Diltheys Werk und die Wissenschaften: Neue Aspekte 9783737002325, 9783847102328, 9783847002321

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Diltheys Werk und die Wissenschaften: Neue Aspekte
 9783737002325, 9783847102328, 9783847002321

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Gunter Scholtz (Hg.)

Diltheys Werk und die Wissenschaften Neue Aspekte

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0232-8 ISBN 978-3-8470-0232-1 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Standortbestimmung Ernst Wolfgang Orth Dilthey zwischen Kant und Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Francesca D’Alberto Diltheys zweites Hauptwerk: »Leben Schleiermachers«

. . . . . . . . . .

23

Valentin Pluder Diltheys Interesse an Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Ulrich Dierse »Empirie und nicht Empirismus«. Diltheys Verhältnis zu Auguste Comte und zum Positivismus seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Karl-Heinz Lembeck Dilthey und der Marburger Neukantianismus

. . . . . . . . . . . . . . .

65

Massimo Mezzanzanica Dilthey und die Phänomenologie Husserls . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eric S. Nelson Dilthey, Heidegger und die Hermeneutik des faktischen Lebens

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. . . . .

II. Einfluss auf die Wissenschaften Helmut Johach Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften – Programmatik und Bedeutung für die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

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Inhalt

Gunter Scholtz Diltheys Geschichtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Karl Acham Diltheys Bedeutung für die Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Gabriele Malsch »dieser Fechtmeister der Einbildungskraft«. Aspekte der Poetik Wilhelm Diltheys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Mark Galliker Das geisteswissenschaftliche Forschungsprogramm der Psychologie. Diltheys »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« sowie die Antwort von Ebbinghaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Michael Winkler Wilhelm Dilthey und die geisteswissenschaftliche Pädagogik . . . . . . . 209 Jean-Claude Gens Die Aktualität von Diltheys Naturphilosophie Michel Henri Kowalewicz Diltheys Kritik der Weltanschauungen

. . . . . . . . . . . . . . . 231

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Vorwort

Betritt man heute in Wrocław/Breslau das schöne alte Hauptgebäude der Universität an der Oder und wendet sich nach rechts, gelangt man in das Marianum. Hier begrüßen uns gleich am Eingang auf der einen Seite Friedrich Schleiermacher, dem man an dieser Stelle eine ehrende Gedenktafel errichtet hat, und ihm gegenüber Johannes Brahms. Schleiermacher nämlich war in Breslau zur Welt gekommen, und Brahms hatte von der Breslauer Universität den Ehrendoktortitel erhalten, für den er sich mit der bekannten Festouvertüre bedankte. Allerdings hat keiner von beiden in dieser Universität studiert oder gelehrt. Verbunden sind sie unsichtbar durch den Geist eines dritten, der hier für mehr als 10 Jahre Ordinarius für Philosophie war : Wilhelm Dilthey (1833 – 1911). Er hat das bislang umfangreichste Werk über Schleiermacher verfasst und eine Schleiermacher-Forschung überhaupt erst in Gang gebracht. Und er war es auch, auf dessen Betreiben hin die Breslauer Universität Brahms mit dem Titel Dr. h.c. ehrte. Die Zeit in Breslau, die Jahre 1871 – 1882, waren für Dilthey eine Phase von großer Produktivität, deren Ergebnisse seine weitere Arbeit bestimmten, die aber nicht alle zum Abschluss und zum Druck gelangten. Immerhin erschien 1875 seine umfängliche Abhandlung Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, und als wichtigste Frucht kam 1883 der erste Band seines unvollendeten Hauptwerkes Einleitung in die Geisteswissenschaften heraus; schon in Breslau hat er auch an der Fortsetzung gearbeitet. Mithin schuf Dilthey in Breslau die Grundlagen für seinen Ruf als »Philosoph der Geisteswissenschaften«, wie es mit Recht nun auf einer Gedenktafel heißt, die man in der Nähe seines Sterbeortes in Seis am Schlern/Tirol anbrachte. Seine Kreativität wurde in jenen Jahren unterstützt und angeregt durch eine sein künftiges Leben prägende Freundschaft. Denn Dilthey trat in Breslau mit einem Mann in einen lebendigen Gedankenaustausch ein, der nie ein Amt in einer Universität gehabt hatte, sondern in Klein-Oels (Oles´nica Mała) seine Güter verwaltete, den aber manche, wie Heidegger, für einen noch bedeutenderen Philosophen hielten: Graf Paul Yorck von Wartenburg, dem

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Vorwort

Dilthey viele Anregungen verdankte und dem er jenes Hauptwerk deshalb auch gewidmet hat. Fehlt bislang auch noch in der Universität Wrocław für Dilthey eine Gedenktafel, so hat doch im Oktober 2011 auf der Basis der Partnerschaft zwischen den Instituten für Philosophie in Wrocław und Bochum aus Anlass von Diltheys 100. Todestag eine Internationale Dilthey-Tagung stattgefunden – im selben Monat desselben Jahres, in dem die Universität in Wrocław mit einer großen, internationalen Konferenz auch den 200. Jahrestag ihrer Neugründung feierte. Die Ergebnisse der Dilthey-Tagung werden in diesem Band zugänglich gemacht. Wenn dieser etwas verspätet herauskommt, möge man bedenken, dass bei allen Gemeinschaftsleistungen immer der Zögerlichste über das Erscheinungsdatum entscheidet. Die ursprüngliche Absicht war, einen Tagungsband in polnischer Sprache herauszubringen, der Dilthey als Philosophen so vorstellt, dass sein Profil und seine Bedeutung besser sichtbar werden. Da jedoch eine Übersetzung der ausgearbeiteten Vortragstexte nicht ganz leicht ist und da das Tagungsthema auch ein allgemeineres Interesse hat, erscheint hiermit vorerst eine deutsche Ausgabe. Aber es ist zu hoffen, dass im Sinne der Absicht auch eine polnische Version bald folgen wird. Aus der Zielsetzung des Projektes ergab sich eine Gliederung, die auch für diese Publikation übernommen wurde. Im ersten Teil wird gleichsam ein philosophisches Portrait Diltheys gezeichnet und sein Standort bestimmt, indem sein Verhältnis zu den Philosophen erläutert wird, mit denen er sich in besonderer Weise auseinandersetzte oder denen er Anregungen gab: Kant, Schleiermacher, Hegel, Comte, die Neukantianer, Husserl und Heidegger. Durch das Verhältnis zu deren Denken wird sein eigener Ort in der Philosophiegeschichte deutlich. Er gehört der Generation an, die den Übergang vom sogenannten Deutschen Idealismus zur Philosophie des 20. Jahrhundert bildet, die sich von jenem distanziert hatte und diese vorbereitete und nachhaltig beeinflusste. Der zweite Teil des Bandes wendet sich dann Diltheys Einfluss auf die Wissenschaften zu. Denn wenngleich er von seinen beiden Hauptwerken – dem Leben Schleiermachers und der Einleitung in die Geisteswissenschaften – nur jeweils den ersten Band publizierte und lediglich in seinen Vorlesungen ein System der Philosophie entwarf, war schließlich seine Wirkung auf die Wissenschaften größer als die mancher seiner damals berühmteren Zeitgenossen. Sein Denken wurde in sehr verschiedenen Bereichen rezipiert, die im Folgenden auch zur Sprache kommen: Theorie der Geisteswissenschaften, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Literaturwissenschaft und Ästhetik, Psychologie und Anthropologie, Pädagogik und Naturphilosophie. Darin ist zu einem guten Teil auch sein Verdienst um eine allgemeine Geistesgeschichte enthalten, da er nie das Systematische vom Historischen trennte, was z. B. auch in seiner Philosophie der Weltanschauungen deutlich wird. Natürlich kann unser Band keine Vollständigkeit

Vorwort

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beanspruchen. Man bedenke, dass z. B. auch der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin ein Schüler Diltheys war und Hermann Nohl mit Diltheys Begriffen eine Stiltypologie der bildenden Kunst entworfen hatte. Der Einfluss auf die verschiedenen Gebiete der Geisteswissenschaften entspricht ganz Diltheys Bemühen. Denn wenngleich er als Lebensphilosoph gilt und gelegentlich als Irrationalist kritisiert wurde, war er ein Wissenschaftsphilosoph, der dem Anwachsen der modernen empirischen Wissenschaften Rechnung trug und sich um ihre solide Grundlegung bemühte. Schon in seinen ersten Vorlesungen aus den Jahren 1864 bis 1868, die der »Logik« und dem »System der philosophischen Wissenschaften« galten, ging es ihm auch immer um die Verbindung der Philosophie mit den empirischen Wissenschaften, deren Ergebnisse ihn interessierten und deren Verfahrensweisen er reflektierte. Da sein Denken zu erfassen suchte, was den Wissenschaften entgeht, gab er Anregungen, die bis in die Gegenwart weiter wirken und auch immer noch als aktuell gelten können. Auf der genannten Tagung, der man in Wrocław in der Aula des OssolinskiNationalinstituts einen würdigen Ort gegeben hatte, waren weitere Vorträge gehalten worden. Gudrun Kühne-Bertram sprach über Wilhelm Diltheys Breslauer Jahre 1871 – 1882, Francesco Donadio über Die Bedeutung des Freundes Paul Yorck von Wartenburg und Leon Miodonski über Dilthey in Polen. Diese Vorträge waren ganz auf Wrocław zugeschnitten, sie verdankten sich dem Genius loci, und so ließen sie sich in diese deutsche Ausgabe nicht überzeugend einfügen. Es ist aber zu wünschen, dass sie in einer polnischen Edition des Bandes Aufnahme finden werden. Der Vortrag von Salvatore Giammusso Der Gedanke der Unergründlichkeit des Lebens bei Dilthey und in seiner Schule war bereits für die Publikation an anderer Stelle vorgesehen. Allen Teilnehmern ist für ihre sorgfältig erstellten Vorträge sowie für die anregenden Diskussionen zu danken und den Beiträgern dieses Bandes zusätzlich für ihre kooperative Mitarbeit bei der Redaktion und für ihre Geduld. Besonders aber danke ich meinen Kollegen des Instituts für Philosophie in Wrocław, Herrn Professor Dr. Leon Miodonski und Herrn Professor Dr. Andreas Lorenz, ohne welche das Projekt gar nicht hätte begonnen werden können. Hervorheben muss ich hier sodann die vorzügliche Organisationsarbeit von Frau Dr. Joanna Giel aus Wrocław, mit der zusammenzuarbeiten ein Vergnügen war. Die Finanzierung der Tagung war einerseits durch die Universität Wrocław und andererseits durch die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung gesichert worden. Diese Stiftung hat zusätzlich durch eine Druckbeihilfe auch die Publikation möglich gemacht. Alle an dem Vorhaben Beteiligten sind diesen hilfreichen Institutionen zu größtem Dank verpflichtet. Zum Schluss danke ich auch dem Verlag, der das Buch in sein Programm aufnahm. Bochum, im Juli 2013

Gunter Scholtz

I. Standortbestimmung

Ernst Wolfgang Orth

Dilthey zwischen Kant und Husserl

Kant, Dilthey und Husserl sind Bewusstseinsphilosophen. Alle drei vertreten das, was Dilthey den »Satz der Phänomenalität« nannte.1 Allerdings kommt alles – wie schon Dilthey betont – darauf an, dass dieser Satz richtig interpretiert wird. Mit dem Begriff und Befund der Phänomene darf kein leichtsinniges oder frivoles Spiel getrieben werden. Dilthey wendet sich sowohl gegen den Phänomenalismus als auch gegen den subjektivistischen, sozusagen konstruktivistischen Idealismus. Zu dieser ihrer ›Bewusstseinsstellung‹2 gehört auch die gemeinsame, alles in allem positive Würdigung der Rationalität bei den drei Philosophen. Und damit geht die Einsicht einher, dass Wissenschaft als Wissenschaftlichkeit das Paradigma von Rationalität ist, die wesentlich von der Methode her verstanden wird.3 Aber Kant, Dilthey und Husserl hypostasieren die Vernunft nicht einfach als Wissenschaft. Sie versuchen vielmehr, die besonnene und – wie Husserl gerne sagt – »besinnliche« Diskussion über die Vernunft, eben als vernünftige Diskussion über Vernunft, offen zu halten. Wie Kant sagt: »Der kritische Weg ist

1 Vgl. dazu vor allem die Nachlasstexte seit der Breslauer Zeit und später. Wilhelm Dilthey : Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Gesammelte Schriften (= GS) Bd. 19, hg. von Helmut Johach, Frithjof Rodi, Göttingen 1982, S. 58 ff u. ö. Der Kern jenes Satzes, der laut Dilthey »den Anfang aller ganz ernstlichen und folgerichtigen Philosophie« bildet, lautet: »all diese Gegenstände, selbst die Personen mit inbegriffen, mit denen ich in Beziehung stehe, sind für mich nur da als Tatsachen meines Bewußtseins: Bewußtseinstatsachen sind das einzige Material, aus welchem die Objekte aufgebaut sind. Bewußtseinstatsache ist der Widerstand, den sie üben, der Raum, welchen sie einnehmen, ihr schmerzhaft empfundener Anprall, wie ihre wohltätige Berührung.« Ebd. S. 58. 2 Die ›Bewusstseinsstellung‹ ist zugleich ›Weltstellung‹. Der Topos dient bekanntlich zur Titelei auch bei Paul Yorck von Wartenburg. 3 Die Betonung der Methode ergibt sich bereits aus der aktualisierenden Thematisierung des (rationalen) Subjekts, denn damit ist die Frage nach der Beziehung des Subjekts zur Wirklichkeit (auch zu seiner eigenen) aufgeworfen, d. h. nach den Bahnen, die dabei einzuhalten oder nachzuzeichnen sind sowie nach deren möglichen Modalitäten.

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Ernst Wolfgang Orth

allein noch offen«.4 Der Versuch der Etablierung eines vernünftigen Diskurses über die Möglichkeiten von Vernunft war schon bei Kant die Antwort auf eine Krise, die er mit dem Projekt der Kritik zu bewältigen versuchte. Kant hatte in einem Brief von 1765 an Lambert von der »Krise der Gelehrsamkeit« gesprochen.5 Und auch Dilthey versucht, eine Krise zu bewältigen. »Die große Krisis der Wissenschaften und der europäischen Kultur, in der wir leben, nimmt mein Gemüth […] tief und ganz gefangen«, schreibt Dilthey 1872 in einem Brief an seine Mutter.6 Er scheint damit einen Titel vorweg zu nehmen, der in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts von Husserl geprägt wurde, nämlich Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie.7 Und so wie die transzendentale Phänomenologie bei Husserl eine Bewältigung der Krise herbeiführen sollte (durchaus schon mit den Ideen I von 1913), so hatte auch Dilthey bereits eine Lösungsmöglichkeit ins Auge gefasst. Schon in Tagebuchaufzeichnungen vom März 1859 projektiert er »eine neue Kritik der Vernunft«, die er 1883 in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften in der Widmung »An den Grafen Paul Yorck von Wartenburg« als »Kritik der historischen Vernunft« bezeichnen wird.8 Beide Autoren – Dilthey und Husserl – beziehen sich auf Kant. Beide favorisieren ›Kritik‹ im Kantischen Sinne. Husserl nennt z. B. seine Formale und transzendentale Logik von 1929 im Untertitel Versuch einer Kritik der logischen Vernunft.9 Schon die Ideen I von 1913 reklamieren den Begriff »transzendental« für die Phänomenologie.10 Zunächst sieht es so aus, als sei – bei aller Wertschätzung Kants – dessen formale Strukturierung des Vernunftgebrauchs für Dilthey zu abstrakt und lebensfremd. 4 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A, S. 856. 5 Vgl. Ernst Wolfgang Orth, Krise, in: Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, hg. von Christian Bermes, Ulrich Dierse, Hamburg 2010, S. 154 f. 6 Vgl. Wilhelm Dilthey, Briefwechsel Bd. I, 1852 – 1882, hg. von Gudrun Kühne-Bertram, HansUlrich Lessing, Göttingen 2011, S. 625. 7 Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936/37), in: Husserliana. Edmund Husserl: Gesammelte Werke Bd. 6, Den Haag 21962. Wir zitieren Husserl nach Husserliana als Hua plus römische Bandzahl. 1905/06 macht Husserl eine persönliche Krise durch, die er durch eine Neukonzeption der Vernunftkritik zu überwinden hofft (vgl. dazu Walter Biemel, Einleitung, in: Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Hua II, S. VII f). 8 Vgl. Clara Misch (Hg.), Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern. 1852 – 1870, Göttingen 1933, 21960, S. 80, und Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), GS Bd. 1, Widmung. 9 Hua XVII. Die in diesem Sinne modifizierende Benutzung der Kantischen Titelformel ist allerdings seit ihrem Erscheinen bis in unsere Zeit sehr beliebt bis hin zu einer ›Kritik der kulinarischen Vernunft‹. Vgl. Francesca Rigotti, La filosofia in cucina. Piccola critica della ragion culinaria, Bologna 1999. 10 Vgl. Hua III, S. 73 f, 214 f, ausdrücklich zur Terminologie S. 206. Husserl macht deutlich, dass er – obwohl er an Kant historisch anschließt – sich die eigene Definition des Terminus vorbehält.

Dilthey zwischen Kant und Husserl

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In diesem Sinne wird sein Satz aus der »Vorrede« der Einleitung in die Geisteswissenschaften gerne zitiert: »In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruieren, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit«.11 Dieser Satz bedarf durchaus der Interpretation. Es geht in erster Linie darum, dass es sich um ein Subjekt handelt, das – von Philosophen – bloß konstruiert ist. Dass in seinen Adern kein wirkliches Blut fließt, ergibt sich erst, wenn das nicht konstruierte Subjekt als wirklicher Befund in Betracht gezogen wurde. Genau das ist auch Husserls These, der immer wieder bemängelt, dass das Subjekt des klassischen Idealismus die Welt allfällig überspringt. Was heißt hier nun »Kritik der historischen Vernunft«? Dilthey hat diese Formel nie ausführlich expliziert. Man kann jedoch – gemessen an Diltheys vielfältigen Texten – eine dreifache Bedeutung unterstellen. 1. Es geht um die Ausarbeitung der Möglichkeitsbedingungen des historischen Forschens, um das Ausmessen von Reichweite und Grenzen möglichen historischen Wissens. Dabei sind zwei Perspektiven zu berücksichtigen: a) eine wissenschaftstheoretische, b) eine erkenntnistheoretische. Bei Kant, Dilthey und Husserl geht es durchaus um Wissenschaftstheorie, aber diese ist für sie in Erkenntnistheorie zu fundieren, nicht umgekehrt. Als Erkenntnistheorie fungiert bei Dilthey eine eigentümliche Psychologie, die deskriptive Psychologie (als »Psychologie in Bewegung«) und bei Husserl die Phänomenologie.12 Dilthey spricht auch gerne von einer Theorie des Wissens, die Vergleichbarkeiten mit Husserls Intentionalitätstheorie aufweist. 2. Relativierung der Vernunft auf ihre historischen Bedingtheiten. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass Vernunft als Funktion von Subjektivität immer sozusagen medial auftritt in konkreter prozessualer, auch interaktiver Selbstgestaltung im historischen Zusammenhang. 3. Der positive Ausweis, dass Vernunft selbst – sozusagen intrinsisch – historisch ist. Das bedeutet: der konkrete Prozesscharakter gehört zum strukturalen Wesen der Vernunftsubjektivität; die Vernunft ist ex definitione historisch. Schon der junge Dilthey hatte die »neue Kritik der Vernunft« 1859 so charakterisiert: »1) Von den psychologischen Gesetzen und Antrieben, welchen Kunst, Religion und Wissenschaft gleichmäßig entspringen«, ist auszugehen. »2. Sie 11 Dilthey, Einleitung, GS Bd.1, S. XVIII. 12 In seiner Abhandlung Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) nennt Dilthey – übrigens inspiriert von seinem Freund Yorck – die Erkenntnistheorie »Psychologie in Bewegung« (vgl. GS Bd. 5, S. 151). Husserl ersetzt zunächst terminologisch »deskriptive Psychologie« durch »Phänomenologie«, um sie später als »transzendentale Psychologie« wieder aufzuwerten.

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Ernst Wolfgang Orth

muß die Systeme wie Naturprodukte analysieren, als Kristallisationen, deren Urform Schemata sind; Schemata, welche aus jenen Grundzügen in 1 folgen. 3) Sie gelangt von da aus nicht zur Skepsis, sondern hat in jenen notwendigen und allgemeinen Wirkungsweisen des menschlichen Geistes die Basis, wie alle Sinnenwahrnehmung wissenschaftlich zu behandeln ist.« »Über unsere Natur hinaus können wir nicht, wir können sie nur begreifen.«13 Für Dilthey ist es nun gerade Kant, der den Rückgang auf die »Bedingungen« der »Arbeit des Denkens« verlangt, wie er noch in einem späten Text mit dem Titel »Selbstbesinnung« herausarbeitet.14 Es geht Dilthey dabei um die strukturierenden Richtungen der »Methoden«. Insofern er von einem Anknüpfen an die »verschiedenen Sphären der Wirklichkeitserkenntnis« und der »Wertgebung« spricht, deutet er allerdings bereits über Kant hinaus, was vollends offenbar wird, wenn er die Hauptthematik in den »großen Realitäten des Lebens« sieht, in der »geistigen Realität«.15 Dem gemäß hat die »Erkenntnistheorie verschiedene Ausgangspunkte«, je nach dem »Gebiet« der »geleisteten Arbeit«.16 Als »die eigentliche Leistung Kants« sieht Dilthey allerdings die »Auffindung und Verwertung dieser Methode«. Denn: »Die Bedingungen, unter denen wir denken, ermöglichen letzte Rechtsgründe zu finden nur, indem wir von jeder Art von Wissen zurückgehen auf die Bedingungen, unter denen sie möglich ist. Jede genetische Erklärung eines geistigen Tatbestandes trägt wegen der Vieldeutigkeit einen hypothetischen Charakter.«17 Dilthey fügt allerdings eine entscheidende Beobachtung bezüglich des Kantischen Gedankengangs hinzu. »Aber Kant« – so Dilthey – »brachte eine wichtige Erweiterung in anderer Richtung. Zeigte er doch, dass dasselbe Denken, das diskursiv forschreitend am Faden der Worte die Theorie der Gegenstände konstruiert, schon wirksam ist in den Konstruktionen der Gegenstände selbst«.18 Hier trifft sich Dilthey mit einer Beobachtung, die Husserl 1936/37 in seiner Krisisabhandlung ebenfalls macht und näher erläutert.19 13 Clara Misch, Der junge Dilthey, S. 80 f. Dieses »wie Naturprodukte analysieren« ist methodisch schon Devise seiner frühen Studien über intellektuelle Persönlichkeiten, an denen er Weltverständnisse exemplifiziert. Der Terminus »Naturprodukt« ist hier kein Naturalismus, sondern Metapher für geisteswissenschaftliche Objektivität und Objektität sowie Ablehnung von konstruierender Metaphysik. 14 Wilhelm Dilthey, Logik und Wert. Späte Vorlesungen, Entwürfe und Fragmente zur Strukturpsychologie, Logik und Wertlehre (ca. 1904 – 1911), hg. von Gudrun Kühne-Bertram, Göttingen 2004. GS Bd. 24, S. 120 f. 15 Ebd., S. 120. 16 Ebd., S. 121. 17 Ebd., S. 18. 18 Ebd., S. 23. 19 Hua VI, S. 106. Es geht nach Husserl um den ›doppelt fungierenden Verstand‹ bei Kant. Vgl. dazu E. W. Orth: Edmund Husserls ›Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie.‹ Vernunft und Kultur, Darmstadt 1999, S. 112 ff.

Dilthey zwischen Kant und Husserl

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Wichtig ist hier auch die Dynamisierung des Konstitutionsbegriffs. »Entwicklung« ist nunmehr »die große Tatsache« für Dilthey und ihre Funktion kann auf dem gesamten »Gebiete des menschlichen Geisteslebens […] als wirksam nachgewiesen werden«.20 Dilthey versteht nun »Definition« nicht mehr als statische »Klassifikation«, sondern als die Erfassung eines »Bildungsgesetzes« (Husserl spricht von der »Idee im Kantischen Sinne«)21. Es gilt nun offenbar zwei Arten von genetischer Betrachtung zu unterscheiden: eine undurchdacht empiristische oder konstruierende und eine wohlverstandene, strukturale (bei Husserl transzendentale). Also: Wenn auch in den Adern des Kantischen ›Subjekts‹ kein wirkliches Blut rinnt, so muss doch auf Kant zurückgegangen werden. Genau dies hatte Dilthey bereits 1867 in seiner Baseler Antrittsvorlesung empfohlen – unter dem Titel Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770 bis 180022 : »die Philosophie soll über Hegel, Schelling und Fichte weg auf Kant zurückgreifen.« Hier erscheint Dilthey geradezu als ein früher Neukantianer. Er ist es denn auch, der das Projekt der Akademie-Ausgabe der Kantischen Werke inaugurieren und fördern wird.23 An der zitierten Stelle jedoch heißt es weiter : »Aber sie darf nicht stillschweigend an diesen Denkern vorübergehen, welche – mit was für Erfolg auch! – doch das Rätsel der Welt auszusprechen, den realen Gedanken, welcher allen Bildungen dieser Welt zugrunde liegt, darzulegen gewagt haben.«24 Was Dilthey und auch Husserl von Kant allerdings unterscheidet, ist, dass es für sie eine Erfahrung des Denkens selbst gibt. Kant hatte in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts in einer Briefabhandlung an seinen Kollegen Kiesewetter die Frage, ob es eine Erfahrung des Denkens gebe, verneint.25 Kurz: Dilthey wollte – ohne die strukturierende Funktion des Subjekts zu verleugnen – dieses doch weltlicher und damit auch konkret geschichtlicher sehen. Konnte er dafür bei Husserl etwas lernen? Um diese Frage angemessen zu beantworten, muss man 20 Dilthey, Logik und Wert, GS Bd. 24, S. 23. 21 Vgl. E. W. Orth, Edmund Husserl und die Idee im Kantischen Sinne, in: Über den Nutzen von Illusionen. Die regulativen Ideen in Kants theoretischer Philosophie, hg. von Bernd Dörflinger, Günter Kruck, Hildesheim 2011, S. 157 – 164. 22 GS Bd. 5, S. 12 – 27. 23 Dazu Frithjof Rodi, Dilthey und die Kant-Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Einige editions- und lebensgeschichtliche Aspekte, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 10 (1996), S. 107 – 134. 24 Dilthey, Die dichterische und philosophische Bewegung, GS Bd. 5, S. 13. Trotz seiner entschiedenen Ablehnung aller konstruierenden Metaphysik spricht Dilthey immer wieder von dem Rätsel der Wirklichkeit und der Welt – so auch noch 1907 in seinem Essay Das Wesen der Philosophie, wo »die unergründliche Tiefe der Welt« ins Bewusstsein gerufen resp. von ihm bezeugt wird. GS Bd. 5, S. 406. 25 I. Kant, Beantwortung der Frage: Ist es eine Erfahrung, daß wir denken? Immanuel Kants Werke Bd. 4: Schriften von 1783 – 1788, hg. von Artur Buchenau, Ernst Cassirer, Berlin 1922, S. 519 – 520.

