu dürfen, erklärten sie, sie möchten mit ihren übrigen Landsleuten nichts zu tun haben, sondern sie würden seit zweieinhalb Jahren »zu den lieben deutschen Brüdern« gehören.36 Die »deutschen Brüder« jedoch waren immer noch sehr zurückhaltend.37 Daß Zinzendorf nach seiner Rückkehr die Gründung der böhmischen Kolonie in Niesky besonders gut geheißen hätte, kann bezweifelt werden, obwohl sie bis in die kleinsten Entscheidungen durch das Los unterstützt wurde.38 Josef Theodor Müller bestätigt, daß Zinzendorf die Böhmen allgemein für den »Zeugenberuf« für wenig geeignet hielt und daß er für Niesky wenig Interesse zeigte.39 Die ehemals Gerlachsheimer Böhmen in Berlin und Rixdorf waren in ihrem Verhältnis zu Zinzendorf in einer besonders schwierigen Lage, aber sie verzagten nicht, bis sie im Herbst 1744 aus Marienborn endlich einen »Arbeiter« bekamen. Der 26jährige Nikolaus Andreas Jäschke, ein Mähre von Geburt, behandelte sie eine Zeitlang sehr mißtrauisch und sehr streng. Schon im Sommer des nächsten Jahres sollte er aus Berlin wieder abberufen werden, weil die Unitätsleitung annahm, daß »auf dem hiesigen Plan [d.h. unter den Berliner Böhmen] auf nichts Zuverlässiges könnte gearbeitet

35 Die »unruhige« Art der böhmischen Emigranten wurde in Zusammenhang mit den Hussiten gebracht. Schon in der Einleitung zum Notariats-Instrument distanzierten sich die Mährischen Brüder von den Hussiten und Waldensern (Müller, Zinzendorf als Erneuerer, 38). Ähnlich entsagten auch die herrnhutisch gesinnten Böhmen ihrer hussitischen Tradition. Johann Michael Langguth schrieb diese Absage noch einmal fest in seinem Gebet im Abschluß der Vorrede zu der tschechischen Ausgabe der Berliner Reden (Zinzendorf, Krátké obsažení NƟkterých Ewangelických ěeþí..., Lauban 1743). 36 Geheimes Staatsarchiv Berlin, IX D 10 Fasc. 5. 37 Cranz ist übezeugt, daß Zinzendorf zu dieser Zeit noch dagegen war, daß sich die Böhmen »Brüder« nennen, aber Abraham von Gersdorf, der in Berlin noch wegen Schlesien zu verhandeln hatte, erwähnte doch am 8.10.1743 in seinem »Unterthänigen pro Memoria« an den preußischen Etats- und Kriegsminister Freiherr von Cocceji auch die Bitte der Böhmen: »Endlich soll ich die von denen mit uns in Verbindung stehenden Böhmen allhier gebethene allergnäd. Concession zu einem BethHause Ew. Excellenz in Erinnerung bringen und um deren baldige Ausfertigung gehorsamst bitten.« (UA: R.5.B.5.b). 38 Allerdings beim Nachfragen »Ob das eine Frage ist, daß wir auf des Grafen Zurückkunft reflectiren?« kam: »Leer*«. (So am 1.4.1742 in Herrnhaag. UA: R.6.B.I.a.4.) 39 Erst 2 1/2 Jahre nach seiner Rückkehr aus Amerika besuchte er Niesky. »Noch vor diesem ersten Besuch hat Zinzendorf in einer größeren Dichtung über die verschiedenen Tätigkeitsgebiete der Brüdergemeine: ›Zum 16. September 1745‹ das böhmische Niesky mit folgenden spöttischen Knittelversen bedacht: ›Das wallende Bemackenvolk, bringt wenige zur Zeugenwolk, Erhalt ihm doch sein Winkelein und segn’es, ist es doch nur klein.‹« (Joseph Theodor Müller, Zur Geschichte der Nieskyer Böhmen, (Ms.) 23, UA: AB.II.R.6.66).

Die böhmischen Emigranten und Zinzendorf

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werden«.40 Jäschke bat jedoch, noch einige Zeit bleiben zu dürfen.41 Er hatte ja schon so viel Tschechisch gelernt, daß er es wagen konnte, eine Singstunde zu leiten. Ermahnt zur Vorsicht im Umgang mit den Böhmen, griff er in den Reihen der Berliner Brüder noch einmal schmerzlich durch und verringerte einige Male die Zahl der »aufgenommenen« Mitglieder der böhmischen Gruppe, bis sie auf ein Viertel gesenkt war.42 Im Oktober 1745 kam Zinzendorf mit Begleitung für eine Woche nach Berlin, aber er würdigte die zu ihm mit großer Liebe aufschauenden Böhmen wohl nicht seines Besuchs. Lediglich Johannes von Watteville, Friedrich von Watteville und Zinzendorfs Sohn Christian Renatus nahmen an dem Liebesmahl der ledigen Brüder teil, und Bruder Johannes hielt dabei eine Rede.43 Dafür hielten Zinzendorf und Johannes mit den Arbeitern eine »Conferenz über den Berlinischen Plan«, also über die Arbeit in der deutschen und in der böhmischen Gruppe.44 Johannes von Watteville übernahm wohl überhaupt die Fürsorge für die Böhmen in der Brüder-Unität. Er war zufällig schon im Dezember 1741 bei der ersten »böhmischen Konferenz« in Herrnhut dabeigewesen. Später segnete er die Arbeiter ein, die »auf den böhmischen Plan« geschickt wurden, korrespondierte mit ihnen, rief sie zurück und er besuchte auch häufiger die böhmischen Gemeinen. Der erste »Arbeiter auf dem böhmischen Plan« in Berlin, Nikolaus Andreas Jäschke, gewann seine Böhmen lieb und wurde ihr Befürworter bei Zinzendorf. Auch Andreas Grassmann, der erst 1752 nach Berlin kam, setzte sich nachdrücklich für die Berliner Böhmen ein. Die böhmischen Emigranten gaben sich immer mehr Mühe, ihre direkte Abstammung von

40 Rixdorfer Diarium, 5.6.1745. Wenn wir genau nachprüfen, wo die Schwierigkeiten lagen, dann sind es vor allem die von dem Arbeiter Jäschke nicht genehmigten Zusammenkünfte (Konventikel also, von Jäschke auch »Rotten« genannt) und das Hinterfragen einiger Auslegungen. »... es sind Leute, die nur den Bruder Nahmen suchen.« (Rixdorfer Diarium, 7.6.1745.) 41 Jäschke: »... mir ist es aber noch nicht so, ich denke, der Plan muß erst mit vieler Gedult abgewartet u. bearbeitet werden ...« (Ebenda, 5.6.1745.) 42 So vermerkte er in seinem Diarium am 25.8.1745: »es ist uns auch eine Gnade und Erleichterung, daß wir unser Häuflein in Rixdorf nun auch ins Enge gebracht haben. Es sind nun anstatt zwei hundert halb hundert geworden.« 43 Ebd., 18.10.1745. Cranz erwähnt diesen Besuch im II. Teil, § 8: Zinzendorf kam nach Berlin »wegen der schlesischen Kirchensache. Sein Besuch brachte dem böhmischen Häuflein nicht nur einen besonderen Segen, sondern zeitigte es auch zu einer Gemeine. Nicht nur machte sich der Ordinarius mit den Arbeitern viel zu thun und ertheilte ihnen guten Rath zu gesegneter und weislicher Fortführung ihrer Arbeit, sondern Johannes und Christel gaben sich insonderheit mit den led. Brüdern.« Die Aussage, daß das »Häuflein« zu einer »Gemeine« wurde, bezieht sich lediglich auf Zinzendorfs Genehmigung der Wiedereinführung der Abendmahlviertelstunde für das böhmische »Häuflein«. 44 Rixdorfer Diarium, 19.10.1745. (In der deutschen Gruppe arbeitete der Diakon Joachim Busse.)

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den echten alten Böhmischen Brüdern nachzuweisen,45 bis sie endlich 1756 auf Fürsprache der beiden Mähren, Jäschke und Grassmann, von dem Mährischen Synodus akzeptiert wurden. Damit wurden sie endlich als eine Gemeine der Brüder-Unität anerkannt und bekamen in Andreas Grassmann sogar einen eigenen Bischof. Zu dieser Zeit zählte die böhmische Gemeine in Berlin und Rixdorf 602 Personen.46 David Cranz, ein sicher gut informierter Mitarbeiter von Zinzendorf, suchte nach einer Erklärung der großen Anfangsschwierigkeiten der Berliner böhmischen Brüdergemeine: »So ist die Sache, und ich habe nur dieses zu erinnern, daß der sel. Ordinarius keinen gehörigen Unterschied unter den Groß Hennersdorfer und den Gerlachsheimischen Böhmen gemacht, die böhmischen Unruhen ihnen allen ohne Unterschied beygemessen, das Festhalten eines großen Theils bey der lutherischen Religion entweder nicht gewußt oder vergessen, und sie alle vor Conversos, d. i. für Catholische, die Lutherisch worden, gehalten, weil die Brüder damals noch nicht ihre Abstammung von der Br. Unität dargethan hatten.«47

Es drängt sich der Verdacht auf, daß Zinzendorf es wohl eher nicht hatte wissen wollen, daß die böhmischen Emigranten genausogut Nachkommen der alten Brüder sein können (und einige waren es tatsächlich) wie seine Mähren. Die meisten von den tschechisch sprechenden Emigranten hatten sich schon immer, wenn nicht für direkte Nachkommen, so doch mindestens für Erben der alten böhmischen Brüder-Unität gehalten. Um das Erbe der Brüder-Unität ging es wohl unter anderem auch in dem schon erwähnten Streitgespräch zwischen Liberda und Zinzendorf im Sommer 1732. So berichtet es wenigstens der böhmische Prediger in Schlesien Blanicki.48 Es 45 Auch der ehemalige Gerlachsheimer Katechet, nun lutherischer Prediger in Berlin, Augustin Schulz, wollte ihnen bestätigen, daß sie als Böhmische Brüder schon aus ihrem Vaterlande kamen: »Sollt ich aber mit Tod abgehen, so werden die Böhmen von meiner Hand ein solches Attestat erben: worinnen sie das, was sie sind, nemlich als Böhmische Brüder von ihrem Ausgange an aus ihrem Vaterlande, werden zur Genüge offenbar werden. Als denen, die ich in Gerlachsheim Anno 1737 zurücke ließ, ein anderer an meiner Stelle zum Lehrer aufgedrungen werden wollte, so declarirten sie durch George Urban, daß sie Böhmische Brüder wären, dadurch blieb ihnen der lutherische Candidate vom Halse u. die Herrschaft jagte sie fort, u. so sind sie in königl. Preuß. Landen gekommen.« (7.1.1752, UA: R.7.B.a.4). Zacharias Hirschel schrieb die »Kurze Nachricht und Beschreibung von der Böhmischen Brüder-Gemeine in Berlin und Rüksdorff« (UA: NB.I.R.3.202.a.), woraus die brüderische Synode erkannte: »Die Anfänger der Bekanntschaft der Böhm. Br. mit uns waren nicht Conversi aus den Böhm. Brr. Proselyten, sondern selbst Böhm. Brr., wie es in Br. Hirschels Böh. Brr. Historie erwiesen ist.« (UA: R.2.A.39.B.5, Zinzendorfsche Synodal u. Conferenz Thesen aus d. Synodus General. Bethel 1756, 68.) 46 123 Ehepaare, 10 Witwer, 28 Witwen, 37 ledige Brüder, 58 ledige Schwestern, 213 Kinder. Die deutschen Brüder in Berlin zählten zu der Zeit insgesamt 250 Personen. 47 Cranz, Historie der böhmischen Emigration, II.Teil, § 22. 48 Wenzeslaus Blanicki (»Geschichte der in Schlesien etablirten Hussiten«, Manuskript von 1763 in der Zentralbibliothek Zürich, Ms S 294, Cap. XI, § 6): »Als sie beide [Liberda und Zinzendorf] zum letzten Mal von dieser Vereinigung geredet, so sagte der Graf zu ihm [zu Liberda]: ›Wohlan ihr zu Hennersdorf möget die Böhmische[n] Brüder heißen, und wir zu Herrnhuth wollen

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ist auch bezeichnend, daß die drei böhmischen Emigrantengemeinden in Berlin, die lutherische, die reformierte und die brüderische, alle nachdrücklich das Erbe der alten Brüder-Unität beanspruchten und sich in ihren Gemeinden alle untereinander Brüder und Schwestern nannten. Zudem weisen sowohl die böhmisch-lutherischen wie auch die böhmisch-reformierten Gemeindeordnungen einige Elemente auf (z.B. Wahl der Ältestinnen, Almosenpfleger, Krankenwärter) die aus der alten brüderischen Tradition herrühren. Trotz aller Ablehnungen und Schwierigkeiten entwickelte sich die tschechische Brüdergemeine in Berlin und Rixdorf49 vom Anfang an zu einer wahren Stütze der Brüder-Unität. Nach der Sichtungszeit, die unbeachtet an den Tschechen vorbeigegangen war, fand der Rest der deutschen Brüder 1750 Zuflucht im böhmischen Betsaal (Sie blieben in der Gemeine neben den Böhmen lange die Minderheit). Auch die lausitzische Kolonie Niesky profitierte von der tatkräftigen Initiative der so mißtrauisch behandelten Berliner Brüder. So kamen z.B. aus Berlin die ersten Übersetzungen der neuen brüderischen Lieder und Liturgien nach Niesky, die im Sommer 1747 in dem ersten tschechischen Gesangbuch der erneuerten Brüder-Unität (mit 219 Liedern) veröffentlicht wurden.50 Nachdem im Jahre 1742 ungefähr 2000 böhmische Nichtkatholiken nach Schlesien emigriert waren, sandte die von der Leitung der Brüder-Unität noch lange nicht akzeptierte böhmische Gemeine in Berlin ihre Boten nach Münsterberg, um dort im Sinne der erneuerten Brüder-Unität zu missionieren. uns Mährische Brüder nennen‹. Wie ich 1746 die Ehre hatte, den Grafen von Zinzendorf in Münsterberg zu sprechen, so waren dies eben dieselben Worte, die er zu mir bei dem Abschied gesagt hat. Damals wandte derselbe viel mehr Geschicklichkeit und Künste an, die schlesischen Hussiten an sich zu ziehen, als wie vor diesem in der Lausitz. Seine Gemeinde in Langenpeile, woraus hernach die zu Gnadenfrey entstanden, war nur drei Meilen Weges von Münsterberg entfernt.« – Vielleicht hat sich wirklich die Bezeichnung »Mährische Brüder« gefestigt, als in den Jahren 1725–1728 die Unterscheidung zwischen den zahlreichen tschechisch sprechenden Emigranten in Großhennersdorf (die sich Brüder nannten) und den deutschsprachigen Emigranten in Herrnhut (überwiegend aus Mähren, die sich auch Brüder nannten) notwendig war. Zinzendorf hatte ja unter der Bezeichnung »mährische Brüder« auch eher die Nationalität verstanden und sie nicht zuletzt auch deswegen als Namen für die ganze Gemeine (Kirche) abgelehnt. Die Mitglieder der alten Brüder-Unität hießen ja allgemein »Böhmische Brüder«, gleich ob sie in Böhmen, Mähren, Polen oder Ungarn lebten. In Polen waren die Gemeinden der »Böhmischen Brüder« ab 1700 nur deutsch oder polnisch. Die Bezeichnung »polnische Brüder« bezog man bekanntlich auf die Socinianer und bei »mährischen Brüdern« dachte man an die Wiedertäufer. (Edita Sterik, Mährische Brüder, böhmische Brüder und die Brüderunität, in: Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine 48 (2001), 106–114). 49 Die böhmischen Brüder in Berlin und Rixdorf bildeten lange eine gemeinsame Gemeine. Die Gemeine in Rixdorf wurde erst 1837 selbständig. (Manfred Motel, Das Böhmische Dorf in Berlin. Berlin 1983, 43). 50 Sebrání NƟkterých WzdƟláwatedlných Písní (Ex. in Gemeinarchiv der Brüdergemeine in Niesky, NB.IV.B.1.21). Die aus dem Herrnhuter Gesangbuch von 1741 übersetzten Lieder sind in diesem Exemplar (von J. Th. Müller?) handschriftlich gekennzeichnet.

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Der hier geschilderten Haltung Zinzendorfs gegenüber den böhmischen Emigranten widerspricht eine Bemerkung des böhmischen Predigers in Münsterberg Wenzeslaus Blanicki, der Graf Zinzendorf habe »viel mehr Geschicklichkeit und Künste angewandt, die schlesischen Hussiten an sich zu ziehen, als wie vor diesem in der Lausitz.«51 Die Erklärung ist einfach: Der schlesische Prediger hatte mit der Agitation der herrrnhutisch gesinnten Berliner Böhmen in seiner Gemeinde zu tun, die er einfach dem Grafen zur Last legte. Blanicki war kein Freund der Herrnhuter Brüder-Unität, Müller irrt aber, wenn er behauptet, Blanicki hätte kein Verständnis für die Anhänglichkeit seiner Böhmen an ihre geschichtliche Vergangenheit.52 Auch Müllers Behauptung, daß die ersten böhmischen Emigranten, die 1742 nach Schlesien kamen, eine ausgeprägt brüderische Tradition mitgebracht hätten, ist nicht richtig. Ihr Geschichtsbewußtsein war das gleiche wie das der ehemals Hennersdorfer und Gerlachsheimer Böhmen.53 Die ersten drei in Schlesien entstandenen Emigrantenkolonien hielten sich letzten Endes an die polnische Brüder-Unität,54 obwohl ungefähr ein Viertel der Kolonisten mehr die erneuerte Brüder-Unität wegen ihres lebhaften und gefühlvollen Glaubens bevorzugt hätte. Die ins Tschechische übersetzte und 1743 gedruckte Auswahl der Berliner Reden von Zinzendorf fand unter den Emigranten in Schlesien viele dankbare Leser. Noch 1755 waren die herrnhutisch gesinnten Böhmen in Schlesien nahe daran, eine eigene Kolonie zu gründen. 51 Siehe Anm. 48. 52 Müller, Geschichte der böhmischen Brüder, Bd. 3, 384. Inzwischen wissen wir, daß Blanicki mit einer großen Vorliebe die böhmische Geschichte pflegte und sogar selbst umfangreiche historische Studien betrieb. Er hatte lediglich für die erneuerte Brüder-Unität kein Verständnis. 53 Müller, Geschichte der böhmischen Brüder, Bd. 3, 383. Auch wenn die Münsterberger Böhmen mindestens ein Exemplar der Konfession der Böhmischen Brüder-Unität besaßen, brachten sie in die Emigration die gleiche vermischte, mit Erfahrungen aus der Verfolgungszeit angereicherte Tradition der böhmischen Reformation mit, die wir schon bei den Hennersdorfer und Gerlachsheimer Böhmen deutlich erkennen konnten. Die Emigration nach preußisch Schlesien hatten ja die ehemals Hennersdorfer Böhmen mit ihrem Prediger Liberda organisiert, und unter den ersten Emigranten waren viele Verwandte der Berliner Böhmen. Ohne den direkten Einfluß der erneuerten Brüder-Unität hatten ja die Emigranten in Schlesien nichts dagegen, wenn sie auch Hussiten genannt wurden, manchmal nannten sie sich selbst so. Untereinander sprachen sie sich als Brüder und Schwestern an und strebten eine Gemeindeordnung an, die der brüderischen sehr ähnlich war. – Ihr Prediger Blanicki wollte sich von Jablonski ordinieren lassen, jedoch nicht um die Unabhängigkeit vom luth. Konsistorium zu erhalten (so Müller, 384), sondern weil er schon 1739 – nicht zuletzt auch unter dem Einfluß von Daniel Ernst Jablonski – von der katholischen zur reformierten Kirche konvertiert war. (Ordiniert wurde Blanicki 1745 von Sitkovius in Lissa.) 54 Die Senioren der polnischen Brüder-Unität in Lissa, besonders Sitkovius, zerfielen bald mit Zinzendorf. Sie beanstandeten seine Lehre, und die Mission der Herrnhuter unter den Mitgliedern der polnischen Brüder-Unität (sogar direkt in Lissa) ärgerte sie auch. (Briefe von Chr. Sitkovius an den Züricher Antistes Konrad Wirz aus den Jahren 1742–1743 im Staatsarchiv des Kantons Zürich, A 90.6.)

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Es ist auffällig wie wenig von den tschechischen Emigranten in Herrnhut heimisch wurden, obwohl der Wunsch, nach Herrnhut ziehen zu dürfen, unter ihnen immer wieder zu hören war. Bis 1737 hatten sie allerdings ein annäherndes Abbild von Herrnhut in Großhennersdorf oder in Gerlachsheim, und ab 1742 gab es Niesky55 und Berlin. Diese Tatsachen bieten jedoch keine voll befriedigende Erklärung. Nur vereinzelt fanden die tschechisch sprechenden Exulanten eine dauerhaftere Bleibe unter den deutschen Brüdern. Einer von ihnen, Zacharias Jelinek56 (oder deutsch Hirschel), war sogar unterwegs mit der Pilgergemeine und gehörte eine Zeitlang zum Jüngerhaus. Die böhmischen Emigranten des 18. Jahrhunderts hatten in ihrer Tradition ausgeprägte Ansichten und Wünsche, traten zu selbstsicher und selbständig auf, und wurden deshalb auch in der erneuerten Brüder-Unität als ein schwieriges und unnachgiebiges Volk betrachtet. Ihr sicheres Auftreten konnte sich jedoch unter einer entsprechenden, geduldigen biblischen Unterweisung schnell in eine sehr demütige Haltung wandeln, wie es auch viele Beispiele aus dem Leben der Berliner Brüder bezeugen.57 Solange 55 Für Niesky rechnete man am Anfang 140 böhmische Emigranten, nach 7 Jahren waren in der neuen Kolonie nur 60 von ihnen. Allerdings nicht alle, die es wollten, bekamen gleich die Genehmigung nach Niesky zu ziehen. Noch ca. 1755 meldeten sich einige Böhmen aus Gebhardsdorf vergeblich nach Niesky (Fragenkatalog o. D. im UA: R.6.B.I.a.5). Selbst Daniel Thomas blieb zuerst in Zittau, zog 1744 nach Herrnhut, ging zwei Jahre später als Arbeiter nach Berlin und erst 1750 kam er für acht Jahre nach Niesky. Einige, die ursprünglich in die neue Kolonie ziehen wollten, sagten später ab. Niesky lag ziemlich ungünstig »in der Heyde, da keine Landstraße und kein fließendes Wasser ist« (so Jonas Paul Weiß am 25.6.1742, UA: R.6.B.I.a.4). Die Siedler konnten keine Unterstützung erwarten, denn »der Herr v. Gersdorf – weil er über die Hälfte auf dem Gute schuldig – ist nicht im Stande vieles für die neue Gemeine zu tun« (ebd.). Es war auch kein Prediger im Ort, was für die Emigranten einen besonders schwerwiegenden Mangel darstellte. Es ist kein Wunder, daß Berlin für die Böhmen anziehender war, wo sich eine größere Gemeinschaft tschechisch sprechender Brüder befand und auch für geistliche Betreuung ausreichend gesorgt wurde. 56 Zacharias, geb. 1714 in Poþátky (Böhmen), 1739 aufgenommen in Herrnhut, in den Jahren 1740–1747 auf Reisen im Auftrag der Brüder-Unität, 1749 als Diakon ordiniert, 1748 in Hennersdorf, ab Mai 1749 im Jüngerhaus in London; 1750–1763 arbeitete er unter den Böhmen, vor allem in Berlin und Rixdorf. 1758 Presbyter-Ordination. Er starb 1763 in Berlin. Auch seine Geschwister fanden ihre besonderen Aufgaben in der Brüder-Unität. – Maria Katharina, geb. 1717, kam 1744 nach Herrnhut, 1747 wurde sie als Arbeiterin nach Niesky geschickt und 1752–1787 arbeitete sie unter den ledigen Schwestern in Berlin und Rixdorf. Sie wurde als Diakonisse eingesegnet. 1793 starb sie in Kleinwelka. – Elisabeth, geb. 1719, aufgenommen in Herrnhut 1741, wurde 1744 mit Nikolaus Andreas Jäschke verheiratet, um in Berlin unter den Tschechen zu arbeiten. Sie diente ihrem Mann im ersten Jahr als Dolmetscherin, starb aber schon im Januar 1746. – Jakob, geb. 1725, kam 1742 nach Herrnhut, 1754–1797 war er »Arbeiter« in Berlin und Rixdorf, 1764 wurde er als Akoluth eingesegnet. Er starb 1807 in Herrnhut. – Die Geschwister Jelinek (Hirschel) waren mit ihren Eltern 1731 nach Dresden emigriert. 57 Als Beispiel kann man Johann Pittmann nennen. Pittmann galt schon unter den Nichtkatholiken in Böhmen und später auch unter den Emigranten als eine anerkannte Autorität. Er war ein echter Nachkomme der alten Böhmischen Brüder, was vom Anfang an sicher auch dem

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jedoch die Großhennersdorfer Böhmen beim Prediger Liberda für ihre Anliegen Verständnis fanden, konnte Zinzendorf sie nicht nach seinem Wunsch lenken. Die Enttäuschung darüber war bei Zinzendorf so groß, daß er spätestens ab 1732 die böhmischen Emigranten sehr zurückhaltend behandelte. Die tschechisch sprechenden Erben der alten Brüder-Unität, konnten sich so nicht der gleichen Gunst Zinzendorfs wie die deutschen Mähren erfreuen.

»Arbeiter« Jäschke bekannt war. Der damals schon 58jährige Mann wurde von dem jungen Prediger Jäschke hart gemaßregelt, aber er ließ sich das demütig gefallen. Der verdiente Prädikant Georg Ostry, ein Ältester in Gerlachsheimer Exulantengemeinde und in Berlin ein angesehener Fabrikant, ertrug demütig nicht nur die Ablehnung des Aufenthaltes seiner Tochter in Herrnhut, sondern auch langjährige Abweisungen vom Abendmahl. Ähnliches demütiges Verhalten zeigten JiĜík Urban (ein anderer Prädikant und Fabrikant), Václav Toužil und andere mehr.

PIA SCHMID

Die Kindererweckung in Herrnhut am 17. August 1727

Die Kindererweckung in Herrnhut im Jahre 1727 ist eines der Ereignisse in der Geschichte der Brüdergemeine, das jedes Jahr mit einem eigenen Fest begangen wurde und wird: das Chorfest der Kinder, besonders der Mädchen am 17. August. In der Geschichtsschreibung der Brüder-Unität, in Biographien Zinzendorfs und in Lebensläufen von Mitgliedern der Brüdergemeine findet sich dieses Ereignis in unterschiedlichen Darstellungen überliefert. Von Interesse ist die Kindererweckung in verschiedener Hinsicht. In der Geschichte der Brüdergemeine stellt sie eines der zentralen Ereignisse in deren Gründungsphase (1722–1727) dar. Die Gemeine stand im Frühjahr 1727 kurz davor, an den inneren Spannungen zwischen den verschiedenen Siedlern auseinanderzubrechen. Neben der Verpflichtung auf die von Zinzendorf formulierten Statuten vom Mai 1727 und der gemeinsamen Abendmahlsfeier in Berthelsdorf am 13. August, die mit Erweckungserlebnissen einherging und von den Beteiligten als eigentliche Geburtsstunde der Gemeine verstanden wurde, markiert die Kindererweckung das dritte zentrale Datum der Konsolidierungsphase.1 Weiter handelte es sich religionsgeschichtlich um eine Erweckung, deren Protagonisten Kinder waren. Die Kinder wurden von der Erweckung als soziale Gruppe ergriffen, und ihre Umgebung nahm sie auch als solche wahr. Kindheitshistorisch schließlich läßt sich diese Erweckung, die von Kindern getragen und gestaltet wurde, als eine Kinderkultur sub specie religionis sehen. Zuerst werde ich das Ereignis Kindererweckung im August 1727 ausführlich darstellen. Dies zum einen anhand der Gemeingeschichtsschreibung, wie sie im Gemeindiarium, durch die Historiographen der Gemeine wie durch Zinzendorfs Biographen überliefert wurde, zum anderen anhand von Lebensläufen jener Personen, deren Namen im Zusammenhang mit der Kindererweckung erwähnt wurden; solche Lebensläufe stehen für diejenigen zur Verfügung, die in der Brüdergemeine geblieben sind. Deutlich werden dabei unterschiedliche Kontextualisierungen dieses Ereignisses in den jeweiligen Darstellungen (I). Danach frage ich, ob die Kinder wissen konnten, was eine Kindererweckung beinhaltet, wie sie vonstatten geht und 1 Zur Konsolidierungsphase im Frühjahr und Sommer 1727 vgl. Erich Beyreuther, Die große Zinzendorf-Trilogie, Bd. II: Zinzendorf und die sich allhier zusammenfinden, Marburg 1988, 164ff; Hans-Christoph Hahn u. Hellmut Reichel (Hg.), Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722 bis 1760, Hamburg 1977, 68–80, 93–108.

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was ein erwecktes Kind tut. Hier geht es um die Formtradition von Kindererweckungen, um Vorläufer und Vorbilder (II). Abschließend versuche ich eine kindheitshistorische Einordnung dieser Erweckung (III).

I. Das Ereignis Kindererweckung Die früheste Darstellung ist im Gemein-Diarium zu lesen, das Anfang der 1730er Jahre nach unmittelbaren Berichten verfaßt wurde. Hier finden sich für die Zeit zwischen 6. und 30. August 1727 mehrere Einträge. Unter dem Datum 6. August (1727) heißt es: »Nach einem dreytägigen Buß=Kampf brach in dieser Nacht Susanna Kühnelin, ein Mädchen von eilf Jahren, ins Leben hindurch, und wurde so kräftig angezündet, daß sie die sämmtlichen Mägdlein in Bewegung und Flammen setzte, welche den meisten Tag, wie vorige Nacht, in Gebet und Flehen zugebracht, und deswegen keine Speise zu sich nahm, damit sie nur verkündigen könnte die Tugend ihres Erlösers. Die Gelegenheit gab ihr ihre Mutter, welche, wie oben gedacht, den 2ten May mit großer Freudigkeit zu Christo, als der Sonne der Gerechtigkeit, die sie noch hier erblickte, dahin gegangen war; dieser freudige Heimgang und gantze Umstände blieben ihr vor Augen, bis es endlich so weit gekommen, daß sie drey Tage meistens mit Gebet und Weinen zubrachte; sonderlich aber die letzte Nacht betete sie heftig bis gegen Ein Uhr. Es hörte ihr eben in der Kammer liegender Vater ihr unwissend zu, wie sie vor Gott rang, bis sie um ein Uhr in ausgesprochene Freude ausbrach, ihren Vater ihrer Meinung nach aufweckte und sagte: Vater! Nun bin ich ein Kind Gottes geworden, und weiß ich auch, wie es meine Mutter war, und noch seyn wird; Er stellte sich, als wüßte er nichts. Er wollte es nicht glauben, sie aber überzeugt ihn gar gründlich«.2

Unter dem Datum des 17. August (des Tages, an dem die Kindererweckung mit dem Chorfest der Kinder begangen wird) findet sich kein Eintrag zur Kindererweckung, tags darauf ist dann von »erweckten Waisenkindern« die Rede, worunter die Mädchen der Berthelsdorfer Mädchen-Anstalt3 verstanden werden. Dort, heißt es weiter, herrsche »eine Generalveränderung in den Gemüthern, >...@ die jüngste Fräul. v. S.4 und C. (beteten) sehr herzlich, aber die Susanna Kühnelin mit apostolischer Kraft«.5 2 Gemein-Diarium 20. April – 21. Okt. 1727, Unitätsarchiv Herrnhut (UA) R.6.A.b.7, 24f. 3 Die Berthelsdorfer Mädchenanstalt hatte Zinzendorf 1723 für adelige und andere Mädchen errichtet. Sie wurde bis 1726 von Johanna Sophia von Zezschwitz geleitet, dies auch noch nach ihrer Heirat mit Friedrich von Watteville, danach von ihrer Schwester und dann von der Jungfer Bohnackerin. Vgl. Otto Uttendörfer, Das Erziehungswesen Zinzendorfs und der Brüdergemeine in seinen Anfängen, Berlin 1912 (Monumenta Germaniae Paedagogica 51), 24f. 4 Johanna Sophia von Seidewitz, verh. Molther, s. weiter unten. 5 Gemeindiarium, 30.

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Der nächste einschlägige Eintrag erfolgte am 23. August: »Unter die Kinder beyderley Geschlechts kam ein Gebets-Trieb, der ohne Bewegung des Herzens nicht zu sehen war, und es wurde eine wunderbare Erweckung in ihrer Versammlung durch die kleine Susanna Kühnelin, welche täglich ernstlicher und treuer wird, immer fortgeführt«.6

Drei Tage danach wird vermerkt: »Den 26. Dienstags gegen Abend versammelten sich die Mädgen untereinander sehr gesegnet, und auf dem Saal in der Singstunde war eine bewegende Gebetsvereinigung >...@. Mit den Kindern im Mädgenhause wurden immer neue Unterredungen gehalten«. Unter dem Datum des nächsten Tages ist zu erfahren, daß »die Zahl der stündlich betenden Manns-Personen bis auf 42 zu(nahm)«. An andrer Stelle sind in einer Liste diejenigen männlichen und weiblichen Mitglieder der Gemeine festgehalten, die an diesen Stundengebeten am 26. und 27. August teilnahmen – unter den 24 weiblichen Personen befinden sich auch sieben der Mädchen, die im Zusammenhang mit der Kindererweckung namentlich erwähnt werden. Erweckte Mädchen konnten also an den Stundengebeten der erwachsenen Frauen teilnehmen.7 Und noch einen Tag später wird festgehalten: »Am 28. fiel der Herr Graf darauf, sein Vermögen wegzuschenken, und sich ganz und gar der Gemeine zu widmen. Er konnte aber nirgends damit durchkommen«.8 Ihren Höhepunkt und Ausklang scheint die Kindererweckung tags darauf genommen zu haben. Im Gemein-Diarium ist zum Gang der Ereignisse zu erfahren, daß alles mit der Erweckung, eines elfjährigen Mädchens angefangen habe, dessen Mutter drei Monate zuvor gestorben war. In der Terminologie des Halleschen Pietismus wurde ihre Erweckung als »Bußkampf« gefaßt, ein Begriff, der in späteren Darstellungen nicht mehr verwendet werden wird.9 Als Datum dieser ersten Erweckung wurde der 6. August festgehalten. Weiter ist zu erfahren, daß Mädchen in der Mädchenanstalt Gebetszusammenkünfte hielten, daß Susanna Kühnel dort kraftvoll betete und man sich den Mädchen in speziellen Versammlungen widmete. Die religiöse Bewegung scheint immer mehr um sich gegriffen zu haben: 42 Männer (und 24 weibliche Gemeinemitglieder)10 trafen sich zu stündlichen Gebeten, eine 6 Ebd. 32f. 7 Vgl. UA R.6.A.a.15, 4. 8 Gemeindiarium, 35–37. 9 Daß Erweckungserlebnisse in der Brüdergemeine nicht nach Art des Halleschen Pietismus als Bußkampf gedeutet wurden, zeigt die in einer späteren Abschrift des Gemeindiariums eingefügte Erläuterung zu »Bußkampf«: »wie man damals zu sagen pflegte« (UA, Schwesternhausarchiv Herrnhut (SHAHt), Nr. 179, 2a, o.S.). 10 Hans-Joachim Wollstadt (Geordnetes Dienen in der christlichen Gemeinde, dargestellt an den Lebensformen der Herrnhuter Brüdergemeine in ihren Anfängen, Göttingen 1966, 230) geht sogar von insgesamt 77 betenden Personen aus.

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beträchtliche Zahl, wenn man bedenkt, daß insgesamt etwa 220 Personen in Herrnhut lebten, davon 87 Kinder,11 ja Zinzendorf spielte mit dem Gedanken, sein Vermögen weg zu geben, vermutlich aus dem Verlangen heraus, auch in materieller Hinsicht ein Gleicher unter Gleichen, Bruder unter Brüdern zu sein. Weiter erfahren wir, daß die Kindererweckung sich in bestimmten Praktiken bemerkbar machte: die Kinder schrieen und flehten, dies auch nachts, im Freien, sie lagen im Gebet (zu ergänzen wäre: auf den Knien), und sie taten dies getrennt in Mädchen- und Jungengruppen. Von Erwachsenen scheinen sie in ihrem »Gebets-Trieb« voll Rührung beobachtet worden zu sein. Im Crescendo der Darstellung wird greifbar, daß schon der Chronist die Zeit der Kindererweckung als etwas Besonderes wahrnahm. Ergänzungen (oder Auslassungen) erfährt dieser authentischste, weil in größter Nähe zum Ereignis entstandene Bericht in den nachfolgend kurz dargestellten klassischen Texten zur Frühgeschichte der Brüdergemeine. Deren erster Geschichtsschreiber, David Cranz, geht auf die Kindererwekkung im Zusammenhang mit den Konsolidierungsprozessen der Exulantenansiedlung ein: »Was die Gemeine am 13. August [Abendmahlsfeier in Berthelsdorf] erfahren hatte, das erfuhren auch ihre Kinder. Am 17. August und die folgenden Tage entstund unter denselben gleichfalls eine außerordentliche Erwekkung, die mit Weinen um Gnade und mit Frohlokken über die Versicherung derselben eine lange Zeit anhielt«.

Cranz erwähnt auch, daß es vor dieser Kindererweckung schon eine andere gegeben habe, nämlich in der Berthelsdorfer Mädchenanstalt, ausgelöst durch »eine Anrede des Herrn Grafen am 26 May 1727«. Die zweite Erweckung, heißt es weiter, »entstund aber eigentlich unter einigen Mägdlein, die bey den Ihrigen wohnten, erstrekte sich sodann auch auf die übrigen Kinder in Herrnhut und Bertholdsdorf, und hatte zugleich auf ihre Eltern und die übrigen Einwohner einen großen Einfluß«.12 Cranz kommt auf die Kindererweckung im Zusammenhang mit der Berthelssdorfer Abendmahlsfeier zu sprechen; über das Gemeindiarium hinausgehend stellt er einen Zusammenhang her zwischen der Herrnhuter Kindererweckung im August und einer früheren im Mai, die in Berthelsdorf stattgefunden hatte.

11 Hahn u. Reichel, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder, 93; Beyreuther, Große Zinzendorf-Trilogie II, 165 spricht von etwa 300 Personen. 12 David Cranz, Alte und Neue Brüder-Historie oder kurz gefaßte Geschichte der Evangelischen Brüder-Unität in den älteren Zeiten und insonderheit in dem gegenwärtigen Jahrhundert, Barby 1771. Nachdruck der 2. Auflage von 1772: Mit einem Vorwort von Gerhard Meyer. Hildesheim / New York 1973 (Zinzendorf: Materialien und Dokumente. Reihe 2. Bd. XI), 147f.

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Diese erste Mädchenerweckung kommt ausführlich im Lebenslauf von Johanna Molther, geborene von Seidewitz (1718–1801) zur Sprache. Mit ihrer Schwester zusammen hatte Zinzendorf sie, als ihr Vater in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, in das Berthelsdorfer Mädchenhaus aufgenommen. Zum Zeitpunkt der Kindererweckung lebte sie dort bereits eineinviertel Jahre. Johanna Molther erinnert sich: »Der H. Graf hielt uns wöchentlich Kinderstunden, die jedoch anfangs mit Gleichgültigkeit angehört wurden. An seinem Geburtstage, d. 26.t May 1727 fing er dieselbe mit dem Vers an: Jesu, aller Leben, leben! Ist doch nichts so starr u. hart, dem du nicht könntest Wärme geben, daß es werde lind u. zart. – Diese Worte drangen uns so mächtig zu Herzen, daß wir alle in Thränen zerfloßen. Von dem Tag an wurde ich um meine Seligkeit bekümmert, weinte u. betete oft in der Stille zu dem Heiland, daß er mich zu einem Ihm wohlgefälligen Kinde machen wolle; wir unterhielten uns auch untereinander von unsers Herzens Anliegen, insonderheit wenn wir von der Anna Nitschmannin u. Susel Kühnelin aus Herrnhut besucht wurden« 13.

Nach Johanna Molther hatte Zinzendorf die erste Kindererweckung ausgelöst. Auch hier ist von Tränen und Beten, Allein-Sein und Gemeinschaft die Rede. Neben Susanna Kühnel wird Anna Nitschmann (1715–1760) namentlich erwähnt, eine der zentralen Personen der frühen Brüdergemeine; drei Jahre später wird sie vierzehneinhalbjährig durch Losentscheid zur Ältesten der Gemeine bestimmt werden. Zur zweiten Kindererweckung, der Herrnhuter, schreibt Johanna Molther: »daß wir [die Berthelsdorfer Mädchen] Tag u. Nacht um Gnade weinten u. uns verbanden, nur für den Heiland in der Welt zu leben. Wir gingen fleißig auf den Hutberg, wohin auch die mit uns verbundenen Kinder aus Herrnhut kamen, da dann das eine hier, das andre dort auf dem Angesichte lag u. zum Heiland betete, manchmal bis spät in die Nacht«.14

In der ersten Biographie Zinzendorfs von August Gottlieb Spangenberg finden auch beide Kindererweckungen Erwähnung. Spangenberg kommt auf sie im Zusammenhang mit Zinzendorfs Sorge um die Erziehung der Kinder, besonders der Mädchenanstalt, zu sprechen. »Unser Graf hatte über die noch todten Herzen der Kinder in seiner Seele viel Bekümmernis. Als er aber an seinem Geburtstage über den Vers: Jesu, aller Leben Leben! Ist doch nichts so starr und hart, dem Du nicht köntst Wärme geben etc. aus Drang seines Herzens mit ihnen redete; so wirkte der Heilige Geist in ihrer vielen eine wahre Reue und Verlegenheit über ihren elenden Zustand, und ein Seufzen und Schreyen zum Heilande um Erbarmung. (...) und es entstand in kurzer Zeit, besonders 13 Lebenslauf von Johanna Molther; UA R.22.79.04. – Gedruckte Fassung in: Nachrichten aus der Brüdergemeine 1849 II, 37–49. – Vgl. auch den Lebenslauf von Auguste Brumm, geb. von Zezschwitz (1718–1802) UA R.22.65.91. 14 Ebd.

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vom 17 August an, eine allgemeine Erweckung unter den Kindern in Herrnhut und Bertholdsdorf. Bey dieser großen Bewegung der Kinderherzen war des Grafen Hauptsorge, daß die Gnadenarbeit nicht möchte gehindert werden. Einige, die unter ihnen gewesen, und nun im Dienste des Herrn angestellt sind, haben mir erzehlt, daß der Graf sich ihrer treulich angenommen, und wenn sie am Hutberge bey Herrnhut (wo sie hingingen, um allein zu seyn) um Gnade geweint und zum Heyland gebetet hätten, von ferne auf sie Acht gegeben habe, damit sie nicht gestört würden. Wenn sie dann von selbst aufgehört hätten; sey er zuweilen mit ihnen singend nach Hause gegangen. Die Frau Gräfin und andre Schwestern liessen sich ebenfalls die Pflege und Wartung dieser zarten Pflanzen des Herrn unter den Mägdgen, am Herzen liegen«.15

Im Unterschied zu den bisherigen Darstellungen geht Spangenberg auf die Kindererweckung nicht im Kontext der Abendmahlsfeier vom 13. August ein,16 sondern in dem Paragraphen, in dem er sich mit Zinzendorfs pädagogischen Projekten und seinem Verhältnis zu Kindern auseinandersetzt. Deutlich wird, daß die Kindererweckung unter Zinzendorfs Schirmherrschaft geschah; er widmete den Kindern, so Spangenberg, Aufmerksamkeit, Sorge und Zeit, wollte ihnen gute Bedingungen für ihre Frömmigkeitspraktiken schaffen. Karl August Varnhagen, der sich in seiner Zinzendorfbiographie stark an ihn anlehnte, stellte die Kindererweckung in den gleichen Kontext wie Spangenberg. Allerdings machte er sich, und damit nahm er eine Außenperspektive auf Zinzendorf ein und erwies sich zudem als ein Autor des 19. Jahrhunderts, Gedanken darüber, ob die Kindererwekkung ein authentisches Geschehen gewesen sei oder ob die Kinder nur nachgeahmt hätten. Er entschied sich für eine Deutung in Richtung Authentizität, die ihm durch »die ächte Frömmigkeit in Zinzendorf«17 verbürgt war. Am ausführlichsten wird die Kindererweckung im Lebenslauf von Susanna Kühnel, verheiratete Hennig (1716–1785) dargestellt. Im Gemeindiarium, bei Cranz und in dem Lebenslauf von Johanna Molther war sie uns schon als Protagonistin der Kindererweckung begegnet, später erwähnte Kölbing sie in seinen Gedenktagen namentlich, Plitt nannte sie in seinen Denkwürdigkeiten die »Kindererweckerin«.18 Wie sehr Susanna Kühnel in der Gemeine bereits zu ihren Lebzeiten mit der Kindererweckung identifi15 August Gottlieb Spangenberg, Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf, 8 Teile, Barby 1772–1775, 427f. 16 Die Abendmahlsfeier wird später behandelt; vgl. ebd. § 25, 436–440. 17 Karl August Varnhagen von Ense, Das Leben des Grafen von Zinzendorf, Berlin 1830 (Biographische Bibliothek 5), 125. – Weitere Darstellungen der Kindererweckung im Rahmen der frühen Geschichtsschreibung der Gemeine: (Friedrich Ludwig Kölbing), Die Gedenktage der erneuerten Brüderkirche, Gnadau 1821, 143–150 (Kap. IV); Johannes Plitt, Geschichte der erneuerten oder evangelischen Brüder-Unität, 1829, Bd. 2, 131–134 (UA NB.I.R.3.10.a). Schrautenbach erwähnt die Kindererweckung nicht in seiner Zinzendorfbiographie. 18 Plitt, Denkwürdigkeiten, 132, 138, 269.

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ziert wurde, geht daraus hervor, daß sie im Herrnhuter Sterberegister als »Erstling der Kindererweckung« charakterisiert wurde, eine Bezeichnung, die ansonsten für die ersten Täuflinge in der Mission verwendet wurde. 1727 lebte das Mädchen bereits zwei Jahre in Herrnhut; der Vater, ein Leinwandfaktor, war der erste Siedler aus der näheren Umgebung gewesen, der sicher auch durch seine fromme Frau zu dieser Übersiedlung veranlaßt worden war. Susanna Kühnel hatte ihren Lebenslauf nicht selbst aufgesetzt, sondern David Cranz hatte ihn 1770, als er an seiner Brüdergeschichte arbeitete, nach ihren Erzählungen aufgeschrieben. Im Leben von Susanna Kühnel scheint die Kindererweckung das wichtigste und prägende lebensgeschichtliche Ereignis gewesen zu sein. Dafür spricht, daß sie der Kindererweckung innerhalb ihres Lebenslaufs die ausführlichste Erzählpassage widmete, die hier ungekürzt folgt. »Alles dieses [das Sterben ihrer Mutter im Mai 1727] verursachte unsrer sel. Schwester viel Nachdenken. Ihre eigentliche Erweckung geschah aber an dem bekannten 17. Aug. 1727, an welchem Tage noch immer das Andenken der ersten MädchenErwekkung begangen wird. Hiermit ging es so zu: Der Gemeine-Aelteste Melch. Nitschmann wolte mit Georg Schmidt – der damals im Waisenhaus Hausknecht war u. nachher unter die Hottentotten (auf die Cap) gekommen – nach Mähren reisen; die Geschwister waren dagegen. Die übrigen Aeltesten, Dav. Nitschmann, der nachherige erste Brüderbischof, Martin Dober und Kühnel, hielten eine Conferenz und Liebesmahl mit ihm in Kühnels Hause, u. stellten ihm ihre Bedenklichkeit u. die Gefahr dieser Reise vor. Melch. Nitschmanns Final-Resolution war: Sie mögen ihn verbrennen, oder im Gefängnis verfaulen lassen; ich bin meines Rufs gewiß. Sie fielen darauf mit ihm auf die Knie, beteten über ihn, und segneten ihn zu seiner Reise. Die sel. Schwester sahe u. hörte alles mit an zu ihrer großen Verwunderung und Eindruck; und als Melch. Nitschmann ihr beym Abschied die Hand auflegte, und sagte: Susel, willst du nicht auch des Heylands seyn, du bist ja seine! so fing sie an zu weinen, ging ins Brunnenhaus hinter ihrem Hause, weinte u. betete bis Mitternacht, da sie von ihrem Vater nach vielem Suchen gefunden u. ins Bett geführt wurde. Sie hielt die ganze Nacht im Beten und Weinen an. Es war an einem Sonnabend d. 17 Aug. Am Sonntag früh erhielt sie die Versicherung, daß ihr der Heiland ihre Sünden vergeben habe«.19

Diese Passage bildet die Kernerzählung. Sie ist so angelegt, daß sich in der Schilderung ihr schweres persönliches Schicksal (Tod der Mutter) und die schwierige Situation in der Gemeine (Auseinandersetzungen über Nitschmanns mährischen Reiseplan) verschränken und in Susanna Kühnels Erweckung kulminieren. Weiter heißt es: 19 Lebenslauf von Susanna Kühnel, verh. Hennig. UA Gemeinnachrichten 1786. 1. Beilage zur 4. Woche I, 2, S. 11–35; kursiv gesetzte Passagen ergänzt aus UA R 22.76.25; gedruckte Fassung in: Nachrichten aus der Brüdergemeine 1842, I, 303–316, hier Gemeinnachrichten 1786, 15f.

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»Gleich früh ging Kühnel zum H. Grafen, u. erzehlte ihm, was mit seiner Tochter vorgegangen sey. Dieser ließ sie zu sich kommen, zugleich erfuhr er, daß an eben demselben Abend u. in eben derselben Stunde noch 3 Mädchen, jede in ihrem Hause, ohne von den andern was zu wissen, erweckt worden, und um Gnade weinten. Es war die Anna Nitschmannin, (nachherige Jüngerin),20 die Ros. Fischerin, nachherige Syndic. Nitschmannin,21 u. die Jule Quittin22. Diese ließ der H. Graf dazu kommen, fiel mit ihnen auf die Knie, und betete über sie. Diese 4 hielten immer zusammen, u. gingen miteinander beten«.23

Dadurch, daß in der gleichen Nacht noch drei weitere Mädchen ein Erwekkungserlebnis hatten und Zinzendorf mit diesen vieren betete, ihnen Aufmerksamkeit widmete, entstand ein enger Zusammenhalt unter diesen Mädchen, die im Fortgang der Kindererweckung zu deren tragender Gruppe wurden. Sicher ist, daß die vier Mädchen sich kannten. Julie Quitts Verwandte Anna arbeitete bei Susanna Kühnels Vater, Anna Nitschmann, Rosina Fischer und vermutlich auch Julie Quitt stammen aus Kunewalde in Mähren; sie teilen die Erfahrung der religiösen Verfolgung und der Flucht nach Herrnhut; Anna Nitschmann hatte die Erweckungsbewegung 1724 im mährischen Zauchtenthal miterlebt, wo einhundert bis zweihundert Personen im Haus ihres Vaters zu Versammlungen zusammengekommen waren.24 Susanna Kühnel schildert die weitere Ausbreitung der Kindererwekkung: »Hierdurch entstund auch eine Erweckung unter den anderen Mädchen in Herrnhut (davon die sel. Schw. Krügelsteinin25 auch eine war) Tag u. Nacht sahe man sie auf dem Huthberg weinen u. beten, und eine led. Schwester, die nachherige Magd Jesu unter den Negern, Verone Böhnerin,26 hielt sich zu ihnen. Wenn des Abends eine 20 Siehe oben. 21 Rosina Fischer, verh. Nitschmann (1714 Kunewalde – 1772 Zeist) – in ihrem Lebenslauf wird die Kindererweckung erwähnt: »Als kurz darauf die Gnade auch die Kinder-Herzen in Hhuth u. Berthelsdorf anfaßte, war sie mit unter der großen Kinder-Erweckung, u. konnte noch in ihren späteren Jahren nie ohne Rührung an die damals waltende Gnade zurücke denken« (UA R.22.11. 17; o.S.; vgl. auch den kürzeren Lebenslauf: UA R.22.26.20). 22 Zu einer Jul(i)e Quitt findet sich im Unitätsarchiv kein Lebenslauf; nur ein Eintrag im Kirchenbuch zu ihrem Tod am 11.12.1729 im Alter von zwölfeinhalb Jahren. Im Lebenslauf ihrer Schwester Anna Quitt (1706 Kunewalde – 1729 Herrnhut), wird erwähnt, daß Jule Quittin zusammen mit Susanna Kühnel, Anna Nitschmann, Rosina Nitschmann, Charlotte von Seydewitz, also Mädchen aus der Kindererweckung, 1729 an deren Beerdigung als Gruppe teilgenommen hätten. (Vgl. Lebenslauf Anna Quittin UA R.22.9.12, auch UA R.22.2.b.39 und R.22.3.b.68). 23 Lebenslauf von Susanna Kühnel, 16f. 24 Vgl. Anna Nitschmann, Lebenslauf, von ihr bis 1737 in ihrem 22sten Jahr eigenhändig verfaßt, in: Nachrichten aus der Brüdergemeine, 1844 I, 575–579, hier 575f. 25 Anna Kriegelstein, geb. Gold (1713 Zauchtenthal – 1778 Herrnhut). Sie erwähnt die Kindererweckung knapp in ihrem Lebenslauf; noch in Mähren hatte sie die dortige Kindererweckung 1724 miterlebt. Vgl. Lebenslauf Anna Kriegelstein, geb. Gold, in: Nachrichten aus der Brüdergemeine, 1886 I, 163–184, hier 165f. 26 Verone Böhner (1706 Carlsdorf in Böhmen – 1765 Bethanien/ St. Jan). Hier täuscht sich Susanna Kühnel: Verone Böhner kam erst 1729 nach Herrnhut. Vgl. Lebenslauf Verone Böhner,

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Gesellschaft von dem Hutberg kam, gingen sie um die Häuser herum u. sungen. Der Rosel Fischern ihre Mutter wollte sie einmal darüber bestrafen, u. sagte: die Kinder sollten das Maul halten, und nicht so singen u. schreyen, daß die ganze Gegend aufrührisch würde (denn in Strawalde konnte man alles hören) allein der H. Graf bestrafte sie, so wie der Heiland bey einer ähnlichen Gelegenheit die Pharisäer bestrafte. Von hier kam die Erweckung unter die Mädchen, die in der Anstalt in dem Baron Wattevilleschen Hause in Berthelsdorf wohnten. Da wurden die beyden Fräulein v. Seidewitz, nunmehrige Molthern27 und Laschanallin,28 u. die Fräulein v. Zeschwitz, nachherige Brumm29 (die alle drey noch am Leben sind) erweckt. Der Graf führte die sel. Schwester zu ihnen auf etliche Wochen, u. ließ manchmal die Herrnhutschen Kinder dorthin kommen, u. betete u. machte einen Bund mit ihnen. Manchmal zogen dortige u. hiesige Kinder zugleich auf den Hutberg, und begleiteten einander wechselweise unter Lobgesang nach Hause. Dann kam auch eine Erweckung unter die Knaben. Und überhaupt war damals nach dem 13 u. 17 Aug. eine solche Bewegung in der ganzen Gemeine, daß der Busch Tag u. Nacht nicht leer wurde von Brüdern u. Schwestern u. Kindern, davon hier eine oder etliche zusammen, u. dort wieder andre auf den Knien lagen, beteten, weinten und sungen«.30

Immer mehr Kinder, so die Erinnerung, wurden erweckt. Daß dies der Fall war, ließ sich an bestimmten Praktiken und deren Verbreitung festmachen: die Kinder beteten, weinten und sangen; sie lagen auf den Knieen; sie zogen draußen herum, mal nach Berthelsdorf, mal von dort zurück nach Herrnhut. Eine besondere Rolle spielte dabei der Hutberg,31 er scheint der Lieblingsort der erweckten Kinder gewesen zu sein, ihr Treffpunkt. Die Kinder, nicht nur tagsüber unterwegs, sondern auch in der Nacht, waren in ihrem frommen Tun nicht zu überhören. Das scheint von den Eltern keineswegs einhellig gebilligt worden zu sein: die Mutter eines der erweckten Mädchen störte sich daran, daß die Kinder laut herumzogen. Innerhalb der Erzählung fällt diese zeternde Mutter aus dem erweckten Tun merklich heraus, und genau das machte Zinzendorf ihr in seinem Eintreten für die Mädchen deutlich – daß er dabei mit Jesus verglichen wurde, ob dies jetzt auf die Erzählung von verw. Lehaus, geb. Demuth, in: Gemeinnachrichten 1766, VII. Beilage zur 22. Woche II 3 (Original nicht mehr vorhanden, nur Nachschrift); auch: R.22.2.a.27; R.22.14.72. 27 Vgl. oben. 28 Zu Charlotte Henrietta Erdmuth von Seidewitz, verh. Lachenal (La Chenal) findet sich kein Lebenslauf im Unitätsarchiv; sie heiratete 1743 in Herrnhaag den Basler Arzt Werner von Lachenal; im Lebenslauf von Anna Nitschmann wird sie im Zusammenhang mit der Kindererweckung erwähnt, (wie Anm. 24), 578. 29 Auguste Ottilie Brumm, geb. von Zezschwitz (1718 Saritsch/Oberlausitz – Herrnhut 1792). In ihrem Lebenslauf findet sich nur ein Hinweis auf die erste Kindererweckung vom Mai 1727 im Berthelsdorfer Mädchenstift. Vgl. UA R.22.65.91. 30 Lebenslauf Susanna Kühnel, verh. Hennig, 17–19. 31 Am Hutberg trafen sich seit einigen Wochen einige Männer, später auch Frauen zum gemeinsamen Beten und Singen, vgl. Gemeindiarium vom 22.7.1727, in: Hahn u. Reichel, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder, 104.

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Susanna Kühnel zurückging oder David Cranz das so sah, hebt die Bedeutung der Kindererweckung hervor. Am Ende dieser Passage aus Susanna Kühnels Lebenslauf findet sich der Hinweis auf eine Erweckung der Knaben (und dann auf eine allgemeine Erweckung, auch unter den Erwachsenen). Bis zu diesem Zeitpunkt scheint es sich also um eine Mädchenerweckung gehandelt zu haben, zumindest finden sich in der Gemeingeschichtsschreibung wie auch in den Lebensläufen nur Mädchen namentlich erwähnt – mit einer Ausnahme: einem Knaben namens Jacob Liebich (1717–1779), der, wie es heißt, als einziger der erweckten Knaben in der Gemeine blieb.32 Er lebte im Sommer 1727 mit anderen Knaben im Herrnhuter Gemeinhaus, das direkt neben dem Elternhaus von Susanna Kühnel lag. Liebich schrieb in seinem Bericht über die Kindererweckung: »Bey Gelegenheit, daß die Susanna Kühnel ganz besonders vom heiligen Geist angefaßt und getrieben wurde, sich öfters, und besonders des Abends und des Nachts, in ihres Vaters Garten unter den Bäumen auf die Knie zu werfen, und den Herrn Jesum um Seine Erbarmung zu ihrer wahren Bekehrung und zu ihrem Seelenheil anzurufen, welches denn mit inbrünstigem Gebet und Thränen geschah, hörten wir Knaben, die damals in dem zweyten Flügel des Gemeinhauses wohnten und die nächsten Nachbarn von Friedrich Kühnel waren, ihr ernstliches Gebet bey unserm Schlafengehen, indem wir unsere Schlafstellen unter einem einfachen Schindeldach hatten, und daher alles, was im Garten vorging, sehr gut hören konnten. Das griff unser Herz so an, daß wir nicht mehr so gleichgültig wie sonst zu Bette gehen konnten, sondern wir baten in den darauf folgenden Abenden unsre Vorgesetzten, mit uns auszugehn. Dieses währte so fort bis Ende August, so daß wir statt des gewöhnlichen Bettegehens auf die Raine zwischen das stehende Getreide und an Buschorte gingen, uns vor dem Herrn niederwarfen und um Erbarmung und wahre Bekehrung beteten. Unser Schullehrer war verschiedenmal mit dabey, und wenn er aufgehört hatte zu beten, und wir zurückgehen wollten, so gingen da einer, dort einer, dort wieder zwey, ein wenig auf die Seite, und fielen für sich auf ihre Knie und beteten zu Jesu. Die vornehmsten Plätze, die von uns mit viel hundert Thränen benetzt wurden, waren der Fußsteig hinter dem alten Witwenhause [=Haus Kühnels] nach dem Hutberg zu, der damalige Streifbusch von Gottlieb Webers Hause an, bis in die jetzige Allee nach dem Gottesacker, die Wiese unter dem Wiedebachischen Hause, die untere Hälfte des herrschaftlichen Lustgartens und die Gegend hinter dem Hause der Lederhandlung, wo jetzt die Cisterne und der Wiesenabhang sich befindet«.33

Derart ausführlich kommt Jacob Liebich hier zu Wort, weil wir ihm, neben Rainen und Buschorten gab Liebich sieben Orte genau an, eine Topogra32 Vgl. Otto Uttendörfer u. Walther E. Schmidt (Hg.), Die Brüder. Aus Gegenwart und Vergangenheit der Brüdergemeine, 2. Aufl. Gnadau 1914, 30; Die große Erweckung der Kinder und in specie der Knaben in Herrnhut im August 1727 betreffend, UA R.6.A.a.15.3. 33 Kölbing, Gedenktage, 148f.

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phie der Kindererweckung verdanken und auch den Hinweis, daß die Knaben es dem frommen Mädchen gleichtun wollten und es sie deshalb nachts nichts mehr in ihren Betten hielt, sie vielmehr singend, betend, weinend durch Herrnhut und Umgebung zogen. Um zusammenzufassen, was sich in den verschiedenen Texten als überlieferungswürdig festgehalten findet: Am Anfang des Ereignisses, das später die Kindererweckung genannt werden wird, stand das Erweckungserlebnis, genauer: der Bußkampf von Susanna Kühnel, eines einzelnen Mädchens in einer schweren lebensgeschichtlichen Situation, so ist es im Gemeindiarium zu lesen. Diese Erweckung griff schnell auf weitere Mädchen über, dann auch auf Knaben. In der Gemeingeschichtsschreibung wurde dies Anfangsereignis im Zusammenhang mit der Abendmahlfeier vom 13. August 1727, also der Konsolidierung der Gemeine, gesehen, in der Zinzendorf-Biographik im Kontext von dessen Sorge um die Kinder(erziehung). Die Lebensläufe gaben dem Genre entsprechend eine subjektivere wie auch detailreichere Sicht auf das Ereignis wieder, berichteten von Erschütterungen, vom Wendepunkt im Leben. Gemeinsam ist allen Darstellungen, daß die Kindererweckung als ein für die Gemeine wie für die einzelne Person hochbedeutsames Ereignis behandelt wurde. Die Erweckungen wurden als ein Geschehen überliefert, das zum einen ganz im Stillen stattfand, ja das einzelne Mädchen, das einzelne Kind suchte regelrecht die Einsamkeit, zum anderen suchten die Kinder einander, wurden die Erweckungen als Gruppengeschehen beschrieben. Entsprechend variierten die Orte: hier Kammer, Brunnenhaus, elterlicher Garten, dort Hutberg, freies Feld, verschiedene Plätze im Ort. Auffallend ist, wie stark es die erweckten Kinder nach draußen zog und daß dies auch abends, ja nachts geschah. Erweckte Kinder waren Kinder in Bewegung. Sie teilten bestimmte Praktiken: sie schliefen nachts nicht, einzelne vergaßen das Essen, sie weinten, flehten, schrieen, beteten, sangen, sie knieten nieder, ja sie warfen sich auf die Erde. Ihre Frömmigkeit praktizierten die Mädchen und Jungen expressiv. Im Körperlichen manifestierte sich das geistige, religiöse Geschehen, es wurde darin in seiner Besonderheit erzählbar.34 Die Kinder, das ist wichtig, waren in der Gemeine stark präsent, sie machten sich vehement bemerkbar und sie wurden als Gruppe wahrgenommen. Die insgesamt etwa drei Wochen dauernde Kindererweckung 34 Zur körperlichen Dimension religiösen Geschehens: Von der radikalpietistischen »Wahren Inspiration-Gemeine« in der Grafschaft Ysenburg-Büdingen ist überliefert, daß sich die Inspirationsreden von J.F. Rock immer mit unkontrollierten Konvulsionen anzukündigen pflegten, denen eine andere, »kontrolliertere« Art starker Bewegungen folgte. Vgl. Ulf-Michael Schneider, Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra 297), 62ff.

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stellte eine Art spirituellen, körperlich greifbaren Ausnahmezustand dar, einen Ausnahmezustand, für den die Kinder eigene Ausdrucksformen, man könnte sagen: eine eigene religiöse Kinderkultur fanden.

II. Erweckte Kinder: Vorläufer und Vorbilder Wie die unterschiedlichen Überlieferungen des Ereignisses zeigten, gehörte zur Kindererweckung, und das gilt vermutlich für Erweckungen überhaupt, ein bestimmter Kanon von Praktiken: Erweckte Kinder beten, singen, wienen, flehen, schreien, knien nieder, dies im Freien oder in der Kammer, am Tage, aber auch und gerade in der Nacht. Zwei Formen des Erweckt-Seins sind tradiert: die eine findet im Stillen ganz für sich allein statt, die andere in der Gruppe. Dieser Kanon der Praktiken legt die Vermutung nahe, daß eine Formtradition von Erweckungen existierte, anders gesagt: wer erweckt wurde, verfügte über Vorstellungen darüber, was Erweckte tun.35 Im weiteren möchte ich der Frage nachgehen, welche Bilder und Informationen über Kindererweckungen sich zu dieser Zeit im Umlauf befanden. Welche Vorstellungen von einer Kindererweckung konnten Herrnhuter und Berthelsdorfer Mädchen und Jungen im Jahr 1727 haben und worauf konnten diese zurückgehen? Konnten sie wissen, was erweckte Kinder tun? Standen ihnen Vorbilder zur Verfügung? In einem ersten Schritt werde ich auf Kindererweckungen als historisches Phänomen eingehen, auf Vorläufer, in einem zweiten auf Exempelgeschichten für Kinder, auf Vorbilder.

Vorläufer: Kindererweckungen als historisches Phänomen Mit Erweckung in Kontakt kommen konnten die Kinder durch unmittelbare Anschauung und dadurch, daß sie von Kindererweckungen erfuhren, die anderswo stattgefunden hatten. In den der Kindererweckung vorausgehenden Wochen war es in Herrnhut, wie bereits erwähnt, zur Erweckung einzelner Erwachsener gekommen, dann bei der bekannten Abendmahlsfeier

35 Ich übertrage hier Siegfried Bernfelds These, Tagebuchschreiber verfügten von Beginn ihres Schreibens an über eine Idee des Tagebuchschreibens, weil eine Formtradition des Tagebuchschreibens existiere, auf Kindererweckungen. Vgl. Trieb und Tradition im Jugendalter. Kulturpsychologische Studien an Tagebüchern, Leipzig 1931 (Reprint Frankfurt am Main 1977).

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vom 13. August zu einer Art Gruppenerweckung36. Die Kinder kannten also erweckte Erwachsene in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld. Was in Herrnhut geschah, war Teil einer großen, sich über Jahrzehnte ereignenden religiösen Bewegung innerhalb der protestantischen Christenheit Europas, besonders in Regionen, in denen Protestanten im Rahmen der Gegenreformation verfolgt wurden, wie beispielsweise im rekatholisierten Mähren oder Schlesien.37 Bedenken wir, daß 1727 zwei Drittel der erwachsenen Herrnhuter mährische Religionsflüchtlinge waren,38 die alle religiöse Verfolgungen, viele von ihnen Erweckungsbewegungen miterlebt hatten, so ist zu vermuten, daß die Herrnhuter und Berthelsdorfer Kinder Erweckungen aus mündlicher Überlieferung kannten, nicht zuletzt auch aus Erzählungen Gleichaltriger. In den Lebensläufen derjenigen erweckten Mädchen, die mährische Exulantenkinder waren, ist von Erweckungen, zum Teil explizit von Kindererweckungen 1724 in Mähren die Rede und entsprechende Praktiken wie z.B. »an einsamen Plätzen (niederfallen)« werden erwähnt.39 Einen anderen Vorläufer, den die Kinder aus Erzählungen kennen konnten, stellten die schlesischen Kindererweckungen von 1707/1708 dar.40 Wir wissen, daß enge Kontakte zwischen Zinzendorf und pietistischen schlesischen Adligen bestanden,41 auch, daß Christian David, der als erster Exulant in Herrnhut gesiedelt hatte und eine zentrale Rolle in der Gemeine spielte, mehrmals nach Schlesien gereist war.42 Als Auslöser der schlesischen Kin36 Vgl. Aus dem Diarium in Herrnhut 1727, in: Hahn u. Reichel, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder, 95–108, bes. 104ff. 37 Einen Überblick über Erweckungen bzw. Erweckungsbewegungen des 18. Jahrhunderts im protestantischen Europa und den amerikanischen Kolonien gibt W.R. Ward, The Protestant Evangelical Awakening, 2. Aufl. Cambridge 1994. 38 Vgl. Hahn u. Reichel, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder, 93. 39 Vgl. Lebenslauf Anna Seiffert, geb. Beyer (1716–1785), in: Nachrichten aus der Brüdergemeine, 1843 I, 635–640, hier 636; Lebenslauf Anna Kriegelstein, geb. Gold (wie Anm. 25), 164f; zu Anna Nitschmann s. oben. 40 Zu den schlesischen Kindererweckungen vgl. Beyreuther, Große Zinzendorf-Trilogie, II,154f; Norbert Conrads, Die Durchführung der Altranstädter Konvention 1707–1709, Wien 1971, 69–73 (für den Hinweis auf dieses Buch danke ich Herrn Ulrich Hutter-Wollandt); G. Eberlein, Die schlesischen Betekinder vom Jahre 1707/8, Evangelisches Kirchenblatt für Schlesien 2, 1899, 52f, 62f, 74–76; Ward, Protestant Evangelical Awakening, 71–73. Der schlesische Dichter Johann Christian Günther hat in seiner Ode »Als er sich seiner ehemaligen Jugendjahre mit Schmerzen erinnerte« seine Erfahrungen mit der Kindererweckung von 1707/08 festgehalten. 41 Zinzendorf war 1725 und 1726 nach Schlesien gereist und war auch kurz vor der Kindererweckung, vom 21. Juli bis zum 4. August 1727, in Schlesien gewesen. Beyreuther (Große Zinzendorf-Trilogie, II, 157) schreibt, Zinzendorf sei mit schlesischen Adligen »geistliche Blutsbrüderschaften für die gemeinsame Arbeit im Reiche Gottes« eingegangen, »Bruderschaften besonderer Art >...@ inmitten einer von Halle organisierten und dirigierten Adelsgesellschaft«. 42 Vgl. Ernst Julius von Seidlitz über den Anfang seiner Bekanntschaft mit Herrnhuter Brüdern und die Begegnung mit dem Grafen von Zinzendorf, in: Gustav Adolf Benrath [u.a.] (Hg.), Quellenbuch zur Geschichte der evangelischen Kirche in Schlesien, München 1992, 181f.

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dererweckungen gelten die Feldgottesdienste, die durchziehende schwedische Soldaten während des Nordischen Krieges abhielten. Weil in ganz Schlesien nur drei protestantische Kirchen zugelassen waren, mußten die schwedischen Soldaten ihre Gottesdienste zunächst im Freien stattfinden lassen, und das machten die Kinder ihnen mit ihren Beten auf dem Feld nach. Hinzu kam, daß die durch Karl XII. 1707 ausgehandelte Rückgabe von 121 geschlossenen Kirchen zu einer religiösen Hochstimmung unter den schlesischen Protestanten geführt hatte, die eine religiöse Bewegung wie die Kindererweckungen sicher begünstigte.43 Die schlesischen Kindererweckungen nahmen im Dezember 1707 in Dörfern Niederschlesiens ihren Anfang, griffen dann auf Städte und zuletzt auf Breslau über.44 Sie äußerten sich darin, daß Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren sich zuerst zweimal, dann dreimal täglich im Freien versammelten. Auch hier finden sich religiöse Praktiken, die von der Herrnhuter Kindererweckung bekannt sind: Die Kinder (hier ist zuerst nur von Knaben die Rede) bildeten einen Kreis, knieten nieder, beteten und sangen Kirchenlieder; sie wählten sich Anführer, die ihnen aus der Bibel vorlasen und auch die Lieder anstimmten.45 Wie es heißt, haben Eltern dies fromme Treiben dadurch zu unterbinden versucht, daß sie ihre Kinder einsperrten oder hart bestraften, auch die Obrigkeit drohte mit Strafen, allerdings ohne Erfolg. Aus Beuthen ist überliefert, daß sich bereits am 2. Januar 1708 (die erste Kindergebetsversammlung hatte am 28. Dezember 1707 stattgefunden) 200 Kinder zusammengetan hatten und daß 3000 bis 4000 Erwachsene zusammengeströmt waren, um diese frommen Kinder zu sehen.46 Man muß sich also um diesen Kreis bzw. die beiden Kreise betender Kinder (wenn Jungen und Mädchen zusammen 43 Vgl. Stellungnahme des Breslauer Inspektors Caspar Neumann zu den Gebetsversammlungen der Kinder, 1708, in: Benrath, Quellenbuch zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Schlesien, 168–170, hier 169; Conrads, Durchführung der Altranstädter Konvention, 70. 44 Vgl. ebd. 70. 45 In einer zeitgenössischen Schrift aus dem Umfeld der pietistischen Befürworter des Kinderbetens – es gab auch dezidierte Kritiker aus dem Lager der Gegner der Pietisten – wird aus Beuthen berichtet: »Die Kinder knien die gantze Zeit der Bet=Stunden auf der Erden/ haben einen Lectorem aus ihrem Mittel erwaehlet/ welcher nicht nur die Lieder/ so sie singen/ anfaengt/ sondern auch die Gebete gantz vernehmlich ablieset. Sie singen ordinair 7. Lieder/ und wird zwischen jedem ein Gebet/ ein Buß=Psalm/ und ein Capitel aus der Bibel gelesen; Zuletzt heben die Kinder alle zugleich die Haende gefalten in die Hoehe, und singen: O Du grosser GOtt erhoere/ etc. und beschliessen mit dem Gesange: Nun GOtt Lob es ist vollbracht.« Aus dem Liegnitzschen heißt es etwas später: es ist »fast kein Dorff mehr/ da sie [die Kinder] nicht taeglich in dem stillesten eingezogenen Wesen zusammen kommen und Bet=Stunden halten/ welches auch im Gebuerge und sonst hin und wieder geschiehet. >...@ Sie kommen des Morgens um 7. Mittags um 12.und des Abends um 4. Zusammen; sie singen 3. Lieder/ beten einen Psalm/ und lesen ein Capitel aus der Bibel. Die Devotion, die sie dabey zeigen/ ist ganz extraordinaire/ es wird keines von ihnen einen Blick aufsehen« (Zwei Berichte über Gebets- Versammlungen schlesischer Kinder, 1708. Zit. nach Benrath, Quellenbuch zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Schlesien, 167f). 46 Vgl. Ebd.

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beteten, bildeten sie jeweils eigene Kreise) oft ein Vielfaches an Erwachsenen denken. Die betenden Kinder schauten zwar, wie überliefert ist, niemals auf,47 konnten sich aber sicher sein, dabei mit großem Interesse von einer beträchtlichen Anzahl von Männern und Frauen, Jungen und Mädchen beobachtet zu werden. Über die Kinder berichtet ein Zeitgenosse, daß sie wegen des Betens das Schlafen und Essen unterließen, manche mit Absicht, weil sie nüchtern am intensivsten beten konnten. Auch von Weinen ist die Rede und von Bangigkeit, die sich bis zur Ohnmacht steigern konnte, wenn man die Kinder mit Gewalt von ihren Betstunden abhalten wollte.48 Daß in einer Siedlung von Religionsflüchtlingen, wie es Herrnhut war, Erzählungen derartiger Begebenheiten das Interesse von Kindern wecken und ihre Phantasie anregen konnten, ist mehr als wahrscheinlich.49

Vorbilder: Erbauliche Exempelgeschichten Über Kindererweckungen konnten Jungen und Mädchen nicht nur aus eigener Anschauung oder aus Erzählungen erfahren haben, sie konnten ihnen auch in den verbreiteten Exempelgeschichten begegnet sein. Innerhalb der religiösen Kinderliteratur bildeten Exempelgeschichten ein Genre der Erbauungsliteratur. Exempel, kurze biographische Beispiel- und Vorbildgeschichten, erzählten, was einem Kind widerfahren konnte; sehr beliebt waren diejenigen über letzte Stunden, biographische Erzählungen, in denen zwar das ganze Leben Thema war, besonders aber das vorbildlich fromme, von Freude auf das Jenseits getragene Sterben namentlich genannter Personen behandelt wurde.50 In Herrnhut wurden solche Exempelbücher ganz 47 »Die Devotion, die sie dabey [bei den Kindergebetsversammlungen] zeigen/ ist ganz extraordinaire/ es wird keines von ihnen einen Blick aufsehen«, ebd. 48 Vgl. Stellungnahme des Breslauer Inspektors Caspar Neumann zu den Gebetsversammlungen der Kinder, 1708, in: Benrath, Quellenbuch zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Schlesien, 168–170, 169. 49 Es existierten auch bildliche Darstellungen der Kindererweckung, auf denen im Kreise betende Kinder zu sehen waren. Conrads, Durchführung der Altranstädter Konvention, 73. In der Münzsammlung des Unitätsarchivs in Herrnhut befindet sich eine Gedenkmünze an die Kindererweckung in Schlesien im Jahr 1707 (Silber, 31 x 31 cm). Vorderseite: Darstellung der im Kreise betenden Kinder. Darunter: »Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hastu dir eine Macht zugerichtet«. Rückseite: »Kehr mich um so wirst du sehen, was in Schlesien geschehen 1707«. Für diesen Hinweis danke ich Dr. Paul Peucker. 50 Zu Exempelgeschichten s. Theodor Brüggemann u. Otto Bruhnken (Hg.), Handbuch der deutschen Kinder- und Jugendliteratur 1570–1750, Stuttgart 1991, Vorwort; Cornelia Niekus Moore, »Gottseliges Bezeugen und frommer Lebenswandel«. Das Exempelbuch als pietistische Kinderlektüre, in: Das Kind in Pietismus und Aufklärung, hg. von Josef N. Neumann u. Udo Sträter, Tübingen 2000, 131–141.

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sicher gelesen. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts ist überliefert, daß in der Ortsanstalt Exempelgeschichten im Unterricht verwendet wurden51 – wenn wir der Lebenslaufschreiberin Anna Dorothée Christoph glauben, mit großem Erfolg: sie wollte es, wie sie sich aus ihrem vierten Lebensjahr erinnerte, den Exempelkindern unbedingt gleichtun und beschrieb die Lektüre von Exempelgeschichten als Auslöser ihrer eigenen Erweckung bzw. ihres Durchbruchs im Glauben. Als Vorbild dieser Vorbildgeschichtenbücher gilt James Janeways A Token for Children (1676), das 1700 erstmals in Deutsch als Geistliches Exempelbuch für Kinder erschienen und 1717 bereits das vierte Mal aufgelegt worden war.52 Den Exempla, in der ersten Auflage waren es sieben gewesen, später wurden sie wesentlich vermehrt, schickte Janeway zwei Vorreden voraus, eine an Eltern und Lehrende, die andere an die Kinder. »Meine theure Lämmlein«, schrieb Janeway, »Hier könnet ihr wahrnehmen was andere gutartige Kinder gethan/ und beobachten/ wie sie in heiliger Einsamkeit geweinet und gebetet haben; wie ernstlich haben sie doch zu dem Herrn geschrye/ daß sie Antheil an dem HERRN JESU haben möchten?«.53

Dem allgemeinen Vorspann folgten Anweisungen in zehn Punkten. Unter Punkt 7 hieß es: »Begieb dich in die Einsamkeit/ entweder in dein Kämmerlein/ oder auf den Boden/ fall auf deine Knye/ weine >...@/ und flehe ihm [Christus]/ daß er dir seine Gnade und die Vergebung deiner Sünden schencke/ und dich zu seinem Kinde mache >...@ auf diese Art thue all Tage/ mit so grossem Ernst und Eyfer als möglich ist/ und das zum wenigsten zweymal des Tages«.54

Das erste Exempel handelt von einem neunjährigen Mädchen, Sarah Howley. Durch eine Predigt, so Janeway, wurde sie »mächtiglich auffgewecket/ daß sie sehr tief und nachdrücklich empfand den schlechten Zustand ihrer Seelen >...@/ sie weinete bitterlich/ wenn sie bedachte/ in welchem Zustand sie wäre«. Weiter heißt es: »Sehr fleißig war sie in dem heimlichen Gebät/ wie solches durch die/ so jezuweilen an ihrer Kammer=Thür horcheten/ leicht wahr-

51 Vgl. Lebenslauf Anna Dorothée Christoph, UA R.22.81.17. 52 Der vollständige Titel lautet: Geistliches Exempel=Buch Für Kinder/ Das ist/ Ein ausführlicher Bericht von der Bekehrung/ heiligem und exemplarischem Leben/ Wie auch Frölichem Tode unterschiedlicher junger Kinder/ vermahls in Englischer Sprache zusammen getragen Durch Jacob Jannaway. Anitzo aber In der Hoffnung einiges Nutzens/ sonderlich aber zur Beschämung vieler Alten/ zur Reitzung der Nachfolge/ und zum Beweis der Möglichkeit eines thätigem Christenthums/ Verteutscht von C(aspar) L(indenberg), Lübeck 1700. – Die Auflagen in Deutschland: 1700, 1702, 1709, 1717, 1732, 1729–31, 1735, 1767. Verbreitet wurden seine Exempel darüber hinaus dadurch, daß Herausgeber von Exempelsammlungen Janeway als Quelle nutzten. 53 Janeway, Geistliches Exempel-Buch, 13f. 54 Ebd., 29f.

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genommen ward/ und meistentheils war sie darin sehr inbrünstig/ hefftig/ und mit häuffigen Thränen«.55

Während ihrer Krankheit, an der sie starb, habe sie fast nur von Christus gesprochen, ihre Reden seien »nichts anders als eine aneinander hangende Predigt gewesen«.56 Der Vorrede konnten die kindlichen Leserinnen und Leser entnehmen, was einen frommen, Erweckungen befördernden Lebenswandel ausmacht, und das fromme verstorbene Mädchen aus der Exempelgeschichte führte ihnen vor Augen, wie man vorbildlich und erfolgreich Frömmigkeit praktiziert. In Vorrede wie Exempel finden sich Topoi, die uns bereits in den Darstellungen der Herrnhuter Kindererweckung begegnet sind: Das Alleinsein, das Flehen, Weinen, Schreien, das Niederknien, die Kammer. Susanna Kühnel betete wie Sarah Howley heimlich in ihrer Kammer. Von beiden hieß es, daß sie dabei belauscht wurden und so bezeugt werden konnte, daß sie nicht etwa religiöse Ergriffenheit vorspielten, sondern wirklich ein Erweckungserlebnis hatten; auch wurde von beiden berichtet, daß ihre frommen Reden wie Predigten wirkten. Es spricht für die Existenz einer Formtradition von Erweckungen, daß die erwecklichen Praktiken des Exempelbuches wie auch der überlieferten Kindererweckungen in vielen Punkten mit denen der Herrnhuter Kindererweckung übereinstimmen. Bezogen auf die beiden Varianten von Erwekkung können die Exempla als Vorbilder der Variante »Erweckung für sich allein« gelten, während die historisch überlieferten Kindererweckungen, die Vorläufer, eher die Variante der Kindererweckung als Gruppengeschehen inspiriert haben dürften.

III. Kindererweckung kindheitshistorisch Die Herrnhuter Kindererweckung von 1727 wurde in der Gemeingeschichtsschreibung, in der Zinzendorfbiographik und in den Lebensläufen, wie zu sehen war, als ein Ereignis beschrieben, das von Kindern getragen wurde. Kinder traten im Rahmen der Brüdergemeine hier als Akteure auf den Plan. Auch wenn die Konsolidierungsphase der Brüdergemeine im Sommer 1727 generell von Erweckungen begleitet wurde, so wurde diese Erweckung der Kinder als eine besondere, eben als Kindererweckung verstanden und tradiert. Kinder wurden als eine eigene von den Erwachsenen unterschiedene Gruppe gesehen, sie wurden als Kinder wahrgenommen. 55 Ebd., 34f, 37. 56 Ebd., 57.

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Für diese Wahrnehmung als eigene Gruppe spricht auch, daß Kinder in der Brüdergemeine in Generationsgruppen zuerst in eigenen Banden, dann in eigenen Kinderchören zusammengefaßt wurden; weiter gab es eigene Kinderbetstunden.57 Die Brüdergemeine erweist sich damit als ein Ort, an dem historisch früh, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Kindheit als eine eigene Lebensphase gefaßt und damit das praktiziert wurde, was in der Geschichtsschreibung als Entdeckung von Kindheit bezeichnet wird.58 Weiter scheint es in Herrnhut eine grundsätzliche Bereitschaft gegeben zu haben, dies fromme Tun der Kinder wohlwollend auszulegen. Das verstand sich keineswegs von selbst. Die erweckten Kinder machten sich ja deutlich bemerkbar mit Umherziehen, Beten, Flehen, Weinen. Artige Kinder waren sie nur bedingt. Auch wenn immer wieder vom heimlichen Beten die Rede war: diese Kinder verlangten Aufmerksamkeit. Sie waren weder zu übersehen noch zu überhören. Ihre expressiven Frömmigkeitspraktiken hätten genauso gut als Widersetzlichkeit oder Wichtigtuerei interpretiert werden können, wie es zwei Jahrzehnte zuvor in der schlesischen Kindererweckung geschehen war59 und wie es von der einen einschreitenden Herrnhuter Mutter überliefert ist, die sich aber nicht durchsetzen konnte. Wenn ich oben sagte, die Kindererweckung sei ein Ereignis gewesen, in dem Kinder als Akteure auf den Plan traten, so muß ergänzt werden, daß ihnen im Rahmen der Brüdergemeine auch der Raum dafür zugestanden wurde. Auch wenn in der Brüdergemeine grundsätzlich an der Erbsünde festgehalten wurde, läßt sich in dieser wohlwollenden Haltung gegenüber ihrem raumgreifenden expressiven frommen Tun ein Indiz für eine positive Wertung von Kindheit sehen.60 Aus der Perspektive von Kindheitsgeschichte und historischer Pädagogik ist dies ein bemerkenswerter Befund, gilt die positive Sicht auf Kindheit doch in aller Regel als Produkt säkularen Denkens bzw. als Proprium der Aufklärung, das gegen religiöse Überzeugungen durchgesetzt werden mußte. Die Herrnhuter Kindererweckung zeigt, daß 57 Vgl. Uttendörfer, Erziehungswesen Zinzendorfs. 58 Zur Entdeckung von Kindheit vgl. Georges Snyders, Die große Wende der Pädagogik. Die Entdeckung des Kindes und die Revolution in der Erziehung im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich, Paderborn 1971 (La Pédagogie en France aux XVIIe et XVIIIe siècle, Paris 1965); Philipp Ariés, Die Geschichte der Kindheit, München 1975 (L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris 1960). 59 Vgl. Conrads, Durchführung der Altranstädter Konvention, 71f. 60 Zu dieser positiven Sicht auf Kindheit in der Brüdergemeine und zur Entstehung des modernen Bildes vom Kind im Halleschen Pietismus vgl. Juliane Jacobi, Das Bild vom Kind in der Pädagogik August Hermann Franckes. Kinderbilder und Kindheit, in: Schulen machen Geschichte. 300 Jahre Erziehung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle, Halle 1997, 29–42; zur Modernität der Brüdergemeine vgl. auch Christine Lost, Lehrplanverinselung – Herrnhut zum Beispiel, in: Geschichte und Gegenwart des Lehrplans. Josef Dolchs »Lehrplan des Abendlandes« als aktuelle Herausforderung, hg. von Rudolf W. Keck und Christian Ritzi, Baltmannsweiler 2000, 79–98, hier 84.

Die Kindererweckung in Herrnhuth

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eine positive Wertung von Kindheit durchaus mit Frömmigkeit einhergehen konnte und daß fromme Kontexte eigene, eben religiöse Formen dafür generierten. Kindern konnten sich damit eigene Partizipationsformen eröffnen, die sie genutzt zu haben scheinen: als Mitspieler innerhalb der Gemeine und zugleich im Rahmen einer eigenen frommen Kinderkultur.

HANS-JÜRGEN SCHRADER

Zinzendorf als Poet

Anders als die Liederdichter des Pietismus insgemein scheint sich Zinzendorf im Gesangbuch der Evangelischen Kirche bis heute einer vergleichsweise günstigen Konjunktur zu erfreuen. Gegenüber den im Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG) der Nachkriegsjahre noch 79 den Vorläufern sowie den Dichtern des lutherischen Pietismus, der Brüdergemeine und des reformierten Pietismus zugeordneten Texte erscheinen im 1994 eingeführten Evangelischen Gesangbuch (EG) von diesen Autoren nur mehr 62 Lieder.1 Angesichts der dabei um ein Drittel erhöhten Gesamtmenge des Liedguts bedeutet dies eine Abnahme pietistischer Kirchengesänge von 16,38% auf nur noch 9,62%. Dichter vom Range (und von der theologischen Bedeutung) von Heinrich Müller oder Joachim Lange, Christian Friedrich Richter oder Friedrich Adolf Lampe sind dabei ganz aus dem Gesangbuch verschwunden, zuvor dort mehrfach Vertretene wie Gottfried Arnold, Ludwig Andreas Gotter oder Johann Jacob Rambach müssen sich mit halbierter Präsenz – meist nur einem Lied – bescheiden. Zinzendorf dagegen kommt mit fünf (statt vorher vier) aufgenommenen Stücken die Kategorie »leicht steigend« oder doch »fest behauptet« zu: eine dergestalt vermehrte Berücksichtigung haben unter den Pietisten sonst nur sein herrnhutischer Nachfolger und Bearbeiter Christian Gregor2 und auf reformierter Seite der (auf Kosten Gerhard Tersteegens) mit zwei zusätzlichen Liedern präsente Joachim Neander3 erfahren. Beim Aufschlagen der Zinzendorf zugeordneten Lieder wird man allerdings rasch inne, daß hier günstigstenfalls ein stark vermittelter Eindruck vom Wortlaut des Poeten zu gewinnen ist. Nur die erste Strophe von Lied 1 Der Vergleichbarkeit wegen beziehe ich mich bei dieser Berechnung auf die Ausgaben derselben Landeskirche. EKG: Evangelisches Kirchengesangbuch. Ausgabe für die evangelischlutherischen Kirchen Niedersachsens. Hannover, 4. Aufl., Hannover/Göttingen 1952. EG: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Niedersachsen und für die Bremische Evangelische Kirche, Hannover/Göttingen 1994. 2 Zu Gregor und der Goetheschen Kontrafaktur seines pennsylvanischen Missions-Reiselieds vgl. auch Paul Raabe: Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande, Halle 1999, 88–91; die Texte sind auch aufgenommen und kommentiert in Johann Wolfgang von Goethe: Träume und Legenden meiner Jugend. Texte über die Stillen im Lande, hg. v. Paul Raabe, Leipzig 2000 (Kleine Texte des Pietismus, H. 3). 3 Vgl. auch hier die neuverfügbare Textausgabe, Joachim Neander: Einfältige Bundeslieder und Dankpsalmen, hg. v. Rudolf Mohr, Leipzig 2000 (Kleine Texte des Pietismus, H. 4).

Zinzendorf als Poet

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198 »Herr, dein Wort, die edle Gabe« von 1725 gehöre ihm, sagen die (gegenüber dem EKG weithin präzisierten) Verfasserangaben am Liedschluß, die folgende sei eine Neanderbearbeitung Gregors aus dem Jahr 1778. Das Lied 251 »Herz und Herz vereint zusammen« findet man gleich zweifach überarbeitet: die wiederum Gregorsche Version wurde 1837 von Albert Knapp nochmals umgeformt.4 So sei N° 254 »Wir wolln uns gerne wagen« zusammengesetzt aus Strophen unterschiedlicher ZinzendorfLieder, N° 350 »Christi Blut und Gerechtigkeit« eine von Gregor redigierte Kontamination mit einem schon 62 Jahre vor Zinzendorfs Geburt entstandenen Leipziger Text, schließlich N° 391 wiederum eine Gregorsche Bearbeitung fast zwei Generationen nach Zinzendorfs Dichtung. Vergleicht man aber all diese noch heute in der evangelischen Christenheit deutscher Zunge gesungenen Lieder mit der gleichsam kanonischen Version des »Herrnhuter Gesangbuchs« (als »Christliches Gesang=Buch der Evangelischen Brüder=Gemeinen« in »durchaus revidirt[er]« 3. Auflage von 1741 mit den XII Anhängen sowie deren Zugaben aus den Folgejahren), dann sieht man, daß in den heute präsentierten Zinzendorf-Liedern unter seinem Namen nur mehr Rudimente präsent geblieben sind.5 Denn die 4 Die Tendenzen der Gregorschen »Sichtung« wie auch der Knappschen Überarbeitung werden mit Verständnis für ihre Motive, aber doch Mißbilligung der Resultate bereits in der zum 200. Zinzendorf-Geburtstag herausgegebenen Lyrik-Sammlung umrissen, die ihrerseits neue Mischfassungen und glättende Varianten präsentiert: Geistliche Gedichte des Grafen von Zinzendorf. Eine Auswahl zur Erinnerung an den Tag seiner Geburt vor zweihundert Jahren, hg. v. H[ermann] Bauer und G[uido] Burkhardt, Leipzig 1900, VIIIf. – Vgl. auch die Angaben zu diesem Lied in der Exponatbeschreibung des Ausstellungskatalogs: Graf ohne Grenzen. Leben und Werk von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Ausstellung im Völkermuseum […] und im Heimatmuseum der Stadt Herrnhut […] 2000 bis […] 2001 (Red.: Dietrich Meyer, Paul Peucker und Karl-Eugen Lagerfeld), Herrnhut 2000, 188. Als eines der bekanntesten Lieder des Grafen ist »Herz und Herz« (freilich in bearbeiteter Version) auch aufgenommen in der kleinen Anthologie von Versen und Sprüchen: Die Liebe wird uns leiten. Worte und Lieder des Grafen Zinzendorf, hg. von Günter Balders, Wuppertal/Kassel 1991(Oncken MiniBücher), 22–25. Dietrich Bonhoeffers Bearbeitung lehnt sich, kritisch gegenüber dem gemeindeuntauglichen Zinzendorfschen Originaltext, bewußt an Gregors Fassung an. Vgl. Matthias Meyer: Dietrich Bonhoeffers Impulse durch Zinzendorf und die Brüdergemeine. In: Rudolf Mohr (Hg.): »Alles ist euer, ihr aber seid Christi«. Festschrift für Dietrich Meyer, Köln/Bonn 2000 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 147), 919–957, hier bes. 925, 927f, 932–935. Bonhoeffer, dem etliche Zinzendorf-Lieder viel bedeuteten, fand doch andere »schwärmerisch« und »hart am Rande des Fleisches« (vgl. ebd., 933); »ein modriger Untergrund dieser Frömmigkeit« stieß ihn ab (so beim Durchmustern dieser Gesänge für einen Vortrag im Brief an Eberhard Bethke am 31. Juli 1936, vgl. E. Bethke: Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse, München 1967, 538). 5 Zitate im folgenden nach der Reprint-Ausgabe: Herrnhuter Gesangbuch. Christliches Gesang-Buch der Evangelischen Brüder-Gemeinen von 1735 zum drittenmal aufgelegt und durchaus revidirt, Teil I. Mit einem Vorwort von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer und einer Einleitung […] von Gerhard Meyer. [Lieder 1–972]; Teil II. Anhang I–XII [Lieder 973–2156]; Teil III. Zugabe [Lieder 2157–2355]. Mit einem Verfasserverzeichnis von Gudrun Meyer-Hickel, Hildesheim/New York 1981 (Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Reihe 4, Bd. III, 1–3). Gerhard Meyer: Einführung in Zinzendorfs dichterisches Schaffen, ebd., S. VII–LXVII, hier S. IX und XL,

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Hans-Jürgen Schrader

Eingriffe gehen weit über das bei der Redaktion historischer Kirchengesänge für den stets aktuellen Gemeindegebrauch übliche (prinzipiell sicher auch notwendige) Maß hinaus, verändern den Ursprungstext fast bis zur Unkenntlichkeit durch ein massiv auswählendes Zusammenziehen einzelner Strophen oder kombinierter Strophenteile, durch sprachliche Modernisierung mit bisweilen sogar sinnveränderndem Austausch von schwerverständlich oder dem heutigen Geschmack anstößig gewordenen Wörtern und Wendungen, aber auch durch theologische Revisionen in Rücksicht auf das juste milieu unserer Zeiten. Ich kann hier auf Hans-Christoph Hahns Hinweise zu den Verstümmelungen der Lieder Zinzendorfs in der Geschichte ihrer Transformation zurückverweisen.6 Wie grundlegend über das in der Revision für die je aktuelle Singepraxis normale Bearbeiten hinaus Zinzendorf als der zweifellos schon früh am radikalsten Zensurierte unter unseren bekannten Kirchenlieddichtern in Form und Aufbau seiner Lieder, in der sprachlichen Gestalt und bildlichen Kraft, aber auch in der Aussage und dogmatischen Besonderheit umgemodelt wurde, bedürfte noch einer grundlegenden Untersuchung. Nur zum Exempel kann ich die Ausmaße umreißen an den beiden heute bekanntesten Liedern, die das Gesangbuch noch unter seinen Namen stellt. »Jesu, geh voran auf der Lebensbahn!« – so hat der Hymnus des Grafen nie geheißen. Vielmehr begann so erst die zehnte Strophe seines Lieds 415 im »Herrnhuter Gesangbuch« (»SEelen=Bräutigam, o du GOttes=Lamm«), aus dem, ergänzt um einen Fremdzusatz als zweite Strophe, auch die ursprünglichen Strophen 4 und 11 als neue Strophen 3 und 4 entlehnt wurden. Die harsche Zusammenziehung und Mengung, für die man sich durchaus berufen könnte auf Zinzendorfs eigenes Adaptionsverfahren7 gegenüber allem, was ihn selbst in der Tradition als erbaulich ansprach, kappt freilich entschieden belangvolle Aussagen des Lieds. Über die verbliebene Selbstermunterung zur Pilgerschaft durch die Welt in der leidsamen Imitatio Christi hinaus war da nicht nur ein weit aktivistischerer Appell zu streiterlicher Ritterschaft, sondern auch ein mystisch-inbrünstiger Liebeston erklungen:

reflektiert, was bei solcher »Säuberung« eliminiert bzw. insbesondere von »Christian Gregor, dem großen Umdichter, und Spangenberg, dem großen Säuberer« verballhornend »verbessert« wurde. 6 Hans-Christoph Hahn: Das Bild Zinzendorfs nach seinem Tode. Beitrag im vorliegenden Studienband. 7 Beispielhaft ausgeführt etwa für das Lied »Christi Blut und Gerechtigkeit« (vgl. EG, N° 350) in Joseph Theodor Müller: Hymnologisches Handbuch zum Gesangbuch der Brüdergemeine. Reprint der Ausgabe Herrnhut 1916, Hildesheim/New York 1977 (Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Reihe 4, Bd. IV), 87.

Zinzendorf als Poet

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JEsu, süsse Lust, aus der Liebes=brust! Nimm mich ein in deine stille: ein genuß aus deiner fülle macht mich seliger als ein wollust=meer.«8

Überdies sind alle Ich-Appelle in Wir-Gebete umgewandelt; aus todessehnsüchtigem »nimm mich bey der hand, || weg zum vaterland« wird – als Projektion in eine ungewisse Zukunft – »führ uns an der Hand || bis ins Vaterland«.9 Und die Anrede »Liebster« ist ebenso in das (nach Zinzendorfs sonstigem Gebrauch) als Vokativ gedachte »Jesu« konventionalisiert, wie die doch gemeinhin namengebende erste Strophe offensichtlich wegen ihrer allzu barock anmutenden Apostrophen »SEelen=Bräutigam« und »GOttes=Lamm« weichen mußten. Die noch weit massiveren Umbauten von »Herz und Herz vereint zusammen« (EG 251) nach der Gregor-Knappschen Doppelrevision gehen in dieselbe Richtung. Wenngleich aus dem im »Herrnhuter Gesangbuch« achtstrophigen Gedicht, das der Dreiundzwanzigjährige ursprünglich der sächsischen Regierung zugeeignet und variantenreich bis auf zehn Strophen erweitert hatte,10 immerhin ein siebenstrophiges Lied (mit sechs Anlehnungen und einer vorbildlos hinzugesetzten Strophe) erhalten ist, ist kaum ein Stein auf dem andern geblieben. Eine Gegenüberstellung nur der ersten drei Strophen in der heutigen Kirchengesangfassung und in Zinzendorfs Version im »Herrnhuter Gesangbuch« mag das beispielhaft veranschaulichen:

8 Herrnhuter Gesangbuch, Nr. 415, Str. 3 (Teil I, 371). Zur Entstehung des Gedichts schon in Zinzendorfs Jugend zwischen 1719 und 1721 als Gelegenheitspoem auf Sophie Christiane von Brandenburg-Bayreuth-Culmbach vgl. Gudrun Meyer-Hickels »Verfasserverzeichnis«, ebd. Teil III, 97. Ich zitiere die Lieder im Gegensatz zum fortlaufenden Druck der Gesangbücher in ihrer verslichen Gedichtstruktur. Beim Zitieren nur weniger Verse ohne Einzug im laufenden Text markiere ich die Versgrenzen durch aufrechte Doppelstriche ||. Für die Liedstrophen verwende ich (zur Unterscheidung von deren Einzelversen) nicht die kirchenübliche Bezeichnung »Vers«, sondern die Terminologie der Lyrik-Analyse. 9 EG (wie Anm. 1), Nr. 391. 10 Meyer-Hickel: Verfasserverzeichnis (wie Anm. 8), 125, vgl. die Detailnachweise der Drucke bei Müller: Hymnologisches Handbuch (wie Anm. 7), 147.

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Heute ist zu singen: [EG]

Zinzendorf aber hatte gedichtet: [HG]

1. Herz und Herz vereint zusammen sucht in Gottes Herzen Ruh Lasset eure Liebesflammen lodern auf den Heiland zu. Er das Haupt, wir seine Glieder, er das Licht und wir der Schein, er der Meister, wir die Brüder, er ist unser, wir sind sein.

1. HErz und herz vereint zusammen sucht in GOttes herzen ruh, keusche liebes=geistes=flammen lodern auf das Lämmlein zu; das vor jenes Alten throne in der blut=rubinen pracht, und in seiner unschulds=krone sich den seinen herrlich macht. Offenb. 5.

2. Kommt, ach kommt, ihr Gnadenkinder, und erneuert euren Bund, schwöret unserm Überwinder Lieb und Treu aus Herzensgrund; und wenn eurer Liebeskette Festigkeit und Stärke fehlt, o so flehet um die Wette bis sie Jesus wieder stählt.

2. Kommt / ach kommt, ihr gnaden=kinder richtet wieder auf den bund, schweret unserm überwinder: er sey GOTT, und wir sein mund: er das Haupt, wir seine glieder: er das Licht, und wir der schein: bringt er Canaan herwieder, ey! so nehmen wir es ein. […]

3. Legt es unter euch, ihr Glieder, auf so treues Lieben an, daß ein jeder für die Brüder auch das Leben lassen kann. So hat uns der Freund geliebet, so vergoß er dort sein Blut; denkt doch, wie es ihn betrübet, wenn ihr euch selbst Eintrag tut.

3. Aber unter euch, ihr glieder haltet es auf diese maaß, daß vor seinen freund ein jeder gerne leib und leben laß.* So hat uns der Freund geliebet, so zerschmolz er dort in blut: denkt doch, wie es ihn betrübet, wenn ihr euch selbst eintrag thut: * 1 Joh. 3. v. 16.

Wo die Anstöße liegen, die das auswählende Zusammenschneiden der Strophen und die Eingriffe in Bilder und Diktion regieren, läßt sich an dieser Probe recht gut erkennen. Weniger die historische Ferne der Sprache erzwingt den Eingriff für die heutige Anverwandlung in der Gemeinde: denn sehr ist zu bezweifeln, ob man noch mit allgemeinem Verständnis rechnen darf für die Formel von »unserm Überwinder« in bezug auf Christus (keineswegs freilich in der vom heutigen Sprachgebrauch nächstliegenden Bedeutung, er habe uns überwunden, sondern im weithin obsolet gewordenen Dativ ethicus: er hat für uns [Sünde und Tod] überwunden), für

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das lexisch ausgestorbene »sich Eintrag tun« im Sinne von sich selbst schädigen, sogar für das dem Zinzendorf-Text substituierte Ersatzbild einer wieder zu »stählenden« Liebeskette. Vielmehr ist es die für alle frommen Konventionen des Gemeindegesangs zumutungsreiche, bisweilen unerträgliche Kühnheit der Zinzendorfschen Wortprägungen, die Sprunghaftigkeit seiner Gedankenführung, die Kraßheit seiner Metaphern, aber auch die Anstößigkeit der dadurch mit buchstäblicher Bildkonsequenz angedrungenen Lehrpositionen, die so ungewöhnlich weitreichende Umbauten regiert hat. Wenn Gott-Vater – in Übernahme seiner Bennenung Dan 7,22 in Luther-Bibeln des 18. Jahrhunderts – unter den Begriff »jenes Alten« fällt, ist das heute für ein singendes Gemeinschaftsbekenntnis zweifellos ebenso ein Skandalon wie die zunehmend terminologisch, also unmetaphorisch gebrauchte Jesus-Apostrophierung als »das Lämmlein« (ungewöhnlich genug ist uns ja schon seine Bezeichnung als »der Freund« geworden und gewagt das Bild, daß er am Kreuz »zerschmolz«, also zerronnen sei). Daß wir Gottes Sprachrohr seien, er der »Herwiederbringer« Canaans (in deutlicher Begriffsanlehnung an die a™poWata´stasiß–Lehre) erscheint um der Nähe zu radikalpietistischen und inspirierten Positionen willen supprimiert und ebenso der Appell an freudige Märtyrerbereitschaft. Allerdings ersetzt das von den Überarbeitern hierfür eingesetzte Gern-Sterben »für die Brüder« (in Aufnahme des Bezugs auf 1. Joh 3,16) Zinzendorfs Imitatio-Bild durch ein aus heutiger Sicht weit skandalöseres, der Gemeinschaft verpflichtetes »dulce et decorum«-Pathos des 19. Jahrhunderts. Im Ausmerzen von neologisch-krassen Bildprägungen für Zinzendorfs Streitertheologie, den keusch-lodernden »Liebes-Geistes-Flammen« oder der nachzueifernden »Unschulds-Krone« wird ebenso ein Sondergut eliminiert, das für das SingeBekenntnis der Gemeinde offenbar als anstößig befunden wird, wie mit der Streichung des hochbarocken Bilds der Blutrubinen-Pracht seine überplastische Ausmalung der Gnadenlehre mittels eines Anteilgewinnens an Blut und Wunden der Passion. Hier liegt offenbar auch der Grund für das Weglassen der dogmatisch zentralen Strophe vom Gottes Zorn geradezu wegschwemmenden Abwaschen der Erbsünde in »Herz und Herz vereint zusammen«: Nichts, als nur des Bräutgam’s stimme sey die regul unsrer that, weil er nicht mit löwen=grimme uns in staub getreten hat, sondern mit gehäuften strömen seines bluts den zorn ertränkt. Ey! wer will sich nicht bequemen, daß er sich ihm wiederschenkt.

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Ebenso offensichtlich liegt in der Kraßheit solcher Bilder der Grund auch für die vollständige Nichtberücksichtigung der produktivsten und originellsten Phase der Zinzendorfschen Lieddichtung für die Gesangbuch-Auswahl, in der just solche Züge noch gehäufter und drastischer zum Ausdruck gelangen. Die Rede ist freilich von den für Zinzendorfs poetische Neuerungen nach heute allgemeiner Auffassung unkonventionellsten Jahren 1743–1750, von der sogenannten »Sichtungszeit« der Gemeinschaft in der Wetterau.11 Wenn also in den allgemeinen Kirchengesangbüchern bis heute Zinzendorfs Namen vergleichsweise gut, der Wortlaut und Geist seiner Lieder dagegen (nicht allein in Rücksicht auf den winzigen hier überhaupt nur fortlebenden Prozentsatz seines lyrischen Gesamtschaffens) äußerst schlecht und schon gar nicht repräsentativ vertreten ist, dann deutet dies wohl an, daß man zwar dem charismatischen Kirchenmann, Gemeinschaftsgründer und Missionsorganisator ein bereitwilliges Gedächtnis zollt, daß man seine hochindividuelle Originalpoesie aber nicht – jedenfalls nicht mehr – für gemeinschaftssangbar hält. Die Gattung des gemeinsame Glaubensüberzeugungen aussprechenden Kirchenliedes scheint tatsächlich durch den spezifischen Gestus und die Funktion dieser Texte verfehlt zu werden. Denn schwer ist zu leugnen, daß die originalen Lieder zu großen Teilen ohne die wohlmei11 Vgl. schon den entsprechenden Passus bei Gerhard Meyer: Einführung in Zinzendorfs dichterisches Schaffen. In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Teutsche Gedichte. XII. Anhang und Zugaben I–IV zum Herrnhuter Gesangbuch (= Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften. Hg. von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer, Bd. II), Hildesheim 1964, S. LVIIf. Insbesondere liefert ein neues Fundament als erste gründliche literaturwissenschaftliche Analyse die auf dieses Textcorpus konzentrierte Dissertation von Jörn Reichel: Dichtungstheorie und Sprache bei Zinzendorf. Der 12. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1969 (Ars poetica. Studien, Bd. 10), 13–18. Zum Begriff »Sichtungszeit« auch Gerhard Meyer: Zinzendorf und die Gesangbücher als Ausdruck barocken Lebensgefühls. In: Herrnhuter Gesangbuch, Reprint, Teil I (wie Anm. 5), S. XII–XVII. Hans-Georg Kemper sieht in der bisher gründlichsten textanalytisch fundierten Überblicksdarstellung zu Zinzendorfs gesamter Gedichteproduktion im Kapitel »Religion als ›Herz=Sache‹ (Zinzendorf)« seiner Lyrikgeschichte gegenüber früheren Tendenzen zur Ausblendung oder Apologetik eine zunehmende Konvergenz in der neueren Forschung: »Heute besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß die ›Sichtungszeit‹ die kreativste Phase im Leben und Denken Zinzendorfs war.« Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/I: Empfindsamkeit, Tübingen 1997, 19–57, hier 49. Ein früherer Aufsatz desselben Forschers liefert die Grundlagen speziell zur Sichtungszeit und zu der auf dem Herrnhaag entstandenen Poesie. Hans-Georg Kemper: Geistliche Liebesspiele. Die Herrnhuter in Büdingen. In: Literarisches Leben in Oberhessen. Hg. v. G. R. Kaiser und Gerhard Kurz, Gießen 1993 (Gießener Diskurse, Bd. 11), 47–72. Bestätigung finden diese Neueinsichten in den von den historischen Ereignissen her neuen Grund legenden Abhandlungen zu dieser Phase, Hans-Walter Erbe: Herrnhaag. Eine religiöse Kommunität im 18. Jahrhundert (= Unitas Fratrum, H. 23/24, 1988); Paul Peucker: »Blut’ auf unsre grünen Bändchen«. Die Sichtungszeit in der Herrnhuter Brüdergemeine. In: Unitas Fratrum, H. 49/50 (2002), 41–94; knapp auch Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700–2000, Göttingen 2000 (Kleine Reihe V&R, Bd. 4019), 49–56 (Kap.: »Die Gemeinden in der Wetterau und der Blut- und Wundenkult«). Dazu kommen nun die eindrucksvoll plastischen Informationen von Craig Atwood im vorliegenden Band.

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nenden Retuschen der entschärfenden Bearbeiter jede durchschnittlichheterogene Pfarrgemeinde überfordern müßten, daß also auch die Herausgeber der Jubiläumsausgabe der geistlichen Gedichte Zinzendorfs vor hundert Jahren recht hatten, wenn sie die neuerliche Textredaktion ihrer ja weder Historikern noch Literarhistorikern zugedachten Auswahl begründeten: »Zinzendorf war im ersten Entwurf seiner Lieder oft sehr kühn, rücksichtslos kühn. Er mutete seinen Lesern und Hörern Gedankengänge und Sprünge zu, die ihm der einfache fromme Christ nicht nachmachen konnte.«12

Ganz entsprechend deutet in diplomatischer Formel auch die ZinzendorfKurzcharakteristik der im Anhang zum Evangelischen Gesangbuch zuhanden des Benutzers gegebenen »Liederkunde« an, daß der eigentliche und angemessene Sitz im Leben für diese Poesie die historische Situation der Formierung der besonderen, stark auf den Grafen ausgerichteten Gemeinschaft war und kaum der allgemeine Gottesdienst sein kann: »Mit […] seinen 2000 Liedern hat er das geistliche Singen als gemeinschaftsbildende Glaubensäußerung verstanden.«13 Diese Lyrik aber im ganzen zu durchschauen, schon gar auszuloten, stellt für die Literaturwissenschaft noch ein beträchtliches Forschungsdefizit dar. Eine verläßliche Gesamtausgabe, die auch jene zahllosen Varianten, Umbildungen und Neuzusammenstellungen sichtbar machte, die Zinzendorf selbst seinen Liedern in Neuausgaben oder durch die Einbettung in neue Funktionskontexte (den Umbau etwa von Gelegenheitsdichtung in Gemeinschaftsgesang) angedeihen ließ, die überdies kommentierend die Menge aktueller Bezüge erschlösse, fehlt: dringend erwarten wir hier die langprojektierte kritische Edition im Rahmen der »Texte zur Geschichte des Pietismus«.14 Eine unerläßliche Basis überhaupt zur Identifikation des Zinzendorf Zugehörigen schaffen Joseph Theodor Müllers »Hymnologisches Handbuch zum Gesangbuch der Brüdergemeine« von 1916 (Reprint 1977), Gudrun Meyer-Hickels »Verfasserverzeichnis zum Herrnhuter Gesangbuch von 1735« (1981 im Nachdruck zu dessen »Zugabe« von 1748)15 und Diet12 Bauer/Burkhardt: Vorrede. In: Geistliche Gedichte (wie Anm. 4), S. VII. 13 Evangelisches Gesangbuch (wie Anm. 1), 957f. 14 Der zentral den poetischen Texten des Grafen gewidmete Band ist seit längerem konkret erplant; einstweilen ist der Stand aber noch der in dem großen Rechenschaftsbericht des damaligen Vorsitzenden der »Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus« über die in ihrem Auftrag vorangetriebenen bzw. geförderten Projekte referierte. Gerhard Schäfer [†]: Die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 2004, 687: »Für die ZinzendorfAusgabe besteht seit 1969 ein besonderer Arbeitskreis, der sich regelmäßig trifft, bisher aber noch keinen Band abschließen konnte.« 15 Für beide s.o., Anm. 7 und 8.

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rich Meyers »Bibliographisches Handbuch zur Zinzendorf-Forschung« von 1987.16 Textanalytische Spezialstudien aber sind noch rar: nach eher geistesgeschichtlich-theologischen, dabei weithin apologetisch getönten Einordnungsversuchen wie Hans-Günther Huobers Dissertation über »Zinzendorfs Kirchenliederdichtung« von 1943 und den schon früheren Studien im Aufsatz-Umfang von Friedrich Wilhelm Kölbling17 oder von Rudolf Marx18 stellte die literaturwissenschaftliche Dissertation von Jörn Reichel über »Dichtungstheorie und Sprache bei Zinzendorf. Der 12. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch« im Jahr 1969, betreut durch Wilhelm Emrich, einen rechten Quantensprung dar. Analysiert wurde da allerdings nur, wie schon der Untertitel zu erkennen gibt, die Gemeinschaftslyrik der sogenannten »Sichtungszeit«, der Wetterauer Periode also auf dem Herrnhaag, die bis dahin auch in der Gemeine als Ausdruck peinlichster Entgleisungen und Angemessenheits-Verfehlungen gegenüber dem religiösen Sujet eher im Verborgenen gelassen oder verdrängt war, von Reichel nun aber gerade in ihrer Eigenwilligkeit als die sprachlich und bildlich ingeniöseste, ausdruckskräftigste und so partiell auch am kühnsten zukunftsweisende Tranche der Zinzendorf-Dichtung umgewertet wurde.19 Die Akzeptanz dieser mit dem Neudruck der »Teutschen Gedichte« im Ergänzungsband II der Zinzendorf-Ausgabe von 196420 bereits vorbereiteten Neubewertung zeigt sich daran, daß genau derselbe Text im Umfang von immerhin 477 Seiten innerhalb derselben Edition im II. und III. Band zum 16 Bibliographisches Handbuch zur Zinzendorf-Forschung unter Mitarbeit von Hans Christoph Hahn, Jörn Reichel, Hans Schneider und Gudrun Meyer, hg. von Dietrich Meyer, Düsseldorf 1987. 17 F[riedrich] W[ilhelm] Kölbling: Der Graf von Zinzendorf. Dargestellt aus seinen Gedichten. Eine Skizze, Gnadau/Leipzig 1850 (77 S.). 18 Rudolf Marx: Zinzendorf und seine Lieder, Leipzig/Hamburg 1936 (Welt des Gesangbuchs, H. 11), (52 S.). 19 Vorsichtig in diese Richtung wies bei Erörterung der »Sichtungszeit« bereits die wenige Jahre zuvor, fundiert auf die parallel herausgebrachte große Zinzendorf-Reprintausgabe und zweifellos auch im Gesprächskontakt mit Reichels Forschungseinsichten erarbeitete populäre Bildmonographie von Erich Beyreuther: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1965 (Rowohlts Monographien, Bd. 105), 114–132 (seitenidentischer, doch um einen Anhang vermehrter Neudruck unter gleichem Titel im Steinkopf-Verlag, Stuttgart 1975); in der Neuausgabe mit veränderter Bildausstattung und einer »Einführung von Peter Zimmerling« (S. V–XXIII, auch mit einem knappen Hinweis auf das poetische Werk, S. XVIIIf), 99– 108. Vgl. auch die Präsentation und Interpretation der Quellen: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722 bis 1760. Hg. von Hans-Christoph Hahn und Hellmut Reichel, Hamburg 1977, 162–176 (Kap. »Die Sichtungszeit 1743 bis 1750«). 20 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Teutsche Gedichte. XII. Anhang und Zugaben I–IV zum Herrnhuter Gesangbuch, mit der fast monographisch umfänglichen Einleitung von Gerhard Meyer: Einführung in Zinzendorfs dichterisches Schaffen, ebd., S. VII–LXVII. Der Wiederabdruck desselben Textmaterials in seiner revidierten dritten Auflage innerhalb dieser Edition erfolgte im Rahmen des Gesamtreprints des Herrnhuter Gesangbuchs.

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»Herrnhuter Gesangbuch« integraliter abermals faksimiliert wurde. Die jüngste umfassende Darstellung nun (1997) hat Hans-Georg Kemper im Kapitel »Religion als ›Herz=Sache‹ (Zinzendorf)« seines zugleich mit profunden Forschungsberichten aufwartenden Handbuchs »Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit« vorgelegt, eine erste Gesamtdarstellung, die unter aktuellliteraturwissenschaftlichen Standards historische und geschmackssoziologische, gattungssystematische, bild- und sprachanalytische Perspektiven einbezieht.21 Seither führen für die Lyrik, namentlich ihre befremdlichen Terminologien in der Sichtungszeit und ihre epochengeschichtlichen, poetologischen und v.a. theologischen Fundamente zwei neuere Aufsätze weiter, von Julian Kümmerle und von Vernon H. Nelson,22 die allerdings in die Analyse der Machart und der formgeschichtlichen Leistung kaum eintreten. Wie schmal bei alledem die Basis des Zugangs zu dem so umfangreichen und vielgestaltigen, dabei fortdauernd verstörenden Gedichtwerk immer noch bleibt, wird beispielhaft sichtbar daran, daß der Jubiläumskatalog des Jahrs 2000, »Graf ohne Grenzen. Leben und Werk von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf«, dieser Lyrik auf seinen 123 Seiten nur wenige Zeilen widmet23 und auch sonst in der sonst so fruchtbaren neuesten Zinzendorf21 Nachweis oben, Anm. 11. 22 Julian Kümmerle: »So suender=schamroth inniglich, so suender=maeßig spielerlich«. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und die Dichtung im 12. Anhang des Herrnhuter Gesangbuchs. In: Freikirchen-Forschung, Nr. 10, Münster 2000, 429–443; Vernon H. Nelson: The ›Geistliche Gedichte‹ of Zinzendorf and the Brüder-Unität 1745–1748. In: Mohr: »Alles ist euer« (wie Anm. 4), 827–838. Ebenfalls von der Poesie und ihren verstörenden Bildern, Begriffen und Vorstellungen ausgehend, wendet sich auch der Aufsatz von Hans-Walter Erbe: Herrnhaag – Tiefpunkt oder Höhepunkt der Brüdergeschichte? In: Unitas Fratrum, H. 26 (1989), 37–51, rasch der Abwägung der Ambivalenzen der »Sichtungszeit« für die Geschichte der Herrnhuter Gemeinschaft insgesamt zu. Vgl. dazu auch Sigurd Nielsen: Die Spiritualität der frühen Herrnhuter. In: Unitas Fratrum, H. 27/28 (1990), 133–155, hier 139f. – Hinzukommen Untersuchungen von Einzelsegmenten des lyrischen Werks oder Einzelgedichten: Otto Uttendörfer: Die Dichtungen Zinzendorfs von 1750 bis 1760. In: Unitas Fratrum, H. 1 (1977, Nachdr. 1979), 3–25; Dietrich Meyer: Zinzendorfs englische Gelegenheitslieder und das englische Gesangbuch von 1754. In: Unitas Fratrum, H. 6 (1979), 107–142; Hans-Walter Erbe: Die Herrnhaag-Kantate von 1739. Ihre Geschichte und ihr Komponist Philipp Heinrich Molther. In: Unitas Fratrum, H. 11 (1982), 7–90; Jörn Reichel: Die Wahrheit in der Empfindung. Zu Zinzendorfs geistlichem Lied »Christen sind ein göttlich Volck« [»Lied vor eine Königl. Erb=Printzeßin«]. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 2, hg. von Karl Richter, Stuttgart 1983 (Universal-Bibliothek 7891), 40–52. 23 Graf ohne Grenzen (wie Anm. 4), 188, Einführungstext zu drei Exponaten: »Für Zinzendorf war der Gesang der Gemeinde ein wichtiges Mittel, die Glaubensfreude zu äußern und Gemeinschaft zu bilden. Im Gesang stimmte die Gemeinde mit den himmlischen Chören ein. In den gottesdienstlichen Versammlungen der Brüdergemeine stand der Gesang an erster Stelle. Ein Gesangbuch war oft nicht nötig, da ein Kantor die Lieder vorsang und die Gemeinde die meisten Lieder auswendig kannte. Zinzendorf war ein begabter Liederdichter, der viele Lieder vor der Gemeinde aus dem Stegreif dichtete.« Im allgemeinen Teil des Katalogs dagegen, der Wirken und Wirkungen Zinzendorfs in monographischen Zugriffen vorstellt, vermißt man eine über diese Grundinformation hinausgehende Würdigung der Lieddichtung. Vollends fehlt eine spezielle Erwägung des Gedichtcorpus in der jüngsten Monographie, die Zinzendorfs Leistung in systemati-

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Forschung die Erörterung seiner Poesie meist randständig in die Position der allenfalls unter »ferner liefen…« zu erwähnenden Restthemen gerät. Dabei zeigt sich der Graf gerade in seiner Lyrik ebenso entschieden »ohne Grenzen« wie irgend sonst in seinen theologischen Innovationen und seinem weltumspannenden Missionswerk. Mit seinem ungehemmten, neologismenreich überströmenden Versefluß, mit seiner Einrichtung ganzer häuslich-gemeindlicher Dichtergruppen von bis zu 20 Mitstreitenden, die nach vorgesetzten Themen, Tönen, Eingangsversen oder Bildbereichen improvisierend und einander dann kritisch kontrollierend um die Wette dichteten, müßte er eigentlich das auch grenzenlose, insonderheit poetologiegeschichtliche und dichtungssoziologische Interesse eines jeden Literaturwisssenschaftlers herausfordern. Den auf bemessenem Raum ohnehin hoffnungslosen Versuch, die gräfliche Lyrik nochmals im Ganzen historisch zu situieren oder zu charakterisieren, ihre Entwicklung, Gattungs- und Themenschwerpunkte nachzuzeichnen, kann ich mir unter Verweis auf Reichels und Kempers solide Vorarbeit sparen; schon gar nicht kommt es mir zu, die theologischen Dimensionen zu umreißen oder gar den Grafen aufgrund seiner krassen, historisch zwar nicht beispiellosen,24 aber doch in ihrer orgiastischen Obsession längst vor der »Sichtungszeit« übersteigerten und von allen Zeitgenossen als extrem empfundenen Blut-, Wunden- und Leichnamsbildlichkeit neuerlich auf eine Psychoanalytikercouch legen zu wollen. Vielmehr beschränke ich mich auf ein paar wenige Hinweise und Textbeispiele zu jenen zwei Bereichen, in denen seine Poesie mir vorrangig innovativ und als ein noch isolierter Vorklang für nachfolgende oder gar viel spätere Epochen der Dichtungsgeschichte erscheint: Einerseits ist das seine vorauseilende Teilhabe am goethezeitlichen Wandel der Gelegenheitsdichtung aus konventionalisierter Sozialübung zu gesellschaftlichen Anlässen wie Geburtsfesten, Hochzeiten, Neujahrsfeiern oder Leichenbegängnissen hin zu einer aus konkreten Lebenseindrücken motivierten Empfindungspoesie. Zum andern ist hier seines inspirationsgegründeten Vorgriffs auf seit dem Barock erst vereinzelt vorbereitete Ausdrucksformen einer sprachexperimentellen Dichtung zu gedenken, mit einem freien Spiel der Wortfügungen, Klänge und Assoziationen, wie sie erst in unserem Jahrhundert in der konkreten Poesie und der écriture automatique ihren verbreiterten Ausdruck gefunden hat. schen Zugriffen darstellt, Arthur J. Freeman: An Ecumenical Theology of the Heart. The Theology of Nicholas Ludwig von Zinzendorf, Bethlehem, PA 1998, bzw. deutsche Ausgabe, ders.: Zinzendorfs ökumenische Herzenstheologie – ins Deutsche übersetzt von Barbara Reeb, Basel 2000. 24 Grundlegend für die Erforschung dieser dem Grafen als Erbe aus dem frühen BarockSpiritualismus zugekommenen Tradition bleibt die ungedruckt gebliebene Dissertation des Schriftstellers Paul Alverdes: Der mystische Eros in der geistlichen Lyrik des Pietismus, Diss. phil. [masch.] München 1921 (Univ.-Bibl. München: U 1922/8781).

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Zinzendorf also in seinen kühnsten Wörterexperimenten, Disjunktionen von Wort und Sinn mit dem Anreiz zu einem emotional engagierenden Dechiffrier-Rätselspiel für die mitsingende Gemeinschaft und den lesenden Einzelnen, in seinen einhämmernden rhythmischen Stakkati und einem puren, affekteerregenden Klangrausch, ein Kurt Schwitters oder Ernst Jandl avant la lettre – erscheint das nun nicht als eine befremdliche und jedenfalls ziemlich anachronistische Zurechtlegung? Zunächst einmal: Zinzendorfs Lyrik ist von der Regelpoetik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts her kaum zu fassen25 – ein Versuch, selbst im Vergleich mit Dichtern des zweiten und dritten Ranges, müßte zum Urteil führen: »total mißlungen!« Nicht nur fehlt in der überlang aneinandergereihten Strophenfülle oft ein konsistenter gedanklich-motivlicher Aufbau, die Argumentation erfolgt assoziativ-sprunghaft, und diese Assoziationen laufen häufig leer in stereotype Reihungen. Dazu kommen – nach Auffassung der Regelpoetik seiner Zeit – Kunstfehler, massive Tonbeugungen, überfüllte Metren (Verse also mit in ihrer Senkungsüberfüllung schrecklich vielen Füßen),26 höchst unreine und oft banale, in ödem Wiederholungszwang ständig wiederkehrende Reime: Immer und immer wieder reimt sich da »Liebe« auf »Triebe«, immer »Herzen« auf »Schmerzen«, »Leiden« auf »Freuden«, »Lieder« auf »nieder«, »Mund« auf »Herzensgrund« – seit den 1740er Jahren zunehmend auch »Seele« auf »Höhle«. Den Gegenpol zu einem dergestalt Naiv-Scheinenden bildet eine freilich nicht minder unlyrisch anmutende Tendenz zur Fremdwörterei – nicht allein zum französischen Adels-Kavalierston. Zum Verständnis solcher Erscheinungen muß man sich klar machen, daß Zinzendorfs Bezugspunkt und auch dichterische Schulung keineswegs die Poetiken oder Musterbücher der gelehrten Dichtkunst waren.27 Sofern er nicht einfach einen Lehrinhalt oder vorbildlichen Gefühlsausdruck in das metrische Muster und die Tonvorgabe eines bekannten Kirchenliedes hineingoß, konnte er sich auf zwei vollkommen unterschiedliche modellgeben25 Darauf, daß hier der Maßstab der traditionellem Ästhetik nicht anzumessen sei, legt Gerhard Meyer in seiner »Einführung in Zinzendorfs dichterisches Schaffen«, S. XLIX, LVIII und LXIV, besonderen Nachdruck. 26 Wortspielender Begriff bei Andreas Gryphius: Absurda Comica Oder Herr Peter Squentz. Schimpfspiel. Kritische Ausabe. Hg. von Gerhard Dünnhaupt und Karl-Heinz Habersetzer, Stuttgart 1983, 21986, 26 : »Der Vers hat schrecklich viel Füsse«. 27 Aus Gerhard Meyers Rekonstruktion von Zinzendorfs Lektüre (mit ihren Schwerpunkten in französischer und spanischer Literatur, antikem und mystischem Schrifttum, vgl. Meyer: Einführung (wie Anm. 11), S. XIf, XVIIf, XXXIV–XXXVII) und aus Paul M. Peuckers Auswertung einer Liste von 67 Büchern, die er sich 1758/59 in die Niederlande nachschicken ließ (Paul Peukker: Was las der Graf von Zinzendorf? Eine unbekannte Bücherliste aus dem Jahre 1758. In: Unitas Fratrum 38, 1995, 31–49), wird gut ersichtlich, daß Muster der deutschen Dichtung oder gar Dichtungstheorie und poetologische Rezeptbücher darin keine Rolle spielten.

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de Traditionen gründen. Einerseits gehörte zur höfischen Erziehung eines jeden Adligen ebenso wie auch (Goethe hat uns im 5. Buch des 1. Teils von »Dichtung und Wahrheit« einen launigen Bericht darüber hinterlassen)28 zum Comment eines Jura-Studenten im 18. Jahrhundert ganz selbstverständlich die Übung des rhetorischen Formel- und metrisch-prosodischen Formenschatzes der gesellschaftlichen Gelegenheitsdichtung, Casualcarmina zu Geburt und Tod, aber auch zu Hochzeiten, Neujahrs- oder Geburtstagsfesten.29 Zinzendorf, dem also diese Übung von Herkunft wie Ausbildung her doppelt nahegebracht war, hat deren Formen perfekt beherrscht, z.B. in seinen Epicedien im Wechsel des Nachrufs an den Verstorbenen und seinem Rückruf an die trauernd Hinterbliebenen. Die »Teutschen Gedichte« sind ja ganz überwiegend zunächst solche Poesien zu Gelegenheiten. Für das Originelle und Besondere Zinzendorfs aber weit wichtiger ist die andere Tradition, das seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts nämlich en vogue geratende Modell eines Poeten-Propheten, dem seine Verse inspirativ, also ungeplant und aus höherer Gnadenfülle zuströmen.30 Ein ungesuch28 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 9, bearb. von Lieselotte Blumenthal und Erich Trunz, Hamburg/München 1955 u.ö., 171–173, 175, vgl. Kommentar, 672. 29 Einen vorzüglich kompakten Überblick, zugleich auch über das »präzise u. ausführl. Regelwerk der Poetiken« und der zunftmäßigen Musterbücher für ein rhetorisch, metrisch-prosodisch und in der Reimverwendung perfektes, dem sprachlichen decorum adäquates Herstellen von Gedichten gibt (mit Lit.) der Artikel von Wulf Segebrecht: Gelegenheitsdichtung. In: Volker Meid (Hg.): Literatur Lexikon. Begriffe, Realien, Methoden (= Walther Killy: Literatur Lexikon, Bd. 13), Gütersloh/München 1992, 356–359, vgl. insbes. ders.: Das Gelegenheitsgedicht, Stuttgart 1977, und ders.: Zur Produktion und Distribution von Casualcarmina. In: Albrecht Schöne (Hg.): Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, München 1974, 523–535. 30 Diese für Zinzendorfs Dichtungskonzept fundamentale Traditionslinie, die von den »geistlichen Genies« etwa zwischen Quirinus Kuhlmann und den Inspirierten (tonangebend dort ihr führender Prophet und zugleich fruchtbarster Poet, Johann Friedrich Rock) mit ihrem als göttlich inspiriert erfahrenen Zustrom der Worte und Verse weiterreicht bis zu den Sturm- und DrangPoeten (und von da zu den Romantikern) mit ihrer willenlos, unerklärbar und unkontrollierbar aus den Kräften der Empfindung und des Gemüts hervorbrechenden Dichtung, habe ich verschiedentlich in Spezialstudien zu umreißen versucht und dabei die Zugänge der Forschung detaillierter ausgewiesen, als es hier möglich wäre. Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. ›Poetische‹ Aspekte der pietistischen Christologie. In: Pietismus und Neuzeit, Bd. 20 (1994), 55–74, bes. 66 und 70–74, bzw. ders.: Le Christ dans le cœur de ses fidèles. Quelques aspects »poétiques« de la christologie du piétisme. In: Le Christ entre orthodoxie et lumières. Hg. von Maria-Christina Pitassi, Genf 1994 (Histoire des idées et critique littéraire, Bd. 332), 49–76, bes. 62, 67–72; ders.: Inspirierte Schweizerreisen [Johann Friedrich Rocks Dichtungstheorie und Poesieschaffen, am Beispiel der Gedichte von den beiden großen Reisen durch die Schweiz von 1719/20 und 1727]. In: Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven. Hg. von Alfred Messerli und Roger Chartier, Basel 2000, 351–382, insbes. 353–355, 366–381 (an das dort 380f zur Geschichte der Inspirationstheorie Ausgeführte schließt sich hier der nachfolgende Absatz eng an); ders.: Propheten zur Rechten, Propheten zur Linken. Goethe im pietistischen Geleit. In: Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider, hg. von Wolfgang Breul-

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tes Hervorbrechen von in Versen und Reimen gebundener Rede, der Form nach ein kindliches Lallen, ohne die Schulung an den Kunstregeln der gelehrten Rhetorik und Prosodik, in der Bedeutung aber von durchdringender Kraft, das hatte den Apologeten einer neuen Offenbarung seit dem ausgehenden Barock als Erkennungszeichen einer göttlich inspirierten Ekstasis gegolten. Von der »Erfurtischen Liese«, einer der »begeisterten Mägde«, hatte es 1692 geheißen: »Wann sie den Paroxysmum hatte, redete sie meist in Versen, daher sie auch die pietistische Sängerin hieß«.31 Über des Perückenmachers und »Gottes=Cantzellisten« Johann Tennhardt »kindisch=einfältige Reimelein / welche einer der Reim=Kunst Erfahrener fast nicht wohl hören kan / weil sie mit den Grund=Reguln nicht überein kommen«, insofern sie zwar »Metricè und in Reimen«, aber doch unregelmäßig nach Art der »Dithyrambi« daherkamen, hieß es 1711, daß »GOTT als Author primarius sich dieses seines Poëmatischen Genii mag […] bedient haben.«32 Der Kleinbauer und Handwerker Christoph Schütz berichtet in seiner Autobiographie von 1728 aus der Jugendzeit, wie ihm, »wann ich draussen im Feld hinter dem Pflug herging und ackerte [...] mein Seufftzen, Bitten und Verlangen, wie auch mein Dancken und Loben GOttes [...] reimweiß= oder in Form eines Lieds in Sinn kam und solches thönete mir dann [...] bis ich etwa nach Hause kam [...]. So satzte ich mich dann geschwind nieder und schrieb solche Lied oder Reimen […] geschwind auf.«33

Kunkel und Lothar Vogel, Darmstadt/Kassel 2001 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, Bd. 5), 361–377, insbes. 370, 373–375; im Umriß auch bereits ders.: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, Göttingen 1989 (Palaestra, Bd. 283), 34–37 und 350f. 31 Artikel »Begeisterte Mägde«. In: Johann Michael Mehlig: Historisches Kirchen= und Ketzer=Lexicon [Bd. 1], Chemnitz 1758, 174f. 32 I.N.J. Anonymi Alethophili [M. Golther:] Schrifftmäsziges JUDICIUM THEOLOGICUM Von Johann Tennhardts […] Buche, o.O. 1711, 4, vgl. 6f. 33 [Christoph Schütz:] Das kündlich grosse Geheimniß der Gottseeligkeit […] von einem Christlichen Schüler, o.O. 1728, 81, vgl. Schrader: Literaturproduktion, 225, 266, 351, 476, 491. Wie dergleichen Erfahrungen und Bezeugungen von unstudierten und mit den Regeln der Dichtkunst unvertrauten Kleinhandwerkern und Bauern auch andere einfache Leute zu literarischer Selbstoffenbarung ermutigen konnten, zeigt aus dem Ostschweizer »Bauernpietismus« das Beispiel Ulrich Bräkers, vgl. seine »Lebensgeschichte« (1789). Ulrich Bräker: Sämtliche Schriften, Bd. 4: Lebensgeschichte und vermischte Schriften. Bearb. von Claudia Holliger-Wiesmann, Andreas Bürgi, Alfred Messerli, Heinz Graber, München/Bern 2000, 355–557, hier 514. Vgl. dazu Hans-Jürgen Schrader: Sphärensprünge vom Landleben zur Literatur. Von Bräker bis Brandstetter. In: Schreibsucht. Autobiografische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker (1735–1798). Hg. von Alfred Messerli und Adolf Muschg, Göttingen 2004 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 44), 93–115, hier bes. 99–102.

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Ähnlich mußte auch der Inspiriertenführer Eberhard Ludwig Gruber »wie ein Kind spielend reimen«34 und ähnlich, weit ungefüger als dem bekanntesten Propheten-Poeten unter den Inspirierten, Johann Friedrich Rock, den Zinzendorf immerhin sein eigenes Töchterlein aus der Taufe hatte heben lassen, flossen die Verse beispielsweise seinem Nachfolger in der Gemeindeleitung, Paul Giesebert Nagel,35 und anderen »Poëmatischen Genii« aus dem ungelehrten Pietisten-Volk gleich geistlichen Sturzbächen aus der Feder. Über das der eigenen Willkür entzogene Fortspielen der Weise sind Äußerungen Rocks häufig wie: »Endlich wurde mir das Lied in Sinn gelegt: O allerhöchster Menschen=Hüter usw. So bald ich es sunge, so bald wich aller Schmerz; Nach dem singen spielte das Lied im Geist fort, da ich dann folgendes Lied machte nach dessen Melodie:«

oder: »Unterm Liedmachen besuchte die Liebe mein Herz, darauf kam der Ausfluß des folgenden auch.«36 34 Mitteilungen über den Lebenslauf und Ende der in Gott ruhenden Brüder Johann Philipp Kämpf, Eberhard Ludwig Gruber [u.a.], Amana, Iowa 1875, 213–240 (»Eberhard Ludwig Grubers Lebens= und Glaubenslauf, Kampf und Ende«), hier 224. Näheres dazu und zu Grubers Gedichtsammlung »J.J.J. JEsus=Lieder für seine Glieder«, o.O. 1720–1725 (Neudruck: Ebenezer, NY 1857) Schrader: Inspirierte Schweizerreisen (wie Anm. 30), 360f. 35 Vgl. über die Reimereien von Rocks Nachfolger in der Gemeindeleitung der Inspirierten, Paul Giesebert Nagel, bei Gottlieb Scheuner: Inspirations=Historie oder Historischer Bericht von […] der wahren Inspirations=Gemeinde, Teil 1, Amana, Iowa 1884, 315 und 327; grundlegende Informationen über sein Wirken gibt die Monographie von Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297), vgl. Register. Von Nagel aber ist die Brücke zur pneumatischen Poesieauffassung Lavaters erweislich: die beiden sind auf der berühmten Geniereise Lavaters mit Basedow und Goethe in Bad Ems zusammengetroffen und haben öffentlich disputiert, Lavater hat den Propheten für seine physiognomischen Sammlungen porträtieren lassen. Auch Goethe, der bei dieser auf Spuren des geistlichen Geniewesens konzentrierten Reise tags darauf, am 29. Juni 1774 (vor dem gemeinsamen Besuch der Neuwieder Herrnhuter Kolonie), wieder zu den Freunden stieß, hat zweifellos aufgeschlossen und anteilnehmend von jenem emphatischen Diskurs gehört. Zu diesen Begegnungen und ihren literarischen Nachwirkungen vgl. Hans-Jürgen Schrader: »Unleugbare Sympathien«. Roentgen-Schreibtische, Magnetismus und Politik in Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«. In: Dazwischen. Zum transitorischen Denken in Literatur- und Kulturwissenschaft. Festschrift für Johannes Anderegg. Hg. von Andreas Härter, Edith Anna Kunz und Heiner Weidmann, Göttingen 2003, 41–68, hier 59–63. Über die dann in Neuwied gepflegten brüderischen Kontakte vgl. auch Horst Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande. Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert, Göttingen 1988 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 25), 77f. 36 Beide Zitate in: Das dritte Tage=Buch, das Br. Rock geschrieben, voll schöner Lieder, je, nachdem der Geist Ihn angetrieben [1718] = J.J.J. XVII. Samlung. Das ist: Der XVII. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschaften, o.O. 1776, 186, vgl. 201. Wie anachronistisch bereits die zünftige Dichtungslehre mit ihrem Ankreiden von »Kunstfehlern« in solchen inspirativen Versergüssen geworden war, zeigt beispielhaft U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 35), 108–114, an dem Spottgedicht des kaiserlich gekrönten Dichters

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In Zinzendorfs Gesangbuch-Vorreden, die über die Entstehung und Funktion der von ihm und in seiner Gemeine entstandenen Lieder Rechenschaft geben, findet man oft ähnliche Formulierungen. Die Lieder seien »ungekünstelt« erdacht und aufgeschrieben, »wie mir ist, so schreibe ich«, ja, er »bekam [die Verse] ins Gemüt«.37 Zinzendorfs eigenständige Leistungen und Anteile an der Erneuerung des Gelegenheitsgedichts kann ich hier knapp nur skizzieren.38 Von Anfang an treten bei ihm die Anlässe, zu denen das Gedicht entstand und auf deren Begängnis zunächst es ja zielte, deutlich zurück gegenüber einer die Ausgangssituation übersteigenden theologischen Aussage mit ganz aktuell realisierbarem Appellcharakter im Impetus seiner Streitertheologie.39 Nur zwei Beispiele mögen dies belegen: In ein Lied An Weyhnachten. wird anstelle der vom Anlaß her erwartbaren Frohbotschaft der Christgeburt eher (vermutlich, weil im Gottesdienst die Eucharistie gefeiert wurde) das erlösungbringende Kreuzesopfer eingesetzt, also eine Karfreitags- und Osterverkündigung: Blut und Wunden, :,: Haben uns mit GOtt verbunden; Denn Er ehrte unser Blut. Er ließ sich damit vermählen Und zu denen Menschen zehlen; Das macht unsern Schaden gut.40

Christian Gottlieb König auf die Verse »Des Sattlers Rock« und seiner Anhänger und am dadurch ausgelösten Literaturstreit. Umfassender über Rocks Lyrik sowie die »Inspirierten und die Literatur im 18. Jahrhundert« ebd, 108–189. In der Analogien und Unterschiede zwischen der herrnhutischen Frömmigkeit und jener in heutigen charismatischen Strömungen ausführenden Broschüre von Martin Theile: Herrnhuter Brüdergemeine und Charismatische Bewegung. Eine Orientierung aufgrund des Denkens von N.L. von Zinzendorf, Herrnhut 2000, wird zwar auf die Zusammenhänge von inspirativer Erleuchtung und Dichtung hingewiesen (S. 7: »So gibt es Berichte […] darüber, daß Menschen spontan unter der Leitung des Heiligen Geistes während einer Versammlung Lieder dichteten. Auch erinnern manche Darstellungen des Singens und Betens an Erfahrungen der heutigen Charismatischen Bewegung.«), dabei wird aber ängstlich darauf gesehen, eine scharfe Sonderung gegenüber Rock und den Inspirierten zu konstatieren (ebd., 11: »Weissagung und Prophetie«), als wäre der spätere Bruch zwischen Rock und Zinzendorf nicht vorrangig durch abwerbende Zugriffe auf die eigene Gemeindeklientel bedingt gewesen. 37 Zinzendorf: Vorrede. In: Ders.: Teutscher Gedichte Neue Auflage, Barby 1766 (= Erg.-Bd. II: Teutsche Gedichte, vgl. Anm 11), S. A 2v (mit dem Zusatz: »Die Regeln setze ich aus den Augen ums Nachdrucks willen«) und A 3v. Vgl. Kemper: Lyrik 6/1 (wie Anm. 11), 34 und Kümmerle: »So suender=schamroth« (wie Anm. 22), 431–434. 38 Vgl. ebd. G. Meyer: Einführung in Zinzendorfs dichterisches Schaffen, Erg.-Bd. II, S. XXXVIIIf und Kemper: Lyrik 6/1, 31f. 39 Auf diese Tendenz, die »sehr bewußte Veranschaulichung einer in sich geschlossenen Gedankenwelt« bei einer sonst eher unterentwickelten poetischen Bildphantasie weist entschieden Reichel: Die Wahrheit in der Empfindung (wie Anm. 22), 47, hin. 40 1720, Zinzendorf: Teutsche Gedichte VIII (wie Anm. 11), 23.