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sich die besonderen Umstände vergegenwärtigen, in denen Dilthey und Husserl aufeinandertrafen. In unserem Falle ist es der Ältere, Dilthey, der auf den Jüngeren, Husserl, aufmerksam wurde. Dilthey interessierte sich für Husserls Logische Untersuchungen, die 1900/01 erschienen waren. Husserl war damals noch kein Transzendentalphilosoph, wohl aber Phänomenologe. Als Dilthey 1911 starb, war Husserls Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft, den Dilthey noch hatte lesen können, im ersten Band der Zeitschrift Logos erschienen. Dort kritisierte Husserl Dilthey – bei allem Respekt vor seinen Leistungen – als Vertreter des Historizismus26 in Konfrontation zu seiner eigenen transzendentalen Phänomenologie, deren Sinn er 1913 (also nach Diltheys Tod) in seinem Buch Ideen zu einer reinern Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie darzustellen suchte.27 Obwohl Dilthey den transzendentalen Husserl gar nicht kannte und kennen konnte, hatte er offensichtlich mehr Verständnis für die philosophischen Bestrebungen des Jüngeren, als dieser je für den älteren aufzubringen vermochte. Im März 1905 war Husserl nach Berlin gereist und besuchte Dilthey, von dem er gehört hatte, dass er seine Logischen Untersuchungen im Seminar behandelt hatte. Husserl selbst hielt im Sommersemester 1905 Übungen über Dilthey, Rickert und Windelband ab. Dilthey schickt ihm 1906 seine Jugendgeschichte Hegels und 1910 den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Am 29. Juni 1911 bringt Dilthey in einem Brief an Husserl sein Befremden über dessen Historismus-Kritik an ihm zum Ausdruck, die sich in Husserls Logos-Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft findet.28 Husserl antwortet am 5./6. Juli und stellt positiv Diltheys »Rückgang auf das innere Leben, auf die im Nacherleben der innerlichen Motivationen allererst zu wirklichem Verständnis kommenden ›Lebensformen‹« heraus. Er spricht hier auch von den Zielen, »die ich speziell einer phänomenologischen Philosophie der Kultur stelle« und parallelisiert sie mit Diltheys »Morphologie und Typik der großen Kulturgestaltungen.«29 In seinem Antwortbrief – Diltheys zweitem und letztem Brief an Husserl – vom 10. Juli 1911 redet Dilthey Husserl mit »Verehrter Freund« an und verweist darauf, dass er und Husserl »von verschiedenen Seiten her gemeinsam gegen die Herrschaft der Naturwissenschaften über die Philo-

26 Vgl. Hua XXV, S. 45 ff. Dabei verfügt Husserl terminologisch allerdings noch nicht über die patente Poppersche Unterscheidung zwischen »Historismus« und »Historizismus«. 27 Hua III. Husserl meint, »dass es einzig und allein eine phänomenologische Wesenslehre ist, welche eine Philosophie des Geistes [im Sinne Diltheys] zu begründen vermag.« Hua XXV, S. 47. 28 Husserl: Briefwechsel Bd. 6, hg. von Karl Schuhmann, Dordrecht, Boston, London 1994, S. 43 – 47. 29 Ebd., S. 49, 51.

Dilthey zwischen Kant und Husserl

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sophie kämpfen«.30 Husserl wird sich in den kommenden Jahren z. B. auch in seinen Psychologie-Vorlesungen der 20er Jahre31 und in den Texten zur Fortführung der Ideen (mit ihren Konstitutionsforschungen zur geistigen Welt32) immer wieder einmal positiv auf Dilthey beziehen. In der Krisis wird sogar die unabdingbare Hereinziehung des Geschichtlichen in die Erkenntnistheorie proklamiert.33 Es sind in den kommenden Jahren – nach Diltheys Tod – vor allem Husserls Schüler, die das Interesse an Dilthey in der Phänomenologie wach halten. So promoviert Ludwig Landgrebe 1927 über Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften und Fritz Kaufmann publiziert im phänomenologischen Jahrbuch 1928 über Paul Yorck von Wartenburg. Husserls Beziehung zu Diltheys Denken bleibt gleichwohl bis zuletzt merkwürdig unaufgeräumt. Was Dilthey an Husserls Logischen Untersuchungen interessierte, war vor allem die Fassung des Begriffs der »Bedeutung« als »ideal-objektiv«. Nicht nur Akte beziehen sich psychisch auf Akte, sondern in diesen Akten Sachverhalte auf Sachverhalte. Dilthey nennt das gelegentlich auch »Logismus«34 und verbindet damit implizit die Idee einer universalen Grammatik möglichen Sinnes. Dilthey ahnt durchaus die mögliche Fortführung der Husserlschen Bedeutungsanalysen (in den Logischen Untersuchungen) hin auf die Thematik von Noema und Noemata (in den Ideen) voraus. Die »phänomenologische Sphäre« musste er von Husserl nicht übernehmen. Er kannte sie selbst bestens. Und er bestätigt im Kolleg vom Sommersemester 1906 den Parallelismus zwischen seiner eigenen Position und derjenigen Husserls, wenn er äußert: »Dilthey : psychologische Deskription. Husserl: Phänomenologie der Erkenntnis«.35 Die phänomenologische Sphäre ist bei Dilthey der (potentiell teleologische) Strukturzusammenhang des Seelenlebens, mit dem auch der Weltzusammenhang impliziert ist. Bei Dilthey und Husserl sind das jeweils die Themen von auf Wesensverhalte ausgerichteten Beschreibungen. Über das Theorem von der (geistigen) Objektivität der Bedeutungen und des Sinnes hinaus entwickelt Dilthey noch eine zweite These. Sie besagt, dass Subjektivität immer in einem »Lebenszusammenhang« und als »Wirkungszusammenhang« auftritt – und dass das sich einsam besinnende Individuum somit stets auch intersubjektiv verknüpft ist. Die paradigmatische Dimension dieses Zusammenhangs ist für Dilthey die Geschichte, das »Erleben mit seinem Mi-

30 31 32 33

Ebd., S. 51 f. Hua IX. Hua IV und V. Vgl. Hua VI, S. 379. Beilage III: Der Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem. 34 Vgl. Dilthey, Logik und Wert, GS Bd. 24, S. 21 u. ö. 35 Ebd., S. 6.

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lieu«, wie er einmal sagt.36 Erst mit den Arbeiten an der Weiterführung der Ideen von 1913 findet Husserl Zugang zu dieser Dimension, vor allem mit seinen Studien zur Konstitution der geistigen Welt und zum Problem der Intersubjektivität.37 Diese Bemühungen münden in dem Ergebnis, dass das transzendentale Ich notwenig als konkreter Mensch in der Welt – und mit seinen intersubjektiven Zusammenhängen – ist resp. existiert. Transzendental ist es, »insofern« es Besinnung übt.38 Husserl spricht von dem Paradoxon der Subjektivität, weil sie Weltverständnis und Weltwirklichkeit in einem ist. Jetzt kann Husserl die These explizit vertreten, dass Erkenntnistheorie notwendigerweise und originär geschichtlich sein muss. Das Subjekt ist nicht nur Welt konstituierend; es hat sich immer – im Zuge der Weltkonstitution – auch schon selbst konstituiert.39 Und gerade das Subjekt, das nach dem Sinn der (oder : seiner) Welt fragt, tut dies als bereits so oder so konstituiertes, als weltlicher Mensch, der immer schon in einem Wirkungszusammenhang steht. Husserl kann dies alles im Rahmen seiner Intentionalitätstheorie darstellen. Dilthey tut es das Seelenleben beschreibend und zergliedernd, indem er zudem dessen Leistungen als Strukturzusammenhang (hermeneutisch) versteht. Diltheys Ausführungen aus dem Sommer 1906 könnten auch über der Spätphilosophie Husserls stehen: »Nicht die Annahme eines starren a priori unseres Erkenntnisvermögens, sondern allein Entwicklungsgeschichte, welche von der Totalität unseres Wesens ausgeht, kann die Fragen beantworten, die wir alle an die Philosophie zu richten haben.« Mit »unserem Selbst«, das nicht nur vorstellend, sondern auch fühlend und wollend ist, ist uns »Wirklichkeit« gegeben.40 Wirklichkeit scheint hier wie bei Husserl als Selbst-Werdung verstanden zu werden. In einem Vortrag von 1931 zum Thema Phänomenologie und Anthropologie, 36 Ebd., S. 270. Es heißt mit, nicht in seinem Milieu, d. h. Erleben und Milieu sind faktisch nicht trennbar. Eben deshalb kann Dilthey dies »Urzelle der Geschichte« nennen (ebd.) 37 Der Sinn dessen, was Intentionalität bedeutet, kann hier – in der geistigen Welt – anschaulich zur Geltung gebracht werden. Die konkrete geistige Welt (auch als Kultur thematisiert) kann als motivationaler Zusammenhang aufgefasst werden im Gegensatz zur kausal definierten Natur der Naturwissenschaften. Dilthey geht im übrigen unbekümmerter mit dem Terminus »kausal« um. 38 Hua VI, S. 189 f. 39 In den Ideen II wird vorgeführt, dass »menschliche Persönlichkeit« sich erst konstituiert »in der Unendlichkeit der Erfahrung«, ohne welche auch das »reine Ich« nicht zur Geltung käme (Hua IV, S. 104). 40 Dilthey, Logik und Wert, GS Bd. 24, S. 57. Sperrung von uns. Der Text klingt relativistischer, als er ist. Es wird zwar ein »starres Apriori« abgelehnt, aber doch von der »Totalität unseres Wesens« ausgegangen. Dilthey und Husserl scheinen sich diese Totalität in einer Art ›Idee im Kantischen Sinne‹ vorschweben zu lassen, wobei Husserl eher an die Möglichkeit einer scharfen Durchrationalisierung zu glauben scheint, während Dilthey sich beschreibend annähert.

Dilthey zwischen Kant und Husserl

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den er in Frankfurt, Berlin und Halle vor den dortigen Ortsgruppen der KantGesellschaft hielt, hat Husserl noch immer seine Probleme mit Dilthey. Aber er ringt sich zu einigen entscheidenden Thesen durch. Zunächst spricht er halb bedauernd von einer »anwachsende(n) Hinneigung zu einer philosophischen Anthropologie« und stellt doch »W. Diltheys Lebensphilosophie« als »eine Anthropologie neuartiger Gestalt« heraus. »Im Menschen allein, und zwar in einer Wesenslehre seines konkret-weltlichen Daseins, soll das wahre Fundament der Philosophie liegen« – so referiert Husserl41, man ist versucht zu sagen: etwas erstaunt. Dilthey positiv würdigend, verweist er auf die beachtliche »Verflochtenheit von Psychologie und Philosophie im Zeitalter der transzendentalen Motivation.« Es sei »die Einführung der Intentionalität in die sogenannte deskriptive Psychologie42 […] sowie von der geisteswissenschaftlichen Orientierung her Diltheys Impuls zu einer Psychologie der Personalität in ihrer gesellschaftlich geschichtlichen Existenz«, von woher »Vorbedingungen geschaffen« worden seien »für ein neues und tieferes Verstehen des spezifisch transzendentalen Problems und für die Auffindung einer bodenständigen transzendentalen Methode«.43 Wie wir schon wissen, wird Husserl ein halbes Jahrzehnt später in seiner Krisis-Abhandlung erklären, dass das transzendentale Subjekt notwendig als Mensch, als intersubjektiver und interaktiver Mensch, in der Welt ist. Seine Transzendentalität bewähre sich im ›insofern‹ seiner »Besinnung«.44 Zumindest seit dem Vortrag von 1931 muss Husserl mehr und mehr den »Parallelismus einer intentionalen Psychologie und der transzendentalen Phänomenologie« anerkennen.45 Allerdings dürfen dann – so meint Husserl – weder Psychologie noch Anthropologie als jeweils »eine positive Wissenschaft neben den anderen«46 aufgefasst werden. In diesem Sinne kann er auch eine Formulierung wagen wie die folgende, vermeintlich ganz an Dilthey anschließende: »Echte Bewußtseinsanalyse ist sozusagen Hermeneutik des Bewusstseinslebens als eines immerzu Seiendes (Identisches) Vermeinenden, Seiendes in sich in wesenszugehörigen Bewußtseinsmannigfaltigkeiten intentional Konstituieren-

41 Hua XXVII, S. 164. 42 Damit spielt Husserl auf Brentano an, den er nun gemeinsam mit Dilthey zum Vorläufer der Phänomenologie macht. 43 Hua XXVII, S. 180. 44 Vgl. Hua VI, S. 189 f. In seinen Beiträgen zum Studium der Individualität (1895/96) räumt Dilthey dem transzendentalen Gesichtspunkt durchaus eine entscheidende Funktion ein (GS Bd. 5, S. 246 f). Sie betrifft die modalisierende Interpretation unserer Erfahrung im Ganzen, d. h. deren Besinnungspotentiale. 45 Vgl. Hua XXVII, S. 181. Vgl. auch Husserls sogenanntes ›Nachwort‹ zu den Ideen I sowie den Encylopaedia Britannica-Artikel und die Amsterdamer Vorträge (Hua IV, S. 138 – 162; Hua IX, S. 237 – 349). 46 Hua XXVII, S. 181.

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des«.47 Husserl ist Dilthey hier näher als er wissen kann.48 Er wehrt sich eigentlich nicht mehr gegen den neuen Anthropologismus, sondern spricht in den 30er Jahren zunehmend von universaler Geisteswissenschaft (als Grundlagenwissenschaft) und von der ›Humanisierung‹ der Welt im Sinne ihrer intentionalen Konstitution – also eine Beförderung auch der Anthropologie zur Prinzipienwissenschaft, wie es scheint. Aber diese Anthropologie müsste nach seiner Einsicht und seinem Willen »transzendental« sein, so wie Husserl es versteht. Im übrigen kritisieren Dilthey und Husserl mit ihrer Subjektsauffassung beide Kant, ohne dessen Inaugurationsleistung zu verkennen. Wo aber Dilthey den Begriff »transzendental« eher verabschiedet, gibt Husserl ihm einen neuen Sinn, der von Diltheyscher Besinnung nicht fern ist.49 Der Bewusstseinsphilosoph Dilthey führt zwei Moment auf, die diesem Bewusstsein Stabilität verleihen. Das eine ist der ideal-objektive Charakter der Bedeutungen und allen Sinnes. Das andere ist der Wirklichkeitscharakter der Subjektivität selbst, die in einem Lebens- und Wirkungszusammenhang notwendig verankert ist. Für diesen Doppel-Befund bietet Husserl eine Theorie an, nämlich die transzendentale Intentionalitätstheorie, aus deren Anfängen Dilthey schon glaubte methodisch Nutzen ziehen zu können. Gleichwohl bleibt Diltheys Aufdeckung des Befundes die originäre Leistung, die man nicht voreilig überspielen sollte.

47 Hua XXVII, S. 177. 48 Dabei ist zu beachten, dass Dilthey, was den Gebrauch des Terminus ›Hermeneutik‹ betrifft, vermutlich eher zurückhaltender gewesen wäre. Husserl steht hier wohl schon unter dem – noch unreflektierten – Einfluss der Diltheyschule. 49 Die Nicht-Hypostasierbarkeit der Besinnung ist das Problem beider – Diltheys und Husserls – , das sich auch in dem Terminus ›transzendental‹ zur Geltung bringt. Bei Dilthey zeigt es sich in der Möglichkeit zweier Arten von geisteswissenschaftlicher Forschung. Die eine dokumentiert sich im Plural konkreter Geisteswissenschaften (von diesem und jenem Gebiet menschlichen Tuns und menschlicher Wirklichkeit). Die andere glauben wir in einer Geisteswissenschaft im generellen Singular fassen zu können, die für die Struktur des seelischen Zusammenhangs als solchen und sozusagen für seine Logik zuständig ist. Husserl’sch gesprochen handelt es sich bei den Themen der Geisteswissenschaften im Plural um je konkrete (im einzelnen also sehr unterschiedliche) intentionale Konfigurationen; die generelle Geisteswissenschaft im Singular thematisiert demgegenüber das intentionale Leisten schlechthin und in seinen Grundfunktionen. Dilthey hat gesehen, dass die eine Aufgabe nicht ohne Inanspruchnahme des jeweils anderen Gebiets bearbeitet werden kann, so sehr ihm die verstehend-bechreibende Psychologie oder – wie man später meint – die Hermeneutik als grundlegend erscheinen mochte. Gerade der Umstand, dass beschreibende Psychologie und Hermeneutik bei Dilthey offenkundig nicht als dasselbe angesehen werden können, sollte zu denken geben.

Francesca D’Alberto

Diltheys zweites Hauptwerk: »Leben Schleiermachers«

1.

Einleitung

In der Vorrede zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), die herkömmlich als Diltheys Hauptwerk angesehen wird, schreibt der Autor : »Dieser Versuch erscheint, bevor ich eine alte Schuld durch die Vollendung der Biographie Schleiermachers abgetragen habe. Nach dem Abschluß der Vorarbeiten für die zweite Hälfte derselben ergab sich […], daß die Darstellung und Kritik des Systems von Schleiermacher überall Erörterungen über die letzten Fragen der Philosophie voraussetzten. So wurde die Biographie bis zum Erscheinen des gegenwärtigen Buches zurückgelegt, welches mir dann solche Erörterungen ersparen wird.«1 Dilthey bezieht sich hier auf das Leben Schleiermachers, die Biographie des berühmten Theologen, die er schon in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts angefangen hatte und derer erster Teil in den Jahren 1868 – 1870 erschien.2 Die Einleitung in die Geisteswissenschaften entstand also, so geht aus diesem Zitat hervor, in engem Zusammenhang mit dem Leben Schleiermachers, das, genauso wie die weit mehr bekannte und von der Kritik immer wieder diskutierte Einleitung, unvollendet blieb.3 Die geplante Rekonstruktion der ganzen Lebensgeschichte des Theologen zusammen mit der Darstellung von dessen System konnte Dilthey nicht veröffentlichen. Nur die Geschichte des jungen Schleiermacher (bis zum Jahre 1802) hat er während seines Lebens publiziert, 1 Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften (GS) Bd. 1, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, hg. von Bernhard Groethuysen, Göttingen 2008, S. XX. 2 Vgl. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Berlin 1870, jetzt in Dilthey, GS Bd. 13: Leben Schleiermachers, hg. von Martin Redeker, Berlin 1970. Der Band 14 (Leben Schleiermachers. Zweiter Band: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, hg. von Martin Redeker, Berlin 1966) umfasst weitere für die zweite Edition des Werkes von Dilthey vorbereitete Schriften. 3 Dilthey publizierte nur die ersten zwei Bücher der Einleitung in die Geisteswissenschaften. Die Materialien für die folgenden Bände wurden später in GS Bd. 19 gesammelt.

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wobei die Fortsetzung Fragment geblieben ist und auch seine Darstellung des philosophischen und theologischen Systems keine endgültige Fassung für die Publikation gefunden hat.4 Wie die Materialien zur Fortsetzung dieses Werkes zeigen und viele Stellen seines Briefwechsels bestätigen, hat Dilthey bis zu den letzten Tagen seines Lebens versucht, sein imposantes Werk über den Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher zu vervollständigen. Es ist deswegen erstaunlich, dass das Leben Schleiermachers nur selten in die Diskussion über Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften einbezogen wird, obwohl es – immer auf das Zitat zurückgehend – die Voraussetzung und der Anstoß für »das erste Hauptwerk«, die Einleitung in die Geisteswissenschaften, war. Dass das Leben Schleiermachers eine entscheidende Rolle für Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften und deren konsequente Begründung spielt, erweist sich deutlich auch durch einen ganz einfachen Vergleich zwischen den beiden Werken: Übt Dilthey in der Einleitung ausführlich Kritik an der Philosophie der Geschichte und an der Metaphysik und zieht zugleich die Leitfäden seines (nicht ganz entfalteten) Systems, so führt er im Leben Schleiermachers eine tiefe und umfangreiche Reflexion über die Philosophie des Idealismus und über die zentralen Fragen, die die Philosophie seiner Gegenwart bewegten, was notwendige Bedingung für das Verständnis seines ersten Hauptwerkes ist. In gleicher Weise verwunderlich ist übrigens der immer noch wiederholte und oft einfach vorausgesetzte Gedanke, dass Schleiermacher nur in den ersten Jahren seiner akademischen Arbeit für Diltheys Bildung und innere Entwicklung von Bedeutung gewesen sei, obwohl Diltheys Schriften sein ständiges und vielschichtiges Interesse für den Autor der Reden über die Religion beweisen. Jene These, die auf der angeblich tiefen Kluft zwischen dem religiösen Ansatz Schleiermachers und der säkularisierten Perspektive Diltheys besteht, vergisst die zahlreichen Reflexionen Diltheys über die Religion, die in seinem ganzen Werk aufzufinden sind und für die er sich auch auf Schleiermacher bezog.5 4 Die Ergebnisse der lebenslangen Beschäftigung Diltheys mit Schleiermachers Denken sind in den ersten zwei Bänden der Biographie Leben Schleiermachers, in den Materialien für deren Fortsetzung (zum Teil in GS Bd. 13 veröffentlicht) und in dem weit gediehenen Kommentar zu Schleiermachers System (zum Teil in GS Bd. 14 publiziert) gesammelt. Weitere noch unveröffentlichten Materialien finden sich im Nachlass Diltheys. 5 Nicht nur in dem Aufsatz Das Problem der Religion (GS Bd. 6: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. 2: Abhandlungen zur Ethik, Poetik und Pädagogik, hg. von Georg Misch, Göttingen 1994, S. 288 – 305) hat Dilthey den Religionsbegriff betrachtet: Wie Gunter Scholtz neulich in seinem Vortrag Menschliche Natur und Religionsentwicklung in der Sicht Diltheys hervorgehoben hat, findet man bei Dilthey viele Überlegungen zur Religion und Religionsgeschichte, besonders in GS Bd. 2 (Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, hg. von Georg Misch, Göttingen 1991) und GS Bd. 6. Der Vortrag von G. Scholtz jetzt in: Anthropologie und Geschichte. Studien zu Wilhelm Dilthey aus

Diltheys zweites Hauptwerk: »Leben Schleiermachers«

2.