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Abweichend von festen Regelvorgaben können auch Gelegenheitsgedichte zu hochoffiziellen Anlässen nicht nur humoristisches Spiel mit komischen Tönen, z.B. kraft der im aufgeprägten Jambusmaß tonbeugenden Dreifachbetonung des (dem neuen Eheknecht antithetisch gegenübergestellten) Begriffs »Freýgelássenér«, sondern auch eine Tendenz zu freiem Improvisieren zeigen, die aus dem neuartig inspirativen Dichtungskonzept in die traditionsgebundene Gattung hineinverpflanzt scheint. Anstelle strenger Komposition und ökonomischer Straffung tritt hier der aus dem Stegreif gestaltende Poet willkürlich hervor, im beliebigen Ungefähr seiner Hinterlassenschaft dichtend (wie Jean Paul sagen würde) wie ein »spazierengehender Hund«: Auszug aus einem Hochzeit=Gedichte an den jungen Herrn Franken in Halle. Ein Ehe=Mann Ist übler dran, Dann Christi Freygelassener, Und eine Ehe=Frau hats schwer. […] Erlaube mir, hier abzubrechen, Herr Bräutigam, und nur mit Dir, Noch ein Ermuntrungs=Wort zu sprechen […].41

Der goethezeitliche Wandel der Gelegenheitslyrik vom auf einen bestimmten Anlaß hin geschriebenen Poem zu »bei Gelegenheit«, aus der Stimmung und dem Empfinden einer anrührenden Situation heraus, zufallenden Versen zeichnet sich in Zinzendorfs Gelegenheitsstrophen bisweilen schon ab: So lockt der Abend zu andächtigen Betrachtungen, die nicht nur in dem präzis resümierten Natureindruck auf die Seele, sondern auch in ihrer klangmalenden Eindrücklichkeit an Matthias Claudius gemahnen: Abend=Gedanken. […] Es ziehn der Sonnen Blikke, Mit ihrem hellen Strich Sich nach und nach zurükke, Die Luft verfinstert sich, Der dunkle Mond erleuchtet Uns mit erborgtem Schein, Der Thau, der alles feuchtet, Dringt in die Erde ein.

41 1722, Zinzendorf: Teutsche Gedichte XIX, ebd., 57f.

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Das Wild in wüsten Wäldern Geht hungrig auf den Raub; Das Vieh in stillen Feldern Sucht Ruh in Busch und Laub; Der Mensch von schweren Lasten Der Arbeit unterdrükt, Begehret auszurasten, Steht schläfrig und gebükt. Der Winde Ungeheuer Stürmt auf die Häuser an, Wo ein verschloßnes Feuer Sich kaum erhalten kan: Wenn sich die Nebel senken, Verliert man alle Spur; Die Regen Ström ertränken Der flachen Felder Flur. Da fällt man billig nieder Vor GOttes Majestät, Und übergibt Ihm wieder Was man von ihm empfäht: Die ganze Kraft der Sinnen Senkt sich in Den hinein, Durch welchen sie beginnen, Und dem sie eigen seyn. Das heißt den Tag vollenden, Das heißt sich wohl gelegt: Man ruht in dessen Händen, Der alles hebt und trägt. Die Himmel mögen zittern, Daß unsre Veste kracht; Die Elemente wittern; So sind wir wohl bewacht.42

Gleichsam die theologische Summe aller Gelegenheiten zieht das durch den kühnen Umschwung der beiden Schlußverse in den adhortativen Trochäus in die Aufforderung zu unmittelbarem Handeln einmündende Spruchgedicht

42 1721, Zinzendorf: Teutsche Gedichte XI, ebd., 31. Ein echtes Naturgefühl Zinzendorfs und seine Freude, unbegrenzte Landschaften im großen zu übersehen, berichtet G. Meyer: Einführung (wie Anm. 11), S. XXII–XXV, mit Hinweis etwa auf sein (in einer Zeit, als Bergsteigen noch als ein unsinniges Unterfangen angesehen wurde) Erklimmen des über 1300 Meter hohen Salève bei Genf im Jahr 1741, um den Blick über die Weite des Genfer Sees zu genießen.

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Hans-Jürgen Schrader Plan meiner Lehre und Wesens Motto am Schluß der Vorrede. Mein Zeugnis vor der Welt Bleibt bey der Gnad und Kraft; Beym Blut; Beym Lösegeld Von der Gefangenschaft: Und daß wir ihm schon auf Erden Reichlich sollen dankbar werden.43

Weit interessanter aber als solche gelegentlich schon einmal auf neue Entwicklungen hin offenen Auffrischungen der im Prinzip am leichtesten lernbaren Tradition herkömmlicher Poesie-Übung sind freilich, im Faszinosum der gelegentlich aufblitzenden Genieleistung wie auch im Tremendum einer nicht selten öde leerlaufenden Geschwätzigkeit und elenden Reimeschmiederei die dem neuartigen inspiratorischen Typus zuzuordnenden Lieder. Sie sind nicht nur weit eigenständiger, sie machen vielmehr auch bereits den größeren, zweifellos charakteristischeren Teil der Lyrik des Grafen aus. Denn seiner begeisterten Gemeine galt solches Stegreif-Geschaffene gerade nicht als etwas ohne rechte Bemühung lieblos und mangelhaft Hingeschludertes, sondern als Kennzeichen des von oben begnadeten charismatischen Ingeniums.44 Für diesen Typus gebe ich nur mehr eine Reihe beispielhafter Proben, dazu einige, die im ekstatischen, Zuhörende und Mitsingende mitreißenden Stakkato ihrer Wort- und Klangkaskaden die Wirkungen des Anschwalls inspirativer Begeisterung bis zum äußersten, fast bis zur Trance steigern. Angesichts der Suggestivität solcher Texte kann ich meinen Kommentar auf ein Minimum beschränken. Kühne Neologismen, v.a. in der Wortkomposition, daneben auch schiefe Bilder, die aus willfährigem Aufgreifen der vom Reimzwang diktierten bzw. dem Singenden unwillkürlich zufallenden Begriffe entspringen, dabei ein sujetferner Kavalierston, der mitbewirkt wird durch Zinzendorfs Neigung zu manieristischem Fremdwörterspiel zeigt das Lied

43 1735, Zinzendorf: Teutsche Gedichte, Vorrede, ebd., S. A 4v. 44 Damit hängt auch Zinzendorfs programmatische Unlust am Ausfeilen und Redigieren zusammen, die freilich dem inspirativ-ingeniosen Zuflug der Gedanken und Verse nachträglich die Flügel stutzten. Auf die unbedenklich akzeptierte genialische Rohheit dessen, was er so »ungezwungen aus meinem Herzen herausgesungen« hatte (Gedicht auf Jonas Paulus Weiß am 23. Januar 1757), weist Otto Uttendörfer: Aus Zinzendorfs Alltagsleben. In: Mitteilungen aus der Brüdergemeine 1939. 3. H., 55–84 [mit Forts. im 4. H., 85–108], insbes. 60–63, hier 62 hin, nicht ohne das dabei bisweilen entstandene Produkt als »furchtbare Reimereien« in »unmöglichen Dichtungen« zu qualifizieren. Wie der »Vorbericht« zur Neuauflage, Zinzendorf: Teutsche Gedichte (wie Anm. 11), S. A 5v, ausweist, wurden glättende Durchsicht und Autor-Redaktion aber auch ebenso wenig grundsätzlich verworfen.

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DIe schrift redt so naturell Die man JEsu erst geschlitzt, seine bunds=glieds=wunde: was die dörner=cron geritzt: was der holz=blok schunde: Was ums creuz am rükken rum furchen=züge wären, das kan seiner wunden summ wunderbar vermehren, Theures volk der gnaden=wahl von dem blute sausend, weistu, daß der wunden zahl seyn soll bey fünf tausend. Ave, wunden=legion! singt mit tausend thonen alles was die läsion des speers darf bewohnen.45

Wie stark das Einmontieren fremdsprachiger Wörter mit Überraschungseffekten Spielcharakter hat, die die mitsingende Gemeine über ein Bewußterhalten ihrer weltweiten Konnexionen hinaus zu einer verschworenen Gemeinschaft Vertrauter mit sondersprachlicher Abgrenzungslust gegenüber den Nichtzugehörigen macht (ganz wie bei Kindern, die sich als Gruppe definieren, indem sie spielerisch ihre eigene Sprache erfinden), zeigen die Strophen GEmeine, mein Herz In lumpen und heu verhülleter Boy*, das herze entbrennt, so oft man dein kripplein uns zeigt oder nennt. * Angl. Knäblein. Ihr schäfelein all im lieblichen stall, die blutige pracht hat euch zu der sehenden wunder gemacht.46

45 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 1878, S. 1800. Alle im folgenden aus diesem Sammelwerk zitierten Texte sind in Joseph Theodor Müllers »Hymnologischem Handbuch« oder Gudrun Meyer-Hickels »Verfasserverzeichnis« als von Zinzendorf selbst stammend ausgewiesen. 46 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm 5), Nr. 1890, S. 1812.

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Ein ungebremstes Eingehen auf die sich willenlos und jedenfalls ungesucht einstellenden, also als empfangen in inspiriertem Zustrom empfundenen Wörter und Bilder führt bis an die Grenze einer écriture automatique. Von einem Ausgangsbild her läßt sich der frommbegeisterte Poet über beliebige Reimassoziationen forttreiben: Wie arm ist doch ein menschlich herz […] Ein admirabler vortheil ist seit einger zeit vorhanden, seitdem das lämmlein JEsus Christ im stuhle aufgestanden, und sich mit seinem rothen strich der heerde präsentiret; ich meine den empfangnen stich, der unser heil vollführet: Seitdem ist herz und mund geschmiert, die ohren sind bestrichen, die sachen werden kaum berührt, so werden sie geglichen; und ehe eines sünders mund das wort beschliessen können, so fühlt des andern herzens=grund das draus entstandne brennen. […]47

Wenn auch freilich das Begriffsinventar theologischen Sinn aufruft und der Gemeine Kernpositionen ihrer Glaubenslehre ohrwurmartig iteriert, scheint für die vorrangig affektische Religiosität die kindliche Ausgelassenheit eines gemeinschaft-zusammenschweißenden Jesus-Närrlein-Spiels48 bedeutsamer als der dogmatische Gehalt des Gesungenen:

47 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh., ebd., Nr. 1943, S. 1855. 48 Über den Kult der frühkindlichen Vollempfindung (noch vor einem rationalitätsbedingten Verlust präexistenter Erfahrung und Einsicht – so wie ihn dann ja die Romantiker und nach ihnen das neoromantische Fin de siècle, insbes. Hofmannsthal und Altenberg, übernehmen) und über dessen oft kindische Ausdrucks- und Spielformen während der Sichtungszeit (ähnlich wie sie Gottfried Keller in seiner Züricher Erzählung »Ursula« aus Herrnhuter Frömmigkeitsverstiegenheit in karikierender Absicht auf die reformationszeitlichen Täufergemeinschaften überträgt) ist freilich in der o.g. Literatur (Anm. 11, 19 und 22) zur Gemeindegeschichte auf dem Herrnhaag wiederholt die Rede. Vgl. insbes. Peucker: »Blut’ auf unsre grünen Bändchen« (wie Anm. 11), 52–55. Die Lyrik-Reflexe erwägt Kemper: Lyrik 6/1 (wie Anm. 11), 40. Die poetische Sehnsucht nach Kindheitsempfindung und Einfalt in der geistlichen Lyrik von Gerhard Tersteegen (mit ihren philosophisch-spekulativen Grundlagen) ist umrissen bei Hans-Jürgen Schrader: Hortulus mysticopoeticus. Erbschaft der Formeln und Zauber der Form in Tersteegens »Blumengärtlein«. In: Manfred Kock (Hg.): Gerhard Tersteegen – Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung, Köln/Bonn 1997, 47–76, hier bes. 68–71.

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Wie freu ich mich aufs Fürsten tag […] Nun beugt euch als ein einigs herz vor eurem GOtt und manne. Er zählt die zährlein unterm schmerz, und macht auf seiner pfanne den lieblichsten geruch daraus, trotz allen weyrauchs=hügeln, er zehlet eure wohl voraus, und wird ihr krüglein siegeln. […]49

Vom festen Gruppenzusammenhalt her können im einprägsam rhythmischen, die Herzen zusammenschmiedenden Gemeinschaftsgesang die gleichstrebenden Brüder und Schwestern zur Rechten wie zur Linken, die »Prophentenkinder« der Inspirationsgemeinde, selbst orthodoxe Juden und Mennoniten in philadelphischen Schulterschluß genommen werden, scharf dagegen wird die Grenze gezogen gegen gesetzliches Muckertum und Scheinheiligkeit: ICh danke meinemLamme […] Mich stören kirch und kanzeln so wenig als das fanzeln enthusiastscher art; was schadt der Quacker zittern, der Mosis=Diener schüttern, der alten Täuffer hut und bart. Wenn sie nur herzlich lehren von JEsu blutgen zähren, von tauff und abendmahl, von nutz und krafft der Bibel, vom schaden im gegrübel, von Thomä blick ins nägelmaal. Ein einig volk auf erden will mir zum ekkel werden, die sind mir wiederlich, die miserablen Christen, die niemand Pietisten betittelt, als sie selber sich. […]50

Durch spontan versifizierte, auch lautmalerisch vereindringlichte Reimenrede kann (wie bei den Inspirierten) Paränese in der Gemeindeversammlung gegen schädliche Abirrungen vereindringlicht werden, so daß sie zugleich 49 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh., Nr. 1944, S. 1857. 50 Textbeispiel aus: Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 1980, S. 1888.

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eine regulierende, sanft disziplinierende Funktion in der Gemeindeversammlung erreicht. Dies zeigt die unmittelbare Zurückweisung des bei einer offenbar übereifrigen, jedenfalls zudringlich-lästigen jungen Bekennerin bemerkten eigensüchtigen Monopolanspruchs auf brautmystische Erquickung durch den »Mann« Jesus, als sie in rhetorisch geäußerter Sterbensbegier eine rechte Bereitschaft zur Einordnung in den gemeinschaftlichen Handlangerdienst am Bau des Gottesreichs vermissen ließ: Ueber eine junge Person, die ganz krank nach der Auflösung ist. Die Jungfrau, die itzt redte, Ist eine Klette, An dem, der sie beredte; So sehr sie kan, Sie lieben in die Wette, Sie und ihr Mann: Sie denkt: wer Flügel hätte, Ich flög ins Bette: Die Bauarbeiter=Kette, Steht ihr nicht an. […] Nun Seele! sey gelinde, Dein Wunsch ist Sünde; Bedenk das Haus=Gesinde, Die Creutz=Gemein, Verlaß nicht so geschwinde Dein Fleisch und Bein. […]51

Weit häufiger aber dienen klangliche und rhythmische Stakkati der Beförderung des Gemeinschaftserlebnisses unter den sich im Mitsingen und im Mittun als Teil der auserwählten Streiterschar Begreifenden52 wie etwa in den Namengedichten, die Länder- Völker- und Ortsnamen der Herrnhutischen Mission schwindelerregend aufhäufen:

51 1734, Zinzendorf: Teutsche Gedichte (wie Anm. 11), Nr. CXXVI, 356f, eindringlich ausgelegt in der »Einführung« G. Meyers, ebd., S. XLV–XLVII, wo der disziplinierende Ordnungsruf gar gefeiert wird als »Geist von dem Geiste, der Preußen groß gemacht hat«. Zur gemeindlichsuggestiven Leistung der Lieder in Bezug auf Lehrinhalte oder als Schule des Fühlens vgl. Kemper: Lyrik 6/1 (wie Anm. 11), 38 und 41. 52 Dies ist freilich auch der Ansatzpunkt zum für die Herrnhutische Lieddichtung so charakteristischen, geradezu ansteckenden Um-die-Wette-Dichten in der Gemeinschaft, zunächst im gräflichen Familienkreise, dann aber auch unter den Getreuen, die dafür regelrechten Unterricht zum Nachtun erhielten oder die Losvorgabe von Eingangsversen, Liedtönen bzw. Metren, und die bei besonderen Poeten-Liebesmählern das Ergebnis dann mutueller Kritik unterwarfen. Hinweise dazu etwa bei Kemper: Lyrik 6/1 (wie Anm. 11), 37, 40, 45. Vgl. auch, mit weiterer Lit., Kümmerle: »So suender=schamroth« (wie Anm. 22), 435.

Zinzendorf als Poet Zeugen=Lied. […] Malatten=volk rufft er zur zeugen=wolk, Wilde und Mohren: Hottentotten ohren lassen sich durchbohren: J’hudim: Mamelukken, Hanakken, Heydukken beugen die Tschakanen vor des creutzes fahnen. Wie gefällt der zeugen=wolk Das Märsche volk? […] Die Lappische seen, Grönlands rauhe cüsten, die Sanct Thomas höhen, Susquehanna wüsten haben uns gesehen, Canada, (Kehelle**!) Mugurugampelle, die Cafferschen wiesen, die braunen Barbiesen, Aquanuschioni, Schawanohs, Huroni. Der Finne und Esthe kennt die Märsche gäste. Hitland, Man und Norge, spürt des Heilands sorge, seelen zu erlösen, selbst die Zingalesen.

** Ist ein Wort der Hurons, bedeutet so viel als: Ey, ist das so?

[…] Laßt die Corsaren die Menschen stehlen, das Lamm befrey nur der sclaven seelen; und fang an in den Türken durch sein blut zu würken. […]53

Ähnlich geht’s von Herrnhut in die Welt: DAs wort, das wörtlein blut mach unserm Hause muth! Es geh allenthalben, zu Bethel, Herrenhut, Herrnhaag und Niesky salben; 53 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 1867, S. 1792f.

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Hans-Jürgen Schrader Ronneburg, Berlin, Bethlehem, Yrin, Nazareth, Stettin. Gnadek, Frey, Berg und Thal, Crux, Thomas, Seiten=maal, Schul ins Lämmleins Lende, Cap, Got Haab, Montmirall, Barbies, Lamb’s=Inn, Meil=Ende, London, Amsterdam, Lamb’s Hill, Herrendam, Philadelphiam. Ach wär es unserm Mann, (zu Genf, Neusalz und Jan, Rößnitz, Copenhagen, Colombo, Kittidan’, Dom, Lammsberg,) Ja zu sagen; (Torn’, Cocallico, Paramaribo,) gings in jubilo.54

Die unter die Haut gehende rhythmische Adhortation, verbunden mit affektisch gemütserschütternden Begriffen und Vorstellungen, zugleich aber einem sie surrealistisch montierenden Spieltrieb55 könnte heutige Reklamestrategen neidisch machen, etwa »den 8. Januarii 1747«, SO immer seit=wärts=schielerlich, so seiten=heimweh=fühlerlich, so Lamms=herz=gruft=durchkriecherlich, so Lamms=schweiß=spur=beriecherlich an der magnetschen Seit : | : […] so leichnams=luft=anzieherlich, so wunden=naß=ausspüherlich, so grabes=dünste witterlich, aufs Mensch=Sohns zeichen zitterlich, dem licht in Salems gassen, wenn sonn und mond erblassen. Indeß so Lammhaft seliglich, einfältig, tauben=artiglich, so sünder=schamroth inniglich, 54 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 1870, S. 1795. 55 Diesem verdanken wir so kostbare Formulierungen wie den Vergleich zwischen den Kirchenreform-Bemühungen Philipp Jacob Speners und Johann Conrad Dippels im Preisgedicht auf den letzteren, »Auf Democritum* den Christianer*«, 1734, Zinzendorf: Teutsche Gedichte (wie Anm. 11), Nr. CXXVI, 355: »Was Spener nicht erweint, das wollte Er erlachen.«

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so sünder=mäßig spielerlich, worein’s doch immer stumm: efflavit animum; vor creuzes=freuden weinerlich, so brust=blat=jünger=mäßiglich, wie Sanct Johannes; so Marter=Lamms=herzhaftiglich, so JEsus=knabenhaftiglich, so Marie Magdalenelich, kindlich, jungfräulich, ehelich, soll uns das Lamm erhalten, bis zum kuß seiner Spalten.56

Durchaus ernster Gehalt präsentiert sich in nicht minder surrealer Spiellust, die zweifellos lustvoll-lustig bis zu Albernheiten gemeinschaftsbindend einen Ton findet, der bereits an den skurrilen Expressionismus eines Jacob van Hoddis (»Weltende«, 1910) gemahnt: Angenehme Sterbens=Gedanken Die Bäume blühen ab, Die Blätter stürzen: Mir wird das liebe Grab Mein Elend kürzen Getrost, ich sehe schon Das Bäumlein blühen, Und meines Leibes Thon Gerader ziehen. Mein Grabstein springt entzwey, Der Schlaf vergehet: Der Leib wird Kerker=frey, Mein Tod verwehet. […] […] Der Wind von Jehova Wird ausgeblasen: Die Beine liegen da In grünen Rasen. […] Triumph! der hier erscheint Im rothen Kleide,

56 XII. Anh. zum Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeinen in der Ausg. von 1743, III. Zugabe (hier im Reprint-Band von Zinzendorf: Teutsche Gedichte, wie Anm. 11), Nr. 2278, S. 2174. Das Lied ist freilich für die Kennzeichnungen der Charakteristica der Sichtungszeit opulent nachgedruckt und erörtert worden, vgl. G. Meyer: Einführung (wie Anm. 11), S. LXII; Kemper: Lyrik 6/1 (wie Anm. 11), 44; Kümmerle: »So suender=schamroth« (wie Anm. 22), 441.

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Hans-Jürgen Schrader Der ist mein weisser Freund: Eins sind wir beyde. […]57

In der Substitution des Sinns durch reinen Klang und iterative Häufung (im Lexischen wie in der adaptierten Melodie) kommen einige Lieder den Lautgedichten des 20. Jahrhunderts vom Dadaismus bis zur Konkreten Poesie nahe, insbesondere wo im Klang der heiligen Sprachen, in abenteuerlich reimend gemachtem Griechisch oder rhythmischem Umspielen hebräischer Begrifflichkeit, auf ein Sinnerfassen der Gemeine gar nicht mehr zu rechnen ist, ihr vielmehr ein besonderes Hausrecht im Heiligtümlichen suggeriert wird. Nur ein Beispiel für jede dieser emphatisch-ekstatischen Spielformen: Wie schön leuchtet der Wundenstern. […] Des wundten Creuz=GOtts bundes=blut, die wunden=wunden=wunden=fluth, ihr wunden! ja, ihr wunden! eur wunden=wunden=wunden=gut macht wunden=wunden=wunden=muth, und wunden, herzens=wunden. Wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! O! ihr wunden!58

[Lamms-Kreuz-Wundenlied]

LAmno`ß, LAmno`ß, oš hau´mastoß, lupou´menoß, Wai` me`n filou´menoß: WaVdı´a mou ou™ mou˜, ou™, ou™ e¹stin a™mnou˜, Wai` tou˜ stauVou˜, tou˜ tVau´matoß, misto`ß tou˜ aıÇmatoß.

57 1721, Zinzendorf: Teutsche Gedichte (wie Anm. 11), Nr. XII, 32f und 34. 58 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 1945, S. 1858. Auch dieses Gedicht ist oft vorgestellt worden, vgl. etwa G. Meyer: Einführung (wie Anm. 11), S. LX und LXV; Kemper: Lyrik 6/1, 40–44; Kümmerle: »So suender=schamroth«, 431–441; Nelson: The ›Geistliche Gedichte‹ (wie Anm. 22), 834. 59 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 1952, S. 1867. Markant abweichend die Textversion von 1743 in Erg.-Bd. II: Teutsche Gedichte (wie Anm. 11), S. 1867.

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Wie bin ich doch so herzlich froh Wie bin ich doch so herzlich froh, daß die Chabbúrah beziddo dem Tolah ist gespalten! Ich Posche hab auch Chélek dran; ich kriech hinein so gut ich kan: er wird mich drin erhalten. Eli*! Zúri**! laß die Jonim*** * mein GOtt ** mein fels vor den Sonim= *** tauben = den feinden. sicher liegen, und nie aus dem fels=loch fliegen.60

HERR JESU Christ! dein tod ʤʥʤʩ ʲʥʹʩ ʤʩʬʺ ʬʲ ʪʺʥʮ ʪʣʶʡ ʤʸʥʡʧ ʪʺʸʶ ʺʲʦ ʪʮʲ ʺʥʹʴʰ ʸʮʹʺ ʤʩ ʠʡʺ ʩʫ ʣʲ :ʤʬʤʷʤ ʹʥʸ Jeschúah Jehovah mot’chá al telijáh chabburá beziddécha seat zarathechá tischmor naphschot ammécha ad ki tavo jah rosch hakkehilláh.61

An den Beschluß sei ein Gedicht gestellt, das in seiner Mischung aus ernsten Gedanken und einem heiter-gelassenen Ton Wilhelm Buschs »Kritik des Herzens« entstammen könnte und so einen weiteren eingängigen Ton aus der genialischen Registervielfalt des Gemeindevorsitzenden (Rosch HaKehillah) Zinzendorf anklingen läßt, die von Nachklängen und Transformationen der barocken Erbschaft reicht bis zu Vorgriffen auf goethezeitliche Erlebnisdichtung und romantisches Klingespiel, ja bis zur experimentellen Dichtung der Moderne. In sicherem Griff für den situativ geeignetsten Ton vermochte es der diese Register zum Klingen bringende Graf ohne Grenzen offenbar wie kein anderer, die Herzen und Sinnen der Mitsingen-

60 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh., ebd., Nr. 2000, S. 1902. 61 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh., ebd., Nr. 2002, S. 1902.

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den zu rühren und sie emphatisch zu einer willig in seine Ideen und Töne einstimmenden Gemeinschaft zusammenzuschmieden: Aufrichtige Erklärung, wies ihm ums Herz ist. […] Wenn einer in dem Glanz des Lichts Sich sieht, und sieht, er tauge nichts, Und geht und greifft die Sache an, Und thut nicht, was er sonst gethan,* Und müht sich selber viel und mancherley, Der lernet nie, was ein Erlöser sey.

*Er bessert sich wirklich.

Wenn aber ein verlornes Kind Vom Tod erwacht, sich krümmt und windt, Und sieht das Böse böse an, Und glaubet, was es sonst nicht kan, Verzagt an sich, es geht ihm aber nah; Kaum sieht sichs um, so steht der Heiland da. […]62

62 1734, Zinzendorf: Teutsche Gedichte (wie Anm. 11), Nr. CXXX, 366f.

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»Es ist also des Heilands sein Predigtstuhl so weit und groß als die ganze Welt.« Zinzendorfs Überlegungen zur Mission

1732 begann mit der Entsendung der ersten Missionare der Herrnhuter Brüdergemeine eine der bedeutendsten Missionsbewegungen des Protestantismus. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf gab auch in diesem Bereich entscheidende Impulse. Er hat allerdings keine differenzierte Missionstheorie entwickelt, sondern seine Gedanken zu diesem Thema in verschiedenen Briefen und Reden geäußert.1 Bevor auf einzelne Punkte inhaltlich eingegangen wird, sollen daher die wichtigsten seiner Äußerungen genannt werden. Bereits als Schüler in Halle hatte Zinzendorf viel von der DänischHallischen Mission erfahren und auch einige Missionare kennengelernt, die Halle Besuche abstatteten.2 Schon zu dieser Zeit faßte er den Entschluß, Menschen in anderen Erdteilen Christus zu verkündigen. Kurz vor der Ausreise zweier Brüder nach den Westindischen Inseln, die am Anfang der eigentlichen Missionstätigkeit der Herrnhuter steht, finden sich erstmals konkrete Gedanken zur Mission in Zinzendorfs Brief an den Missionar Geister.3 Dieser war von der Society for Promoting Christian Knowledge nach Madras ausgesandt worden. 1736 verfaßte Zinzendorf eine Instruktion für die zu den Samojeden (Rußland) gesandten Brüder4 und 1 Viele dieser Texte wurden in den Büdingischen Sammlungen oder in Predigtsammlungen veröffentlicht. Außerdem erschienen zwei Zusammenstellungen von Zinzendorfs Äußerungen zur Mission: Otto Uttendörfer (Hg.), Die wichtigsten Missionsinstruktionen Zinzendorfs, Herrnhut 1913, und Helmut Bintz (Hg.), Texte zur Mission von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Hamburg 1979. Bintz wollte v.a. die von Uttendörfer publizierten Quellen erneut zur Verfügung stellen und bietet außerdem weitere Texte und eine umfangreiche Einleitung. Für eine ausführlichere Untersuchung von Zinzendorfs Gedanken zur Mission mit weiteren Quellenbelegen vgl. Carola Wessel, Missionsvorstellung und Missionswirklichkeit der Herrnhuter Brüdergemeine in Nordamerika im 18. Jahrhundert, (unver. Magisterarbeit) Göttingen 1989. 2 Ab 1706 förderten die Hallenser Pietisten die Mission in der dänischen Kolonie Tranquebar in Indien. Die dortigen Missionare waren Bartholomäus Ziegenbalg, Heinrich Plütschau, Johann Ernst Gründler und Polycarp Jordan. 3 An einen Missionarium von der englischen Sozietät, 1732, Büdingische Sammlung (im Folgenden: BS) III, 809–812; vgl. Uttendörfer, Missionsinstruktionen, 5–9. 4 Eine Heiden-Boten Instruction nach Orient, BS II, 632–636; vgl. Uttendörfer, Missionsinstruktionen, 9–13.

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eine weitere für Georg Schmidt, der auf dem Weg nach Südafrika war.5 Zwei Jahre später schrieb er an die in Grönland tätigen Missionare.6 Waren diese Äußerungen jeweils konkret an bestimmte Personen gerichtet, erließ Zinzendorf im August 1738 eine Instruktion an alle »Heyden-Boten«, die 46 Punkte umfaßte.7 Gegen Vorwürfe von außen richtete sich der »Einfältige Aufsatz der Evangelisch-Mährischen Kirche wegen ihrer bisherigen und künfftigen Arbeit unter den Wilden, Sclaven und anderen Heyden« aus dem Jahr 1740, der auf der Synode in Gotha beschlossen worden war.8 Dieser war eine offizielle Äußerung der Gemeine und deshalb nicht von Zinzendorf, sondern von Dober als Generalältestem unterzeichnet, gibt aber Zinzendorfs Gedanken wieder. Auf dieser und auf der Synode in Marienborn entwickelte Zinzendorf weitere Missionsvorstellungen9 und am Ende des Jahres 1740 sogar einen Heidenkatechismus.10 Darin flossen auch die Erfahrungen aus seiner Reise nach Westindien 1738/39 ein. Während seines Aufenthalts in Pennsylvania 1742 hielt Zinzendorf zahlreiche Reden, in denen auch das Thema Mission behandelt wurde.11 Nach seiner Rückkehr sprach er auf der Synode von Hirschfeld über den »Methodus der Wildenbekehrung«, der sich trotz seiner neuen Erfahrungen nicht wesentlich von den vorher geäußerten Ansichten unterscheidet.12 Weitere Gedanken finden sich in den Zeister Reden 174613 und in den Homilien über die Wundenlitanei 1747.14 5 Kurtze Instruction vor meinen Br. Schmidt nach Cabo, in: Uttendörfer, Missionsinstruktionen, 14–16. 6 An die Brüder in Grönland und an Matth. Stachen daselbst, in: Uttendörfer, Missionsinstruktionen, 17–18. 7 Instruction an alle Heyden-Boten, BS I, 669–676; vgl. Uttendörfer, Missionsinstruktionen, 19–27. 8 Einfältiger Aufsatz der Evangelisch-Mährischen Kirche, wegen ihrer bisherigen und künfftigen Arbeit unter den Wilden, Sclaven und anderen Heyden, BS I, 182–187; vgl. Uttendörfer, Missionsinstruktionen, 27–31. 9 Auszüge, in: Uttendörfer, Missionsinstruktionen, 32–35. 10 Project zum Heyden-Catechismo, BS III, 402–409; vgl. Uttendörfer, Missionsinstruktionen, 36–41. 11 Zinzendorf, Eine Sammlung öffentlicher Reden, von dem HErrn der unsre Seligkeit ist... In dem Jahre 1742 mehrenteils in dem nördlichen Theil von America... gehalten [Pennsylvanische Reden], in: Erich Beyreuther u.a. (Hg.), Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Hauptschriften II, Hildesheim 1963; bes. Erster Teil, 4. Rede, 87–102 und 5. Rede, 102–127. 12 Methodus der Wilden Bekehrung, BS III, 90–91; vgl. Uttendörfer, Missionsinstruktionen, 42–47 (mit den Protokollen der Synode). 13 Zinzendorf, Die an dem Synodum der Brüder, in Zeyst vom 11. May bis an den 21. Juni 1746 gehaltenen Reden [Zeister Reden], in: Beyreuther u.a., Zinzendorf. Hauptschriften III; v.a. die 22. Rede, 170–183 und die 24. Rede, 186–192. 14 Zinzendorf, Vier und Dreyßig Homiliae über die Wunden-Litaney der Brüder, gehalten auf dem Herrnhaag in den Sommer-Monathen 1747, in: Beyreuther u.a., Zinzendorf. Hauptschriften III.

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Obwohl diese Überlegungen in einem längeren Zeitraum geäußert wurden und sehr unterschiedlich sind, was ihre Länge, ihre Form und die Adressaten betrifft, sind sie sich inhaltlich doch recht ähnlich. Bestimmte Grundgedanken vertrat Zinzendorf vom Beginn der Missionsversuche an. Diese orientierten sich zwar im Laufe der Zeit an den inzwischen gemachten Erfahrungen und wurden präzisiert; grundsätzliche Änderungen gab es jedoch nicht. Deshalb werden Zinzendorfs Gedanken im folgenden nicht chronologisch, sondern nach thematischen Gesichtspunkten gegliedert vorgestellt.15 Zinzendorf hat sich auch deshalb nicht umfassender zum Thema Mission geäußert, weil er die Problematik von Instruktionen erkannt hatte: »Es ist bei eures gleichen Verrichtungen schwehr eine Anweisung zu geben / weils überhaupt schwehr ist Brüder zu instruieren... Man kann denken, wie genau eine Instruction sein müsse, wenn sie alle vorkommende Umstände sollte einschliessen; und wie allgemein, wenn sie einen Bruder nicht binden sollte. Unserm ersten Boten nach Thomas gaben wir die Instruction mit: allda eine Seele zum Heyland zu bringen, und was der Heyland sonst mehr geben würde. Denen nach Grönland: sie sollten sehen, ob sie dem Pfarrer Egedi was helffen könnten; und das wars alles. Was soll man Brüdern auf ein paar 1000 Meilen sagen, da man keine Seele kennt, zu denen sie kommen? Die Instruction des Heylands: gehet hin in alle Welt und predigt aller Creatur das Evangelium, war auch general...«.16

So faßte Zinzendorf 1738 die Problematik zusammen. Zum einen hatte Zinzendorf selber noch keine Erfahrungen sammeln können und scheute sich deshalb, Instruktionen zu erlassen. Zum anderen war er überzeugt, daß Gott die sog. »Boten« befähigen würde, selbständig richtig zu handeln.17 Der eigentliche Urheber der Mission ist nach Zinzendorfs Ansicht Jesus Christus, der selber Seelen gewinnen will und die Gemeindemitglieder zu Gehilfen an dieser Aufgabe macht. Die Geschwister wollten von dem weitersagen, was sie selbst durch Christus erfahren hatten. Dieser »Zeugentrieb« ist der Grund der Mission. Die Herrnhuter Missionare fühlten sich direkt von Christus beauftragt. Hierin besteht ein wichtiger Unterschied zu anderen Missionsunternehmungen: Sonst sandte ein Kolonialherr Missionare aus, weil er sich zur Christianisierung seiner Untertanen verpflichtet 15 Obwohl diese Gedanken natürlich im Kontext seiner Theologie (insbesondere der Christologie, Ekklesiologie, Eschatologie und Pneumatologie) zu sehen sind, muß auf eine Einordnung im Rahmen dieses Aufsatzes verzichtet werden. 16 Instruction an alle Heyden-Boten 1738, BS I, 669f. 17 August Gottlieb Spangenberg, Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf, Dritter Teil, Barby 1773, 748. Ähnlich äußerte Zinzendorf sich in einem Brief an Schumann in Berbice am 27.3.1752: Er fühle sich unwürdig und wolle die Brüder selbst machen lassen, denn der Heiland würde sie schon richtig anleiten; vgl. Guido Burkhardt, Zinzendorf als Bahnbrecher evangelischer Heidenmission, AMZ 27 (1900), 206–225, hier 220.

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fühlte, oder eine Gesellschaft engagierte sich dafür. Die dänisch-hallische Mission z.B., die Zinzendorf ja gut bekannt war, handelte im Auftrag des dänischen Königs. In England gab es neben der bereits erwähnten Society for Promoting Christian Knowledge noch weitere ähnlich engagierte Gruppen. Spezifisch für die Herrnhuter Mission ist, daß hier die ganze Gemeine Mission als ihre Angelegenheit betrachtet. Da alle Christen diesen »Zeugentrieb« hatten, konnte auch jeder als Missionar in fremde Länder gehen. Zinzendorf nahm das von Luther erkannte Priestertum aller Gläubigen ernst. Jeder sei Streiter im Kampf Gottes. Bisher waren, auch von Halle, nur Theologen und einige Ärzte ausgesandt worden. Jetzt gingen erstmals Laien in alle Welt. Die ersten Herrnhuter Missionare waren ein Töpfer (Dober) und ein Zimmermann (Nitschmann). Auch in der Folgezeit hatten die Missionare meist ein Handwerk gelernt, was sich schon aus der Sozialstruktur Herrnhuts ergab.18 Dies hatte viele Vorteile: Das Potential möglicher Missionare wurde vergrößert; die Missionare konnten sich selbst versorgen; und sie gewannen leichter Zugang zu den Menschen, die sie besuchten. Es wurden nur solche Gemeindeglieder ausgesandt, die sich freiwillig gemeldet hatten. Zinzendorf wollte niemanden dazu überreden.19 Wenn Unsicherheiten aufkamen, konnten sie noch auf dem Schiff umkehren. Voraussetzung war allerdings, daß diejenigen, die sich gemeldet hatten, mit Jesus Christus »innig verbunden, und mit seinem Geist erfüllt« waren.20 Deshalb wurden sie vor der Ausreise geprüft. Man dürfe sich nicht »erst in den Ländern besinnen, was man dort will« oder »Seinen Beruf unter den Heyden prüfen, wenn man unter ihnen ist«.21 Die Missionare mußten sich ihrer Berufung sicher sein. Damit die Sendung nicht nur auf menschlichen Gedanken beruhte, wurde durch das Los das Einverständnis Christi erfragt, und die Missionare waren dann überzeugt, genau an diese Stelle geschickt worden zu sein.

18 Diese Aussendung von Laien blieb charakteristisch für die Herrnhuter Mission. Bei Bechler findet sich eine interessante Aufstellung. Danach waren bis 1900 im Missionswerk tätig gewesen: 83 Theologen, 19 Ärzte, 141 Lehrer, 5 Apotheker, 9 Studenten, 11 Vorsteher, 53 Kaufleute, also insgesamt 321. Die »übrigen« 1152 Missionare kamen aus verschiedenen Handwerksberufen; vgl. Theodor Bechler, Vor hundert Jahren und heut, Herrnhut 1900, 25f. Dies entsprach dem urchristlichen Modell, auch die Apostel waren Handwerker. Abgesehen von einigem Unterricht im Chorhaus der ledigen Brüder erhielten die zukünftigen Missionare anfangs keine besondere Ausbildung. Ab 1744 wurde in Marienborn ein Seminar eingerichtet. Die Missionare hatten ein »in Liebe brennendes Herz«. »Sonst fehlte ungefähr alles, was wir für wichtig halten.« Johannes Vogt, Die Brüdermission an der Schwelle des dritten Jahrhunderts ihres Bestehens, Evangelisches Historisches Magazin 76 (1932), 162–171, hier 165. 19 Spangenberg, Leben III, 751. 20 Ebd. 21 Instruction an alle Heyden-Boten 1738, in: Uttendörfer, Missionsinstruktionen, 21.

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Die Missionare wurden zu Menschen gesandt, die für Zinzendorf weder »Barbaren« noch »Edle Wilde« waren: »Ich habe observiert, daß die meisten Reisende sich über die Moral unserer Heyden aufhalten, und fast wie zurück geschreckt werden, ihnen was von unseren Sachen vorzusagen, weil sie NB. besser als die Christen wären. Es ist aber falsch; das Verderben liegt nur in Unwissenheit und Dummheit begraben, und wo sie Wind von unsern Lüsten kriegen: so sind sie gleich dahinter drein. Man kann sich also ohnfehlbar darauf verlassen, daß sie so grobe Sünder im Willen sind, als die Christen. Ihre Sünde besteht auch, wie unsere, im Unglauben und in der Feindschafft gegen das wahre Wesen, und in der Gleichgültigkeit gegen den Heyland«.22

Der Begriff des Heiden wurde also nicht nach geographischen oder ethnischen Merkmalen bestimmt, sondern durch die Haltung des gottfernen Menschen. Die Heiden seien nicht als Zeichen des göttlichen Gerichtes verstockt, wie die lutherische Orthodoxie meinte; die Europäer hätten keinen Grund, auf sie hinabzuschauen. Ebenso seien aber auch die Heiden nicht besser, natürlicher oder tugendhafter als die Europäer. Zinzendorf stellte beide auf eine Stufe, für ihn sind sie gleich, weil sie vor Gott gleich dastehen: Beide brauchen die Erlösung. In dieser neutralen Form wird auch im weiteren die Bezeichnung Heiden verwendet. Die Herrnhuter Mission war außerdem nicht auf ein bestimmtes Kolonialgebiet beschränkt, sondern sandte Missionare in alle Länder: »Es ist also des Heilands sein Predigtstuhl, sein Lehrstuhl so weit und groß als die ganze Welt. Es ist kein Mensch, keine Nation, keine Religion, kein Verderben mehr in der Welt, das seinem Feuer widerstehen könnte«.23 Diese Universalität war neu.24 Da sie aber ja nicht gleichzeitig zu allen Menschen gehen konnten, wurde eine Auswahl nötig. Schon 1715 hatte Zinzendorf in seinem Bund mit Watteville beschlossen, zu denjenigen Heiden zu gehen, die von anderen vernachlässigt wurden. Deshalb wandten sich die Missionare der Brüdergemeine nicht zu den Hochkulturen, wie es z.B. Leibniz vorgesehen hatte, sondern zu den Sklaven Westindiens, zu den Grönländern, zu den Indianern. Wenn die Missionare in ihrem Einsatzgebiet angekommen waren, sollten sie diejenigen unter den Bewohnern suchen, die der Heilige Geist schon 22 Instruction nach Orient, BS II, 633f. 23 Zinzendorf, Pennsylvanische Reden I 4, 92. 24 In der Praxis erleichterte die Duldung der Kolonialregierung natürlich auch die Arbeit der Herrnhuter Missionare, so daß diese zunächst vor allem in dänische, dann in niederländische und schließlich in britische Kolonialgebiete gingen. Die Weite der Missionsbemühungen, die sich schon in den ersten Jahrzehnten von den westindischen Inseln und Surinam über Georgia und Pennsylvania nach Grönland und Lappland, von verschiedenen Gebieten im russischen Reich über Persien und Südindien bis nach Südafrika erstreckte, ist allerdings beeindruckend.

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vorbereitet hatte. Zinzendorf ging davon aus, daß in jedem Volk bereits einige Menschen »präpariert« wurden, bevor Christen zu ihnen kamen. Diese Menschen waren dann offen für die Botschaft der Missionare, hörten ihnen zu und waren bereit, diesen Glauben anzunehmen. Der Heilige Geist sei also der Bahnbrecher für den Erfolg der Mission. Schon 1732 schlug Zinzendorf vor: »An keinem Heiden direkt zu arbeiten, an dem man nicht eine glückliche Disposition zu einem rechtschaffenen Wesen findet«.25 Er berief sich dabei auf zwei Berichte aus der Apostelgeschichte, wonach Kornelius und der Kämmerer aus Äthiopien bereits vorbereitet waren, als sie auf die Boten Gottes trafen.26 »Der Wilden Herz muß erst praepariert werden, es muß etwas vom Herrn auf sie gefallen seyn, daß sie sagen wie Cornelius: hier sind wir. Diese praeparation muß der Heiland gantz allein thun«.27 Es galt also, diese vorbereiteten Seelen zu finden. Wo das nicht gelang, wurde die Missionsarbeit abgebrochen, denn es war noch nicht die richtige Zeit. Dabei wurden die Missionare ihrer Ansicht nach von dem Heiligen Geist geführt; sie standen nicht unter Erfolgszwang, sondern waren nur Gehilfen, »Handlanger«.28 Allerdings sollten sie auch »nicht eher ruhen, bis sie die Seele haben«, selbst wenn das lange Jahre dauerte.29 Die Missionare sollten sich nach Gottes Plan richten. Denn Zinzendorf ging davon aus, daß Gott eine »Heilsökonomie« habe. Demnach lag die Aufgabe der Brüdergemeine in der Vorbereitung. Er wollte die sog. »Erstlinge« gewinnen, es kam ihm auf einzelne Seelen an. Damit folgte er der Methode Christi, der auch nur wenige Menschen um sich sammelte. Zinzendorf wollte keinen sog. »Nationalbekehrungen«, jedenfalls noch nicht sofort: »Und so wissen wir auch, daß die vermutliche Zeit der Heiden, der ganzen Nationen, noch nicht ist«.30 Nach Gottes Plan würde diese Zeit später kommen. Die Erfahrung der Missionare war dann allerdings eine andere, es blieb nicht bei »Erstlingen«. Im Unterschied zu vielen früheren Missionen hatte Zinzendorf damit den Wert des einzelnen Menschen erkannt. Es ging nicht darum, z.B. nur den Häuptling zu bekehren, dem sich dann der ganze Stamm anschloß. 25 Brief an Geister, BS III, 810. 26 Kornelius hatte einen Traum, bevor er mit Petrus sprach (Apg. 10), der Kämmerer las in einer Rolle des Propheten Jesaja, als er Philippus traf (Apg. 8). 27 Uttendörfer, Missionsinstruktionen, 45f, Erklärung zum Methodus. 28 26. Homilie, 275f. 29 Zinzendorf, Pennsylvanische Reden I 4, 97. Es mußte im Einzelfall entschieden werden, ob es noch Geduld brauchte, um Seelen zu gewinnen, oder ob an diesem Ort keine vorbereitet waren. Viele gescheiterte Missionsversuche wurden jedoch aufgrund von äußeren Schwierigkeiten abgebrochen. 30 24. Zeister Rede, 189.

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Wenn die Missionare zu den Heiden kamen, sollten sie ihren Glauben zunächst mit ihrem Leben bezeugen. Die ersten Punkte des Methodus lauten: »1. Wandel und Gebet der Zeugen unter sich. 2. Gebet und Gesang in Gegenwart der Wilden«.31 Zinzendorf forderte sie auf, mit der indigenen Bevölkerung zu leben und sich nicht über diese zu erheben. Indem sie demütig und freundlich seien und den Alltag mit ihnen teilten, sollten sie die Neugier der Heiden erregen. Sei deren Interesse dann geweckt, sollten zuerst Einzelgespräche geführt werden. »Fangt nicht mit öffentlichen Predigten an, sondern mit Zuspruch bei einzelnen Seelen, die es werth sind, die euch der Heiland anweisen, und die ihr fühlen werdet... Wenns aber von euch begehrt worden; so bezeuget jedermann das Evangelium auch offenbar«.32

Damit wandte Zinzendorf sich gegen Methoden, wo ein Missionar eine Gruppe von Menschen besuchte und sofort eine Predigt hielt, ohne sich näher mit ihnen zu beschäftigen. Zinzendorf forderte die Missionare auf, so zu reden, daß die Bevölkerung sie verstehen konnte. Sie sollten also nicht nur selbstverständlich die jeweilige Sprache lernen, sondern auch verständnisvoll auf die Eigenarten der jeweiligen Ethnie eingehen und den treffenden Ausdruck suchen. »Die Brüder unter den Heiden... müssen manchmal denken: Lieber Paulus! Hast du so und so zu deiner Zeit geredet, ich rede jetzt so. Ist eine Nadel der Heiden höchstes Gut, so muß man den Heiland gleich eine Nadel nennen«.33 Außerdem sollten die Missionare sich nicht aufdrängen, denn auch Christus habe »lauter freiwillige Zuhörer gehabt«.34 Evangelium und Zwang passen nicht zusammen. Für den Inhalt der Predigt gab Zinzendorf genauere Anweisungen. In diesem Punkt läßt sich eine Entwicklung erkennen: Seitdem er 1734 die volle Bedeutung des Todes Christi erkannt hatte und besonders seit 1740 stellte er den gekreuzigten Heiland in den Mittelpunkt. Es sollte den Heiden nicht allgemein ein Gott gepredigt werden, denn »Daß ein Gott ist wissen alle Heiden die daran dencken von selbst so stehts Röm 1«.35 Statt dessen müsse ihnen von Christus berichtet werden. Die Botschaft vom Lamm am Kreuz sei das Entscheidende in der Predigt der Herrnhuter Missionare. Zinzendorf richtete sich nach dem Vorbild des Apostels: »Vom Sohn müssen sie unterrichtet werden... Paulus wußte nichts 31 32 33 34 35

Methodus, BS III, 90. Instruction nach Orient, BS II, 634. Karl Müller, 200 Jahre Brüdermission. Herrnhut 1931, 307. 24. Zeister Rede, 188. Heidenkatechismus, BS III, 403.

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unter den Heyden, als allein Jesum Christum, und zwar gehangen und gecreuziget«.36 Im »Methodus der Wildenbekehrung« wird »Das Lamm« sofort nach dem Wandel der Zeugen genannt. Er ist »die persona directa, auf die sich alles bezieht und die immer im Munde ist Jesum, das Lamm, der Heyland«.37 Dieser Christozentrismus war neu. Bisher begann man bei Gott und der Schöpfung und kam erst später auf Christus. Auch die Herrnhuter Missionare hatten anfangs nach Freylinghausens »Grundlegung der Theologie«38 gepredigt, die für die Hallischen Missionare das Muster bildete. Aber sie erkannten bald, daß es nicht darum gehen konnte, Moral und Gesetz zu predigen. Dann würde man nur eine falsche Religion durch eine andere ersetzen. Die Predigt von Christus hingegen brachte etwas völlig Neues. Diese Einstellung war sehr wichtig für das Verhältnis zu anderen Konfessionen. Zinzendorf wandte sich dagegen, die Glaubensstreitigkeiten der christlichen Kirchen weiterzutragen. »In Europa trennt man sich aus Not und Liebe, aber den Plunder nach Amerika zu schleppen, das ist nicht vernünftig, geschweige denn christlich«.39 In seiner Ekklesiologie war die eine Gemeinde Christi im Geist wichtig, die verschiedenen Konfessionen dagegen nebensächlich. Deshalb sollten die Herrnhuter Missionare nur die Botschaft vom Lamm bringen und nicht die Lehre einer bestimmten Kirche. Die Heiden sollten nicht zu »Sectirern« werden. Daher forderte Zinzendorf die Missionare auf: »Niemanden als Jesum Christum den Gekreuzigten bey ihnen zu nennen, und sie so viel wie möglich in der seligen Ignorantz, daß die Christliche Religion in Partes gehe, zu erhalten, wo sie aber davon was mercken, in diesem Theil impartialistisch zu erscheinen, von allen Abtheilungen nur das Beste zu reden, und den Unterschied eher zu verringern als zu vergrößern«.40

Die Herrnhuter sollten ja besonders in solche Länder gehen, wo es noch keine anderen Missionare gab. Das erwies sich in der Praxis jedoch als schwierig. Schon in Grönland gab es mit dem dänischen Missionar Egede Probleme. Diese sollten jedoch auf keinen Fall an die Öffentlichkeit getragen werden. Zinzendorf warnte vor der Versuchung: »Die geringsten Hän36 Instruction nach Orient, BS II, 633. 37 Methodus, BS III, 90. 38 Johann Anastasius Freylinghausen, Grundlegung der Theologie. Darinnen die GlaubensLehren aus göttlichem Wort deutlich fürgetragen und zum Thätigen Christenthum wie auch evangelischen Trost angewendet werden, Halle 1703. 39 Müller, 200 Jahre, 263f. 40 Einfältiger Aufsatz, BS I, 186. Zur Aktualität von Zinzendorfs ökumenischer Grundeinstellung vgl. Evangelische Akademie Bad Boll (Hg.), »Wir wolln uns gerne wagen« Nikolaus Graf Zinzendorf als Begründer der Ökumene, Bad Boll 2000.

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del mit den Geistlichen anzufangen«.41 Die Brüdermissionare sollten weder Hindernis noch Konkurrenz für andere sein. Es ging also nicht darum, eine neue Herrnhuter Kirche in den Missionsgebieten zu errichten, sondern die zu Bekehrenden in die eine Gemeinde Christi im Geist zu führen. Mitglied in dieser Gemeinde wurde man durch die Taufe. Die Kandidaten mußten ernsthaft um die Taufe bitten. Obwohl die Bedingungen relativ einfach waren, wollte man sich doch mit dem Taufen nicht übereilen, im Unterschied zu anderen Missionaren wie z.B. den Jesuiten. Die Getauften wurden weiter im Christentum unterrichtet. Wenn sie genug gelernt hatten, wurden sie zu sog. »Nationalhelfern« ernannt, die das Evangelium ihren Stammesmitgliedern weitersagen sollten. Das Ziel der Brüder sollte es sein, sich überflüssig zu machen.42 In der Praxis wurde allerdings anders verfahren.43 Da es nicht bei Erstlingen blieb und die Zahl der Getauften zunahm, wurde es doch nötig, auch für die Lebensgestaltung Ordnungen zu erlassen. Es sollte auch äußerlich sichtbar werden, daß die Christen ein neues Leben begonnen hatten und sich nun von den anderen Heiden unterschieden. Die Lebensgestaltung sollte jedoch immer nur zweitrangig sein, eine Folge des Glaubens. Zinzendorf kritisierte die Missionare, die »den Leuten sagen« wollten, »wie sie leben sollen«.44 Die Missionare sollten sich zuerst vor Ort umsehen. Sie sollten nicht gleich alles ändern wollen, sondern offen sein für die Lebensweise der Menschen. Was gut war, sollte sogar übernommen werden. Zinzendorf forderte ausdrücklich: »Messet die Seelen nicht mit der Herrnhuter Elle«!45 Das Eigene war also nicht zweifelsfrei das Beste, sondern Zinzendorf rief dazu auf, anderen Kulturen möglichst vorurteilsfrei zu begegnen. Dadurch unterschied er sich von vielen anderen Missionaren, für die ihre Religion untrennbar mit ihrer Kultur verbunden war und die forderten, die indigene Bevölkerung müsse erst »zivilisiert« werden, also die europäische Lebensweise übernehmen, bevor sie christianisiert werden könnte. 41 Instruction an alle Heiden-Boten, BS I, 671. 42 Jüngerhausdiarium 27.8.1752, zit. nach Müller, 200 Jahre, 311f. 43 Die Frage der Ausbildung von indigenen Predigern sowie die Gestaltung des Lebens, die letzlich doch nach Herrnhuter Vorbild geschah, sind einige der Probleme, die sich bei der praktischen Arbeit ergaben. Es blieb Spangenberg überlassen, auf diese Aspekte einzugehen und die Missionsauffassung der Herrnhuter systematisch darzustellen. Spangenbergs Leistung ist bisher zu wenig gewürdigt worden. Augustus Gottlieb Spangenberg, Von der Arbeit der evangelischen Brüder unter den Heiden in genere, 1754, in: Uttendörfer, Missioninstruktionen, 47–60. Ders., Von der Arbeit der evangelischen Brüder unter den Heiden, Barby 1782. Ders., Unterricht für die Brüder und Schwestern, welche unter den Heiden am Evangelio dienen, Barby 1784. 44 5. Pennsylvanische Rede, 108. 45 Instruction nach Orient, BS II, 634.

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Carola Wessel

Die Herrnhuter Missionare sollten sich nicht nur aus allen theologischen Streitigkeiten, sondern auch aus politischen und wirtschaftlichen Bereichen heraushalten. Zinzendorf forderte sie auf, sich in Äußerlichkeiten nicht einzumischen und »einigen Einfluß ins Politicum oder Commerica nicht zu suchen«.46 Nur wenn sie sich neutral verhielten, könnten sie in Ruhe arbeiten. Auch persönlich sollten sie unabhängig von allem Weltlichen leben. Zinzendorf warnte davor, sich »ehren oder beschenken« zu lassen oder Geld anzusammeln.47 Nicht zu ihrem eigenen Vorteil oder Nutzen, sondern um Gottes und der Heiden willen gingen die Missionare in fremde Länder. In allen Dingen sollten die Missionare Kontakt zur Heimatgemeinde halten. Bereits 1736 bat Zinzendorf sie: »Wenn ihr eine gründliche und zuverlässige Nachricht geben könnt, von allem was da vorgeht, und was ihr zu thun hoffet, und was ihr schauet: so schickt uns, wen ihr am besten missen könnt (zu der Zeit) mit ausführlichen Brieffen und Anfragen«.48 Die Missionare führten Tagebücher, die sie zur Information in die Heimat schickten. Später kamen Visitationsreisen hinzu. Diese Briefe und Diarien wurden auf den Gemeintagen verlesen. Durch die Berichte vom Wirken Gottes und dem Mut der Missionare wurde auch die Heimatgemeinde gestärkt. Missionsgemeinde und Heimatgemeinde brauchten sich gegenseitig. Auch wenn sich nicht alle Überlegungen Zinzendorfs in die Praxis umsetzen ließen, bezeugen die Erfolge der Herrnhuter Missionare doch die Richtigkeit und den Wert seiner Gedanken. Aufgrund seiner herausragenden Stellung am Beginn der Missionsbestrebungen werden ihm in allgemeinen Missionsgeschichten eigene Kapitel gewidmet.49 Zudem erschienen eine ganze Reihe von Aufsätzen zu diesem Thema. Trotz unterschiedlicher Ausführlichkeit und Schwerpunktsetzung ähneln sich die Ergebnisse; Zinzendorfs Missionsauffassungen sind also nicht umstritten.50 46 Einfältiger Aufsatz, BS I, 185. 47 An Schmidt, Uttendörfer, Missionsinstruktionen, 15. 48 Instruction nach Orient, BS II, 634. 49 Gustav Warneck, Abriß einer Geschichte der protestantischen Missionen, Berlin 91910, 62-71; Martin Richter, Der Missionsgedanke im evangelischen Deutschland des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1928, 95–120; Erich Schick, Vorboten und Bahnbrecher. Grundzüge der evangelischen Missionsgeschichte..., Basel 1943, 110–151; Wilhelm Oehler, Geschichte der deutschen evangelischen Mission, Bd. 1, Baden-Baden 1949, 60–89; Martin Schlunk, Die Weltmission der Kirche Christi, Stuttgart 21951, 152–155; Hans-Werner Gensichen, Missionsgeschichte der neueren Zeit, Göttingen 1961, 18f; Werner Raupp (Hg.), Mission in Quellentexten, Bad Liebenzell 1990, 164– 172. 50 Auf die umfangreiche Literatur zu diesem Thema kann hier nicht eingegangen werden. In den Missionsgeschichten der Brüdergemeine steht Zinzendorf natürlich an zentraler Stelle. Aber auch darüber hinaus wurden viele Untersuchungen publiziert. Eine Diskussion entstand nur im Zusammenhang mit Leiv Aalen, der in einem Aufsatz über die Mission wie in seiner Monographie

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Zinzendorfs Gedanken zur Mission lassen sich zusammenfassen: Wo bisher überhaupt Mission getrieben worden war, hatten ausgebildete Theologen durch Massentaufen große Gemeinden zu sammeln versucht und waren dabei in den politischen Grenzen ihrer Landesherrn geblieben. Die Herrnhuter Brüdergemeine beschritt neue Wege. Die Initiative zur Mission ging jetzt von der Gemeine aus. Ihre Mitglieder folgten einem inneren »Zeugentrieb«, sie mußten weitererzählen, was sie selbst erlebt hatten. Das konnte jedes Gemeindeglied tun. Die Herrnhuter sandten erstmals Laien aus. Diese »Heidenboten« sollten alle Menschen aufsuchen, denn vor Gott stünden alle gleich da. Die Missionare gingen zu denen, die sonst vernachlässigt wurden und in denen sie nicht Barbaren oder edle Wilde sahen, sondern mögliche Geschwister im Herrn. »Zivilisation« im europäischen Verständnis war dabei nicht Voraussetzung für die Annahme des Christentums, sondern möglicherweise dessen Folge. Die Missionare sollten auf die Lebensweise und Kultur der Menschen eingehen, zu denen sie kamen. Sie beschränkten sich dabei nicht auf ein Gebiet, sondern wirkten in der ganzen Welt. Damit wurde der universale Gedanke erstmals umgesetzt. Die Herrnhuter Missionare hatten keine kulturellen, kommerziellen oder politischen Ziele – im Gegenteil, von diesen Bereichen sollten sie sich fernhalten – sondern rein religiöse: Sie wollten das Evangelium bringen. Deshalb lebten sie den Alltag in der Gemeinschaft mit Jesus beispielhaft vor. Mit ihrer christozentrischen Predigt wollten sie das Herz erreichen und nicht den Verstand. Dabei gingen sie davon aus, daß der Heilige Geist die Herzen einiger ihrer Zuhörer bereits vorbereitet hatte und sie eine »Erstlingsgabe« sammeln konnten. Für die Bekehrung ganzer »Nationen« schien ihnen die Zeit noch nicht reif. Zinzendorf war vom Pietismus und besonders von Francke geprägt. Er entwickelte jedoch seine eigenen, darüber hinausgehenden Grundsätze, die sehr wirkungsvoll waren. Dabei orientierte er sich an den neutestamentlichen Berichten über die Arbeit der Apostel. Die Mission der Brüdergemeine hat viel erreicht. Deshalb scheint es gerechtfertigt, Zinzendorf mit Schulze als den »hervorragendsten Missionsmann des 18. Jahrhunderts«51 zu bezeichnen. Zinzendorf aus der Nähe Luthers rückt. Genauere Literaturhinweise finden sich bei Wessel. In letzter Zeit hat sich v.a. Zimmerling in mehreren Veröffentlichungen mit der Theologie Zinzendorfs beschäftigt. Dabei kommt er zu ähnlichen Ergebnissen wie ich, was sich nicht zuletzt in der unabhängig voneinander erfolgten Auswahl desselben Titelzitats zeigt; Peter Zimmerling, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine: Geschichte, Sprirtualität und Theologie, Holzgerlingen 1999, bes. 171–178. 51 Adolf Schulze, Zinzendorfs Stellung und Bedeutung innerhalb der allgemeinen Missionsgeschichte, Missionsblatt der Brüdergemeine 64 (1900), 183.

CRAIG D. ATWOOD

Interpreting and Misinterpreting the Sichtungszeit

Introduction The Sichtungszeit (Sifting Time) is one of the central ideas of Moravian historiography. It is a period that shocks and fascinates observers. The Sichtungszeit has been granted almost a mythic status; a time of great danger which the Brethren survived and emerged stronger. But in this paper we will examine how the idea of the Sichtungszeit has been used consciously and unconsciously to marginalize central features of Zinzendorf’s theology and obscure certain aspects of Moravian piety in the eighteenth century. In particular, we will look at the actual history of the Litany of the Wounds and the celebration of the Mutterfest. The scope of this study could easily be expanded to include Zinzendorf’s doctrine of the incarnation and human sexuality, women’s roles in the community life, and the Moravian understanding of death, but space is limited.1

The Idea of the Sichtungszeit The term Sichtungszeit refers to a period of fanatical excess originating in the Herrnhaag community in the 1740s. At that time, the Brüdergemeine faced the real possibility that it would become a fanatical sect or what would today be termed a »cult«. In 1749, Zinzendorf was made aware of the situation in Herrnhaag and issued a long letter of reprimand.2 He also removed his son Christian Renatus from his office as head of the Single Men’s choir. A special synod was called to deal with the problems in Herrnhaag and the resulting negative publicity. Certain publications, including Zinzendorf’s sermons, were withdrawn and others edited and reissued.3 1 See Craig D. Atwood. Community of the Cross: Moravian Piety in Colonial Bethlehem, State College, Pa., 2004 for such a comprehensive study. 2 Craig D. Atwood, Zinzendorf’s 1749 Reprimand to the Brudergemeine, Transactions of the Moravian Historical Society 27 (1996), 59–84. 3 J. Taylor Hamilton and Kenneth G. Hamilton, History of the Moravian Church: The Renewed Unitas Fratrum 1722–1957, Bethlehem, Pa 1967), 105. Zinzendorf himself is credited with calling this period the Sichtungszeit. According to Hamilton, Zinzendorf recorded in the Jünger-

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So far, these are the certain facts; however, the idea of the Sichtungszeit grew in the retelling until it became a prominent heuristic tool for understanding Zinzendorf and the Moravians. Nearly every history of the Brüdergemeine in the eighteenth century has used the Sichtungszeit as a way to make sense of Zinzendorf and his movement. The standard model of interpretation is that Zinzendorf let his theological imagination roam too far. Like Icarus, he flew too close to the sun and catastrophe followed. His provocative (and to most interpreters, erroneous) ideas led to fanaticism, but the Count quickly returned to more or less traditional, orthodox theology and the community repudiated his unacceptable theological experiments. Through frequent repetition, this interpretation is now accepted as factual. The Sichtungszeit, we assume, marks a great watershed in Moravian piety and theology as the church moved away from Zinzendorf. It is also assumed that those who opposed the activities in Herrnhaag, figures such as August Gottlieb Spangenberg and Peter Böhler, must have been opposed to Zinzendorf and his evocative theological style.4 This is a nice and tidy approach to a controversial period of Moravian history; however, it is flawed. It simply fails to account for the persistence of Zinzendorfian piety for decades after the Count’s death and for the deep involvement of Spangenberg and others in that theology and piety. Moreover, it obscures core Zinzendorfian ideas and motifs.

Historiography of the Sichtungszeit Before demonstrating the flaws in the standard model, we need to address the question of why this standard interpretation has taken such firm hold on Moravian historiography. Simply put, it has served a convenient apologetical purpose. Whatever historians, church leaders, or theologians have considered bizarre or unorthodox about the eighteenth century Moravians has been identified as part of the Sichtungszeit and thus dismissed. We see this most clearly in English-language scholarship, but this apologetic approach has affected German scholarship as well. German scholars have used the Sichtungszeit to separate the »real« Zinzendorf from the piety of the 1740s that provided so much fuel for polemical attacks in his day and haus Diarium in 1757, »I myself probably gave the occasion for our short but terrible hour of Sichtungszeit« (ibid. 657 n. 35). 4 John Jacob Sessler is one notable example of this tendency. »Although in these years under discussion, men like Spangenberg and Peter Böhler took exception to Zinzendorfianism, it was in general the prevailing religious thought.« Sessler, Communal Pietism Among Early American Moravians, New York 1933), 153.

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latter. In England and America, the Sichtungszeit has been used to separate the Moravian Church from Zinzendorf’s theology itself. Zinzendorf is generally blamed for the Sichtungszeit and the Moravian immigrants are given credit for restoring the church to its original discipline and order. Zinzendorf is treated primarily as a patron and an inspirational leader whose theological experiments had little effect on the »true« Moravian Church. It is significant that there was little observation of the Zinzendorf tercentennial in America, other than through the efforts of a few scholars such as Daniel Crews and Arthur Freeman. The idea of the Sichtungszeit goes back to Zinzendorf himself and appears in the first official history of the Brüdergemeine, that of David Cranz, and the first biography of Zinzendorf, that of Spangenberg.5 It should be remembered that both of these works are apologies written in response to the numerous vicious polemics that had published against the Moravians rather than objective histories. In both accounts we see the idea of a time of trial or Sichtungszeit being used to demonstrate that the Moravian Church was not really the fanatical sect that mid-century polemics had portrayed. For Spangenberg, in particular, everything controversial about the Brethren ended with the end of the Sichtungszeit around 1750. For instance, Spangenberg dismisses completely the twelfth appendix (Anhang XII) of the hymnal as unworthy of study since it had been recalled by the church after 1749.6 What Spangenberg does not say is that all of the litanies and most of the hymns of Anhang XII continued to be used for decades throughout the Brüdergemeine with only minor revisions. For instance, Der Kirche Gebet zu ihrer Mutter (The Church’s prayer to her Mother) became Der Kirche Gebet zum Heiligen Geist (The Church’s prayer to the Holy Spirit), but the litany itself received only aesthetic improvement in terms of meter and word choice. It was not substantively revised until 1764. For over two hundred years, scholars have missed the persistence of the prayer to the Mother because of Spangenberg’s misleading presentation of the Sichtungszeit. This misunderstanding of the Sichtungszeit has of course been increased by the intentional destruction of church documents by church officials.7 5 David Cranz, Ancient and Modern History of the Brethren, translated by Benjamin LaTrobe, London 1780. August Gottlieb Spangenberg, Leben des Herrn Nikolaus Ludwig, Grafen von Zinzendorf und Pottendorf, Barby 1773–1775, Reproduced in Erich Beyreuther (ed.), Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Hildesheim 1971; Spangenberg, The life of Nicholas Lewis, Count Zinzendorf, Bishop and Ordinary of the Church of the United (or Moravian) Brethren, translated and edited by Samuel Jackson, London 1838. 6 Vernon Nelson, The Geistliche Gedichte of Zinzendorf and the Brüder-Unität 1745–1748, unpublished paper, Bethlehem, Pa.: Moravian Archives, 1999. 7 Paul Peucker, ›In Staub und Asche‹: Bewertung und Kassation im Unitätsarchiv 1760– 1810, in: Rudolf Mohr, ›Alles ist euer, ihr aber seid Christi‹. Festschrift für Dietrich Meyer, Köln 2000.