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Eine philosophische Biographie

Schon ein einziger Blick in Diltheys Schriften zeigt, wie intensiv er mit Schleiermachers Denken sich beschäftigt und wie ausführlich er die Themen von dessen System diskutiert hat. Die im Jahre 1859 verfasste breite Abhandlung Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik6, der Beitrag Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit (1862)7 und die Dissertation De principiis ethices Schleiermacheri (1864)8 bestätigen, dass die Jugendjahre Diltheys von Schleiermachers Denken stark geprägt wurden. Es handelt sich also keineswegs um einen nur gelegentlichen und vorübergehenden Einfluss, wie oft behauptet wurde und noch wird. Ist diese Einwirkung auf die Atmosphäre der Berliner Universität zurückzuführen, wo Schleiermacher als »Stern« der dort herrschenden Vermittlungstheologie und als Bezugsautor von Diltheys Lehrer Adolf Trendelenburg galt, kann man nicht leugnen, dass Dilthey im Laufe seines intellektuellen Lebens sich nie davon befreit hat.9 Im Gegenteil hat er in den Jahren nach dem Studium seine Auseinandersetzung mit dem Theologen und Philosophen immer weiter vertieft: Allein die von Dilthey veröffentlichten Teile des Leben Schleiermachers betragen fast 600 Seite und die für die zweite Auflage schon vorbereiteten Teile (wie schon gesagt, heute in GS 13 und GS 14) ungefähr mehr als weitere 500 Seiten. Obwohl dieses Werk aus einer geplanten »Einleitung« für die Briefe Schleiermachers hervorgegangen war, wie Dilthey in Tagebüchern und Briefen erklärt10, wäre es heute sehr einseitig und kurzsichtig, Grund und Motiv für diese gut 1000 Seiten in der von Ludwig Jonas übernommenen Aufgabe zu sehen, die Briefe Schleiermachers herauszugeben.11 Denn diese »Einleitung« zu Schleiermachers Briefwechsel

6 7 8 9

10 11

Anlass seines 100. Todestages, hg. von Giuseppe D’Anna, Helmut Johach, Eric S. Nelsson, Würzburg 2013, S. 275 – 289. Heute in: Dilthey, Leben Schleiermachers, GS Bd. 14, S. 595 ff. Vgl. Dilthey, GS Bd. 12: Zur preußischen Geschichte, hg. von Erich Weniger, Göttingen 1985, S. 1 – 36. Zum Teil in deutscher Übersetzung publiziert unter dem Titel Kritik der ethischen Prinzipien Schleiermachers, in GS Bd. 14, S. 339 ff. Diltheys Universitätsjahre standen eindeutig unter dem Einfluss von Schleiermachers Erben: Neben Trendelenburg, seinem Doktorvater, stand Dilthey in Beziehung mit August Twesten und Karl Immanuel Nitzsch, Nachfolger Schleiermachers in Berlin. Vgl. Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852 – 1864, hg. von Clara Misch, Leipzig, Berlin 1933. Für einen Versuch, diese Einflüsse näher aufzuweisen, siehe Francesca D’Alberto, Dalla teologia di Friedrich Schleiermacher alla psicologia della religione di Wilhelm Dilthey, in: Archivio di storia della cultura XXIV (2011), S. 43 – 74. Der junge Dilthey, S. 64 ff, 110, 128, 137 ff, 158 ff. Vgl. Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, vorbereitet von Ludwig Jonas, hg. von Wilhem Dilthey, Bd. 3 – 4, Berlin 1861 – 1863. Die ersten zwei Bände wurden in Berlin im Jahr 1858

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wurde zu einer epochemachenden Geistesgeschichte, die als Vorbild für weitere philosophische Biographien angesehen wurde.12 Neben der ausführlichen Vita Schleiermachers führte darin Dilthey eine gründliche Diskussion von dessen systematischem Denken durch: In Schleiermachers System als Philosophie werden Schleiermachers Dialektik, Ethik, Ästhetik, Staatslehre, sogar Psychologie und Physik untersucht, und in dem weiteren Teil, Schleiermachers System als Theologie, finden wir die noch sehr fragmentarisch edierten Materialien aus Diltheys Nachlass über die Glaubenslehre. Nicht nur der große Fleiß, Schleiermachers Leben und Werk zu rekonstruieren, und die lebenslange Arbeit, um dieses umfängliche Werk zu vollenden, beweisen den Belang des Leben Schleiermachers für Dilthey. Durch dieses Werk wollte er einen weit anspruchsvolleren Zweck erreichen: er wollte die Kontinuität des philosophischen Projektes Schleiermachers mit dem seiner eigenen Gegenwart nachweisen. Am Anfang der Biographie hebt er diesen Zweck sehr klar hervor: »Ich möchte nicht erzählen bloß, sondern überzeugen. Ich möchte, daß vor der Seele des Lesers […] das Bild dieses großen Daseins stehe, aber zugleich ein Zusammenhang bleibender Ideen, streng begründet, eingreifend in die wissenschaftliche Arbeit und das handelnde Leben der Gegenwart.«13 Also schon für den jungen Biographen sollte das Leben Schleiermachers mehr als eine Biographie sein. Es war vielmehr die Rekonstruktion und Interpretation des individuellen Lebens und seiner Leistungen im Licht eines sehr weiten Horizonts angezielt, in dem auch die kulturelle, wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des gesamten Milieus zur Darstellung kommt. Wie Dilthey wiederholt erklärt, handelt es sich bei seinem historiographischen Modell um ein anspruchsvolles Projekt, das von der Wechselwirkung zwischen Individuum und kultureller »Umwelt« ausgeht und in einem historisch-biographischen und in einem systematisch-philosophischen Teil sich artikuliert.14 Als Biograph verstand Dilthey seine Aufgabe als eine Form des Nach- und Weiterdenkens, was den Kern und das besondere Merkmal seiner Methode ausmacht. In dem Vorwort für die zweite (nicht erschienene) Auflage der Bioveröffentlicht. Dazu siehe Andreas Arndt, Wolfgang Virmond, Zur Entstehung und Gestaltung der beiden ersten Bände. Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 92 (1981), S. 60 – 68. 12 Schon Rudolf Haym – Diltheys Zeitgenosse und Autor der Romantischen Schule, ein dem Leben Schleiermachers sehr nahes Werk – sah die Neuigkeit und Bedeutsamkeit von Diltheys biographischer Methode: R. Haym, Die Dilthey’sche Biographie Schleiermachers, in: Preussische Jahrbücher 26 (1870), S. 556 – 654. 13 Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. 13, S. XXXVI, Fußnote: Einleitung zur ersten Auflage. 14 Was andererseits von seiner ständigen Beschäftigung mit dem biographischen Modell bestätigt wird: vgl. v. a. die berühmte Jugendgeschichte Hegels, GS Bd. 4: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des Deutschen Idealismus, hg. von Herman Nohl, Göttingen 1990.

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graphie konnte er behaupten: »Die vorliegende Darstellung entsprang aus einem inneren Bedürfnis, vor dem Abschluß meines Werkes über Schleiermacher die Grundlagen meiner Philosophie offenzulegen, von denen aus ich die Lebensarbeit Schleiermachers betrachtet habe. Denn mein Verhältnis zu diesem Werk ist nicht nur das eines Geschichtsschreibers zu seinem Stoff«. Weil Schleiermacher aus immer neuer Gedankenarbeit »großenteils nur AperÅus und Trümmer von dem, was ihm vorschwebte herauszuarbeiten, hinterlassen« hat, betont Dilthey, »gelang es erst dann, seine innere Arbeit mir ganz durchsichtig zu machen, als meine eigene Grundrichtung sich mir entfaltet hatte«. Um »den Leser, der mehr als nur Biographie sucht«, zu befriedigen – erklärt er weiter–, müsse er ihn »zuvorderst auch auf den Standpunkt stellen, von dem aus ich glaube, Schleiermacher historisch verstanden zu haben«.15 Dadurch wird eine gegenseitige Erhellung der eigenen und der Schleiermacherschen Perspektive von Dilthey angestrebt. Ihm selber war deswegen immer klar, dass sein eigenes Denken und sein eigenes Werk von Schleiermachers Arbeiten abhängig waren.

3.

Die Lage der Kritik und zwei Bemerkungen

Ungeachtet der evident engen Beziehung zwischen den beiden Autoren und der philosophischen Bedeutsamkeit des biographischen Ansatzes für Dilthey hat die Kritik die Rolle des Leben Schleiermachers für dessen intellektuelle Entwicklung gerne übersehen. Nicht nur dieses Werk wurde meistens als »bloße« Biographie unterschätzt, sondern das ganze Verhältnis zwischen Dilthey und Schleiermacher hat ein merkwürdiges Schicksal gehabt. Wurden Schleiermacher und Dilthey in der Philosophie des 20. Jahrhunderts mit Recht eng verbunden, so stand aber diese Verbindung nach den Interpretationen von Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer einseitig unter dem Titel »Hermeneutik«. Diese eingeschränkte Betrachtung des Verhältnisses von Dilthey und Schleiermacher hat einen entscheidenden Einfluss auf das Bild von den beiden Autoren ausgeübt, die für lange Zeit schlechthin als »Klassiker der Hermeneutik« galten. Obwohl diese Interpretation heute nicht mehr als selbstverständlich angesehen wird, ist immer noch die »Linie« Schleiermacher-Dilthey-Heidegger-Gadamer der bevorzugte Referenzrahmen für viele Interpreten.16 Verschiedene Gründe haben zu dieser Vereinfachung geführt. In erster Linie hat die schwierige Editionslage von Diltheys Schriften in diesem Sinn gewirkt: 15 Dilthey, GS Bd. 14, S. 32. 16 Siehe als Beispiele Amedeo Marinotti, Comprendere la vita. La realt— spirituale e l’ermeneutica in Dilthey, Milano 2003; Marco Jacobson, Dilthey e Heidegger. Vita, morte e storia, Milano 2010.

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Erst im Jahr 1966 – sechs Jahre nach Wahrheit und Methode von Gadamer, dessen Verständnis von Hermeneutik als Muster für die folgende Epoche galt17 – erschienen in Band 14 von Diltheys Gesammelten Schriften zahlreiche Materialien zu Lebensgeschichte und Denken des Theologen, die die Komplexität und Vielfältigkeit von Diltheys Rezeption und Interpretation zeigten. Die hermeneutische Lektüre hatte sich schon konsolidiert, als Diltheys Darstellungen und Kommentare der weiteren Aspekte von Schleiermachers Denken ans Licht kamen. Auf einen weiteren Grund kann die Unterschätzung des Einflusses von Schleiermachers Denken auf Diltheys Philosophie zurückgeführt werden: Galt Schleiermacher schon während seines Lebens als wichtiger Theologe, als »Kant der protestantischen Theologie«, wie Dilthey selber ihn charakterisiert hat, blieb seine Bedeutung als Philosoph lange Zeit unerkannt.18 Neben den anderen philosophischen Systemen des Idealismus erschien sein System als eklektische Komposition verschiedener Elemente, und zwar der alten Philosophie und des modernen Pantheismus. In diesem Sinn wurde die philosophische Tiefe und Originalität seines Systems nicht wirklich erkannt. Diesbezüglich wirkten besonders stark die Hegel- und Schelling-Schüler, die Schleiermacher als kleinere und synkretistische Stimme des Idealismus herabgesetzt haben.19 Wer die Veranlassungen der langen Unterschätzung von Schleiermachers Bedeutung für Diltheys Theorien verstehen möchte, darf übrigens nicht vergessen, dass Diltheys kritisches und schwankendes Verhältnis zu Religion und Theologie zu einem durchgängigen Missverständnis seiner Position geführt hat. Da Dilthey in vielen autobiographischen Passagen seinen eigenen Mangel an religiösem Glauben ausdrücklich ausgesprochen und in verschiedenen Schriften die endgültige Krise der Theologie diagnostiziert hat, wurde auch sein Interesse an Schleiermacher als vorläufiges und unwichtiges Erbe seiner alten theologischen Bildung betrachtet.20 Man kann zwar nicht leugnen, dass Diltheys Denken 17 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. 18 Vgl. Dilthey, GS Bd.14, S. 531. 19 Über die Rezeption von Schleiermachers Philosophie vgl. Gunter Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, und Kurt Nowak, Schleiermachers Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001. 20 Schon Ulrich Herrmann in dem Beitrag über Dilthey in der Theologische Realenzyklopädie (hg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller, Berlin, New York 1981, Bd. 8, S. 752 – 763) äußerte die Notwendigkeit einer Forschung über die Theologie und die Religion bei Dilthey. Vor Herrmann findet man nur kurze Andeutungen dieses Problems: vgl. Frithjof Rodi, Wilhelm Dilthey, in: Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, hg. von Hans Jürgen Schultz, Stuttgart-Olten, 1966, S. 13 – 18; Peter Hünermann, Der Durchbruch des geschichtlichen Denkens im 19. Jahrhunderts. Droysen, Dilthey, Yorck von Wartenburg, Freiburg i. Br. 1967; Hermann Nohl, Theologie und Philosophie in der Entwicklung Wilhelm Diltheys, in: ders.,

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unter dem Zeichen der Säkularisierung stand, in der die Religion keine Führungskraft im menschlichen Leben mehr besitzt. Aber trotzdem kann seine Auseinandersetzung mit Schleiermacher und mit der Theologie der Zeit in keinem Fall als bloße Kritik oder Verurteilung der Religion ausgelegt werden, vielmehr ist sie eine kritische Betrachtung von derer Rolle in der modernen Gesellschaft.21 Nur durch eine eingehende Prüfung des Lebens Schleiermachers und des Diltheyschen Nachlasses kann man zu einem »runden« Bild des Verhältnisses Dilthey-Schleiermacher und zu einer ausführlicheren Beurteilung kommen. Angesichts der Publikation des Gesamtwerks beider Autoren und dank der Arbeiten von Hans-Joachim Birkner, Giovanni Moretto und Gunter Scholtz hat sich in den letzten Jahrzehnten allmählich deutlicher erwiesen: a) dass Diltheys Lektüre von Schleiermacher in keinem Fall auf die Hermeneutik sich beschränken lässt und b) dass Schleiermacher nicht nur als Theologe, sondern als originärer Philosoph Dilthey beeinflusst hat.22 a) Die Hermeneutik erscheint heute immer deutlicher als ein nur begrenzter Teil des Denkens beider Autoren. Hat Schleiermacher die Hermeneutik als »technische« Disziplin betrachtet und ihr nur akademische Vorlesungen in der theologischen Fakultät gewidmet, nicht in der philosophischen, finden wir bei Dilthey sogar kein einziges systematisches Werk, das er »Hermeneutik« genannt hätte.23 Die schon zitierte Preisschrift über Schleiermachers Auslegungstheorie wurde erst von Martin Redeker, dem Herausgeber des Lebens Schleiermachers, in Band 14 der Gesammelten Schriften veröffentlicht, weil Dilthey selber sie nicht Deutsche Bewegung. Vorlesungen und Aufsätze zur Geistesgeschichte 1770 – 1830, hg. von Otto Friedrich Bollnow, Frithjof Rodi, Göttingen, 1970, S. 310 – 315. Neulich hat Gunter Scholtz das Problem Dilthey als Religionsdenker klar fokussiert: vgl Scholtz, Diltheys »Problem der Religion«, in: Archiv für Kulturgeschichte 93, Heft 2 (2011), S. 257 – 282. 21 Wie einige Beiträge Diltheys über die Theologie seiner Zeit zeigen: vgl. Karl Immanuel Nitzsch. Zum16. Juni 1860, GS Bd. 1, S. 39 – 56; Vom Aufgang des geschichtlichen Bewusstseins. Jugendaufsätze und Erinnerungen, hg. von Erich Weniger, Stuttgart, Göttingen 1972, S. 39 – 56; Laienbriefe über einige weltliche Schriften, ebd., S. 57 – 70; Ferdinand Christian Baur, in GS Bd. 4, Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus, hg. von Hermann Nohl, Stuttgart, Göttingen 1975, S. 403 – 432. 22 Besonders wichtig unter diesem Gesichtspunkt sind die folgenden Arbeiten: Hans-Joachim Birkner, Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation, München 1974; Giovanni Moretto, Etica e storia in Schleiermacher, Napoli 1979; Gunter Scholtz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1995. 23 Der bekannte Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik (1900) fasst einige in der Jugendschrift Die Hermeneutik Schleiermachers in der Auseindandersetzung mit der älteren protestantischen Systemen dargestellten Thesen zusammen: Es handelt sich aber keineswegs um eine entfaltete Theorie der Hermeneutik. Vgl. Dilthey, GS Bd. 5, Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, hg. von Georg Misch, Stuttgart, Göttingen 1924, S. 317 – 338.

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publizieren wollte. Ohne Redekers Edition würde uns von Dilthey keine ausführliche Betrachtung der Schleiermacherschen Hermeneutik zur Verfügung stehen: ein Paradox, wenn man an die lange Rezeption Diltheys als »Hermeneutiker« denkt. Übrigens kann die oben genannte Preisschrift in keinem Fall einfach als Rezeption der Schleiermacherschen Hermeneutik gelesen werden. Vielmehr nimmt Dilthey darin einen Kernpunkt seiner späteren Schleiermacher-Deutung vorweg, nämlich dass die Hermeneutik als technische Disziplin sich auf die Ethik stützt, so dass die Grenze der Hermeneutik zugleich auf die Schwäche der Sittenlehre hinweist.24 In der Preisschrift hat Dilthey den von Schleiermacher geleisteten Beitrag an der Entstehung und Durchsetzung der historischen BibelAuslegung innerhalb der protestantischen Tradition erklärt und dabei die noch mangelhafte Fassung der Geschichte in dessen Theorie kritisiert. Die ausführliche Darstellung der protestantischen Hermeneutik bis zu Schleiermacher und die vielfältigen Argumentationen führen zu einem zentralen Punkt: Den vielen Fortschritten in Richtung »Historisierung der Auslegung« zum Trotzt ist laut Dilthey Schleiermachers Hermeneutik unter vielen Aspekten noch eine gleichsam alte Hermeneutik. Obwohl Schleiermacher die Notwendigkeit anerkannt hat, die alten Regeln der Auslegung zu überwinden und die individuelle geschichtliche Erfahrung, die sich im Text äußert, in ihrer Beziehung zum allgemeinen Kontext zu betrachten, habe er seine eigene Theorie nicht konsequent entwickelt. Die Grenzen der Schleiermacherschen Hermeneutik – die hier einfach aufgelistet werden können: der Mangel an historischem Sinn, die einseitige Dominanz der Keimentschlusstheorie und die Spannung zwischen Individualität und systematischer Konstruktion – seien letztendlich auf die Sittenlehre zurückzuführen. In dieser Richtung präzisiert Dilthey : »Denn auf dieser Verwandlung der geschichtlichen Mannigfaltigkeit und Bewegung in zeitlose begriffliche Hauptformen, auf dem Prinzip der Klassifikation gegenüber dem der Erklärung beruht nicht nur die Konstruktion der Ethik, der die Hermeneutik untergeordnet ist, sondern – was daraus folgt – auch durchaus die der Hermeneutik.«25 Kurz gefasst, kann man sagen, dass Dilthey die Auslegungstheorie Schleiermachers zwar diskutiert hat, aber mit der Absicht, deren Grenze und deren begriffliche Abhängigkeit von dem ganzen System und besonders von der Ethik zu zeigen. Wird im Licht dieser Lektüre klar, dass Schleiermachers Hermeneutik 24 Für eine ausführliche Erklärung dieses Themas und insgesamt der Diltheyschen Rezeption von Schleiermacher, von der hier die Rede ist, vgl.: Francesca D’Alberto, Ermeneutica e sistema. Dilthey lettore dell’etica di Schleiermacher, Cleup 2011 und Wilhelm Dilthey : Rezeption und Kritik von Schleiermachers Ethik, in: Rassegna di Pedagogia/Pädagogische Umschau LXVIII, 1 – 4 (2010), S. 117 – 137. 25 GS Bd. 14, S. 693.

Diltheys zweites Hauptwerk: »Leben Schleiermachers«

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mit Bezug auf die Ethik betrachtet werden muss, so fokussiert Dilthey mit Recht auch einen weiteren zentrale Punkt von Schleiermachers System. Da alle Disziplinen bei Schleiermacher von einem höchsten Prinzip abhängig sind, und zwar vom höchsten Wissen, müssen sie auf die Dialektik bezogen werden, in der Schleiermacher das Wissen und die Formen des Denkens betrachtet hat. Dialektik und Ethik ergeben sich schon in dieser Jugendschrift als Schwerpunkte von Diltheys Schleiermacher-Rezeption, weil erst in ihrer Beziehung die Bedeutung des ganzen Systems ans Licht kommt. Letztendlich weit über die bloße Rezeption der Hermeneutik hinaus kommt Dilthey durch die Beschäftigung mit Schleiermacher zu der allgemeinen und entscheidenden Frage, wie ein System gegründet, gebaut und artikuliert sein muss. b) Auch die weitere schon angedeutete These, dass Dilthey als »unreligiöser Geist« keine entscheidende Einwirkung von Schleiermacher erlebt habe, erscheint wiederum bei näherer Betrachtung als eine unkritische Vereinfachung. Hat Dilthey oft seinen Mangel an religiösem Glauben ausgedrückt, und in dieser Hinsicht kann man seine Distanz zu Schleiermacher nur bestätigen, folgen doch sowohl seine Überlegungen über Religion und deren Verhältnis zur Philosophie als auch seine Argumente für die Trennung zwischen dem Staat und der Kirche durchaus Schleiermachers Spuren. Insgesamt kritisiert Dilthey die Theologie seiner Zeit, weil sie unfähig sei, die Welt zu begreifen und Antworten auf die Probleme der neuen Epoche zu finden. Im Jahre 1862 kommt er sogar zu einem Plädoyer für eine Erneuerung der Theologie, die sie endlich weltoffen machen kann. Die Notwendigkeit für die Kirche und die Theologie, sich mit der neuen Welt zu befassen, d. h. mit einer Welt, in der die Wissenschaften die führende Rolle in der Gesellschaft spielen, ist ein wichtiger Grund für Diltheys Schätzung von Schleiermachers Ansatz. Anders als die meisten Theologen seiner Zeit, erklärt Dilthey, habe Schleiermacher seinen Blick immer auf die Realität gerichtet, um Theologie und reale Wissenschaften zu versöhnen. In den Reden über die Religion »schied Schleiermacher zuerst streng die Wissenschaft aus der Religion aus. Er legte damit den Grund zu einer künftigen Versöhnung der Religion mit der intellektuellen Kultur des Abendlandes«.26 Die Modernität von Schleiermachers Denken besteht also für Dilthey in der Fähigkeit seines Religionsbegriffes, der Religion neben den Wissenschaften und der Philosophie ihren Bestand zu sichern. Diltheys Bruch mit der Theologie und seine Kritik an der Kirche bedeuten jedenfalls in keinem Fall das Ende seines Interesses an Schleiermacher. Genau umgekehrt: Nach diesem Bruch kann Dilthey die Aufwertung der philosophischen Aspekte von dessen Denken und dadurch eine Revision des Schleiermacher-Bildes beginnen, mit der eine philosophische Schleiermacher-Renaissance erst angebahnt wird. 26 GS Bd. 13, S. 428.

32

4.

Francesca D’Alberto

Dilthey als Interpret Schleiermachers: Ein Überblick

Ist Diltheys Stellungnahme zu Schleiermacher kritisch und manchmal vieldeutig, so kann man im Licht der oben zusammengefassten Gründe nicht übersehen, dass sein eigenes Denken ständig mit Schleiermachers verbunden blieb. Doch eine theoretische Schwierigkeit, die in der allgemeinen Voraussetzung von Diltheys Denken liegt, macht es besonders schwer, eine klare Beurteilung von dessen Verhältnis zu Schleiermacher zu formulieren. Es sei unmöglich, behauptet Dilthey, für das moderne Denken nach Kant sich weiter auf die Metaphysik zu stützen und für die moderne Gesellschaft sich an den Dogmen und Regeln der Theologie zu orientieren. Diese antimetaphysische Überzeugung – deren Konsistenz hier nicht diskutiert werden kann – führt selbstverständlich Dilthey dazu, viele Seiten des Schleiermacherschen und weiterer idealistischer Systeme zu kritisieren. Teilt Dilthey den theologischen Horizont Schleiermachers und den noch metaphysischen Gesichtspunkt seines Systems nicht, so schätzt er doch mit Recht die Modernität Schleiermachers, die in zahlreichen Aspekten von dessen System zu finden ist. In diesem Beitrag können leider nur einige davon angedeutet werden.

a)

Realistische Ethik

Man hat schon gezeigt, dass Dilthey zu Recht die Hermeneutik Schleiermachers als Teil eines umfangreichen und differenzierten Systems interpretiert, dessen Kern die Ethik ist. Genau in der Ethik sieht er den wichtigsten Beitrag Schleiermachers zu einer modernen Weltanschauung: Die Schleiermachersche Sittenlehre ergibt sich als entscheidender Schritt, um die Ethik und ihre zentrale Stelle in der Epoche der Naturwissenschaften zu unterstreichen. In Abgrenzung von Kants »beschränkender Ethik« und von Kants und Fichtes Idee eines Gegensatzes von Naturgesetz und Sittengesetz ist Schleiermacher für Dilthey »durch die Vereinigung der subjektiven (transcendentalen) mit der objektiven Methode in der Ethik allen andren gleichzeitigen weit überlegen.«27 In seinen Akademieabhandlungen, besonders in den zwei Texten Über das höchste Gut (1827), und in seinen Vorlesungen über das System der Sittenlehre entwickelte Schleiermacher eine bildende Ethik, in der es keine Trennung zwischen Sein und Sollen gibt. Anstatt eines logischen Verhältnisses zwischen Einzelnem und Allgemeinem, d. h. zwischen Individuum und Gesetz, stellt 27 Dilthey an Graf Yorck (Januar 1890). Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877 – 1897, hg. von Sigfried von Schulenburg, Halle a. d. S. 1923, S. 89.

Diltheys zweites Hauptwerk: »Leben Schleiermachers«

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Schleiermacher, so betont Dilthey, ein reales Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen dar : Dadurch »tritt das formale Prinzip, das Kant entwickelt hat, in Verhältnis zu dem Prinzip einer realen inhaltlichen, einen Zweckzusammenhang verwirklichenden Vernunft im Ganzen der Gesellschaft.«28 Kern dieser neuen Ethik ist nach Diltheys Interpretation die Güterlehre. Haben zuerst die antiken Schulen den Tugendbegriff entwickelt und damit die moralische Selbständigkeit des Individuums behauptet und haben dann Kant und Fichte, abgesehen von den Konsequenzen des Handelns, den Pflichtbegriff hervorgehoben, habe Schleiermacher, so Dilthey, durch die Güterlehre eine Versöhnung von Individuum und Gesellschaft, von Individuellem und Allgemeinem verwirklicht. Dieser realistische Ansatz – nach dem die sittlichen Handlungen in Bezug auf ihre Konsequenzen, d. h. in Bezug auf die von ihnen produzierten Güter, betrachtet werden müssen – habe Schleiermacher eine Sozialethik ermöglicht, deren Voraussetzung die Kantische Idee einer allgemeinen Vernunft sei: »Zwischen Kant, Fichte und Schleiermacher«, erklärt Dilthey, »besteht eine Verwandtschaft […]. Die gesamte Transzendentalphilosophie ruht auf dem Begriff einer allgemeinen Vernunft, die sich in den Individuen manifestiert.«29 Obwohl Dilthey sehr kritisch bemerkt, dass in diesem Ansatz ein noch starker metaphysischer Kern präsent ist, nimmt er das Ziel und die Begriffe von Schleiermachers Ethik in seine eigene Philosophie auf, wie die in der Einleitung in die Geisteswissenschaften dargestellte Theorie der Kultursysteme und der Organisationen der Gesellschaft deutlich beweist. Trotz der vielen Unterschieden zwischen den zwei Perspektiven und der Umformungen, die die Schleiermacherschen Begriffe durch Diltheys Rezeption erfahren, kann man nicht unbeachtet lassen, dass die Theorie der Kultursysteme von Moral, Wissenschaft, Religion, Kunst usw., deren Selbständigkeit Dilthey behauptet hat, in Schleiermachers Theorie der bildenden und symbolisierenden Tätigkeit der Vernunft und in dessen systematischer Ausgestaltung der Güterlehre verankert ist.30 Die Kennzeichen von Schleiermachers Sittenlehre – Sozialethik, Zusammenhang Individuum-Gesellschaft, Trennung der verschiedenen Kultursphären – werden zu Grundsteinen der Diltheyschen Theorie der geschichtlichen Welt: Nicht zufällig haben dieselben Schwächen von Diltheys Ethik, die von verschiedenen Interpreten herausgestellt wurden, ihre Wurzeln zum Teil in der einseitigen Auslegung von Schleiermachers Sittenlehre.31 28 GS Bd. 14, S. 245 – 246. 29 GS Bd. 14, S. 242. 30 Auf eine »Transformation« der Güterlehre in Diltheys Rezeption weist Tobias Bube hin: Zwischen Kultur- und Sozialphilosophie. Wirkungsgeschichtliche Studien zu Wilhelm Dilthey, Würzburg 2007, S. 177 ff. 31 Zu Diltheys Ethik siehe Dilthey, System der Ethik, GS Bd. 10, hg. von Hermann Nohl, Göt-

34 b)

Francesca D’Alberto

Erkenntnistheoretische Logik

Indem Dilthey die verschiedenen Seiten des Schleiermacherschen Systems analysiert, kommt er zu der Betrachtung von dessen Dialektik. Auch in diesem Fall entwickelt sich die Argumentation Diltheys zu einer positive Schätzung von Schleiermachers Theorie und zugleich zu einer kritischen Stellungnahme zu deren noch metaphysischem Hintergrund. Ist die Ethik der Kernpunkt von Schleiermachers System, führt Dilthey diese zu Recht auf die Dialektik zurück. Darin entwickelt Schleiermacher eine Theorie des Wissens, die Voraussetzung aller weiterer Wissenschaften und Disziplinen ist. Auch in diesem Fall hat die Kritik erstaunlicherweise keine systematische Prüfung der Kontaktpunkte zwischen Dilthey und Schleiermacher durchgeführt, wobei Dilthey selber – wie sofort gezeigt wird – sie hervorhebt.32 Durch die Reflexion von Entstehung und Zusammenhang der Einzelwissenschaften – erklärt Dilthey in seinem Kommentar zur Dialektik – habe Schleiermacher die Idee des Wissens und die Rolle der Philosophie in der modernen Zeit hervorragend herausgestellt: »Die Sätze Schleiermachers beschreiben die Funktion der Philosophie im Haushalt unseres geistigen Lebens vollkommen richtig.« Die Idee, dass die Philosophie »die Aufgabe, den Widerstreit zwischen unseren Gedanken aufzuheben und den Einzelwissenschaften Zusammenhang und Begründung zu geben« hat, verbindet Schleiermacher mit der Transzendentalphilosophie, deren Ansatz und Ergebnisse für jede weitere Entwicklung der Philosophie nach Diltheys Meinung grundlegend sind.33 Diltheys Erachtens ist die von Schleiermacher erarbeitete Lösung nicht völlig übernehmbar, weil sie – an die alte Philosophie sich anschließend – in der Korrespondenz zwischen Denken und Sein die Möglichkeit des Wissens sieht: Dilthey zweifelt, »ob dies durch Rückgang auf eine generelle Bedingung für das Erkennen, die dann in der transzendenten Beziehung von Denken und Sein zu suchen war, jemals gelingen konnte«. Trotzdem bleibe es das feste Verdienst Schleiermachers, das Problem der modernen Erkenntnistheorie deutlich gesehen tingen 1981. Kritik an Diltheys Ethik wird besonders geübt von Hans Ineichen, Erkenntnistheorie und geschichtlich-gesellschaftliche Welt. Diltheys Logik der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1975; Christofer Zöckler, Dilthey und die Hermeneutik. Diltheys Begründung der Hermeneutik als Praxiswissenschaft und die Geschichte ihrer Rezeption, Stuttgart 1975; Matthias Kross, Ethik als Sozialphilosophie. Über Wilhelm Diltheys Ethik Vorlesung aus dem Jahre 1890, S. 143 – 166, in: Dilthey und Yorck. Philosophie und Geisteswissenschaften im Zeichen von Geschichtlichkeit und Historismus, hg. von Jerzy Krakowski, Gunter Scholtz, Wrocław 1996. 32 Einen Vergleich zwischen den beiden gnoseologischen Perspektiven hat Gunter Scholtz in dem Aufsatz Schleiermachers Dilaktik und Diltheys erkenntnistheoretische Logik, in: Ethik und Hermeneutik, zit., S. 235 ff, durchgeführt. 33 GS Bd. 14, S. 67 – 68.

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zu haben. »Soll Erkenntnis sein«, behauptete Schleiermacher, »so muss eine Beziehung unseres Denkens auf das, was in ihm gedacht wird«, gegeben sein. In diesem Sinn habe Schleiermacher »das richtige Problem, über Kant in solcher Verbürgung einer objektiven Erkenntnis hinausschreiten zu wollen«, thematisiert.34 Und genau diesen Zweck wollte Dilthey selber mit seiner Begründung der Geisteswissenschaften erreichen: Er zielte darauf, die Objektivität der Erkenntnis zu gewährleisten, ohne Verzicht auf deren subjektiven Ursprung. Durch die Prüfung der Berührungspunkte und der Unterschiede zwischen Kant und Schleiermacher kann Dilthey in der Dialektik Schleiermachers den erfolgsreichsten Versuch sehen, Kants Spuren zu folgen, ohne in Formalismus und Subjektivismus zu fallen.35 Die zentrale Stellung der Individualität und die Rolle der Selbstbesinnung für die Erkenntnis sind Diltheys Meinung nach Prüfsteine für Schleiermachers korrekten Ansatz zu einer modernen Erkenntnistheorie. Auch wenn die Kongruenz des Denkzusammenhanges mit der Wirklichkeit, die Basis von Schleiermachers System, unbeweisbar bleibt, ist Dilthey ohne Zweifel mit dessen allgemeinem Programm einverstanden, so dass er behauptet: »Schleiermachers Dialektik ist die erste erkenntnistheoretische Logik. Wir verstehen darunter eine Grundlegung der realen Wissenschaft, die von dem Problem der menschlichen Erkenntnis ausgeht und im Verlauf seiner Auflösung die Formen, Gesetzte und Methoden des Denkens als Mittel, diese Erkenntnis herbeizuführen, entwickelt. Schleiermacher bezeichnet das Ideal dieser Grundlegung mit dem Namen der Transzendentalphilosophie.«36 Das ganze Projekt einer Theorie der Geisteswissenschaften führt Dilthey im Einklang mit Schleiermacher durch: »Ist das Ziel der modernen Methodenlehre durch das Studium der Geschichte der Wissenschaften reguliert, gehen wir davon aus, dass das Wissen durch das Zusammenwirken der Einzelwissenschaften sich verwirklicht, so hat die Methodenlehre Schleiermachers in der Erfassung der Systematik der Wirklichkeit ihren durch die spekulative Bewegung bedingten Schlusspunkt.«37 Indem »diese erkenntnistheoretische Logik notwendig mit einer Methodenlehre [endigt]«, stehen die Dialektik Schleiermachers und die Logik Diltheys in engem Zusammenhang.38

34 35 36 37 38

GS Bd 14, S. 74. Für die Schleiermachersche Rezeption und Kritik Kants vgl. besonders GS Bd. 13, S. 94 ff. GS Bd. 14, p. 157. GS Bd. 14, p. 158. Diesbezüglich vgl. die Vorlesungen über die Logik und die Skizze seines Systems in Dilthey, GS Bd. 20: Logik und System der philosophischen Wissenschaften. Vorlesungen zur Erkenntnistheoretischen Logik und Methodologie (1864 – 1903), hg. von Hans-Ulrich Lessing, Frithjof Rodi, Göttingen 1990.

36 c)

Francesca D’Alberto

Psychologie

Auf einen weiteren wichtigen Punkt ist hier kurz hinzuweisen, der von zentraler Bedeutung für Diltheys Rezeption ist. Dass die Diltheysche Interpretation Schleiermachers in der strukturellen Spannung zwischen Rezeption und Kritik, zwischen Annahme der Grundbegriffe und Ablehnung von deren metaphysischem Hintergrund sich abspielt, gilt auch für eine dritte Seite von Schleiermachers System, und zwar für die Psychologie. Eine der Grundschwächen dieses Systems ist Diltheys Erachtens nach der Mangel an einer kohärenten Psychologie: Die Konsequenzen dieses Mangels seien sowohl in der Sittenlehre als auch in der Dialektik bemerkbar und kämen sehr deutlich ans Licht in der Schwierigkeit, eine eindeutige Stellung der Psychologie gegenüber den anderen Disziplinen zu finden. Habe Schleiermacher einen tiefen Blick in die Menschenseele geworfen, wie seine Monologen zeigen, und eine fruchtbare psychologische Analyse angebahnt, wie in der Sittenlehre deutlich erkennbar ist, habe er leider die Notwendigkeit einer psychologischen Begründung der Geisteswissenschaften nicht richtig gesehen.39 Wiederholt auch Dilthey oft diese Kritik, muss er doch zugleich gestehen, dass für Schleiermacher, anders als für Kant und seine Nachfolger, »der ganze psychologische Tatbestand, der volle Mensch die Tatsache der Selbstbesinnung bildet, welche im Erkenntnisprozeß tätig ist.«40 Und daran schließt er sich an. Dasselbe Ziel Diltheys, die Psychologie als Hauptwissenschaft und Basis der Geisteswissenschaften zu etablieren, das er in der Einleitung in die Geisteswissenschaften deutlich ausspricht, gilt also auch für die Fortsetzung und Neuinterpretierung von Schleiermachers Psychologie als Fortentwicklung der Transzendentalphilosophie. Diesbezüglich ist die Idee eines Zweckzusammenhanges, die Dilthey in seinem »ersten Hauptwerk« entwickelt, ein Versuch, die psychologische Intuition Schleiermachers von jeder metaphysischen Hypothek zu befreien, empirisch zu begründen und für die Geisteswissenschaften fruchtbar zu machen.

5.

Bruch und Kontinuität

Es ist überraschend, dass die meisten Interpreten Diltheys den Bruch zwischen dessen Theorie der Geisteswissenschaften und Schleiermachers System betont haben, wobei es im Leben Schleiermachers genau umgekehrt um die Suche nach 39 Über die Kritik an der Ausführung von Dialektik, Ethik und Psychologie bei Schleiermacher vgl. GS Bd. 14, S. 80 ff, 465 ff. 40 GS Bd. 14, S. 464.

Diltheys zweites Hauptwerk: »Leben Schleiermachers«

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der Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart geht. Übrigens sprach Dilthey selbst Yorck von Wartenburg gegenüber diese Nähe aus: »In dem Ausgangspunkte sind wir mit ihm [Schleiermacher] einig. Auch die Weltansicht kann nur von der Analyse des Subjektes in seinen Relationen zu dem was auf es wirkt und auf welches es zurückwirkt entwickelt werden. Man kann die Natur nicht an sich haben und ihr irgendwie abgucken was Welt und Leben seien und bedeuten […]. Auch in dem weiteren Hauptpunkte sind wir mit ihm einig, weil wir es mit allen mystischen, allen geschichtlichen und allen heroischen Philosophen sind.« Was Schleiermacher deutlich gezeigt hat, ist, dass man »vom Leben ausgehen« muss.41 Gibt es Differenzpunkte – die von Dilthey zusammengefasst in Schleiermachers spekulativer Denkweise liegen, in seiner Idee des Universums als »einer dem Satze vom Grunde unterworfenen einheitlichen Gliederung« und in seiner »zeit- und geschichtslosen Auffassung der Lebensformen« -, so erklärt er trotzdem Schleiermacher zum Lebensphilosophen, also zum Bahnbrecher für seine eigene Perspektive.42 Die hier kurz erwähnten und zusammengefassten Thesen machen klar, dass das Leben Schleiermachers die Voraussetzung der Einleitung in die Geisteswissenschaften ist und in diesem Sinn nur simplifizierend als »zweites Hauptwerk« angesehen werden kann. Der Horizont der Einleitung wird im Leben Schleiermachers bestimmt: Durch die Prüfung von Schleiermachers System sieht Dilthey die Notwendigkeit, eine nicht-metaphysische Grundlegung der Geisteswissenschaften zu suchen. Inwieweit er sich von Schleiermacher wirklich distanziert hat und inwiefern er die Schwächen von dessen System in seinem eigenen korrigiert hat, bleibt zum Teil eine noch offene Frage.

41 Dilthey an Graf Yorck (Ende August od. Anfang September 1887). Briefwechsel, a. a. O., S. 247. 42 Dilthey an Graf Yorck (Januar 1890). Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Yorck von Wartenburg, S. 89 ff.

Valentin Pluder

Diltheys Interesse an Hegel

Den Namen Dilthey im Zusammenhang mit Hegel zu hören ist für uns nichts Überraschendes. Schließlich war es Dilthey, der mit seiner Jugendgeschichte Hegels1 dem sogenannten Neuhegelianismus in Deutschland einen, wenn nicht sogar den wesentlichen Anschub gegeben hat. Aber nicht nur als Philosophiehistoriker steht Dilthey dem Namen Hegel nahe. Auch der Philosoph Dilthey übernimmt an einigen Punkten Hegelsches Gedankengut. Das prominenteste Beispiel dafür ist sicherlich Diltheys Aufnahme des Begriffes ›objektiver Geist‹, der ursprünglich von Hegel geprägt wurde. Wobei es sogleich einschränkend zu bemerken gilt, dass diese Übernahmen Hegelschen Gedankengutes stets kritisch sind. Insbesondere der Begriff des objektiven Geistes wird von Dilthey stark modifiziert. Zugleich ist er in dieser Diltheyschen Modifikation wirkungsmächtig geworden. Tatsächlich ist es so, dass, wenn heutzutage der Begriff ›objektiver Geist‹ fällt, nicht selten viel Dilthey und wenig Hegel dahinter steckt. Die Tatsache, dass sich der Philosophiehistoriker Dilthey und der Philosoph Dilthey – ohne hier aus einem Dilthey zwei machen zu wollen – eingehend mit Hegel beschäftigt haben, nimmt der Begegnung beider Namen also alles Überraschende. Darüber hinaus sind beide größtenteils Philosophen des 19. Jahrhunderts. Genau an diesem Punkt gilt es jedoch skeptisch zu werden, denn das 19. Jahrhundert ist ein langes, auch in der Philosophiegeschichte. Aus der heutigen Retrospektive mag es wenig erstaunlich erscheinen, dass ein 1833 geborener Denker wie Dilthey sich an einem 1831 gestorbenen Vorgänger wie Hegel abarbeitet. Für Dilthey und seine Zeitgenossen selbst jedoch galt die Philosophie Hegels wie die des sogenannten ›Deutschen Idealismus‹ insgesamt zunächst als hoffnungslos veraltet. Mehr noch, sie galt für eine Vielzahl der Philosophen in der Mitte des 19. Jahrhunderts als ein desaströser Irrweg, der der

1 Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels, GS Bd. 4, S. 5 – 187.

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Valentin Pluder

Philosophie und ihrer Stellung unter den Wissenschaften beträchtlichen Schaden zugefügt hatte.2 Die ablehnende Haltung gegenüber der Philosophie des sogenannten Deutschen Idealismus wird greifbar angesichts der expliziten Zuwendung bzw. Rückwendung zu Kant. Dieser beginnende Neukantianismus war nicht ausschließlich affirmativ daraus motiviert, Kant und seine Philosophie wieder zur Geltung zu bringen. Es ging genauso darum, sich gegenüber Kants unmittelbaren Nachfolgern abzugrenzen, d. h. insbesondere gegenüber Fichte, Schelling und Hegel, die sich selbst als Erben der Kantischen Philosophie verstanden.3 Es ging also auch darum, hinter den Abweg zurückzukehren, den die Philosophie in Deutschland nach Kant genommen hatte. Otto Liebmann verleiht der Konsequenz aus der Kritik an der unmittelbar nachkantischen Philosophie ihren formelhaften Ausdruck und gibt dem Neukantianismus damit zugleich sein Motto. Liebmann lässt jedes Kapitel seines 1865 erschienenen Buches Kant und die Epigonen mit der Schlussfolgerung enden: »Also muss auf Kant zurückgegangen werden.«4 Nun ist Dilthey kein Neukantianer. Nichtsdestoweniger teilt er zunächst deren Standpunkt und wird ihn, was seine kritische Haltung gegenüber der vermeintlichen Metaphysik des sogenannten Deutschen Idealismus angeht, auch beibehalten. In seiner Basler Antrittsvorlesung heißt es 1867: »die Richtung, welcher ich angehöre, [hat] kämpfend mit der Ungunst dieser Epoche gegenüber strenger Forschung, kämpfend mit Wind und Wetter, unmutig die Systeme dieser Denker [des Deutschen Idealismus] als eine Kette von Verirrungen behandelt, einen wüsten Traum gleichsam, den man, erwacht, am besten tue, gänzlich zu vergessen.« Dilthey ist sich mit Liebmann ganz einig: »Also ich sage: die Philosophie soll über Hegel, Schelling und Fichte weg auf Kant zurückgreifen.«5 Ein tiefer Riss klafft also in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen den Philosophen aus dem Umfeld beginnender neukantischer Strömungen und dem – nun, in der Retrospektive klar von Kant abgehobenen – sogenannten Deutschen Idealismus. Vor diesem Hintergrund erscheint die Kombination Dilthey und Hegel keineswegs mehr so selbstverständlich, wie sie für uns heute ist. 2 Vgl. Dilthey, Frühe Vorlesungen zur Logik und zum System der philosophischen Wissenschaften, GS Bd. 20, S. 5. 3 Genauso wesentlich war freilich auch die ablehnende Haltung einem Materialismus gegenüber. 4 Otto Liebmann, Kant und die Epigonen, Berlin 1912, S. 109, 138, 156, 204 und öfter. Zur Geschichte des Neukantianismus siehe Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt a. M. 1986. 5 Dilthey, Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770 bis 1800, GS Bd. 5, S. 13.

Diltheys Interesse an Hegel

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Dilthey muss seine anfänglich eindeutig negative Haltung gegenüber Hegel später relativiert haben. Warum dies so ist, verrät einiges über die Philosophie Diltheys. Einige mehr oder weniger mutmaßliche Gründe dieses Wechsels sollen hier angesprochen werden.

1.

Dilthey als Hegelkritiker

Zunächst allerdings muss herausgestellt werden, woran sich Dilthey überhaupt stößt, wenn er auf Hegel schaut: Seine Kernkritik ist dabei nicht einzig auf Hegel und nicht einmal auf den sogenannten Deutschen Idealismus beschränkt. Sie erstreckt sich weiter und erfasst – wie gesagt, Dilthey ist kein Neukantianer – auch Kant selbst. Dilthey wendet sich gegen ein Denken, das seinen Ausgangspunkt in einseitigen Abstraktionen hat, die fern von der Fülle des konkreten Lebens liegen. Diese Kritik ist ein Leitmotiv. Dilthey bringt es am Beginn seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften mit dem berühmten Satz zum Ausdruck: »In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit.«6 Dabei hat Dilthey durchaus auch Hegel im Visier. Deutlich wird dies an seiner Klage bezüglich der Hegelschen Geschichtsphilosophie. Diese komme nur zustande, »[…] indem nun die notiones universales ihr graues Netz über die geschichtliche Welt ausbreiteten. Der ›Geist‹ Hegels, welcher in der Geschichte zum Bewußtsein seiner Freiheit kommt, […] ist eine abstrakte Wesenheit, welche in einer farblosen Abstraktion den geschichtlichen Weltlauf zusammenfaßt, ein Subjekt ohne Ort und ohne Zeit […]. Aus der Anschauung abstrahierte Allgemeinvorstellungen sind dann die universalgeschichtlichen Epochen Hegels […].«7 Am deutlichsten treten die philosophischen Verfehlungen Hegels jedoch an dessen Hauptwerk, der Wissenschaft der Logik,8 hervor. Denn in dieser Arbeit versucht Hegel – in den Augen Diltheys –, alle Wirklichkeit allein aus Vernunftbegriffen heraus zu konstruieren. Die Logik Hegels leite aus den abstraktesten Allgemeinbegriffen des reinen Denkens gewissermaßen deduktiv weniger abstrakte ab. Mit diesem Verfahren soll die Fülle des Wirklichen begrifflich erschlossen werden können. Dilthey kritisiert zu Recht: »Daß aber der abstraktere Begriff den konkreteren erzeugen solle, widerspricht geradezu der Natur der Dinge. Denn das Produkt kann nicht mehr 6 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 1, S. XVIII. 7 Dilthey, Einleitung, S. 104. Vgl. auch ebd. S. 95 f sowie S. 358. Siehe darüber hinaus Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, GS Bd. 5, S. 222. 8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Gesammelte Werke Bde. 11, 12 und 21, Hamburg 1978, 1981, 1985.

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enthalten, als was die Faktoren hineingeben.«9 Tatsächlich ist ein angemessenes Begreifen der Wirklichkeit nach Dilthey nur unter Rückgriff auf die konkrete Erfahrung möglich. Ein solches Vorgehen allerdings widerspräche systematisch der Hegelschen Logik: »Sie [die absolute Logik Hegels] würde sich selber vernichten, wenn sie der Erfahrung Eingang in ihre Dialektik gestattete.«10 In der Entkopplung von der Erfahrung liegt also die abzulehnende Abstraktheit der Hegelschen Logik.11 In diesem Zusammenhang gibt Dilthey Hegel wegen seiner Verstiegenheit in Abstraktionen die Schuld am Niedergang der Philosophie in der Mitte des 19. Jahrhunderts: »Wenn die Erfahrungswissenschaften Dezennien hindurch die Philosophie perhorresziert haben, wenn die Philosophie im Leben der Nation eine lange Zeit hindurch […] die Bedeutung für den Fortgang der Wissenschaften verlor […]: so hat der Konflikt zischen diesem logischen Hochmut [Hegels] und dem berechtigten Selbstgefühl der Erfahrungswissenschaften, zwischen den unfruchtbaren Allgemeinbegriffen dieser Philosophie [Hegels] und der fruchtbaren Genauigkeit der Methoden in den Erfahrungswissenschaften dieses Urteil über die Philosophie verschuldet.«12

2.

Diltheys Gegenkonzept

Der blutleeren Abstraktion, dem farblosen Denken in Allgemeinbegriffen, setzt Dilthey das Leben insgesamt als unmittelbares Erlebnis13 der Tatsachen des Bewusstseins entgegen. Dieses unmittelbare Wahrnehmen soll sich nicht im reinen Vorstellen erschöpfen. Es soll den ganzen Menschen als ›wollend fühlend vorstellendes Wesen‹14 bzw. als ›psycho-physische Lebenseinheit‹15 erfassen und damit den ›realen Lebensprozeß‹ zur Grundlage haben. Wie fasst Dilthey diese Tatsachen des Bewusstseins – und es gibt nach Diltheys Satz der Phänomenalität keine anderen Tatsachen16 –, die er dem abstrakten auf die Vernunft fixierten Denken entgegenstellt, im Einzelnen auf ? Sie sind »unmittelbar für die wis9 Dilthey, Logik, S. 11. Aus Allgemeinem kann nichts Konkretes deduziert werden. Diese Feststellung wird später ihren Kontrapunkt in der Feststellung finden, dass sich aus dem Singularen nicht das Allgemeine ableiten lässt. 10 Ebd., S. 10. 11 Ebd., S. 9: »Dies System des reinen Gedankens und die Wissenschaften der Erfahrung stehen in dem menschlichen Geiste nebeneinander, ohne daß ihr Verhältnis erklärt würde.« 12 Ebd., S. 5. 13 Vgl. Dilthey, Ausarbeitungen zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 19, S. 59. 14 Dilthey, Einleitung, S. XVIII. 15 Ebd., S. 5. 16 Der Satz der Phänomenalität, d.i. der erste Hauptsatz der Philosophie besagt, dass »alles Tatsache des Bewußtseins ist und sonach unter den Bedingungen desselben steht« (Dilthey, Ausarbeitungen, S. 60). Vgl. dazu auch Dilthey, Einleitung, S. 29.

Diltheys Interesse an Hegel

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senschaftliche Analyse gegeben und gewiß«.17 Die Realität dieser Tatsachen des Bewusstseins ist in einem »unlöslichen einfachen Wissen gegeben«18, das von ›unmittelbarer Gewißheit‹19 und ›ganz durchsichtig und klar‹20 ist. Alle intellektuellen Operationen, einschließlich der Logik, sind diesen geistigen Tatsachen nachgeordnet. Sie sind unvermittelt das absolut Erste.21 »Sonach eröffnet sich in diesen Tatsachen des Bewußtseins das Reich der unmittelbaren Wirklichkeit: die Tore der Realität sind aufgetan«.22 Grundlage und Rückhalt aller angemessenen Erfassung der Wirklichkeit bildet also das unmittelbar und konkret gegebene Erlebnis, das Tatsache des Bewusstseins ist. Die Wissenschaft hat von diesem unmittelbaren Erlebnis ihren Ausgang zu nehmen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ist für Dilthey daher eine beschreibe Psychologie erste Wissenschaft. Von dieser im unmittelbaren Erlebnis fundierten beschreibenden Psychologie sollen sich im Grunde alle Kategorien der Wissenschaft und damit der Welterschließung ableiten lassen. In zweierlei Hinsicht steht Dilthey nach seiner Auffassung demnach im Gegensatz zu Hegel. Zum einen zieht er das konkrete Erlebnis dem abstrakten Denken vor und zum anderen nimmt seine Philosophie von einem rein Unmittelbaren ihren Ausgang. Hegel dagegen wollte von einem solch rein unmittelbaren Anfang aller Wissenschaft nichts wissen. Stammt doch von ihm der paradox anmutende Satz, »daß es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung, so daß sich diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jeder Gegensatz sich als ein Nichtiges zeigt.«23

3.