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Some documents that were not destroyed were altered. One striking example of this is in the Bethlehem Diary for 1748. In more than one place, the pages of the original diary have been cut to remove offending passages. For instance, one entry from 1748 states: »Moreover our congregation events today were very juicy and tasty to us, especially, however, the litany of the wounds, with which we...«8 The rest of the passage was neatly excised. Scholars have been too quick to assume that this reference to the »juicy and tasty« wounds represents the Sichtungszeit in Bethlehem. On the contrary, it is what was removed that represented the Sichtungszeit, not what was left in. In this case, it is whatever followed the Litany of the Wounds, not the ecstatic devotion to the wounds of Christ that represents the Sichtungszeit in Bethlehem. The unknown editor was comfortable with the tasty wounds but whatever came next was too dangerous for future generations to know about. Historians, however, have used the silence in the sources to create a Sichtungszeit that may or may not be accurate.

German Scholarship Hermann Plitt in many ways set the tone for the modern understanding of Zinzendorf. His dating of the Sichtungszeit as 1743–1750 remains the norm in Moravian scholarship.9 Recently, some have argued that it was really 1738–1752 or longer since expressions associated with the Sichtungszeit occur both before and after 1743–1750.10 Of course, the whole idea of »a brief, terrible time« of temptation and trial loses all meaning if it includes more than one third of Zinzendorf’s career. One problem with Plitt’s dating of the Sichtungszeit is that the majority of Zinzendorf’s important works were published during the 1740s. There is thus a tendency to dismiss works such as Vier und Dreizig homilien über die Wunden-Litaney (Thirty-four Homilies on the Litany of the Wounds) as nothing more than examples of the Sichtungszeit rather than expressions of

8 Aug. 26/Sep. 6, 1748, Bethlehem Diary, Moravian Archives, Bethlehem, Pa. 9 Hermann Plitt, Zinzendorfs Theologie, in 3 vols., Gotha 1869–1874: »Die ursprüngliche gesunde Lehre Zinzendorfs (1723–1742)«; »Die Zeit krankhafter Verbildungen in Zinzendorfs Lehrweise (1743–1750)«; »Die wiederhergestellte und abschließende Lehrweise Zinzendorfs (1750–1760)«.. 10 Gary Steven Kinkel, Our Dear Mother the Spirit: An Investigation of Count Zinzendorf's Theology and Praxis, Lanham, Md. 1990, chose 1738 as the beginning of the Sichtungszeit because by that date »certain ideas and manners of expression characteristic of the Sichtungszeit had begun to appear.« Kinkel, p. 31. As we will argue below, it is more accurate to say that the expressions of 1738 and even 1744 are not uniquely characteristic of the Sichtungszeit.

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Zinzendorf’s mature theology.11 We must keep in mind, though, that these were the works that Zinzendorf and the community chose to publish for the public arena. These were not the secret, nonsensical ravings of a few young men in Herrnhaag. Moreover, it was precisely these works of the 1740s that attracted hundreds to the Brüdergemeine. If the standard interpretation of the Sichtungszeit is accurate, then what do we do with Zinzendorf’s Hauptschriften? Are they expressions of the »real« Zinzendorf or not? The desire to distance Zinzendorf from his own writings was strengthened when Oskar Pfister, the Freudian psychologist who is not very popular among Moravians, understood the period that Plitt described as the Sichtungszeit as Zinzendorf’s »eruption period.« 12 It was the time when his latent tendencies and psychoses were publicly manifested. For him, the works of the 1740s were indeed the »real« Zinzendorf, a really unbalanced Zinzendorf. It was natural that pro-Zinzendorf scholars would want to distance the Count from writings that lend themselves to the charge of revealing deep-seated sado-masochistic tendencies. Gerhard Reichel persuasively answered Pfister’s charge that Zinzendorf was psychological unbalanced by demonstrating the close affinity between the expressions of the 1740s and Lutheran hymnody in the seventeenth century.13 Reichel’s approach has much to commend it; however, Reichel himself was so influenced by the traditional model of the Sichtungszeit that he actually argued at cross-purposes. On the one hand, he rightly showed that in the 1740s Zinzendorf was drawing upon a long tradition of German piety and is therefore not pathological, but on the other hand he asserted that this period was a brief aberration. Reichel accepted the view that the Count quickly returned to more acceptable modes of expression. Wilhelm Bettermann’s insightful treatment of Zinzendorf’s use of language follows a similar strange course of argument. Bettermann convincingly argues that the blood and wounds theology of the 1740s is genuinely Lutheran and vital to Zinzendorf’s theology while assuming that he turned away from such language after 1750.14 11 We see this in Erich Beyreuther and Gerhard Meyer’s editing of Zinzendorf’s sermons where the sermons on the Litany of the Wounds (vol. 3) are in a volume dedicated to the Sichtungszeit. (Nikolaus von Zinzendorf, Hauptschriften in sechs Bänden, Hildesheim 1962). 12 Oskar Pfister, Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf: Ein psychoanalytischer Beitrag zur Kenntnis der religiösen Sublimierungsprozesse und zur Erklärung des Pietismus, Leipzig 1910), 5, 57–64. 13 »Wenn man von dieser Rolle weiß, die die Seitenwunde Jesu schon in der Lyrik der lutheranische Kirche gespielt hat, so berührt es einen fast komisch, wenn Pfister der Tatsache solche Bedeutung beimißt, daß schon in einem Gedicht des Knaben gelegentlich einmal die ›Seitenhölchen‹ vorkommen«. Gerhard Reichel, Zinzendorfs Frömmigkeit im Licht der Psychoanalyse, Tübingen 1911), 71. 14 Wilhelm Bettermann, Theologie und Sprache bei Zinzendorf, Gotha 1935.

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Anglo-American Scholarship The use of the Sichtungszeit in Anglo-American scholarship is more problematic than in German scholarship. Those writing for an English-language audience have made the generally correct assumption that their readers do not have direct access even to Zinzendorf’s published works. Thus they have been able to more directly shape the readers’ understanding of Zinzendorf. The most influential figure in interpreting eighteenth-century Moravian history was James E. Hutton, a Victorian-era Moravian historian whose 1909 History of the Moravian Church is now even available on the Internet.15 For Hutton, the Sichtungszeit was the direct result of Zinzendorf’s anti-rational theology and his devotion to the wounds of Christ. »As long as Zinzendorf used his own mental powers, he was able to make his ›Blood and Wounds Theology‹ a power for good; but as soon as he bade good-bye to his intellect he made his doctrine a laughing-stock and a scandal. Instead of concentrating his attention on the moral and spiritual value of the cross, he now began to lay all the stress on the mere physical details. He composed a ›Litany of the Wounds‹; and the Brethren could now talk and sing of nothing else.«16

For Hutton, the Litany of the Wounds was itself evidence that Zinzendorf and his weaker followers (with the exception of Spangenberg and a few others) quite literally lost their minds. It would be more accurate to say that it is evidence that Zinzendorf was not the Victorian moralist that Hutton thought all good Christians should be. Hutton’s influence extended to American scholarship and his interpretation of the Sichtungszeit was used by John Jacob Sessler to understand the early history of Bethlehem. In fact, Sessler combined Hutton’s appraisal with Pfister’s psychological diagnosis of Zinzendorf and concluded that: »Zinzendorf suffered from a pathological condition which broke out in demonstrations of emotionalism, phantasies, and morbidity. In place of the pious exhortations of earlier days, his speech now resounded with word pictures of the merits of Christ’s blood and wounds and an excess of sensual symbolism.«17

Like Hutton, Sessler blames Zinzendorf’s theology for the financial crisis that threatened to bankrupt the Brüdergemeine in the early 1750s. Bethlehem faced its own economic difficulties during the period 1748–1752 when Spangenberg was in Europe and John Nitschmann was in charge. 15 J. E. Hutton, History of the Moravian Church, London 1909; http://everydaycounselor.com/hutton. 16 Hutton, 276. 17 Sessler, 162.

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According to Sessler, the Brethren were too enthralled by the adoration of the wounds and too trusting in God’s grace to actually work or plan for the future. All later histories of Bethlehem built on Sessler’s assumption despite the fact that most of the large buildings in that wilderness settlement were constructed during this time and mission activities increased dramatically. Helmut Erbe estimated that the average workday was nearly sixteen hours long during the same period routinely dismissed as the Sichtungszeit.18 Moravian bishop Edwin Sawyer, in his dissertation on the religious experience of the colonial Moravians, took Hutton and Sessler as his starting place. For him, the Sichtungszeit was equated with blood and wounds theology.19 This assumption caused him great difficulty when he dealing with a figure such as Cammerhof who is generally regarded as the major proponent of this piety in America. Sawyer, like Sessler, blamed Cammerhof for infecting Bethlehem with the Herrnhaag contagion; however, Sawyer was forced to admit that Cammerhof was the most effective missionary to the native peoples and one of Bethlehem’s most energetic and inspirational leaders. Sawyer, rather unconvincingly, argued that Cammerhof was an effective preacher and leader despite of his devotion to blood and wounds theology even though Cammerhof believed otherwise. I would like to propose that Sawyer’s hostility to Zinzendorfian theology and his ready acceptance of Hutton’s interpretation of the Sichtungszeit prevented him from understanding the real nature of the religious experience of the Moravians in Bethlehem. Another Moravian bishop and church historian, Kenneth Hamilton, revised his father’s earlier history of the Moravians. Kenneth Hamilton was not quite as hard on Zinzendorf as Hutton and Sessler although he accepts their basic understanding of the Sichtungszeit. Hamilton blames the Pietists for distorting the original piety of the Moravian exiles: »The old Moravian element within the Church had already displayed marked divergence from the pietistic; now to its detriment the ultra pietistic party dominated the Church.«20 According to Hamilton, the Moravian element eventually reasserted itself and restored proper biblical theology. »The Brethren soon found their way back to sober language and scriptural forms of thought. Few churches have passed through experiences so searching without suffer18 Helmut Erbe, Bethlehem, Pa.: Eine Herrnhuter-Kolonie des 18. Jahrhunderts, Herrnhut 1929. According to one visitor there were as many trades in Bethlehem in 1751 as in a major city. See also Beverly Smaby, The Transformation of Moravian Bethlehem from Communal Mission to Family Economy, Philadelphia 1989, 87–91. 19 Edwin Sawyer, The Religious Experience of the Colonial American Moravians, Ph.D. diss., Columbia Univ., 1956), published in Transactions of the Moravian Historical Society, 18 (1961), 1–227. 20 Hamilton and Hamilton, History, 98.

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ing permanent harm. ... The discipline so characteristic of the refugees of 1722 to 1727 was revived. The unhappy features of the time of Sichtungszeit disappeared; the hymnals and liturgies which had been instrumental in promoting them were suppressed.«21

Hamilton was obviously using the word Pietism in a curious way since the joyful adoration of the atonement was what most clearly distinguished Zinzendorf from the mainstream of German Pietism that was already falling into moralism and legalism.22 However, by contrasting the German or Pietist element to the Moravians and associating the former with the Sichtungszeit, American scholars were in fact asserting American independence from German control rather than presenting the actual history. This perspective, though, ignores the fact that some of the figures most closely associated with the mysticism of the wounds were in fact Moravian refugees. Also overlooked is the fact that the first so-called time of sifting was among the original residents of Herrnhut in 1726–27 prior to the famous experience of August 13.23 We can conclude this overview of the historiography with a summary of the basic Anglo-American understanding of the Sichtungszeit given by John Weinlick, the American biographer of Zinzendorf, who concluded, »The Sichtungszeit Period was a distortion of a basically sound emphasis upon the atoning death of Christ. Its outward manifestation was a morbid concentration and wordplay upon the blood and wounds of the crucified Christ and a simulated irresponsibility of behavior supposed to be a demonstration of childlike faith.«24

In the standard model of the Sichtungszeit, the following elements were all connected: wounds piety (especially the Litany of the Wounds), the mystical marriage to Christ, childlike joy in devotion, and we might add, the adoration of the Spirit as Mother. This has become so accepted that even those who view these aspects of Zinzendorf’s theology positively, such as Arthur Freeman, assert that it was given expression only for a brief time.25 HansWalter Erbe asserts that the Brüdergemeine abandoned even the idea of Christ as Creator after 1750 even though that is the one Zinzendorfian tenet that Spangenberg defends in Idea Fidei Fratrum.26 21 Ibidem, 105 and 106. 22 Hans-Walter Erbe, Herrnhaag – Tiefpunkt oder Höhepunkt der Geschichte der Brüdergemeine?, in: Unitas Fratrum 26 (1988), 37–51. 23 Spangenberg, Leben Zinzendorfs, 348. 24 John R. Weinlick, Count Zinzendorf, New York 1956; reprint Bethlehem, Pa. 1989), 198. 25 Arthur Freeman, An Ecumenical Theology of the Heart, Bethlehem 1999, 36. 26 Spangenberg, Idea Fidei Fratrum or An Exposition of Christian Doctrine as taught in the Protestant Church of the United Brethren or Unitas Fratrum, translated by Benjamin LaTrobe, London 1790; original German edition published 1778) republished with foreword by J. Kenneth Pfohl and Edmund Schwarze, Winston-Salem, N.C. 1959.

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Problems with the Standard Model The traditional view of the Sichtungszeit has asserted great influence and continues to serve political and ecclesiastical purposes. Unfortunately, the evidence contradicts this widely accepted theory. I would go so far as to say that our current understanding of the Sichtungszeit is an historical fiction. In their efforts to invent a Moravian Church unaffected by Zinzendorf’s more creative ideas, or to invent a Zinzendorf similarly unaffected by his own ideas, scholars have in fact distorted our understanding of the entire Zinzendorfian era and the evolution of Moravian theology and piety rather than illuminated them. There is space for only a couple of examples from the Bethlehem records to demonstrate the persistence of evocative blood and wounds language after the Sichtungszeit. We read, for instance, that at a communion service the »corpse bees enjoyed the sacrament.«27 At another service, »After those who are sick had also received their portion of the body, Br. Nathanael [Seidel] sang the corpse-bees completely to sleep with the late Christel’s corpse liturgies for a blessed rest in His grave!«.28 Based on the standard periodization of Moravian history, we would date these entries to the late 1740s or perhaps the period when Spangenberg was in Europe. Actually they come from the late 1750s when the Sichtungszeit was over and Spangenberg was fully in control in Bethlehem. How do we explain the persistence of such language after the Sichtungszeit? The simplest explanation is that these references to the »corpse bees« represent a deeply felt Zinzendorfian piety that was shared by Spangenberg and the Bethlehem community. It is certainly true that Spangenberg did not write like this in his later apologetical works, but he certainly used such expressions when he was the »Vicar General of the Ordinary in America« in the decade following the Sichtungszeit. Why has this been overlooked for two centuries? It is because of the influence of the traditional interpretation of the Sichtungszeit. We can see similar things in the records for North Carolina. The actual history of the Litany of the Wounds also challenges the standard model. Historians have allowed the theory to determine the evidence. Once it has been accepted that the Litany of the Wounds is a piece of Sichtungszeit nonsense, then one does not notice its use after 1750. This is particularly true if the name of the litany is changed to something that appears on the surface to be more traditional. The old Litany of the Wounds, 27 Bethlehem Diary, Jan. 19, 1760. 28 Bethlehem Diary, Nov. 27, 1756.

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with minor revisions, became »The Litany of the Life, Sufferings, and Death of the Jesus« and »Hymns of the Wounds«.29 In this form, most of the old Litany of the Wounds, including the infamous petitions to the wounds of Christ (»so moist, so gory«) remained in publication to the end of the eighteenth century, fifty years after the Sichtungszeit.30 In Bethlehem, the use of the Litany of the Wounds did decline in the 1750s when it was supplanted by the Pleurodie in the 1750s, but this should not be interpreted as a rejection of either the language or the theology of the Wundenlitanei. The Pleurodie is a hymn of praise »to Elections’ Root In the Side’s holy Cut!«. The victory of Christ came, not in the crucifixion, but more precisely in the piercing of Christ. This wounding of God is thus compared to the theophanies of the Bible where the seraphim must cover their eyes before the glory of God; however, in this case human creatures are more blessed than the angels. The church, the bride of Christ, »which was Dug out and built from the Side’s Space« is at home in the side wound and can adore it without shame or fear. All true believers belong in the side of Christ.31 The increased use of the Pleurodie represents a strengthening, rather than a weakening of wounds devotion in Bethlehem after the Sichtungszeit during Spangenberg’s tenure in the 1750s and 60s. 32 The Brethren continued to crawl inside the side of Christ long after the Sichtungszeit. The persistence of blood and wounds devotion is also evident in the first complete litany book published after the Sichtungszeit, the 1757 Litaneyen Büchlein. In the Holy Communion liturgy, for instance, the communicants are invited to the ritual with verses such as »In a moment stands before us The Prince with his open Side, and one feels He’s most desirous Our poor Souls therein to hide.« Confession is made along with prayers such as, »O bespittled Cheeks, that the Father may not spit on us! Bloody Gore from thy Body, wash our Feet! Besweated Hair, wipe them!« from the Wundenlitanei. The blessing of the cup was preceded with verses about the blood 29 For example: A Collection of Hymns chiefly extracted from the Larger Hymn-Book of the Brethren's Congregations, London 1769; A Collection of Hymns, for the Use of the Protestant Church of the United Brethren, London 1789; Liturgic Hymns of United Brethren: Revised and Enlarged, London 1793. 30 This includes both German and English hymnals. See for instance: A Collection of Hymns chiefly extracted from the Larger Hymn-Book of the Brethren's Congregations, London 1769; A Collection of Hymns, for the Use of the Protestant Church of the United Brethren, London 1789; Liturgic Hymns of United Brethren: Revised and Enlarged, London 1793, 55f. 31 Das Litaneyen-Büchlein nach der bey den Brüdern dermalen hauptsächlich gewöhnlichen Singe-Weise von neuem revidirt, und in dieser bequemen Form ausgegeben von dem Cantore Fratrum Ordinario, 4th ed., Barby 1757; The Litany-book, According to the Manner of Singing At present mostly in Use among the Brethren, Again revised, and in this convenient Form set forth by the Brethren’s Chantor, translated from the 4th German edition, London 1759. 32 Craig D. Atwood, Zinzendorf’s Litany of the Wounds, in: Lutheran Quarterly, 11 (1997), 189–214.

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and the side wound, such as »On Heart and Mouth, O Lamb, do Thou bleed, We smiling look to thy holy side: To thy Heart now put us, on thy Wounds press us, In these blest Sacrament-Hours so precious, Lamb, Lamb, O Lamb!«. Although Hutton and Sessler relied on ridicule to obscure the impact of Zinzendorf’s theology on the eighteenth century Moravian Church, there is a growing body of literature on Moravian missions that indicate that socalled Sichtungszeit concepts were central to Moravian missions and to the conversion experience of the native peoples of North America. Scholars have begun to climb out of the shadow of the Sichtungszeit concept and are noticing an interesting theme that runs counter to the traditional view of the Sichtungszeit. Far from finding the blood and wounds theology offensive, native peoples embraced it.33 One of the first texts translated into Mahican was the Litany of the Wounds and it remained a much-used litany throughout the eighteenth century. David Zeisberger, like Cammerhof, found blood and wounds language to be particularly effective in communicating to the natives.

The Motherhood of the Holy Spirit Another example of how the standard model of the Sichtungszeit has distorted our understanding of Zinzendorf’s theology and the piety of the Moravians involves the role of the Holy Spirit as Mother. This concept has frequently been ridiculed and dismissed as part of the Sichtungszeit. Again we can quote Hutton, »He gave free rein to his fancy, and came out with an exposition of the Trinity which offended the rules of good taste. He compared the Holy Trinity to a family. The father, said he, was God; the mother was the Holy Ghost; their son was Jesus; and the Church of Christ, the Son’s fair bride, was born in the Saviour’s Side-wound, was betrothed to Christ on the Cross, was married to Christ in the Holy Communion, and was thus the daughter-in-law of the Father and the Holy Ghost.«34

Hamilton could only bring himself to deal with this matter in a footnote that states, »The designation of the Holy Spirit as our ›Mother‹ embodied in 33 Karl W. Westmeier, a professor of misssiology in New York, concluded that the Litany of the Wounds and related works were instrumental in converting the natives peoples of North America. He writes, »The blood and wounds of Christ was the great Moravian discovery for the evengelization of the world– the means by which the North American Indians would be saved, beginning at Shekomeko. There could be no salvation without the blood.« Westmeier, Out of a Distant Past: A Challenge for Modern Missions from a Diary of Colonial New York (Shekomeko 1744), in: Transactions of the Moravian Historical Society, 27 (1992), 67–85. 34 Hutton, 275.

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them [the litanies of Anhang XII] is an illustration of the danger of substituting vivid figures of speech for logical ideas«.35 Whether or not it is dangerous to call the Spirit, Mother, this is perhaps the clearest instance where the theory of the Sichtungszeit has caused researchers to miss the evidence.36 It is assumed that this was a brief Zinzendorfian fancy quickly suppressed; therefore no one looks for its presence after 1750. Gary Kinkel, in his study of the mother metaphor of the Holy Spirit was so convinced that this devotion ended with the Sichtungszeit that he apparently did not even examine sources after 1750.37 However, Zinzendorf aggressively promoted devotion to the mother after 1750, apparently as a way to help overcome the ill effects of the Sichtungszeit. This devotion reached its height in 1757, but it was kept out of the public eye. »It is thus seen as a special grace which our folk experience, that the office of the Holy Spirit is expressed among us with the Mother name«; however, »there is a distinction to make between what we do among ourselves and what we can allow to be published«.38 After the polemical attacks of the 1740s, the Brethren were careful to keep the doctrine of the Mother Spirit private. As with the Litany of the Wounds, there is evidence that the use of the mother metaphor for the Holy Spirit was one reason for Moravian success among the native peoples. We find the missionaries at Springplace, Georgia referring to the mother in their official church diaries as late as 1810, sixty years after the ending of the Sichtungszeit.39

Herrnhaag and the Crisis of 1749–1750 One advantage of the traditional interpretation of the Sichtungszeit is that it gives a nice explanation for the dissolution of Herrnhaag. Herrnhaag, the center of the Sichtungszeit, was also the most vital community in the Brüdergemeine at mid-century. Most of the leadership of the church for half 35 Hamilton and Hamilton, History, 657 n. 33. 36 Craig D. Atwood, The Mother of God’s People: The Adoration of the Holy Spirit as Mother in the Eighteenth-Century Brüdergemeine, in: Church History 68 (1999), 886–909. 37 Kinkel, Our Dear Mother the Spirit. 38 Verlass des Synodi zu Marienborn im Jahr 1764 gehalten, 28th session of the synod, August 9, 1764, p. 1305–1310. (Archiv der Brüder-Unität, Herrnhut, Germany, R.2.B.44.1.c.2). Several times it was noted that caution should be exercised so that what was holy would not be trampled by the ungodly or the name of God be blasphemed by those who did not understand the mother metaphor. 39 June 10, 1810, Springplace Diary, (Archives of the Southern Province of the Moravian Church, Winston-Salem, N.C.). There are many other references to the motherheart of the Spirit in this diary. I am grateful to Julie Weber for providing these references.

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a century lived for a time at Herrnhaag. During the 1740s, at a time when polemics about the Moravians circulated throughout Europe, Herrnhaag was visited by hundreds of persons who ended up joining the community.40 Polemics against the Moravians do seem to have prejudiced Count Casimir of Ysenburg-Büdingen, who became the secular lord of Herrnhaag in 1749, but his objections to the Brethren were essentially the same that had been raised in the 1720s and 30s in Saxony and Holland. He viewed the Moravians as a church not provided for in the Westphalia Treaty. It is interesting that he did not command the Brethren to reform their ways or change their devotional practices as a condition for staying on his lands. What he did demand was a repudiation of Count Zinzendorf as proof of their loyalty to their new temporal lord.41 It was not the liturgical life of the Brethren that bothered Casimir, but Zinzendorf himself. Casimir was shocked when the Brethren elected to vacant their buildings rather than show disloyalty to Zinzendorf. It is only in the minds of later historians that the Sifting Time in Herrnhaag was the primary cause of the expulsion decree. Dynastic, political, and aristocratic rivalry played a greater role than theology in the order of banishment; however, in Moravian historiography the dissolution of Herrnhaag has served as a morality tale. Beware of embracing Zinzendorf’s radical ideas or you will end up like Herrnhaag. In short, Herrnhaag became a Moravian Sodom that was destroyed because of its heresy.

Conclusion If the traditional dating and interpretation of the Sichtungszeit is correct, then there is an interesting contradiction in Moravian History. The period 1743 –1750 was the period of Zinzendorf’s greatest literary output. While these works brought harsh criticism from some, they also brought many into the movement. Furthermore, during this time the Moravians were examined by governmental officials in Saxony, Prussia, and England and consistently found praiseworthy. Zinzendorf's own order of exile from Saxony (which was put in effect in 1736) was rescinded in 1747, near the height of the Sichtungszeit, according to the traditional view. Furthermore, during this time the Moravian Church was granted toleration by Frederick the Great (no friend of religious fanaticism) who encouraged them to settle 40 Cranz, 305. 41 Hans-Walter Erbe, Herrnhaag: Eine religiöse Kommunität im 18. Jahrhundert, Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine, 23/24 (1988), 4–222.

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in his newly acquired lands in Silesia. In 1749, when the Sichtungszeit was supposedly raging out of Zinzendorf’s control, the English Parliament carefully studied the history and theology of the Moravians and concluded that the Moravian Church was an »ancient and episcopal Protestant Church«. Colin Podmore, in his excellent study of the Moravians in England, is to be commended for recognizing that it was precisely those aspects of Moravian devotion that historians have often dismissed as pathological and Sifting Time were what attracted many English Evangelicals, such as John Cennick and Jacob Rogers to the Moravian fold.42 Podmore notes that it was after the so-called Sifting Time that the English Moravian church stagnated. The same could be said for the Brüdergemeine elsewhere as well. Certainly there was a crisis in Herrnhaag that we can call a Sichtungszeit. It involved nonsensical jargon about the wounds of Christ, a jargon that even the participants may not have understood. In essence, they were speaking in unknown tongues. The Sichtungszeit also involved factionalism and breakdown in discipline, much as we see in charismatic movements today. In general, though, the Sichtungszeit in Herrnhaag was not as terrible as modern scholars assume. It was a time of silliness, a time when a youth culture lost its boundaries, much like »the summer of love« in 1967 San Francisco. Although Zinzendorf’s theology did inspire those involved in the controversy at Herrnhaag, it is clear that most of the key elements of his theology remained vital in the Brüdergemeine for years after the Sichtungszeit was over. In fact, many of those elements ridiculed by later historians as irrational and fanatical were essential to the success of the Moravian mission and communal life in the mid-eighteenth century.43 Today, some are discovering that aspects of Zinzendorf’s theology once ignored, obscured, or ridiculed may in fact have relevance for faith in the modern world, but that is a topic for another paper.

42 Colin Podmore, The Moravian Church in England, 1728–1760, Oxford 1998, 132–136. 43 Craig D. Atwood, Sleeping in the Arms of Christ: Sanctifying Sexuality in the EighteenthCentury Moravian Church, Journal of the History of Sexuality, 8 (1997), 25–51.

COLIN PODMORE

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Wenn man deutsche Mitglieder der Brüdergemeine nach der Herkunft ihrer Kirche fragt, sagen sie meistens, sie sei im achtzehnten Jahrhundert durch Nikolaus Ludwig von Zinzendorf in Herrnhut gegründet worden. Britische und amerikanische Mitglieder hingegen verweisen für ihre Gründung auf das fünfzehnte Jahrhundert in Böhmen. Allgemein wird in der britischen Provinz der Brüdergemeine, ähnlich wie in Amerika1, die Rolle Zinzendorfs in der Brüdergeschichte heruntergespielt. Diese Haltung wird durch den Namen verstärkt, unter dem die Brüdergemeine in englischsprachigen Ländern bekannt ist. In den Anfangsjahren der Brüdergemeine in England wurde der Name »the Moravian Brethren« (»die mährischen Brüder«) häufig für ihre Mitglieder verwendet, egal ob sie eigentlich aus Mähren stammten oder nicht. Dieser Name lebte neben der formelleren Bezeichnung »Church of the United Brethren« fort. Schließlich nahm die Synode der britischen Provinz 1908 den Namen »The Moravian Church«, die in Nordamerika schon gebräuchlich war, als ihre offizielle Bezeichnung an2. Dieser Name betont die tschechischen Wurzel der Brüdergemeine und lenkt die Aufmerksamkeit von ihrem unmittelbaren deutschen Ursprung ab. Für die Neigung, Zinzendorfs Rolle herunterzuspielen, gibt es wohl mehrere Gründe. Die britische Provinz wurde 1857 selbständig und fing ab 1860 an, ihre Pfarrer in England auszubilden, anstatt sie nach Gnadenfeld ins theologische Seminar zu schicken.3 Als man in Deutschland in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts begann, Zinzendorf wiederzuentdecken4, verfügten also immer weniger britische Mitglieder der Brüdergemeine über die Sprachkenntnisse und den kulturellen Hintergrund, die sie gebraucht hätten, um an dieser Entwicklung teilzunehmen. Später kam noch dazu, daß der erste Weltkrieg die Kontakte zwischen der britischen und der festländischen Provinz vermindert hat. In Deutschland hat die doch äußerst kleine Brüdergemeine im zwanzigsten Jahrhundert eine unwahrscheinliche 1 Siehe Craig Atwood, Interpreting and Misinterpreting the Sichtungszeit, in diesem Band, S. 174–187. 2 Geoffrey und Margaret Stead, The exotic plant. A history of the Moravian Church in Great Britain, 1742–2000, Peterborough 2003, 126f. 3 Ebd., 178. 4 Siehe Hans-Christoph Hahn. Das Bild Zinzendorfs nach seinem Tode, in diesem Band, S. 256–271.

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Blüte in der theologischen und historischen Forschung erlebt, die zu einer viel positiveren Einstellung Zinzendorf gegenüber geführt hat. In der zahlenmäßig noch viel kleineren britischen Provinz war dies nicht der Fall, und wegen der wenigen Kontakte und hauptsächlich wegen der Sprachgrenze hat man der Entwicklung in Deutschland nicht verfolgen können. Drittens findet man in England, wie in Amerika auch, die Frömmigkeit der Zinzendorfzeit immer noch peinlich. Die Folgen der Krise von 1753, als in England eine Flut von Streitschriften die Brüdergemeine zur Zielscheibe des Spottes machte, wirken bis heute nach. Man möchte lieber mit Jan Hus, mit Comenius und mit den tapferen mährischen Exulanten identifiziert werden, als mit der umstrittenen Figur des Grafen von Zinzendorf. Aber es gibt noch einen weiteren Grund für das zwiespältige Verhältnis der englischen Brüdergemeine zu Zinzendorf, nämlich, daß dieses Verhältnis schon von ihrer Gründung an ein äußerst schwieriges war. Dieses will ich in diesem Beitrag zeigen. Um dies zu tun, werde ich andeutungsweise auch Zinzendorfs Beziehungen zur Kirche von England in Betracht ziehen müssen. Meine Ausführungen werden sich zum Teil auf meinem Buch The Moravian Church in England, 1728–1760 stützen5.

Zinzendorfs erster Besuch: 1737 In den zehn Jahren 1737 bis 1746 besuchte der Graf fünfmal England. Zwischen 1749 und 1755 lebte er insgesamt fünf Jahre lang dort (von 1749 bis 1750 anderthalb Jahre lang und dann von 1751 bis 1755 dreieinhalb Jahre lang)6. Als er 1737 das erste Mal London besuchte, hatte der Graf die Gründung einer englischen Brüdergemeine überhaupt nicht im Blick. Er wollte sich erkundigen, wie man in der Kirche von England reagieren würde, wenn er sich zum Bischof der Unitas Fratrum weihen lassen würde. Eine positive Einstellung der englischen Nationalkirche zur brüderischen Ordination konnte ordinierten Brüdern in den Kolonien hilfreich sein. Charles Wesley vermittelte ein Gespräch mit dem führenden Bischof John Potter. Dieser besuchte den Grafen an dem Tag, an dem er zum Erzbischof von Canterbury ernannt wurde. Potter behauptete, daß etwaige Einwürfe der protestan5 Colin Podmore, The Moravian Church in England, 1728–1760. Oxford 1998. Weitere Quellenangaben und nähere Einzelheiten sind dort zu finden. For an English summary of the first four chapters, see Colin Podmore, The Moravians and the Evangelical Revival in England: 1738–1748. Transactions of the Moravian Historical Society, 31 (2000), 28–45. 6 Für eine Schilderung der Hauptaspekte von diesen Besuchen und Aufenthalten, siehe Colin Podmore, Zinzendorf und England. In: Graf ohne Grenzen. Leben und Werk von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Herrnhut 2000, 55–59.

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tischen Kirchen leichtfertig sein würden; diese von Gott gegebene Gelegenheit, eine bischöfliche Kirche zu erneuern und zu erhalten, sollte man unbedingt nutzen. Nachdem die Bischofsweihe stattgefunden hatte, schrieb der Erzbischof einen Brief an Zinzendorf, worin er »sanctam illam [...] Moraviensem cathedram« beglückwünschte, zu der Zinzendorf erhoben worden sei »favente Divino numine, plaudente coelesti choro«7. Zinzendorf blieb an Kontakten mit bedeutenden englischen Bischöfen interessiert; 1739 schickte er Heinrich Cossart nach der Insel Man, um mit deren Bischof, dem frommen Hochkirchler Thomas Wilson, Gespräche zu führen. Für Zinzendorf sollte das Verhältnis der Brüdergemeine zur Kirche von England von erstrangiger Bedeutung bleiben.

Die Gründung der ersten englischen Brüdergemeinen und ihre Vorgeschichte: 1739–42 Dieses Verhältnis wurde aber bald durch die Einrichtung von Brüdergemeinen für Yorkshire und London und einer Kinderanstalt in Essex kompliziert. Knapp hundert Jahre später schrieb Unitätsarchivar Johannes Plitt, die Brüdergemeinen in England seien »von einigen Mähren und Deutschen absichtslos angefangen«  »eine der merkwürdigsten Erscheinungen in der Geschichte der Brüder-Unität«8. In der Tat hatte man nicht vorgehabt, als vier Brüder 1738 nach London geschickt wurden, daß sie in das englische religiöse Leben einbezogen werden sollten. Die Abfahrt des Schiffs, in dem zwei von ihnen nach America weiterfahren sollten, verzögerte sich aber. In der damit gewonnenen Zeit baten interessierte Engländer einen von ihnen, Peter Böhler, in ihren Kreisen zu reden. Dies führte dazu, daß er am 1. Mai9, drei Tage vor seiner Abreise, für neun von ihnen eine Bande Herrnhuter Art stiftete. Er konnte nicht wissen, daß diese zur Fetter Lane Society sich entwickeln würde, die innerhalb von einem Jahr die Leitung einer landesweiten Erweckungsbewegung innehaben sollte. Im April 1739 besuchte Zinzendorf England auf der Rückreise von der Karibik ein zweites Mal. Es gab Besprechungen mit den Leitern der Sozietät, die der Brüdergemeine noch nicht angegliedert war, und eine Fragestunde in ihrem Versammlungsraum. Die Sozietät befand sich in einer 7 Unitätsarchiv Herrnhut [UA], R4.D3.5a: J. Potter to Zinzendorf, 10.August 1737. 8 UA: Johannes Plitt, Die Brüder-Gemeinen in England. Ein Beitrag zu deren Geschichte seit 1728 aus den Quellen des Unitätsarchivs (Mskr., 1838): Vorwort, 1. 9 Im Text dieses Artikels werden für Ereignisse in England die Daten vor 1752 nach dem damals in England noch geltenden julianischen Kalender angegeben.

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Krise: Einige prominente Mitglieder lehnten die Kirche von England und sogar das christliche Priestertum ab. Der Graf überzeugte den Pfarrer Charles Kinchin, der seine Gemeinde aufgeben wollte, zu ihr zurückzukehren. Das, was er in London vorfand, hat Zinzendorf offenbar schockiert. Im September wurde in London ein Brief von Richard Viney, dem in Heerendijk weilenden ersten englischen Mitglied der Brüdergemeine, an die Mitglieder der englischen Erweckungsbewegung veröffentlicht, in dem er ihr »ordnungswidriges Verhalten« tadelte10. Daß der Brief am Tag nach Zinzendorfs Weiterreise von Heerendijk datiert war, läßt schließen, daß der Graf ihn angeregt hatte. Sein Hauptinhalt war, daß es unrecht sei, »Leute zu überreden, sich von den Kirchen zu trennen, in denen sie erzogen worden waren, und neue Sekten zu gründen«11. Es war ja Zinzendorfs Absicht, daß die Brüdergemeine eine Gemeinschaft von erweckten Christen in den verschiedenen Kirchen bleiben und bloß keine Sekte werden sollte. In dem Brief wurde das Feldpredigen ebenfalls abgelehnt. Im Juli 1740 kam es zu einer Spaltung in der Fetter Lane Society. John und Charles Wesley traten mit ihren Anhängern aus. Nun stand die Brüdergemeine vor einer Entscheidung. Einige Brüder waren schon in England. Johann Töltschig war nach Yorkshire geschickt worden, um in der dortigen von Benjamin Ingham bewirkten Erweckung zu helfen, und Richard Viney nach Oxford. Johann Balthasar Gussenbauer und seine Frau (Vineys Schwester Ann) waren wegen ihrer Schwangerschaft von einer Reise nach Amerika in London zurückgeblieben. Später im Juli kehrte James Hutton, ein Mitglied von Böhlers ursprünglicher Bande, mit einer neuen Frau, Louise Brandt (einem schweizerischen Mitglied der Brüdergemeine), aus Deutschland zurück. Eine Konferenz, der Viney, die beiden Huttons und Gussenbauer angehörten, bat die Brüdergemeine nun förmlich, die Leitung der Sozietät zu übernehmen. Die Brüdergemeine mußte also eine kritische Entscheidung treffen: Sollte sie dies tun, und damit in die englische Erwekkungsbewegung hineingezogen werden, oder nicht? Daß Georg Adolph von Marschall sich auch dorthin begeben sollte, stand schon fest. Das wäre aber nicht genug. Die leitende Ältestenkonferenz in Marienborn (Wetterau) beschloß im September 1740, daß August Gottlieb Spangenberg mit einer Gruppe von »Arbeitern« nach London gehen sollte, um die Leitung der Fetter Lane Society zu übernehmen. Sie kamen am 26. März 1741 an. Im September 1741 weilte Zinzendorf auf dem Weg nach Amerika wieder in London. Auf der dort gehaltenen Synodalkonferenz ging man davon aus, daß es in Yorkshire eine Brüdergemeine geben sollte. Jedoch: »Es muß 10 Richard Viney, A Letter from an English Brother of the Moravian Persuasion in Holland to the Methodists in England, lamenting the Irregularity of their present Proceedings. London 1739. 11 Ebd., 4.

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der englischen Brüder ihr Marienborn sein und nicht Herrnhut«  also eine Zentrale wie die Pilgergemeine im Marienborner Schloß und keine Siedlung wie Herrnhut. In London sollte das Profil der Brüdergemeine nicht höher werden als bisher: »Es ist nicht gut, daß in London vor die Zeit das Evangelium öffentlicher verkündigt werde [...] Der Herr Graf hätte schon predigen können alle Sonntage in der Meeting und ganz publice, wenn er nicht so bedenklich wäre in dergleichen Sachen«12. Öffentliches Predigen in einem Londoner Bethaus wäre ein deutliches Zeichen dafür, daß die Brüdergemeine eine Konkurrenz zur Kirche von England darstellte; dies wollte Zinzendorf vermeiden. Ähnlich wie auf dem Festland, wo die leitende Generalkonferenz 1742 eine Generalkonzession zur Gründung von Brüdergemeinen in Schlesien erlangte, sollten während des Grafen Abwesenheit in Amerika die Weichen für die künftige Entwicklung der Brüdergemeine in England gestellt werden. Am 15. Mai 1742 wurde in London die erste englische Brüdergemeine eingerichtet. Sie sollte ausschließlich aus »Arbeitern« bestehen und zog im Juni nach Yorkshire, um dort die Leitung von Inghams 40 Sozietäten zu übernehmen. Soviel hatte Zinzendorf vorgesehen. Dem folgten aber zwei weitergehende Schritte. Spangenberg beauftragte James Hutton, den Versammlungsraum der Sozietät als freikirchliches Bethaus zu registrieren. Dies taten Hutton und fünf andere Mitglieder am 7. September unter Anwendung des Namens »Protestant Dissenters from the Church of England, commonly called Moravian Brethren« (protestantische Freikirchler, die von der Kirche von England abweichen, allgemein mährische Brüder genannt)13. Als Zinzendorf im November davon erfuhr, schrieb er mit dem mährischen Bischof David Nitschmann zusammen sofort ein Protestschreiben an den Erzbischof von Canterbury, in dem sie insbesondere die Worte »mährische Brüder genannt« ablehnten. Der Name der mährischen Brüder, den Zinzendorf gebraucht hatte, um den Anspruch der Brüdergemeine zu rechtfertigen, Erbe der Tradition und des Amtes der Unitas Fratrum und deswegen eine Schwesterkirche der Kirche von England zu sein, sollte nicht mit Trennung von der englischen Nationalkirche assoziiert werden. Daß Spangenberg inzwischen am 29. Oktober eine zweite englische Brüdergemeine für London eingerichtet hatte, die dieses nun registrierte freikirchliche Bethaus als ihren Saal hatte, erfuhr der Graf erst später. Auf der Rückreise von Amerika besuchte Zinzendorf im Februar und März 1743 wieder England. Man kann sich vorstellen, daß nach diesen 12 John Rylands University Library, Manchester, Eng. MSS 1057a: Synodalkonferenz, 11.–23. September 1741, II. 19, 18 (Abschrift). 13 Corporation of London Records Office, Sessions Records: Dissenters and Roman Catholics, 1742–98.

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Entwicklungen sein Verhältnis zur Londoner Brüdergemeine etwas gespannt war. Ihre Einrichtung als selbständige Freikirche widersprach seiner Vorstellung von der Brüdergemeine als einer Gemeinschaft von Christen in den verschiedenen Konfessionen und seiner Ablehnung von Proselytismus und würde das Verhältnis zur englischen Kirche gefährden. In einer Rede im Saal der neuen Londoner Brüdergemeine, der nun »the Brethren’s Chapel« (die Brüderkapelle) genannt wurde, versuchte der Graf, die Londoner Mitglieder der Brüdergemeine davon zu überzeugen, daß sie der Kirche von England treu bleiben und sich nicht mit der mährischen Brüderkirche identifizieren sollten14. Am Ende des Besuchs wurde er von Erzbischof Potter wieder freundlich empfangen.

Gehorsam und Freiheit: 1743–44 Bald nach der Einrichtung der Brüdergemeinen für Yorkshire und London erlebten sie eine Krise, die fast einen vöáligen Bruch zwischen ihnen und den Deutschen, die die Fetter Lane Society gebeten hatte, ihre Arbeit zu leiten, herbeiführte. Im Frühjahr 1743 fing Richard Viney (das erste englische Mitglied der Brüdergemeine und einer derer, die diese Einladung ausgesprochen hatten) an, eine Abneigung gegen den autoritären Leitungsstil innerhalb der Brüdergemeine und den Mißbrauch (wie er meinte) des Loses zu entwickeln. Im August unterrichtete er die Ältestenkonferenz der Brüdergemeine Yorkshire (deren Vorsteher er im Juni geworden war) von seiner Kritik und stieß zu seiner Überraschung auf Zustimmung15. Friedrich Wenzel Neißer, der in jenem Sommer die Leitung der Brüdergemeine in England von Spangenberg übernommen hatte, schrieb später, Viney habe genausoviel Unterstützung in London genossen. James und Louise Hutton seien führende Mißvergnügte, und nur zwei Amtsinhaber der Londoner Brüdergemeine, der Älteste des ledigen Brüderchors und die Älteste der ledigen Schwestern, wären nicht an das, was Neißer als »Rebellion« bezeichnete, beteiligt gewesen. »Feindschaft gegen die Pilgergemeine« sei sehr verbreitet gewesen. Neißer bemerkte: »Es hat allein die Barmherzigkeit Gottes verhütet, daß nicht ein wirklicher Bruch geschehen ist« zwischen den englischen Gemeinden und ihrer deutschen Leitung16.

14 Büdingische Sammlung. Bd. 3 Büdingen 1744, 597. 15 Eng. MSS 1063.29: Viney an die Brüdergemeine, 12. November 1743; Eng. MSS 1063.23: Viney an Töltschig, 20. August 1743 (Abschriften). 16 UA, R13.A5.65: Neißer an Zinzendorf, 13./24. Dezember (Abschrift).

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Spangenberg kehrte im Oktober nach England zurück und begab sich nach Yorkshire. Neißer blieb in London, während Spangenbergs Frau die dritte englische Brüdergemeine sicherte. Diese bestand aus den Mitarbeitern der brüderischen Kinderanstalt in Broadoaks, Essex, wo Viney bis Juni der Direktor gewesen war. Auf Spangenbergs Ansuchen hin legte Viney (der von seinem Amt als Vorsteher der Gemeine in Yorkshire zurückgetreten war) seine Einwände schriftlich dar. Er tadelte den »ungöttlichen Mißbrauch des Loses«, »das herrschsüchtige Gouvernement in der Kirche, durchgesetzt durchs Los« und »das gottlose Verfahren der Pilgergemeine gegen die Mährische Kirche«. Den Mitgliedern sei ein Gewissenszwang aufgelegt »und ein Joch schwerer denn Moses’«, und »die Disposition der Arbeiter nicht allein über die Personen, sondern auch ihre Güter« habe einen ähnlichen Effekt wie die Unfehlbarkeitslehre in der römischen Kirche. Man sei dem Grafen und der Pilgerkonferenz mehr unterworfen als die Glieder der römischen Kirche dem Papst17. Viney und seine Anhänger lehnten nicht den Gebrauch des Loses sondern seinen Mißbrauch ab; auf Vorschlag von ihm wurde das Los über drei umstrittene Aussagen befragt. Vineys Behauptungen, Spangenberg hätte Unrecht in seinem Gebrauch des Loses und in der Art seines Kirchenregiments wurden durch das Los bestätigt, ebenfalls daß es »einen willkürlichen Geist« in Spangenberg und seinen Mitarbeitern gebe, aber auch Spangenbergs Erklärung, Viney sei »einen Feind der guten Ordnung Gottes in seiner Kirche und ein Satan«. Bevor er nach Yorkshire gefahren war, hatte Spangenberg seine Schuld bekannt, um Vergebung gebeten und die Füße der Londoner Mitglieder gewaschen. In seinem Bericht an Zinzendorf bestätigte Neißer, daß die »Rebellion durch das Durchfahren unserer Brüder hier verursacht worden« sei18. Vineys Angriff auf Zinzendorf und die Pilgergemeine aber war etwas anderes. Viney bekannte seine Schuld, verharrte aber bei seiner Kritik an Zinzendorf und der Pilgergemeine. Das konnte nicht geduldet werden, und am 11. Dezember schrieben Spangenberg, Töátschig und fünf andere Mitglieder (darunter James Hutton) an Viney: »[...] Noch immer bist Du gegen die Pilgerkirche und besonders den Grafen Zinzendorf [...] darum bitten wir Dich hiermit, daß Du weder zu unserer privaten noch zu unserer Kirchenversammlung kommen würdest, bis unser Heiland Dich gebeugt hat und Dir einen anderen Sinn gegeben hat«; damit wurde Viney praktisch aus der Brüdergemeine ausgeschlossen19.

17 Eng. MSS 1063.31: R. Viney an A.G. Spangenberg, 29 Oktober 1743 (Abschrift). Vgl. Gerhard Wauer, Die Anfänge der Brüderkirche in England. Leipzig 1900, 129–130. 18 UA, R13.A5.53: Spangenberg an die Pilgerkonferenz, 17. Oktober 1743; R13.A5.65. 19 Eng. MSS 1063.30: Töltschig, Spangenberg usw. an Viney, 11. Dezember 1743 (Abschrift): »[...] You are still against the Pilgrim Church and especially the Count Zinzendorf [...] we

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Gezwungen, zwischen Unterwerfung und Ausschluß zu wählen, und durch Vineys Verurteilung durch das Los als ein »Satan« tief erschüttert, unterwarfen sich die englischen Mitglieder in Yorkshire und London. Die »Rebellion« war besiegt worden, und Spangenberg konnte Anfang Januar zum Festland zurückkehren. In Reden an die Londoner Mitglieder, faßte er die Probleme, die er mit den Engländern hatte, folgendermaßen zusammen: Sie ließen sich durch ihre eigene Vernunft führen; sie hätten Phantasie; sie wären eine rebellische Nation und nicht geneigt, sich Autorität zu unterwerfen20. Aus Schlesien schrieb Zinzendorf einen zornigen Brief an die Konferenz in London: »Ich declarire hiermit von meiner Person, daß ich mit allen den sogenannten englischen Brüdern, welche sich in die Vineyische Rebellion gemenget, nie etwas mehr zu thun haben will [...] Ich spotte der National-Gerechtigkeit in Sachen des Seeligwerdens [...] Können und wollen die Engl[änder] ohne uns bestehen, so seyd ihr Teutsche Brüder willkommen, wenn ihr auf einmal zurück kommt. Lasset sie ihre Sachen fortsetzen, so gut sie können, und wollen. Wenn erst Englische ganz Knechte Christi seyn werden […] so wollen wir England schon wieder finden […] Das sind meine Gedanken, und ich will in der Liste der englischen Mitarbeiter ausgestrichen, und nicht ehe genennet seyn, bis alle Complices der letzten Rebellion, die auch nur in ihrem Gemüth damite geheret haben, sich vor Betrogene vom Satan schrifftl[ich] […] erkennen«21.

Dieser Brief hat die englischen Geschwister tief betroffen. Sie entschuldigten sich und beteuerten: »All those thoughts of ours of being independent and setting up for ourselves came upon us as a punishment and plague for our pride, from which we wish to be delivered«. Sie baten den Heiland: »Take away […] that independent spirit which we have sucked in with our mother’s milk, and which as English people plagues us«22. Die anderen englischen Mitglieder fügten sich also zunächst alle. Doch sollte die englische Brüdergemeine immer wieder Mitglieder verlieren  darunter prominente »Arbeiter« wie Vineys Nachfolger als Vorsteher in Yorkshire William Holland, den ersten Ältesten der Londoner Gemeine. therefore hereby desire you that you would not come to our private and Church meeting till our Saviour has humbled you, and given you another mind.« 20 Moravian Church House, London [MCH]: Pilgrim House Diary, 8. Januar 1744 (n. St.): »He had observed that the English Nation had two chief Enemies, which were very dangerous. The one was that they allowed themselves to be led by their own Reason, the other was Imagination«; 11. Januar (n. St.): »the English Nation were a rebellious Nation, and by no means inclined to submit to Authority«. 21 UA, R13.A5.69: Zinzendorf an die Londonsche Konferenz, 20. Februar. 1744. 22 UA, R13.A5.76: 9. Mai 1744 (a. St.): J. Hutton (im Auftrag der englischen Arbeiter) an die Pilgerkonferenz. Siehe auch R13.A5.72: J. Hutton, M. Claggett, E. Schlicht, W. Horne, J. Ockershausen, W. Holland, E. Holland, M. Lloyd [an die Pilgerkonferenz], 12. April 1744 (a. St.).

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Andere blieben trotz Unzufriedenheit innerhalb der Brüdergemeine, die ja eine starke Anziehungskraft hatte. Ihre autoritäre Leitung war der Hauptgrund sowohl für Meinungsverschiedenheiten unter den englischen Mitgliedern als auch für Austritte23. Viele, die in die Sozietät als erster Schritt zur Aufnahme in die Gemeine kamen, wurden durch die strenge Kirchenzucht abgestoßen. 1744 stellte eine Londoner Konferenz fest: »Obwohl die Leute in den Klassen nichts gegen die Lehre der Brüder haben, wenn’s zur Kirchenzucht kommt, stellt es sich heraus, daß sie ihre Feinde sind«24. Der Gehorsam, der in der Brüdergemeine verlangt wurde, und ihre strenge Disziplin widersprachen dem freiheitlichen Geist Englands. Die deutschen und mährischen Brüder waren ja in einer Gesellschaft großgeworden, in der es Herrschaften und Untertanen gab. Solche Leute konnten das Leben in einer Gemeinschaft, in der man zum Beispiel ohne Erlaubnis von den »Arbeitern« nicht in die Stadt fahren durfte, leichter ertragen, als die freien Engländer, die damals schon in einem verhältnismäßig demokratisch regierten Land lebten.

Das Verhältnis der englischen Geschwister zur Brüdergemeine: 1744–46 Noch bevor man im Mai 1744 auf der Marienborner Generalsynode den Bruch heilen konnte, war die turbulente Geschichte der Anfangsjahre der englischen Brüdergemeine in eine erneute Krise gekommen. In England fürchtete man einen Versuch, der dann 1745 wirklich stattfand, den katholischen Prinzen James Stuart auf die Throne zu setzen. In dieser gespannten Atmosphäre wirkten die ausländischen und abgeschlossen lebenden Brüder verdächtig; man hielt sie für heimliche »Papisten« und mögliche Agenten ausländischer Mächte. Brüderische Häuser wurden durchsucht; der Pöbel drohte. Auf der Marienborner Synode war es eindeutig, daß die englischen Geschwister sich als Dissenter und ihre Säle als freikirchliche Bethäuser würden müssen eintragen lassen, damit sie den Schutz des Tolerationsgesetzes genießen könnten. Dabei sollten die englischen Geschwister aber den mährischen Brüdernamen nicht verwenden dürfen. Wie die ebenfalls in Marienborn gehaltene Herbstsynode feststellte, »So bald Mährisch eine 23 Vgl. auch G. Stead, The Moravian Settlement at Fulneck, 1742–1790. Leeds 1999 (Veröffentlichungen der Thoresby Society 2. Reihe, 9), S. 39, 52–61. 24 MCH, Society Labourers’ Conference, 20. November 1744: »tho’ Persons who are in the Classes have nothing against the Doctrine of the Brethren yet when it comes to the point of Discipline they turn out their enemy«.

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Neben-Kirche gegen die Englische Kirche aufrichten, so balde declarirt sich die Englische Kirche gegen uns und die Missions-Sache geht weg«25. Die Anerkennung der Brüdergemeine als ausländische bischöfliche Schwesterkirche der Kirche von England, die für die Stellung der ordinierten Brüder in den britischen Kolonien wichtig war, durfte nicht durch ihre englischen Mitglieder gefährdet werden. Neben diesem praktischen Grund gab es auch einen prinzipiellen. Die Brüdergemeine als eine Freikirche neben der Kirche von England aufzustellen hätte ja Zinzendorfs ganzer Vorstellung der Brüdergemeine als Gemeinschaft erweckter Christen innerhalb der bestehenden Kirchen widersprochen. Um die Missionsarbeit in den Kolonien, die gute Beziehung zur Kirche von England und Zinzendorfs Verständnis der Identität der Brüdergemeine zu schützen, mußte man sich also von den englischen Geschwistern etwas distanzieren. Sie mußten einen anderen Namen führen, und die Synode beschloß den Namen »Alt-Lutheraner«. Aus verschiedenen Gründen waren die englischen Geschwister jedoch mit diesem Plan überhaupt nicht zufrieden. Der Name »Mährische Kirche« war unter ihnen schon damals sehr beliebt. Dazu wird die wichtige Rolle von mährischen Exulanten wie Johann Töltschig und Wenzel Neißer in der Anfangszeit der englischen Brüdergemeine beigetragen haben. Wie wir schon gesehen haben, war »das gottlose Verfahren der Pilgergemeine gegen die Mährische Kirche« eine von Vineys Beschwerden gewesen. Viele der englischen Geschwister wollten als Mitglieder der Mährischen Kirche oder mindestens »mit der Mährischen Kirche vereinigt« gelten. Andere lehnten die mit der Eintragung als Dissenter verbundene Trennung von der Kirche von England als gegen den ursprünglichen Plan ab. Gleichzeitig sollte Martin Dober, der neue Leiter der Brüdergemeine in England, sich mit Neißer um das Verhältnis zur Kirche von England kümmern. Sie sollten sich besonders an den Bischof von London, Edmund Gibson, wenden, da er gegen die Brüder geschrieben hatte. Zinzendorf verfaßte einen Brief an Gibson, in dem er sagte, daß die Anglikaner, die sich unter die Obhut der Mährischen Kirche gestellt hatten, nicht als Mitglieder der Mährischen Kirche gelten konnten. Der hochkirchliche Kirchenrechtler Gibson, dem die Erweckungsbewegung, zu der die englischen Mitglieder der Brüdergemeine zählten, ein Problem in seiner Diözese darstellte, erwiderte, daß »der beste Weg, Frieden und ein gutes Einvernehmen zwischen Schwesterkirchen zu erhalten, sei, jede ihrem eigenen Kirchenre-

25 UA, R2.A12.1: Generalsynode [GS] Marienborn 1744, Sess. 5 (16. Oktober), 32.

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giment und ihrer eigenen Kirchenzucht zu überlassen, ohne daß eine sich in das Leben der anderen einmische«26. Die Diskussion um den Namen zog sich in das nächste Jahr hinaus. Auf der Synode von 1745 stellte man fest: »an Engelland sey schon 10 mahl mehr an die Gemeine gewendet als an Holland, und es gehe doch nicht wie es solle«. Zinzendorf sagte: »Ich denke immer in England sind die Gemeinen zu früh gemacht, wir hätten erst noch ein paar Jahr mehr und besser predigen sollen, so würde es schon anders gegangen sein«27. Dies sollte in den kommenden Jahren ein wiederholter Refrain zu seinen Gedanken über die englischen Brüdergemeinen sein. Im September 1746 hieß es auf der Londoner Generalsynode: »Ordinarius glaubt die Englische Sache ist um etliche Jahre zurückgesetzt worden durch Spangenbergs praecipites [vorschnelles] Gemeinmachen«28. Auf einer Englischen Generalkonferenz fuhr er ein paar Tage später fort. Die Gemeine in Yorkshire hätte, wie vorgehabt, nur aus »Arbeitern« bestehen sollen. Sie hätte eine Pilgergemeine sein und in einem Haus leben sollen. Stattdessen war mit der Übernahme von Inghams Sozietäten und den Aufnahmen von vielen ihrer Mitglieder in die Brüdergemeine eine viel größere und nach Außen wirksamere Gemeine daraus geworden. Dazu hätte man vor des Grafen Rückkehr aus Amerika keine weitere Gemeine, wie die Londoner, einrichten sollen29. Ein Hauptgrund für diese Ansicht war, daß Zinzendorf nicht wollte, daß die Brüdergemeine von den englischen Bischöfen als Teil der Erweckungsbewegung betrachtet werden sollte. Auf derselben Konferenz sagte er: »Außer der Yorkshireschen Haupt-Kirche und der Brethren’s Chapel hier in London dürfen die Deutschen keine Erweckungen in England machen, sondern die Erweckungen müssen alle auf der alten Methodisten oder der neuen Englischen Brüder Rechnung geschrieben werden«. Inzwischen war Anfang 1745 von Martin Dober eine Gemeine in Bedford eingerichtet worden. Dazu hieß im Konferenzprotokoll: »Dawider hat Ordinarius nichts, dass in Bedford eine Gemeine ist, sondern nur dagegen, dass Dober als ein deutscher Bruder sie eingerichtet hat«30. Hier distanzierte sich der Graf eindeutig von den englischen Mitgliedern der Brüdergemeine. Auf der Synode in Zeist hatte er dies im Mai noch deutlicher getan, indem er den englischen Geschwistern sagte: »Ich habe schriftlich protestiert gegen eure ganze Gemeinschaft mit uns [...] Ich will dem Bischof von London sagen: 26 Bodleian Library, Oxford, MS Dep. c. 242, fol. 4r: »That the best way to preserve peace and a good understanding between Sister-churches, was, to leave both to their own particular methods of Government and Disciplin, without interfering with each other«. 27 UA, R15.A15.1: GS Marienborn 1745, Sess. 8 (26. Juli), 568, 550. 28 UA, R2.A20: GS London 1746, Sess. 5 (16. September), 203. 29 Eng. MSS 1054: Englische Generalkonferenz, 18. September 1746, 3–5 (Abschrift). 30 Ebd., 5.

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ich sehe die Geschwister in Engelland als Panduren, Croaten, Warasdiner, Tolpatschen, kurz als irreguläre Miliz an«31. Für die Aktivitäten einer irregulären Miliz sei der General doch nicht völlig verantwortlich, meinte Zinzendorf wohl damit. Es war nicht der Fall, daß sich die englischen Geschwister etwa gegen die sich entwickelnde Frömmigkeit der Brüdergemeine sträubten. Im Gegenteil: Zinzendorf stellte im Juni 1746 fest: »Die Engelländer sind uns mit ihrer Sprache so schön vorangegangen. Sie haben schier aus allen Sprachen Wörter zusammen genommen und verstellen sie mit ihren Terminationen, so daß man nicht weiß, ob’s Englische Worte sind oder nicht. So werden wir noch so eine solche teutsche Sprache kriegen, die kein Mensch versteht als wir: wir haben schon einen guten Anfang dazu«32.

Im September stellte man auf der englischen Generalkonferenz fest: »Die Engländer gehen alle Nationen in den liturgischen Sachen vor im Genuß, im Schmecken der Gemeinsache«33. Nein, Zinzendorfs Hauptproblem mit den englischen Geschwistern war nicht ihre Einstellung zur Brüdergemeine (obwohl, wie die Ereignisse von 1743 zeigten, diese nicht unproblematisch war), sondern ihre Existenz und deren Wirkung auf das Verhältnis der Brüdergemeine zur englischen Kirche

Zinzendorfs Verhältnis zur Kirche von England: 1745–49 Der Einfluß der Kirche von England auf den Grafen hatte sich schon 1744 gezeigt, als er die erste Ausgabe seines Litaneien-Büchleins nach der englischen Agende Common Prayer nannte. Der im selben Jahr vorgeschlagene Name »Alt-Lutheraner« zeigt aber, wie Zinzendorf die englische Kirche noch durch deutsche Augen sah. In Deutschland war die lutherische Kirche eine der drei zugelassenen Konfessionen. In England dagegen gab es nur eine amtlich anerkannte Kirche; englische Mitglieder von einer Kirche, wie die lutherische, die in Deutschland Landeskirche war, würde man in England höchstens als tolerierte Freikirchler betrachten. In den Synodalprotokollen der nächsten Jahren sehen wir, wie der Graf versuchte, die englische Kirche besser zu verstehen. 1745 fragte man sich »Ob nicht die Englische Kirche glatt reformirt ist?«34, und im Mai 1746 erwog Zinzendorf, einen englischen Bischof zu bitten, Administrator des 31 32 33 34

UA, R2.A19: GS Zeist 1746, Sess. 18 (23. Mai), 190. Ebd., Sess. 28 (1. Juni), 311–2. Eng. MSS 1054: Englische General Conferenz, 18. September 1746, S. 10 (Abschrift). Eng. MSS 1058: GS Marienborn, Januar 1745, S. 23 (Abschrift).

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reformierten Tropus zu werden (also, die Aufsicht über das reformierte Element in der Brüdergemeine zu übernehmen). James Hutton wandte ein: »Sie wären in England englische Kirche und nicht reformiert und könnten also nicht zum reformierten Tropo gerechnet werden, sie wären älter als die Lutheraner und Calvinisten«35. Zinzendorfs Antwort zeigte, daß er begonnen hatte, die englische Kirche besser zu verstehen: »Ich rede nicht vom Calvinismo, sondern von der reformierten Religion, und darunter gehört die Englische Kirche. Sonst aber ist die Englische Kirche in Ceremonischen Sachen in visibus papistisch, in Kleidern Lutherisch, und in der Lehre reformiert. Aber sie favorisieren in allen Kirchen-Sachen den Lutheranern vielmehr als den Reformierten, weil sie einerley Kleider mit ihnen haben: denn sie tragen beide weiße Chorhemder, und das ist eine Hauptsache in der Religion. Denn wer da einander ähnlich siehet, wer einerlei Kleid an hat, das macht eine besondere Freundschaft und Harmonie zusammen.«36

(Diese Bemerkung – aus einer Zeit, in der das Tragen von Chorhemden unter deutschen Lutheranern immer noch sehr verbreitet war – zeugte von Einsicht in die Rolle von nicht-theologischen Faktoren in ökumenischen Beziehungen.) Der Graf fing auch an, ernsthaft Englisch zu lernen. Von einer Helfer-Conferenz im Dezember 1745 wird berichtet: »L. hält vor seine 2 schwerste Sachen in der Welt Englisch sprechen lernen und hebräisch lesen. Er will alle Tage um 4 Uhr wenn diese Conferenz nicht ist, eine Englische Conferenz mit Hollands, Böhlers, Martin halten darinnen nichts als Englisch geredet werden soll. Wenn diese Conferenz ist, so soll’s an einer anderen Stunde geschehen.«37 Im Juli 1746 machte Zinzendorf seinen fünften Besuch in England, den ersten seit 1743. Zum ersten Mal seit 1737 war er nicht auf der Durchreise von oder nach der Karibik oder America, und wie damals war das Verhältnis zur Kirche von England ein Hauptgrund für den Besuch. Im Mai hatte der Graf akzeptiert, daß die englischen Geschwister nicht als reformiert gelten konnten. Im September wandte er sich also an den Erzbischof von Canterbury mit der Bitte, daß er in seiner persönlichen Eigenschaft Administrator eines englischen Tropus innerhalb der Brüdergemeine werden sollte. Fast vier Wochen lang gingen Briefe hin und her. Schließlich versuchte der spätere Brüderbischof John Gambold, der von Potter zum Priester ordiniert worden war, zu vermitteln. Der Erzbischof fühlte sich aber nicht in der Lage, das Amt zu übernehmen. Zinzendorf fand sich damit ab, daß ein englischer Tropus unmöglich sei (er bereute dies wohl nicht mehr so sehr, seitdem er das Book of Common 35 UA, R2.A19: GS Zeist 1746, Sess. 17 (23. Mai), S. 177–8, 180. 36 Ebd., S. 180–1. 37 UA, R2.A18: Helfer-Conferenz, Marienborn, 23. Dezember 1745.

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Prayer genauer studiert hatte und in ihm »zu viele Fehler« gefunden hatte), und daß viele englische Geschwister nicht zu überreden seien, sich als Reformierte gelten zu lassen. Auf der Synode von 1747 wiederholte sich das frühere Gespräch. Die englischen Geschwister sollten sich einfach als Angehörige des Augsburger Bekenntnisses ausgeben. Oder sie sollten sich teilen: Die echten Mähren (nur) dürften sich mährisch nennen; die anderen müßten sich entweder dem reformierten oder dem lutherischen Tropus anschließen, oder zur Kirche von England zurückkehren. Es ist beachtenswert, daß in diesem Gespräch Zinzendorf mit lauter Hochkirchlern zu tun hatte. John Gambold und Benjamin Ingham hatten in Oxford zu dem von den Wesleys geleiteten hochkirchlichen Kreis gehört, der unter den Namen »Holy Club« und »Oxford Methodists« bekannt ist. James Huttons Vater war Nonjuror (also ein hochkirchlicher Priester, der aus Treue den StuartKönigen gegenüber den Hannoveranern den Treueid verweigerte) und er hatte selber zu den hochkirchlichen religiösen Sozietäten von London gehört. Wie Gambold erklärte, »Ein richtiger High-Churchman wird nimmermehr reformiert werden«. Ingham meinte, »In England kämen unsere Geschwister am besten unter dem Namen der Moravians durch«. Hutton unterstützte beide Ansichten. Obwohl er meinte (interessanterweise), die Kirche von England sei in der Abendmahlslehre lutherisch, glaubte er »der Name Lutheraner gelte in England bei weitem nicht so viel als die Moravians«, denn »dieser ihre Kirchenzucht werde gelobt«. Es wäre eine Ehre, zu den Moravians zu gehören38. Die englischen Geschwister wollten also zur Mährischen Kirche zählen, weil sie eine festländische bischöfliche Kirche war, die für ihre Kirchenordnung von Vertretern der Kirche von England immer wieder gelobt worden war.39 Bis Mai 1748 war Zinzendorfs Schwiegersohn Johannes von Watteville zum Schluß gekommen, daß in England die Brüdergemeine eine völlig getrennte Kirche von der Kirche von England sein müßte. Das meiste, worauf man hoffen könnte, sei, daß die Kirche von England die Brüdergemeine als bischöfliche Kirche anerkennen würde. Ende 1748 landete Zinzendorf in England, um eine staatliche Anerkennung der Brüdergemeine zu erzielen. Daß die Brüdergemeine 1749 mit Unterstützung der englischen Bischöfe vom britischen Parlament die Verabschiedung eines Gesetzes erreichte, daß »the people known by the Name of Unitas Fratrum or United Brethren« als eine uralte protestantische bischöfliche Kirche anerkannte, ist bewundernswert. Dieses sollte aber nicht die Tatsache verbergen, daß die Brüdergemei38 UA, R2.A23A: GS Herrnhaag 1747, Sess. 5 (17. Mai), 96–7; Sess. 16 (2. Juni), 901–4. 39 Siehe Colin Podmore, Die Böhmischen Brüder und die Kirche von England. In: W. Korthaase und J. Bahlcke (Hg.), Daniel Ernst Jablonski (1660–1741). Beiträge zu Leben, Werk und kulturellgesellschaftlichem Umfeld des Berliner Theologen und Frühaufklärers, erscheint demnächst.

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ne dadurch als eine tolerierte Freikirche anerkannt wurde, was ja eigentlich eine Niederlage für Zinzendorfs ganze Vorstellung der Brüdergemeine bedeutete. Nach der Verabschiedung des Gesetzes erreichte das Verhältnis zwischen dem Grafen und den englischen Bischöfen einen Höhepunkt. Im Mai 1749 führte er ein Gespräch mit dem Bischof von Lincoln, John Thomas (der deutsch konnte), und dem neuen Bischof von London, Thomas Sherlock. Zwanzig Lieder der Brüdergemeine waren (wahrscheinlich von John Wesley) in einer Flugschrift veröffentlicht worden, um die Brüder lächerlich erscheinen zu lassen. Sherlock sagte aber, er hätte darin »keine Irthümer, sondern nur ausgedehnte und durch die Übersetzung vollends zu Todt gedroschene Metaphern, außerdem aber so viel Realitäten gefunden, daß er das Übrige leicht übersehen könnte«40. Im Juli wurde der Graf zum Landschloß des Bischofs von Lincoln eingeladen. Dort korrigierten sie gemeinsam die Druckfahnen der neuen englischen Übersetzung der brüderischen Litaneien. Der Bischof von London besuchte den Grafen im Dezember. Beide Bischöfe scheinen in ihm einen schöpferischen und anregenden Theologen erkannt und die Gedanken weitgehend verstanden zu haben, die seiner oft unkonventionellen Weise, seine Theologie auszudrücken, zugrunde lagen. Kontakte mit diesen und anderen Bischöfen setzten sich 1750 und danach fort.

Zinzendorf und John Cennick: 1749–1754 Die nun endlich gewonnene Gunst der englischen Bischöfe wollte Zinzendorf nicht verspielen. Das sieht man am Beispiel des Erweckungspredigers John Cennick, der sich im November 1745 der Brüdergemeine angeschlossen hatte (aber erste Ende 1746 in sie aufgenommen worden war). Ab 1748 ließ man ihn in einem vom brüderischen Zentrum in Fetter Lane etwas entfernten ehemaligen freikirchlichen Bethaus predigen. Die Verantwortung für Cennicks evangelistische Arbeit wollte Zinzendorf aber nie übernehmen. Auf einer Provinzialkonferenz im Januar 1749 sagte der Graf, daß die mährische Kirche »ganz aus den Erweckungen herausbleiben« sollte. Mitglieder der mährischen Gemeine müßten sich »alle extraordinairen Dinge enthalten, z. E. der itineral preaching [die Wanderpredigt]«. Er fuhr fort: »So lange sie aber dergleichen thun wollen, so können sie [...] kein Amt bei uns haben und dürfen sich nicht auf die M[ährische] Kirche berufen [...] Cennick ist also

40 Jüngerhausdiarium: 26. Mai 1749.

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wider meinen Willen Acoluthus worden [...] So dann legitimirt sich auch unsere Absicht, dass wir die Leute nicht von ihren Religionen zu uns herüber ziehen, sondern nur ihren Herzen dienen und sie vor Irrthümern und anderen Extravaganzen bewahren«41.

Ähnliches sagte man im Mai 1751 auf der Herrnhuter Synodalkonferenz: »In England müssen wir die weitläufige Predigt des Evangelii den Methodisten überlassen«42. 1752 wollte Cennick die Kinder nicht nur von Gemeingliedern, sondern auch von Sozietätsmitgliedern und sogar Außenstehenden taufen. Die Provinzialsynode beschloß, daß selbständige Erwekkungsprediger wie Cennick dies tun dürften, obwohl sie dabei deutlich machen sollten, daß sie es auf eigene Verantwortung und nicht als Vertreter der Brüdergemeine täten. Dieses unterstrich Zinzendorf im Juli 1753 auf einer Konferenz: Es müsse klargestellt werden, daß die getauften Kinder damit nicht Mitglieder der Brüdergemeine würden«43. 1754 kritisierte der Graf auch Cennicks Predigtstil: »Eine unbecoming Boldness [eine ungeziemende Dreistigkeit] schickt sich vielleicht für einen Field-Preacher, aber nicht in ein Haus Gottes [...] Aus Liebe für Cennick wünsche ich, daß ich ihn niemals hätte predigen hören; ich habe auch um seinetwillen gebeten, daß man ihn nicht in Fetter Lane predigen lassen sollte. Unsere Canzeln werden [...] deshonoriert [...] durch eine Boldness, die etwas theatrisches und Comoediantenhaftes in sich hat«44.

Zinzendorf hat also auch nach 1749 versucht, sich von der Erweckungsbewegung, aus der die englischen Brüdergemeinen entstanden waren, zu distanzieren.

Zusammenfassung In England hat Zinzendorf also in erster Linie gute Beziehungen zur Kirche von England gesucht. In England ist die Brüdergemeine in den Jahren 1739–1741 aber in eine Erweckungsbewegung einbezogen worden, ohne daß dies geplant gewesen wäre. Während der Graf 1742 in Amerika war, sind in England Brüdergemeinen mit englischen Mitgliedern entstanden. Die Brüdergemeine in Yorkshire, die als kleine Pilgergemeine von »Arbei41 Eng. MSS 1054: Provinzialkonferenz zu London, Sess. 1, 5./16. Juni 1749, S. 14–15 (Abschrift). 42 UA, R2.A30: Extract der Engen Synodalkonferenzen, Herrnhut, Sess. 8, 19. Mai 1751, S. 23r. 43 Eng. MSS 1054: Provinzialsynode, Ingatestone Hall, 17.–19. Mai 1752, Sess. 4, S. 17f; Eng. MSS 1055: Konferenz, Lindsey House, 26.–30. Juli 1753, Nr. 9 (Abschriften). 44 R2.A35A: Jüngerhauskonferenz, 14. Februar 1754, S. 156.

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tern« gedacht war, wuchs schnell, und die Entwicklung auf ein Profil als selbständige Kirche hin wurde durch die Eintragung der Brüderkapelle in London als freikirchliches Bethaus und durch die Einrichtung einer Brüdergemeine mit der Kapelle als ihrem Saal vorangetrieben. Fast vom Anfang an zeugte der freiheitliche Geist Englands Konflikt mit der autoritären deutschen Leitung der Brüdergemeine. Viele der leitenden englischen Geschwister hatten einen hochkirchlichen Hintergrund und wollten wegen des Status der Unitas Fratrum als alte, mit der Kirche von England verbundene, bischöfliche Kirche und auch wegen der bedeutenden Rolle mährischer Exulanten wie Töltschig und Neißer in der Entstehung der englischen Gemeinen als Mitglieder einer »mährischen Kirche« gelten. Zinzendorf jedoch betonte wiederholt, daß nur die eigentlichen mährischen Exulanten und die ordinierten Brüder und ihre Einrichtungen den Namen der mährischen Kirche tragen durften. Der mährische Tropus sollte nur als ein besonderer Teil der Brüdergemeine betrachtet werden. Die meisten Mitglieder sollten als Lutheraner oder Reformierte gelten, damit die Brüdergemeine nicht als Sekte neben den drei zugelassenen Konfessionen des Reichs angesehen werden könnte. Dagegen, daß sie als lutherisch oder reformiert gelten sollten, wehrten sich aber die leitenden englischen Geschwister mit ihrem hochkirchlich anglikanischem Hintergrund. Zinzendorf versuchte sich wiederholt von den englischen Mitgliedern der Brüdergemeine und ganz besonders von John Cennick zu distanzieren. Ihre Beteiligung an der Erweckungsbewegung sollte nicht auf die Rechnung der Brüdergemeine und erst recht nicht auf die der mährischen Kirche geschrieben werden. Zinzendorf versuchte, diese Probleme mit der Einrichtung eines englischen Tropus unter Aufsicht eines anglikanischen Bischofs zu lösen. Dieser Plan schlug aber fehl, als klar wurde, daß kein Bischof das Amt des Administrators übernehmen konnte. In England mußte eine Anerkennung der Brüdergemeine vom Parlament erteilt werden. Das entsprechende Gesetz wurde von den Bischöfen unterstützt und führte zu freundschaftlichen Kontakten mit führenden Bischöfen, aber in der Tat erkannte das Gesetz die Brüdergemeine als tolerierte Freikirche an, was eine Niederlage für Zinzendorfs Vorstellung der Brüdergemeine bedeutete.

Ausblick Wie schon erwähnt, wurde Zinzendorfs Verhältnis zu den englischen Mitgliedern der Brüdergemeine durch die Finanzkrise von 1753 und die Kritik in der Flut von Streitschriften, die kurz danach ausgelöst wurde, noch mehr

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getrübt. Das Vertrauen vieler in der Brüdergemeine wurde erschüttert. Seit 1749 hatte die Brüdergemeine in England ein Profil im öffentlichen Leben Londons genossen. Nachdem der Graf 1755 London verließ, zogen sich die Brüdergemeinen aber in sich zurück. Die Nachwirkungen des turbulenten Verhältnisses zwischen Zinzendorf und den englischen Brüdergemeinen in den vierziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts wie auch der Krise von 1753 sind bis in die Gegenwart zu spüren. In England hat sich der Name »Moravian Church« schließlich durchgesetzt. Die Kontinuität der modernen Brüder-Unität mit der Kirche der Böhmischen Brüder wird besonders betont und die Rolle Zinzendorfs und Herrnhuts in ihrer Geschichte stark relativiert. In seinem immer noch einflußreichen History of the Moravian Church (zweite, erweiterte Auflage 1909) äußerte sich J.E. Hutton kritisch über Zinzendorf. Sein System von Ortsgemeinden sei den Weg »nicht zum Ausbau der Kirche, sondern zu ihrem Aussterben«45 gewesen; es habe Ausdehnung der Brüdergemeine im Norden Englands gehemmt und sie im Süden »bei der Geburt erwürgt«46. Über Zinzendorfs Plan, einen englischen Tropus einzurichten, schrieb Hutton: »Zinzendorf fing an, sein Bestes zu tun, die selbständige Brüdergemeine in diesem Land zu vernichten«47. Die evangelistische Arbeit von John Cennick, die ja für die Brüdergemeine seiner Zeit sehr untypisch war, wurde hingegen in einem eigenen Kapitel gelobt. Für die Brüdergemeine in England ist Cennick immer noch ein Held. Diese Ansichten setzen natürlich die Auffassung voraus, daß der Zweck der Brüdergemeine in England sei, sich als Freikirche auszubauen und Evangelisation zu betreiben. Selbst Cennick entging aber nicht ganz der Kritik von J.E. Hutton, denn Zinzendorfs Frömmigkeit gegenüber war Cennick sehr positiv eingestellt, und diese wurde und wird von späteren Vertretern der englischen Brüdergemeine abgelehnt. »Wenn ein Mann Zinzendorfs Wundenlitanei lesen konnte und dann Tränen der Freude vergießen, wie Cennick von sich erzählt, muß es in seinem Blut einen krankhaften Zug gegeben haben«48, stellte J.E. Hutton fest. Zu seinen Lebzeiten fanden Zinzendorfs englische Anhänger das Gemeinschaftsleben seiner Brüdergemeine sehr attraktiv. Sie wurden aber durch seine häufigen Versuche, sich sie vom Leibe zu halten, und seine Behutsamkeit hinsichtlich evangelistischer Wirksamkeit irritiert. Spätere Generationen britischer Mitglieder der Brüdergemeine haben viele der Merkmale des zinzendorfschen Gottesdiens45 S. 314: »the road, not to Church extension, but to Church extinction«. 46 S. 316: »and the system that checked expansion in the North strangled it at its birth in the South«. 47 S. 337: »Zinzendorf [...] began to do the best he could to destroy the separate Moravian Church in this country«. 48 S. 330: »If a man could read Zinzendorf’s ›Litany of the Wounds of Jesus‹ and then shed tears of joy, as Cennick tells us he did himself, there must have been an unhealthy taint in his blood«.

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tes aufgegeben. Die durch die Streitschriften verursachte Verlegenheit lebt unter den britischen Mitgliedern der Brüdergemeine fort: Für sie ist jene umstrittene Frömmigkeit, die in der sogenannten »Sichtungszeit« gipfelte, praktisch ein Tabuthema geblieben. Die Stellung moderner britischer Mitglieder der Brüdergemeine zu Zinzendorf ist also noch ambivalenter als die ihrer Vorgänger im achtzehnten Jahrhundert. Wie ich in diesem Beitrag zeigen wollte, war das Verhältnis zwischen dem Grafen und den englischen Brüdergemeinen aber schon zu seinen Lebzeiten ein gespanntes.

MARTIN BRECHT

Zinzendorf in der Sicht seiner kirchlichen und theologischen Kritiker

Machen wir uns nichts vor! Dieses Thema ist nicht eben jubiläumsgeeignet. Es präsentiert die angreifbare Seite Zinzendorfs und dies nicht allein aufgrund der Bosheit seiner Gegner, sondern weil es eben tatsächlich Fehlleistungen gab. Die Würdigung der großen Gestalt kommt nicht darum herum, auch wenn man sich mit den Anstößen alles andere als leicht tut. Ursprünglich hat die Formulierung des nicht von mir erfundenen, sondern mir angetragenen Themas »Zinzendorf und die Öffentlichkeit« gelautet. Lokal läßt sich dies in dem territorial gegliederten Deutschen Reich nicht ohne weiteres fixieren und vorstellen, so daß ich energisch zurückgefragt habe, was die mir zugedachte Aufgabe sein soll. Auf diese Weise ist die jetzige Themastellung zustandegekommen. Nachträglich muß ich jedoch zugestehen, daß die ursprüngliche Frage nach der Präsenz Zinzendorfs in einer oder diversen Öffentlichkeiten ihr Recht und ihren Reiz haben kann und mit dem Problem der akuten historischen Vermittlung und Wirkung des Grafen zu tun hat. Zusammenhänge, Verbindungen und Gemeinsamkeiten in der Wahrnehmung und Beurteilung Zinzendorfs weisen möglicherweise darauf hin, daß sich eine übergreifende öffentliche Meinung über ihn gebildet hat. Dies war abhängig von Medien, in erster Linie von allgemein bekannt gewordenen Publikationen, dazu von persönlichen Kontakten durch Reisen oder schriftliche Zeugnisse in Gestalt von Briefen. Eine besondere Rolle spielen im Falle Zinzendorfs noch öffentliche Gutachten oder Zeugnisse. Damit wird bereits auch deutlich, daß das Hervortreten an die Öffentlichkeit nicht allein von den Kritikern Zinzendorfs betrieben wurde, sondern immer wieder auch sein Interesse war. Das Bibliographische Handbuch zur Zinzendorf-Forschung1 führt bis zum Jahr 1764 386 gedruckte Streitschriften auf. Sie sind überwiegend von Gegnern Zinzendorfs verfaßt. Die meisten davon besitzt, wie zu erwarten, das Unitätsarchiv in Herrnhut. Auf ein gezieltes territoriales Interesse läßt z.B. die bedeutende Sammlung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart schließen. Besonders hinzuweisen ist auf einen kompakten Bestand in der Bibliothek des Evangelischen Stifts in Tübingen. Er ist nicht 1 Dietrich Meyer (Hg.), Düsseldorf 1987.

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dort zusammengebracht worden, sondern war bis um das Jahr 1900 in Räumen der evangelischen Kirchengemeinde Tübingen deponiert und befindet sich deshalb auch nicht in der dortigen sog. alten Bibliothek des Stifts, sondern er kam als die Bibliothek eines Tübinger Herrnhuterkreises, dem nicht zuletzt Studenten angehörten, erst nachträglich an die Stiftsbibliothek. Diese spezielle Sammlung läßt einmal erkennen, wo die Auseinandersetzung um Zinzendorf verfolgt wurde und wer zu ihrem Publikum gehörte. Viele der Streitschriften lassen sich zu Gruppen zusammenordnen. Nicht von ungefähr bildet anfangs, d.h. von 1727 an, die Lausitz das Zentrum. Es ist anzunehmen, daß die in anderen als der deutschen Sprache abgefaßten Streitschriften jeweils gleichfalls in Beziehung zueinander stehen.

Anziehung und Abstoßung – das Verhältnis der württembergischen Pietisten zu Zinzendorf Man wird gut daran tun, sich bewußt zu halten, wie anziehend der Graf vielfach und vor allem jeweils zunächst auf religiös sensible Menschen gewirkt hat. Ohne diese Gabe wäre die Entstehung der Brüdergemeine viel schwerer vorstellbar. Daneben macht sich auch die Ausstrahlung von Mitarbeitern wie Christian David oder David Nitschmann bemerkbar. Am wichtigsten mußten dabei die Kontakte zu jungen Theologen oder Theologiestudenten als potentiellen zukünftigen Multiplikatoren sein. Unter dieser Gruppe scheinen sich auch die Informationen über Herrnhut besonders rasch verbreitet zu haben. Die Aversion mußte keinesfalls die erste Reaktion gegenüber Zinzendorf und den Herrnhutern sein. Das Verhältnis zu ihnen konnte sich auch viel komplizierter entwickeln.

Tübingen Besonders bedeutsam ist dabei die Gewinnung von Anhängern und Mitarbeitern unter den Theologiestudierenden des Herzoglichen Stipendiums in Tübingen geworden.2 Von nicht weniger als 30 erweckten Brüdern weiß August Gottlieb Spangenberg 1734 zu berichten, eine Gruppe, die je nachdem kritisch oder erwartungsvoll beobachtet werde. Die meisten von ihnen 2 Zum folgenden sei auf Martin Leube, Geschichte des Tübinger Stifts Bd. 2, BWKG Sonderheft 3, Stuttgart 1930, 276–287 hingewiesen.

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dürften schon zuvor pietistisch berührt gewesen sein. 1729 gewann Christian David Matthias Gottfried Hehl (1704–1727), der als Informator von Christian Renatus Zinzendorf nach Herrnhut ging und es später zum Bischof der Brüdergemeine in Pennsylvanien brachte. Mit Hehl sind Johann Schweikhardt (+1736) und der später für die Brüdergemeine in SchleswigHolstein tätige Johann Georg Waiblinger nach Herrnhut gegangen. Jeremias Friedrich Reuss (1700–1777) ist auf seiner Studienreise nach Herrnhut gekommen. Unter den von Württemberg nach Herrnhut gekommenen Theologen ragen zwei besonders heraus: Maximilian Friedrich Christoph Steinhofer (1706–1761) und Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782). Steinhofer sollte die Funktion eines Hilfsgeistlichen in Herrnhut übernehmen.3 In diesem Zusammenhang hat Zinzendorf 1733 überraschend das Bedenken der Tübinger Theologischen Fakultät erlangt, das der Gemeine attestierte, »ihre Connexion mit der Evangelischen Kirche neben Beibehaltung ihrer böhmischen recht löblichen Kirchenzucht behaupten« zu können und sollen. Das Bedenken wurde vom Grafen bekanntlich weidlich als Bescheinigung der Rechtgläubigkeit der Gemeine benutzt. Schon innerhalb, aber vor allem dann außerhalb Tübingens zog es schnell und nicht unberechtigt Widerspruch auf sich, darunter den des auch sonst gegen die Brüdergemeine kritisch eingestellten Hamburger Hauptpastors Erdmann Neumeister (1671– 1756).4 Damit hat man ein interessantes Beispiel, wie sich die Kritik an Zinzendorf nicht allein eindimensional gegen diesen selbst richten konnte. Steinhofer ist von Zinzendorf als Hofprediger an die Schloßgemeinde des Grafen Reuß in Ebersdorf vermittelt worden. Er vermochte dort den bis dahin vorhandenen Einfluß Halles auszuschalten. Mit dieser Gemeinde trat er 1746 zur Brüdergemeine über, kehrte jedoch zwei Jahre später in die württembergische Kirche zurück in leisem, aber durchaus wahrgenommenem Protest gegen Zinzendorfs Exzentrik. Steinhofer widmete sich danach der pietistischen Bibeltheologie. Schon 1734 war Zinzendorfs Vorhaben, zur Stärkung seines kirchlichen Rückhalts in den Stand eines württembergischen Prälaten aufgenommen zu werden, gescheitert.5

3 Vgl. zum folgenden Robert Geiges, Zinzendorf und Württemberg. Seine Beziehungen zu Fakultät und Konsistorium in den Jahren 1733 und 1734, BWKG NF 17 (1913) 52–78. 4 Bibliographisches Handbuch, Streitschriften Nr. 26–28. Neumeisters Mene Tekel des Bedenckens, welches die Theologische Fakultät zu Tübingen wegen der Mährischen Brüder-Gemeine zu Herrenhuth gestellet ist nachgedruckt in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Materialien und Dokumente Reihe 2 Bd. 15, Antizinzendorfiana II, Hildesheim/New York 1982, 1–27. In dieser Schrift wird der unten zu behandelnde Oetinger noch wegen seiner Verteidigung des Herrnhutischen Gesangbuchs (Bibliographisches Handbuch, Streitschriften Nr. 18) angegriffen. 5 Vgl. Robert Geiges, Zinzendorf und Württemberg (Forts.), BWKG NF 17 (1913) 138–152.

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Es war erneut die herrnhutische Seite, die 1745 wiederum versuchte, die Tübinger Theologische Fakultät zu einer Visitation des Seminars zu Lindheim zu bewegen, um dieses von den bestehenden Vorwürfen zu entlasten.6 Diesmal bekamen es die Herrnhuter mit dem Kirchenhistoriker Christian Eberhard Weismann (1677–1747) zu tun, der zu seinem Bedauern 1733 krankheitshalber auf das erste Gutachten keinen Einfluß hatte nehmen können. Er war ein Sympathisant Halles. Die erbetene Untersuchung wurde unter Weismann als Dekan von der Fakultät abgelehnt. Zinzendorf suchte die zu erwartende Darstellung Herrnhuts in der 2. Auflage von Weismanns Introductio in Memorabilia Ecclesiastica Historiae Sacrae Novi Testamenti (Halle: Waisenhaus [!], 1745)7 positiv zu beeinflussen. Allerdings ohne Erfolg, dieses kirchengeschichtliche Werk wird unter den Streitschriften gegen Herrnhut aufgeführt. Dabei hatte sich Weismann um eine sachliche unparteiische Darstellung bemüht. Seine Behauptung, die im Tübinger Gutachten von 1733 konstatierte Übereinstimmung der Brüdergemeine mit den Lutheranern träfe in der Gegenwart nicht mehr zu, war (u.a. gegenüber der eigenen Fakultät) rücksichtsvoll formuliert, weil Weismann nie von einer derartigen Übereinstimmung überzeugt gewesen war. Er verschwieg nicht, daß zur Brüdergemeine neben Lutheranern auch Reformierte, Separatisten und Inspirierte gehörten, ein Umstand, der, wäre er bekannt gewesen, das günstige Tübinger Gutachten von 1733 nicht zugelassen hätte. Aber einer unangemessenen Polemik machte sich Weismann mit diesen zeitgeschichtlichen Ausführungen nicht schuldig. Den Intentionen Zinzendorfs mußten jedoch derartige Feststellungen völlig zuwiderlaufen. Er bemühte sich darum beim Stuttgarter Konsistorium und seinem Präsidenten Georg Bernhard Bilfinger 1747 um eine Richtigstellung der angeblichen Ungenauigkeiten von Weismanns Kirchengeschichte, die seiner Meinung nach vor allem in einer vom ersten Tübinger Gutachten abweichenden Beurteilung der Brüdergemeine bestanden.8 Das Konsistorium wünschte nunmehr seinerseits eine Stellungnahme der Tübinger Fakultät. Dort hatten die vorsorglich postierten Emissäre Zinzendorfs keinen leichten Stand: »Ischt denn der heilig Goischt a Weibsbild?« fragte selbst der an sich nur allzu kulante Christoph Matthäus Pfaff. Der Lindheimer Abgesandte Johann Heinrich Timäus fand Weismann »als einen verdrießlichen, gegen die Person des Grafen empfindlich eingenommenen und gegen die Brüdersache so bestellten Mann, daß er alles, was zu ihrem Nachteil

6 Vgl. zum folgenden Robert Geiges, Herrnhut und Württemberg, Die Verhandlungen zwischen Zinzendorf und der württembergischen Kirche, BWKG 34 1930, 211–269, zunächst 211–223. 7 In Bd. 2, S. 1104–1135 werden die Controversiae Herrnhutianae sive cum Societate Fratrum behandelt. 8 Vgl. zum folgenden ebd., 224–250.

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zum Vorschein gekommen war, mit großem Fleiß gelesen, seinem Gedächtnis umständlich imprimiert und mit seinem Gemüte so ganz gobiert [gierig verschluckt] hatte, daß ihm zu einiger Reflexion auf die favorabilia nicht ein Plätzchen übrig blieb ...«.

Auch Timäus wußte von der Publizität der Zinzendorfkritik. Weismann seinerseits erhob in Überlegungen an Bilfinger einmal mehr gegen Zinzendorf den Vorwurf der Unlauterkeit und wollte mit einer Untersuchung der Herrnhuter keinesfalls etwas zu tun haben. Das noch von dem ausweislich der Belege aus erster und zweiter Hand bestens informierten Weismann verfaßte Gutachten, das an sich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, aber in den von Fresenius herausgegebenen Bewährte(n) Nachrichten von Herrnhutischen Sachen Bd. 3 1748 doch gedruckt wurde,9 lehnte die Beteiligung an einer Visitation der Brüdergemeine wegen nachweislich fehlender Übereinstimmung mit ihr strikt ab. Aus einer solchen Visitation würden der württembergischen Kirche viele und fast unvermeidliche Inconventien erwachsen. Entsprechend versagte sich, wenn auch in verbindlicherem Ton, gleichfalls das Konsistorium. Nichtsdestoweniger versuchte Zinzendorf dessen Stellungnahme ungeniert parteiisch umzuinterpretieren und zu seinen Gunsten zu nutzen. Das (zweite) Gutachten der Fakultät wurde von Zinzendorf in seiner Bedrängnis faktisch als nicht existent hingestellt. Die scheinbaren Notwendigkeiten der Apologetik setzten der Persönlichkeit des Grafen doch immer wieder arg zu, so daß sich noch der heutige Betrachter deswegen schwertut. Es verdient noch hervorgehoben zu werden, daß die württembergische Kritik an der Brüdergemeine nicht eigenen Initiativen entsprang, sondern erst durch die Aktivitäten der Gegenseite evoziert wurde. Dabei war allerdings Weismann mit seiner kirchengeschichtlichen Darstellung ein Auslöser.

Friedrich Christoph Oetinger Oetinger war auf seiner Studienreise 1730 von Halle nach Herrnhut gelangt und hatte sich, obwohl völlig anders geartet als Zinzendorf, aber fasziniert durch dessen ihm zugewandte Aufmerksamkeit, in das dortige Gemeindeleben hineinziehen lassen.10 Die Beziehung dieser beiden zweifellos großen Geister war von Anfang an immer spannungsvoll und somit ständig ambivalent auf Verbindung oder Scheidung angelegt. Oetinger war dies sehr wohl bewußt, wie die Ansprüche seiner Briefe ausweisen. Der Graf wollte 9 Nachdruck in Antizinzendorfiana II, 294–340. 10 Vgl. zum folgenden Leube, Geschichte des Tübinger Stifts, 282–287. – Geiges, Zinzendorf und Württemberg, 57–65.

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Oetinger ganz für seine Aktivitäten gewinnen, aber das württembergische Konsistorium gab Oetinger nicht frei und berief ihn zurück. Er wurde Repetent im Herzoglichen Stipendium in Tübingen und wirkte dort nunmehr als einer der Propagandisten für Herrnhut. Die Beziehung zu Herrnhut trug zur Öffnung der separatistischen und mystischen Versponnenheit des pietistischen Theologenkreises in Tübingen bei. Nach Zinzendorfs Besuch 1733 in Württemberg ließ sich Oetinger erneut nach Herrnhut beurlauben.11 Er war dort Mitglied des collegium biblicum, das eine zeitgemäße Bibelübersetzung erarbeiten sollte. Dabei ging es um Prinzipielles. Oetinger wollte die Gemeine »auf den Fuß des Wortes Gottes mithelfen einzuleiten«. Hier bestanden für ihn problematische Defizite, auch im Verhältnis Zinzendorfs zur Bibel, und dies gab Ursache zu heftigem Widerspruch. Gleichzeitig trat Oetinger als Verteidiger einer Herrnhuter Liedersammlung gegen den Prediger Johannn Gottfried Häntzschel in Zittau auf.12 Als Zinzendorf sich im Frühjahr 1734 auf die Reise nach Stralsund begab, um ein weiteres Zeugnis für seine Rechtgläubigkeit zu erlangen, bestand für Oetinger die persönliche Faszination nicht mehr, und er verließ seinerseits im Mai, wenn auch irgendwie ziellos, Herrnhut, bis der Graf ihn mit seinem Charisma bereits im Februar 1735 wieder in seinen Bann schlug, obwohl Oetingers theologische Vorbehalte durchaus substantiell waren. Oetinger wurde von Zinzendorf vergeben und das hohe Gefühl gegeben, man stelle sich auf ihn ein. Die Empfindung seiner Sünde ließ ihn allerdings die Hochstimmung der Gemeine nicht teilen. Dem weiteren Verbleiben in Herrnhut machte zunächst die erneute Rückberufung nach Württemberg ein Ende. Oetinger konnte sich aus den Verpflichtungen in der Heimat jedoch nochmals lösen, blieb aber als magister legens in Halle hängen, weil ihm bei aller affektiven Anziehung die prinzipielle Differenz zu den Herrnhutern hinsichtlich der Schriftgemäßheit bewußt war. Umgekehrt stellte nunmehr Zinzendorf Oetingers Insistieren auf theologischem Wissen in Frage und qualifizierte dessen Zögern vor einem Engagement in Herrnhut als sündlich. Oetinger konnte nur erwidern, daß die Berufung von oben stimmig sein müsse. Selbst der persönliche Besuch Zinzendorfs in Halle vermochte ihn schließlich nicht mehr umzustimmen.13 Leicht gefallen ist Oetinger dies jedoch nicht. In einem seiner vertrauensvollen Briefe an Johann Albrecht Bengel vom 8. August 1736 wird dies artikuliert:

11 Vgl. zum folgenden Robert Geiges, Die Auseinandersetzung zwischen Fr. Chr. Oetinger und Zinzendorf, BWKG NF 39 (1935) 131–148. 12 Bibliographisches Handbuch, Nr. 17 und 18; Häntzschels Replique Nr. 29. 13 Vgl. zum folgenden Robert Geiges, Die Auseinandersetzung zwischen Chr. Fr. Oetinger und Zinzendorf Forts., BWKG NF 40 (1936) 107–135.

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»Ich kann ihnen aber sagen, daß ich zuckersüße Vergnügung an des Grafen kindlichem Hangen an Jesu und seinem Blut habe, weil er aber soviel Seltsamkeiten an sich hat, von den vielen Projekten doppelzüngig, ja beinahe doppelherzig wird, ob er schon im Grund auf Jesum zielt, sich in seinen doppelt und viel Sinn habenden Worten rechtfertigt, daß er so und so nicht könne gesagt haben, wenn ers gesagt in die hörenden Ohren, weil es mit seinem Generalsinn nicht übereinkomme, da doch der Generalsinn durch Particularobjekte, Vorteile zu seiner Sache so oft interessiert [=beeinflußt], determiniert wird, so macht er einem tausend Pein, wer um ihn ist. ... Einen lieb haben wie ich den Grafen und doch so viel Ärgernisse: die Herrschsucht, die Zweideutigkeit etc. (wenngleich das Nebendinge sind) leiden, ist eine widerliche Pein.«

Diese Äußerungen sind u.a. deshalb interessant, weil sie einmal nachvollziehen lassen, warum Zinzendorf immer wieder und gewiß nicht grundlos der Vorwurf der Doppelzüngigkeit und Unlauterkeit gemacht worden ist: Die Vielzahl der guten Zwecke soll ihm die gerade Begründung schwierig gemacht haben. Wenn dies dann jedoch sogar auf Kosten des eindeutigen Schriftworts ging, war für Oetinger eine Grenze erreicht. Dies hieß nicht, daß Oetinger leicht von Zinzendorf losgekommen wäre. Als dieser ihn 1737 in Frankfurt a.M. erneut besuchte, erlag er bei aller Kritik wieder der alten Faszination: »Mein Herz hängt an ihm, doch nicht ohne Feindesliebe.« Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß das Verhältnis Oetingers zu Zinzendorf seinerseits pathologische Züge trägt, und die geradezu lästig oszillierenden Briefe bezeugen dies ständig. Aber Zinzendorf wußte sehr wohl, warum er sich gerade um den schwierigen Oetinger so nachhaltig bemühte. Oetinger vermochte sich dann doch 1738 von Zinzendorf ein Stück weit zu lösen und den Weg in ein württembergisches Pfarramt in Hirsau zu nehmen. Aber 1739 ließ er Zinzendorf doch in Hirsau predigen, obwohl er sich damit Ungelegenheiten von seiten des Konsistoriums zuzog. Dennoch mußte Zinzendorf sich damit abfinden, daß Oetinger bei allem Verständnis für die principia des Grafen einer war, »der Ihnen nicht nachkann«. Oetinger war nachgerade in der Lage, das gegenseitige Verhältnis subtil zu analysieren mit großherzigem Verständnis für den Grafen und strenger Selbstkritik, aber dies mündete dann eben doch in die Behauptung der eigenen Position, indem er dem Grafen »Etwas Ganzes vom Evangelio« dedizierte und nicht bloß einzelne Bibelsprüche.14 Oetinger ging durchaus der Blick für Zinzendorfs Grundidee und einheitlichen Plan nicht ab, die von der Schrift bestätigt werden sollten. Aber er selbst muß bei der Aufgabe der Schriftforschung bleiben, auch wenn er dabei wie ein Krüppel erscheint. So führt »Etwas Ganzes vom Evangelio« nach Jes. 40–60 programmatisch den 14 Geiges ist auf den bedeutenden Brief Oetingers an Zinzendorf vom 21. Oktober 1739 aufmerksam geworden (ebd., 113–116 samt dem Kommentar von Geiges, 116–118).

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göttlichen Heilsplan und Heilsweg vor. Dabei wird durchaus positiv auf die Gemeine eingegangen, aber die Engführung auf Jesus und sein Blut wird unterlassen. In Hirsau war das Nebeneinander mit den Herrnhutern für Oetinger nicht lange durchzuhalten; dazu waren die Differenzen, wie sie der Aufsatz »vom Gesetz und Evangelio« artikulierte, zu groß. Gereizt und unfair drohte Zinzendorf darauf, Oetingers Unbeständigkeit in seinem Verhältnis zur Gemeine publik zu machen. Er sah ihn auf dem Weg zu einem orthodoxen amtskirchlichen Funktionär. Oetinger reagierte würdig mit der Beteuerung, daß es um nichts anderes als die Wahrheit gehe, und damit endete im April 1741 der Briefwechsel. Von seiner einstweilen allerdings nicht publizierten Kritik an der Einseitigkeit der Theologie und Frömmigkeit der Herrnhuter ging Oetinger auch in der Folgezeit nicht mehr ab. Erst 1748 fügte er seiner Erklärung des Buches Hiob »Das Gespräch eines Mystici, eines Weltweisen und eines Gesetzeseiferers mit einem um die Wahrheit Bekümmerten über die Lehren der neumährischen Brüder« bei. Schon der Titel macht deutlich, daß es Oetinger vorweg um eine möglichst offene Betrachtung der Herrnhuter unter unterschiedlichen Aspekten zu tun ist. Die Schwerkraft der Eigenlehren der Gemeine sei allerdings unverkennbar. Das Urteil bleibt dennoch selbst noch beim Auftreten des Elihu ausgesetzt. Aber am Schluß werden doch die falschen Lehren von der Ehe, von der Dreieinigkeit und vom Gesetz als fundamentale Irrtümer namhaft gemacht. Zinzendorf ist auf diese »sanfteste der gegen ihn veröffentlichten Gegenschriften«15 nicht eingegangen. Nach dem Tod des Grafen hat Oetinger über Herrnhut und seine eigene Beziehung zur Gemeine unter dem Aspekt der höheren Führung differenziert zu urteilen vermocht. So abstoßend theologische Polemik sein mag und so schwierig Oetinger in seinem Verhältnis zu Zinzendorf erscheint, Niveau und Stil seiner Kritik bleiben jederzeit beeindruckend.

Johann Jakob Moser und Johann Adam Steinmetz Unter den württembergischen Kontrahenten Zinzendorfs ist an dieser Stelle der Jurist und Publizist Johann Jakob Moser (1701–1785) zu nennen.16 Ohne viel vom Grafen zu kennen, war er als Pietist ursprünglich an ihm interessiert und setzte sich in der Folgezeit auch publizistisch für ihn ein. 15 Ebd., 133. 16 Vgl. Reinhard Rürup, Johann Jakob Moser. Pietismus und Reform, VIEG 35, Wiesbaden 1965, 41f. – Mosers detailgesättigter und darum interessanter Erfahrungsbericht über »Einige die Zinzendorffische Sache betreffende Nachrichten« von 1747 aus den Hanauischen Berichten ist abgedruckt in: Antizinzendorfiana II, 415–449.

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1734 logierte Zinzendorf sogar bei ihm in Stuttgart. Manche Herrnhuter Veröffentlichungen und Vorgänge erregten in der Folgezeit freilich auch Mosers Befremden. Von seiner Professur in Frankfurt an der Oder zog sich Moser 1739 in die von Steinhofer geführte reußische Schloß-Ecclesiola von Ebersdorf zurück. Während sich die Ebersdorfer Gemeinschaft immer mehr den Herrnhutern annäherte, kamen dem ursprünglich von hallischen Frömmigkeitsmustern geprägten Moser immer mehr Bedenken gegenüber den Herrnhuter Engführungen (z.B. der Blut- und Wundentheologie oder dem Selbstverständnis der Brüdergemeine). Er richtete entsprechende Fragen an Bengel, Oetinger, Johann Adam Steinmetz (Magdeburg) und schließlich an Zinzendorf direkt, von dem er allerdings keine Antwort erhielt. Von öffentlicher Kritik an Herrnhut nahm Moser damals noch Abstand. Eine Verständigung gelang freilich auch nicht mehr. Mit dem Anschluß Ebersdorfs an Herrnhut wurde Moser 1747 rigide verdrängt, weil er diesen Schritt nicht mitvollziehen wollte. Er selbst war nunmehr einer von denen, die in Zinzendorf das Tier aus dem Abgrund von Offenb. 13 sahen. Abgesehen davon, daß er als nicht zu unterschätzender Auslöser und Bezugsfigur in der Polemik gegen Zinzendorf eine Rolle spielte, trat er in den von ihm herausgegebenen Hanauische(n) Berichte(n) (2. Bde. 1750) selbst als kritischer Publizist gegen die Herrnhuter auf und ließ sich in dieser Aktivität auch nicht mehr stoppen. Moser gehört also auch zu den Gegnern Zinzendorfs, die erst nach einem persönlichen Klärungsprozeß und aus direkter Betroffenheit gegen ihn Stellung bezogen haben. Wie Oetinger vermochte auch er später wieder milder zu urteilen. Immer wieder wird in diversen Beziehungen (z.B. Oetinger, Moser, Fresenius) zu Herrnhut Johann Adam Steinmetz (1689–1762) erwähnt, seit 1732 Abt des Klosters Bergen und Generalsuperintendent im Herzogtum Magdeburg. Er war schon zuvor mit Zinzendorf bekannt gewesen und teilte die in Halle gegen diesen bestehenden Aversionen an sich nicht. Er hat Herrnhut auch besucht. Im Lauf der Zeit müssen sich seine Bedenken verdichtet haben. In dem Antwortschreiben an den Herrn Pastor Hoecker (=Häckert) in Stargard; Eine gründliche Nachricht von der Herrenhuter Lehre, Gemeinden und Leben (1749) zeigt sich Steinmetz von seiner früher positiven Einstellung ernüchtert. Das Rühmen der Gemeine über ihre vielen Gläubigen wird angezweifelt. Die Herrnhuter gelten als Raubbienen, die von ihrem Diebstahl sich das Haus füllen. Steinmetz hat den westfälischen Pfarrer Friedrich August Weihe (1721–1771) einerseits beeindruckt mit seiner Abweisung des in Halle gepflegten »förmlichen Klagegeistes«, andererseits mit der Distanzierung von Zinzendorfs falscher Sicherheit.17 Stein17 Friedrich August Weihe, Sammlung erbaulicher Briefe, Minden 1774, 76f (19.10.1763) und 405 (20. 12.1769).

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metz verdient nicht zuletzt bezüglich seines Verhältnisses zu Herrnhut eine eingehendere Untersuchung, die aber mit der mir zur Verfügung stehenden Quellenbasis nicht geleistet werden kann.

Johann Albrecht Bengel Bei der Beschäftigung mit dem Verhältnis Württembergs zu Zinzendorf oder Herrnhut stößt man über kurz oder lang auf die Autorität des Klosterpräzeptors und Prälaten Johann Albrecht Bengel (1687–1752).18 Daß die Konzeptionen Bengels und Zinzendorfs weit auseinandergingen und auch bei ihrem einzigen Zusammentreffen 1733 von Oetinger nicht zusammengebracht werden konnten, kann in der Geschichte des Pietismus als bekannt vorausgesetzt werden. Bengel hat sich zunächst 1743/1744 in drei ursprünglich privat abgegebenen Gutachten für Moser und Jeremias Friedrich Reuß über Zinzendorf und die Herrnhuter geäußert. Diese Dokumente könnten hier auf sich beruhen, zumal sie noch nicht die abschließende Stellungnahme Bengels darstellen. Zwei von ihnen sind jedoch später u.a. im Anhang von Bengels Abriß (s.u.) dann doch veröffentlicht worden. Außerdem war das Gutachten für Reuß in die Hände der Herrnhuter gelangt und von Zinzendorf mit Anmerkungen versehen worden, ohne daß seine Verfasserschaft dabei ausgewiesen worden war. Über seinen Mitarbeiter Jonas Paul Weiß ging das annotierte Gutachten 1744 wieder an Bengel zurück. Ist schon dieses Verhalten des Grafen erstaunlich, so noch viel mehr die Reaktion auf Bengels Replik an Weiß. Auf dieses Schreiben wurde eine beleidigende und schroffe Antwort gekritzelt, deren Verfasser nur Zinzendorf selbst sein konnte (3. November 1744), und so ging es an Bengel wieder zurück. Einen Tag später wurde dies von Zinzendorf dissimuliert, indem er unter seinem Namen einen verbindlichen Brief an Bengel richtete. Einmal mehr erweist sich Zinzendorfs Verhalten in der Hitze des Streites als schwer verständlich. Abgesehen davon ist einzuräumen, daß der jetzt von ihm erhobene Vorwurf einer falschen Auslegung der Johannesoffenbarung durch Bengel und damit eines irrigen Verständnisses der Heilsgeschichte nicht unberechtigt war. Bengel hat in der Folgezeit zwar an eine Schrift gegen die Herrnhuter gedacht, sie aber vorerst nicht realisiert. Allerdings hat er den württembergischen Pfarrer Johann Georg Becherer von Dornhan 1745 bei der Abfassung der Nöthige(n) Prüfung der Zinzen18 Vgl. Robert Geiges, Württemberg und Herrnhut im 18. Jahrhundert. Johann Albrecht Bengels Abwehr und der Rückgang des Brüdereinflusses im Württemberg, BWKG 42 (1938), 28–88; Gottfried Mälzer, Bengel und Zinzendorf, AGP 3, Witten 1968.

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dorfischen Lehr-Art von der Heil. Dreyeinigkeit, darinnen gezeiget wird. I. Daß Herrn Grafens Lehre wieder die heilige Schrift, Alten und Neuen Testaments, sey. II. Daß sie ganz neu sey. III. Daß dieser irrige Vortrag von grossen mißlichen Folgen sey beraten und dieses Buch dann auch begrüßt.19 Becherer hatte 1736 mit Jeremias Friedrich Reuß Herrnhut besucht und mit den Herrnhutern in Stuttgart in Verbindung gestanden. Die theologische Reflexion machte ihm dann seinen Gegensatz mit Zinzendorf bewußt. Becherers Werk wurde 1746 die Druckerlaubnis vom württembergischen Konsistorium versagt, und der zurückhaltende Bengel riet darauf dem Autor von einer Veröffentlichung außerhalb Württembergs ab.20 1748 erschien das Werk dann doch in Frankfurt a.M. mit einem Vorwort von Johann Philipp Fresenius. Thematisch wird hier die Auseinandersetzung mit einem zentralen Thema von Zinzendorfs Theologie geführt. Ende der 40er Jahre hat Bengel mehrfach für das württembergische Konsistorium Gutachten über die Brüdergemeine erstellt, die aber, wenn überhaupt, erst später veröffentlicht worden sind und deshalb hier außer Betracht bleiben können. Bengel galt inzwischen als Experte hinsichtlich der Herrnhuter, den man anhören mußte. Wie sein Nachlaß zeigt, hatte er sich auch in der Literatur über und gegen Zinzendorf bis in die jüngste Zeit kundig gemacht. Ein Jahr vor Bengels Tod erschien dann 1751 in Stuttgart sein zweiteiliger Abriß der so genannten Brüdergemeine, in welchem die Lehre und die ganze Sache geprüfet, das Gute und das Böse dabey unterschieden, und insonderheit die Spangenbergische Declaration erläutert wird21. Es ist neuerdings behauptet worden, Bengel habe den Ausdruck »Abriß« doppelsinnig als Abbildung wie auch als Destruktion gebraucht. Dies trifft schwerlich zu. So etwas war Bengels Art nicht. Zwar kennt das Hochdeutsche laut dem Grimm'schen Wörterbuch schon zu Bengels Zeit beide Bedeutungen. Hermann Fischers Schwäbisches Wörterbuch führt die zweite Bedeutung jedoch gar nicht an. Im Ton war Bengel um ein Mittelmaß zwischen Schärfe und Gelindigkeit bemüht und dabei anerkanntermaßen maßvoller als einige Jahre zuvor. Mälzer und Beyreuther urteilen, Bengel sei (auch) im Abriß Zinzendorf nicht gerecht geworden.22 Damit macht man es sich jedoch hinsichtlich der bedachten und überlegten Äußerungen Bengels, die schon in seinem Vorwort artikuliert werden, gewiß zu leicht 19 Bengels Übereinstimmung mit Becherers Werk geht auch aus seinem Gutachten von 1745 im Anhang des Abriss(es) der sogenannten Brüdergemeine, 526–531 hervor. 20 Geiges, Württemberg und Herrnhut, S. 53f. 21 (550 Oktavseiten einschließlich des Anhangs). Nachdruck hg. von Erich Beyreuther in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Reihe 2 Leben und Werk in Quellen und Darstellungen Bd.10, Hildesheim/New York 1972. 22 Mälzer, Bengel und Zinzendorf, 117–150. Beyreuther im Vorwort des erwähnten Nachdrucks.

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und verschenkt so den möglichen Ertrag einer Auseinandersetzung. Denn eine kritische Autorität von Format war Bengel auf diesem Gebiet allemal. Daß Bengel im ersten Teil des Abriß die Lehre der Brüdergemeine prüft, ist zwar ein orthodoxes Verfahren, aber im Blick auf die reformatorische Identität gewiß nicht unangemessen. Das Vorgehen ist dabei keineswegs schematisch, sondern dem Objekt der Untersuchung angepaßt. Die Bedeutung Zinzendorfs für die Theologie der Gemeine ist ebenso wie seine ekklesiologische Intention erkannt. Die Heranziehung höchst unterschiedlicher Quellen und Informationen über die Brüdergemeine dürfte nicht zu beanstanden sein. Die Frage nach der biblischen Bindung der Theologie der Gemeine war zumindest legitim und konnte ein Korrektiv für die subjektive Frömmigkeit bieten. Bengel äußert Zweifel an der bibeltheologischen Kompetenz des Grafen. Die Ablehnung der Trinitäts- und Ehelehre Zinzendorfs, dazu seiner Christologie ist Gemeingut vieler seiner Kritiker und dies mit Grund. Die zentrale Blut- und Wundentheologie wußte Bengel vorweg durchaus positiv zu würdigen. Für ihn war dies eine gemeinevangelische Tradition und nicht auf ein Proprium der Gemeine einzuschränken. Die Warnung vor Vereinseitigung war allerdings doch berechtigt. Die Vernachlässigung des Gesetzes und der Sünde konnte den Ernst der hergebrachten Frömmigkeit verletzen. Daß Bengel Zinzendorfs geistliche Sprache (nicht zuletzt im berüchtigten und schwer zu gustierenden und eigentlich nicht zu akzeptierenden XII. Anhang zum Gesangbuch der Gemeine) im Wortsinn als unanständig, d.h. unangemessen empfand, läßt sich nachvollziehen. Bengel zeigte sich durch die von ihm zuletzt noch eingearbeitete Declaration über die Zeither gegen uns ausgegangene Beschuldigungen, sonderlich die Person unsers Ordinarii betreffend (1751) von Spangenberg wenig beeindruckt und zerpflückte dieses Unternehmen (§§ 157–161). Daß die von der Gemeine herausgebrachte Übersetzung des sog. Büdingischen Neuen Testaments von Bengel einer strengen Musterung unterzogen wurde, konnte bei dem Bibeltheologen fast nicht anders sein. Bengel teilte aufgrund einer anderen heilsgeschichtlichen Konzeption und Exegese das ekklesiologisch höchst bedeutsame philadelphische Selbstverständnis der Brüdergemeine nicht. Dies macht allerdings seine Kritik nicht einfach gegenstandslos, zumal er sich dabei inhaltlich kaum auf seine eigenen Vorstellungen bezog. Der 2. Teil des Abriß reflektiert zunächst kritisch den apostolischen Anspruch und die Tüchtigkeiten Zinzendorfs dazu. Dem Autodidakten und Dilettanten wird dabei nicht viel zugetraut. Ebenso wird mit dem ekklesiologischen Selbstverständnis der Gemeine verfahren. Gegen eine Idealisierung wird demonstriert, daß auch die Gemeine ein Corpus mixtum sei. Dementsprechend wird ihre Praxis sehr kritisch relativiert. Bengel präsentierte sich hier als scharfer Beobachter des damaligen IstZustandes der Gemeine, der sich durch Spangenbergs Apologie nicht zu-

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friedenstellen ließ. Gerade ihr gegenüber blieb Bengel bei seinen Behauptungen, zumal er sich soeben durch Des Ordinarii der Evangelischen Brüder-Gemeinen kurzes und peremtorisches Bedenken über die Art und Weise der ganzen zeithero gegen ihn geführten Controvers bestätigt fühlte. Hier schaltete sich Bengel direkt in aktuelle Vorgänge in der Brüdergemeine ein, und dies müßte eigens qualifiziert werden. Insgesamt war es Bengel nicht um die Vernichtung, sondern um die Korrektur und Verbesserung der Brüdergemeine zu tun. Was die Ausstrahlung Bengels anbetrifft, ist festzustellen, daß er zumindest vor 1751 im sonstigen Streit um Zinzendorf kaum erwähnt wird. Faßt man die aus dem Herzogtum Württemberg lautgewordene Kritik an Zinzendorf und der Brüdergemeine zusammen, so beeindrucken zunächst sowohl die Engagiertheit als auch die Sachlichkeit. Hier ging es nicht um eine billige und abstoßende Kampagne, sondern um die Äußerungen und Urteile verschiedener Personen, die von Zinzendorf berührt worden waren, aber dann doch auf die Dauer seine Intentionen nicht zu teilen vermochten. Daraus ergab sich eine Auseinandersetzung, deren sich die Kirchengeschichte nicht zu schämen hat. Die aufgegriffenen Probleme betrafen fast durchweg theologische, kirchliche oder auch biographische Sachfragen, denen sich die Geschichte der Herrnhuter stellen mußte und muß. Mit dem Resultat einer verhaltener und behutsamer agierenden Brüdergemeine dürften die Betroffenen insgesamt einverstanden gewesen sein.

Johann Philipp Fresenius und die sich auf die Herrnhuter beziehenden publizistischen Organe Fresenius (1705–1761), seit 1748 Senior in Frankfurt a.M., war über Johann Jakob Rambach vom Hallischen Pietismus geprägt. Zugleich schätzte er Bengel hoch. Mit den Herrnhutern stieß er wegen ihrer Konventikel ab 1743 zusammen, nachdem er Pfarrer in Frankfurt a.M. geworden war. Der Konflikt hatte gewiß größere als nur lokale Bedeutung.23 Zur Beschäftigung mit den Herrnhutischen Unternehmungen will Fresenius schon als Hofprediger in Darmstadt (1736–1742) auf Anregung des Jenaer Theologieprofessors Johann Georg Walch gekommen sein.24 Die erste Schrift von Fresenius gegen die Herrnhuter trägt den bezeichnenden Titel Vorläufige Antwort, 23 Gegen Heinrich Steitz, Art. Fresenius, Johann Phlilipp, RGG3 Bd. 2, Sp. 1126f. – Im übrigen vgl. Gerhard Johannes Raisig, Theologie und Frömmigkeit bei Johann Philipp Fresenius, EHS.T XXIII/50 Frankfurt/M. 1975, 169–195. 24 Vorrede zu Walchs Bedencken (wie. Anm. 27).

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welche er denjenigen zu ertheilen pfleget, die ihn fragen, Ob sie zu der Herrnhutischen Gemeine übergehen oder in derselbigen bleiben sollen? (1745).25 Laut Vorbericht hat sich Fresenius mit umfassender Information sorgfältig und umsichtig auf die Auseinandersetzung vorbereitet. Er sei dabei immer kritischer gegen den Grafen und sein Verhalten sowie gegen seine Anhänger geworden. Zinzendorf werden Ehrsucht, dazu Leichtsinn unterstellt, hingegen wird seine Tüchtigkeit zu seinen Vorhaben angezweifelt. An seiner Unwahrheit und List hat Fresenius Anstoß genommen. Die Lospraxis samt ihrer willkürlichen Handhabung wird moniert. Der Graf erscheint als indifferent in Religionssachen. So wichtig die Versöhnungslehre unbestreitbar ist, in ihrer Einseitigkeit gilt sie als schriftwidrig. Hier hat man eines der zentralen Argumente von Fresenius. Die Hallische Ordnung des Heils wird dagegen zur Geltung gebracht. Die Äußerungen über den angeblichen Heilsbesitz der Gemeine werden als Prahlereien empfunden. Wie nicht anders zu erwarten, werden die Lehre und die Praxis der Herrnhuter kritisiert. Fresenius war in der Auseinandersetzung so versiert, daß er auf die zu erwartenden Einwendungen und Entschuldigungen der Herrnhuter bereits seine Erwiderungen anbot. Die gängige Auffassung, daß man die Gemeine nur nach dem Augenschein beurteilen dürfe, teilte Fresenius nicht, er verzichtete auf diesbezügliche Erfahrung. Von einem Unterlassen der Kritik wegen der Anstößigkeit für die Mitglieder der Gemeine wollte Fresenius nichts wissen. Viele seiner Kritikpunkte decken sich mit denen anderer Theologen, es hat sich dabei geradezu so etwas wie ein Kanon herausgebildet. Festzuhalten bleibt wohl das Problem, das in der Person Zinzendorfs selbst gesehen wird. Dies überdecke die großen Gaben des Grafen. Hingegen genüge die Versöhnungslehre der Brüder den ernsten Frömmigkeitsbedürfnissen der vom bisherigen Pietismus geprägten Kirchenmitglieder nicht. Den Vorwürfen von Fresenius sowie dessen weiteren einschlägigen Veröffentlichungen ist eigenständig und ironisch der sonst nicht weiter bekannte Zinzendorfapologet L. Weiss (gegen Baumgarten auch Albinus Sincerus) mit dem Nothdürftige(n) Nachklang auf Johann Philipp Fresenii Vorläufige Antwort, ehe man ihn gefragt, in puncto Der Herrrnhutschen Gemeine...ingleichen auf seine übrige Schrifften gegen dieselbe (Frankfurt und Leipzig 1748, 222 S.) entgegengetreten. Ihm erwiderte ein nicht namentlich bekannter M. R. A. B., Pfarrer in A. und Bewunderer von Fresenius, mit dem Evangelische(n) Wahrheits-Klang gegen den unreinen und falschen Ton des Nothdürftigen Nachklangs, den ein Anhänger der Zinzendorfischen Secte wider die Vorläufige Antwort und Bewährte Nachrichten des ... D. Johann Philip Fresenius in den Ohren aller redlichen Christen erreget hat. 25 Antizinzendorfiana II, 109–268.

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Aus hertzlicher Liebe Gegen die reine Evangelische Wahrheit verfasset von einem Evangelischen Prediger, der die Reine Augspurgische Bibel-Lehre von Hertzen glaubet und mit dem Munde bekennet (Frankfurt und Leipzig 1749, 212 S.). Laut der Zuschrift hatte der Autor dem Kreis um Spangenberg in Jena angehört, hatte sich aber aus theologischen Gründen den Herrnhutern doch nicht anschließen können und fand in Fresenius eine Autorität für seine Einstellung. Diese legt er mit eindrücklicher Ernsthaftigkeit dar. Die Glaubwürdigkeit von Fresenius wird erwiesen, Zinzendorf hingegen als lügenhafter Zungendrescher hingestellt. Der Vorwurf, Fresenius habe Mitglieder der Brüdergemeine persönlich angegriffen, wird mit Belegen abgewiesen. Mit der aus dem Frankfurter Herrnhuterkonflikt erwachsenen Edition der Bewährte(n) Nachrichten von Herrnhutischen Sachen (4 Bde. 1746–1751) ist Fresenius zu einem der wichtigen Publizisten gegen die Brüdergemeine geworden, der es keineswegs bei der Sammlung der von ihm zusammengebrachten Texte bewenden ließ, sondern auch zu ihnen Stellung bezog. Die Kritiker Herrnhuts müssen ihm ihre Texte zur Verfügung gestellt haben. Das Einzugsgebiet reichte dabei von Pennsylvanien bis nach St. Petersburg. Fresenius hat darüber hinaus Johann Georg Walchs theologische Bedenken von der Beschaffenheit der Herrnhutischen Sekte und wie sich ein Landesherr in Ansehen derselbigen zu verhalten habe (1747) veröffentlicht. Die Edition von Johann Georg Becherers Nötige(n) Prüfung der Zinzendorfischen Lehrart von der heiligen Dreieinigkeit (1748) wurde schon erwähnt. Dazu kommt noch die Vorrede zu Johann Philipp Mehrlings Gründlicher Beweis, daß der Hr. Graf Nicol. Ludwig von Zinzendorf in allen HauptArtickeln der Christlichen Glaubens-Lehre höchst-irrig sey (1749). Hinsichtlich der Präsenz der Herrnhuter in der Publizistik ihrer Zeit sind selbstverständlich auch die Zeitschriften und Rezensionsorgane zu berücksichtigen. In der aus den Unschuldigen Nachrichten hervorgegangenen Fortgesetzten Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen wurden von 1732 bis 1761 neben anderer Literatur immer wieder die Herrnhuter bestreffenden Veröffentlichungen besprochen. Von einer besonderen Pressekampagne in Bezug auf die Brüdergemeine kann jedoch nicht die Rede sein. Seit 1734 erschienen die Acta Historico-Ecclesiastica oder Gesammelte Nachrichten von der neuesten Kirchengeschichte (Leipzig und Weimar). Die einzelnen Bände enthalten immer wieder Herrnhuthische Nachrichten oder einschlägige Dokumente, darunter nicht selten auch Antiherrnhutiana. Ab 1746 erfolgt die Berichterstattung über die Herrnhuter vorwiegend in einer eigenen Sparte im Anhang. Die Brüdergemeine hatte also durchaus publicity, wie es ihrer Bedeutung und ihrer Beurteilung im kirchlichen Leben ihrer Zeit entsprach. Zur eigenen Öffentlichkeitsarbeit dürften die drei Bände der Büdingische(n) Sammlung (1740–1745) mit

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ihren diversen Texten zu rechnen sein. Sie haben freilich auch zusätzliche Polemik auf sich gezogen.

Ernst Salomon Cyprian und Johann Georg Walch (1693–1775) Nicht wenige Stellungnahmen zu den Herrnhutern sind an Landesherren oder Regierungsinstitutionen gerichtet. Dies war durch die die Rechtsverhältnisse tangierende Eigenart der Brüdergemeine bedingt, die den Umgang mit ihr u.U. zur Staatsaffäre werden ließ. Cyprian (1673–1745) hat als Vizepräsident des Oberkonsistoriums in Gotha mit den Herrnhutern in Thüringen zu tun bekommen.26 Deren Konventikel suchte er durch die Institution einer »Hauskirche« zu unterbinden. Immerhin hielt Zinzendorf ihn für einen modesten Gegner. Im Jahre 1743 bemühte sich dieser, die Gründung einer Niederlassung der Brüder in Neudietendorf zu verhindern und hatte damit 1745 zunächst auch Erfolg. Als orthodoxer Lutheraner und Kirchenmann brachte er für die Versöhnungslehre und den konfessionellen Pluralismus der Herrnhuter kein Verständnis auf. Auf Weisung Zinzendorfs ließen sich in Neudietendorf dann nur Angehörige des lutherischen Tropus nieder, die in der Territorialkirche integriert blieben. Von dem Jenaer Theologieprofessor Johann Georg Walch (1693–1775) »einem der grösten Gottes-Gelehrten unserer Zeit« (Fresenius) existiert ein Theologisches Bedencken von der Beschaffenheit der Herrnhutischen Secte und wie sich ein Landes-Herr in Ansehung derselbigen zu verhalten habe, auf Hochfürstlichen Befehl aufgesetzet wie erwähnt von Fresenius herausgegeben und bevorwortet.27 Ursprünglich hatten Walch und Fresenius gemeinsam gutachten sollen, dann war das Vorhaben derart modifiziert worden, daß Fresenius als Herausgeber fungierte. Der jetzige Text ist auf Wunsch des Auftraggebers aus einer ursprünglichen Kurzfassung erweitert worden. Wie von ihm als Experten in Religionsstreitigkeiten an sich zu erwarten, zeigt sich Walch bestens informiert über die Schriften der Herrnhuter und die einschlägigen Streitschriften gegen sie. Diese Belesenheit ist der Lesbarkeit seines Bedenkens allerdings nicht gut bekommen. Der erste Vor26 Dietrich Meyer, Cyprians Abwehr einer Herrnhuter Siedlung im Fürstentum Gotha, in: Ernst Koch u. Johannes Wallmann (Hg.), Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung, Gotha 1996, Veröffentlichungen der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha 34, 136–166. 27 Nachdruck in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Materialien und Dokumente Reihe 2, Bd. 16, Antizinzendorfiana III, Hildesheim/New York 1982, 539–734.

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wurf gegen die »von der wahren Religion abgehende Secte« betrifft den konfessionellen Indifferentismus. Die angebliche Übereinstimmung mit dem Augsburgischen Bekenntnis ist Walch darum zweifelhaft. Dasselbe gilt für die theologisch eigentlich unabdingbare Schriftbindung. Bei der Trinitätslehre werden »abenteuerliche und höchst-ärgerliche und anstössige Redensarten« aufgeführt und moniert. Nicht zuletzt die Lieder liefern wiederum reiches Material für Beanstandungen. Mit der Christologie stehe es nicht besser als mit der Trinitätslehre. Auch Walch war mit Zinzendorfs Verständnis der Sünde und der Buße nicht einverstanden. Der Ekklesiologie werden papistische Grundsätze zum Vorwurf gemacht. In der Lehre von den Ständen bietet die Ehe zwar nicht die einzigen, aber die größten Angriffsflächen. Zinzendorf wird der Vorwurf der Lieblosigkeit, ja Feindseligkeit gegen Andersgesinnte gemacht, auch Walch spricht zudem von Falschheit, Unwahrhaftigkeit und Großsprecherei. Eine eigene Auflistung erfahren die ausgefallenen Redensarten. Die Lospraxis in all ihrer geübten Willkür wird selbstverständlich nicht ausgelassen. Im Blick auf den obrigkeitlichen Auftraggeber des Bedenkens war die Qualifizierung der Herrnhuter als »eine allen in der menschlichen Gesellschaft befindlichen Ständen sehr schädliche Secte« besonders gravierend, zumal dies auch nicht expliziert wurde. Dies führte zu dem Schluß, daß die Herrnhuter nicht geduldet werden können. Ihre Versammlungen und Bücher sollen nicht zugelassen werden. Im Weigerungsfall wären sie als »Wiederspenstige und ungehorsame Unterthanen anzusehen und müste daher die Schärfe gegen sie gebraucht werden«. Walchs Bedencken ist zu einer gewichtigen Dokumentation der Kritik an Zinzendorf und der Brüdergemeine geworden, und diese war wohl begründet und konnte sich auf einen breiten kirchlichen und theologischen Konsens stützen. Von daher wird offenkundig: Ohne erhebliche Rücknahmen im Ausdruck und im Anspruch war eine dauerhafte Koexistenz mit der Brüdergemeine nicht möglich.

Siegmund Jakob Baumgarten Zu den bedeutendsten Kritikern der Brüdergemeine gehörte ferner Siegmund Jakob Baumgarten (1706–1757), Theologieprofessor in Halle und noch vor der Väterliche(n) Warnung an die der Theologie ergebene studirende Jugend vor dem Herrenhutischen Kirchenwesen und Missionswercke (1744) des greisen Joachim Lange (1670–1744)28 der eigentliche Stimmfüh-

28 Angehängt an dessen Lebenslauf, Streitschriften, Nr. 160.

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rer der Hallenser Theologie in dieser Sache.29 Immerhin läßt der Titel von Langes Schrift einmal mehr etwas von der damaligen Attraktivität der Brüdergemeine für den theologischen Nachwuchs an den Universitäten erkennen. Was Baumgartens Verhältnis zur Brüdergemeine anbetraf, bestand ein delikater Sachverhalt: Er war 1732 gleichzeitig mit Spangenberg Adjunkt der theologischen Fakultät in Halle gewesen. Während jener wegen seines separatistischen Anschlusses an Herrnhut jedoch 1733 entlassen worden war, hatte Baumgarten in Halle akademische Karriere gemacht. Später mußte er beteuern, daß durch diese Vorgänge sein Urteil über die Brüdergemeine nicht beeinträchtig worden sei.30 Man wird ihm dies abnehmen können. In der ersten Sammlung seiner theologische(n) Bedencken (Halle 1742) hatte Baumgarten auf Anfragen eines Pastors hin als zweites Stück ein Gutachten »Von den so genanten Herrenhutern oder märischen Brüdergemeinen« (123–178) veröffentlicht.31 Baumgarten hat die Kirchengemeinschaft mit den Herrnhutern im knappen, präzisen und sachlichen Stil seiner Bedenken mit der Eindeutigkeit eines damaligen preußischen Lutheraners bestritten. Von irgendwelchem innerprotestantischen Ökumenismus bleibt dabei nichts übrig. Theologisch werden von dem Vertreter der Hallenser Theologie verständlicherweise der Antinomismus, das Übergehen der Buße, der die Heiligung tangierende Christomonismus und das Abstellen auf die Empfindung moniert. Der auch als beachteter Kritiker Zinzendorfs hervorgetretene Separatist Andreas Groß hat seiner Erste(n) und Letzte(n) Antwort Auf die sogenannte Erklärung des Herren Grafen Nicol. Ludwigs von Zinzendorff (1742) Baumgartens Bedencken beigefügt.32 Eine weitläufigere Untersuchung des Lehrbegriffs der Brüdergemeine sowie der Geschichte der böhmischen Brüder lehnte Baumgarten in der Vorrede zur zweiten Sammlung der Theologische(n) Bedencken (1743) zunächst ab. Die Vorrede zur dritten Sammlung (1744)33 mußte dann auf die heftige und religiös disqualifizierende Antikritik der herrnhutischen Seite in der Büdingischen Sammlung ausführlich eingehen, die sich u.a. gegen Baumgarten gerichtet hatte. Ihren Grund hatte diese harte Reaktion in der ekklesialen Distanzierung von der Brüdergemeine und in der Bestreitung ihrer Traditionskonstruktionen. Baumgarten reagierte ruhig und würdig, verschwieg jedoch nicht die Unwahrhaftigkeit und Bedenkenlosigkeit der Kritiker. Er machte den Herrnhutern nunmehr auch den für ihre Identität erheblichen Vorwurf der historischen Unkenntnis mit der Usurpation der 29 Vgl. Martin Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten, Göttingen 1974. Auf Baumgartens Verhältnis zur Brüdergemeine geht diese Monographie nicht explizit ein. 30 Vorrede zur dritten Sammlung von Baumgartens Theologischen Bedencken. 31 Nachdruck in: Antizinzendorfiana III, 1–56. 32 Streitschriften, Nr. 117. 33 Nachdruck in: Antizinzendorfiana III, 57–211.

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Bezeichnung als böhmische und mährische Kirche. Baumgartens Ausführungen ließen wenig Aussicht auf eine Verständigung zwischen der Brüdergemeine und der lutherischen Kirche übrig. In ihrer Grundsätzlichkeit stellten sie für Zinzendorf und die Seinen ein schweres Problem dar. Es war klar, daß die Brüdergemeine auf Baumgartens Bedencken reagieren mußte. Seine Argumente galten als die bisher wichtigsten, wenngleich »nicht invincibel«. Dies geschah mit einer ihrer großen Verteidigungsschriften Siegfrieds Bescheidene Beleuchtung des vom Herrn D. Baumgarten ... gefälleten und nicht nur an sich selbst ziemlich decisiv gerathenen, sondern noch dazu publicirten Urtheils über die Evangelische Märische Kirche A.C. (1744).34 Baumgarten und nach ihm viele andere haben Zinzendorf als Verfasser vermutet. Unter seinem Namen wird das Buch auch im Bibliographischen Handbuch zur Zinzendorfforschung geführt (Nr. 168). Als Herausgeber gibt sich Polycarp Müller. Angeblich handelt es sich um eine Gemeinschaftsarbeit und dafür spricht die locker gefügte Anlage dieser Schrift. Die Taktik besteht darin, die erhobenen Vorwürfe zu zerstreuen, ohne freilich fest zuzugreifen. Nun war es wiederum an Baumgarten, auf sämtliche Einwände zu erwidern, denn dies hatte er beim Erscheinen seiner Bedencken in Aussicht gestellt. Es war abzusehen, daß die im 24. Stück35 gegebene Antwort umfänglich ausfallen würde. Beiläufig erwähnt die Vorrede zur vierten Sammlung der Theologische(n) Bedencken (1745) noch die Kenntnis des einschlägigen Abschnitts in Weismanns Kirchengeschichte sowie einer diesbezüglichen Disputation von ihm. Der Band ist übrigens den Frankfurter Pastoren Heinrich Andreas Walther, Johan(n) Friedrich Starck und Johan(n) Philip(p) Fresenius gewidmet. Auch Baumgarten hat über den Unterstellungen und Zurechtinterpretationen der Gegenschrift geseufzt. Ferner werden die früheren Kontakte mit Zinzendorf berührt und der Bericht darüber mit interessanten Details richtiggestellt. Wieder wird nämlich über Zinzendorfs Neigung zur Unwahrheit und Lüge geklagt; hingegen will Baumgarten Zinzendorf mit seinen Anstalten nie für einen Knecht Gottes gehalten haben. Es wird energisch in Abrede gestellt, daß die hallische Oeconomie der Vorläufer der Brüdergemeine gewesen sei. Dem Siegfried werden von dem beschlagenen Baumgarten arge theologische Schnitzer nachgewiesen. Zinzendorf muß sich auch die Verächtlichmachung seiner Gegner vorhalten lassen. Daß Baumgarten den Siegfried dann von S. 231–690 (!) Seite für Seite durchgeht und mit Gegendarstellungen versieht, ist wie bei derartig verfahrenden Gegenschriften allemal sehr ermüdend und bringt letztlich wenig. Exemplarisch ist immer34 Nachgedruckt in: Antizinzendorfiana III, 213–403. 35 Baumgarten, Theologische Bedencken, vierte Sammlung, 85–690.

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hin der Nachweis, wie frei und beliebig Siegfried in den Beilagen mit dem Text des Tübinger Gutachtens von 1733 umgegangen ist (637–647). Auf Zinzendorfs Reaktionen auf die Streitschriften z.B. in Die gegenwärtige Gestalt des Creutz-Reichs Jesu in seiner Unschuld (1745) und in den Naturelle(n) Reflexionen (1747) einzugehen, wäre eine Aufgabe für sich, die hier nicht angegangen werden kann. In der fünften Sammlung seiner Theologische(n) Bedencken (1747) hat Baumgarten im 36. Stück (361–464) auf das Creutz-Reich repliziert und dabei lediglich die Stellen behandelt, »darin ich ausdrücklich angegriffen und gemishandelt worden«. Die verständliche Verteidigung gegen persönliche Invektiven und die immer wieder notwendigen Richtigstellungen von Behauptungen können auf sich beruhen. Erst hier wendet sich Baumgarten, der ja keineswegs alle Probleme von Zinzendorfs Theologie aufgegriffen hat und z.B. auf die Trinitätslehre nicht eingegangen ist, gegen die alsdann allerdings reichlich belegten Geschmacklosigkeiten der Ehetheologie (438–452). Er schließt diese Ausführungen folgendermaßen: »Durch dergleichen Beispiele können die Begebenheiten der butlerischen Bande und ältern gnostischen Haufen, ja selbst der bey den Heiden gottesdienstlich verehrte Phallus und Priapus begreiflicher und glaublicher werden, als sie sonst wol seyn würden.« Im Anschluß (453–464) nimmt sich Baumgarten dann noch Zinzendorfs poetische Sprachbildungen kritisch vor. Erbauung sei von dergleichen Liedern kaum zu erwarten. Solches faule Geschwätz (vgl. Eph. 4,29) bereite Ärgernis, dem die bei der Brüdergemeine so hoch gehaltene Kirchenzucht zu begegnen habe. Diesem Unwesen müsse Einhalt geboten oder wenigstens davor gewarnt werden. Selbst wider Baumgartens Erwartung war damit der Schluß der Auseinandersetzung noch nicht erreicht. In der sechsten Sammlung seiner Theologische(n) Bedencken (1748) mußte er im 44. und letzten Stück zur Rettung des 36. Stücks gegenüber dem schon als Kontrahent Bengels erwähnten Albinus Sincerus, aber auch gegen Zinzendorfs Naturelle Reflexionen antreten (663–888). Baumgarten bediente sich dabei immer wieder des Mittels der Dokumentation, womit teilweise interessantes Material geboten wird. Ein wirklicher Fortschritt in der Debatte ist allerdings nicht mehr zur erkennen.