Dilthey als Kantkritiker

Was also bringt Dilthey trotz seiner Ablehnung der Hegelschen Philosophie dazu, sich nicht nur dennoch mit Hegel zu beschäftigen, sondern mehr noch sogar Aspekten dessen Denkens Eingang in sein eigenes Denken zu gewähren? Um diese Frage zu klären, lohnt es sich, noch einmal einen kurzen Blick auf Diltheys Verhältnis zu Kant zu werfen. Zwar hatte Dilthey sich oben der Parole 17 18 19 20 21

Dilthey, Ausarbeitungen, S. 88; vgl. auch Dilthey, Einleitung, S. 28. Dilthey, Ausarbeitungen, S. 86. Vgl. auch ebd. S. 61. Ebd., S. 82. Ebd., S. 62. Ebd., S. 85: »Es kann in der Tat gezeigt werden, daß das Wissen von der Realität der Tatsachen des Bewußtseins nicht vermittelst des Raisonnements erst gewonnen werden muß, daß vielmehr ein unmittelbares Wissen von derselben besteht.« 22 Dilthey, Ausarbeitungen, S. 64. 23 Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Erster Band. Die Lehre vom Sein, Gesammelte Werke Bd. 21, Hamburg 1985, S. 54.

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des Neukantianismus – dass auf Kant zurückgegangen werden müsse – angeschlossen, zugleich aber beschränkt sich Diltheys Kritik nicht ausschließlich auf den sogenannten Deutschen Idealismus. Die Kritik wendet sich genauso gegen Kant selbst. Die Formel, auf die sich diese Kritik, sofern sie hier interessiert, bringen lässt, ist: historische versus reine Vernunft. Für Kant ist die empirische Erfahrung sowie das Denken überhaupt bedingt durch einen Grundstock bestimmter transzendentaler geistiger Operationen, genauer : durch die Anschauungsformen und die Kategorien. Als Bedingung der Erfahrung und des Denkens kann dieser Grundstock durch Erfahrung und Denken, d. h. insbesondere durch historische Erfahrung und die geschichtliche Entwicklung des Denkens, nicht beeinflusst werden. Diese Grundoperationen fasst Kant dementsprechend als unveränderlich und überzeitlich auf. Darüber hinaus geht er davon aus, dass sie für alle Subjekte gleichermaßen Geltung haben. Nach Dilthey mag dies für die Sphäre der Naturwissenschaften gelten. Zumindest für die Sphäre der Geisteswissenschaften trifft die Vorstellung einer überzeitlich unveränderlichen Vernunft allerdings nicht zu. Die Vernunft ist dort selbst eine historische. Sie ist aus dem geschichtlichen und kulturellen Zusammenhang heraus bedingt und wandelt sich mit dessen Wandel in der Zeit. Auch hier zeigt sich, dass Dilthey nicht abstrakt abgehobene geistige Operationen zum Fixpunkt seiner Philosophie macht, sondern den Fokus auf die konkrete und unmittelbar im Erlebnis zugängliche Wirklichkeit legt. Von »diesem unmittelbaren Wissen über die Wirklichkeit aus die Leistungen des Denkens verständlich zu machen,«24 ist die Aufgabe seiner Philosophie.

4.

Dilthey als Philosophiehistoriker

Von diesem Standpunkt aus wird deutlich, dass es vollkommen abwegig ist, zwischen dem Philosophen und dem Philosophiehistoriker Dilthey zu unterscheiden. Dilthey begreift das Denken seiner Zeit als Resultat des historisch vorhergehenden Denkens. Ein angemessenes Verständnis der aktuellen geistigen Wirklichkeit ist daher nur unter Einbezug ihrer Genese, d. h. der vergangenen geistigen Wirklichkeit, zu erlangen.25 Ein strikter Kantianer mag es als überflüssig erachten, sich auf den Irrwegen der Philosophiegeschichte herumzutreiben. Dagegen ist für Dilthey das Verständnis jeder vergangenen Geisteshaltung wesentlich, selbst wenn er sie von seinem eigenen Standpunkt aus ablehnt. Denn die Vergangenheit und damit auch die vergangene Philosophie ist – 24 Dilthey, Ausarbeitungen, S. 41. 25 Insgesamt sind die Geisteswissenschaften auf Selbstbesinnung hin angelegt. Vgl. dazu Dilthey, Aufbau, S. 82.

Diltheys Interesse an Hegel

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sei es negativ oder affirmativ – Moment der Genese der Gegenwart respektive der gegenwärtigen Philosophie. Im Rahmen dieser allgemeinen Einsicht muss sich Dilthey folglich auch mit einem so einflussreichen Denker wie Hegel beschäftigen. Tatsächlich sollte die Jugendgeschichte Hegels einfließen in die umfassenderen Studien zur Geschichte des deutschen Geistes.26 Diltheys Interesse an Hegel speist sich also zum Teil aus seinem allgemeinen Interesse an der Geschichte der Philosophie. Darüber hinaus muss Dilthey jedoch auch noch ein besonderes Interesse an der Philosophie Hegels haben. Denn Hegel nimmt nicht nur im Allgemeinen eine prominente Stelle in der Geschichte der Philosophie ein. Er nimmt darüber hinaus auch im Besonderen eine herausragende Stellung ein, und zwar wenn es um die Geschichte der Entstehung des historischen Bewusstseins geht. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Vernunft, die Dilthey so genau auf die Geschichte der Philosophie blicken lässt, hat selbst eine Geschichte, in der Hegel keine unwesentliche Rolle spielt. Auch für Hegel ist die Vernunft bzw. der Verstand keine fixe überhistorisch unveränderliche Größe, sondern unterliegt einer dynamischen Entwicklung, die sich durch die Geschichte und insbesondere durch die Geschichte der Philosophie verfolgen lässt.27 In Hegels Phänomenologie des Geistes etwa werden die Entwicklungsschritte des Geistes lose in eine Parallele mit der Entwicklung der Geschichte gebracht. Nicht von ungefähr bezeichnet Dilthey Hegel im Aufbau als »eines der größten historischen Genies aller Zeiten.«28 Diese Einigkeit zwischen Hegel und Dilthey endet allerdings dort, wo Dilthey Hegel vorwirft, er würde die Geschichte anhand abstrakter Allgemeinbestimmungen konstruieren. Für Hegel lässt sich die Weltgeschichte als ein »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«29 begreifen. Dilthey wendet sich gegen eine solche »Philosophie der Geschichte«, die »in ihrer Formel die ganze Wesenheit des Weltlaufs auszudrücken beansprucht.«30 Einer Konstruktion nach Formeln stellt er den unvoreingenommenen Blick auf das konkrete geschichtliche Leben entgegen. Auch hier muss nach Dilthey das Allgemeine ausgehend von dem Konkreten erschlossen werden und nicht umgekehrt.

26 Die ›Studien‹ bis zum 19. Jahrhundert sind zu finden in: Dilthey, Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Leibniz und sein Zeitalter. Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung. Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt, GS Bd. 3. 27 Dass diese Nähe allerdings auch schnell an ihre Grenze stößt, zeigt Arne Homann, Diltheys Bruch mit der Metaphysik. Die Aufhebung der Hegelschen Philosophie im geschichtlichen Bewußtsein, München 1995. 28 Dilthey, Aufbau, S. 99. 29 Hegel, Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1961, S. 61. 30 Dilthey, Einleitung, S. 96.

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5.

Valentin Pluder

Ein Mangel der Hegelforschung

Die aktuell herrschende Vernunft oder – wenn man so will – der Geist der Gegenwart kann angemessen also nur aus seiner historischen Genese heraus verstanden werden. Diese gewissermaßen makroskopische Einsicht gilt gleichermaßen auf mikroskopischer Ebene. Auch der individuelle Geist muss aus seiner Genese heraus begriffen werden. So wie Dilthey, um seine Zeit zu verstehen, die Geschichte ihrer Entwicklung, die eben auch Hegel einschließt, verstehen muss, so muss, um das Denken Hegels zu verstehen, die Geschichte der Entwicklung dieses Denkens verstanden sein. Diese Aufgabe stand zu Diltheys Zeiten noch aus. Dieser Umstand muss insbesondere deshalb unbefriedigend gewesen sein, weil die frühen Handschriften Hegels – im Gegensatz zu vielen anderen Denkern – durchaus zugänglich waren. Dilthey nimmt sich mit seiner Jugendgeschichte Hegels dieses Mangels an. Er setzt damit einen weiteren, vormals fehlenden Stein in das Mosaik der geistigen Entwicklung, die zu seiner Gegenwart führt. Zugleich kommt ihm die Auseinandersetzung mit den frühen Werken Hegels auch inhaltlich entgegen. Schließlich lehnt Dilthey Hegels Philosophie vor allem deshalb ab, weil er meint, Hegel verliere über seine abstrakten Formeln des Denkens die Fülle der konkreten Wirklichkeit aus den Augen. Diese lebendige Wirklichkeit kann nicht mittels einer schematischen Konstruktion erfasst werde. Genau dies versucht aber der reife Hegel, folgt man Diltheys Ansicht. Der junge Hegel dagegen hatte seinem Denken noch nicht das Korsett derartiger Formeln anlegen können. Die frühen Schriften Hegels sind entsprechend »noch unbeengt vom Zwang der dialektischen Methode aus der Vertiefung in den größten Stoff der Geschichte entstanden.«31 Dilthey musste eine eingehende Auseinandersetzung mit diesen Schriften also als besonders fruchtbar auffassen. Hier kann ein kurzes Zwischenresümee gezogen werden: Nach dem Grund gefragt, aus dem sich Dilthey der seinerzeit als veraltet geltenden Philosophie Hegels zuwendet, konnten bisher also drei Aspekte genannte werden. Zum einen hält Dilthey die Vernunft als historisch aus ihrer Genese heraus bestimmt, und Hegel ist Teil dieser Genese. Zum anderen findet Dilthey in Hegel einen Vorgänger seiner selbst in dieser Ansicht. Und schließlich setzt ein angemessenes Verstehen der Geistesgeschichte das angemessene Verstehen ihrer einzelnen Akteure voraus. Eine Voraussetzung, die im Fall Hegels allerdings erst zu erfüllen war, nachdem dessen Denken von seinen Anfängen her offengelegt wurde. Es ist Dilthey, der sich die dieser Aufgabe in der Jugendgeschichte stellt.

31 Dilthey, Jugendgeschichte, S. 3.

Diltheys Interesse an Hegel

6.

Dilthey und der objektive Geist

6.1.

Die Grenzen der Psychologie

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Diltheys philosophisches Konzept selbst bleibt nicht unberührt von der Auseinandersetzung mit dem jungen Hegel. Einhergehend mit dieser Arbeit vollzieht sich eine Akzentverschiebung hinsichtlich der Prämissen insbesondere der Theorie der Geisteswissenschaften. Die zuvor unangefochtene Stellung des unmittelbaren Erlebnisses wird zugunsten einer Konzeption des Verstehens relativiert. In diesem Zusammenhang findet auch der von Hegel stammende Begriff des »objektiven Geistes« Einzug in die Philosophie Diltheys.32 Dies ist bemerkenswert vor dem Hintergrund der oben anhand des Neukantianismus verdeutlichten Geisteshaltung der Zeitgenossen Diltheys. Alles, was entfernt an Metaphysik erinnern hätte können, war als unwissenschaftlich und rückständig verschrien. Die Wiedereinführung eines Begriffes wie ›objektiver Geist‹ in die Philosophie Diltheys muss Außenstehenden wie ein Rückfall in die alten und überwunden geglaubten Irrungen des sogenannten Deutschen Idealismus erschienen sein. Tatsächlich gibt Dilthey seine metaphysikkritische Haltung keineswegs auf. Er gelangt lediglich zu der Einsicht, dass die Kategorien, unter denen eine individuelle Psyche und deren Erlebnisse beschreibbar sind, nicht ausreichen, um alle Wirklichkeit zu beschreiben. Zweifel kommen Dilthey an der Tragweite einer beschreibenden Psychologie, die auf dem unmittelbaren Erlebnis des Einzelnen fußt, beispielsweise anhand der Untersuchungen Hegels zum religiösen Leben. Denn das religiöse Leben des Einzelnen ist wesentlich als Moment einer Gemeinde oder Gemeinschaft zu begreifen. Die Gemeinde als solche trägt aber Bestimmungen, die sich nicht ausschließlich und umfassend vom einzelnen Individuum und dessen unmittelbaren Erlebnissen her begreifen lassen. Sie umfasst mehr als den individuellen, rein subjektiven Geist und ist auch mehr als schlicht die Summe der einzelnen von ihr umfassten Geister.33 Diese Einsicht gilt nicht nur für den einzelnen Gläubigen in seiner Gemeinde, sondern allgemein für das einzelne Subjekt in seiner Gesellschaft, Kultur und Geschichte. Diese sozialen Realitäten sowie deren Entwicklung sind nicht restlos auf das psychische Erleben individueller Subjekte als solcher zu reduzieren. Als intersubjektive Phänomene folgen sie gegenüber den einzelnen Subjekten zumindest teilweise eigenständigen Gesetzmäßigkeiten. Um sie und ihr Verhältnis zu den einzelnen Subjekten zu 32 Hegels Bestimmung des ›objektiven Geistes‹ lautet: »Der objektive Geist ist die absolute Idee, aber nur an sich seiend; indem er damit auf dem Boden der Endlichkeit ist, behält seine wirkliche Vernünftigkeit die Seite äußerlichen Erscheinens an ihr« (Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, GW Bd. 20, § 483). Vgl. Dilthey, Aufbau, S. 149. 33 Vgl. die Einführung des Begriffs ›objektiver Geist‹. Dilthey, Aufbau, S. 171.

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begreifen, bedarf es daher gegenüber der Psychologie eigenständiger und unabhängiger Kategorien.34 Diese Sphäre gegenüber den einzelnen Subjekten eigenständiger sozialer Realität bezeichnet Dilthey unter Rückgriff auf Hegel als »objektiven Geist«. Wobei für Hegel – anders als für Dilthey, der den Begriff sehr viel weiter fasst – ausschließlich Recht, Moralität und Sittlichkeit diese Sphäre des objektiven Geistes ausfüllen. Am Beispiel des Rechtes wird deutlich, in welchem Sinn hier von der Objektivität des Geistes gesprochen werden kann. Das Recht tritt dem einzelnen Subjekt mit der scheinbar unabänderlichen Objektivität eines Naturgesetzes gegenüber. Tatsächlich aber ist es gerade nicht naturwüchsig – auch wenn das Naturrecht dies behauptet –, sondern eine historische, geistige Instanz. Dass der Geist objektiv ist, bedeutet hier also eine scheinbare vollkommene Autonomie gegenüber dem einzelnen Subjekt. Dilthey wird dieser ersten Bedeutung von ›objektiv‹ noch eine zweite anfügen. Genauer betrachtet, ist diese Autonomie des objektiven Geistes wie etwa des Rechtes nur eine Teilautonomie. Der objektive Geist bezeichnet keine transzendente Entität. Es ist nicht Dike, die dem Recht unabhängig von den Menschen seine Dignität verleiht. Hegel wie Dilthey eine derartige Metaphysik zu unterstellen wäre ein grobes Missverständnis. Der objektive Geist ist das gemeinsame Produkt der vielen einzelnen Subjekte und ihrer geistigen Tätigkeit. Er ist damit abhängig von den einzelnen ihn konstituierenden Akten der von ihm umfassten Subjekte. Aber er ist nicht abhängig von jedem einzelnen Subjekt, sondern steht als gemeinschaftliche Instanz dem Einzelnen als solchem teilautonom gegenüber. In dieser Teilautonomie weist der objektive Geist – etwa in der Gestalt des Rechtes – eine spezifische Beschaffenheit auf, die unabhängig von der Psyche der von ihm umfassten Subjekte ist. Entsprechen kann sein Wesen auch nicht über rein psychologische Begriffe erfasst werden. Das ist die Einsicht, zu der Dilthey am Ende des 19. Jahrhunderts gelangt, sicherlich nicht ausschließlich, aber auch im Zusammenhang mit der wiederholten Auseinandersetzung mit Hegel. Mit dem Begriff des objektiven Geistes erfasst Dilthey das soziale Leben in seiner Geschichtlichkeit als einen Wirkungszusammenhang. Dieser soziale Zusammenhang unterliegt einerseits Gesetzmäßigkeiten von eigener Qualität, die von der individuellen Psyche unabhängig oder teilunabhängig sind. Andererseits geht diese Sphäre aus der Aktivität aller Subjekte hervor. Das einzelne Subjekt kann sich entsprechend als wesentliches Moment dieser Sphäre erfassen und darin ihren Sinn erkennen.

34 Vgl. ebd., S. 251.

Diltheys Interesse an Hegel

6.2.

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Die Objektivation des Geistes

Diltheys objektiver Geist ist das gemeinsame Produkt der vielen von ihm umfassten einzelnen Subjekte. Er ist damit verwurzelt in den zwischenmenschlichen Verhältnissen. Dieser intersubjektive Charakter lässt die Frage nach der Vermittlung der einzelnen Subjekte untereinander in den Vordergrund treten. Das unmittelbare Erlebnis ist dem Erlebenden problemlos zugänglich. Zugleich ist das Erlebnis jedoch auch ein unumstößlich privates Ereignis, das in dieser Beschränkung durchaus auch für Dilthey kritikwürdig ist: »Erfahren wir so in den Erlebnissen die Lebenswirklichkeit in der Mannigfaltigkeit ihrer Bezüge, so scheint es doch, so angesehen, immer nur ein singulares, unser eigenes Leben zu sein, von dem wir im Erleben wissen. Es bleibt ein Wissen von einem Einmaligen, und kein logisches Hilfsmittel kann die in der Erfahrungsweise des Erlebens enthaltene Beschränkung auf das Einmalige überwinden.«35 Einerseits muss die Beschränkung auf den einzelnen, sich nur selbst erlebenden Geist überwunden werden, wenn es darum geht, gemeinschaftliche geistige Produkte zu begreifen. Andererseits ist der Geist eines fremden Subjekts – sofern Telepathie ausgeschlossen wird – unmittelbar nicht zugänglich. Es bedarf also einer Theorie der Vermittlung, über die begreiflich wird, wie die einzelnen Subjekte geistig miteinander in Verbindung treten, um gemeinsam den objektiven Geist auszubilden. Da ein unmittelbarer Zugriff auf das geistige Erleben anderer Subjekte nicht möglich ist, muss stets der Umweg über die Welt der empirischen Objekte genommen werden. Es sind dazu zwei Übersetzungsleistungen notwendig. Zum einen muss das individuelle und unmittelbare Erlebnis seinen Ausdruck in der empirischen Wirklichkeit finden. Das Erlebnis muss sich gewissermaßen an den physischen Dingen niederschlagen. Zum anderen muss dieser Niederschlag von einem andern Subjekt als Ausdruck oder als Zeichen geistiger Wirklichkeit erkannt werden. Nur so kann das Ausgedrückte ausgehend von seiner Erscheinung in der empirischen Wirklichkeit wieder in die Sphäre des Geistigen zurückübersetzt werden. Ein einfaches Beispiel für diesen Vermittlungsweg ist die sprachliche Äußerung: Ein Gedanke als rein subjektiver Vorgang findet Ausdruck in der empirischen Wirklichkeit als eine Anordnung von Schallwellen, und diese Schallwellen werden von einem Rezipienten zurückübersetzt in geistige Inhalte. Dass dieser Vorgang – so alltäglich er sein mag – keineswegs voraussetzungslos, geschweige denn unproblematisch ist, braucht kaum erwähnt zu werden. Allgemein gilt jedoch, dass die Vermittlung der geistigen Wirklichkeit einzelner Subjekte untereinander immer über die Sphäre der em-

35 Ebd., S. 141.

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pirischen Dinglichkeit läuft, sei es über die Luft, über Druckerschwärze oder über Granitbrocken. Dem unmittelbaren Erlebnis der eigenen geistigen Aktivität stellt Dilthey hier also das über den Ausdruck an empirischen Objekten vermittelte Begreifen der geistigen Aktivitäten anderer Subjekte zur Seite: »Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen.«36 Alles Verstehen ist an Objektivationen des Geistes gebunden. Das gilt für das Verstehen einzelner Subjekte genauso wie für das Verstehen des objektiven Geistes oder ganzer Kulturen. Der Lebensprozess als Ganzer findet Ausdruck in diesen Objektivationen. Genau diese Objektivationen machen den Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften aus. »Es war früher die Rede vom Geist der Gesetze, des Rechts, der Verfassung. Jetzt können wir sagen, daß alles, worin der Geist sich objektiviert hat, in den Umkreis der Geisteswissenschaften fällt.«37 Oben war bei der Einführung des Begriffs des objektiven Geistes hinsichtlich der Bedeutung von ›objektiv‹ auf die Teilautonomie des objektiven Geistes im Verhältnis zu den einzelnen Subjekten verwiesen worden. Für Dilthey umfasst die Bestimmung ›objektiv‹ aber genauso die Verobjektivierung des Geistes, also die Tatsache, dass er an Dingen seinen Niederschlag gefunden hat.38 Er fasst die Bedeutung dieses Begriffs damit viel weiter als Hegel. Schließlich findet nicht nur der objektive Geist als gemeinschaftliche geistige Instanz, sondern genauso der subjektiv individuelle Geist seinen Ausdruck in Objektivationen. Allerdings können sowohl die Doppelbestimmung von objektiv – einmal als autonom und zum anderen als objektiviert – als auch die Ausweitung auf den Ausdruck des individuellen Subjekts wieder zusammengeführt werden. Das Verstehen als Vermittlungsvorgang zwischen Subjekten bedarf nicht nur der empirischen Wirklichkeit, an der sich geistige Inhalte manifestieren können. Es bedarf zugleich intersubjektiv gültiger Bestimmungen über die Form, in der diese Manifestation stattzufinden hat. Wäre diese Form nicht festgelegt, könnte der Ausdruck des Geistigen von fremden Subjekten nicht als solcher interpretiert werden. Schallwellen müssen als Sprache erkannt werden, Striche als Schriftzeichen, Steine als Wegweiser. Diese intersubjektiv gültigen Formen stehen den einzelnen Subjekten objektiv im Sinne von autonom gegenüber. Kein Subjekt kann individuell über die Sprache oder über die Schrift verfügen, die es spricht bzw. schreibt: Es würde schlicht nicht mehr verstanden werden. Jedes Subjekt muss sich, um seinem Denken Ausdruck zu verleihen, gemeinschaftli36 Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik, GS Bd. 5, S. 318. 37 Dilthey, Aufbau, S. 148. 38 Dilthey, Aufbau, S. 148: »Ich habe bisher diese Objektivation des Lebens auch mit dem Namen des objektiven Geistes bezeichnet.«

Diltheys Interesse an Hegel

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cher Formen bedienen. An diesen dem Zugriff des einzelnen Subjekts enthobenen Formen wird noch einmal deutlich, dass der objektive Geist nicht auf das Erlebnis der individuellen Psyche reduzierbar ist oder aus ihr allein heraus begriffen werden kann. Dem objektiven Geist ist also nicht nur seine Objektivation in der empirischen Wirklichkeit, sondern genauso die intersubjektiv verbindliche Unantastbarkeit der Formen dieser Objektivation wesentlich.

6.3.

Diltheys Kritik an Hegels Begriff des objektiven Geistes

Es besteht also eine Verwandtschaft zwischen dem Denken Hegels und Diltheys hinsichtlich der Bestimmung des objektiven Geistes. Zugleich jedoch dürfen die wesentlichen Unterschiede in der Verwendung dieses Begriffes durch beide Denker nicht übersehen werden. Bei Hegel beschreibt der objektive Geist eine klar umrissene Sphäre der geistigen Wirklichkeit, die sich lediglich über Recht, Moralität und Sittlichkeit erstreckt. Davon eindeutig unterschieden sind bei Hegel der subjektive Geist, aber vor allem auch der absolute Geist. Für diesen absoluten Geist ist die Sphäre der geistigen Wirklichkeit reserviert, innerhalb derer sich Geist als solcher selbst thematisiert, d.i. die Kunst, Religion und Philosophie. Bei Dilthey verwischt dieser Unterschied. Kriterium des objektiven Geistes ist bei ihm allein der verstehbare Ausdruck von Geistigkeit in der empirischen Wirklichkeit. Damit gehören Kunst und Religion bei Dilthey ebenfalls zum objektiven Geist. Neben diesen begrifflichen Differenzen distanziert sich Dilthey eindeutig von dem philosophischen Rahmen, in dem Hegel den objektiven Geist verortet. Der Vorwurf ist dabei unverändert der gleiche: Hegel versuche, die Wirklichkeit aus einem abstrakten Vernunftbegriff heraus nach fixen Formeln zu konstruieren. Die eigentliche Wirklichkeit des Lebens muss Hegel damit aus dem Blick verlieren. Dilthey dagegen nimmt für sich in Anspruch, den jeweiligen konkreten objektiven Geist aus der voraussetzungsfreien Analyse der Geschichte zu entwickeln: »So können wir den objektiven Geist nicht aus der Vernunft verstehen, sondern müssen auf den Strukturzusammenhang der Lebenseinheiten, der sich in den Gemeinschaften fortsetzt, zurückgehen. Und wir können den objektiven Geist nicht in eine ideale Konstruktion einordnen, vielmehr müssen wir seine Wirklichkeit in der Geschichte zugrunde legen.«39

39 Dilthey, Aufbau, S. 150.

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7.

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Schluss

Damit hält sich Diltheys Kritik an Hegel bei aller kritischen Aufnahme und Auseinandersetzung mit dessen Philosophie durch. Ob diese Kritik allerdings trifft, ob Dilthey mit ihr tatsächlich das Wesen der Hegelschen Methodik berührt, ist eine ganz andere Frage, bei deren Untersuchung weniger Dilthey als vielmehr Hegel im Zentrum stehen müsste.