Schluß So beschwerlich die Beschäftigung mit religiöser oder theologischer Polemik sein mag, dürfte das mir aufgegebene Thema doch sein Recht erwiesen haben. Die 386 bibliographierten Streitschriften gehören unabdingbar und dazu auf ganz spezifische Weise zur Ausstrahlung und Wirkungsgeschichte

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Zinzendorfs. Diese Streitschriften konnten nur zu einem Bruchteil ausgewertet werden, darunter immerhin gewichtige Autoren und bedeutende Komplexe. Wenn auch nicht erschöpfend, dürfte die vorliegende Untersuchung exemplarisch die Fruchtbarkeit der Beschäftigung mit den Streitschriften belegen. Es handelt sich bei den Streitschriften nicht bloß um die freilich auch nicht ausgebliebenen abstoßenden Schlammschlachten, wie sie beispielsweise Das Entdeckte Geheimnis der Bosheit der Herrnhutischen Secte (1748–1750) des Büdinger Stadtschreibers Alexander Volk bot. Es konnte gezeigt werden, wie die einzelnen Streitschriften regional, personal oder eben publizistisch miteinander vernetzt sind. Zusammen geben sie einen wichtigen Teilaspekt der Zinzendorf-Rezeption wieder. Die eigene Publizistik der Herrnhuter und die gegen sie gerichtete machen einen Teil der Öffentlichkeit aus, in der die Brüdergemeine präsent gewesen ist. Die Inhalte berühren weitere Segmente wie die politischen Aktivitäten und Maßnahmen oder das akademische Forum. Zinzendorf und seine Anhänger haben nicht nur ihrerseits ein reiches Schrifttum erzeugt, die Menge der Streitschriften bildet ebenfalls einen Quellenbestand, der nicht einfach übergangen werden kann und erheblichen Vorgängen seine Entstehung verdankt. Da werden zahlreiche Informationen über bestimmte Ereignisse, Hintergründe und Zusammenhänge geboten, die das historische Verstehen beträchtlich zu fördern vermögen. Die Zugehörigkeit der Autoren zur Orthodoxie, zum älteren Pietismus, zu den Separatisten oder zur aufkommenden Aufklärung schlägt zwar bei der Auswahl der Kritikpunkte möglicherweise zu Buche, nichtsdestoweniger ist das, was an Kritik entwickelt wird, doch wieder erstaunlich einheitlich, so daß geradezu Kritik- und Zitations-Kartelle zustandekommen. Bei der Frage nach der Berechtigung der Kritik ist dies, allerdings mit der gebotenen Behutsamkeit und Umsicht, in Anschlag zu bringen. Die Beschwerlichkeit, aber auch die Notwendigkeit des Themas bestehen nicht zuletzt darin, daß sich gegenüber der bewunderungswürdigen Gestalt des Grafen und seiner Brüdergemeine harte Fragen erheben. Nicht wenige der Kritiker Zinzendorfs haben über seine unreellen, unwahrhaftigen und verschlagenen Reaktionen geklagt. Auch seine Mitarbeiter waren daran mitbeteiligt. Die Kritik läßt sich quellenmäßig erhärten. Auf Widerstand wurde wenig zimperlich und notfalls mit Fiktionen reagiert. Die Konstruktion des historischen Hintergrunds der (mährischen) Brüdergemeine gerät hier ins Zwielicht. Bei der Würdigung der Person des Grafen muß das problematische Reagieren unter Druck einbezogen werden. Dem benachbart ist wohl der immer wieder autoritär sich gebarende Führungsstil, der auch mit Mitarbeitern wie Gemeindegliedern rüde umspringen kann. Die theologischen Kritikpunkte sind weitgehend einheitlich, auch in ihrer Explikation. Exemplarisch und hauptsächlich seien genannt: das elitäre philadelpische

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Kirchenverständnis, die mangelnde Bindung an die Heilige Schrift, die Trinitätslehre, die Christologie, der Stellenwert von Sünde, Buße und Heiligung, die Ehelehre mit ihren in Bezug auf ihren Urheber pathologisch wirkenden Zügen sowie die Sprache. Die hierbei von der Basis eines breiten gesamttheologischen Konsenses artikulierte Kritik muß mit den theologischen und religiösen Intentionen der Brüdergemeine ins Verhältnis gebracht werden. In Abrede stellen, verharmlosen oder billig entschuldigen hilft hier nicht weiter. Ein Stück weit hat gewiß die geschichtliche Entwicklung die Abschleifung der Anstöße bewirkt. Es haben sich jedoch auch die Vorbehalte der Kritik gehalten. Dies dürfte sich wohl aus den Berichten der Diasporaarbeiter erheben lassen. Exemplarisch sei hier auf Friedrich August Weihe, 1751–1771 Pfarrer in Gohfeld bei Minden, mit modifiziertem Hallischem Hintergrund und einer der Väter der ostwestfälischen Erweckungsbewegung, verwiesen.36 In seinen seelsorgerlichen Briefen wird vom damals in Ostwestfalen aktiven Herrnhutertum immer noch mit den alten theologischen Argumenten abgeraten. Aus seinen Briefen ist ein Briefwechsel über dieses Thema noch im 19. Jahrhundert in Basel nachgedruckt worden.37

36 Vgl. Martin Brecht, Friedrich August Weihe ein Vater des Pietismus in Westfalen und Vorläufer der Minden-Ravensberger Erweckungsbewegung, in: Christian Peters (Hg.), Pietismus in Minden-Ravensberg im 18. und frühen 19. Jahrhundert, BWFKG 23, Bielefeld 2002, 138–140. 37 Zwei merkwürdige Briefe aus der Sammlung des seligen Friedrich August Weihen, gewesenen Predigers zu Gohfeld, Basel 1813.

PAUL RAABE

Goethe und Zinzendorf Einige biographische Bemerkungen.

In Goethes Tagebuch 18301 ist die Lektüre der Zinzendorf-Biographie von Karl August Varnhagen von Ense überliefert: »3. Mai: Von Varnhagens Graf Zinzendorf, mit Neigung, gründlich, mit Mäßigung vorgetragen. Zu bedeutendem Nachdenken auffordernd. Mir besonders willkommen, da es mir die Träume und Legenden meiner Jugend wieder vorführt und auffrischt. 4. Mai: Varnhagens Zinzendorf fortgefahren ... Das Leben Zinzendorfs hinausgelesen. Betrachtungen darüber aus dem höheren sittlichen und weltlichen Standpuncte. 8. Mai: ...Zinzendorfs Biographie wieder durchdacht... 12. Mai: Herrn Geh. Legationsrath Varnhagen von Ense, seinen Zinzendorf betreffend. 16. Mai: Herrn Geh. Legationsrath Varnhagen von Ense, mit Einlage von der Frau Großherzogin, Berlin.«2

Mit der letzten Eintragung ist die Ausfertigung des Dankesbriefes an Varnhagen mit der Beilage des von Goethe entworfenen Schreibens der Großherzogin gemeint. Der Brief lautet: »Nach beendigtem Lesen Ihres höchst schätzbaren Werkes, mit welchem ich sehr angenehme Stunden zugebracht, indem es mir viele bedeutende Erinnerungen hervorrief; wie es mich denn auch jetzt noch zu unablässigem Denken auffordert, schreibe ich nur mit dem Wenigsten: daß Ihre Behandlung der Lebens- und LeistensGeschichte eines so einflußreichen Mannes meinen ganzen Beyfall erworben hat. Ich erfreute mich im Laufe der Erzählung an Ernst und Schonung, Neigung und Klarheit, Ausführlichkeit und Sparsamkeit und überhaupt an dieser innern Gleichmäßigkeit, woraus, zu völliger Befriedigung des Lesers, eine ruhmwürdige Gleichheit des Vortrags entspringt.

1 Die Texte Goethes werden zitiert nach Goethes Werken. Weimarer Ausgabe Abt. I–IV, 146 Bde., Weimar 1887–1919, 1990; abgekürzt: WA., außerdem nach Goethe, Träume und Legenden meiner Jugend, (hg. von Paul Raabe), Leipzig 2000 (Kleine Texte des Pietismus. 3.). – Der Katalog von Paul Raabe, Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande, Halle 1999. (Kataloge der Franckeschen Stiftungen.6.). 2 WA III 12, 236, 239, 241, 243; Goethe, Träume. 155f.

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Ihr Verdienst hierin, mein Theuerster, wird, nach meiner Überzeugung, jetzt und künftig gewiß anerkannt werden. Ja wenn, in später Folge, dieser merkwürdige Mann vor das strenge Tribunal einer ins’s Reinste vorschreitenden Menschheit gefordert wird, so darf weder Ankläger noch Vertheidiger einen vollständigern Actenextract, eine redlichere Geschichtsdarlegung verlangen, sondern sie können unmittelbar zum Werke schreiten. So viel, und nicht mehr, weil von hieraus die Betrachtung sich ins’s Unendliche verlieren möchte. Dankvoll und unwandelbar. In treuer Theilnahme Weimar den 12. May 1830. J. W. v. Goethe.«3

Der Brief faßt den positiven Eindruck der Lektüre zusammen. Es folgen wunderlich rational-irrrationale Gedanken des alten Goethe: Vor einem weltlichen Jüngsten Gericht soll die Biographie Varnhagens von dem Grafen Zinzendorf und seinen Verdiensten Zeugnis ablegen. Der Titel des Buches lautet: Das Leben des Grafen von Zinzendorf. Es erschien bei Georg Reimer in Berlin zur Frühjahrsmesse 1830 als fünfter Teil einer Serie »Biographische Denkmale«,4 in der der Berliner Diplomat und Schriftsteller Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858), verheiratet mit der berühmten Rahel Varnhagen geb. Levi, die Lebensgeschichten berühmter Fürsten und Helden erzählte, beispielsweise: Matthias Graf von der Schulenburg, General Georg von Derfflinger, Fürst Leopold von Anhalt-Dessau, Generalfeldmarschall Blücher von Wahlstadt. In dieser Reihe also steht die 500seitige Biographie des Reichsgrafen von Zinzendorf. Im Vorwort der seinem Lehrer Henrich Steffens gewidmeten Biographie legt Varnhagen dar, daß er »weder einen Beitrag zur Kichengeschichte noch ein Erbauungsbuch für bestimmte Glaubensfreunde« schreiben wolle, »sondern nur die freie Darstellung einer merkwürdigen und bedeutenden Persönlichkeit, wie solche in der Welt sich Bahn gemacht und ein hohes Ziel erstrebt hat«.5 Dank dieser Unbefangenheit löste Varnhagen ein, was er im Vorwort versprochen hatte, nämlich daß er seinem Helden »mit Billigkeit ja mit Liebe gefolgt« sei.6 »Im Rücken der Staatsgeschichte«, so beginnt er seine Biographie, »zwischen den Stürmen des Krieges und andern öffentlichen Ereignissen hindurch, strömen stillere Quellen des Lebens, eines oft tieferen und kräftigeren, als die offen-

3 WA IV, 47, 59–60; Goethe, Träume, 156. 4 K.A. Varnhagen von Ense, Leben des Grafen von Zinzendorf, Berlin 1830 (K.A Varnhagen von Ense, Biographische Denkmale. 5. Theil.) 5 Varnhagen von Ense, Leben des Grafen Zinzendorf, S. V. 6 Ebd., S. VI.

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bare Welt dem Blicke zeigt, und welches weiterhin dennoch wohl in Staat, Kirche und Litteratur mächtig ergreifend ausbricht. Besonders haben eigenthümliche Gestaltungen der Frömmigkeit und der Sitteneinrichtung in den wenig beachteten Kreisen der Gesellschaft, unter Handwerkern und Landleuten, ja unter ganz verachteten Ausgestoßenen, von jeher eigne Stätten und Bahnen gehabt. Findet sich auf diesem Boden zu solch starken Gemüthstrieben höhere Bildung, durchdringendes Talent oder vornehmer Stand, so kommt leicht Außerordentliches an den Tag, das der Welt zum Erstaunen wird«.7

Varnhagen fährt dann fort, daß das religiöse Leben des 18. Jahrhunderts im protestantischen Deutschland von »drei merkwürdigen Persönlichkeiten« bestimmt wurde: dem Grafen Zinzendorf, Johann Kaspar Lavater und Johann Heinrich Jung-Stilling. Er schreibt: »Waren in Lavater und in Jung-Stilling die Gaben der Mitheilung, die Thätigkeiten des Lehrens und Darstellens vorherrschend ..., so giebt Zinzendorf, wiewohl auch er als Schriftsteller und Lehrer unermüdlich und fruchtreich war, dagegen vorzugsweise die mächtigere Thätigkeit zu schauen, welche auf die dauernde Verbindung der Menschen gerichtet ist, er bildet eine neue kirchliche Form, die nach ihm glücklich fortbesteht und noch immer segensreich fortschreitet; er ist ein religiöser Staatsmann«.8

Die sehr eingehende, anregend geschriebene Biographie geht von Spangenbergs Darstellung9 aus, aber Varnhagen benutzte auch die Schilderung von Johann Georg Müller, dem Bibliothekar aus Schaffhausen,10 den kurzen Aufsatz Herders11 und die »aus vertrauter persönlicher Bekanntschaft«, wie es heißt, von Ludwig Carl von Schrautenbach verfaßte, 1828 im Auszug veröffentlichte »merkwürdige Karakterzeichnung des Grafen«,12 von der Varnhagen bemerkte, daß sie »die größte Anempfehlung« verdiente. Im übrigen bezog der Biograph auch die Schriften Zinzendorf ein, aus denen er zitierte. Am Ende seines Buches kam Varnhagen zu dem Schluß, »daß Zinzendorf ein seliges Leben geführt [habe], wie nur wenigen Menschen es beschieden ist! Sein Leben ist als ein glückliches und beneidenswerthes auch von solchen anzuerkennen, die weder seines Glaubensbekenntnisses noch seiner Sinnesart sind, noch ihm nachzuahmen den Wunsch und Beruf haben. Und so dürfen wir auch

7 Ebd., 3. 8 Ebd., 4f. 9 August Gottlieb Spangenberg, Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf, Th. 1–8, Barby 1772–1775. 10 Johann Georg Müller, Über Zinzendorfs Leben und Charakter, Winterthur 1795. 11 Johann Gottfried Herder, Adastrea. Bd 4: Zinzendorf, in: Herder, Sämtliche Werke, (hg. v. Bernhard Suphan. Bd 24, Berlin 1886, 32–37) 12 Ludwig Carl von Schrautenbach, Erinnerungen an den Grafen Zinzendorf. Bei Gelegenheit seines neuesten Bildnisses, Berlin 1828. Die vollständige Ausgabe erschien u.d.T.: Der Graf von Zinzendorf und die Brüdergemeine seiner Zeit, Gnadau 1851; 21871.

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von ganz allgemeinem Standpunkt aus, beim Anschauen dieses Mannes, in ganz weltlicher Betrachtungsweise, hier mit der Bemerkung schließen, daß überall solcher Segen waltet, wo der Mensch in den Kämpfen der Welt nicht ihr selbst, sondern einem höheren Leben sich vertrauenvoll zuwendet«.13

Zum gleichen Urteil war Goethe nach der Lektüre gekommen, als er »Betrachtungen darüber aus dem höheren sittlichen und weltlichen Standpuncte« anstellte (Tgb. 4.5.1830)14. Er hatte dem Erscheinen des Buches mit Spannung entgegengesehen, nachdem das Ehepaar Varnhagen ihn im September 1829 besucht hatte und er bei dieser Gelegenheit von dem Buchplan erfuhr. Goethe schickte am 23. September daraufhin eine Kopie jener Reimepistel des Herrnhuter Christian Gregor nach Berlin, die Goethe zwanzig Jahre zuvor zu einer Kontrafaktur veranlaßt hatte. Das handschriftlich kursierende Gedicht aus dem Jahr 1771 hatte ihn 1808 sehr beeindruckt.15 Er bewahrte es als ein kostbares Dokument auf, welches, wie es in seinem Brief heißt, »vielleicht für das Anmuthigste gehalten werden kann was aus der Religions-Ansicht jenes merkwürdigen Mannes, dessen Geschichte Sie so viel Aufmerksamkeit gewidmet, hervorgegangen«.16 In einem weiteren Brief vom 13. Februar 1830 an Varnhagen fragte Goethe dann an, »ob wir die Biographie des frommen Oberhirten einer so weit ausgebreiteten Gemeinde wohl auch bald zu hoffen haben. Ich bin höchst verlangend Leben und Thätigkeit eines Mannes, der in meiner Jugend auf mich und meine Umgebung stark einwirkte, nun einmal im Ganzen und in Bezug auf die allgemeine Weltgeschichte, durch eine meisterhafte Darstellung zu überblicken«.17

Der alte Goethe vergegenwärtigte sich die »Träume und Legenden meiner Jugend«, wie es in der zitierten Tagebuchstelle hieß.18 Er bekannte, daß »Leben und Thätigkeit« Zinzendorfs »in meiner Jugend auf mich und meine Umgebung stark einwirkte«.19 Die religiöse Phase der Frankfurter Jahre zwischen 1768 und 1775 war eng mit dem Namen des »frommen Oberhirten einer so weit ausgebreiteten Gemeinde«20 verbunden, den er damals – im August 1770 – »meinen Graffen«21 in einem Brief an Susanna Katharina von Klettenberg nannte. Diese fromme mütterliche Freundin hatte den jungen Goethe mit der Rolle Zinzendorfs vertraut gemacht, die dieser in 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Varnhagen von Ense, 506f. WA III 12, 239; Goethe, Träume, 155. Goethe, Träume, 111–115, 200–202. WA IV 46, 83f; Goethe, Träume, 154. WA IV 46, 239; Goethe, Träume, 155. WA III 12, 236; Goethe, Träume, 155. WA IV 46, 239; Goethe, Träume, 155. Ebd. WA IV 1, 246; Goethe, Träume, 19.

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ihrem Leben spielte. Sie war eine glühende Anhängerin des Frankfurter Superintendenten Johann Philipp Fresenius gewesen, der dem Hallischen Pietismus nahegestanden hatte. Er war 1761 – ein Jahr nach Zinzendorf – gestorben. Das Fräulein von Klettenberg neigte in den nächsten Jahren immer mehr der Frömmigkeit der Brüdergemeine zu und stand in der Zeit des Umgangs mit dem jungen Goethe ganz unter dem Einfluß der Oberen im nahen Marienborn.22 Diese Vermutung läßt sich aus den »Bekenntnissen einer schönen Seele« herauslesen, dem sechsten Buch in Goethes Bildungsroman »Wilhelm Meisters Lehrjahre«.23 Dieser Autobiographie einer frommen Stiftsdame liegen zweifellos Aufzeichnungen und Äußerungen der Klettenberg zugrunde, die Goethe bearbeitet hat. Im Laufe der Erzählung lernt sie in der Bibliothek ihres Freundes Friedrich Carl von Moser, dessen Eltern, wie es heißt, »mit der herrnhutischen Gemeinde in Verbindung gestanden«, »viele Schriften des Grafen« kennen.24 Bis dahin, bekannte sie, hatte sie diesen für einen »gar zu argen Ketzer« gehalten.25 Aber durch die Lektüre des Ebersdorfer Gesangbuches wurde sie eines anderen belehrt: »Die Originalität und Naivetät der Ausdrücke zog mich an ... keine Schul-Terminologie erinnerte an etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward überzeugt, die Leute fühlten, was ich fühlte«26. Auf diesem Umweg lernte die Klettenberg die Schriften Zinzendorfs kennen: »Er versorgte mich mit allen Schriften, die ich nur verlangte, und nun hatte ich überflüssige Nahrung für meine Einbildungskraft. Ich machte große Fortschritte in der Zinzendorfischen Art zu denken und zu sprechen. Man glaube nicht, daß ich die Art und Weise des Grafen nicht auch gegenwärtig zu schätzen wisse; ich lasse ihm gern Gerechtigkeit widerfahren; er ist kein leerer Phantast; er spricht von großen Wahrheiten meist in einem kühnen Fluge der Einbildungskraft, und die ihn geschmäht haben, wußten seine Eigenschaften weder zu schätzen, noch zu unterschieden.

Ich gewann ihn unbeschreiblich lieb. Wäre ich mein eigner Herr gewesen, so hätte ich gewiß Vaterland und Freunde verlassen, wäre zu ihm gezogen; unfehlbar hätten wir uns verstanden, und schwerlich hätten wir uns lange vertragen«.27 Was in der romanhaften Erzählung verklärt wurde, beruhte auch realen Fakten. Wie weit der heranwachsende Goethe im Frankfurter Elternhaus bereits mit dem Namen Zinzendorfs bekannt wurde, läßt sich nicht mit 22 Vgl. Heinrich Funck (Hg), Die schöne Seele. Bekenntnisse, Schriften und Briefe der Susanna Katharina von Klettenberg, Leipzig 1912; Raabe, Separatisten, 95–130. 23 WA I 22, 259–356; Goethe, Träume, 46–105. 24 WA I 22, 319; Goethe, Träume, 82. 25 WA I 22, 330; Goethe, Träume, 82. 26 WA I 22, 320; Goethe, Träume, 83. 27 WA I 22, 321; Goethe, Träume, 83.

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Sicherheit feststellen. In »Dichtung und Wahrheit« bekannte er 1811, daß »der kirchliche Protestantismus ... eigentlich nur eine Art trockener Moral« gewesen sei und fährt fort: »Deswegen ergaben sich gar mancherley Absonderungen von der gesetzlichen Kirche. Es entstanden die Separatisten, Pietisten, Herrnhuter, die Stillen im Lande und wie man sie sonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte, die aber alle blos die Absicht hatten, sich der Gottheit, besonders durch Christum, mehr zu nähern, als es ihnen unter der Form der öffentlichen Religion möglich zu seyn schien. Der Knabe hörte von diesen Meinungen und Gesinnungen unaufhörlich sprechen«.28

Damals gab es in Frankfurt einen Kreis von Frommen, der sich an das Vorbild von Herrnhut anlehnte. Diese Diasporagemeine war ein von der Brüdergemeine unabhängiger Freundeskreis, der Singstunden abhielt und Liebesmahle feierte. Aus einem überlieferten Konferenzbuch von 1741–1753 ist bekannt, daß diese Diasporagemeine, die mit der Brüdergemeine in Kontakt stand, in dieser Zeit besonders aktiv war. Sie zählte 1775 noch 18 Personen, an ihrer Spitze stand Christian Johann Lucas, der der Klettenberg nahestand.29 Aber gehen wir noch einmal zurück auf die Leipziger Universitätszeit des jungen Goethe. Vermutlich hat er in seinem letzten Studienjahr, im Sommer 1768, in seinen Gesprächen mit seinem neuen Freund, Ernst Theodor Langer,30 manches über die Pietisten, insbesondere über die Herrnhuter Brüdergemeine, erfahren. Denn dieser hatte nach der Entlassung aus dem preußischen Militärdienst das Pädagogium in Züllichau besucht und sich mit dem dortigen Direktor Gottlieb Samuel Steinbart angefreundet, dessen Vater ein Anhänger von August Hermann Francke gewesen war und der nach dessen Vorbild das Pädagogium in Schlesien gegründet hatte. So erklärt es sich, daß Goethe in seinem ersten Brief an Langer, nach der Rückkehr aus Frankfurt am 8. September 1768 geschrieben, sofort über die Verbindungen seiner Familie mit den Herrnhutern berichtete und »eine genaue Beschreibung der hiesigen Diaspora« in Aussicht stellte.31 Aus diesen wenigen, aber inhaltreichen Briefen, die erst 1922 entdeckt wurden,32 erfährt man, daß der krank nach Hause zurückgekehrte Neunzehnjährige im Winter 1768/69 vorübergehend unter den Einfluß der Herrnhuter Frömmigkeit geriet. Daß er aber ein Pietist geworden sei, wie damals die Theologen nach der Veröffentlichung der Briefe glaubten, läßt 28 WA I 26, 62; Goethe, Träume, 116. 29 Vgl. Marie Redslob, Rückblicke auf die Geschichte der Brüder-Sozietät in Straßburg, Herrnhut 1895. 30 Vgl. Raabe, Separatisten, 54–62. 31 WA IV 51, 30; Goethe, Träume, 12. 32 Goethes Briefe an E. Th. Langer. Paul Zimmermann (Hg.), in: Braunschweigisches Jahrbuch, NF 1 (1922) 1–34; wiederabgedruckt in: WA IV 51, 29–44.

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sich kaum annehmen, wohl aber setzte damals eine enge Vertrautheit mit der Brüdergemeine ein. Neben der Diasporagemeine, deren Versammlung Goethe einmal besuchte, war es die kleine Gesellschaft von Freunden der Herrnhuter, in der Susanna Katharina von Klettenberg die Hauptfigur war. Zu diesem Kreis gehörte auch Goethes Mutter, die zu einer Versammlung eingeladen hatte. So lernte auch der Sohn des Hauses zusammen mit seinem Freund Johann Christian Mellin den Verlauf einer solchen Zusammenkunft kennen, die sich sehr von einem Herrnhuter Liebesmahl unterschied. Goethe berichtete dem Leipziger Freund am 17. Januar 1769 ausführlich von der Begegnung, vor allem auch von den Folgen. Er bekannte, daß der Heiland ihn »endlich erhascht« habe. Die dann folgende burschikose Bemerkung – »ich lief ihm zu lang und zu geschwind, da kriegt er mich bey den Haaren«33 – läßt sich wohl dahin interpretieren, daß sich der Kranke zu den Frommen hingezogen fühlte, daß ihm aber doch letzten Endes die Erweckung fehlte. »Man sieht mich von Seiten der Brüder als einen Menschen an, der einen guten Willen hat ... aber noch zu sehr durch die Anhänglichkeit an die Welt zerflattert«34 sei. Zwar spürte er, wie er schrieb, in dieser frommen Stunde den Übergang von der Kreuzkirche, d.h. der offiziellen Kirche, zu einer Geistkirche, d.h. einer unsichtbaren Kirche in der Gemeinschaft der Erweckten. Doch Goethe blieb der Welt verhaftet. Daran änderte auch die Freundschaft mit Susanna Katharina von Klettenberg nichts, die ihn gemeinsam mit dem Arzt Johann Friedrich Metz in die Geheimnisse der Alchemie, die bei den radikalen Pietisten eine recht verbreitete Rolle spielte, einführte. Der junge Goethe erlebte das Außerordentliche der pietistischen Frömmigkeit, war offenbar fasziniert vom exstatischen Zungenreden der Inspirierten und fühlte sich von dem zu Herrnhut hinneigenden Freundeskreis angezogen, dem er bis 1774 wohl sogar angehörte, wie aus einer Notiz der Brüdergemeine von 1772 hervorgeht.35 Aus der Begegnung mit dem Pietismus zinzendorfischer Prägung entwickelte Goethe, der früh die Fesseln eines engen kirchlichen Protestantismus ablegte, eine Weltfrömmigkeit in der Verbindung mit christlichen Grundüberzeugungen, die er selbst als seine Privatreligion bezeichnete. Abgesehen von dieser inneren Abkehr gibt es manche Zeugnisse, die seine Beziehungen vor allem zu den Herrnhutern belegen. Sein Name tauchte in den Berichten der Brüdergemeine zum erstenmal am 21./22. September 1769 in dem Diarium von Marienborn bei Frankfurt auf. In dem 33 WA IV 51, 36; Goethe, Träume, 16. 34 WA IV 51, 33; Goethe, Träume, 13. 35 Raabe, Separatisten, 76.

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dortigen Schloß, das die Herrnhuter Brüdergemeine von den Grafen zu Ysenburg-Büdingen gepachtet hatte, war gerade die Synode zu Ende gegangen, als der Legationrat Johann Friedrich Moritz als Beauftragter des Ysenburger Grafen in Begleitung des jungen Goethe eintraf, um der Tochter von Zinzendorf seine Aufwartung zu machen. Nach deren Abreise hielt »Bruder Joseph«, August Gottlieb Spangenberg, der Vorsitzende der Ältestenkonferenz, eine Versammlung ab, an der auch die beiden Gäste – »H. Legationsrath Moritz und Herrn Rath Göthe aus Frankfurt Sohn, ein junger Student« – teilnahmen. Sie kehrten am nächsten Tag zurück. In dem Diarium heißt es: »Herr Legat.Rath Moritz, der den jungen H. Jedde [!] in seiner Gesellschaft hatte u. nebst demselben recht vergnügt gewesen war, retournierte heute nach Ffurt«.36 Die Oberen in Marienborn interessierten sich vermutlich vorübergehend für den jungen Frankfurter, denn am 4. Januar 1772 heißt es in dem Gemeinbericht: »Bruder Riegelmann besuchte H. Dr. Göthe, Fr. v. Klettenberg und andere Freunde der Gemeine«.37 Inzwischen hatte es Kontakte zu einem anderen Kreis von Pietisten, nämlich Goethes Umgang mit den Frommen in Straßburg im Sommer 1770, gegeben. Zwar fand er diese »so von Herzen langweilig«38, doch mit einigen von ihnen verkehrte er, so wohl mit dem Handelsmann Salzmann und seiner Familie. In den späteren Jahren kam es zu weiteren zufälligen Begegnungen mit pietistischen Zirkeln. Auf der berühmten Rheinreise mit Johann Kaspar Lavater und Johann Bernhard Basedow besuchten die Freunde am 20. Juli 1774 Neuwied, die damals toleranteste Stadt im Reich, in der sieben Religionsgemeinschaften zusammen lebten. Lavater hatte sich zuvor in Bad Ems informiert: »Ich aß wieder bei den Herrnhutern. Von Neuwied, von der Toleranz überhaupt, u. den Herrnhutern insbesondere. Von den dortigen Mennoniten, Separatisten, Pietisten, Inspirierten ...,« notierte er in seinem Tagebuch am 30. Juni.39 Die Begegnung in Neuwied fand eine Steigerung durch den Besuch in Elberfeld, wo die Reisenden am 22. Juli 1774 bei einer Tischgesellschaft im Hause des Kaufmanns Caspari ihren Freund Jung-Stilling inmitten eines Kreises von Separatisten sahen. Über die kuriose und denkwürdige Situation gibt es mehrere anschauliche Berichte.40

36 Ebd., 82f. 37 Vgl. Anm. 34. 38 WA IV 1, 246; Goethe, Träume, 19. 39 Adolf Bach (Hg.), Goethes Rheinreise mit Lavater und Basedow im Sommer 1774, Zürich 1923, 43. – Vgl. auch Raabe, Separatisten, 145ff, 151ff. 40 Raabe, Separatisten, 178–182.

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Und schließlich Goethe in Barby an der Elbe, dem damaligen Zentrum der Brüderunität: als Teilnehmer einer Gesellschaft verbrachte er das Wochenende vom 7. bis 9. Dezember 1776 in dieser Hochburg der Brüdergemeine. Nur das Diarium von Barby berichtet darüber: »d. 7. Nachmittag langten Ihre Durchl. der regierende Herzog von Sachsen-Weimar in Gesellschaft des Fürsten von Dessau nebst einigen andern Herren, darunter auch der bekannte H. Dr. Göthe sich befand, von Dessau hier an. Sie unterredeten sich zuerst mit einigen Brüdern der Unit[äts]-Ae[ltesten]-Conf[erenz] über die Verfassung der Brüdergemeine und unsre Missionen, und wohnten darauf den Communion-Agapen bei, sahen auch beim A[bend] M[ahl] zu. Das L[iebes] M[ahl] ward von Br[uder] Andresen mit Gesang und vom Choro mit Musik unterhalten; und bey dem H[eiligen] A[bend] M[ahl] wobei Br[uder] Gregor liturgierte, bekannte sich der Heiland ganz besonders gnädig zu seiner Gemeine ...«.41 Goethe im Kreise der Schar von pietistisch Frommen: das waren Episoden, die in seinem langen Leben keine Fortsetzungen fanden. Das benachbarte Neudietendorf in Thüringen unweit von Weimar hat Goethe kaum kennengelernt, in Herrnhut ist er nie gewesen. Zufällig hatte der junge Goethe Zinzendorfs Nachfolger August Gottlieb Spangenberg in Marienborn und auch in Barby kennengelernt. Selbst Henriette Benigne Justine von Watteville, die Tochter Zinzendorfs, wird er in Marienborn gesehen haben. Denkwürdig ist schließlich die Erwähnung von Bruder Gregor, der während des Abendmahls in Barby in Anwesenheit Goethes »liturgierte«. Er ist der nämliche Christian Gregor, dessen handschriftlich kursierende Reimepistel über seine Abenteuer in Amerika Goethe 1808 in Karlsbad zu einem Gelegenheitsgedicht anregte und das ihn auch später öfter beschäftigte. Eingedenk dieser Begegnungen versteht man auch besser die berühmte Passage über die Brüdergemeine im 15. Buch von Goethes »Dichtung und Wahrheit«42, 1814 erschienen. John Becker, Lehrer am Pädagogium in Niesky nannte in seinem Buch »Goethe und die Brüdergemeine« diesen Text das »wohl schönste Denkmal in unserer klassischen Literatur«, das den Herrnhutern gesetzt worden sei. Bei Goethe heißt es: »Nun schlug ein einziges Auge, unter dem Schutz eines frommen vorzüglichen Mannes, Wurzel, um sich abermals aus unmerklichen, zufällig scheinenden Anfängen, weit über die Welt auszubreiten. Der wichtigste Punct hierbei war der, daß man die religiöse und bürgerliche Verfassung unzertrennlich in Eins zusammenschlang, daß der Lehrer zugleich als Gebieter, der Vater zugleich als Richter dastand; ja was noch 41 Ebd., 86. 42 WA I 28, 303–306; Goethe, Träume, 146–149.

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mehr war, das göttliche Oberhaupt, dem man in geistlichen Dingen einen unbedingten Glauben geschenkt hatte, ward auch zu Lenkung weltlicher Angelegenheiten angerufen, und seine Antwort, sowohl was die Verwaltung im Ganzen, als auch was jeden Einzelnen bestimmen sollte, durch den Ausspruch des Looses mit Ergebenheit vernommen. Die schöne Ruhe, wie sie wenigstens das Äußere bezeugte, war höchst einladend, indem von der andern Seite, durch den Missionsberuf, alle Thatkraft, die in dem Menschen liegt, in Anspruch genommen wurde«.43

Den Sinn für die Brüdergemeine und die Verehrung für den Erneuerer, den Grafen Zinzendorf, verdankte Goethe seiner religiösen Jugendphase. Er bewunderte dessen »Gesinnungen und Wirkungen« auch als ein »Zeugniß einer höheren Geburt und eines vornehmen Standes«44. Diese Verbindung eines reichsgräflichen Adels mit dem Adel der Seele war es, die Goethe zeitlebens an Zinzendorf faszinierte. Er sah in ihm einen Helden, einen Mann der Tat, der sich in den Kämpfen behauptete. So läßt sich die Bewegung und die Zustimmung verstehen, von der der alte Goethe bei der Lektüre der Zinzendorf-Biographie Varnhagens ergriffen worden war. Die Erinnerung rundete sich ihm zu einem umfassenden Bild. Goethe entfernte sich früh von dem kirchlichen Protestantismus und entwickelte eine eigene Glaubenswelt. Doch er blieb zeitlebens, wie wir haben zeigen können, ein Verehrer von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Die Brüdergemeine hat in Goethe einen bedeutenden Zeugen seines Wirkens.

43 WA I 28, 303f; Goethe, Träume, 147. 44 WA I 27, 200; Goethe, Träume, 126.

EBERHARD BUSCH

»Hochverehrter Herr Graf, nicht so stürmisch!« Karl Barths Stellung zu Nikolaus von Zinzendorf

Es war eine späte Liebe, die den älteren Karl Barth mit Zinzendorf verband. Zuvor stand er kritisch zu ihm. Das lag weniger an einer mangelnden Kenntnis Zinzendorfs, als an den zwei großen Phasen auf seinem eigenen Weg: von der dialektischen Wort-Gottes-Theologie hin zur christozentrischen Theologie seiner reifen Jahre. Wiederum sind die zwei Stadien auf Barths Weg nicht bloß zwei sich ablösende Zeitabschnitte. Sie hängen auch zusammen. Schon im frühen Werk kündigt sich das spätere an und im späteren bleibt das frühere aufbewahrt. Das spiegelt sich darin, daß in der kritischen Sicht Zinzendorfs sich auch respektvolle Anerkennung zeigt, wie in der späteren Hochachtung vor dessen Theologie die Frage an sie nie ganz verstummt. Barths Stellungnahme zu ihr hatte auch stets zwei Seiten, wenn auch jeweils die eine mehr hervortrat als die andere. Vielleicht zeichnet sich in diesen zwei Seiten von Barths Deutung auch eine Ambivalenz ab, wie sie der Theologie Zinzendorf selbst eigentümlich ist. Sehen wir näher hin!

1. Das Nein zu einer Gottinnigkeit ohne Furcht des Herrn In Barths 2. Römerbriefauslegung von 1922 heißt es: »Sofern wir nicht durch den Glauben gerecht sind vor Gott, befinden wir uns ... im Kriegszustand mit ihm: unsere Liebe zu ihm ist dann die Distanzen verkennende (zinzendorfisch-romantisch-indische) Gottinnigkeit ohne die Furcht des Herrn, jene Gottinnigkeit, die in ihrem Wesen Nicht-Gott, dem Gott dieser Welt gilt, mit der wir uns gerade unter den Zorn Gottes, in die Reihe seiner Feinde stellen«.1

Was hier als zinzendorfisch gilt, erhellt aus den zwei anderen Adjektiven zu »Gottinnigkeit«.2 Barth wendet sich hier also3 gegen eine Beanspruchung 1 Karl Barth, Der Römerbrief, München 1923, 127. 2 Zu »romantisch« vgl. Karl Barth, Der Römerbrief, Bern 11919, 270. »Indisch« meint wohl den mystischen Typ von Religion, vgl. Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums, Tübingen 21912, 61f. 3 In der 1. Römerbriefauslegung, Bern 1919, 125f, richtet sich die Kritik an der entsprechenden Stelle ganze im Sinne Wilhelm Herrmanns gegen den »unnützen und gefährlichen Versuch,

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von Intimität im Verkehr mit Gott, ohne daß die Furcht des Herrn der Weisheit Anfang ist. Die Kritik ist dialektisch: Durch den Glauben sind wir im Frieden mit Gott, gerade weil darin der Abstand anerkannt ist zwischen Gott unserem Richter und uns von ihm zu Recht Angeklagten. Und jene distanzlose Gottinnigkeit ist im Krieg mit Gott, weil darin der Mensch nur träumt, mit Gott mit Frieden zu sein; denn in Wahrheit hat er es nur mit sich selbst zu tun. Um zu verstehen, was Barth hier ablehnt, sei sein früher Aufsatz von 1910 beachtet, worin er Zinzendorf lobt: in einer Sicht, die dann auch in seiner Kritik maßgeblich blieb. Sein Leitstern war damals Schleiermacher, in dessen Licht er auch die ursprüngliche Reformation sah: als die Erscheinung höchster »Intensität des religiösen Erlebens«, in dem »Subjekt und Objekt im religiösen Vorgang ›glücklich‹« geeint sind: »Er wird ich«4 – eine fabelhafte Entdeckung, die der Protestantismus seit Melanchthon wieder verloren habe. »Aber der rote Faden der wahren evangelischen Theologie ist doch nicht abgerissen«.5 Er wurde sichtbar neben dem geliebten Tersteegen6 bei Zinzendorf. »Nicht immer waren die Theologumena und Bilder, in denen diese Leute ... jene Gedanken ausführten, diesseits der Grenze der religiösen Wahrhaftigkeit und des guten Geschmacks ... Das lassen wir uns von Albrecht Ritschl gerne sagen« – in seiner Verwahrung gegen eine Jesusliebe in den Farben des Hohen Liedes.7 »Aber«, fährt Barth fort, »das innere Prinzip dieser Richtung war einfach das ... Evangelische«. Denn darin war jene Gleichung von Christus und ich »lebendig erhalten. Es ist von providentieller Bedeutung, daß aus der erneuerten Brüderkirche, Friedrich Schleiermacher hervorgegangen ist«.8 Jetzt wird klar: Barths frühe Kritik an Zinzendorf erfolgt im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Schleiermachers Unmittelbarkeitsreligion (»Er wird ich«), mit der Vorstellung eines Mitgegebenseins Gottes im religiösen Gefühl; wogegen Barth die Gegenthese stellt, Gott begegne uns nur in der Mittelbarkeit seines Wortes, das in der umgekehrten Richtung von Gott an den Menschen ergeht und in dem mithin das unaufhebbare Gegenüber von Gott und Mensch gesetzt ist. Im selben Sinn richtet sich die Kritik auch an Zinzendorf. 1924 sagt Barth sogar, Schleiermacher habe in »seiner unverwüstlichen Herrnhuterei« das Christentum »ins Zinzendorfische« übersetzt.9 sich, unter Umgehung des kategorischen Imperativs der Pflicht, eine unmittelbare Intuition, ein ›Leben‹ ohne Ethik zu erschleichen.« 4 Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1909–1914, Zürich 1993, 200f. 5 Barth, Vorträge 1909–1914, 201. 6 Barth, Vorträge 1909–1914, 253. 7 Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 1, Bonn 1880, z.B. 485f. 8 Barth, Vorträge 1909–1914, 201f. 9 Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, Zürich 1990, 414.

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Die Kritik will also jene Unmittelbarkeitsreligion ausschließen und richtet sich gegen Zinzendorf, weil Barth bei ihm diese nicht ausgeschlossen sieht. Hat er später seine Stellung zu Zinzendorf revidiert, so doch nicht seine Ablehnung jener Unmittelbarkeitsreligion. An drei Punkten konkretisiert Barth seinen Einwand. Zunächst: 1927 kritisiert er die aus der »Schule Zinzendorfs hervorgegangene Art, die aus dem historischen Jesus direkt und undialektisch, ohne rückwärtige Beziehung einen Gott macht. Als ob nicht alles an dieser Beziehung und Begründung läge! Daran, daß Jesus als der Sohn des Vaters der eine Gott ist!«10 Denn wenn das fleischgewordene Wort nicht von Ewigkeit Wort Gottes selbst ist und wenn darum in der Erscheinung Jesu Christi nicht allein Gott angebetet wird, wohl der Gott, der sich des Menschen annimmt, aber kein Mensch, dann verdankt sich Jesu Göttlichkeit dem, daß Menschen sie ihm aufgrund der für ihn empfundenen Wertschätzung zuschreiben. Sie treiben dann »Vergötterung einer Kreatur«, »Jesulatrie«11. Das heißt: Wo man in dieser Person direkt seine Gottheit fassen will, hat man vielmehr immer nur einen Menschen anvisiert, der nicht Gott ist, sondern seine Wichtigkeit erst dadurch bekommt, daß ihn Gläubige in den Himmel loben, um sich dabei zu täuschen, daß ihre Verehrung nur einem Menschen gilt. 1938 wiederholt Barth die Kritik. Der christologische Zentralsatz »Das Wort ward Fleisch« sei nicht so zu verstehen, als sei das Fleisch das göttliche Wort; denn das Wort hört in seiner Fleischwerdung nicht auf, das Subjekt zu sein, das redet, handelt, offenbart, versöhnt und so zu uns kommt, die wir im »Fleisch« sind. »Damit fällt als Gegenstand des Glaubens und der Verkündigung jener ›historische Jesus‹ des modernen Protestantismus, der ja eigens dazu ... erdacht worden ist, um einen Zugang zu Jesus Christus unter Umgehung seiner Gottheit, einen in Form menschlichen Urteils und Erlebnisses allgemein verständlichen und möglichen Zugang zu der Offenbarung aufzuweisen. Man wird wahrscheinlich ... in der so eigentümlich an den kreatürlichen Leiden Christi interessierten Verkündigung Zinzendorfs, die den rationalistischen Jesusbildern seines Jahrhunderts trotz aller Gegensätze methodisch vorangegangen ist, einen der bedeutsamen Ursprünge des Unternehmens finden müssen«.12

Zweitens, problematisch ist für Barth auch das Verständnis der Christengemeinde. In seiner Kritik Schleiermachers weist er darauf hin, daß für diesen die Familie »Keimzelle« der Gemeinde sei; die Verwandtschaft aller Glieder gewähre also ihren Zusammenhalt: »jedes mit seinem Eigenrecht, sich selbst zu sein, aber gerade darum und darin denselben Nenner tragend, 10 Karl Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf, Bd.1 Zürich 1982, 258. 11 Barth, Dogmatik, 358. 12 Karl Barth, KD I/2, 150f.

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ja unsichtbar zu einer Gesamtsumme vereinigt, als eine Zahl, über demselben Gesamtnenner stehend« – verbunden durch den Gemeingeist als das in ihnen allen Identische, so daß sich gleich und gleich gern gesellt.13 Die Gemeinde hat hier das sie Gründende nicht außer sich in dem Herrn, der Verschiedene zusammenruft. Deren Glieder tragen das sie Einigende in sich. Sie lebt nicht aus dem Hören des Wortes, sie hat in der Musik ihre Harmonie.14 Das ist Schleiermacher. Aber Barth notiert: »Herrnhutische Erfahrungen haben bei dieser Konzeption« gewirkt. »Das ist eine Abwandlung des zinzendorfschen Programms«.15 Das Schibboleth dieses Programms war Barth lange Zeit das Lied »Herz und Herz vereint zusammen.« Daß Freund Thurneysen dieses Lied im Gottesdienst singen ließ, schreibt er noch 1928, »das hat mich doch richtig erschüttert«.16 Und daß im Herbst 1935 in St. Gallen die positiven und liberalen Pfarrer dieses Lied Hand in Hand sangen, im Protest gegen Barths Empfehlung der Übernahme des Entscheidungsernstes der Deutschen Bekenntniskirche für die Schweiz, das hat ihn erneut erschüttert. Drittens, verdächtig ist ihm auch Zinzendorfs theologisches Erkenntnisprinzip, das sich ihm zusammenfaßt in der Formel des »Es ist mir so«, in der Apologetischen Schlußschrift von 1752 ausgegeben als »die einzige Realität« gegenüber der Skepsis.17 Diese Berufung auf die Intuition, selbst wenn sie dort mit dem Wort Glaube assoziiert wird, führe gegenüber der Skepsis nur vom Regen in die Traufe. »An einem persönlichen Erlebnis sich zu orientieren«, sagt Barth, »ob man es nun Offenbarung nennt oder mit Zinzendorf offen zugibt: ›Es ist mir so‹, ... das hat nur so lange Sinn, als die Offenbarung vergessen« ist.18 Es sei darum eine Begründung des christlichen Glaubens und Denkens wiederzufinden, die Zinzendorfs »Es ist mir so« »gerade gegenüber steht« und so einen protestantischen Fehlweg überwindet, für den dieses Motto Pate steht.19 Was dieses Motto meint, findet Barth demonstriert in der Lieddichtung Zinzendorfs. Trotz aller Bezugnahme auf das Christusdogma setzen diese Lieder »eine Christus gegenüber höchst selbstbewegte ... Gemeinde voraus, nicht mehr ... jene einfach vom Hören des Worts im Glauben bewegte Gemeinde Luthers. Sie ist viel frömmer geworden als jene; ... sie nimmt sich ... in ihrem religiösen Besitz

13 Barth, Vorträge 1922–1925, 468f; vgl. ders., Die Theologie Schleiermachers 1923/1924, Zürich 1978, 398, 198f. 14 Barth, Theologie Schleiermachers, 485f. 15 Barth, Theologie Schleiermachers, 469. 16 Briefwechsel Karl Barth – E. Thurneysen., Bd. 2, Zürich 1974, 588. 17 A. G. Spangenberg, Apologetische Schluß-Schrifft. 2. Th., Leipzig und Görlitz 1752, 629. 18 Barth, Vorträge 1922–1925, 345; vgl. ders., Predigten 1913. Zürich 21994, 58. 19 Barth, Vorträge 1922–1925, 665.

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sehr viel wichtiger«.20 In ihr ist »der Heilige Geist ... angeblich immer noch ein Geist Gottes, ja, ein christlicher Geist, in Wirklichkeit der Geist menschlicher Innigkeit und Ernsthaftigkeit«, in dem die da Singenden »in aller Frömmigkeit nur bei sich selbst und mit sich selbst allein sind«.21 Barth nennt das eine verborgene Häresie. So ernstlich Barths Kritik an Zinzendorf war22, so war sie doch offen für die Erwägung, daß es auf seiner Seite Gegengewichte gegeben haben möchte, die die dort gefürchtete Gefahr hemmten. Sie hinderten Barth, mit dem ihm fragwürdigen Gegenüber fertig zu sein. Immerhin haben ihn die Kinderlieder Abel Burckhardts, die in herrnhutischem Geist Jesus als den gegenwärtigen Heiland besingen, bis zum letzten Lebenstag begleitet.23 In seiner Jugendzeit war ihm der Prediger der Berner Brüdergemeine Theodor Schmidt eindrücklich geworden.24 Und in der Zeit seines »Römerbriefs« gab ihm ein Liebhaber Zinzendorfs zu denken, Heinrich Gelzer.25 Er hat, schrieb Barth, »so etwas unmittelbar Positives, Freudemachendes, Friedliches, etwas von dem ›Es‹, um das ich erst so mühsam ringe«.26 Barths Fragehaltung zeigt sich dann in seiner Theologiegeschichte zum 18. Jahrhundert von 1932/33, in der er wohl seine Einwände gegenüber Zinzendorf wiederholt; er stellt aber daneben die Gegenerwägung, Zinzendorfs Brüdergemeine sei »auch als ein Versuch einer Reform des Pietismus im Sinn der lutherischen Rechtfertigungslehre« zu verstehen.27 Es stehe daher »auf des Messers Schneide«, ob in der oft verhöhnten »Blut- und Wundentheologie« die Christusversöhnung » – indem man mit Blut und Wunden den menschlichen Vorgang des Leidens und Sterbens Christi hervorhob – als eine ... in bestimmten psychologischen Bewegungen und Zuständen aufzunehmende Ergießung göttlichen Lebens in die Seele der Gläubigen verstanden sein solle, eine Ergießung, bei der die Majestät des ›für uns‹ notwendig zuletzt aufgehen mußte in den (... von Zinzendorf ... mit genialem Verständnis gepflegten) Vertraulichkeiten des ›in uns‹«.

Oder ob hier Christi Wunden auf seinen »Tod als auf die endgültige Gestalt seines Eintretens für uns in unserer Niedrigkeit, auf die in unserem Fleisch 20 Karl Barth, KD I/2, 277. 21 Barth, KD I/2, 280. 22 Die schöne Arbeit von Friedrich Gärtner, Karl Barth und Zinzendorf. Die bleibende Bedeutung Zinzendorfs auf Grund der Beurteilung des Pietismus durch Karl Barth, TEH NF 40, 1953, überspringt das vorschnell, indem sie nachweisen will, daß Barths Kritik nicht Zinzendorf, weil nur den Pietismus treffe. 23 Vgl. Karl Barth, KD IV/1, 125. 24 1870–1960. Vgl. Karl Barth, Gespräche 1959–1962, Zürich 1995, 155. 25 Vgl. Heinrich Gelzer, David Spleiss. Ein Vater der Schaffhauser Kirche, Basel 1941. 26 Briefwechsel Karl Barth – Eduard Thurneysen, Bd. 1, 193 (21. April 1917). 27 Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zollikon/Zürich 1947, 111.

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geschehene objektive Versöhnung hinweisen.« Als die Wunden des Herrn könnten sie »den dem Menschen schlechterdings unerreichbaren und nicht nacherlebbaren Punkt der freien Gnade bezeichnen, die für uns eintritt in der Weise, daß sie ... die Gnade Jesu Christi ist und bleibt, in der Weise also, daß es zu ihrer Verwirklichung für uns weder einer göttlichen Eingießung noch einer menschlichen Aneignung bedarf, so also, daß sie Gnade für Sünder, daß auch und gerade die Mitteilung des Heiligen Geistes die Anerkennung dieser Sündergnade ist und bleibt«.28

Der Anstoß, den man einst daran nahm, könne ein Indiz sein, daß das letztere der Fall war. Barth stößt hier auf eine mögliche Zustimmung zur Theologie des Grafen gerade in ihrer angefochtensten Gestalt. Aber das war erst eine Deutungsmöglichkeit.

2. Das Ja zu einer Jesusliebe ohne Einschränkung Auf einmal ein neuer Ton! 1942 schreibt Barth: »Was Gott von uns will, ist dasselbe, was er für uns will und getan hat. Gott will Jesus.« Wer das nicht auch »in dieser schlichtesten Form« sage, sei in Gefahr, an dem Namen Jesus vorbeizueilen und nicht zu hören, »was dem Menschen als das Gute gesagt ist.« Es gibt aber »nichts Höheres und Tieferes, was wir in Erfüllung des Willens Gottes tun könnten, als daß wir Jesus lieben«.29 »Die Konzentration und Intensität, mit der Nikolaus von Zinzendorf das und immer wieder das gesagt hat, war wohl am Platze. Er sagte es im Gegensatz nicht nur zu einer verweltlichten Orthodoxie und nicht nur zur Aufklärung, sondern auch zu den moralisch-mystischen Zweideutigkeiten des Pietismus seiner Zeit. Er hat eben damit nicht nur eine reformatorische, sondern eine neutestamentliche Erkenntnis wieder auf den Leuchter gestellt.«

Es muß ihm »hoch angerechnet sein, daß er einer von den Wenigen ... aller Zeiten gewesen ist, die so bestimmt und laut und eindrucksvoll eben das gesagt haben«.30 Zwei mögliche Einwände merkt Barth an: Man könne sich über die barocke Art wundern, in der er das gesagt hat. Aber das nahm Barth nicht tragisch. Es geht hier, sagte er später, im Kern um die »religiöse Erotik«. 28 Barth, Die protestantische Theologie, 112f. 29 Karl Barth, KD II/2, 631. Vgl. den letzten Satz von Barths Vater, bevor erstarb: »Den Herrn Jesum liebhaben, das ist die Hauptsache ...« , in: Fritz Barth, Christus unsere Hoffnung. Sammlung von religiösen Reden und Vorträgen, Bern 1913, S. XVI; ferner Barth, Gespräche 1959–1962, 134: »Ihr müßt ihn liebhaben.« 30 Karl Barth, KD II/2, 631.

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Sie als solche wäre wohl der Einbruch des Heidentums ins Christentum, aber – die Abgrenzung dagegen dürfe niemals die Jesusliebe blockieren, wenn man nicht die Quelle verstopfen wolle, aus der christliches Leben und Handeln fließe. »Sollte es«, fragt Barth, »wenn da zu wählen wäre, nicht immer noch besser sein, in dieser Richtung ... mit Zinzendorf ... ein wenig zu viel zu sagen und dabei gelegentlich auszugleiten, als (ihm) gegenüber mit Kant und Ritschl, mit meinem Römerbrief von 1921 und heute mit Bultmann bolzgerade zehnmal Recht zu haben, dafür aber in der Mitte«, von der er zu reden versuchte, »eine Zone des Schweigens zu schaffen und damit vielleicht doch das zu tun, was nach Lk. 11,42 die Pharisäer getan haben: die Liebe Gottes ›wegzulassen‹«.31 Ernster war für Barth der Einwand lutherischer Engführung: die Gefahr, die richtige Erkenntnis der uns rechtfertigenden Gnade Christi derart zu betonen, daß darin die uns heiligende Gnade Christi aufgesogen wird, so daß sie als solche unentfaltet bleibt. Das konnte, sagt Barth, »etwa vom jungen Luther, von Zinzendorf« her »zu einem Monismus der theologia crucis und der Rechtfertigungslehre führen. In diesem Monismus ... kann dann die Notwendigkeit guter Werke nur etwas mühsam und beiläufig behauptet werden, ... kann dann mehr als ein etwas unbestimmtes Reden von einem ›Leben von der Vergebung‹ oder auch von der ›getrosten Verzweiflung' oder von der christlichen Freiheit oder von der Liebe, in der der Glaube tätig sei, manchmal nicht möglich werden.« Wo aber die eigene Dimension der heiligenden Gnade in ihrer souveränen Autorität, unser ganzes Leben in Anspruch zu nehmen, verdunkelt wird, da führt das dazu, »daß man sich, in irgendeine doppelte Buchführung verfangen, ... außer dem angeblich nur für die Vergebung der Sünden zuständigen Herrn Jesus Christus in einem Reich zur Linken auch noch anderen Herren untertan werden wird«!32 Dennoch preist Barth 1942 Zinzendorf dafür, mit seiner zentralen Erkenntnis als einer der wenigen »aller Zeiten« das Evangelium auf den Leuchter gesetzt zu haben. Wie kam es zu dem Wandel in Barths Einstellung? Wohl auch durch neue Begegnungen mit Herrnhutern, etwa mit dem Berner Erwin Schloss, einem Judenchristen, mit dem er damals in der Flüchtlingshilfe kooperierte und dessen Leitwort Titus 3,4: die in Christus erschienene Philanthropie Gottes war, auch durch Kontakte mit der Basler Brüdergemeine, in der die Familie seiner Tochter Mitglied war. Wohl auch durch die Lektüre von Samuel Eberhards Buch über Zinzendorfs »Kreuzes-

31 Karl Barth, KD IV/2, 904. 32 Karl Barth, KD IV/2, 570f.

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Theologie«.33 Entscheidend war aber der Wandel in Barths eigener Theologie, der erstmals voll hervorbrach in dem Dogmatikband, aus dem ich eben zitierte. In der dort dargelegten Lehre von Gottes Gnadenwahl trat bei Barth erst recht seine eigene Christozentrik hervor. In Auseinandersetzung mit einem Strom christlicher Theologie führt er hier aus, daß Gott von Ewigkeit her nichts anderes wollte und will und wollen wird, als was er in Christus tat. Er ist also nicht der Gott der absoluten Verfügungsmacht, er ist der, der für sich die Gemeinschaft mit dem Sünder wählt und für den Sünder die Gemeinschaft mit sich, der darum für sich das Kreuz wählt und für den Sünder die Seligkeit. In Kritik auch an Luther und Calvin betont Barth, daß es hinter diesem von Gott gezeigten Gesicht keinen Gott gebe, der anders sei, als er es im Vollzug seiner Gnadenwahl in Christus, dem Gekreuzigten offenbart: als seine ungeschuldete, aber uneingeschränkte Gnade. Die Nähe zu Zinzendorf, die sich von da aus aufdrängt, zeigt sich an Barths Revision der zuvor kritisierten drei Punkte. Zum einen: Am Heiligen Abend 1952 schreibt er an Rudolf Bultmann: »Auf die Gefahr weiteren Kopfschüttelns ... hin will ich es ... wagen, Ihnen ... zuzuflüstern, daß ich insofern immer mehr Zinzendorfianer geworden bin, als mich im Neuen Testament immer mehr eigentlich gerade nur die Zentralfigur als solche – oder eben Alles und Jedes immer im Lichte und Zeichen dieser Zentralfigur zu beschäftigen begann«34.

Wo ist da der Verdacht der Jesulatrie? Ein Jahr zuvor schrieb Barth in der Dogmatik: daß gerade dieser Mann »in seiner Predigt, Dichtung und Dogmatik (sofern er eine solche hatte) der größte – und vielleicht der einzige ganz echte – Christozentriker (›Christomonist‹ sagen die Toren!) der Neuzeit gewesen ist«.35 Christomonismus meint wohl das, was Barth als jene moderne Jesulatrie ablehnte.36 Echte Christozentrik unterscheidet sich davon dadurch, daß jene Zentralfigur nicht ein von uns vergotteter Mensch ist, sondern »der für uns dahingegebene Jesus Christus«, der neben der juridischen Sprache des Paulus im Neuen Testament in kultischer Sprache das »Lamm Gottes« genannt und von dessen »Lebenshingabe als von seinem ›Blut‹ gesprochen wird.« Das habe Zinzendorf in seiner Christozentrik getan, »von dessen ›Bluttheologie‹ mich grundsätzlich zu distanzieren ich durchaus nicht im Sinne habe«.37 33 Es findet sich auch in Barths nicht kleiner Sammlung von Zinzendorf-Literatur. 34 Briefwechsel Karl Barth – Rudolf Bultmann, Zürich 21994, 196. 35 Karl Barth, KD IV/1, 763. 36 Vgl. Karl Barth, Unterricht in der christlichen Religion,Bd.1 Zürich 1985, 109f.: Hier nennt es Barth (noch) das verhängnisvolle »Christozentrische« z.B. bei Zinzendorf und Schleiermacher, daß sie »den historischen Jesus ohne den Gehalt der göttlichen autusia zum Gegenstand einer umso hitzigeren Verehrung« gemacht hätten. 37 Karl Barth, KD IV/1, 302.

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Zum anderen: die Gemeinde Christi ein Betrieb familiärer Geselligkeit, vereint durch Seelenverwandtschaft? Nein, schreibt Barth 1951: Das war doch »die prophetische Intention des Grafen, nicht die Konfessionskirchen zu sprengen, nicht sie durch eine Superkirche zu ersetzen, sondern sie, in treuen Gliedern verschiedener Sonderkirchen in Freiheit zusammengetreten, unter dem wunderlich genug zu ihrem ›Generalältesten‹ gewählten Jesus Christus38 zunächst exemplarisch mit ihrer nicht verloren gegangenen und faktisch unverlierbaren Einheit zu konfrontieren«.39

Ihre Einheit hat sie demnach nicht in der Gleichgestimmtheit gläubiger Seelen, sondern in dem ihr verborgen anwesenden und in sichtbarer Wiederkunft erwarteten Christus. Mehr noch: Indem Zinzendorf seine Berufung verstand als Ruf in den Dienst des Heilands,40 fiel sein »persönliches Christentum (bei ihm identisch mit seiner Liebe zu Jesus Christus) von Haus aus ... mit seinem unwiderstehlichen Trieb zusammen, allen und jedem Menschen, der ganzen Welt ein Zeuge des Heilandes zu sein ... In und mit seiner ›einen Passion‹ war ihm seine Aktion, der Weg des Evangeliums zu den Fernen wie zu den Nahen unmittelbar vorgeschrieben. Weil ... er dem angehören wollte, der für ihn und für Alle gestorben, konnte und wollte er sich als sein Bote niemandem schuldig bleiben. Das war ... sein eines und einziges Missionsmotiv. Und indem er wußte, es auch Anderen einzupflanzen, wurde auch seine Gemeinde, die er ja nie als eine Sondergemeinde, sondern als eine Ökumene in nuce gewollt und aufgebaut hat, ... in ihrem Wesen Missionskirche: auch in dieser Einstellung bis jetzt von keinem anderen evangelischen Kirchengebilde erreicht oder gar überholt«.41

Während Barth 1920 mit »schmerzlichem Abscheu« die Kunde hörte, »daß Zinzendorf und die Väter Blumhardt ungefähr dasselbe gemeint hätten«,42 bemerkt er jetzt: Im Aufbruch aus der Enge der Pietisten sei »als ihr eigentlicher Gegenspieler – ganz ähnlich wie Zinzendorf aus dem Pietismus des 18. Jahrhunderts – Johann Christoph Blumhardt hervorgegangen, in dessen im Namen Jesu ... von der Gemeinde her auch die Welt umfassenden Hoffnungsbotschaft«.43 Und drittens: Ist bei Zinzendorf wirklich das fromme, aber auf sich selbst gestellte Ich das Erkenntnisprinzip, das den Einfällen des »Es ist mir so« folgt? Eigentlich konnte das gar nicht so sein, wenn es so war, wie Barth jetzt betont: Während das Luthertum bald schon nicht mehr verstand, trotz in richtigen Formeln reproduzierten Sätzen, daß es Luther in der Frage der 38 39 40 41 42 43

Kritisch nimmt Barth dazu Stellung noch in: Die protestantische Theologie, 94. Karl Barth, KD IV/1, 763. Karl Barth, KD IV/3, 653. Karl Barth, KD IV/3, 25. Karl Barth, Briefwechsel Karl Barth – E. Thurneysen Bd. 1, 430. Karl Barth, KD IV/3, 653.

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Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Jesus Christus nicht bloß um eine Kampflehre gegen Rom, sondern »grundsätzlich um das Ganze ging«, liefen immerhin »Außenseiter, wie Zinzendorf oder der Berner Samuel Lucius ..., in dieser Hinsicht in Luthers Spur«.44 Aber dann kann doch das Ich nicht auf sich selbst gestellt sein. Barth zitiert Zinzendorfs Vers: »Hebe an, hebe an, Zion, heb im Elend an,/ ... Habe gar nichts, aber glaube,/ daß der Herr, der treue Seelenmann, helfen kann« – und bemerkt dazu: »War es nun eigentlich so neu, befremdlich und schrecklich, wenn ich in meiner Römerbrieferklärung von 1921 den Glauben als einen ›Hohlraum‹ bezeichnet habe?«45 Das Ich wird dabei nicht ausgelöscht, so wahr das, was Gott in Christus getan hat, nur so pro nobis geschehen ist, daß es auch pro me gilt. Aber »was auf dieser Linie nicht hätte geschehen dürfen«, schreibt Barth, und das sei im pietistischen Ich-Lied geschehen: »es darf das pro me nicht ... zum systematischen Prinzip erhoben ... werden. Es hat seinen Nerv ... darin, daß Jesus Christus pro me ist. Es kann also auch das Ich-Lied nur als Christuslied legitim gedichtet, gesungen und klangvoll werden. Das ist es, was Zinzendorf, im Gegensatz zum Pietismus seiner Zeit, ... sachlich durchaus richtig, gelehrt und praktiziert hat«.46

3. Barths Gespräch mit Herrnhutern Ein Höhepunkt der mancherlei »Gespräche« in Barths Alter ist das mit prominenten Herrnhutern am 12. Oktober 1960 in der Basler Brüdersozietät. Es zeigt sich darin, daß das jetzt Dargestellte tatsächlich auch die zwei Seiten seines Verhältnisses zum Grafen beinhaltet, doch so, daß dabei das Ja völlig überwiegt. Und so beginnt das Gespräch »mit einem Makarismus ...: Seien Sie froh und dankbar, daß Sie die Brüdergemeine haben! Mit Zinzendorf haben Sie einen für die ganze Kirche wichtigen und fruchtbaren Kirchenvater ... Es ist für mich ... eine Notwendigkeit gewesen, daß ich mich im Laufe der Jahre näher zu Zinzendorf hingearbeitet habe. Wenn Zinzendorf recht hat in der Hauptsache ...: Jesus Christus, er allein und ganz, hinsichtlich des Verhältnisses von Schöpfung und Erlösung, hinsichtlich der Anschauung über die schon vollkommen geschehene Versöhnung Gottes mit der Welt, hinsichtlich des Verhältnisses von Evangelium und Gesetz, hinsichtlich der Anschauung der Kirche als der Gemeinde des Lammes, des lebendigen Christus –, ... dann darf ich in aller Bescheidenheit

44 Karl Barth, KD IV/1, 582. Der von Barth auch wiederentdeckte Lucius war ja auch mit Zinzendorf nah verbunden. 45 Karl Barth, KD IV/1, 701. 46 Karl Barth, KD IV/1, 845.

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sagen: dann habe ich auch recht. Darum dreht sich auch mein ganzes theologisches Denken ... Wenn, dann stehen und fallen Zinzendorf und ich miteinander«47

Hat Barth auch noch Fragen zu stellen, so sind es ausdrücklich nur Fragen. Sie beziehen sich nicht auf einen Schleiermacherianismus. In der Beziehung heißt es jetzt umgekehrt: Das »Beste hat Schleiermacher ja doch von Zinzendorf« (141). Und die Fragen beziehen sich auch nicht auf die barokken Extravaganzen: »Ich wollte lieber noch mit Zinzendorf ein paar Irrtümlein mitmachen, als mit Emanuel Hirsch und der ›Vaterreligion‹ des 18. Jahrhunderts gehen« (131). »Zinzendorfische ›Hobbies‹ sind mir immer noch lieber als manche, recht orthodoxe Langweiligkeiten anderer Kirchen« (143).48 Die Fragen beziehen sich durchweg auf den Hang und Drang, da, wo Unterscheidungen zu wahren sind, allzu kühne Gleichungen zu behaupten. Barth bemerkt dazu: »Hoch verehrter Herr Graf, nicht so stürmisch!« (128) Das sei erläutert, erneut entlang jenen drei Punkten. Zum einen: Das Ja zur Christozentrik bewährt sich darin, daß dann mit Zinzendorf zu bekennen ist »mein Schöpfer, mein Heiland«. Der Satz besagt nach Barth: »Die ganze Wirklichkeit der Welt [und] des Menschen, ... hat Grund, Ursprung, Sinn, Gesetz und Ziel nicht anderswo als in Jesus dem Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch« (127). Der Satz ist neutestamentlich begründet (Joh. 1,3, 1. Kor. 8,6, Hebr. 1,2). Ja – aber neutestamentlich ist auch die Unterscheidung zwischen dem Sohn und dem Vater. »Er ist der Sohn des Vaters, der dem Vater Gehorsame. Daß Vater und Sohn eins sind, heißt nicht, daß der Sohn der Vater ist« (128, 145). Hier aber drohe bei Zinzendorf eine »Vermischung von Vater und Sohn« (129).49 Seine »These ›mein Schöpfer, mein Heiland‹ wollen wir festhalten ..., den Überschwang aber lassen wir dem 18. Jahrhundert« (129). Sonst gerät man in Gefahr zu vergessen: »Die Wahrheit ist auch durch die ›Christozentrik‹ nicht in Besitz zu nehmen ... Eine Christozentrik als Prinzip, bei der die Trinität untergeht, ist abwegig. Man gibt Gott die Ehre, wenn man ihn so sein läßt, wie er sich gegeben hat, als Vater, Sohn und Heiliger Geist« (130).50 Zum anderen: Das Verständnis der Kirche Christi ist richtig, wenn dabei Jesus Christus nicht als Objekt der Empfindung ihrer Glieder gilt, sondern als das sie anfänglich und dauernd begründende Subjekt. Barth beruft sich 47 Barth, Gespräche 1959–1962, 125f. Dort auch die oben folgenden Zitate. 48 Vgl. Karl Barth, Briefe 1961–1968, Zürich 1975, 83. 49 Vgl. Karl Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik (KD) IV,4, Fragmente aus dem Nachlaß, Vorlesungen 1959–1961, Zürich 1976, 98f. Im Folgenden als KD IV, 4. 50 Durch die trinitätstheologische Begründung der Christozentrik unterscheidet sich Barth von der Wertschätzung Albrecht Ritschls im 3. Band seiner »Geschichte des Pietismus« für Zinzendorfs Christozentrik, vgl. Grover Foley, Ritschls Urteil über Zinzendorfs Christozentrismus, in: EvTh. 1960, 314–326.

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dafür auf das zuvor verpönte Lied: »Er der Meister, wir die Brüder«51, und interpretiert das so: »Die Kirche ist sein Werk ... ›Siehe, ich bin bei euch alle Tage ...‹ Dieses Ich, Jesus Christus ist konstitutiv für den Kirchenbegriff, sonst ist er eine taube Nuß« (251).52 Und Zinzendorf hat recht in den Folgerungen, die er daraus zieht. Darin, daß er in den Gegensatz von konstantinisch verfaßten, miteinander konkurrierenden Großkirchen und frei schwärmenden Geistkirchen »die Erkenntnis dessen hineintragen (will), was in jeder kirchlichen Form die Kirche zur Kirche macht: die Gegenwart und Regierung des lebendigen Christus als Haupt der Kirche« (151 f.). Das ist das echt prophetische Vorleben von »Ökumene für die Ökumene« der Christenheit (153). Und er hat auch darin recht, daß die Kirche, wenn sie ihren Grund nicht in sich selbst hat, dann auch den Zweck nicht in sich selbst hat. Sie »existiert im Dienst an der Welt. Sie ist gesendete, sie ist Missionsgemeinde von Grund auf« (151).53 Ja, gut – aber, wendet Barth ein: »Fraglich ist mir bei Zinzendorf die Lehre ..., daß nach dem Heilsratschluß Gottes die ›Religionen‹ als Tropen der Kirche existieren« (153). Barth schätzte wohl den guten Sinn dieser Tropenlehre.54 Ist sie ihm jetzt dennoch fraglich, so im Blick auf die ihm aus dem Kreis seiner Gesprächspartner vorgetragene besorgte Rede »von einer Krisis im Sonderbewußtsein der Brüdergemeine«. Hat solche Krisis ihre Wurzel etwa doch in einem Problem jener Lehre? Sie könne dazu verführen, sich dabei zu »beruhigen, daß der Leib Christi so geteilt ist« (153), sich dann also auch mit jenem Gegensatz von konstantinischen Kirchen und freien Geistgemeinden abzufinden, sich selbst auf eine der Seiten einzunisten und damit die besondere Gabe der Erkenntnis zu verlieren, daß die Kirche weder ihren Grund noch ihren Zweck in sich selbst hat, und das mit dem Resultat, eine »ecclesiola in ecclesia« in der Kirche zu werden. Dagegen bemerkt Barth: »Es gibt nur ecclesia. Wenn es auch nur zwei oder drei sind, so ist es nicht ecclesiola, sondern ecclesia ... Brüdergemeine ist Kirche für die Kirche, die eintritt für das, was in den großen und kleinen Kirchen so leicht vergessen wird und was doch die Kirche zur Kirche macht« (152). Darum mahnt Barth sie, in hübscher Abwandlung von Röm. 12,2: »Stellt euch nicht der Kirchenwelt gleich! Der anderen Welt dürft ihr euch eher schon ein wenig gleichstellen« (155). 51 Vgl. auch Barth, KD IV,4, 251. 52 Vgl. Barth, KD IV/4, Das christliche Leben (Fragment). Die Taufe als Begründung des christlichen Lebens, Zürich 1967, 138f.: »Zinzendorf hatte schon recht, in dem, was er dazu sagte ...: die Gemeinde und jeder einzelne Christ ist aus jener ›Seitenwunde‹ geboren, lebt von dem, was ihr entströmt ... Sie ist Kreuzgemeinde oder sie ist gar nicht christliche Gemeinde. Der Christ ist Glied dieser Gemeinde oder er ist gar nicht Christ.« 53 Vgl. Barth, KD IV,4, 135. 54 Vgl. Vorträge 1922–1925, a.a.O., 68; KD IV/1, 763.

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Und schließlich: Bei allen bleibenden Vorbehalten55 kann Barth nun auch für das »Es ist mir so« »ein gutes Wort einlegen«, sofern dessen Sinn der ist: »Vor Christus verhält es sich so und so« (145). Denn wenn die Formel im Kontext der »Konnexion mit dem Heiland« steht, wenn in dieser Konnexion der Herr und ich als sein Nachfolger zweierlei sind und wenn also meine Konnexion mit ihm Antwort ist auf »seine Konnexion mit uns« (143), dann hat das »Es ist mir so«, dann hat auch »das Gefühl, das man im Glauben hat«, sein Recht (144). Hat Zinzendorf das auch so gedacht? Barth sieht es so. Dafür spricht dessen Rechtfertigungslehre, die das Heil nicht in uns selbst sieht, sondern sagt: »Jesus Christus ist unsere Rechtfertigung« (133). Und Barth sieht jetzt auch, daß es Zinzendorf gelingt, die Heiligung so zu verstehen, daß sie wohl von der Rechtfertigung unterschieden und doch insofern mit ihr »verbunden« ist (142), als sie mit der Rechtfertigung in Christus geschieht. Gemäß 1. Kor. 1,30: »Christus ist uns gemacht zur Gerechtigkeit und zur Heiligung« (133). Barth erkennt darin einen Vorzug gegenüber einem lutherischen »Rechtfertigungs-Monismus«, »der zum Dualismus von Gesetz und Evangelium führt« (142). Demgegenüber »gilt es, ganz freundlich das Evangelium vorzuordnen. Darin wird und muß die Brüdergemeine dem deutschen Luthertum zum Ärgernis werden« (135). Zugleich liegt darin ein Vorzug gegenüber einer pietistischen Verselbständigung der Heiligung, so als müßten wir sie »selbst in die Hand nehmen« (135). Und wenn man auch nach dieser Seite zum Ärgernis wird, so wie Zinzendorf gegenüber Wesley, so soll es die Brüdergemeine doch so laut sagen wie er: »›Christus ist unsere Moral.‹ Diesen Satz möchte ich dreimal, fünfmal, zehnmal unterstreichen.« Alles Tun des Menschen fängt »am Ziel an und strebt nicht mehr dorthin« (134). Ja – aber, fügt Barth hinzu: »Meine Frage an Zinzendorf wäre: Hat er nicht doch ein gut Stück weit abstrakt von dieser urbildlichen, verdienstlichen Menschlichkeit Christi gedacht und so von Christus geredet, daß diese Einheit von vere deus – vere homo bedroht war?« (135). Das heißt: sieht man davon ab, daß es Gott ist, der sich in diesem Menschen der Menschen in freier Gnade annimmt, dann können wir Menschen von diesem Menschen einfach auf uns schließen, und dann wird die Gabe des göttlichen Gebers zu einer in uns vorhandenen Gegebenheit. Wohl darum sei das letzte Stichwort in 1. Kor. 1,30 »die eschatologische Apolytrosis [Erlösung] ... bei Zinzendorf nicht so klar als noch ausstehend gesehen« (133). Bei ihm »ist nicht klar ersichtlich, inwieweit unser jetziges Leben im Glauben nicht schon ein Leben im Schauen ist ... Wenn wir’s auch fühlen, bleibt es doch ein Hoffen ... Christen hoffen ... als die einst Schauen-Werdenden« (146).

55 Vgl. Barth, KD IV,4, 304f.

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Kurz, Barth ist in einem Gespräch mit Zinzendorf begriffen und befragt ihn in der Klammer eines großen Einverständnisses. Und das Gespräch ist mit der Basler Begegnung 1960 nicht zu Ende. Er sagte da: Wir müssen Zinzendorf »zu verstehen suchen – und weitergehen« (132). Aber weiter nicht ohne weitergehendes Gespräch auch mit diesem Kirchenvater. Zwei Jahre später schrieb er an Helmut Gollwitzer: »Ich lese ... zur Zeit die Londoner Predigten von Zinzendorf (in einer Ausgabe von 1756, dem Geburtsjahr von Mozart) mit hellem Vergnügen an der Einseitigkeit und kernigen Originalität dieser Produkte, von denen jedes den Mühseligkeiten der Ebelinge, Füchse usw. turmhoch überlegen ist«.56

Aber über diesen Fortgang des Gesprächs ist mir kein Dokument bekannt. Nehmen wir an, es setze sich fort in jener »formidablen Karawane ums Lamm herum«!

Exkurs: Die Zinzendorf-Deutung A. Ritschls und K. Barths Es ist reizvoll, Barths Wandel in seiner Stellungnahme zu Zinzendorf zu vergleichen mit einem scheinbar ähnlichen Wandel bei Albrecht Ritschl: nach dessen oben genannter Zinzendorf-Kritik im 1. Band seiner Geschichte des Pietismus findet sich im 3. Band eine durchaus auch positive Würdigung von Zinzendorfs Christozentrik.57 Hat er dabei dasselbe wie Barth gelobt? Und hat er dabei Zinzendorf recht verstanden? Dieser habe, so hören wir, die »werthvolle Einsicht« Luthers hinsichtlich der »richtigen Erkenntnismethode ... sich zu Nutze gemacht, gegen welche die Nachfolger Melanchthon’s sich verschlossen haben und bis zur Gegenwart auflehnen.«58 Was er da an Luther und Zinzendorf lobt, ist freilich vor allem Ritschls eigene Erkenntnis: die strikte Ablehnung aller metaphysischen Aussagen über Gott, die Konzentration darum auf die irdisch-geschichtliche Person Jesu, weil wir Anderes nur in Beziehung auf uns selbst erkennen und also nur, weil wir im Grunde stets nur uns Gleiches erkennen können. Die Besonderheit des Menschen Jesus, seine so genannte »Göttlichkeit«, vielmehr seine Bürgschaft für die Liebe Gottes und so für unsere Seligkeit und Heiligkeit liegt hingegen allein in unserem Werturteil, in unserer »Schätzung der geschichtlichen ... Person Christi«.59 Diese Schätzung können wir ihm nicht zuteil werden lassen, ohne damit bei uns selbst zugleich 56 57 58 59

Barth, Briefe 1961–1968, 83. Vgl. Foley, Ritschls Urteil über Zinzendorfs Christozentrismus, 314–326. Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 3, Bonn 1886, 437. Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 3, 410.

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ein Gefühl der Erhabenheit über die Welt zu erlangen, nämlich – in sittlicher Kraft, um in Berufstreue, wie sie auch Jesus geübt hat, mitzubauen an der sittlichen Weltgemeinschaft des Reiches Gottes. Das ist Ritschls eigenste Theologie, und man kann sich wundern, daß er das wenigstens partiell in Zinzendorf auch zu finden glaubte. Daß er sie damit doch nicht erfaßt, merkt man daran, daß er ihn dann fortwährend in Widersprüchen befangen sieht, da dieser gleichwohl rede von Christus als dem, der wahrer Gott und wahrer Mensch ist und der als solcher die Liebe Gottes im Tragen unserer Schuld in seinem Leiden verkörpert. Eben gerade mit der »Blut- und Wundentheologie«, kraft derer Christus als Versöhner allererst im Zentrum steht, kann Ritschl bezeichnenderweise nichts anfangen. Er betreibt jene Jesulatrie, die Barth zunächst bei Zinzendorf annahm. Wenn Barth Zinzendorf als »einzig echten Christozentriker der Neuzeit« lobt, dann, weil er zu sehen meint, daß der diese Jesulatrie durchbrochen hat – in der Erkenntnis, daß der Gekreuzigte der sich des Sünders erbarmende Gott ist.

Beilage: Barths Zinzendorf-Literatur Wie vollständig die einst im Besitz Barths befindlich gewesene Literatur von und zu Zinzendorf heute noch im Karl Barth-Archiv in Basel erhalten ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Namentlich beim Umzug Barths in seinen Alterssitz hat er Teile seiner Bibliothek an verschiedene Interessenten verschenkt. Gleichwohl mag es aufschlußreich sein zu sehen, anhand welcher (noch nachweisbarer) Literatur Barth seine Zinzendorf-Kenntnisse erworben hat. FB = aus dem Besitz von Fritz Barth, dem Vater von K. Barth. Schriften von Zinzendorf: – Jeremias, Ein Prediger Der Gerechtigkeit, Büdingen 1741 >aus dem Erbe von Barths Vorfahr Joh. Rud. Burckhardt, Pfarrer an der Peterskirche Basel, Zeitgenosse Zinzendorfs@. – Predigten die der ORDINARIUS FRATRUM von anno 1751. bis 1755. zu LONDON gehalten hat, Bd. 2, London und Barby 1757. – Auszüge aus des Sel. ORDINARII der Evangelischen Brüder-Kirche Herrn Nicolaus Ludwig Grafens und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf, Reden über die vier Evangelisten, Gottfried Clemens (Hg.) Barby Bd. 1 1766, Bd. 2 1767.

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Eberhard Busch

– Nikolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf Reden über die Auslegung des zweyten Artikels, gehalten zu Berlin im Jahre 1738, 2. Aufl. Barby 1781 >FB@. – Geistliche Gedichte des Grafen von Zinzendorf, gesammelt und gesichtet von Albert Knapp, Stuttgart/Tübingen 1845. – Sonderbare Gespräche zwischen einem Reisenden und allerhand andern Personen von allerlei in der Religion vorkommenden Wahrheiten, Jena 2 1869 >FB@. – Über Glaube und Leben, ausgew. und hg. von Otto Herpel, Schlüchtern 1920 >Widmung des Hg. an Barth, Safenwil 11.11.1920@. – Evangelische Gedanken. Gewißheit, Freude, Kraft, ausgew. und hg. von Otto Uttendörfer, Berlin 1948. Schriften aus der Frühzeit der Brüdergemeine – Aug. Gottl. Spangenbergs Darlegung richtiger Antworten auf mehr als dreyhundert Beschuldigungen gegen den ORDINARIUM FRATRUM, nebst verschiedenen wichtigen Beylagen, Leipzig/Görlitz 1751. – Ders., Idea fidei fratrum oder Kurzer Begriff der Christlichen Lehre in den evangelischen Brüdergemeinen, Barby 1779. – Ders., Exposition de la doctrine chretienne qu’on enseigne dans les églises de l’unité des frères, Barby 1782. – Ludwig Carl Freiherrn von Schrautenbach, Der Graf von Zinzendorf und die Brüdergemeine seiner Zeit. Dargestellt durch F.W. Kölbing (Hg.), Gnadau/Leipzig 1851. – Gesangbuch der evangelischen Brüdergemeine, Gnadau 1893. Schriften über Zinzendorf: – Ernst Wilhelm Cröger, Geschichte der erneuerten Brüderkirche, 1. Teil 1722–1741; 2. Teil 1741–1760, Gnadau 1852/53. – W. Ecklin, Zinzendorf, Basel 1868 >FB@. – J.W. Kölbing, Zinzendorf und die Brüdergemeine seiner Zeit, Gnadau 1861. – Paul Kölbing, Die Entstehung der Brüdergemeine, Basel 1876. – Friedrich Adolf Voigt, Zinzendorfs Sendung. Ein Rückblick zur Orientierung über die kirchliche Lage der Gegenwart, Berlin 1922 >Barth zugeeignet 1924@. – Waldemar Sinnig, Zinzendorf als Prediger. Teildruck der Inaug.-Diss. (Münster), Rinteln 1926.

Karl Barth und Zinzendorf

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– Samuel Eberhard, Kreuzes-Theologie. Das reformatorische Anliegen in Zinzendorfs Verkündigung, München 1937. – Heinz Motel, Zinzendorf als ökumenischer Theologe, Diss. Basel 1941 >Gutachter Ernst Staehelin und Karl Barth@. – Gösta Hök, Zinzendorfs Begriff der Religion, Upps. Universitets Årsskrift 1948: 6, Uppsala/Leipzig 1948 >Widmung des Verf. an Barth@. – Gerhard Meyer, Zinzendorf, Hamburg 1950 >Widmung des Verf. an Barth@. – Wilhelm Jannasch, Zinzendorf als Liturg, in: Ernst Benz u. Heinz Renkewitz (Hgg.) Zinzendorf-Gedenkbuch, Stuttgart 1951, 98–117 >mit Widmung des Verf. an Barth: »In Erinnerung an alte Zeiten, 22.10.51@. – Hans Winderkilde Jannasch, Herrnhuter Miniaturen, Lüneburg 21953. – Jan Marinus van der Linde, Het visioen van Herrnhut en het Apostolaat der moravische broeders in Suriname 1735–1863, Paramaribo 1956. – Hans Ruh, Die christologische Begründung des ersten Artikels bei Zinzendorf, Basler Stud. z. hist. und syst. Theol. 19, Zürich 1967 >Diss., Gutachter Karl Barth und Max Geiger@

HANS CHRISTOPH HAHN

Das Bild Zinzendorfs nach seinem Tode*

Wenn ich es wage, über das Bild Zinzendorfs im Wandel der Zeiten zu schreiben, dann nur, weil ich mir nicht anmaße, die Wirkungsgeschichte Zinzendorfs in der Vielfalt der unterschiedlichsten Impulse, die von diesem genial-intuitiven Mann ausgingen, zu überblicken. Schon 1965 hatte Wilhelm Jannasch es als »eine überaus lohnende«, »zugleich [aber] äußerst schwierige und weite Übersicht erfordernde Aufgabe« bezeichnet, »den fortgehenden Einfluß des Brüdertums« nicht nur in Kirche und Theologie, sondern auch »in der deutschen Dichtung ... wie in unzähligen Lebensschicksalen von Nicht-Herrnhutern... bis in unsre Gegenwart hinein zu verfolgen.«1 Ähnlich äußert sich Dietrich Meyer im Katalog zu den Zinzendorf-Ausstellungen. Diese wünschenswert »weite Übersicht« kann ich mir neben meiner psychotherapeutischen Tagesarbeit nicht verschaffen. Ich vermag nur, von meinen selektiven Lesefrüchten etwas weiterzugeben und hoffe, daß das zu weiterer Forschungsarbeit anregt. Dabei will ich mich im wesentlichen auf die Zinzendorf-Rezeption von seinem Tode bis zum Ende des 19. Jahrhunderts beschränken.

Der umstrittene Zinzendorf als Hypothek Als Zinzendorf 1760 starb, konnte er auf ein beachtliches Lebenswerk zurückblicken. Die mit seiner tatkräftigen Hilfe und doch zugleich auch gegen seinen Wunsch entstandene selbständige Organisationsform der Unitas Fratrum hatte sich nicht nur gegen zahlreiche politische und kirchliche Gegner behaupten, sondern beeindruckend vergrößern können. In vielen Teilen der Welt arbeiteten Sendboten, um »Seelen zum Lamm (zu) bekeh* Unter dem gleichen, mir vorgegebenen, Titel hat Dietrich Meyer einen inhaltsreichen Aufsatz im Ausstellungs-Katalog: Dietrich Meyer, Das Bild Zinzendorfs nach seinem Tod, in: Graf ohne Grenzen. Leben und Werk von Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf. Dietrich Meyer u. Paul Peucker (Hg.), Herrnhut 2000, 145–151, veröffentlicht. 1 Wilhelm Jannasch, Aus dem Schrifttum des Grafen Zinzendorf und der älteren Brüdergemeine, in: Zeitalter des Pietismus, Martin Schmidt u. Wilhelm Jannasch (Hg.) Bremen 1965 (Klassiker des Protestantismus, 6), 400; ähnlich D. Meyer, Das Bild Zinzendorfs, 145: »...das Thema gründlich zu behandeln hieße, eine kleine Brüdergeschichte zu schreiben«.

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ren«.2 Die sog. »Erstlingsbilder« von Johann Valentin Haidt (1700–1780)3 zeigen sehr anschaulich: welche bunte Vielfalt verschiedener Völkerschaften erreicht worden war. Zinzendorfs Vision von der »formidablen Karawane um’s Lamm« aus der Herrnhuter »Oekonomie«4 hatte durchaus realen Grund. Freilich war Zinzendorf auch höchst umstritten.5 Für ernsthafte Christen war besonders bedenklich, daß ein so frommer Schrifttheologe wie Johann Albrecht Bengel (1687–1752) sich kritisch zu Zinzendorf geäußert hatte. Wie Bengel nachdrücklich vor der »sogenannten Brüdergemeine« warnte und den »Personenkult« um Zinzendorf kritisierte, möchte ich noch mit einem Zitat veranschaulichen: »Alle einzelnen guten Seelen bei der sog. Brüdergemeine,...lasse ich...bei alle dem Wert, den sie in Gottes Augen haben. Jedoch im Ganzen ist es eine leidige Sache. Herrnhut tut nicht gut. Ist von dannen etwas Gutes ausgegangen, so haben andere neumährische Orte viel Böses dorthin zurückgegeben... Wer noch daran zweifelt, der sehe zu: ob er des Heilands Sinn habe und zu haben begehre. Wer aber sich nicht nur zu ihnen hält, sondern auch dazu hilft, daß die Tore sich emporheben und die Welttüren sich erhöhen, damit der Ordinarius [=Zinzendorf] einziehe, der sollte – [so meint Bengel in ironischer Anspielung auf das bekannte Adventslied ] nachdenken, ob er

2 Zinzendorf, Pennsylvanische Reden, II.Teil, Büdingen 1744, 266. Vgl. 307: »Wenn ich doch mein gantzes Leben damit zubringen könnte: Seelen zum Heyland zu hohlen!« Für Zinzendorf war die christozentrische Missionsverkündigung an einzelne Seelen wichtiger als an ganze Nationen. Er machte »mehr Reflexion auf einzelne Seelen als auf ganze Heiden-Völker« (Gothaer Synodus 1740; Helmut Bintz (Hg.), Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Texte zur Mission, Hamburg 1979 (Beiheft zu Unitas Fratrum, 2) 62) und hielt es für falsch: daß man den Heiden »zuviel von Gott sagt und nicht vom Lamme und seiner Versöhnung...« (Marienborner Synodus 1740; ebd., 63). 3 Das eine Erstlingsbild befindet sich im kleinen Kirchensaal der Brüdergemeine Zeist in den Niederlanden; ein anderes verbrannte 1945 in Herrnhut (eine Vorstudie ist im Katalog abgebildet (Graf ohne Grenzen, 82). Zum Maler und seinem Verhältnis zur Brüdergemeine vgl.Vernon Nelson, Johann Valentin Haidt und Zinzendorf, in: Graf ohne Grenzen, 152–158. 4 E.W.Cröger, Geschichte der erneuerten Brüderkirche, Tl. 2 Gnadau 1853, 381f. überliefert – ähnlich wie David Cranz, Alte und Neue Brüder-Historie..., Barby 1771, 687, daß Zinzendorf zu David Nitschmann gesagt habe: Bei den Heiden »habe ich es nur auf Erstlinge angetragen und nun gehet es in die Tausende«. Das Wort von der »formidablen Caravane« findet sich bei Schrautenbach. Da heißt es: In der Nacht vor seinem Tode habe Zinzendorf gesagt: »Nitschmann, welche formidable Caravane steht schon um’s Lamm herum aus unsrer Oekonomie!« (Ludwig Carl Freiherr von Schrautenbach, Der Graf von Zinzendorf und die Brüdergemeine seiner Zeit, (Hg. von F.W. Kölbing) Gnadau 1851, 90). 5 Vor allem in orthodoxen und pietistischen kirchlichen Kreisen wurde er nachdrücklich bekämpft. Da hatten die gegen den Grafen gerichteten polemischen Schriften von Leuten wie Baumgarten (Halle), Froereisen (Straßburg), Fresenius (Frankfurt/M) , Hofmann (Wittenberg), Neumeister (Hamburg), Winckler (Stollberg) und Whitefield (Oxford) durchaus massive Zweifel an der Person und den Glaubensanschauungen Zinzendorfs geweckt. Zu den Genannten siehe das umfangreiche Verzeichnis der Streitschriften in Dietrich Meyer (Hg.), Bibliographisches Handbuch zur Zinzendorf-Forschung, Düsseldorf 1986.

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dem König der Ehren die schon lang gemachte Bahn noch mehr eben oder uneben mache.«6

Spangenberg als »Rektifizierer« Zinzendorfs Für die Klassiker war Zinzendorf ein geistreich-anregendes Original, das Anstöße gab. Lessing7, Goethe8 und Herder9 betrachteten Zinzendorf frei von kirchlich-dogmatischen Voreingenommenheiten. So konnten sie seine kühnen Gedankenflüge ebenso bewundern wie seine »Thatanstalten« (Herder). August Gottlieb Spangenberg (1704–1792)10 befand sich in einer ungleich schwierigeren Lage. Als er im Leitungsgremium der Brüdergemeine, der Unitätsältesten-Konferenz, de facto zu Zinzendorfs Nachfolger wurde, war – wie erwähnt – der Ruf der Herrnhuter ziemlich beschädigt. Noch wirkten im Raum der evangelischen Kirchen, gerade auch bei den vom Pietismus geprägten, Kreisen die Negativurteile, die vor allem durch die Auswüchse der an sich so kreativen Herrnhaager Zeit11 hervorgerufen worden waren. Spangenberg sah als seine Aufgabe nicht nur die verfassungsmäßige Neuordnung der erneuerten Brüder-Unität und die Sanierung der Finanzen, wobei sein Organisationstalent gute Dienste leistete, sondern vor allem auch die Verteidigung Zinzendorfs gegen den Vorwurf des häretischen Abweichens von der reinen Lehre, um die Brüdergemeine in christlichen Kreisen wieder salonfähig werden zu lassen. Zu diesem Zweck verfaßte er, der schon zu Zinzendorfs Lebzeiten apologetisch tätig gewesen war, 6 Johann Albrecht Bengel, Abriß der so genannten Brüdergemeine..., Stuttgart 1751, Vorrede § 6. Für Bengels Kritik an Zinzendorf vgl. den Aufsatz von Martin Brecht in diesem Band. 7 G.E. Lessing, Gedanken über die Herrnhuter, in: Sämtliche Schriften (hg. von K. Lachmann), Bd.14, Leipzig 1898, 160ff; abgedr. in: Ernst Benz u. Heinz Renkewitz (Hg.), ZinzendorfGedenkbuch, Stuttgart 1951, 36–45. Vgl. Hans Christoph Hahn u. Hellmut Reichel (Hg.), Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722 bis 1760, Hamburg 1977, 487–490. 8 Vgl. Hahn u. Reichel, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder, 492f. Zum Verhältnis Zinzendorf und Goethe siehe den Aufsatz von Paul Raabe in diesem Band. 9 Johann Gottfried Herder, Adastrea. Bd 4: Zinzendorf, in: Herder, Sämtliche Werke (hg. v. Bernhard Suphan), Bd 24, Berlin 1886, 32–37. Auch in: Hahn u. Reichel, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder, 490f. 10 Zu Spangenberg siehe: Gerhard Reichel, August Gottlieb Spangenberg. Bischof der Brüderkirche, Tübingen 1906. A.G. Spangenberg, Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf, 8 Tle. o.O. [1772]–1775, 2258 S. 11 Vgl. Hans-Walter Erbe, Herrnhaag – Tiefpunkt oder Höhepunkt der Brüdergeschichte, in: Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine 4, (1978), 112: »Die Zeit von Zinzendorfs größter theologischer Fruchtbarkeit«.

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die ausführliche, faktenreiche, aber kritikarme Lebensbeschreibung des Grafen, die bis weit in das 19. Jahrhundert hinein zur Hauptquelle für zahlreiche Schriften über Zinzendorf wurde.12 Dieses Werk ist in seiner Tendenz leider mehr hagiographisch als zu eigener kritischer Stellungnahme herausfordernd. Daß ausgerechnet der in seiner komplizierten Sprachgebung und kühnen Gedankenführung Zinzendorf nicht ganz unähnliche Hamann davon »sehr eingenommen« wurde, hat mich erstaunt.13 Ich teile mehr die Ansicht von Wilhelm David Fuhrmann, der 1821 über Spangenbergs Zinzendorf-Darstellung schreibt: sie sei »viel zu weitläuftig, und mehr eine Lobschrift als eine Biographie; sie hat des Grafen Fehler verschwiegen.«14 Etwas differenzierter meint Josef Theodor Müller, daß Spangenberg »sich durch persönliche und zeitgeschichtliche Rücksichten gehemmt« fühlte und deshalb »auf eine eigentlich geschichtliche Bearbeitung und Darstellung des Stoffes« verzichtete und – so fährt Müller fort – »auch da, wo jene Rücksichten nicht massgebend waren«, habe »der versöhnliche Rückblick des Greises auf die selbstdurchlebte Vergangenheit ihm die Schärfe der vorhanden gewesenen Spannungen und Konflikte verschleiert«. Als konkretes Beispiel dafür nennt Müller den heftigen Streit zwischen Zinzendorf und den Mähren in der Kirchenfrage.15 Doch Müllers Urteil stammt aus der »Festschrift« zum 200jährigen Geburtsjubiläum Zinzendorfs (1900) und ist bereits Ausdruck eines neuen historisch-kritischen Verständnisses des Grafen und seines Werkes. Und ich wollte mich ja im wesentlichen auf das 19. Jahrhundert beschränken. Darum: zurück zu Spangenberg und dem Zinzendorf-Bild, das er geben wollte. Seinem Bemühen, die Brüdergemeine wieder kirchlich stubenrein zu machen, diente neben dem Leben Zinzendorfs auch das theologische Hauptwerk Idea fidei fratrum (1779), mit dem Spangenberg – wie Jannasch schrieb – »unter fast völliger Preisgabe Zinzendorfscher Extravaganzen, aber auch seiner theologischen Originalität und Genialität ...den Typus einer schlichten biblizistischen Herrnhuter Dogmatik« schuf.16 Spangenbergs nachdrückliches Werben um kirchliche Anerkennung der in Verruf gekommenen Brüdergemeine hatte Erfolg. Aber der Preis war hoch: Zinzendorfs Bild verlor an Farbigkeit. Lavater kritisierte diese »Rek12 Zu Jacob Christian Düvernoy, Kurzgefaßte Lebensgeschichte Nicolaus Ludwigs Grafen und Herren von Zinzendorf und Pottendorf, Barby 1793, bemerkt Wilhelm David Fuhrmann: »Man findet [gegenüber Spangenberg] nichts Neues...« (Handbuch der theologischen Literatur Bd. II, 2, Leipzig 1821, 93). 13 An Herder, Schriften, (hg. v. Roth), VI, 321; zit.nach Herrnhut, Nr.5 (1876). 14 Fuhrmann, Handbuch, 92. 15 J.Th. Müller, Zinzendorf als Erneuerer der alten Brüderkirche. Festschrift des theologischen Seminariums der Brüdergemeine in Gnadenfeld zum Gedächtnis der Geburt Zinzendorfs am 26.Mai 1760, Leipzig 1900, 3. 16 Jannasch, Aus dem Schrifttum des Grafen Zinzendorf, 399.

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tifizierung« Zinzendorfs deutlich. Da sein Votum weithin bekannt sein dürfte, zitiere ich lieber etwas Entsprechendes aus einem Brief, den Susanne von Klettenberg, das Urbild für Goethes »schöne Seele«, 1767 an den Herrnhuter Reiseprediger Schick schrieb, nachdem ihr revidierte Schriften Zinzendorfs geschickt waren: »Den seligen Grafen von Zinzendorf habe ich erst wie alle Kirchenleute gehasset, nach empfangener Gnade im Blute Jesu aber unbeschreiblich geliebet. Seine Schriften sind mir unschätzbar. Meinethalben brauchten sie nicht revidiert zu werden. Die ersteren sind mir noch fast lieber als die letzteren. Kömmt auch etwas vor, das ungewöhnlich klingt, so weiß ich es wohl zu fassen. Seine Schriften sind rechtschaffenen Herzen nicht anstößig, die Bienen und keine Spinnen sind. Nicht ein Wort von ihm ist mir noch anstößig gewesen.«17

Die Beschneidung der Werke Zinzendorfs In den ersten 100 Jahren nach Zinzendorfs Tod konnte man kaum etwas von den seiner Zeit vorausgeeilten Ideen des Grafen lesen. Es erschienen zwar noch die von Gottfried Clemens edierten »Auszüge aus ...Zinzendorf ...Reden« zu den 5 Büchern Mose (1763–65) und den Evangelien (1766–73), denn es tat es Clemens »wehe, daß soviele vortrefliche, erfahrungsvolle und zur Erbauung dienliche Gedanken und Einsichten des seligen Ordinarii unbenutzt bleiben sollten«18 Aber dieses Unternehmen bricht mit den von Düvernoy betreuten Bänden zu Lukas und Johannes ab. Schrautenbach19 lobte diese Veröffentlichung, klagte aber dennoch darüber, daß »des Alten zu wenig gedacht« würde und plädierte folgerichtig für weitere Auswahlausgaben der Poesien Zinzendorfs sowie »der vorzüglichsten prosaischen Aufsätze des seligen Papa«. Doch wurde diese berechtigte Anregung ebenso zu den Akten gelegt wie Schrautenbachs faszinierende ZinzendorfBiographie, deren Veröffentlichung bis 1851 verschleppt wurde. Zinzendorf-Lieder wurden von Christian Gregor bearbeitet und fanden in einer Auswahl Aufnahme in dem Gesangbuch von 1778.20 Von Zinzendorfs Re-

17 Zit. O. Uttendörfer, Zinzendorf und die Mystik, Berlin 1950, 173. 18 Zinzendorf, Auszüge aus des Seligen Ordinarii ... sowol ungedrukten als gedrukten Reden über die vier Evangelisten. Band V, (hg. v. J.C. Düvernoy), Barby 1781, Vorrede Bl. A3r. 19 Schrautenbach an Quandt. (Privatbesitz H. Reichel, Königsfeld). 20 Gesangbuch zum Gebrauch der evangelischen Brüdergemeinen, Barby 1778. Vgl. dazu das Autorenverzeichnis: Joh. Plitt, Historische Nachricht vom Brüder-Gesangbuche des Jahres 1778 und von dessen Lieder-Verfassern, Gnadau 1835.

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den aber gab es nach den Clemensschen Sammelbänden nur noch einige wenige – meist überarbeitete – Neuauflagen.21 Und wenn überhaupt etwas herausgegeben wurde, dann geschah es meist mit Hinweisen auf das damit verbundene Risiko, weil Zinzendorfs Schriften »von vielen übel verstanden, von andern aber wol gar missdeutet« werden könnten.22 So meint auch der Herausgeber der Evangelischen Volksbibliothek Klaiber sich ausdrücklich für die Aufnahme ausgewählter Texte von Tersteegen und Zinzendorf beim anvisierten Publikum rechtfertigen zu müssen: »Leser von strengster kirchlicher Richtung werden vielleicht Tersteegen und Zinzendorf beanstanden. Ich weiß, daß sie nicht im strengsten Sinn kirchlich zu nennen sind. Aber ich hätte auch nicht das Herz, sie aus dem Kreis der evangelischen Kirche auszuschließen, und noch weniger, sie den Sekten zuzuweisen... Ich bin weit davon entfernt, alles an ihnen zu billigen, aber im Ganzen und Großen gerechnet, wüßte ich doch aus ihrer Zeit ... kaum zwei andere Männer, welche für die reformierte und lutherische Kirche Deutschlands von solchem Einfluß und gewiß von belebendem Einfluß gewesen sind.«23

Insbesondere für das von Zinzendorf »Mitgetheilte«, der als »prosaischer Schrifteller« fast völlig unbekannt sei, rechnete Klaiber »auf Dank« bei einem Leser, »der ein offenes und unpartheiisches Auge auch für abweichende Persönlichkeit hat«. Freilich – diese Einschränkung wird noch angebracht – erlaube Zinzendorfs »häßliche Sprachmengerei nicht, ihn unter den ›klassischen‹ Schriftstellern deutscher Zunge zu nennen.«24 Ich habe diese Stellungnahme aus dem für »Pfarrbibliotheken«, »Lesegesellschaften« und »Familienvätern« (!) wärmstens empfohlenen Sammelwerk deshalb so ausführlich zitiert, weil sie mir symptomatisch für die ängstliche Vorsicht zu sein scheint, mit der kirchentreuen Christen im Ausstrahlungsbereich der Erweckungsbewegung ein moderates Zinzendorf-Bild vermittelt werden sollte. Immerhin wurden so neben der von dem Zinzendorf-begeisterten Knapp besorgten Ausgabe »verknappter« Zinzendorf-Lieder25 auch einige ProsaSchriften des Grafen wieder etwas zugänglicher. Natürlich enthalten die abgedruckten Texte nichts von den originellen theologischen Gedanken, mit denen Zinzendorf seiner Zeit anstößig weit voraus war, wie z.B. mit der Rede vom »Mutteramt des heiligen Geistes« oder der für die Ökumene so zentralen, für konfessionelle Toleranz plädierenden »Tropen-Idee«. Auch 21 Vgl. D. Meyer, Das Bild Zinzendorfs, 145, 151 Anm. 21. 22 Düvernoy, Auszüge, Vorrede, Bl. A2r+v. 23 Karl Klaiber, Evangelische Volksbibliothek, Bd. 4, Stuttgart 1864, VI. 24 Ebd., VI f. 25 N.L. von Zinzendorf, Geistliche Gedichte des Grafen von Zinzendorf gesammelt und gesichtet von Albert Knapp, Stuttgart 1845.

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die mit der Formel »mein Schöpfer – mein Heiland« vollzogene christologische Aufwertung der Schöpfung, um deren »Bewahrung« heute gerungen wird, fehlt. Stattdessen geht es mehr um Fragen der Bekehrung und der Heiligung, also um die pietistischen Elemente bei Zinzendorf, immerhin so, daß klar wird: Zinzendorf wollte kein in Gewohnheiten erstarrendes »Betstundenchristentum«,26 sondern ein Leben in Dankbarkeit und Freude über die durch den Heiland am Kreuz erwirkte Versöhnung.

Folgen des Fehlens von Zinzendorfs Plädoyer für Individualität Die Nichtverbreitung der originellen Schriften Zinzendorfs ergab eine geistige Horizontverengung. Sie war auch die sicherste Methode zu verhindern, daß etwas von des Grafen Ideen zu kritischer Infragestellung so mancher verfestigter Gewohnheiten und Traditionen der Brüdergemeine hätte führen können. Was hätte es wohl für geistig aufgeschlossenen Barbyer Seminaristen wie Johann Jakob Fries, Daniel Friedrich Schleiermacher oder den späteren schwedischen Diplomaten Carl Gustav von Brinkmann bedeuten können, wenn ihre Dozenten sie mit authentischen Zinzendorf-Worten konfrontiert hätten, etwa solchen, in denen dieser sich mit feinem psychologischen Gespür gegen eine Gängelung durch religiös-moralische Zwänge wendet? Ich denke z.B. an einen Abschnitt wie den folgenden: »Wenn wir die unzählige Mannigfaltigkeit der Menschen bei uns formen und ziehen, so haben wir die Hälfte von ihrer wahren Gnade zum voraus weggeschafft. Wir widerstehen der Wirkung des heiligen Geistes auf ihr Herz, daß sie sich formen und ein Wesen annehmen, das ihnen nicht naturell ist, daß sie sich forcieren, daß sie sich das nächste Dorf suchen müssen, da sie sich wieder einmal auslassen können, und dann kommen sie wieder.Wenn sie aber bei uns sein können, wie sie sind, und sehen, daß sie nicht beschämt werden, so will ich’s beim Heiland verantworten. Die freie ungezwungene Art, daß ein jeder ist, wie er ist, hab ich gern.«27

Eine besondere Pointe besteht für mich darin, daß dieser von großer Menschenkenntnis zeugende Passus uns von Spangenberg in der »Apologetischen Schlussschrift« (1752) aufgezeichnet wurde. Zinzendorf sah zeitlebens den Zusammenhang zwischen individueller Entwicklung und Gemeindeaufbau und -ordnung als zentrales Problem und konnte für die dabei 26 Ebd., 316. 27 Spangenberg, Apologetische Schluß-Schrifft, worinn über tausend Beschuldigungen gegen die Brüdergemeinen und ihren zeitherigen Ordinarium nach der Wahrheit beantwortet werden, Leipzig/Görlitz 1752.

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entstehenden Konflikte – mindestens in der Theorie! – erstaunlich moderne Lösungsansätze formulieren, bei denen die Identitätsinteressen des Individuums nicht automatisch denen der Gemeinschaft untergeordnet werden mußten. Für Spangenberg dagegen rangierten die Belange der Gemeine vor denen der einzelnen Mitglieder, und er war bereit, sie – soweit es in seiner Macht stand – mit kirchenpolitischen Maßnahmen und religiösmoralischem Druck durchzusetzen. Das führte an den brüderischen Ausbildungsstätten zu einer Enge, die für geistig begabte und nach religiöser Echtheit suchende Menschen unerträglich werden mußte. Sie suchten sich wie Fries, Schleiermacher oder Brinkmann »das nächste Dorf«, aber sie kamen nicht wieder! Sie – und auch Novalis – fanden in der Brüdergemeine ihrer Zeit nicht den von Zinzendorf geforderten ausreichenden Freiraum für ihre geistig-seelischen Bedürfnisse. Wie beklagt z.B. Brinkmann in der Rückschau, daß zu seiner Zeit im Seminar zu Barby nicht mehr wie früher ein die Individuen verbindender Geist herrschte: »Zu einem Ganzen wurden die Individuen, wenn ich streng urteilen darf, nur noch durch eine gemeinschaftliche Form vereinigt. Nicht nach dem Geist, welcher lebendig macht, nur nach dem Buchstaben, welcher tötet, hießen viele von uns noch Brüder. Sich selbst gestanden dies kaum einige, andern vielleicht keiner. Hieraus entsprangen eben so gezwungene wie unwahre Verhältnisse...«.28

Das heißt im Klartext: Es blieb nur Trennung oder Unterordnung. Wenn letztere aber durch moralischen Druck der Umwelt gefordert wird, und nicht aus freiem Willen erfolgt, führt es oft in die Neurose, wie ich in meiner psychotherapeutischen Praxis fast täglich bestätigt bekomme. Während ich an diesem Referat saß, erzählte mir eine christlich sozialisierte Patientin – ihr Vater war kirchlicher Mitarbeiter – wie sie sich lebenslang danach gesehnt hatte, in ihrer individuellen Besonderheit wahrgenommen zu werden. Stattdessen wurde sie als Glied der christianisierten Familie und später in der Evangelischen Jugend – als einer Art Ersatzfamilie – abgespeist mit gemeinschaftsbezogenen formelhaften Verallgemeinerungen wie: »Wir sind alle Sünder«, und »in der Welt haben alle Angst!«. Zurecht klagte sie: »mir fehlte das Individuelle!« Ähnlich diagnostizierte Felix Bovet 1859 als entscheidenden Mangel der von ihm sonst angenehm erlebten Brüdergemeine: »Bei den Brüdern tritt der Einzelne ganz zurück. Das ist in einzelnen Fällen ganz vorteilhaft, aber es hat doch seine Nachteile...Wir haben bei den Brüdern viele Reden gehört, aber nichts wirklich Originelles, nichts Ergreifendes, sei es für den Geist oder für das Herz. Auch daraus erhellt, daß der Einzelne bei ihnen wenig gilt.«29 28 Brief an den alten Lehrer Zembsch, 1803, zit. nach E.R. Meyer, Schleiermachers und C.G. von Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeine, Leipzig 1905, 196. 29 Abgedr. in: Herrnhut. Wochenblatt aus der Brüdergemeine, Nr. 42 (1909), 357.

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Hätte Bovet Zinzendorf gehört, hätte er zweifellos anders geurteilt. Denn wer Zinzendorfs Schriften auch nur etwas kennt, weiß, wie sehr er für die Rechte des Individuums gerade auch gegenüber der Gemeinschaft eintrat. Ihm war bewußt, daß nur bei Ernstnahme des Einzelnen eine tragfähige Erlebnisfrömmigkeit entstehen kann, die ihrerseits Gemeinschaftsformen vor dem Abgleiten in leeren Formalismus zu bewahren vermag.

Das brüderische Biedermeier und sein erbauliches Zinzendorfbild Die Behütungspädagogik, die der Chaos fürchtende und darum auf strenge Einhaltung vorgegebener Glaubens- und Lebensordnungen bedachte Spangenberg favorisierte, trug wesentlich dazu bei, daß die Brüdergemeine bis weit in das 19. Jahrhundert das Erscheinungsbild einer frommen biedermeierlichen Idylle bot. Zu welcher Weltfremdheit das Vor-VersuchungBewahren-Wollen führen kann, hat Jean Paul mit karikaturhafter Übertreibung sehr schön beschrieben in der »Unsichtbaren Loge«, wo ein Kind von einem »himmlisch-schönen Genius« aus Barby acht Jahre unter der Erde, abgeschirmt von der Welt, wie in einem »moralischen Treibhaus« erzogen wird.30 In dem Roman Kaspar Krumbholtz von Hermann Anders Krüger findet sich folgende Stelle, wie ein neu ins Internat gekommener Lehrer im Arbeitszimmer des Mitdirektors auf diesen wartet: »unterdessen sah sich Kaspar in dem ein wenig überladenen Raume um, der sichtlich den Stempel einer eigenartigen, vielleicht etwas krausen, jedenfalls bewußt moravischen Persönlichkeit trug. Da hingen an den Wänden die großen Ölbilder des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und seines schier überirdisch verklärten Sohnes Christian Renatus. Auf eichenen Bücherborden standen wohlgeordnet sämtliche Ausgaben alter Gemeingesangbücher, eine Menge wertvoller Brüderschriften, die seltenen Büdingenschen Sammlungen, die Idea fidei unitatis fratrum... Darüber sann das wehmütig milde Patriarchenhaupt des Brüderbischofs Amos Comenius.«31

Bilder in Öl, Bücher in Leder und eine Stimmung außerirdischer Zeitlosigkeit! Damit erhalten wir ein anschauliches Bild von der »Welt der Stillen im Lande«. Ihr herausragender Exponent war Schleiermachers Barbyer 30 Jean Paul, Werke in drei Bänden, (hg. v. N. Miller), Bd. 1, München o.J, 43. 31 H.A. Krüger, Kaspar Krumbholtz. Ein deutscher Bildungsroman, Braunschweig 1910, II, 38f. Die Fortsetzung des Zitates lautet: »...daneben hing ein mächtiges Kupferstichblatt, die Predigt des ersten Brüdermissionars vor den Indianern darstellend; weiterhin zierten graziöse Pastellporträts berühmter Brüder und Schwestern, in schönen Empire- und Biedermeyerrahmen zwischen allerlei feinen Schattenrißbildchen hängend, die Wände«.

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Freund Johann Baptist von Albertini, der Sänger des im »stillen Friedenstal« wohnenden »Gottesvolkes«.32 Zeittypisch malt natürlich auch er sein Zinzendorf-Bild. Wenn er auf dem Hutberg spazieren geht und auf die »Friedenshäuser« herabblickt, »wo im Innern und im Äußern die Freundlichkeit des Heilandes geschmeckt wird«, dann kann er nicht »ohne warme Liebe und herzliche Rührung ... an den Mann denken, dem das alles zu verdanken ist.«33 Allerdings wird die konkrete Gestalt des historischen Zinzendorf nicht faßbar. Blaß und abstrakt wird er als Stifter der erneuerten Brüdergemeine apostrophiert und als Ikone an die Wand gehängt. Je weniger von seinem ungewöhnlichen Leben und seinen provozierenden Ideen tatsächlich bekannt ist, desto besser läßt sich sein Bild idealisieren und für den jeweiligen Tagesbedarf retuschieren. Der Wunsch nach Vorbildern für eine von Kindheit an fromme Lebensweise führt dementsprechend zu einem legendenartig ausgemalten Heiligenbild. Ein gutes Beispiel hierfür bietet die Ballade von Karl Rudolf Hagenbach vom predigenden Wunderknaben,34 der »als kleines, zartes Kind« die fluchend in das Großhennersdorfer Schloß einfallenden Schweden mit seiner ernsten Einladung »zur Buße« wie mit einem »Zauber« in den Bann schlägt. Zu »Tränen« gerührt anerkennen sie: »Das ist eines Engels Rede!« Otto Glaubrecht erwähnt diese »Bändigung« roher Soldaten auch in seiner erbaulichen Erzählung Zinzendorf in der Wetterau, nennt aber noch den Ursprung von Zinzendorfs frühreifer Frömmigkeit, wenn er – an Nachahmer appellierend – schreibt: »Das war eine gesegnete Schule der Kindheit: zwei Frauen, die einen solchen Mann erziehen, verdienen mehr denn ein Denkmal von Erz und Stein.«35 Die Problematik einer solchen einseitig-religiösen Sozialisation des vaterlosen Jungen fern von der leiblichen Mutter, das »Drama des begabten Kindes« (A. Miller) mit narzißtischer Charakterstruktur – von der her sich auch das Verhalten gegenüber den Schwenckfeldern verstehen ließe – bleibt hier natürlich völlig ausgeblendet.36 Ähnlich verbargen sich ja auch hinter

32 Johann Baptist von Albertini, Geistliche Lieder, Bunzlau 1821, 220f: »Heimlich, o ihr Brüder! Ist’s, unter seinem Volk zu wohnen: manches Bruderherz genießt’s, und vertauscht es nicht um Thronen!«. 33 Johann Baptist von Albertini, 36 Reden an die Gemeine in Herrnhut..., Gnadau 1832, 17. 34 Karl Rudolf Hagenbach, »Die Kindespredigt« in: Gedichte, Basel 1846; abgedr. in: Otto Uttendörfer u. Walther E. Schmidt (Hg.), Die Brüder. Aus Vergangenheit und Gegenwart der Brüdergemeine, Herrnhut 21914, 6f. 35 Otto Glaubrecht [Ps. für Rudolf Ludwig Oeser], Zinzendorf in der Wetterau. Ein Bild aus der Geschichte der Brüdergemeinde, dem Volk dargestellt., Frankfurt a.M./Erlangen 1852/53, 4 1884, Neuaufl. (hg. v. H. Knodt), Gießen/Basel 1925, 21. 36 Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, Frankfurt/M. 1979.

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den Spitzweg-Masken des Biedermeier oft sehr massive Konflikte, deren Bewußtmachung u.U. in tiefe Depressionen stürzen konnte. Herzstück aller erbaulichen Ikonen-Malerei ist zweifellos die Geschichte von Zinzendorfs Begegnung mit dem Feti-Bild des dornengekrönten Christus in der Düsseldorfer Gemälde-Galerie. »Welcher Pastor hätte denn ... noch nie seiner Gemeinde [dieses] bekannte Erlebnis erzählt«? So fragte Otto Steinecke rhetorisch im Jahr 1900.37 Was hat man alles aus dieser »kurzen Tagebuchnotiz« gemacht? Obgleich Zinzendorf selbst kaum je wieder auf »diese flüchtige Szene« zurückgekommen ist, wurde sie seine »Bekehrung« genannt und »romantisch aufgebauscht« bzw. phantasievoll ausgeschmückt.38 In einem württembergischen Lesebuch des 19. Jahrhunderts fand ich z.B. eine Variante, in der Zinzendorf in ein Wirtshaus einkehrt. Dort sieht er ein Kruzifix. Er schreibt darüber: »Das tat ich für dich!« und darunter: »Was tust du für mich!« Das ließ die Wirtsleute zu Christen werden.39 Noch jetzt, im Rahmen des Streites um einen Synodalbeschluß, der zum Respektieren von in Liebe und Treue gegründeten homophilen Partnerschaften mahnt, findet sich im »Mitternachtsruf«40 in einem polemischer Artikel »Wenn Herrnhut den Herrn verliert« eine Anspielung darauf, daß Zinzendorf diesen Herrn seinerzeit in Düsseldorf gefunden habe.

Zur Kritik des erbaulichen Zinzendorf-Bildes Das erbauliche Zinzendorf-Bild, die Goldgrund-Ikone, fand Zustimmung bei erweckten Christen in ganz Deutschland. Umso größer war das Bedauern bei etwas weiter denkenden kritischen Geistern. Daß Heinrich Heine »den süßlich vermufften Betgrafen...nicht ausstehen« konnte, dürfte kaum erstaunen. Sein Freund Karl August Varnhagen von Ense hatte Zinzendorf als einem »Staatsmann erhabner Art« mit spürbarer Sympathie ein »biographisches Denkmal« errichtet, das er Heine geschickt hatte.41 Bedenkenswerter als die summarische Ablehnung Heines war, was Hoffmann von Fallersleben der nachzinzendorfschen Brüdergemeine ins 37 Otto Steinecke, Zinzendorfs Bedeutung für die evangelische Kirche, Halle 1900, 9. 38 Heinz Motel, Das Leben Zinzendorfs, in: Zinzendorf-Gedenkbuch, Stuttgart 1951, 13. Demgegenüber behauptet Schrautenbach allerdings: Zinzendorf habe sich »in seinem ganzen Leben daran erinnert« (Graf von Zinzendorf, 83). 39 Lesebuch für die evangelischen Volksschulen Württembergs, Stuttgart 1868, 398f. (Nr. 184). 40 Mitternachtsruf, 2000, Nr.9, 14. 41 Heines brieflicher Kommentar zu K.A.Varnhagen von Ense, Leben des Grafen von Zinzendorf, Berlin 1830, 2(1846) in: Heinrich Heine, Briefe. Erste Gesamtausgabe nach den Handschriften, (Hg. v. Friedrich Hirth) Teil 1, Mainz 1965, 452.

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Stammbuch schrieb, weil er damit eindringlich die Frage sozialpolitischer Verantwortung aufwarf: »Nie wollt ihr des Herrn vergessen, nicht beim Trinken noch beim Essen, und ihr tunkt in roten Wein ein biskuiten Lämmlein ein. So erfüllt ihr Gottes Willen im geheimen und im stillen, und es ißt auf Christi Tod euer Nachbar trocken Brot.«42

Von den Stimmen des allgemeinen Geisteslebens, die sich im 19. Jahrhundert zu Zinzendorf äußerten, möchte ich noch Ludwig Feuerbach erwähnen, der Zinzendorf wegen seiner geradezu konkretistischen Beschreibung der Menschlichkeit Jesu als Wegbereiter einer neuen religiösen Anthropologie sieht,43 was ich nicht für so abwegig halte wie Matthias Mayer.44 Kamen diese Kritiken von außerhalb der Kirchen, so zitiere ich nun noch eine aus kirchlichem Lager, die der biedermeierlichen Brüdergemeine galt, welche wenig von den Impulsen Zinzendorfs umsetzte. Sie stammt von dem lutherischen Theologen Franz Delitzsch (1840): »Das Christentum ist kein stagnierender Stillstand, sondern ein steter Fortschritt gleich einem lebendig fliessenden Wasser; es muss uns auch eine Lehre des Wortes Gottes nach der andern erfahrungsmässig klar und gewiss werden, und immer mehr und mehr des gesamten Wortes Gottes muss in uns lebendig werden. Bei der Brüdergemeinde hingegen finde ich mehr oder weniger das Beruhen in dem einmal Erkannten und sogar ein Fliehen des Kampfes, durch den fast jede neu zu gewinnende Erkenntnis hindurch muss.«45

Zinzendorf hätte sich dem nur anschließen können. Er sagte einmal: »Es ist ein in soviel Jahrhunderten noch nicht ausgebliebenes Geschick der Kinder Gottes; wenn ihnen jedermann wohl will, so schlafen sie ein.«46

42 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Unpolitische Lieder und Zeitgedichte, Leipzig 1953, 24. 43 Ludwig Feuerbach, Zinzendorf und die Herrnhuter, in: Sämtliche Werke. (Hg. v. W. Bolin u.F. Jodl), Band X,1866, 68–87 (gründliche Inhaltsangabe bei M. Meyer, siehe Anm. 45, 202– 206). 44 Matthias Meyer, Feuerbach und Zinzendorf. Lutherus redivivus und die Selbstauflösung der Religionskritik, Hildesheim 1992. 45 In: F.W. von Kantzenbach (Hg.), Baron H.E.von Kottwitz und die Erweckungsbewegung in Schlesien, Berlin und Pommern. Briefwechsel, Ulm 1963, 218. 46 Mit diesem Zitat und der Wendung: »Davor behüte uns Gott – in den 80er Jahren!« beendete Theodor Schober 1980 einen Vortrag »Diakonie der 80er Jahre ohne Illusion?!« in: DiakonieKorrespondenz, Nr. 5 (1980), 21.

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Auch innerhalb der Brüdergemeine begann in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine engagierte Auseinandersetzung um den Stellenwert Zinzendorfs. Eröffnet wurde sie gleichsam durch die 1851 aus der Verdrängung auftauchende Zinzendorf-Biographie von Ludwig Carl Freiherr von Schrautenbach.47 Wie das Paulskirchen-Parlament in Frankfurt das Ende der Restaurationszeit der heiligen Allianz symbolisiert, so markiert Schrautenbachs Schrift das Ende der erbaulichen Klischeebilder von Zinzendorf.48 Die facettenreichen Erinnerungen dieses kritischen, dabei durchaus wohlwollenden, Augenzeugen49 erleichterten es endlich, sich selbst ein Bild von Zinzendorf zu machen, das die Denkmalsfiguren ersetzen konnte. Natürlich geschah auch das auf sehr unterschiedliche Weise. Da hatte einmal Johann Heinrich Buchner50 ganz im Sinne der Erweckungstheologie an Zinzendorf die Emotionalisierung der Religion als Eröffnung eines Irrweges heftig beanstandet und demgegenüber ein konsequentes »Festhalten an dem Wort des Herrn« gefordert.51 Dagegen hatte Hermann Plitt in seiner Theologie Zinzendorfs versucht zu zeigen, daß es zwar »die Zeit krankhafter Verbildungen in Zinzendorfs Lehrweise« gab, aber der »eigentliche innerste Kern ... nicht zerstört« sei.52 Im Vergleich zu Schleiermacher und dessen Gefühlsreligion könne man gerade bei Zinzendorf eine große Schriftgebundenheit ausmachen. Freilich – darauf hat Alexander Radler hingewiesen – bleibt Plitt bei aller Gründlichkeit und Differenziertheit ein konservativer Theologe. Manche der zukunftweisenden Ideen Zinzendorfs werden in ihrer Bedeutung nicht ausgewickelt. Das möchte Bernhard Becker ändern, als er 1886 auf die Herausforderung des Ritschlschen Zinzendorf-Bildes antwortet. Ihn hatte es betrübt, daß die Unternehmung des Grafen, »soweit sie auf das große Ganze der Kirche abgezweckt war, ihr Ziel nicht erreicht« habe und »die reiche Gedankenwelt des Mannes ... spurlos verschwunden« sei; bis auf »die Reminiszenz an einzelne Elemente jenes eigenartigen Liedercyklus, die, aus dem Zusammenhang gerissen, in ihrer Zersplitterung den Eindruck vollständiger Narrheit hervorrufen mußten. Dennoch hat der Mann sein ganzes Leben hindurch mit lückenloser Konsequenz an der Überzeugung festgehalten, daß er der Kirche seines Volks zu dienen habe und ihr allein; danach hat er 47 Schrautenbach, Der Graf von Zinzendorf (Anm. 4). 48 Das heißt natürlich nicht, daß seither keine erbaulichen Lebensbeschreibungen über Zinzendorf verfaßt und gedruckt worden wären. Aber seit Schrautenbach konnte, wer wollte, sich leichter ein eigenes kritisches Bild des Grafen verschaffen. 49 Schrautenbach hatte geraume Zeit aktiv in der Brüdergemeine mitgearbeitet und kannte Zinzendorf aus zahlreichen Begegnungen gut. Sein Gut Lindheim lag in unmittelbarer Nachbarschaft zu Marienborn und Herrnhaag in der Wetterau. 50 [Anonym veröffentlicht:] Die Brüder-Kirche: Was ist Wahrheit? o.O. 1856. 51 D. Meyer, Das Bild Zinzendorfs, 147f. 52 Hermann Plitt, Zinzendorfs Theologie, 3 Bde., Gotha 1869–1874; Band II, (1871) 3.

Das Bild Zinzendorfs nach seinem Tode

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gehandelt.«53 Wie Zinzendorf das getan hat, will Becker mit den Mitteln historischer Textinterpretation aus den Quellen erweisen. Diesen Weg historisch-kritischer Wissenschaft hat man seither beschritten. Ein eindeutiges und für alle Zeiten gültiges Zinzendorf-Bild läßt sich auch so natürlich nicht erstellen. Und das ist gut, weil jede Zeit ihren Zinzendorf braucht. Immerhin hat die Gestalt des Grafen etwa durch die Arbeiten von Eberhard,54 Bettermann55 und Renkewitz,56 die den lutherischen Elementen in der Theologie Zinzendorfs ihre Aufmerksamkeit zuwandten, ebenso an Farbigkeit zugenommen wie durch Hök57 und Aalen58, die den Erstgenannten Einseitigkeit vorwarfen. Mit seinem Alterswerk Zinzendorf und die Mystik (1950) hat Otto Uttendörfer sich bemüht, das gewisse Recht beider Betrachtungsweisen zu zeigen.59 Doch mit der Nennung dieser Namen von Zinzendorf-Porträt-Malern bin ich weit ins 20. Jahrhundert vorgestoßen. Und damit habe ich die selbstgesetzte Grenze überschritten.

Zusammenfassende Beurteilung Ich habe versucht zu zeigen, wie in den ersten 100 Jahren nach Zinzendorfs Tod die Brüdergemeine, was den Umgang mit dem Erbe des Grafen und seiner bunten Ideenwelt betraf, gleichsam in eine Art Dornröschenschlaf verfiel. Das Trauma der Herrnhaager Zeit (1743–1749) wirkte wie die Spindel, an der Dörnröschen sich stach. Nur ungern befaßte man sich mit diesem Abschnitt in der Geschichte der erneuerten Brüderunität, die man bußfertig als »Sichtungszeit« bezeichnete. Man empfand diffus Schuldgefühle, schämte sich und bemühte sich nun forciert um Wiedergutmachung und Correctness. Dabei wurde viel verdrängt und überspielt. Der Wiederaufbau des gestörten Gemeinwesens wurde auf den verfassungsgebenden Synoden unter Spangenbergs Leitung zügig vorangetrieben und 1775 zum vorläufigen Abschluß gebracht. Äußerlich gesehen expandierte die Brüdergemeine. Es wurden eine ganze Reihe neuer Gemeinorte gegründet und die 53 Bernhard Becker, Zinzendorf im Verhältnis zu Philosophie und Kirchentum seiner Zeit. Geschichtliche Studien, Leipzig 1886, 533. 54 Samuel Eberhard, Kreuzes-Theologie. Das reformatorische Anliegen in Zinzendorfs Verkündigung, München 1937. 55 Wilhelm Bettermann, Theologie und Sprache bei Zinzendorf, Gotha 1935. 56 Heinz Renkewitz, Zinzendorf. Herrnhut 1935, 2. erg. Aufl. 1939, Hamburg 31948. 57 Gösta Hök, Zinzendorfs Begriff der Religion, Uppsala/Leipzig 1948 (Uppsala Universitets Årsskrift, 6). 58 Leiv Aalen, Die Theologie des jungen Zinzendorf, Berlin 1966 (Arbeiten zur Geschichte und Theologie des Luthertums, 16). 59 Uttendörfer, Zinzendorf und die Mystik.

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Missionsarbeit in allen Teilen der Welt konnte beachtliche Erfolge verzeichnen. Auch die innerkirchliche Ökumene wurde durch die Weiterführung der sog.»Predigerkonferenzen«60 und ausgedehnte Korrespondenzen intensiv gepflegt. Aber die Art, in der man mit Zinzendorf und seinen Ideen umging, erinnert mich doch – bei allen sofort zurecht ins Auge fallenden Unterschieden – etwas an die äußerst problematische Hilflosigkeit, mit der man nach 1945 die auf meist unklare Weise Schuld- und Schamgefühle weckende dunkle deutsche Vergangenheit zu behandeln suchte. Zu wirklicher »Trauerarbeit« in größerer Öffentlichkeit, bei der ja die Fragen: wie es zu einem derartigen Desaster kommen konnte, mit geklärt werden müssen, kam es erst sehr viel später. Wurde die äußere Verbannung Zinzendorfs aus Sachsen 1747 aufgehoben, so kann man sagen: die Aufhebung der inneren Verbannung Zinzendorfs begann 1851 mit der Veröffentlichung von Schrautenbachs Zinzendorf-Biographie. Mit Schrautenbach bin ich der Meinung, daß Zinzendorf viele faszinierende Ideen geäußert hat, z.B. auf den Gebieten Religionspsychologie, Seelsorge und Gemeindeaufbau, die bis heute ungeheuer anregend geblieben sind. Es sich lohnt sich, Zinzendorf weiter in unsere Zeit hinein zu denken!61 Dafür steht ja mit der Nachdruckausgabe des Olms-Verlags auch viel Material bereit. Und wenn in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in einer kritischen Edition noch einige der Synodalprotokolle verfügbar sein werden, in denen Zinzendorf in der kritisch-dynamischen Auseinandersetzung mit seinen Mitarbeitern zu erleben ist, dann wird das Bild des »Leh-

60 Hellmut Reichel, Versuche in der Brüdergemeine zur ökumenischen Sammlung der Christen. Die Aufnahme von Zinzendorfs Diasporagedanken und die Herrnhuter Predigerkonferenz (1750–1800). Unitas Fratrum H.29/30, 1990, 176–198. 61 Wie reizvoll eine Beschäftigung mit Zinzendorf, der selbst zu denen zählte, die aus Vertrautem aufbrechen in unbekanntes Neuland, heute noch sein kann, hat Siegfried Höfermann in bewußter Anspielung auf Zinzendorfs Neigung, rokokohaft auch mit der Sprache zu spielen, folgendermaßen beschrieben: »Für Zinzendorf ist die neue Zeit mehr datum als fatum, mehr fascinosum als tremendum, mehr Chance als Risiko (wobei das zweite jeweils im ersten kategorial enthalten wäre). Er torkelt nicht auf dem Parkett der Neuzeit, benimmt sich vielmehr hurtig und behende. Es brennt ihn in den Reiseschuhn, fort mit der Zeit zu schreiten (Eichendorff). Er empfängt ihren Schub und leistet ihr Vorschub. Ihre Mitgift ist seine Morgengabe. Ihre Aussteuer, und was er zu ihr beisteuert, sind aus demselben Stoff. Sie kommen sich entgegen und zuvor. Er hält ihr Tempo mit und setzt es um in Temperament, ohne ad usum delphini umzutemperieren. Das Neue ist nicht nur Gewürz, ist Wurzelgrund des Lebens. Vom unseriösen Gerücht wird es zum bestätigten Geruch eines andauernden Reizklimas. Es wird einem bei der Lektüre von Zinzendorf zumute wie in föhnklarer Vollmondnacht: man möchte nichts verpassen.« (Stil bei Zinzendorf. Fund, Spiel und Stand als kategorialer Beitrag zur Moderne, Zürich 1977, 43).

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rers der Völker«62 in seiner ganzen Regenbogen-Farbigkeit noch besser leuchten als heute schon. Dabei wäre es nicht schlecht, wenn es einem auf Zinzendorf Neugierigen wenigstens so ginge wie Friedrich Wilhelm I. oder – was mir näher liegt – wie Sigmund Freud, als er den »heiligen Grafen«, d.h. Oskar Pfisters psychoanalytische Studie über Zinzendorf (1910)63, »in Eile und Spannung« gelesen hatte. Er schrieb damals: »Ich habe mir zuerst etwas ganz anderes vorgestellt, etwas Pikantes, Skandalöses, nehme jetzt alle Verunglimpfungen des Grafen zurück. Er ist ein ehrlicher armer Narr, der übrigens nicht mehr mogelt als nach Fontanes Ausspruch alle großen Männer.«64 Daß Freud sich doch soweit von Zinzendorf beeindrucken ließ, spricht für die Größe beider!

62 Titel eines Bildes von J.V. Haidt (nach 1747), abgebildet in: Graf ohne Grenzen, 21. 63 Oskar Pfister, Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf. Ein psychoanalytischer Beitrag zur Kenntnis der religiösen Sublimierungsprozesse und zur Erklärung des Pietismus, Leipzig 1910, 2. verb. Aufl. Wien 1925. 64 An O. Pfister 17.6.1910, in: E.L. Freud u. H. Meng (Hg.), Sigmund Freud – Oskar Pfister. Briefe 1909–1939, Frankfurt/M. 1963, 39.

DIETRICH MEYER

Zu Zinzendorfs Gegenwartsbedeutung

Anläßlich des Gedenkens an Luthers Tod vor 450 Jahren im Jahre 1996 veröffentlichte der Bischof der lutherischen Landeskirche Hannover, Horst Hirschler, ein Buch mit dem Titel: Luther ist uns weit voraus.1 Zinzendorf ist sicherlich mit Luther und seiner weltgeschichtlichen Bedeutung als Reformator nicht zu vergleichen. Auch war er kein Theologe sondern Jurist. Dennoch könnte man auch von Zinzendorf sagen, daß er uns in mancher Hinsicht weit voraus ist und daß wir Erkenntnisse, die er gehabt hat, heute wieder neu entdecken müßten. Das möchte ich an einigen Punkten verdeutlichen. Seine Bedeutung liegt, meine ich, weniger im Bereich der Theologie im eigentlichen Sinne, sondern in dem weiteren Bereich der evangelischen Gemeinde- und Laienfrömmigkeit. Hier hat er bis heute bahnbrechende Anregungen gegeben, die zum Teil erst in unserem Jahrhundert in der evangelischen Kirche rezipiert worden sind. Lassen Sie mich das am Beispiel der Losungen verdeutlichen. Die Losungen waren im 18. und auch im 19. Jahrhundert das Andachtsbuch der kleinen Freikirche der Brüdergemeine, aber darüber hinaus nur wenig bekannt. Erst im 20. Jahrhundert gewann das Losungsbuch die hohen Auflagen und die große Zahl an Übersetzungen in nun fast 50 Sprachen der Welt, die es heute so bekannt macht.2 Zu ersten Großauflagen über die Brüdergemeine hinaus kam es im Ersten Weltkrieg, als man die Losungen in Heftchen für die Soldaten verbreitete. Menschen in bedrängender Kriegsnot, Menschen, die der radikalen Gottesferne und grausamen Eigengesetzlichkeit des Krieges ausgesetzt waren, entdeckten die Losungen als Ankerkette, um die Verbindung mit Gott nicht zu verlieren. Bis zum Jahre 1900 wurden die Losungen lediglich in 7 europäische Sprachen sowie in das Grönländische übersetzt. Erst in jüngster Zeit wächst die Verbreitung weltweit, weil die Losungen in ihrer Prägnanz und Kürze eine Hilfe für den gehetzten, säkularen Menschen der Moderne bedeuten.

1 Hannover 1996. 2 Burkhard Gärtner und Hans-Beat Motel, Die Entstehung der Losungen. Drei Bemerkungen, in: Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine 44 (1998), 133–141.

Zu Zinzendorfs Gegenwartsbedeutung

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1. Die »Gemeine« und ihr seelsorgerlich-gottesdienstlicher Gemeindeaufbau als Sonderform einer evangelischen Kirchenbildung Die Losungen entstanden in der bewegten Gründungsphase der Brüdergemeine und bildeten nur einen Aspekt des seelsorgerlichen Gemeindeaufbaus, den Zinzendorf gemeinsam mit seinem Prediger Johann Andreas Rothe verfolgte. Sie wurden seit dem 3. Mai 1728 an jedem Morgen durch einen Boten in die 32 Häuser der Siedlung Herrnhut mündlich getragen, um jede Familie täglich mit dem Wort Gottes zu versorgen und das Gespräch darüber anzuregen: »So wird das Gespräch über die Tageslosung zum Mittel gegenseitiger Seelsorge: der eine hilft dem andern, auf das Wort zu merken.«3 Das ist Seelsorge als Gemeinschaft und Stärkung über dem täglich zugesprochenen Wort der Schrift. Damals vielleicht noch wichtiger für den seelsorgerlichen Gemeindeaufbau war die Gliederung der Gemeinde in Seelsorgegruppen von ca. 5–8 Personen, die sich wöchentlich trafen und der persönlichen Zurüstung durch das Gespräch miteinander dienen sollten. Wenn sie später durch die sog. »Chöre« weitgehend abgelöst wurden, so deshalb, weil diese nicht auf gegenseitiger Sympathie, sondern auf der natürlichen Altersgliederung basierten. Entscheidend war der Gesichtspunkt, daß jeder von Natur aus schon zu einer seelsorgerlichen Gruppe gehörte. Es war also nicht in das Belieben oder in das persönliche Engagement des Einzelnen gestellt, inwieweit er sich an Aktivitäten oder Aufgaben der Gemeinde beteiligte. Keiner konnte sich der Gemeinde entziehen, jeder hatte seine Aufgaben und Geschwister, die ihm zugeordnet waren. Der Gliederung in feste Gruppen ging eine detaillierte Ämterordnung parallel. Und die Herrnhuter Statuten von 1727 waren weniger eine herrschaftliche Ordnung für das Äußere, als, zumindest in ihrem zweiten Teil, eine Seelsorgeordnung, die das geistliche Leben in geordnete Bahnen zu bringen suchte. Ihre Mitte hatte diese Gemeinschaft in den täglichen Versammlungen mit Gebet und biblischen Lesungen, in Gottesdienst und Katechese am Sonntag. Hier entfaltete sich Zinzendorfs schöpferische Begabung in Anlehnung an die biblischen Berichte über die Urgemeinde. Die neuen liturgischen Formen: Liebesmahl, Ostermorgenfeier, Jahreswechselfeier, liturgische Leseversammlungen und andere haben heute gelegentlich auch in der Landeskirche Fuß gefaßt, weil sie in ihrer schlichten Symbolik Menschen ansprechen und das kirchliche liturgische Leben bereichern. Das Lob Gottes in 3 Heinz Renkewitz, Die Losungen. Entstehung und Geschichte eines Andachtsbuches, Hamburg 1953, 9; Alle Morgen neu. Die Herrnhuter Losungen von 1731 bis heute, hg. von der Direktion der Ev. Brüder-Unität Distrikt Herrnhut, 2. Aufl. Bad Boll 1979, 8f.