Ulrich Dierse

»Empirie und nicht Empirismus«. Diltheys Verhältnis zu Auguste Comte und zum Positivismus seiner Zeit

Der Positivismus kann mit Fug und Recht als eine das 19. Jahrhundert beherrschende Philosophie angesehen werden. Jedenfalls war er in dessen zweiter Hälfte die am weitesten verbreitete. Er geht auf den im 18. Jahrhundert sich von England her in Frankreich durchsetzenden Empirismus zurück und erfährt durch Comtes Cours de philosophie positive (1830 – 42) und den Discours sur l’esprit positif (1844) seine erste theoretische Ausprägung. Während Comte aber seiner Philosophie ab 1846 eine religiöse Wendung gibt (»religion de l’humanit¦«), spaltet sich seine Schule in zwei Lager : Die einen führen das Programm der reinen Erfahrungswissenschaft weiter (Êmile Littr¦), die anderen widmen sich weiterhin der »religion de l’humanit¦« ihres Lehrers. Im späteren 19. Jahrhundert kann der Positivismus in den verschiedensten Ausformungen, ob nun mit oder ohne Berufung auf Comte, große Erfolge verbuchen: in der Philosophie bei J. St. Mill, H. Spencer, F. A. Lange, L. Büchner, F. Avenarius, E. Mach und den Monisten, in der Geschichtswissenschaft bei Th. Buckle, in der Kunstwissenschaft bei H. Taine und in der Literaturwissenschaft bei W. Scherer. Auch andere Disziplinen zeigen positivistische Tendenzen, indem sie sich auf das Tatsachenwissen zu beschränken streben, durch die kritische Arbeit an Quellen und Editionen, in der Rechtswissenschaft durch Berücksichtigung bloß des gesatzten Rechts, als experimentelle Psychologie usw. Nach den Spekulationen der romantischen und idealistischen Naturphilosophie konnte der Positivismus durch die in Physik, Biologie und allen anderen Naturwissenschaften, nicht zuletzt aber auch in der Medizin und Technik erzielten Erfolge an Überzeugungskraft gewinnen. Dies ist die philosophisch-wissenschaftliche Situation, in die sich Dilthey gestellt sieht, und ihr trägt er Rechnung. Geschichtlich leitet er den Positivismus aus der englischen und französischen Aufklärung her. Des öfteren nennt er Hobbes, d’Alembert u.v.a. als Begründer ; und zu den Hauptvertretern des auf Comte folgenden Positivismus zählt er mehrmals John St. Mill, Herbert Spencer und Henry Thomas Buckle. Vor allem Buckle erhält von Dilthey kritische Seitenhiebe in einer Rezension von Buckles Hauptwerk History of Civilization in

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England: Er ist »unter den Historikern, was der Phrenologe unter den Physiologen ist. Anstatt den Versuch zu machen, in das Innere der Tätigkeit des historischen Geistes einzudringen, tatstet er an der Oberfläche herum.«1 Da der Begriff »Erfahrung« sowohl bei Comte wie auch bei Dilthey eine große Rolle spielt, scheint es angebracht, ihn in seiner historischen Entwicklung kurz zu beleuchten. Der Erfahrung (griech. empeiria, lat. experientia) kommt seit Aristoteles zunächst nur eine eingeschränkte Funktion im Prozess des Wissens zu. Sie ist zwar mehr als die bloße Wahrnehmung, bleibt aber beim Einzelnen stehen und gelangt nicht zu der Erkenntnis der Wissenschaft, die um die Gründe und Ursachen dessen weiß, was ist. Die Erfahrung ist deshalb nur die erste Stufe des Wissens. Disziplinen wie die Geschichte können nach Aristoteles nicht Wissenschaften genannt werden, weil sie vom Wechselnden und Zufälligen handeln. Diese Lehre wird durch das gesamte Mittelalter bis in die frühe Neuzeit tradiert.2 Mit Francis Bacon setzt insofern ein Neuanfang ein, als jetzt eine Erfahrung wesentlich diejenige ist, die methodisch herbeigeführt, die gesucht wird (»experientia quaesita«). (Daraus folgt auch eine neue Bedeutung des Begriffs »Experiment«: Bis zur Renaissance waren die Begriffe experientia und experimentum noch synonym.) Mit der Verschärfung des Empirismus zum Sensualismus,3 also mit der Einschränkung der Erfahrung auf die bloße Sinneswahrnehmung reduziert sich die Erfahrung auf das Erfassen äußerer Gegebenheiten. Erst die Beobachtung und Beschreibung der außerhalb des Subjekts liegenden Sinnesdaten, das Erforschen ihrer Abhängigkeiten und Relationen ermöglicht die Eruierung von Gesetzmäßigkeiten, die wir in der Natur als objektive feststellen bzw. die wir der Natur als konstante und vom Beobachten unabhängige zu1 Dilthey, Rezension von Henry Thomas Buckle, History of Civilization in England, 3 Bde., London 1857 – 1861, für die Berliner Allgemeine Zeitung (1862). GS 16, Göttingen 1972, S. 51 – 56 und 100 – 106, zit. S. 106; vgl. GS Bd. 17, S. 159 (Rez. der 2. Aufl.). Auch Johann Gustav Droysen hat dieses Werk sehr kritisch rezensiert und in seiner Argumentation den für Dilthey später wichtigen Gegensatz von Erklären und Verstehen zur Geltung gebracht (J. G. Droysen, Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft [Buckle-Rezension, zuerst in: Historische Zeitschrift Bd. 9, 1863, S. 1 – 22], in: Historik, hg. von Rudolf Hübner, Darmstadt 1974, S. 386 – 405, bes. S. 397, 400; Grundriß der Historik, in: ebd. 9 – 11. Zu Diltheys Kritik an Buckle generell vgl. Frithjof Rodi, Pragmatische und universalhistorische Geschichtsbetrachtung. Anmerkung zu Diltheys Skizzen einer Historik, in: Dilthey und Yorck. Philosophie und Geisteswissenschaften im Zeichen von Geschichtlichkeit und Historismus, hg. Jerzy Krakowski und Gunter Scholtz, Wrocław 1996, S. 119 – 134. 2 Vgl. Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur, Frankfurt a. M. 1968; ders.: Art. ›Erfahrung‹, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. 2, Basel, Stuttgart 1972, Sp. 609 – 617. 3 Zu Diltheys Verständnis des Sensualismus vgl.: Zur Auseinandersetzung mit der erklärenden Psychologie, GS Bd. 22, Göttingen 2005, S. 135: Der Sensualismus reicht von Hobbes bis zur psychophysischen Schule.

»Empirie und nicht Empirismus«

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schreiben. Für Comte ist deshalb die Psychologie als eine Wissenschaft, welche von der inneren Erfahrung ausgeht, nicht möglich, da wir nicht zugleich Subjekt und Objekt der Beobachtung sein können. Dilthey nennt Comte einmal zu Recht den »großen Kritiker der introspektiven Methode«.4 Eine Grundmaxime für den Positivismus ist es, dass die Nicht-Naturwissenschaften immer nach dem Vorbild der Naturwissenschaften betrieben werden müssen, um den wissenschaftlichen Standard zu erfüllen. So besteht z. B. die Geschichte bei Comte im Wesentlichen aus der Registrierung der Fortschritte des Positivismus in den einzelnen Wissenschaftszweigen; und Comte bildet, um die vergangenen Fortschritte angemessen zu begreifen und die zukünftigen vorauszusagen, das bekannte Dreistadiengesetz, das Dilthey kennt und in einem gewissen Grade billigt. Die Soziologie wird ausschließlich als soziale Physik (»physique social«) begriffen. Sie ist die schwierigste und deshalb auch die letzte Wissenschaft, die vom positiven Geist erfüllt und bestimmt wird.5 Dilthey sind diese Entwicklungen natürlich bekannt, und er hat sich mit ihnen intensiv auseinandergesetzt. In zwei autobiographischen Skizzen beschreibt er die intellektuelle Situation in Deutschland etwa ab 1860 wie folgt: Während die Älteren noch vom Idealismus und der Historischen Schule bestimmt waren, orientierten sich die Jüngeren an der aus England und Frankreich kommenden »Erfahrungsphilosophie«. »Die aufstrebenden Naturwissenschaften forderten eine Auseinandersetzung mit denselben, wollte man zu festen Ergebnissen gelangen.« Über den Germanisten Wilhelm Scherer, seinen Freund von Jugend an, schreibt Dilthey, dass dieser sich auf »die rücksichtslose Durchführung des Empirismus«, auf »kausale Verknüpfung und Vergleichung«, konzentriert habe und »jede offene oder versteckte Art metaphysischer Begründung« ablehne. Scherer verwerfe jede Form der psychologischen Forschung in der Literaturwissenschaft und entsprach damit den Richtlinien des Positivismus.6 An anderer Stelle heißt es bei Dilthey, dass der »idealistische Monismus Hegels« und die Metaphysik durch die Herrschaft der Naturwissenschaften abgelöst worden seien. Beide aber, die alte Metaphysik und die neue Dominanz des sich an den Naturwissenschaften orientierenden Denkens, können Dilthey nicht genügen; sie sind ihm vielmehr der Antrieb zu eigenem Bemühen, das sich dem »Impuls« verdankt, die »geschichtliche Welt« und ihr Leben »aus ihm selber verstehen zu wollen«, d. h. es weder der naturwissenschaftlichen noch der metaphysisch-theologischen Begrifflichkeit zu unterwerfen. Dilthey wendet sich 4 Dilthey, Fragment zur Strukturpsychologie, GS Bd. 6, Stuttgart, Göttingen 41962, S. 318. 5 In einem seiner philosophiegeschichtlichen Rückblicke vermerkt Dilthey, dass auch der Mathematiker und Statistiker Adolphe Qu¦telet eine Physique social (Paris 1835) konzipierte (GS Bd. 20, S. 149). 6 Dilthey, [Nachruf auf] Wilhelm Scherer (1886), GS Bd. 11, S. 243 – 245.

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Ulrich Dierse

demnach der Welt der Geschichte wie auch der der Kunst zu, weil er erkennt, dass diese im »Zusammenhang der Wissenschaften« weder durch die vergangene spekulative Philosophie noch durch die neuere Erfahrungsphilosophie ihren angemessenen Ort gefunden haben. »Daß man sich nichts wollte vormachen lassen, das war die ungeheure Kraft, die in diesem Positivismus lag. Daß er die geistige Welt verstümmelte, um sie in den Rahmen dieser äußeren Welt einzufügen, das war seine Schranke.«7

I.

»Alles metaphysischer Nebel«

Das früheste Zeugnis für Diltheys Beschäftigung mit Auguste Comte ist ein Brief vom September 1864, in dem er seinen Freund Hermann Usener darum bittet, ihm Comtes Cours de philosophie positive (6 Bde. 1830 – 42) mitzubringen.8 Zwischen Comtes Publikation und Diltheys Brief liegen also nur zwanzig bis dreißig Jahre; Dilthey ist noch Comtes jüngerer Zeitgenosse. Ende 1865 oder Anfang 1866 schreibt Dilthey an Moritz Lazarus: »Mill und Comte fehlt […] durchaus die strenge historische Schulung, wodurch sie denn gar nicht zu wirklich fruchtbaren Resultaten gelangt sind.«9 Hier erscheint zum ersten Mal, wenn auch noch rudimentär, die Formel »Comte, Mill, Spencer«, die sich durch Diltheys ganzes Werk hindurchzieht. Aber die Bemerkung vom Mangel an »fruchtbaren Resultaten« genügt natürlich nicht, um Comte u. a. zu widerlegen. Was also sind die konkreten Argumente gegen Comte und den Positivismus? Als Weltanschauungstypus verstanden, beginnt der Positivismus für Dilthey schon im Griechenland des 7. und 6. Jahrhunderts, d. h. dort, wo das mythische Weltbild sukzessive durch eine natürliche Welterklärung ersetzt wird, etwa mit dem »Naturalismus« Demokrits und einiger anderer Denker der Antike. Seine eigentliche Macht entfaltet der Naturalismus erst im 17. und 18. Jahrhundert; er beherrscht dann das 19. Jahrhundert.10 Neben Comte, Mill und Spencer erwähnt Dilthey Hyppolite Taine, Cesare Lombroso, Ernst Laas, Richard Avenarius, Ernst Mach u. a.11 Das »Recht des Positivismus«, das Dilthey ausdrücklich anerkennt, besteht darin, dass dieser als »Erfahrungswissenschaft« die »Außenwelt gesetzlich« begreift, d. h. von der sinnlichen Wahrnehmung her das Universum als Vorrede (1911), GS Bd. 5, Stuttgart, Göttingen 61974, S. 3 f. Briefe Bd. 1, Göttingen 2011, S. 306. Ebd. S. 333 f. Selbstverständlich weiß Dilthey, dass der Empirismus nicht mit dem Positivismus identisch ist, aber als Weltanschauung betrachtet, findet er seine Fortsetzung in jenem. Diese Verbindungslinie zieht vor allem Diltheys Schüler Georg Misch, Zur Entstehung des französischen Positivismus, Berlin 1900. 11 Dilthey, Späte Vorlesung zur Systematik der Philosophie, GS Bd. 20, S. 238. 7 8 9 10

»Empirie und nicht Empirismus«

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ein Kontinuum erfährt, das uns mit Hilfe von »logischen Operationen« zugänglich ist. Damit entspricht der Positivismus einem »Ideal der menschlichen Erkenntnis« überhaupt, und eben darin liegt seine »Stärke«.12 Dilthey leugnet auch nicht, dass auf dem Felde der Geisteswissenschaften einige »fruchtbare« Gesetze gefunden worden sind, z. B. in der Sprachwissenschaft das Grimmsche Gesetz oder in der politischen Ökonomie Turgots Theorien über den Verlauf der Geschichte. Dilthey lehnt auch die beiden von Comte formulierten Gesetze der geistigen Entwicklung der Menschheit nicht rundheraus ab, sondern erkennt in ihnen bei aller Kritik einen durchaus vernünftigen Kern. Das Dreistadiengesetz hält er »für das Leben der Nationen in gewissen Grenzen« für »gültig«, wenn es auch nicht ein »Gesetz der Entwicklung des Menschengeschlechts« sein könne.13 Denn vor allem die Konzeption des ersten Stadiums scheint ihm »unhaltbar« zu sein, weil darin Mythos und Religion nicht genügend voneinander unterschieden seien.14 Auch das zweite, das von Comte so genannte enzyklopädische Gesetz, würdigt Dilthey, ohne es freilich so zu nennen und detailliert zu referieren. Comte hat in Diltheys Augen richtig erkannt, dass in den Wissenschaften nur von elementaren Einsichten zu komplizierten fortgeschritten werden konnte, dass also m.a.W. die logischen Abhängigkeiten der Wissenschaften untereinander den Gang ihrer Erkenntnisse in ihrer zeitlichen Abfolge bestimmen. »Durch dieses Comtesche Gesetz werden bestimmte Knotenpunkte in der geschichtlichen Abfolge der Wissenschaften festgestellt, an welchen aus den Wahrheiten der in der Stufenordnung der Wissenschaften voraufgehenden Wissenschaft zusammen mit den die folgende Wissenschaft konstituierenden Induktionen die reife systematische Form dieser folgenden Wissenschaft hervortritt.«15 Comtes (und Spencers) Berechtigung in der Formulierung dieser wissenschaftsgeschichtlichen Konzepte steht für Dilthey außer Zweifel; zugleich führte aber bei Comte eine »verwegene wissenschaftliche Baulust« zu Konstruktionen in der Systematik der Geisteswissenschaften, die am Ende nur einen »Notbau« zustande bringen konnten.16 Diltheys Kritik richtet sich auch besonders gegen die Konsequenzen jenes Positivismus für die praktische Philosophie. Je mehr der Positivismus die Uni12 Ebd. 13 Vorlesung zur Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 20, Göttingen 1990, S. 134. Einen Widerhall Comtescher Terminologie kann man in Diltheys Formulierung »Metaphysisches Stadium in der Entwicklung der alten Völker« erblicken, Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 1, S. 150; vgl. Bd. 20, S. 133, 135, 138, 141 u. ö. 14 Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 1, Stuttgart, Göttingen 21966, S. 140 f, vgl. ebd. S. 107, 133, 135 f. 15 Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875), GS Bd. 5, Stuttgart, Göttingen 61974, S. 51. 16 Einleitung in die Geisteswissenschaften., GS Bd. 1, S. 23, 17 f.

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versalität der von ihm gefundenen Gesetze behauptet – so führt der späte Dilthey aus –, desto mehr übersteigt er seine Sphäre und leugnet die Freiheit des Willens. Aber dagegen formiere sich nun Widerstand. Konnte er »noch vor 20 Jahren [die] unbeschränkte Herrschaft« für sich beanspruchen und mit der allgemeinen Determination aller Prozesse die Freiheit des menschlichen Willens leugnen, so regt sich seit einiger Zeit Widerspruch. Denn die »Tatsache der Verantwortlichkeit« kann schlechterdings nicht bestritten werden. Während noch vor zwanzig Jahren jeder, »der Freiheit als objektiv betrachtete, als rückständig« galt, nehmen jetzt bedeutende Denker wie William James entschieden »den Standpunkt der Freiheit« ein. Zum anderen aber »schlägt« der Positivismus in einer Art »Dialektik« in eine »materialistische Metaphysik« um.17 Er übersteigert seine Ansprüche und sucht über die Analyse einzelner Phänomene der Geschichte den Sinn der gesamten Geschichte, also auch den Verlauf der zukünftigen Geschichte zu eruieren. Hier wie auch sonst zeigen sich nach Diltheys Interpretation Parallelen zwischen Comte und Hegel: Beide suchen die »Gesamtrichtung in der universalgeschichtlichen Bewegung« statt die Strukturbeziehungen und Wirkungszusammenhänge in der Geschichte zu ergründen.18 Beide überschreiten mit der Konstruktion geschichtlicher Gesetzesverläufe die Grenzen ihrer Theorie: »Alles metaphysischer Nebel. Bei keinem ist er dichter als bei Comte, der den Katholizismus de Maistres in das Schattenbild einer hierarchischen Leitung der Gesellschaft durch die Wissenschaften wandelte.«19 Geschichtsphilosophie und Soziologie entstehen aus dem gemeinsamen Impuls, die Welt einheitlich aufzubauen. Dabei dient ihnen die geschichtlich-gesellschaftliche Mannigfaltigkeit aber nur als »Rohstoff für ihre Abstraktionen«.20 Mit ihnen werden, wenigstens bei Comte, die »psychischen Tatsachen unter die physiologischen« untergeordnet: »derbe naturalistische Metaphysik – das ist die Grundlage seiner Soziologie.«21 Comtes »ungestüme Generalisationen« können der Vielfalt des menschlichen Lebens nicht gerecht werden. Der Preis für die Verallgemeinerungen ist, dass Comte, entgegen seiner ursprünglichen Absicht und dem Anspruch der positiven Philosophie, wieder normative Setzungen vornehmen muss. Er muss ja die Unterordnung der Person unter die Gesamtheit ausdrücklich postulieren, eine »Hingabe an die Interessen des Ganzen« fordern.22 17 Späte Vorlesung zur Systematik der Philosophie, GS Bd. 20, S. 239 f, 241. 18 Vgl. etwa Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1883), GS Bd. 7, Stuttgart, Göttingen 71979, S. 172; Zusätze und Ergänzungen der Abhandlung über die Typen der Weltanschauungslehre, GS Bd. 8, Göttingen 21960, S. 127 u. 131. 19 Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 1, S. 112. 20 Ebd., S. 91. 21 Ebd., S. 107. 22 Späte Vorlesungen zur Systematik der Philosophie (1899 – 1903), GS Bd. 20, S. 241.

»Empirie und nicht Empirismus«

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Deshalb ist es für Dilthey auch nicht verwunderlich, dass sich Comte in seinem zweiten philosophischen Lebensabschnitt wieder der Religion zuwendet, wenn auch einer »religion de l’humanit¦«. Diese Wende ist in Diltheys Augen nicht »willkürlich«, sondern liegt in der Logik von Comtes Denken. Sie zeigt, dass das Band der Gesellschaft kein natürliches, auf der Wissenschaft allein gründendes, sondern ein metaphysisches sein musste. Comte »fand eine Organisation notwendig, um diese Aufgabe [die Vereinheitlichung der Gesellschaft] zu lösen – sie soll gleichsam von außen gelöst werden; Symbole, Religion, Kunst, Denkerpriesterschaft«, als etwas, was erst an den Positivismus herangetragen wird, was ursprünglich »außerhalb der positivistischen Philosophie naturwissenschaftlichen Denkens steht«.23 Um das sittliche Bewusstsein empirisch zu begründen, argumentieren Mill und andere Utilitaristen, dieses ergebe sich gleichsam von selbst, wenn man aus der Befolgung der wohlverstandenen eigenen Interessen auf das Wohl einer ganzen Gesellschaft, ja der gesamten Menschheit schließe. Aber dieser Versuch führt nach Dilthey in die Irre. Er beruft sich auf Nietzsches Antwort, dass das Interesse an der eigenen Person allein zur Unterdrückung führe. »So sieht man: Es ist schon in diesem System des Positivismus eine ruhelose Dialektik, die von unlösbaren Problemen zu immer neuen Systemen und Problemstellungen führt.«24 Auch ein anderer Versuch des Empirismus (»Locke, Hume, J. St. Mill und Bain«), die Welt der Werte und Ideale rein aus der Erfahrung abzuleiten, nämlich »aus den Gesetzen der Assoziation und anderen Gesetzen der Abfolge, der Koexistenz von Vorstellungen« kann nicht gelingen, da auf diesem Wege die spezifische Notwendigkeit des sittlichen Bewusstseins niemals aufgewiesen werden kann.25

II.

»Empirie und nicht Empirismus«26

Dilthey lehnt Comtes Philosophie nicht völlig ab. Gelegentlich erkennt er, wie gesehen, die Einsichten Comtes in den geschichtlichen Verlauf der Wissenschaften an, obwohl er Brüche in dessen Wissenschaftshierarchie, vor allem in der Stellung der Gesellschaftslehre konstatieren muss.27 Auch stimmt er Comte 23 24 25 26

Ebd., S. 241 f.; vgl. Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 1, S. 101. Späte Vorlesungen zur Systematik der Philosophie, GS Bd. 20, S. 242. Breslauer Psychologie-Vorlesung (1875/76), GS Bd. 21, Göttingen 1997, S. 19. Erkenntnistheoretische Fragmente, GS Bd. 18, S. 193; Frühe Entwürfe zur Erkenntnistheorie und Logik der Geisteswissenschaften (vor 1880), GS Bd. 19, S. 17 (hier von den Herausgebern hinzugefügte Überschrift). 27 Über das Studium der Geschichte, der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875), GS Bd. 5, Göttingen 41964, S. 56.

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darin zu, dass das Aufkommen der neuen rationalen Wissenschaft, wie des Naturrechts und der Nationalökonomie, wesentlich dazu beitrug, dass die alte »feudale und kirchliche Ordnung« zugrunde ging.28 Und Dilthey vermerkt auch positiv Comtes Erkenntnis, dass die Geisteswissenschaften sich erst »am spätesten zur strengen Wissenschaft« ausbilden konnten.29 Dilthey trifft sich aber mit Comte vor allem in der Überzeugung, dass alle Wissenschaft auf Erfahrung beruht, dass alle Erkenntnisse uns nur durch die Erfahrung gegeben sind. Ausgehend vom Satz der Phänomenalität, dass »jede Evidenz […] dem Philosophen entweder aus einer Erfahrung gegeben oder aus einer Erfahrung abgeleitet« ist, alle Erfahrungstatsachen immer als Tatsachen des Bewusstseins vorliegen,30 formuliert Dilthey ergänzend: »die Philosophie ist eine Bearbeitung des Wirklichen oder der Erfahrung«.31 Aber anders als der Empirismus und ebenso anders als Kant hält Dilthey nicht nur eine Erfahrung der Außenwelt für möglich, sondern auch eine innere Erfahrung. Der Begriff der Erfahrung schließt die Selbsterfahrung ein. »Es gibt nur Eine Erfahrung, welche in einer doppelten Richtung verwertet wird, und so entsteht die Unterscheidung äußerer und innerer Erfahrung.«32 Dass Comte Vorgänge wie Selbstbeobachtung, Selbstbewusstsein, Selbstwahrnehmung leugnete, ist für Dilthey geradezu »komisch« angesichts der Bedeutung, die diese in der Philosophiegeschichte gespielt haben.33 Auch andere Phänomene der inneren Erfahrung wie Neid, Liebe und Hass usw. sind ja jedermann gegenwärtig.34 Allerdings – so räumt Dilthey ein – können wir uns »nur in einem sehr geringen Umfang« selbst beobachten, weil die Zustände des Selbst häufig in dem Moment verschwinden oder wenigstens abnehmen, in dem sie beobachtet und gegenständlich werden. Hier hilft uns die Erinnerung, dass wir uns indirekt Bilder von früheren »Zuständen und Vorgängen […] konstruieren können.« Mehr noch gibt uns der Vergleich unseres äußeren Verhaltens mit dem anderer Personen Anlass genug, die bei uns festgestellten psychischen Zustände auch bei anderen zu vermuten. Einschränkend fügt Dilthey hinzu: Dieser Analogieschluss »hat seine Gefahren. Er ist nur ziemlich ungefährlich, wenn wir auf die nächsten Verwandten desselben Alters und Geschlechtes schließen wollen.«35 Auch weiß Dilthey sehr wohl, dass das Innenleben eines Menschen nicht plan und durchsichtig vor einem Beobachter liegen muss: eine historische Person ist 28 29 30 31 32 33 34 35

Vorarbeiten zur Abhandlung von 1875, GS Bd. 18, S. 27. Ebd., S. 39. Frühe Entwürfe zur Erkenntnistheorie und Logik der Geisteswissenschaften, GS Bd. 19, S. 24. Ebd., S. 25. Erkenntnistheoretische Fragmente (1874/79), GS Bd. 18, S. 194. Frühe Entwürfe zur Erkenntnistheorie und Logik der Geisteswissenschaften, GS Bd. 19, S. 32. Berliner Psychologie-Vorlesungen (1883 – 89), GS Bd. 21, S. 256. Ebd., S. 256 f.

»Empirie und nicht Empirismus«

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in der Regel verstorben, es liegen nur indirekte Zeugnisse von ihr vor. Ein Mensch kann sich verstellen und keinen Einblick in sein Inneres gewähren. Aus all diesen Schwierigkeiten bietet aber die experimentelle Psychologie keinen Ausweg, da sie auf die aus dem Satz der Phänomenalität folgenden erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten stößt.36 Dilthey hat hieraus bekanntlich den Schluss gezogen, eine deskriptive Psychologie zu entwickeln, die hier nicht näher thematisiert zu werden braucht. »Gäbe es nicht dieses Innewerden oder Bewusstsein, dieses sich selber Gewahrwerden, so käme es überhaupt nirgends zur Perzeption, da Auge hinter Auge sich fände, keines aber zum Sehen gelangen könnte.«37 In dieser deskriptiven Psychologie wird die gesamte »Struktur des Lebens« beschrieben, so dass auch die Philosophie auf Erfahrung zurückgeht und eine Erfahrungswissenschaft ist.38 Dies sind, exemplarisch, aber nur pauschal benannt, die Bausteine zu Diltheys Erfahrungsphilosophie, die er gelegentlich auch eine Philosophie der »unbefangenen« oder »besonnenen Empirie« nennt39 und in der Formel »Empirie und nicht Empirismus« zusammenfasst,40 einer Formel, zu der er vielleicht von Yorck von Wartenburg angeregt worden ist.41

III.

»Die Philosophie in ihrer Wurzel aufgelöst«

Dilthey hat für seine Zeit zu Recht das Schwinden einer Einheit stiftenden Metaphysik oder einer anderen verbindenden Weltanschauung, vor allem der Religion, konstatiert. Wiederholt spricht er von der »Anarchie des philosophischen Denkens« in seiner Zeit.42 Als Reaktion auf die nachlassende Macht eines religiösen oder philosophischen Systems, aus der mangelnden Kraft irgendeiner Verbindlichkeit, erwuchs ja die Deutungshoheit des Positivismus, der zur »beherrschenden Macht der Gegenwart« wurde.43 Aber dieser Positivismus griff 36 Psychologie (SS 1878), GS Bd. 21, S. 21; Berliner Psychologie-Vorlesungen, GS Bd. 21, S. 258 f. 37 Frühe Entwürfe zur Erkenntnistheorie und Logik der Geisteswissenschaften, GS Bd. 19, S. 32. 38 Theorie der Wertschätzung in der logischen Grundlegung der Theorie des Wissens (1906), GS Bd. 24, S. 67. 39 Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 1, S. 81, 82 Anm. (für diese und andere Hinweise danke ich Frau Dr. Gudrun Kühne-Bertram). 40 S.o. Anm. 25 41 Paul Yorck von Wartenburg: Brief vom 23. November 1877, in: W. Dilthey, Briefwechsel, Bd. 1: 1852 – 1882, Göttingen 2011, S. 799: »[…] Hier ist ein thatsächlicher Protest der Empirie gegen den Empirismus.« Ob Yorck wirklich Dilthey beeinflusst hat oder ob er nicht vielmehr auf Dilthey reagiert, lässt sich aber nicht mit Sicherheit feststellen, da die Erkenntnistheoretischen Fragmente nicht genau datiert werden können. Denkbar ist auch, dass Yorck eine mündliche Äußerung Diltheys repliziert. 42 Späte Vorlesungen zur Systematik der Philosophie (1899 – 1903), GS Bd. 20, S. 236. 43 Ebd.

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über sich hinaus und suchte alle Bereiche des menschlichen Lebens nach einem einheitlichen Schema zu begreifen. Er übertrug seine an den Naturwissenschaften gewonnenen Begriffe auf alle Wissenschaften und sprach aller Geschichtsschreibung, die diesem Ideal nicht entsprach, den Charakter einer ernsthaften intellektuellen Leistung ab.44 Mit diesem Programm musste der Positivismus scheitern. Hinzu kommt bei Comte wie auch schon bei seinem Lehrer Saint-Simon ein »sozialistisches Element«, das der allgemeinen und durchgreifenden Tendenz im Positivismus, der zur Rationalisierung aller Lebensbereiche entsprach.45 Der Positivismus verfolgte neben seinem wissenschaftlichen ein dezidiert politisches Programm: nach den Wirren der Revolution die Gesellschaft durch vernünftige Planung und Leitung neu zu ordnen. In Diltheys Augen ist diese Neuorganisation aus zwei Gründen verfehlt. Sie ist praktisch undurchführbar (eine »gigantische Traumidee«)46 und wird darüber hinaus der Vielfalt des menschlichen Lebens nicht gerecht. So sind neben die Positivisten längst Autoren wie Carlyle und Nietzsche, aber auch Dichter wie Tolstoi und Maeterlinck getreten, die die andere Seite der Philosophie, die der »Lebenserfahrung« und »Lebensführung«, zu ihrem Thema gemacht und ihr zur Geltung verholfen hätten. Damit seien sie »zu Trägern stärkster philosophischer Impulse geworden.«47 Überhaupt gehört das Auftreten solcher Denker wie Carlyle u. a. zur historisch immer wiederkehrenden »Dialektik« von Positivismus und »Idealismus der Freiheit«: Der eine, für den prototypisch Comte steht, strebt nach dem logischen Aufbau der Welt, der andere antwortet darauf mit dem Verweis auf die Unableitbarkeit der sittlichen Regeln aus dieser Weltordnung.48 Diltheys Verdienst ist es insofern, dass er dieses Nebeneinander von strenger Wissenschaft und Lebensphilosophie gesehen und benannt hat. Er hatte einen weiteren Begriff von Wissenschaft als der Positivismus und verstand darunter auch den Zusammenhang von Sätzen über die Lebenswirklichkeit des Menschen, der sich nur durch abstrakte Gewolltheiten auf physische Gegebenheiten hätte reduzieren lassen.49 So aber kommt es, dass Dilthey Comtes Leistung einerseits anerkennen kann (»Das Grundgesetz ihres [der Naturwissenschaft] wissenschaftlichen Fortschrittes, ist besonders von Comte einer fruchtbaren Untersuchung unterworfen worden«) und ihm im selben Atemzug vorwirft, er löse »die Philosophie in ihrer Wurzel« auf. »Nur Dilettantismus« wage es heute 44 Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 1, S. 5, vgl. ebd. S. 46. 45 Anm. zu: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, GS Bd. 8, S. 246. 46 Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 1, S. 84. 47 Das Wesen der Philosophie (1907), GS Bd. 5, Göttingen 41964, S. 412. 48 Späte Vorlesungen zur Systematik der Philosophie, GS Bd. 20, S. 246 f. 49 Vorlesung zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), GS Bd. 20, S. 129.

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noch, »die strengen Grundlagen von Naturwissenschaften und von Geisteswissenschaften« aus ein und derselben Wurzel abzuleiten.50 Diltheys Anliegen lässt sich noch durch eine weitergehende Beobachtung ergänzen. Verschiedentlich, vor allem in der Einleitung in die Geisteswissenschaften und im Wesen der Philosophie, spricht Dilthey von den einzelnen »Systemen der Kultur« – Wissenschaft, Philosophie, Religion, Kunst, Gesellschaft, Recht, Wirtschaft usw. – an denen das Individuum als ihr »Kreuzungspunkt« partizipiert51 und die als nebeneinander Stehende jeweils ein gleiches Recht haben, einen bestimmten Zweck zu realisieren. Keinem von ihnen, so scheint es aus Diltheys Texten hervorzugehen, kommt ein Vorrang zu. Keines ist dem anderen vor- oder übergeordnet. Gerade dies hatte Comte anders konzipiert: Bei ihm standen die Wissenschaften in einer hierarchischen Ordnung, und die letzte von ihnen, die Soziologie, handelte von den Möglichkeiten, die Bedürfnisse der Menschen in der Gesellschaft zu organisieren. Damit wollte laut Dilthey der Positivismus – wenn auch sein Anliegen, die Wissenschaften untereinander zu verknüpfen, anzuerkennen ist – im Namen der Wissenschaft »ein universales, allgemeines Weltbegreifen« konstruieren; ohne aber »der Realität des historischen Bewußtseins und der kollektiven Lebenswerte gerecht« werden zu können.52 In Diltheys Verständnis ist ein allgemeinverbindliches Weltbild gar nicht zu begrüßen. Im Gegenteil: Es ist zu beobachten, dass mit dem Rückgang der Metaphysik die einzelnen »Seelenkräfte« mehr Freiheit zur Entfaltung gewonnen haben, in der Religion, Kunst und Wissenschaft.53 Dilthey hat demnach weder den Tendenzen zur Einheitswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert entsprochen oder ihnen vorgearbeitet, noch hat er der Versuchung zur Rationalisierung und Vereinheitlichung des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens, die sich schon im 19. Jahrhundert zeigen, entsprechen wollen.

50 Über das Studium der Geschichte, der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, GS Bd. 5, S. 50, 49. 51 Vorlesung zur Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 20, S. 132. 52 Das Wesen der Philosophie, GS Bd. 5, S. 360 f. 53 Vorlesung zur Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 20, S. 135.

Karl-Heinz Lembeck

Dilthey und der Marburger Neukantianismus

Kann man 100 Jahre nach Diltheys Tod über dessen Aktualität etwas erfahren, indem man sein Verhältnis zum Neukantianismus prüft? Welchen Sinn sollte das haben, da doch der Neukantianismus in allen seinen Spielarten heute offenbar noch weniger aktuell erscheint als Diltheys Philosophie? Das sind berechtigte Fragen, solange man annimmt, dass Aktualität in der Philosophie sich vor allem an der Häufigkeit bemisst, mit der philosophische Themen oder Figuren im Tagesgeschäft gegenwärtiger philosophischer Diskurse auftauchen. Unter dieser Bedingung scheinen allerdings weder Dilthey noch die Neukantianer im derzeitigen Ranking sonderlich weit vorn zu stehen. Zwar kann man durchaus schon seit dem Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts eine signifikante Zunahme der philosophischen und philosophiehistorischen Beschäftigung mit Dilthey und seit Ende der 80er Jahre dann auch mit dem Neukantianismus verzeichnen.1 Dennoch wirkt beides für manchen bis heute wie eine marginale Angelegenheit, bemerkenswert allenfalls für Spezialisten der jüngeren Philosophiegeschichte. So ist es etwa erst wenige Jahren her, dass ein Neukantianismuskongress in Marburg vom damaligen Direktor des dortigen philosophischen Instituts mit den Worten eröffnet wurde, er selber sei zwar systematischer Philosoph, aber nichtsdestotrotz freue er sich natürlich auch über den Besuch philosophiehistorisch arbeitender Kollegen. Die Botschaft war mithin eindeutig: Wer sich heute noch mit Cohen oder Natorp beschäftigt, frönt offenbar einem antiquarischem Hobby von systematisch eher minderem Wert. Und was für die Marburger gelten mochte, dürfte entsprechend auch für die Beschäftigung mit Dilthey angenommen werden. Soviel also zum Aktualitätswert Diltheys und der Neukantianer. Oder liegen hier vielleicht doch Missverständnisse vor? Möglicherweise kommen wir dem auf die Spur, wenn wir uns fragen, wozu wir uns überhaupt mit historischen 1 Vgl. Ernst Wolfgang Orth (Hg.), Dilthey und die Philosophie der Gegenwart, Freiburg, München 1985; Frithjof Rodi (Hg.), Dilthey-Jahrbuch, Göttingen 1983 ff; Ernst Wolfgang Orth, Helmut Holzhey (Hg.), Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, Würzburg 1994.

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Philosophen und deren Gedanken, die bereits vor hundert und mehr Jahren gedacht wurden, beschäftigen. Was bedeutet uns denn das denkerische Interesse an der Geschichte des Denkens? Eben dies aber ist nun bekanntlich eine Fragestellung, die wir nicht neu erfinden müssen – sondern die insbesondere das philosophische Selbstverständnis der hier behandelten Protagonisten auszeichnet. Diese Fragestellung bezeichnet nämlich eine Problemdimension der »Philosophie der Philosophie«, wie Dilthey es nennt, und wie es auch die Neukantianer, von Cohen über Natorp bis hin zu Hönigswald unterschreiben können. Namentlich von Hönigswald stammt die wohl provokanteste Version dieser Auffassung, wenn er 1931 seine »Systematische Selbstdarstellung« mit dem Satz beginnen lässt: »Das Problem der Philosophie ist die Philosophie selbst, ist ihr eigener Begriff.«2 Freilich, das ist im Zusammenhang mit Aktualitätsfragen ein alles andere als ungefährliches Selbstverständnis. Es verführt zu sarkastischen Kommentaren über die Neigung der Philosophie zu narzisstischer Selbstbespiegelung, aus der ihre Untauglichkeit in praktischen Fragen und ihre prinzipielle Unzeitgemäßheit resultiere. Abgesehen davon jedoch, dass man Unzeitgemäßheit ohnehin für einen Ehrentitel der Philosophie halten darf3, kann man derlei Polemik doch als das begreifen, was sie ist – nämlich Ausdruck eines missverstandenen Philosophiebegriffs. Dazu muss man allerdings die These teilen, dass eine Erste Philosophie notwendig selbstreferentielle Züge aufweisen muss. Und man kann versuchen, diese These zu explizieren, indem man seinerseits solche Selbstreferentialität pflegt und sich eben jenen Vorschlägen zuwendet, die für besagte Auffassung auch noch in nachmetaphysischer Zeit plädieren. Dilthey und die Marburger Neukantianer liefern diesbezüglich Angebote, die trotz ganz unterschiedlicher Ansätze und Argumentationsmodelle eindringliche Zeugnisse für das bieten, was man früher als philosophia perennis bezeichnet hat und die hier ihre Einheit aus der wesensmäßigen Geschichtlichkeit des Philosophierens gewinnt – eine These, die bemerkenswerterweise für die neukantianische Logik ebenso gilt wie für die hermeneutische Lebensphilosophie. Ich möchte diese Zeugnisse hier nun nach zwei Seiten hin prüfen: erstens nach der schon angesprochenen inhärenten historischen Dimension philosophischer Selbstbesinnung sowie zweitens nach ihrer methodologischen Seite hin. Eine Pointe, Dilthey und die Marburger Neukantianer hierzu gemeinsam als Zeugen aufzurufen, liegt dabei darin, dass beide Seiten zunächst und vor allem durch systematische Unvereinbarkeit auffallen und einander allenfalls in gegenseitiger Abneigung verbunden zu sein scheinen. So bleiben Diltheys eigene 2 Richard Hönigswald, Systematische Selbstdarstellung (1931), in: ders., Grundfragen der Erkenntnistheorie, hg. von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hamburg 1997, S. 205 – 243. 3 Vgl. Karl-Heinz Lembeck, Philosophie als Zumutung? Würzburg 2010.

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Stellungnahmen gegenüber den neukantischen Schulen stets distanziert. Sie richten sich oft pauschal gegen die klassischen Schulpositionen. Selbst wenn sich hier und da Konzessionen finden lassen, sind diese dem Verhältnis zueinander selten förderlich. So kritisiert er beispielsweise in den Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie die kantische Trennung der Prinzipien von Anschauung und Denken und schließt in diese Polemik auch die »Schule Kants« gleich mit ein. Erst Natorps briefliche Intervention mit Hinweis auf Cohens längst bekannte Argumente für eine Aufhebung eben dieser Trennung4 bewog Dilthey später an dieser Stelle einen kurzen konzilianten Einschub zu machen5, der allerdings genau besehen nur die Kritik an Kant, keineswegs die an dessen ›Schule‹ abzuschwächen vermochte. Im Zusammenhang mit dieser Diskussion findet sich dann jenes Urteil Cohens über Dilthey, das selbst für den im Umgang mit Kollegen wenig zimperlichen Cohen auffallend heftig ausfiel: »Der Kerl ist mir widerwärtig!« schreibt er am 10. April 1895 in einem Brief an Natorp.6 Und dies, obgleich (oder vielleicht gerade weil) Cohen und Dilthey in philosophischen Herkunftsfragen ja keineswegs weit voneinander entfernt standen. Beide dürfen als Trendelenburg-Schüler gelten ebenso, wie sie intellektuell in großer Nähe zur Völkerpsychologie von Moritz Lazarus und Heymann Steinthal aufwuchsen.7 Aber dieselbe Herkunft garantiert keine Harmonie, wie jeder weiß, der Geschwister hat. Vielmehr wuchs im Laufe der Jahre die Konfrontation zwischen Berlin und Marburg offenbar immer weiter an. Die Berliner Philosophen, so meint später Arthur Hübscher dazu, bekämpften »Marburgs ›doppeltcohensauren‹ Natorp, die Marburger aber hätten die Universität Berlin am liebsten ›mit Stumpf und Riehl‹, und vor allem wohl mit der geistesgeschichtlichen Schule Diltheys ausgerottet«.8 Zwischen Natorp und Dilthey war das Verhältnis hingegen etwas moderater. Denn Natorp war dem älteren Berliner Kollegen in mancher Hinsicht verbunden und wurde von diesem offenbar auch geschätzt. Beide waren Mitherausgeber des Archivs für Philosophie. Natorp arbeitete auf Einladung Diltheys an der Akademie-Ausgabe der Kantischen Schriften mit. Überdies bat Dilthey 1895 Natorp (neben anderen Kollegen) um dessen Urteil zu seinen soeben erschienenen Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie.9 Schließlich ver4 Vgl. Dilthey, Die geistige Welt, GS Bd. 5, S. 421, Anm. des Hg. 5 Dilthey, Ideen über beschreibende und zergliedernde Psychologie, GS 5, S. 149. 6 In: H. Holzhey (Hg.), Cohen und Natorp, Bd. 2: Der Marburger Neukantianismus in Quellen, Basel, Stuttgart 1986, S. 237. 7 Brief Diltheys an seine Eltern vom Herbst 1858, in: Clara Misch (Hg.), Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852 – 1870, Göttingen 1933, 21960, S. 49 f. Zu Cohen vgl.: Lembeck, Platon in Marburg. Platonrezeption und Philosophiegeschichtsphilosophie bei Cohen und Natorp, Würzburg 1994, S. 22 ff. 8 Arthur Hübscher, Von Hegel zu Heidegger, Stuttgart 1961, S. 140. 9 Brief Diltheys an Natorp vom 09. 03. 1895, in: Dilthey-Jahrbuch 3 (1985), S. 200.

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bindet beide das Interesse an der klassischen Philologie, das Natorp in die Bonner Schule Hermann Useners führte, der seinerseits Altersgenosse und Studienfreund Diltheys in Berlin gewesen war. – Gleichwohl bleibt der gelegentliche Briefwechsel zwischen beiden in der Sache bemerkenswert unergiebig; und auch im Blick auf ihr Werk meint dann etwa der junge Heidegger noch 1920 grundsätzlich konstatieren zu dürfen, systematisch stehe Dilthey »in radikalem Gegensatz zu Natorp«.10 – Kann ihrer beider Zeugenschaft in Hinsicht auf unser Problem der Selbstreferentialität der Philosophie nun dennoch hilfreich sein? Prüfen wir dies zunächst mit Blick auf das philosophiehistorische Selbstverständnis unserer Protagonisten.

1.

Philosophie und Geschichte (Philosophie und Philosophiegeschichte)

Gilt Dilthey als der Philosoph des geschichtlichen Bewusstseins, so firmiert die Marburger Philosophie gemeinhin gerne als Transzendentallogik mit überhistorischem Geltungsanspruch; ihre Vertreter stehen dementsprechend in einem eher a-historisch wirkenden Verhältnis zur eigenen Geschichte. – Doch dieses Bild ist, obgleich vielfach kolportiert, so nicht ganz richtig.11 Auch die Neukantianer stehen schließlich im Schatten der historistischen Tradition des 19. Jahrhunderts. Problem- und Geschichtsbewusstsein werden nicht künstlich gegeneinander abgegrenzt, sondern in unmittelbare Beziehung zueinander gestellt. Allerdings wirkt diese Beziehung asymmetrisch, wenn insbesondere für die Philosophiegeschichtsschreibung gelten soll, dass allein das sachliche Problem den Leitfaden historischer Forschung abgibt, die Geschichte aber gewissermaßen nur als dessen Medium verstanden wird. Und so erscheint diese neukantianische Einschränkung schon manchem Zeitgenossen auf den ersten Blick »ruinös«12 ; denn wenn man etwa der Überzeugung ist, dass Philosophiegeschichte nur dort richtig betrieben werde, wo ein »neutrale[s] Verhältnis« des »aktuellen philosophischen Wissensstandes zu den Metamorphosen philosophischen Wissens hergestellt ist«13, dann liefern weder Cohen noch Natorp seriöse Philosophiegeschichtsschreibung. Freilich dürften wir einen solch hohen Anspruch dann gewiss auch an Dilthey nicht stellen, da er doch von einem 10 Martin Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Vorlesung Sommersemester 1920, Gesamtausgabe Bd. 59, S. 164. 11 Vgl. dazu ausführlich: Lembeck, Platon in Marburg, a. a. O. 12 Max Scheler, Die deutsche Philosophie der Gegenwart (1922), in: Gesammelte Werke Bd. 7, Bern, München 1973, S. 259 – 330, hier S. 284. 13 Lutz Geldsetzer, Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert, Meisenheim a. Gl. 1968, S. 116.

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bemerkenswert naiven Objektivismus getragen ist, den Dilthey ebenso wenig teilt wie die Marburger. Jedoch muss der ›Aufgang des historischen Bewusstseins‹, den Dilthey diagnostiziert, vielleicht gar nicht zu einer solchen Attitüde führen, von der seinerzeit schon Kant spottete, dass ihr bereits »die Geschichte der Philosophie […] selbst ihre Philosophie« sei.14 Das Wissen um die Geschichtlichkeit des Bewusstseins kann stattdessen als eine Voraussetzung dafür begriffen werden, der Hypothek der unhintergehbaren historischen Bedingtheit des philosophischen und wissenschaftlichen Diskurses zum Trotz noch immer Verantwortlichkeit in Erkenntnis und Handlung zu gewährleisten. Von daher ist auch der Versuch der Neukantianer motiviert, die phänomenale Flüchtigkeit historischer Tatsächlichkeiten auf zugrundeliegende Strukturzusammenhänge zurück zu beziehen; auf Strukturen jedoch, die diese Faktizität durchaus nicht ignorieren, sondern integrieren. Die Absichten sind also klar gegenwarts- und kulturtherapeutische. Und auch wenn die daran sich anschließenden Ausführungsempfehlungen unterschiedlich ausfallen, können sie sich doch auf ein bekanntes Muster berufen. Denn diese Art philosophiegeschichtlicher Reflexion auf den Strukturzusammenhang der Geschichte des Denkens ist nun nicht nur typisch neukantianisch, sondern eine generelle Begleiterscheinung der Entdeckung des historischen Bewusstseins in Philosophie und Wissenschaft der Zeit. Auch Dilthey sah sich seinerzeit veranlasst, die Wesensbestimmung der Philosophie in einem übergreifenden Standpunkt zu suchen. Von diesem Standpunkt aus sollte die Vielfalt der philosophischen Systeme als entwicklungsgeschichtliche Stufenfolge aufgefasst werden, worin schließlich auch die gegenwärtige Philosophie sich ihren historisch angemessenen Platz zu suchen hatte – freilich ohne dass dabei ein hartes Kriterium angegeben wurde, nach welchem eine Rangordnung der konkurrierenden Entwürfe verbindlich zu erstellen wäre.15 Und hier liegt nun tatsächlich eine Differenz zum Marburger Ansatz. Natorp kritisiert Diltheys Unternehmen als den widersinnigen Versuch, die Philosophie als Wissenschaft retten zu wollen, indem er sie in historisch kontingenten Entwicklungen gründet. Dabei belege Diltheys Arbeit selbst jedoch das Gegenteil: Seine typologisierende Betrachtung der Philosophiegeschichte zeige in Wahrheit, »dass eine nicht in die Breite der Tatsachen sich verlierende, sondern in die Tiefe der Probleme dringende Geschichtswissenschaft notwendig Philosophie wird«. »Das geschichtliche Bewußtsein wird selbst zum philosophischen, indem es, eben als geschichtliches, nicht in der Zeit stehen bleibt, sondern daran arbeitet,

14 Kant, Prolegomena A 3. 15 Vgl. Dilthey, Das Wesen der Philosophie, GS Bd. 5, S. 365.

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sich über sie hinaus zu erheben.«16 So ist dieser für Natorp »einzig verständliche Sinn der Geschichte« bei Dilthey gewissermaßen durch die Tat belegt. Dilthey wäre dieser Lesart zufolge im Umgang mit der Philosophiegeschichte ein verkappter Problemhistoriker, dem es lediglich noch an der Einsicht fehlte, dass das entscheidende Kriterium zur historischen Beurteilung der Philosopheme eben ein transzendentallogisches sein müsse. Doch diese letzte Konsequenz ist gewiss einer der Gründe, die Dilthey von einer Zustimmung zur Geschichtsschreibung — la Natorp abgehalten haben. Die von ihm diagnostizierte philosophische »Leidensgeschichte« ist ja gerade Ausdruck des Widerspruchs zwischen der Absicht, philosophisch »Dauerndes« schaffen zu wollen, und der gleichzeitigen Erfahrung der Relativität und Vergänglichkeit all solcher Versuche.17 Keine konstruierte transzendentale Geschichte, weder die der Phänomenologie des Geistes noch die der reinen Vernunft, kann als Schlüssel für die wirkliche Geschichte gedacht werden. Dilthey denkt die Differenz zwischen überhistorischem Wahrheitsanspruch und seiner faktisch-historischen Präsentation radikaler und hält die Vorstellung ihrer Überwindung für »Dünkel«.18 Der Positivist argumentiert hier gegen den Logiker. Dennoch ist die Konsequenz aus dieser Diagnose nicht die Verabschiedung der systematischen Philosophie in toto. Auch Dilthey fordert »historische Forschung in philosophischer Absicht«.19 Liegt der Mannigfaltigkeit der einander widerstreitenden Systeme irgendein gemeinsamer Sachverhalt zugrunde, so könne dieser sich allerdings nicht einem systematischen Präjudiz, sondern müsse sich der tatsächlichen Geschichte des philosophischen Denkens entnehmen lassen: »Die Philosophie muß sich, als menschlich-geschichtliche Tatsache, selber gegenständlich werden.«20 Eine positive Geisteswissenschaft der Geschichte ist der Schlüssel zur Therapie der philosophischen Wissenschaft des Geistes. Ist es der allgemein kulturtherapeutische Auftrag der Geschichtsforschung, den die transzendentale und die hermeneutische Lesart also miteinander teilen, so zeigt die Auftragserfüllung im Detail doch erhebliche Differenzen. Diltheys 16 Natorp, Über Philosophie, Geschichte und Philosophie der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 100 (1908), S. 564 – 584, hier bes. S. 574 u. 577. 17 Dilthey, Das Wesen der Philosophie, GS Bd. 5, S. 364; vgl. Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, GS Bd. 8, S. 7, 75, 77 f. 18 Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 12. 19 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 1, S. 92; vgl. Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, GS Bd. 5, 35; Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1865 – 1880), GS Bd. 18, S. 43, 222. 20 Dilthey, Weltanschauungslehre, GS Bd. 8, S. 13; vgl. Das Wesen der Philosophie, GS Bd. 5, S. 340, 364, 371.