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Lied, Musik, Gebet und Diakonie bildete im alten Herrnhut die tragende Säule des geistlichen Lebens der Gemeinde. Zinzendorfs poetische Begabung hat für das Gemeindeleben eine befruchtende Wirkung gehabt, die sich auch auf seine Mitarbeiter auswirkte. Er hat Themen angesprochen, die man so anderswo nicht in dieser Weise findet. Ich denke an die »Streiterlieder« und Zeugenlieder,4 die gegen die Selbstsucht, das eigene Wollen und Sichbehaupten ankämpfen und den Dienst für Christus in der Welt zum Inhalt haben. Die Gemeinde als der Ort, da sich ein Christ zu bewähren hat, ist Gegenstand der Diener- und Amtslieder, die Not und Aufgabe christlicher Amtsführung und Mitarbeiterschaft eindrücklich beschreiben. Ich denke an das Lied »Wir woll’n uns gerne wagen in unsern Tagen der Ruhe abzusagen« (EG 254) oder das Lied: »Du unser innig verbundener Mann, nimm uns zu deinen Gehilfen an in dem großen Werke, darauf du bleibest und das du von Tag zu Tag weiter treibest nach deinem Sinn« mit der Zeile, die man als Thema dieser Lieder verstehen kann: »Erhalte uns alle den ganzen Sinn auf dich und deine Gemeine hin«.5 Herrnhuter Liedgut hat das landeskirchliche Gesangbuch befruchtet, und es kann wohl keine Frage sein, daß Zinzendorfs Gegenwartsbedeutung am unmittelbarsten durch seine Lieder zu uns spricht. Zinzendorf hat zu seiner Zeit vornehmlich durch seine Verkündigung gewirkt. Er wollte ein Prediger des Wortes sein, und gab dafür seine Karriere als Jurist preis. Seine täglichen Ansprachen waren zu einem großen Teil an einzelne Seelsorgegruppen gerichtet, also an die einzelnen Chöre oder die Hausgemeinschaft seiner Mitarbeiter, das sog. Jüngerhaus. Sie waren nicht Predigten im Sinne der Landeskirche, also Auslegungen von Schriftabschnitten, sondern wollten, wie er sagte, »Homilien« an die Gemeinde und ihre Gruppen sein. Sie hatten in erster Linie seelsorgerlichen Charakter und ihnen lag demgemäß häufig die Losung oder eine Liedzeile zugrunde. Von dieser ihrer seelsorgerlichen Seite sind sie bisher sicherlich zu wenig, sondern zu einseitig als Ausdruck seiner Theologie verstanden worden. Wenn wir heute auf Zinzendorf schauen, so fasziniert uns zuerst seine seelsorgerliche Begabung in den unterschiedlichen Aspekten als Liturg, Dichter, Prediger und Gemeindeleiter, denn gewiß ist die Organisation einer weltweiten »Gemeine« sein bedeutendstes »Werk«, das er uns hinterlassen hat, wobei freilich ein solches Werk nur Gottes Werk durch menschliche 4 Zur Streiteridee s. Hanns-Joachim Wollstadt, Geordnetes Dienen in der christlichen Gemeinde, dargestellt an den Lebensformen der Herrnhuter Brüdergemeine in ihren Anfängen, Göttingen 1966 (Arbeiten zur Pastoraltheologie 4), 317–349, hier bes. 324–332. Zu den Streiterliedern gehört ursprünglich auch »Jesu geh voran« (EG 329) und »Der Glaube bricht durch Stahl und Stein« (Gesangbuch der Ev. Brüdergemeine, Hamburg 1967, Nr. 377). 5 Herrnhuter Gesangbuch von 1741 (BHZ A 505.3) Nr. 1404; heute: Gesangbuch der Ev. Brüdergemeine Nr. 372 »Du Herr und Meister im Kirchenplan« (Ortographie modernisiert).

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Hand sein kann. Welche Anregungen lassen sich aus dem Gemeindeaufbau Herrnhuts für heute gewinnen? Lassen sich einzelne Gottesdienst- und Gemeinschaftsformen der Brüdergemeine auf eine heutige volkskirchliche Struktur übertragen? Hier möchte ich erhebliche Zweifel anmelden. Schon innerhalb der Brüdergemeine ist es nur begrenzt möglich, nach dem Verlust der geschlossenen homogenen Ortsgemeinden damalige Formen in einer heutigen Diaspora- und Bereichsgemeinde einzubringen. Der Gemeindeaufbau Herrnhuts setzt eine freikirchliche Struktur, ein enges Gemeinschaftsleben voraus. Ist das nicht vorhanden, können auch seine äußeren Formen allenfalls zu neuen Formen heute anregen, aber kaum nachgeahmt werden. Zinzendorfs Bedeutung liegt hier eher darin, daß er ein freikirchliches Gemeindemodell geformt hat, das immer wieder seine Faszination ausgeübt hat. Während das mittelalterliche Modell der Parochie bis heute die Landeskirche prägt, entsteht in der Brüdergemeine eine selbständige überkonfessionelle Gemeinschaft, die in ihrer Gottesdienstgestalt, seelsorgerlichen Gliederung, Kirchenordnung und -verfassung, kurz in ihrem Gemeindeaufbau eine Alternative zur Landeskirche darstellt.6

2. Die Gemeinde als »Argument gegen den Unglauben« Zinzendorf steht unserer Zeit nahe, weil er das Problem des Atheismus nicht nur kennt, sondern auch als persönliche Anfechtung in seinem Leben erfährt. Schon als Junge von acht Jahren glaubt er, mit den raffiniertesten Ideen der Atheisten kämpfen zu müssen. Dabei unterscheidet er später zwischen dem theoretischen und dem praktischen Atheismus. Zu den Theoretikern zählt er wohl die Philosophen seiner Zeit wie Voltaire oder John Locke und viele andere. Zu den praktischen Atheisten rechnet er offensichtlich diejenigen, die sich in ihrem Leben praktisch nicht mehr nach Gott richten und deren Zahl auch damals nicht klein war. Zinzendorf ist nun nicht der Meinung, daß der Atheismus etwa das Ende der Religion sei, sondern sieht in ihm eine bestimmte Form von Religion. Er fragt: »Warum der atheismus unter die Religionen zu rechnen? Es ist kein Atheismus, der gar keinen Gott statuire. Daher ist die atheistische Secte eine religion. Sie

6 Die Bedeutung des Buches von Wollstadt, Geordnetes Dienen (s. Anm. 4), liegt neben seiner gründlichen wissenschaftlichen Leistung auch in der Tatsache, daß er dieses Modell des frühen Herrnhut von seiner diakonischen Seite her eindringlich dargestellt hat. Man könnte und müßte einmal in ähnlicher Weise die liturgische Vielfalt und Gestaltungskraft der Brüdergemeine geschlossen vorstellen.

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selber halten sich vor Gott, wenn mans untersuchet«.7 Und in derselben Schrift sagt er, daß die »Vernunfts-Lehre Von Gott in ihren unzehligen Geburten und productionen« der »Atheismus pragmaticus« sei. Zinzendorf kann darum sehr bündig zusammenfassen: »Wer Gott im Kopfe fassen wolle etc., der wird ein Atheiste«.8 Die tiefste Wurzel des Atheismus ist demnach der Wille des Menschen, sich Gottes durch den Verstand zu bemächtigen. Freilich kann man die Vernunft auch für den Glauben einsetzen, wenn man sich ihrer Grenzen bewußt ist. Insofern ist die sich absolut setzende Vernunft ein Zeichen dafür, daß der Mensch seinem Schöpfer entfliehen will. »Es steht ihr Vertrauen nicht auf Gott, sie rufen ihn nicht an in der Not, sie wollen sich selber versorgen. Da ist die Ursach alles unsers Verderbens, Zukurzschießens, Zurückbleibens und Verwerfung zu suchen«.9 Soweit Zinzendorfs Beschreibung seiner Zeit. Wie aber lautet seine Antwort, wie reagiert er auf diese Situation? Zinzendorf setzt alles auf Christus. In Christus ist Gott dem Menschen faßbar geworden. Im Wort der Schrift läßt er sich erkennen. Im Rückblick sagt er: »Ich faßte den firmen Schluß, und hab ihn noch, daß ich entweder ein Atheiste seyn, oder an Jesum gläuben muste: Daß ich den Gott, der sich mir außer Jesu Christo offenbaret, und nicht durch Jesum, entweder vor eine Chimere oder vor den leidigen Teufel halten müsse«.10 Wenn Zinzendorf sein Leben lang immer nur eines propagiert, nämlich die tägliche Gemeinschaft mit Christus, dann ist das nicht nur der Ausdruck der pietistischen Frömmigkeit, in der er groß geworden ist, sondern es ist eine bewußte und durchaus reflektierte Antwort auf den Geist seiner Zeit. Und ich denke, in der Radikalität seiner Antwort ist er uns voraus und vielleicht vorbildlich. Allerdings könnte man fragen, ob denn für den modernen, säkularen Menschen der Hinweis auf Christus wirklich überzeugend ist. Wird dieser nicht nur den Menschen Jesus sehen wollen und nicht darüber hinaus kommen? Zinzendorf stellt sich diese Frage ebenfalls und meint, daß schon damals ein Jude im Hinblick auf Phil. 2, 6–11 und Gal. 3,13 Paulus den Vorwurf machte: »Willst du, daß die Menschen vollends Atheisten werden sollen, daß du eine solche lehre aufbringst?«11 Ja man 7 Otto Uttendörfer, Die Entwürfe Zinzendorfs zu einer Religionsschrift, in: Zeitschrift für Brüdergeschichte 13 (1919), 64–98, hier 88f und das folgende Zitat 67. 8 Apologetische Schlussschrift, BHZ B 350, 181. Vgl. dazu Heinz Renkewitz, Autorität und Gebrauch der Bibel bei Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf in der Auseinandersetzung mit dem Atheismus und in den Losungen, in: Pietismus und Bibel, Kurt Aland (Hg.), Witten 1970 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 9), 157. 9 Jüngerhausdiarium 10.12.1759, zit. bei Otto Uttendörfer, Zinzendorfs religiöse Grundgedanken, Herrnhut 1935, 223. 10 Apologetische Schlussschrift, BHZ B 350, 27. 11 Londoner Predigten I, BHZ A 208, 248f.

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machte Zinzendorf selbst den Vorwurf, ein Atheist zu sein, weil er doch an die Stelle Gottes des Schöpfers Jesus Christus setze.12 Zinzendorf hat auf diesen Einwand mit dem Hinweis auf Paulus (1. Kor. 1,21) geantwortet, die Möglichkeit der enttäuschten Ablehnung durchaus gesehen und zurückgefragt: »Warum wurden die ersten Christen und ihre Lehrer vor Atheisten gehalten?« Er sieht sich also in einer Linie mit der Urgemeinde. Zinzendorf weiß wie alle Pietisten, daß man die Wahrheit des Glaubens nicht demonstrieren und beweisen, sondern nur erfahren kann. Eben darum wird er nicht müde, Menschen auf Christus zu weisen und sie zu bitten, das Experiment eines Lebens mit ihm zu wagen. Der lebendige Christus erweist seine Gegenwart heute in der christlichen Gemeinde. Die Gemeinde ist sein Leib. Darum kann Zinzendorf sagen: »Die Gemeine ist das einige Argument gegen den Unglauben. Es braucht gar keine Demonstration..., wenn nur eine Gemeine ist, wenn man nur 3, 4 Leute hinstellt, die so warhaftig in Jesu Namen beisammen sind«.13 In der Existenz einer Gemeinde, die aus der Gewißheit der Gegenwart Christi lebt und nur auf ihn bezogen ist, wird Christus auf der Erde erfahrbar. Die Brüdergemeine damals besaß etwas von dieser Ausstrahlung. Menschen strömten zu ihr, weil sie glaubten, hier etwas von der Lebendigkeit und Realität der Urgemeinde zu erleben. Aber wohl gemerkt, die damalige Brüdergemeine mit ihrem Aktivismus und Missionsdrang schöpfte ihre Kraft aus ihrer absoluten Bindung an Christus, den sie zu ihrem Haupt und Ältesten gewählt hatte. Darin lag für die Außenstehenden die Überzeugungskraft der Gemeine, daß sie wie ein Mann von Christus her lebte und alle Glieder nur das eine Ziel und Zentrum vor Augen hatten. Die eben zitierten Sätze finden sich in einer Rede zum Ältestenfest aus dem Jahr 1749.

3. Die Gemeine als das Ende der Religion Diese Rede enthält in ihrer Fortsetzung noch einen kühnen Satz über die Gemeine: »Anno [17]41 hoben wir die Religion auf und machten eine Gemeine in Red Lionstreet«.14 Was meint Zinzendorf mit diesem Satz? Welche Religion wird aufgehoben? Die Religion der Vernunft? Die Religion des Gewohnheitschristentums? oder die mährische Religion? Zinzendorf 12 August Gottlieb Spangenberg, Darlegung richtiger Antworten, BHZ B 331, 165 (Frage 181) 13 Unitätsarchiv, Zinzendorfreden, Hs 19a, 16.9.1749, S. 122, zit. bei Dietrich Meyer, Der Christozentrimus des späten Zinzendorf. Eine Studie zu dem Begriff »täglicher Umgang mit dem Heiland«, Bern/Frankfurt 1973, 234f. 14 Ebd., 138 (Meyer, 235f).

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will doch wohl sagen: Mit der Wahl Christi zum Generalältesten 1741 hörte die Brüdergemeine auf, eine Religion im Sinne einer menschlichen Verfassung zu sein. Sie ist nun nicht mehr »eine gesattelte Versammlung, eine privilegirte Synagoge, ein durchgesetztes Häuflein«. Sie sieht ihren Charakter nun nicht mehr in einer hierarchischen Ordnung und Kirchenstruktur, in einer juristisch fest geprägten Form, etwa als Körperschaft öffentlichen Rechts. Eine Gemeine ist etwas grundsätzlich anderes, nämlich eine Familie Jesu, eine unmittelbare Gemeinschaft von Jüngern, die um ihren Herrn Christus geschart ist. In dem abschließenden Gebet bittet Zinzendorf, daß die Gemeinde nur »Frontispice und Facade« sein möge, hinter der Christus selbst steht. Es geht ihm um die unmittelbare Herrschaft Christi, was doch ohnehin der Sinn der Protestantischen Religion sei. Wir spüren: Das ist ein gefährlicher Satz, der verdächtig und schwärmerisch klingt. Er steht auch nicht allein, und man darf ihn nicht verabsolutieren. Zinzendorf zog 1741 mit dem Gefühl nach Amerika aus, daß er nun die Welt der Religionen des alten Europa endgültig hinter sich lasse. In Amerika wollte er nur der »Gemeine Gottes im Geist« leben, die er auf ökumenischen Konferenzen zu sammeln hoffte.15 Seinen Bischoftitel legte er ab, er wollte nur noch Bruder Ludwig, der schlichte Jünger Jesu sein. Aber das Experiment scheiterte. Die ökumenischen Konferenzen zerbrachen an dem Egoismus der Gruppen. Die Teilnehmer verloren bald das Interesse, und die, die blieben, gehörten zu den Freunden der Brüder. Aus der erhofften Gemeine im Geist wurde die Brüdergemeine. Zinzendorf, der die Religionen hinter sich glaubte, lernte in Amerika den Wert der Religionen als notwendiges Gehäuse, als den hilfreichen »Rock« kennen, der durch seine äußeren Formen, durch sein Bekenntnis und seine Traditionen, schützt und wärmt. Nach der Rückkehr aus Amerika wollte er dem relativen Recht der Religionen zur Geltung in der Brüdergemeine selbst verhelfen und unterschied nun zwischen der lutherischen Gemeinde Herrnhut und der reformierten Gemeinde Herrnhaag oder später Neuwied. Ja, er gliederte die gesamte Gemeine nach der religiösen Herkunft ihrer Glieder und setzte für die einzelnen Konfessionsgruppen »Tropenbischöfe« und Administratoren ein, die insbesondere bei den Synodalkonferenzen eine kritisch beobachtende Funktion ausüben sollten.16 Keiner soll die Konfession, aus der er 15 Vgl. dazu Fritz Blanke, Zinzendorf und die Einheit der Kinder Gottes, Basel 1950, 28–53; ferner Peter Vogt, Zinzendorf und die Pennsylvanischen Synoden, in: UF (s. Anm. 2) 36 (1994), 5–62. 16 Zur Tropenidee allgemein s. Heinz Motel, Zinzendorf als ökumenischer Theologe, Herrnhut 1942, 73–79, 118ff; Theodor Wettach, Kirche bei Zinzendorf, Wuppertal 1971, 61–71; Dietrich Meyer, Zinzendorf und die reformierte Kirche, in: Herrnhuter und Reformierte. Das Verhältnis der Brüder-Unität zu den reformierten Kirchen in Geschichte und Gegenwart, Martin Theile (Hg.), Bern 1992 (Texte der Ev. Arbeitsstelle Ökumene Schweiz, 14), 13–30.

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kommt, aufgeben, sondern als seine Mutterkirche schätzen. Sie ist notwendig, solange wir auf der Erde leben. Aber dennoch gilt: die ererbte mütterliche Religion ist nicht alles. Die Gemeine ist mehr, sie ist das Ziel, auf das es zugeht. Die Brüderkirche ist die verbindende Klammer der unterschiedlichen Konfessionen, Christus das eine Haupt aller. Die Gemeine ist seine Braut, die für die Endzeit geschmückt wird und die ihm entgegengeht. So bekennt die Brüdergemeine am Ende eines jeden Abendmahls noch heute: »Amen, komm Herr Jesu, ruft die Braut«.17 Mit dieser Sicht war Zinzendorf seiner Zeit weit voraus. Eine Gemeine aus lutherischen, mährischen und reformierten Christen, das war für das damalige kirchliche Verständnis unerträglich. Diese Vermischung von Bekenntnissen, diese Mißachtung der unterschiedlichen Gottesdienstformen könne, so meinte man, nur zu Gleichgültigkeit, Indifferentismus und Schwärmerei führen. Daß die Gemeine in Christus und seinem Verdienst eine klare Bekenntnisgrundlage hatte, wollte und konnte man wohl nicht sehen oder hielt es für nicht ausreichend. Es dürfte heute allgemeine Anschauung sein, daß die Brüdergemeine im Konzert der verschiedenen Kirchen ihre eigene Stimme als evangelische Freikirche habe und einen bestimmten ekklesiologischen Kirchentyp vertrete. Die Brüdergemeine vertritt ihre Position und ihren Standort innerhalb der ökumenischen Skala. Das Bekenntnis zu Christus ist inzwischen als Grundkonsens aller Kirchen anerkannt und gilt als Mindestforderung und Basis. War es das, was Zinzendorf gemeint hatte? Keineswegs! Zinzendorf wehrte sich heftig gegen die Brüdergemeine als einer eigenen Freikirche, ihm ging es um die weltweite Gemeine Jesu, die mit den empirischen Konfessionen und Religionsformen nichts zu tun hat. Ihm lag an der unmittelbaren Gemeinschaft Christi in allen Kirchen, an der Vernetzung aller wahren Kinder Gottes quer durch die religiösen Gemeinschaften hindurch. Diese Kette von wahren Gemeinen war als Gegengründung gegen das Reich Satans gedacht und sollte der Vorbereitung des Reiches Gottes dienen. Zinzendorfs ökumenische Vision und Gemeinidee als der Braut des Lammes ist mit der ökumenischen Bewegung als einer weltweiten Organisation von Kirchen nicht eingelöst und überflüssig. Karl Barth hat wohl recht, wenn er in seinem Gespräch von 1961 sagte, daß die Brüdergemeine »Ökumene für die Ökumene« bleiben sollte.18 Die eschatologische Vision von Christus als dem Bräutigam, der sich seine Gemeine 17 Über die Gemeine als eschatologische Größe und ihre eschatologische Bestimmtheit s. Wilhelm Bettermann, Theologie und Sprache bei Zinzendorf, Gotha 1935, 122–146. 18 Protokoll des Gesprächs zwischen Professor Dr. Karl Barth und Vertretern der Brüdergemeine am 12. Oktober 1960 in Basel, in: Civitas praesens. Ein Gespräch in der Brüdergemeine, Königsfeld, Nr. 13, 1961, 3–29, hier 29.

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quer durch alle »Religionen« sucht und alles Kirchenwesen und alle ekklesiologischen Strukturprinzipien grundsätzlich relativiert, bleibt als Anfrage an jede Kirche bestehen. Inwieweit man von Zinzendorf her zu einem interreligiösen Dialog und zu einer neuen Sicht und Einschätzung der Religionen gelangen kann, möchte ich hier nicht beurteilen. Doch ist es aufschlußreich, daß es einen solchen Versuch innerhalb der Brüdergemeine gibt.19

4. Jesu Tod als Enthüllung des wirklichen Menschen und seine Genesung Aus dem Gesagten ergibt sich, daß bei Zinzendorf alle Fäden und Gedankenlinien auf Christus und seinen Opfertod hinauslaufen, und darum darf das, was ihm wohl das Wichtigste war, nicht verschwiegen werden. Wenn Zinzendorf von Christus redet, dann immer von dem Gekreuzigten, von dem Schmerzensmann, von dem Schöpfer als dem Heiland. Nichts lag ihm mehr am Herzen als dies. Warum? Weil sich in dem Tod Jesu Gott als der Liebende und Barmherzige offenbart hat in einer unendlichen Herablassung in die Tiefe menschlicher Schwäche und Schuld. Der Tod Jesu ist der Beweis und das Siegel, daß es Gott gnädig mit dem Menschen meint. Er ist der Beleg dafür, daß Gott vor keinem Schmerz, keinem Leid, keinem Schmutz, keiner menschlichen Bosheit und Verlassenheit zurückschreckte, um dem Menschen nahe zu sein und ihm so den Weg in sein Reich zu öffnen. Wir sprachen in diesen Tagen in einem Kreis davon, daß diese Botschaft in unserer Zeit kaum noch wahrgenommen wird, weil der moderne Mensch gar keine Notwendigkeit sieht, gerettet zu werden, daß er gar kein Bewußtsein mehr von seiner Bosheit und Schuld hat, sondern allenfalls Fehlleistungen eingesteht. Das ist in der Tat ein Kennzeichen unserer Zeit. Was könnten wir da von Zinzendorf lernen? Zinzendorf war der Meinung, daß es völlig falsch sei, dem Menschen erst einmal ein Bewußtsein seiner Sündigkeit zu vermitteln, sein Selbstbewußtsein zu brechen und die Buße als Voraussetzung seiner Bekehrung zu erwarten. Dieses Verfahren des hallischen Pietismus, das bei Kindern im 19 Vgl. dazu das »Herrnhuter Projekt Bern« von Pfarrer Hartmut Haas und die Publikation: Auf dem Weg zum Dialog der Religionen. Zinzendorfs Begegnungen mit fremden Kulturen und das interreligiöse Gespräch heute. Textsammlung einer Veranstaltung zum 300. Geburtstag von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf in Beteiligung der Theologischen Fakultät, der Katholischen Erwachsenenbildung und der Herrnhuter im Zinzendorfhaus Basel, Hartmut Haas (Hg.), Februar 2000.

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Pädagogium zu funktionieren schien, hatte schon bei ihm selbst versagt. Er wollte gerade umgekehrt bei Christus einsetzen und dem Menschen schlicht die Geschichte der Passion Jesu erzählen und so von der Liebe Christi überzeugen. Erst da, wo ein Mensch die Liebe Christi erkennt und empfindet, wo er sie an sein Herz heranläßt, wird er ein Gespür für den eigenen Mangel an Liebe und Vertrauen entwickeln. Erst dann wird ihm deutlich werden, wie wenig er Christus und das heißt Gott gerecht wird, wie wenig seine Taten den Taten Christi entsprechen. Wie hieß die erste Losung, die Zinzendorf der Gemeinde am 28. Mai 1728 bei der Abendsingstunde auf den Weg in die Nacht mitgab: »Liebe hat ihn hergetrieben, Liebe riß ihn von dem Thron, und ich sollte ihn nicht lieben?«20 Aus diesem Wahrnehmen und Nachgehen des Weges Christi folgen die Beschreibungen eines Christen, die für Zinzendorf so typisch sind. Es folgt daraus die »Beugung« als Ausdruck der Hochachtung, es folgt daraus die »Scham« als Ausdruck innerster Beschämung über eigenes Versagen und Zurückbleiben. Es folgt daraus die »Kompunktion«, das »Zerfließen« des Herzens, das Kleinwerden und Kindlichsein. Es folgt daraus das Wissen um die eigene »Armut« und darum das »Sich-Anhängen« und »Sich Bergen« bei Christus als dem Zufluchtsort eines wunden Herzens. Wir werden unsere Beziehung zu Christus heute anders beschreiben. Zinzendorf macht uns Mut, unsere Liebesbeziehung zu Christus in der Sprache unserer Zeit auszudrücken, Worte zu finden, durch die wir dem heutigen Menschen nahe bringen können, was es bedeutet, mit Gott in Berührung zu kommen und als den Halt des Lebens zu entdecken. Wir leben in einer Zeit, wo Christi Versöhnung und Todesopfer zwar als sein menschliches Sterben Mitgefühl erregt, doch findet man wenig Gespür für das, was Erlösung als die neue Freiheit eines Christen, als Teilhabe am Reich Gottes, als Weltwende, als Beginn eines neuen Äon wirklich bedeutet. Der Tod Christi, seine Erlösung, sein Verdienst ist der Vernunft nicht einsichtig. Zinzendorf hat wohl recht, wenn er meint, daß Jesu Tod das größte Wunder ist, das sich nur dem Glaubenden erschließt. Jesu Tod ist für den natürlichen Menschen keineswegs leichter als seine Auferstehung zu glauben. Darum legt Zinzendorf alles Gewicht darauf, dem modernen, säkularen Menschen zu zeigen, daß er ohne Jesu Verdienst als Ermöglichung eines Lebens aus der Vergebung nicht wahrhaft glücklich werden kann, daß eine Kirche, die nicht in ihm die Quelle zu Versöhnung und Einheit findet, die nicht in ihm die Lösung ihrer eigenen Schuldfrage erkennt, eine verweltlichte »Religion« ist, daß ein Christ, der nicht in steter Verbindung mit Christus als seinem Freund und Stellvertreter vor Gott lebt, an 20 Renkewitz, Die Losungen, 7 und: Alle morgen neu, 8 (wie Anm. 3).

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sich verzweifeln muß, weil er nur in der Betrachtung des Bildes Christi sein wahres Menschsein, sein wirkliches Glück finden kann.

5. Glauben als Herzenssache, als Liebhaben, Empfinden und Genießen Zinzendorf lebte in einer Zeit, in der die Frage nach dem Glück und der Glückseligkeit beherrschend war, insbesondere in Frankreich und England, den damals geistig prägenden Ländern. Nach Locke ist Glück ein Maximum von pleasure. Das Gute ist das, was geeignet ist to produce pleasure in us. Und Voltaire sieht in dem Glück eine Folge von Vergnügungen, ein plaisir, wobei plaisir nicht dasselbe ist wie das, was wir heute darunter verstehen, sondern es ist im Sinne des 18. Jahrhunderts ein »sentiment agréable«. Das Glück ist ein Zustand des Friedens und der Zufriedenheit.21 Aber der Bezug zur Wahrheit verschwindet, die Frage nach dem, was zutiefst und bleibend glücklich macht, bleibt auf der Strecke. Zinzendorf kennt seine Zeit und reagiert auf ihre Fragen und Wünsche. Darum bezieht er den christlichen Glauben auf dieses Glücksverlangen des Menschen. Charakteristisch ist sein Wort: »Nicht darin besteht das Wesen des Christentums, daß man fromm sei, sondern daß man glückselig sei. Denn ein Christ ist durch die Gnade Jesu und um Jesu willen heilig und unsträflich«.22 Zinzendorf will mit solchen Sätzen das oberflächliche Gewohnheitschristentum seiner Zeit schockieren. Nicht in Moral, nicht in Frömmigkeit als christlicher Tugend besteht das Wesen des Glaubens, sondern in dem uns durch Christus erworbenen Verdienst und dem daraus fließenden Empfinden von Dankbarkeit und Glück. Wenn man Zinzendorf liest, so springt einem entgegen, daß Glaube für ihn ein stetes Wohlsein bedeutet. So lauten die beiden ersten Fragen seines Katechismus von 1740: »Was ist doch die Ursache, daß dir immer wohl ist? Antwort: Ich weiß, an wen ich gläube (2. Tim 1,12). Macht das Gläuben so guter Dinge? Der Gerechte lebt vom Glauben (Habak 2,4; Röm 1,17; Gal 3,11)«.23 Der Glaube ist eine Leidenschaft des Herzens, ist ein Verliebtsein in Christus, das heißt, es ist eine Angelegenheit, die mich im Innersten bewegt, die mein Empfinden, Tun und Wollen betrifft, und die ihre Triebkraft von Christus her empfängt. Glaube ist für Zinzendorf eine feste Zu21 Robert Spaemann, Art.: Glück, Glückseligkeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Joachim Ritter (Hg.), Bd. 3, Basel/Stuttgart 1974, Sp. 679–707, hier Sp. 699f. 22 Sokrates, BHZ A 109.2, 32. 23 Lehrbüchelgen 1740, BHZ A 140.1, Frage 1 und 2.

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versicht, eine fröhliche Sache, weil er ein von Christus Beschenktwerden ist. Die Gewißheit, das Haben und Erfülltsein des Glaubens überwiegen bei weitem den Entscheidungs- und Wagnischarakter, den der Glaube auch haben kann, wenn er in der Not und Verzweiflung des Lebens als der dunkle, blinde Glaube unser letzter Halt und Trost ist, der hofft, da man nicht sieht. Zinzendorf antwortet auf die Frage: »Was ist das Gesetz des Glaubens? Daß alles Lust ist, was im Alten Testament Last war«.24 Der Glaube ist die Lust des neuen Menschen, ist Seligkeit, ist Genuß. Man bedenke, daß das Wort »Genuß« damals noch keinen so negativen Klang hatte wie nach der Kritik Immanuel Kants. Genießen bedeutete damals noch ein »ursprüngliches Aufschließen von Wirklichkeit«,25 ein unmittelbares Da-Haben eines körperlichen oder geistigen Seins. Wenn Herder sagt: »Existenz ist Genuß«, so könnte man für Zinzendorf abwandelnd sagen: Christsein ist ein Genuß, und zwar der Wohltaten Christi. Im Genuß öffnet sich der Menschen für das, was das Herz erfreut, im Genuß nehme ich mit allen Fasern meines Wesens den Gegenstand meines Glücksgefühls auf. In einer Rede an die Kinder, in der er den Sinn der »Heilandsreligion« beschreibt, geht er von dem englischen persuasion (Überzeugung) und dem holländischen gevoelen (Empfindung) aus, hält aber beide Begriffe nicht für ausreichend. Es müsse vor allem der ursprüngliche Sinn des Wortes religio, den er mit »Anschliessung an jemand« wiedergibt, also die Adhaesion an das Original, an den Heiland hinzukommen. Und am Ende ergänzt er noch einmal im Gedanken an Christi Erlösung: »Persuasion und Gevoelen ist da, wäre nur der tägliche stündliche genuß da!«. Das Ziel der Religion sei eben dies, »der seligkeit theilhaftig werden«.26 Das heißt doch: Mehr als Überzeugung und Empfindung ist die aus der Aneignung der Erlösung Christi fließende Freude und Dankbarkeit, das Genießen seiner Gnade. Was es bei Zinzendorf zu genießen, zu schmecken und zu fühlen gibt, ist das Verdienst, die Frucht des Todes Jesu. Man lebt »in dem beständigen Genuß seines Verdienstes«.27 Es ist die Freude daran, daß durch Jesu Tod eine weltgeschichtliche Veränderung geschehen ist, die er mit dem Wort »Erlösung«, Erlösung von dem Satan und der Macht des Todes ausdrückt. Jesu Tod hat die Versöhnung mit Gott gestiftet. Darum ist jetzt ein völlig 24 Apologetische Schlussschrift, BHZ B 350, 282. 25 G. Biller u. R. Meyer, Art. Genuß, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Joachim Ritter (Hg.), Bd. 3, Basel/Stuttgart 1974, Sp. 316–322, hier Sp. 319. 26 Kinder-Reden, BHZ A 212, 447–454. Das ganze Zitat lautet: »Allemal obtinirt der gedanke: ›hätte ichs nur, die sache ist nur allzu wahr; Persuasion und Gevoelen ist da, wäre nur der tägliche stündliche genuß da!‹ Das ist der sinn, warum ihr beysammen seyd; das ist die grosse absicht, warum man einer solchen heerde kinder pfleget und wartet: daß sie der seligkeit theilhaftig werden sollen, daß an ihnen nicht verloren sey, sein rein Blutvergiessen, daß sie sich weiden in seinem Verdienst und Leiden bis zum verscheiden in die ewigen freuden« (454). 27 Letzte Reden, BHZ A 217, 116.

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neues Verhältnis zu Gott möglich, das man nur als Liebesverbindung beschreiben kann. Das »Sich-weiden« in seinem Tod ist darum der Genuß seiner Liebe zu uns.28 Ich ehre Christus, indem ich sein Sterben für uns genieße. Wie will ich denn sonst Liebe erwidern, wenn nicht zunächst dadurch, daß ich sie auskoste, empfinde, mich ihr überlasse und liebe. Erst wo das geschehen ist, wird auch das andere, der Beweis durch die Tat, folgen. »Im Genuß sorgt man für sich selbst«29, sagt Zinzendorf. Genuß ist mehr als die Erkenntnis oder bloße Anerkenntnis seiner Liebe. Im Genuß lasse ich die Bewegung meines Herzens, die Erregung meiner Sinne, die Begeisterung meines Verstandes angesichts der Liebe Gottes zu. Ich denke, hier hat Zinzendorf etwas Wichtiges erkannt, das für unsere Zeit Bedeutung gewinnen könnte. Aber, wenden wir ein, kann man Christus und sein Werk für uns wirklich »genießen« in dem heutigen Sinn des Wortes? Ist das heute ein sachgemäßer Ausdruck? Ist eine solche Redeweise nicht sehr gefährlich und leistet einem billigen, oberflächlichen Halleluja-Enthusiasmus Vorschub, führt sie nicht ins Schwärmertum und eine egoistische Selbstzufriedenheit? Muß man einer so genußsüchtigen Zeit wie der unsrigen nicht vom Ernst des Glaubens, von den Konsequenzen der Glaubensentscheidung reden? In der Tat hat sich der Gebrauch des Wortes »Genuß« heute verschoben. Das innerliche Erfülltsein von einer Wahrheit, das Ergriffensein von dem Werk Christi für uns nicht nur als einmaliges Ereignis, sondern als eine die ganze Existenz bleibend prägende Realität würden wir heute anders bezeichnen. Was durch den Begriff des »Feiern« gesagt werden soll, etwa beim »Feierabendmahl«, entspricht in mancher Hinsicht eher der Absicht Zinzendorfs. Daß der Begriff des »Genießens« Gefahren heraufbeschwor, die Zinzendorf unterschätzt hat, zeigten die 40er Jahre des 18. Jahrhunderts, die Periode schwärmerischen Überschwangs in der Wetterau. Zinzendorf glaubte, vor allen Gefährdungen geschützt zu sein, weil er die Liebesleidenschaft des Herzens immer auf den Tod Christi bezog. Daß aber die grausame Realität des Kreuzestodes Christi ihren Sinn zu verlieren droht, wenn sie nicht zugleich als Gericht über die Sünde des Menschen verstanden wird, hat er nicht genügend gesehen. Er hat aber die lutherische Dialektik des »sündig und gerecht zugleich« (simul iustus et peccator) festzuhalten versucht und seiner Gemeine ihre dauernde Abhängigkeit, ihre tägliche Angewiesenheit auf Christus eingeschärft30. Wir leben heute in einer Vergnügungsgesellschaft sondergleichen. Jeder meint, dies und jenes immer wieder von neuem genießen zu müssen, vom 28 Zu diesem Begriff s. Dietrich Meyer, Christozentrismus (s. Anm. 13), 92f. 29 Einige Reden, BHZ A 216, 11, 25. 30 Vgl. dazu Samuel Eberhard, Kreuzes-Theologie, München 1937, 155–161.

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genußvollen Essen bis zum genußreichen Ferienwochenende. Einer solchen Gesellschaft hat Zinzendorf durchaus etwas zu sagen. Der Christ soll aus der Freude leben, ja, er soll glücklich sein. Aber es geht um die dauerhafte, eine den Menschen von Grund aus verwandelnde Freude, um ein ewiges Glück. Das ist mehr als der augenblickliche Genuß und das einmalige Glückserlebnis. Dauerhafte Freude, bleibender Genuß muß tief verankert sein. Er braucht einen Grund, der über die Grenze des Todes hinausreicht, der seine Kraft angesichts des menschlichen Sterbens bewährt. Es genügt nicht, wenn der Genuß die Sinne und Empfindungen momentan befriedigt, er braucht, wenn er dauerhaft sein soll, eine religiöse Verankerung. Seine Wurzel muß in Gott hinabreichen. Zinzendorf erkennt den Ursprung aller Freude in dem Sieg des Todes Jesu über Vergänglichkeit und Schuld. Die Wahrheit allein gewährt einen reinen, bleibenden Genuß. Ich könnte zahlreiche Beispiele bringen für Menschen des 18. Jahrhunderts, die in der Brüdergemeine diesen freudigen Glauben fanden, der ihnen Befreiung aus pietistischer Enge und Seelennot brachte.31 Auch heute gibt es Menschen, die sich aus Depressionen und der so verbreiteten Sinnleere des Daseins nach Sinnerfüllung und echter Lebenstiefe sehnen und dies bei Christus finden könnten. Wenn es gelingen würde, den christlichen Glauben als das wahre Glück und die bleibende Freude für den heutigen Menschen verständlich zu machen, wie es Zinzendorf in seiner Zeit wenigstens für einen Teil der Menschen vermochte, so wäre viel gewonnen. Die Frage nach Zinzendorfs Gegenwartsbedeutung führt uns, wie könnte es anders sein, unversehens zu einer Hinterfragung und Deutung unserer eigenen Zeit. Bei einem Seminar mit Vikaren über Zinzendorfs Theologie fragte ich die Anwesenden am Schluß, was sie bei Zinzendorf gelernt hätten. Die Antwort lautete: Zinzendorfs Antworten und Lösungen könne man so nicht mehr übernehmen, aber Zinzendorf habe sie angeregt, Fragen zu stellen und nach eigenen Lösungen zu suchen. Zinzendorf hat in seiner phantasievollen, unkonventionellen Sprache als religiöser Autodidakt von 31 Vgl. z. B. den Lebenslauf von Johann Leonhard Knoll (1718–1791), abgedruckt bei HansChristoph Hahn u. Hellmut Reichel (Hg.), Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder, Hamburg 1977, 125–130. Er sagt von sich, daß er »ein sehr gesetzliches Leben führte und keine vergnügte Stunde weder bei Tag noch bei Nacht hatte«. Er schloß sich in Basel den Separatisten an, die eines Tages ein Herrnhuter besucht. Er berichtet: »Wir gingen also alle in die Versammlung. Schon während des Gesangs merkte ich, daß der Geist Gottes in derselben zugegen sei, und auf allen Gesichtern nahm ich eine Heiterkeit wahr, die ich unter den Separatisten mit Schmerzen immer vermißt hatte. Wir waren nun in voller Erwartung, was geredet werden würde. Der Bruder nahm zu seinem Text die Worte: ›'So lebe, aber nun nicht mehr ich, sondern Christus lebet in mir etc.’, und erklärte, was das Leben in Christo Jesu sei, wenn man Vergebung der Sünden in Seinem Versöhnungstod gefunden habe. So hast du noch niemand reden gehört, dachte ich, das fehlt dir und allen deinesgleichen.« Nach seinem Anschluß an die Brüdergemeine mußte er freilich noch eins hinzulernen, daß der Mensch in sich ein armer Sünder bleibt. So wurde er schließlich ein »armer, aber selig gemachter Sünder« (126).

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der Bibel her Themen und Bilder bedacht, besungen und in der Gemeinde zu verlebendigen gesucht, die trotz oder auch wegen ihrer Sperrigkeit, Anstößigkeit oder expressionistischen Steigerung und Wiederholung eine befruchtende Wirkung besitzen.

Personenregister Der Name Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von wird nicht ausgewiesen. Aalen, Leiv 12f, 18f, 27, 32, 172, 269 Albertini, Johann Baptist von 265 Altenberg 154 Alverdes, Paul 144 Ammon Sächsischer Oberhofprediger 43 Andresen Bruder 237 Angelus Silesius 31 Anhalt-Dessau, Leopold von 230 Anhalt-Köthen, August Ludwig Fürst von 76 Anton, Joseph 102f Anton, Paul 46, 48, 51 Ariés, Philipp 132 Arndt, Johann 25 Arnold, Gottfried 17, 134 Ashmead, John 90 Atwood, Craig 9, 140, 174, 183, 185, 187f Barth, Fritz 244, 253 Barth, Karl 9, 239–253, 279 Basedow, Johann Bernhard 236 Baumgarten, Siegmund Jakob 220, 223–226, 257 Baus, Christoph 80–85, 87 Becher 97 Becherer, Johann Georg 216f, 221 Bechler, Theodor 15, 166 Becker, Bernhard 12f, 18, 30, 268f Becker, John 237 Beckerin 45 Bengel, Johann Albrecht 12, 17, 30, 34, 212, 215–219, 226, 257f Benz, Ernst 34 Bernfeld, Siegfried 126 Bernhard von Clairvaux 31 Bethke, Eberhard 135 Bettermann, Wilhelm 15, 25, 178, 269, 279 Beyreuther, Erich 12, 31, 42, 50, 115, 127, 142, 164, 217 Bilfinger, Georg Bernhard 210 Biller, G. 283 Blanckmeister, Franz 37, 40f, 47 Blanicki, Wenzeslaus 110, 112 Blanke, Fritz 278 Blaufuß, Dietrich 46 Blücher, Gebhard Leberecht von Wahlstadt 230 Blumhardt, Christoph 247

Blumhardt, Johann Christoph 247 Bochinger, Christoph 41f Böhler, Peter 175, 190, 200 Böhner, Verone 122 Bö(h)nisch, Georg 81–87, 95 Bohnackerin 116 Bonhoeffer, Dietrich 135 Bose, Karl Gottfried von 42 Boulogne, Bischof von (Pierre de Langle) 25 Bourignon, Antoinette 19 Bouton, Johann von 81 Bovet, Felix 263f Bräker, Ulrich 147 Brand von 71 Brandenburg-Bayreuth-Culmbach, Sophie Christiane von 137 Brandt, Louise 191 Braun, Ernst Konrad von 65 Brecht, Martin 7, 9, 26, 228, 258 Brinkmann, Carl Gustav von 262f Bruce, David 87 Brumm, Auguste Ottilie geb von Zezschwitz 123 Buchner, Johann Heinrich 268 Buddeus, Franz 16 Bultmann, Rudolf 246 Burckhardt, Johann Rudolf 253 Burkhardt, Guido 165 Busch, Eberhard 9 Busse, Joachim 109 Byuchanse, Abraham Isaac und Johann 82 Callenberg, Johann Heinrich 44 Cammerhof, Johann Friedrich 180 Campenhausen, Balthasar von 43 Canstein, Carl Hildebrand von 44–46 Canterbury, Erzbischof von 34 Carl, Johann Samuel 22 Caspari Kaufmann 236 Castell-Remlingen, Ludwig Friedrich Graf zu 78 Cejka, Martin 103 Cennick, John 202–205 Christoph, Anna Dorothée 130 Claggett, M. 195 Claudius, Matthias 150 Cocceji, Freiherr von 108

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Personenregister

Comenius, Johann Amos, 16, 189, 264 Conrads, Norbert 127–129, 132 Cossart, Heinrich 190 Crajesteijn, Isaak 70 Cranz, David 101, 103–110, 118, 121, 124, 176, 186 Crews, Daniel 176 Crisenius, Daniel 42, 46, 50, 57, 62 Cröger, Ernst Wilhelm 254, 257 Cyprian, Ernst Salomo 222 Daniel, Thilo 7, 24, 36 David, Christian 28, 127, 208 Decker, Klaus-Peter 34 Delitzsch, Franz 267 Dellsperger, Rudolf 30 Derfflinger, Georg von 230 Dippel, Johann Konrad 17, 24, 158 Dober, Leonhard 106, 164, 166 Dober, Martin 121, 197f Dolch, Joseph 132 Dorn, Melchior 69 Drees, Heinrich 41 Ebeling, Gerhard 252 Eberhard, Samuel 30, 33, 245, 255, 269, 284 Ecklin, W. 254 Eckstein, Johannes 92, 95 Eichendorff, Joseph Freiherr von 270 Einsiedel, Catharina Constantia von 43f, 48–51 Einsiedel, Haubold von 43 Elers, Heinrich Julius 46 Elger Graf 31 Emrich, Wilhelm 142 Endt, Theobald 89 England, König von 77 Erb, Peter C. 83 Erbe, Hans-Walter 143, 181, 186, 258 Erbe, Helmut 180 Evans, Edward 90 Faul 47 Ferdinand Deutscher König 97 Feti, Domenico 266 Feuerbach, Ludwig 267 Fischer, Loth 19 Fischer, Rosina verh. Nitschmann 122f Fontane, Theodor 271 Francke, Anna Magdalena 44 Francke, August Hermann 21, 37f, 41f, 44–49, 51–53, 55–62, 132, 234 Frantz, John B. 88

Freeman, Arthur J. 144, 176, 181 Fresenius, Johann Philipp 78, 91–95, 211, 215, 217, 219–222, 225, 232, 257 Freud, Sigmund 271 Freylinghausen, Johann Anastasius 170 Friedensburg, Walter 39 Friedrich, Tobias 101 Fries, Johann Jakob 262f Friesen, Heinrich von 47 Froereisen, Johann Leonhard 257 Fuchs, Ernst 252 Fürstenberg, Anton Egon von 47 Fuhrmann, Wilhelm David 259 Gambold, John 200f Gärtner, Friedrich 243 Geiger, Gottfried 25 Geiges, Robert 209–213, 216f Gelzer, Heinrich 243 Gensichen, Hans-Werner 172 Gerhard, Elmer 71, 77–79, 84, 91–95 Gersdorf Geheimer Rat 78, 82 Gersdorf, Abraham von 108 Gersdorf, Friedrich Caspar von 67, 69–71, 73, 75f Gersdorf, Friedrich Gottlob von 69, 73 Gersdorf, Georg Ernst von 72, 103 Gersdorf, Henriette Katharina von 7, 22, 43, 45f, 68, 102f Gersdorf, Herr von 113 Gersdorf, Marie Sophie von 43 Gibson, Edmund 197 Gichtel, Johann Georg 19 Gierl, Martin 40 Glaubrecht, Otto (Rudolf Ludwig Oeser) 265 Glitsch, Alexander 43 Globig, Herr von 61 Gloege, Gerhard 31 Goebel, Max 17f Goethe, Johann Wolfgang, 9, 134f, 144, 146, 150, 229f, 232–238, 258, 260 Goettling, Johann Heinrich 57f Gold-Schmidt, Wenzel 104 Gollwitzer, Helmut 252 Gotter, Ludwig Andreas 134 Göttling, Johann Heinrich 57f Grassmann, Andreas 109f Gregor, Christian 134, 137, 232, 237, 260 Greschat, Martin 37, 39, 42, 50, 52 Groß, Andreas 224 Gruber, Eberhard Ludwig 26, 148 Grünberg, Paul 20 Gründler, Johann Ernst 163

Personenregister Gryphius, Andreas 145 Günther, Johann Christian 127 Gussenbauer, Johann Balthasar und Ann 191 Haas, Hartmut 280 Häckert Pastor 215 Hänisch, Christian 70 Häntzschel, Johann Gottfried 212 Haferung, Johann Kaspar 62f Hagenbach, Karl Rudolf 265 Hahn, Hans-Christoph 9, 136, 188 Haidt, Johann Valentin 257, 271 Hallart, Ludwig Nikolaus von 43–46, 48f Hallart, Magdalena Elisabeth von 38, 43–52 Hamilton, Kenneth 78, 81, 85, 88, 174, 180f, 184f Hamilton, Taylor J. 78, 81, 85, 88, 174, 180, 184f Hans, David 103 Hark, Friedrich Sigwart 72, 75f Hehl, David Matthäus Gottfried 209 Heine, Heinrich 266 Hencke Hausprediger 45, 51 Herberger, Valerius 31 Herder, Johann Gottfried 231, 258 Herpel, Otto 254 Herricht, Hildegard 41f Herrmann, Wilhelm 239 Herrnschmidt, Johann Daniel 48, 52 Hertel, Johann 78 Hessen-Darmstadt, Elisabeth Dorothea Landgräfin von 20 Hickel, Andres 102f Hirsch, Emanuel 20, 249 Hirschel Geschwister s. auch Jelinek 113 Hirschel 110 Hoddis, Jacob van 159 Hök, Gösta 255 Hoffmann, August Heinrich von Fallersleben 266f Hoffmann, Balthasar 65, 71, 73, 77, 79, 84, 93, 95 Hofmann (Wittenberg) 257 Hofmann, Carl Gottlob 11 Hofmann, Martin 26 Hofmannsthal, Hugo von 154 Hohberg, Otto Konrad Feiherr von 67 Holland, E. 195 Holland, William 195, 200 Hollstein, Carl 46 Horne, W. 195 Hrejsa, Ferdinand 99 Hübner, Christoph 93

289

Hübner, Georg 89 Huober, Hans-Günther 142 Hus, Jan 189 Hutton, James E. 179f, 184, 191–195, 200f, 205 Hutton, Louise 193 Ingham, Benjamin 191f, 201 Iwand, Hans Joachim 30 Jablonsky, Daniel Ernst 105, 112, 201 Jacobi, Juliane 132 Jacobs, E. 60 Jacobs, Edmund 41 Jacobs, Eduard 20, 42 Jäckel, Balthasar 77 Jäschke, Andreas 107–110, 113f Janeway, James 130 Jannasch, Hans Winderkilde 255 Jannasch, Wilhelm, 19, 45–47, 255f, 259 Jelinek, Zacharias 113 John, Martin 65 Jony 55 Jordan, Polycarp 163 Jung-Stilling, Johann Heinrich 231, 236 Kadelbach, Oswald 70f Kämpf, Johann Philipp 148 Kant, Immanuel 245, 283 Karl VI. Kaiser 65–68, 71f, 94, 98 Keller, Gottfried 154 Kemper, Hans-Georg 140, 143f, 149, 154, 156, 159f Kinchin, Charles 191 Kinkel, Gary Steven 177, 185 Klaiber, Karl 261 Klettenberg, Susanna Katharina von 232–236 Knapp, Albert 134, 254 Knauth, Christian 68 Knoll, Johann Leonhard 285 Kölbing, Friedrich Ludwig 120, 124 Kölbing, J. W. 254 Kölbing, Paul 254 Kölbling, Friedrich Wilhelm 142 König, Christian Gottlob 149 Körner, Ferdinand 72–74 Köstlin, Julius 34 Kolb, Christoph 20 Kottwitz, Hans Ernst Baron von 267 Kramer, Gustav 43, 49 Kriebel, Caspar 93 Kriebel, Howard Wiegener 76, 83 Kriebel, Lester K. 70, 84, 91–93

290

Personenregister

Kriebel, Melchior 77, 93, 95 Kriegelstein, Anna geb. Gold 122, 127 Kromayer, Johann Adam 57 Krüger, Hermann Anders 264 Kucera, Josef 97 Kühnel(in), Susanna 116f, 119–125 Kühnel, Friedrich Ältester 121f, 124 Kümmerle, Julian 143, 149, 156, 159f Kuhlmann, Quirinus 146 Kynau von 71 Lachenal, Werner von 123 Lampe, Friedrich Adolf 134 Lange, Joachim 40, 45f, 56f, 60f, 134, 223f Langer, Ernst Theodor 234 Lavater, Johann Kaspar 231, 236 Leade, Jane 19 Leicht, Chr. 37 Lelong, Isaac 86 Leube Hans, 38 Leube, Martin 208, 211f Leupold, Augustin 103 Levering, Joseph M. 78 Lewis 88f Lewis, Arthur J. 87 Liberda, Johann 100–102, 104, 110, 112, 114 Liebich, Jacob 124f Liechtenstein Fürst 106 Liegnitz, Brieg und Wohlau, Friedrich II. Herzog von 64 Lincke, Johanna Margarethe 44, 46, 48 Linner, Martin 102f Lloyd, M. 195 Locke, John 275 Löscher, Valentin Ernst 7, 37–39, 41f, 44–46, 48–53, 57f, 60f Lohse, Bernhard 31 Lost, Christine 132 Lucas, Christian Johann 234 Lucius, Samuel 248 Luther, Martin 11, 13, 19, 30, 32f, 245, 247f, 272 Lutz, Samuel 28 Mack, Rüdiger 20 Mälzer, Gottfried 17, 217 Mallenthein, Johann Peter Freiherr von 43 Marschall, Georg Adolph von 191 Martin, Friedrich 200 Marx, Rudolf 142 May, Johann Henrich 35 Mayer, Matthias 267 Mehrling, Johann Philipp 221

Meinung, Abraham und Judith 87 Melanchthon, Philipp 240 Mellin, Johann Christian 235 Metz, Johann Friedrich 235 Meyer, Dietrich 7, 9, 32, 35f, 39, 67, 88f, 140, 142, 207, 222, 256, 261, 277f, 284 Meyer, Gerhard 118, 140, 142, 145, 149, 151, 159f, 255 Meyer, Matthias 135 Meyer, R. 283 Meyer-Hickels, Gudrun 137, 141 Michaelis, Christian Benedikt 46 Milan, Johannes 65 Milde, Heinrich 97 Miller, Alice 265 Modrach, Heinrich Gottlob 72 Molther, Johanna s. Seidewitz J. Molther, Philipp Heinrich 143 Moore, Cornelia Niekus 130 Moritz, Johann Friedrich 236 Moser, Friedrich Carl von 233 Moser, Johann Jakob 214–216 Motel, Hans-Beat 272 Motel, Heinz 278 Motel, Manfred 111, 255, 266 Müller, Heinrich 134 Müller, Johann Georg 231 Müller, Johann Heinrich 87 Müller, Johann Jacob 87 Müller, Joseph Theodor 13, 16, 18, 21, 35, 67, 98–100, 105, 108, 111f, 136f, 141, 153, 259 Müller, Karl 169–171 Müller, Polycarp 225 Nagel, Paul Giesebert 148 Natzmer, Gneomar Ernst von 42, 50f Neander, Joachim 134, 137 Neisser, Augustin 102 Neisser, Friedrich Wenzel 193, 197, 204 Nekterých, Sebrání 111 Nelson, Vernon H. 143, 176, 257 Neumann, Caspar 128f Neumeister, Erdmann 40, 209 Nielsen, Sigurd 18f, 25, 27–29, 31, 33, 35 Nienborg, Samuel 46 Nitschmann, Anna 119, 122f, 127 Nitschmann, David Bischof 33f, 86, 92, 97, 104, 121, 166, 192, 208 Nitschmann, John 179 Nitschmann, Melchior 121 Nitschmann, Rosina 87

Personenregister Noailles, Kardinal Louis Antoine de 25 Novalis 263 Ockershausen, J. 195 Oertel, Johann Gottfried 37, 48 Oetinger Friedrich Christoph 209, 214–216 Oglethorpe, James Edward 76, 83 Ostry, Georg 114 Paul, Jean 150, 264 Peter I. Czar von Rußland 43 Petersen, Johann Wilhelm 11 Petersen, Johanna Eleonora 11 Petzoldt, Claus 37f, 42, 46f Peucker, Paul 10, 140, 145, 176 Pfaff, Christoph Matthäus 35, 210 Pfeil, Christoph Karl Ludwig von 78 Pfister, Oskar 178, 271 Philipp, Guntram 43 Pittmann, Johann 113 Plitt, Hermann 12, 177, 268 Plitt, Johannes 120, 190, 260 Plütschau, Heinrich 163 Podmore, Colin 9, 34, 187, 189, 201 Pordage, John 19 Posselt, Ingeborg, 14 Potter, John 189f, 192f, 200 Preußen, Friedrich II. König von 34, 69 Preußen, Friedrich Wilhelm I. König von 66, 271 Quack, Jürgen, 26 Quandt 260 Quitt, Anna 122 Quitt, Jule 122 Raabe, Paul 9, 134, 229, 233–236, 258 Radler, Alexander 268 Raisig, Gerhard Johannes 219 Rambach, Johann Jakob 134, 219 Redslob, Marie 234 Regent, Karl Xaver 65, 71 Reichel, Gerhard 21, 41, 54f, 86f, 178, 258 Reichel, Hellmut, 270 Reichel, Jörn 142–144 Reichel, Levin Theodore 78 Reitz, Johann Henrich 30 Renkewitz, Heinz 30, 32, 269, 273, 276, 281 Reuß, Heinrich II. Graf von 23 Reuß, Jeremias Friedrich 29, 209, 216f Reuß-Ebersdorf, Erdmuthe Gräfin zu s. Zinzendorf, Erdmuthe Reuss-Ebersdorf, Grafen von 19

291

Reuß-Greiz, Heinrich II. 47 Reuß-Greiz, Heinrich VI. Graf von 47 Reuß-Greiz, Henriette Amalie Gräfin von 47 Reuß-Köstritz, Heinrich XXIV. Graf von 45f, 59, 80 Reuss-Plauen, Erdmuthe Benigna geb. SolmsLaubach Gräfin von 19, 45 Richter, Christian Friedrich 134 Richter, Martin 172 Risler, Jeremia 80, 86f Rist, Johann 31 Ritschl, Albrecht 14, 16–18, 20, 35, 240, 245, 249, 252f, 268 Rock, Johann Friedrich 125, 146, 148f Rohrkrämer, Martin 37 Rotermund, Hans-Martin 37 Rothe, Johann Andreas 13–15, 70, 99 Rürup, Reinhard 214 Ruh, Hans 255 Sachsen, Friedrich August I. König und Kurfürst von 69, 71–73, 103 Sawyer, Edwin 180 Saxer, Ernst 30 Schäfer, Gerhard 141 Schäffer, Melchior 67 Schaffgotsch, Johann A. von 68 Schick, Erich 172 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 240–242, 246, 249, 262–264 Schlicht, E. 195 Schloemann, Martin 224 Schloss, Erwin 245 Schlunk, Martin 172 Schmid, Pia 8 Schmidt, Georg 121, 164 Schmidt, Martin 17, 49 Schneider, Hans 7, 11 Schneider, Ulf-Michael 125, 148 Schober, Theodor 267 Schrader, Hans-Jürgen 8, 30, 146–148, 154 Schrautenbach, Ludwig Carl Freiherr von 120, 231, 254, 257, 266, 268, 270 Schreyer, Paul 37 Schröter, Catharina 37 Schubert, Heinrich 20 Schütz, Christoph 147 Schulenburg, Matthias Graf von der 230 Schultz, Christoph 68, 79 Schultz, Georg 79, 85 Schultz, Selina Gerhard 70f, 77–79, 84, 91–95 Schultze, David 76

292

Personenregister

Schulz, Augustin 100f, 106f, 110 Schulze, Adolf 173 Schumann (in Berbice) 165 Schweden, Karl XII. König 128 Schwedler, Johann Christoph 66 Schweikhardt, Johann 209 Schweitzer, Lorenz 90 Schwenckfeld von Ossig, Capar 7, 64, 68, 91 Schwenker, Friedrich 34 Seckendorff, Veit Ludwig von 55 Segebrecht, Wulf 146 Seibt, David 84, 93 Seidel, Nathanael 182 Seidewitz, Johanna Sophia von verh. Molther und Lachenal 116, 120, 122f Seiffert, Anna geb. Beyer 127 Sessler, John Jacob 175, 179f, 184 Seyfart, Anton 103 Sherlock, Thomas 202 Sincerus, Albinus (s.auch Weiss, L.) 226 Sinnig, Waldemar 254 Sinzendorf, Rudolh Siegmund Graf von 68 Sirkovius, Chr. 112 Skalský, Gustav 104 Slatnik, Franz 104 Smaby, Beverly 180 Smissen, van der Kaufleute 82 Snyders, Georges 132 Söhlenthal, Georg Wilhelm Baron von 55, 58, 60 Solms-Laubach, Benigna Gräfin von 20 Spaemann, Robert 282 Spangenberg, August Gottlieb 33, 46, 56, 66–71, 75f, 78, 80f, 83, 85–87, 92, 94–96, 119f, 165, 171, 175, 177, 179, 181f, 191–194, 218, 221, 224, 231, 236f, 242, 254, 258f, 262, 277 Spangenberg, Eva Maria 194 Spener, Philipp Jakob 13–16, 20f, 44, 46, 60, 62, 158 Spleiss, David 243 Starck, Johann Friedrich 225 Stead, G. 196 Stead, Geoffrey and Margaret 188 Steffens, Heinrich 230 Steinbart, Gottlieb Samuel 234 Steinecke, Otto 50, 266 Steinhofer, Maximilian Friedrich Christoph 209, 214 Steinmetz, Johann Adam 214f Steitz, Georg Heinrich 219 Sterik, Editha 8, 111 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 41

Stolberg-Gedern, Christine Gräfin von 20 Stolberg-Wernigerode, Christian Ernst Graf von 41 Stoudt, John J. 28 Struntz Prof poes. 61 Stuart, James Prinz 196 Taege-Bizer, Jutta 20 Tauler, Johannes 31 Tennhardt, Johann 147 Tersteegen, Gerhard 134 Teufel, Eberhard 13–15 Theile, Martin 149, 278 Tholuck, August Friedrich Gottreu 49 Thomas, Daniel 113 Thomas, John 202 Thurneysen, Eduard 242f, 247 Timäus, Johann Heinrich 210f Töltschig, Johann 191, 193f, 204 Touzil, Václav 114 Troeltsch, Ernst 239 Tuchtfeld, Victor 28 Turck, Johann de 89 Urban, George 110 Urban, Jirík 114 Uttendörfer, Otto 18, 31f, 35, 101, 116, 132, 143, 152, 163f, 168, 171f, 260, 269, 276 Varnhagen von Ense, Karl August 120, 229–232, 266 Varnhagen von Ense, Rahel 230, 232 Vehse, Eduard 47 Vejdelek, Jan 107 Vernon, James 85 Viney, Richard 191, 193–195, 197 Vogt, Johannes 166 Vogt, Peter 28, 88f, 278 Voigt, Friedrich Adolf 254 Volk, Alexander 227 Voltaire 275 Waiblinger, Georg 209 Walbaum, Anton Heinrich 41f, 53–62 Walch, Johann Georg, 49, 219, 221–223 Waldstein, Leopold, Graf von 71f Wallmann, Johannes 13, 20 Walther, Heinrich Andreas 225 Ward, W. R. 127 Warneck, Gustav 172 Watteville, Friedrich von 24, 67, 109, 116, 123, 167 Watteville, Johannes von 109, 201

Personenregister Weber, Gottlieb 124 Weigelt, Horst 8, 10, 64–70, 72, 74–76, 78, 94, 148 Weihe, Friedrich August 215, 228 Weinlick, John R. 81, 88, 95, 181 Weismann, Christian Eberhard 210f, 225 Weiss, Georg 70, 77, 84f, 87, 91 Weiß, Jonas Paulus 152, 216 Weiss, L. (=Albinus Sincerus) 220 Wendland, Walter 66 Wenz, Gunther 8 Wernsdorf, Gottlieb 39f, 42, 44, 55–58, 60–63 Wesley, Charles 189, 191, 201 Wesley, John 201 Wessel, Carola 9, 163 Westmeier, Karl W. 184 Wetstein Verlag 19 Whitefield, George 257 Wiegner, Christoph 79–87, 89, 91f, 95 Wiegner, Rosina und Susanna 84 Wilson, Thomas 190 Winckler (Stollberg) 257

293

Winter, Eduard 43 Wirz, Konrad 112 Wittram, Reinhard 43 Wollstadt, Hans-Joachim 117, 274f Wotschke, Theodor, 40 Ysenburg-Büdingen, Casimir Graf von 186 Ysenburg-Büdingen, Grafen von 34, 236 Zeisberger, David 184 Zembsch, Theodor Christian 263 Zezschwitz, Johanna Sophia von 116 Ziegenbalg, Bartholomäus 163 Zimmerling, Peter 142, 173 Zimmermann, Johann Liborius 41 Zinzendorf, Christian Renatus Graf von 109, 174, 209, 264 Zinzendorf, Erdmuthe Dorothea Gräfin von geb. Gräfin von Reuss 7, 19, 45–47, 78, 82, 96 Zinzendorf, Henriette Benigna Gräfin von verh. von Watteville 87, 237 Zlatnik, Wenzel 104f

Autorinnen und Autoren Dr. Craig Atwood 2444 Ardmore Manor Rd. Winston-Salem, NC 27103 USA

Dr. Colin Podmore 16 Isla Road Plumstead London SE18 3AA England

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Prof. Dr. Martin Brecht Schreiberstraße 22 48149 Münster

Prof. Dr. Drs.h.c. Paul Raabe Roseneggerweg 45 38304 Wolffenbüttel [email protected]

Prof. Dr. Eberhard Busch Theol. Fakultät Platz der Göttinger Sieben 2 37073 Göttingen Dr. Thilo Daniel Kirchstr. 6 01665 Weistropp [email protected]

Hans-Christoph Hahn Rechbergstr. 6 73344 Gruibingen Dr. Dietrich Meyer Zittauer Str. 27 02747 Herrnhut [email protected]

Dr. Paul Peucker Moravian Archives 41 W. Locusstreet Bethlehem PA 18018–2757 USA

Prof. Dr. Pia Schmid Universität Halle Institut für Pädagogik Franckeplatz 1 Haus 5 06110 Halle [email protected]

Prof. Dr. Hans Schneider Im Feldchen 20 35043 Marburg Prof. Dr. Hans-Jürgen Schrader 173, Route d’Aire CH 1219 Aire/ Genève Edita Sterik Im Jochert 43 63322 Rödermark [email protected]

Prof. Dr. Horst Weigelt Hennebergerstr. 7 96049 Bamberg [email protected]

Dr. Carola Wessel (†)

Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgegeben von Christian Bunners, Martin Brecht und Hans-Jürgen Schrader

Band 48: Hans Schneider

Der fremde Arndt Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621) 2006. Ca. 328 Seiten, gebunden ISBN 3-525-55833-3

Der Band versammelt die Arbeiten Hans Schneiders zu Leben und Wirken Johann Arndts, eine der einflussreichsten Gestalten des nachreformatorischen Protestantismus. Seine »Vier Bücher von wahrem Christentum« zählen zu den meistgelesenen Werken des 17. Jahrhunderts.

Band 46: Isabelle Noth

Ekstatischer Pietismus Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743) 2005. 382 Seiten mit 3 Abbildungen und 2 Karten, gebunden ISBN 3-525-55831-7

Die Inspirationsgemeinden vermitteln mit ihren ekstatischen Prophetien neue Erkenntnisse über den radikalen Pietismus.

Band 45: Ruth Albrecht

Johanna Eleonore Petersen Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus 2005. 432 Seiten, gebunden ISBN 3-525-55830-9

Die Pietistin Johanna Eleonora Petersen (1644–1724) veröffentlichte theologische Schriften, vor allem zu eschatologischen Themen wie Chiliasmus und Apokatastasis.

Band 44: Alfred Messerli / Adolf Muschg

Schreibsucht Autobiographische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker (1735–1798) 2004. 200 Seiten mit 6 Abbildungen, gebunden ISBN 3-525-55829-5

Interdisziplinäre Beiträge zu den autobiographischen Schriften Ulrich Bräkers.

Band 43: Friedemann Burkhardt

Christoph Gottlob Müller und die Anfänge des Methodismus in Deutschland 2003. 464 Seiten mit 11 Tabellen und 5 Karten, gebunden ISBN 3-525-55828-7

Der Württemberger Pietist Christoph Gottlob Müller (1785–1858), der 1806 im Zuge der Erweckung nach England kam und dort Methodist wurde, war nach 1830 Wegbereiter des Methodismus in Deutschland. Burkhardts Studie liefert die erste kritische Gesamtdarstellung von Leben und Werk Müllers und zeichnet in mehrfacher Hinsicht ein völlig neues und differenziertes Bild der Anfänge des Methodismus in Deutschland.

Das „unverzichtbare Standardwerk“ zur Geschichte des Pietismus Nach der dreibändigen chronologisch angelegten Darstellung der verschiedenen Richtungen des Pietismus befasst sich der abschließende vierte Band mit der besonderen Wirkung pietistischen Denkens und Handelns auf ausgewählte Lebensbereiche. Neben Beiträgen zu theologischen, frömmigkeitsgeschichtlichen und kirchengeschichtlichen Aspekten der pietistischen Glaubenswelt befassen sich die Autoren ausführlich mit den wissenschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Aspekten pietistischer Lebenswelten. Damit bietet das jetzt vollständig vorliegende Gesamtwerk erstmals einen umfassenden Überblick zur weltweiten Geschichte und Wirkung des Pietismus von den Anfängen bis in die Gegenwart. Aus dem Inhalt: Ruth Albrecht, Frauen / Martin Brecht, Bibel / Christian Bunners, Gesangbuch / Jan Harasimovicz, Kunst / Martin Kruse, Pietismus in der modernen Welt / Werner Loch, Pädagogik / Markus Matthias, Bekehrung und Wiedergeburt / Thomas Müller-Bahlke, Naturwissenschaft und Technik / Hans Jürgen Schrader, Literatur und Sprache / Walter Sparn, Philosophie / Udo Sträter, Soziales / Rudolf von Thadden, Staat und Politik / Richard Toellner, Medizin und Pharmazie / Johannes Wallmann, Frömmigkeit / Hermann Wellenreuther, Mission.

Hartmut Lehmann (Hg.)

Geschichte des Pietismus Band 4: Glaubenswelt und Lebenswelten 2004. XVII, 710 Seiten mit 27 Abbildungen, Leinen mit Schutzumschlag ISBN 3-525-55349-8 Bände 1-4 cpl. mit 10% Ermäßigung ISBN 3-525-55351-X

Band 1: Der Pietismus vom 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert 1993. ISBN 3-525-55343-9

Band 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert 1995. ISBN 3-525-55347-1

Band 3: Der Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert 2000. ISBN 3-525-55348-X