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›positive‹ Bestimmung des Wesens der Philosophie bleibt im Kern eine vehemente Absage an die ›Geschichtsschreibung aus einer Idee‹. Aber seine Alternative erscheint kaum attraktiver, da sie die Philosophiegeschichte offenbar denselben Problemen aussetzt, die bereits die positivistischen Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts in eine Krise getrieben hatten – mit der Konsequenz, dass die Philosophie gelegentlich im Schatten ihrer eigenen Geschichte zu verschwinden droht. Dem allerdings entgeht eine »philosophische Archäologie« — la Kant21 in souveräner Art und Weise. Die Problemkontinuität in der Geschichte des philosophischen Denkens – so die herrschende Auffassung – kann man nämlich nur verfolgen, wenn man zuvor um die Probleme weiß. Das ist die simple Ausgangsthese der Kantianer, deren Wahrheit kaum zu bestreiten ist. Erst mit den systematischen Problemstellungen der Philosophie konstituiert sich daher der historische Gegenstand und wird zum Gegenüber kritischer Arbeit. Klassische philosophische Texte werden auf diese Weise in besonders starkem Maße ›gleichzeitig‹ mit dem, der sie versteht, weil die Beschäftigung mit ihnen einer immer wieder neuen Zuwendung zu den Sachen der Philosophie gleichkommt. Der historische Relativismus philosophischer Welterklärungsmodelle wird deshalb nicht geleugnet; aber er wird auf die Ebene vielfältiger kultureller Ausdrucksformen der Vernunft restringiert. Die funktionale Einheit der Vernunft dominiert dabei jedoch stets die Vielfalt ihrer Gestalten. Philosophiegeschichte ist im Kern darum eben doch Strukturgeschichte der Vernunft. Die Frage ist dann nur, wie sich dieser Strukturzusammenhang dem reflektierenden Bewusstsein erschließt. Während Dilthey ihn von der Faktenlage, von der »Realität des Lebens« selbst her zu rekonstruiert sucht,22 ist bei Natorp und Cohen die Einheit von Geschichte und Kultur a priori durch die Einheit der Vernunft gewährleistet. Es ist wohl richtig, was Gadamer schon gelegentlich vermutet hat: dass Natorp hier weit näher an Hegel herangerückt ist, als es der Hegel-Biograph Dilthey je war. Gleichwohl: der ebenfalls Hegelsche Gedanke der Notwendigkeit denkgeschichtlicher Selbstreferenz des Philosophierens ist und bleibt in beiden Modellen ungebrochen wirksam. Und in deren Vollzug erweist sich auch bei Dilthey, dass jede historische Rekonstruktion einen allgemeinen Maßstab längst mitbringt, weil doch auch jene ›Realitäten des Lebens‹, von denen der Positivist auszugehen vorgibt, immer schon Ausdruck von Strukturen eben dieses Lebens sind. – Gehen wir damit nun zur zweiten Frage über, die die methodologische Selbstreferenz der Protagonisten betrifft.

21 Vgl. Kant, Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik, Akad. Ausg. Bd. 20: Kant’s handschriftlicher Nachlaß, Bd. VII, S. 333 – 351, bes. S. 340 ff. 22 Dilthey, Der Aufbau, GS Bd. 7, S. 150.

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2.

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Philosophie und Methode (Philosophie und Psychologie)

Die Methodenfrage ist für die Entwürfe Diltheys und Cohens resp. Natorps klar zu beantworten: der hermeneutischen Methode steht scheinbar unversöhnlich gegenüber die transzendentale. Dilthey selbst denunziert letztere gelegentlich als »Zauberkunst«23, deren vermeintliche Erfolge sich nicht einer Auseinandersetzung mit der Realität des menschlichen Lebens, sondern ausschließlich der Magie ihrer eigenen Logik verdankten. Er tut ihr damit womöglich Unrecht. Denn worin besteht diese vermeintliche Zauberkunst? Richtig ist, dass die Transzendentalphilosophie nach dem logischen Bedingungsgefüge des menschlichen Bewusstseins fragt, nicht nach dessen empirischer Konstitution. Und dennoch bedarf diese logische Fragestellung eines Ausgangsmaterials, das in der Erfahrung gewonnen wird. In eben dieser Einsicht liegt der Grundstein der sogenannten »transzendentalen Methode« der Neukantianer. Denn »die überhaupt mögliche Erfahrung« – so hat es Hermann Cohen einmal formuliert – »wird bestimmt aus den Bedingungen der faktischen Erfahrung«.24 – Allerdings ist faktische Erfahrung hier nicht gleich individuelle Erfahrung, sondern meint wissenschaftliche Erfahrung, weshalb die transzendentale Methode bei Cohen in ihrer logischen ›Blütezeit‹ eben am Faktum der Wissenschaften orientiert bleibt. Das ist es wohl vor allem, was Dilthey daran kritisiert. Anlass dazu gab es gegenüber Cohen aber keineswegs immer und erst recht nicht gegenüber Natorp. Entwicklungsgeschichtlich gründet die transzendentale Methode bei Cohen in einer psychologischen,25 ebenso wie später auch noch Natorp die Philosophie methodologisch mit der Psychologie verknüpft. Der frühe Cohen zeigte ein großes methodologisches Interesse an der Kantischen Psychologie aus der Kritik der Urteilskraft, das demjenigen Diltheys durchaus vergleichbar war. Und beide plädieren in der Folge davon mit je unterschiedlicher Intensität für eine deutliche Erweiterung des Kantischen Kategorienbegriffs und liefern damit wesentliche Beiträge zu einer Morphologie des Apriori. (Ich habe darüber schon früher in Anlehnung an Thesen Rudolf Makkreels berichtet und gehe hier nicht noch einmal darauf ein.26) An dieser Stelle soll das Augenmerk vielmehr auf das Verhältnis von Diltheys zu Natorps Psychologie gerichtet werden. Denn auch in diesem Fall lässt sich wiederum zeigen, wie die durchgängige Motivation zu methodologischer Selbstreferenz des Philosophierens – ungeachtet der Unterschiedlichkeit ihrer 23 24 25 26

Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, GS Bd. 5, S. 148. H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1871, S. 25. Vgl. Lembeck, Platon in Marburg, bes. S. 22 – 57. Vgl. Lembeck, Kantianismus oder Neukantianismus in Diltheys Psychologie? in: DiltheyJahrbuch 10 (1996), S. 38 – 60; vgl. auch Rudolf Makkreel, Dilthey. Philosoph der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1991, bes. S. 267 ff.

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Gestalten – aus ihrer ›Stellung im Leben‹ (wie Heidegger das vielleicht ausdrücken würde) resultiert. Dass nun die deskriptive Erlebnispsychologie, wie Dilthey sie konzipiert, den neukantianischen Psychologie-Modellen augenscheinlich widerstreitet, hat weniger etwas mit deren antipsychologistischem Ressentiment zu tun – denn darin wären sich ja alle einig –, als vielmehr mit methodischen Differenzen, die in der Auffassung des Erlebnis- und des Lebensbegriffs gründen. Bewusstseinsakte – da widersprechen weder Cohen noch Natorp – drücken sich in Erlebnissen aus. In den Erlebnissen geben sich die Inhalte des Bewusstseins. Die Erlebnisse selbst aber, so gibt Natorp zu bedenken, können nicht selbst wiederum zu ›Inhalten‹ eines weiteren Erlebens werden.27 Dieser Einwand, den Natorp vornehmlich gegen die Phänomenologie richtet, trifft auch die beschreibende Psychologie Diltheys: man könne Erlebnisse eben nicht erleben. Sie würden sonst ja wieder zu objektiv bestimmbaren Gegenständen. Selbst pure Beschreibungen objektivieren. Lediglich strukturell sind Erlebnisse analysierbar, so lautet stattdessen die These Natorps in seiner Allgemeinen Psychologie von 1912. (Bereits dieser Titel schließt daher jede ›idiographische‹ Lesart der psychologischen Methode aus.) Das Ergebnis der Strukturanalyse lautet dann: In den Erlebnissen konstituiert sich, was wir Objektivität nennen. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit solcher Objektivität ist sonach im Rahmen einer »Rekonstruktion«28 ihrer logischen Genese zu beantworten. Natorps psychologische Methode ist demzufolge als »Umkehrung« der konstruktiven Methode der Logik angelegt. Sie beabsichtigt eine Rekonstruktion des konstitutiven Stufengangs der Objektivierungsleistungen des Bewusstseins. Psychologie und Logik sind also beide auf denselben Sachverhalt ausgerichtet: auf das korrelative Verhältnis von Subjekt und Objekt. Methodisch hingegen sind sie gegenläufig orientiert. Daher muss die Psychologie den Vollzug solcher Objektivierungsleistungen des Bewusstseins voraussetzen, um von ihnen aus eine ›Rekonstruktion‹ dieses Vollzugs vornehmen zu können.29 Die Problematik jeder psychologischen Methode in der Philosophie tritt dabei offen zutage: Das Subjektive wird diesseits aller Objektivierung gesucht; als das schlechthin Unbestimmte, diesseits aller Bestimmung. Wie aber ist das Bestimmungslose aufzufassen – ohne es sogleich wieder zu bestimmen? Unmittelbar, wie es die Konzepte der deskriptiven Psychologie vorschlagen, ist es jedenfalls nicht zu ergreifen, da das Unmittelbare, einmal erfasst, nichts Unmittelbares mehr ist. Das Erlebnis selbst, um es zu wiederholen, ist eben nicht mehr erlebar und darum nicht bestimmbar. Psychologie kann daher nur den 27 Paul Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Tübingen 1912, S. 22. 28 Ebd., S. 191 ff. 29 Vgl. ebd., S. 195 f.

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faktischen Spuren vorliegender Objektivierungsleistungen der Erkenntnis folgen, um so von der Statik objektiver Feststellungen zur Dynamik allseitiger Wechselbeziehungen vorzudringen, welche »das Leben des Bewußtseins erst ausmach[t]«.30 Der Psychologe verfährt somit ähnlich »archäologisch« wie der Philosophiehistoriker, nur arbeitet er an einem anderem ›Material‹. Die ReSubjektivierungsfunktion der Psychologie soll den Erkenntniszusammenhang als »Erlebniszusammenhang« lesen und damit der Rede vom »Leben« des Bewusstseins einen guten Sinn geben.31 – Freilich, was hier »Leben« bedeutet, muss genauer geprüft werden. Und zu solcher Prüfung bietet es sich nun an, den im Konzept der deskriptiven Psychologie wirkenden Lebensbegriff Diltheys als Kontrastfolie zu wählen. Während für Natorp die »Einheit« des Bewusstseins den Inbegriff der logischen Funktion der Vereinheitlichung des Mannigfaltigen bedeutet, bezeichnet er die über die Psychologie vermeintlich rekonstruierbare »konkrete Einheit« des Erlebnisstroms »lieber mit dem Wort ›Leben‹«.32 Es gelingt nun allerdings nicht, diesen frühen Begriff des Lebens aus Natorps Psychologie mit demjenigen Diltheys in Einklang zu bringen. Es ist ja vor allem Diltheys Auffassung von der Unmittelbarkeit des Bewusstseinslebens, die seine beschreibende Psychologie zu einer Art Ersten Philosophie macht. Doch eben dieser Unmittelbarkeits-Begriff ist für Natorp, wie erläutert, methodologisch inakzeptabel. Dementsprechend wirkt dann aber auch der von Natorp verwendete Lebens-Begriff merkwürdig artifiziell. Unter »Lebendigkeit« versteht Natorp hier nämlich nur die »Tätigkeit« des Bewusstseins.33 Leben und Bewusstsein treten in diesen Ausführungen offensichtlich als auswechselbare Begriffe auf. Ihr Unterschied ist allenfalls der des Gesichtspunkts: Der logische geht auf die Gesetzesstruktur des Bewusstseins, der psychologische auf dessen konkrete ›Erlebnis-Füllen‹. ›Leben‹ ist daher nur ein »menschlicher« Ausdruck34 für den logischen Umstand, dass die Erkenntnis nicht als factum, sondern als fieri auftritt: als genetisches Geschehen, das nie zu einem Ende kommt. Aber genau deshalb hat hier auch nicht die Psychologie den methodologischen Primat inne, sondern die Erkenntnislogik. Erst später, in der postum erschienenen Philosophischen Systematik, sucht Natorp die Strukturlogik der Erkenntnis konsequenter zu einer »Logik des Lebens« auszubauen, in welcher der Lebensbegriff dann eine etwas andere Rolle spielt; eine Rolle freilich, die wiederum von Diltheys Verständnis ebenso weit entfernt bleibt – nur diesmal nach der anderen Seite hin. Bleibt das logisch 30 31 32 33 34

Ebd., S. 82. Vgl. ebd. Natorp, Philosophie und Psychologie, in: Logos 4 (1913), S. 176 – 202, hier S. 180. Natorp, Allgemeine Psychologie, S. 57. Ebd., S. 308.

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restringierte Konzept von Leben gewissermaßen diesseits des Diltheyschen Lebensbegriffs, so wird das systematische jenseits desselben angesiedelt; – Dilthey hätte vermutlich gesagt: im Reich metaphysischen Nebels. Wenn Erkenntnis, so hieß es schon in der Allgemeinen Psychologie, kein singulärer Akt ist, sondern die tragende Funktion des gesamten Lebens- und Erlebniszusammenhanges bildet,35 so kann Natorp die philosophische Reflexion in seinem Buch Philosophische Systematik deshalb folgerichtig als Funktion der Besinnung des Lebens auf sich selbst verstehen.36 Allerdings akzentuiert Natorp die Frage nach dem Wesen dieser »Schöpfungsakte des Lebens«, die das Sein aus einem ominösen Ursprung heraus erzeugen sollen, nun ganz anders als früher. ›Ursprung‹ bezeichnet im Spätwerk Natorps nämlich jene radikale Faktizität, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts ist. Der Ursprung alles konkret konstituierten Seienden ist demnach die »reine Daßheit« des Seins, das »Es ist«.37 Dieser Begriff von Ursprung kann nicht mehr nur im negativen Sinne einer unendlichen Unbestimmtheit verstanden werden. Als solcher wäre er nur ein urteilstheoretischer Reflex. Ursprung besagt jetzt also nicht das Unendliche, sondern das Überendliche des Seins: Ursprung meint »das Wunder, daß alles gewissermaßen schon da ist«, bevor es sich dem Denken zu erkennen gibt.38 Mit dieser ontologischen Wende Natorps vertieft sich auch sein Lebensbegriff. Ist das Leben der Ort des »Heraufsteigen[s] und Hervorgehen[s] des Seins aus dem Nichtsein«, so ist Leben »mehr« und »früher als Denken«.39 Leben wird zum Ort der »Schöpfung« des Seins, wobei Schöpfung jetzt weniger auf subjektive Spontaneität zurückgeführt, sondern eher als »Selbstschöpfung« verstanden wird.40 Schöpfung besagt nunmehr ein Sich-zu-erkennen-Geben, ein Sich-Darstellen des Seins und zu dem Vernehmenden gleichsam Sprechen: »Da bin ich«41. In solchem ›Sprechen‹ ist das Sein nicht irgendwie repräsentiert, sondern unmittelbar präsent. Der ursprüngliche An-Spruch des Seins ist nicht nur gesprochener, sondern »sprechende[r] Spruch«.42 Abgesehen davon, dass wir an dieser Stelle unschwer Heideggers berühmtes Wort von der Sprache, die spricht, heraushören43, findet sich hier nun eine ähnliche Emphase im Umgang mit dem Lebensbegriff, wie wir sie gelegentlich 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Vgl. ebd., S. 82 f. Vgl. Natorp, Philosophische Systematik, hg. von Hans Natorp, Hamburg 1958, S. 3. Vgl. ebd., S. 51. Ebd., S. 33. Ebd., S. 125. Vgl. Natorp, Sozialidealismus, Berlin, 21922, S. 174. Natorp, Philosophische Systematik, S. 25. Ebd., S. 33, 45. Heidegger, Der Satz vom Grund, GA Bd. 10, S. 143. Vgl. Christoph von Wolzogen, ›Es gibt‹. Heidegger und Natorps Praktische Philosophie, in: Heidegger und die praktische Philosophie, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert, Frankfurt a. M. 1988, S. 313 – 337.

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auch bei Dilthey konstatieren können. Und doch erweist sich die vermeintliche Nähe bei genauerem Hinsehen als akustische Täuschung. Denn jener Ursprung, von dem Natorp da spricht, aus welchem das Leben das Sein »hervorholt«, ist tatsächlich keiner, dem man methodisch hinreichend nahe kommen könnte. Dagegen ist der lebendige Ursprung, auf den nach Dilthey das Verstehen sich zu richten hat, eben das tatsächlich gelebte Leben, zeigt sich als »Realität«, als schlicht »Gegebenes«.44 Abgesehen von dieser bleibenden Differenz zu Diltheys Positivismus ist freilich bemerkenswert, dass uns formal hier etwas Ähnliches bei Natorp begegnet, wie wir es auch schon bei Dilthey erkennen konnten: Unter der Hand führt die Selbstreferenz der Denkgeschichte in eine eigentümliche Dialektik, worin im Falle Diltheys das ehemals suspekte Allgemeine in der Gestalt des »Strukturzusammenhangs des Lebens« rehabilitiert wird, während im Falle Natorps die Logik eine je konkrete, dynamisch sich wandelnde Gestalt erhält, für die das Attribut ›lebendig‹ vielleicht euphemistisch wirkt und doch gerade deshalb geeignet scheint, den Charakter dieser Gestalt als Unverfügbares oder gar, mit Diltheys Wort, als Unergründliches anzuzeigen.

3.

Philosophie als Philosophieren

Ich komme damit zum Schluss und zurück zur Frage nach der Aktualität solcher Beschäftigung mit Dilthey, Natorp und ihrem Verhältnis zueinander. Haben wir hier nun lediglich erfahren, worin sich die Spekulationen unserer Protagonisten voneinander unterscheiden oder wo sie eventuell auf vergleichbare Motive zurückzuführen sind? Wenn es so wäre, liefe das allenfalls auf die Befriedigung antiquarischer Neugierde hinaus. Nein, etwas anderes ist wohl wichtiger : Die Erkenntnis, dass die Philosophie sich nicht unbedingt an der Qualität ihrer manifesten Ergebnisse, sondern vor allem daran muss messen lassen können, wie sie vollzogen wird und was ihr in diesem Vollzug widerfährt. Und dies eben wird gerade in der Prüfung derart antagonistisch wirkender Philosophieentwürfe und der Rekonstruktion ihres Vollzuges deutlich. Denn obgleich ihre argumentative Distanz unübersehbar ist, ist das philosophische Pathos, dem die Argumentation je folgt, offenbar von ähnlicher Art. Hier wie dort überwältigt es die Protagonisten auf eigentümlich dialektische Weise. Bei Dilthey herrscht es dort, wo ihm unter der Hand das sachliche Problem, dem die philosophia perennis sich je zuwendet, zum Garanten der historischen Kontinuität gerät; bei Natorp, wo ihm ebenso verborgen die radikale Faktizität des »Es gibt« zum anonymen Träger der systematischen Meditation wird. In dieser Dialektik wird 44 Vgl. Dilthey, Aufbau, GS Bd. 7, S. 150.

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einerseits die vermeintlich historische »Anarchie« der philosophischen Systeme, die Dilthey zunächst beklagt, eben doch in der Einheit eines Philosophievollzugs aufgehoben, die sich je als Ausdruck der Selbstreferentialität eines strukturierten »Lebenszusammenhangs« verstehen lässt. Andererseits erweist sich in jener historischen Vielfalt philosophischer ›Lebensvollzüge‹, wie die vermeintlich luzide logische Systematik, die Natorp allenthalben feiert, eben doch im unergründlichen Faktum des Seins verborgen bleibt. So kommt in diesem Geschehen schließlich etwas zum Tragen, was an Hegels List der Vernunft erinnert, was wir aber lieber der Selbstverantwortung eines Denkens zuschreiben wollen, das sich – eben nur auf sich selbst gestellt – all seinen eigenen systematischen wie historischen Gestalten gegenüber muss rechtfertigen können. Die Rekonstruktion besagter Entwürfe zeigt damit auch, dass Philosophie ihr Maß niemals in etwas anderem, sondern, so merkwürdig es klingen mag, nur in sich selber findet. Will sagen, allen vordergründigen Nutzenerwägungen, allen interdisziplinären Fruchtbarkeitsritualen zum Trotz ist Philosophieren vor allem Selbstdenken – und das besagt hier nicht nur Selbstdenken im Sinne des Autonomie-Postulats der Aufklärung, sondern vor allem auch: Sich-selbstDenken. Und das aber heißt wiederum: Selbstverantwortung unter radikaler Berücksichtigung der ursprünglichen Quellen aller Weltbegegnung, die uns im Denken zugänglich sind; also unter Berücksichtigung der unhintergehbaren Gemengelage einer logisch-psychologisch-historischen Faktizität des je eigenen Lebens. Die internen Entwicklungen so antagonistisch wirkender Denkgeschichten wie diejenigen Diltheys und Natorps sind sich in ihrem Plädoyer für Ursprungsfragen entsprechend einig. Worin sie sich offenbar unterscheiden, ist die Intensität des Leidens an der gleichzeitigen Entdeckung, dass alle Antwortversuche auf solche Fragen – ob hermeneutisch, transzendentallogisch oder metaphysisch – prinzipiell defizitär bleiben. Denn sie terminieren eben nicht in unerschütterlichen Wahrheiten, sondern ihr Wert liegt im Akt des Antwortens selbst als eines Ver-Antwortens, also im situativen Akt rechenschaftslegender Stellungnahme. Dementsprechend führt auch die historische Rekonstruktion von Denkgeschichten dieser Art keineswegs zu einer Entscheidung darüber, welche Wahrheit ›aktuell‹ oder welche ›noch aktueller‹ sei, sondern bestenfalls zu der Einsicht, dass Philosophie je in der ursprünglichen Situation des eigenen Lebens vollzogen werden muss und dass in jener Gemengelage der Lebenssituation die Geltungsansprüche philosophischer Einsichten offenbar ebenso polyvalent sind, wie die Faktizität des eigenen Daseins kontingent ist. – Manchmal muss man sich dann eben mit der Hoffnung beruhigen, dabei wenigstens noch als Medium der List der Vernunft zu agieren.

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Dilthey und die Phänomenologie Husserls

Das Verhältnis zwischen Dilthey und Husserl gehört zu den zentralen und meistdiskutierten Problemen in der Rezeptionsgeschichte der Diltheyschen Philosophie. Trotz der großen Anzahl an Studien, die sich diesem Thema gewidmet haben, ist wiederholt die Schwierigkeit hervorgehoben worden, zu einer abschließenden Interpretation des Verhältnisses und der wechselseitigen Beeinflussung beider Denker zu gelangen. Wie Hans-Ulrich Lessing und Frithjof Rodi bemerkten, »ist die Begegnung und Auseinandersetzung zwischen DiltheySchule und Phänomenologie (das Wort im weitesten, auch Heidegger einschließenden Sinn genommen) zweifellos der komplexeste Vorgang innerhalb der Wirkungsgeschichte Diltheys«.1 Er beginnt mit einem Treffen und einer Diskussion beider Philosophen. Das Treffen fand nach der Veröffentlichung der Logischen Untersuchungen Husserls 1905 in Berlin statt. Die brieflich geführte Diskussion setzte mit der Veröffentlichung des Aufsatzes Diltheys über die Typen der Weltanschauung2 und der Programmschrift Husserls Philosophie als strenge Wissenschaft3 ein. Sie fand ihre Fortführung zum einen im Versuch des Schülers und Schwiegersohns Diltheys, Georg Misch, eine Auseinandersetzung zwischen Lebensphilosophie und Phänomenologie zu initiieren, die auch die Position Heideggers einschließen sollte4 ; zum anderen aber auch in einigen Stellungnahmen Husserls in den Zwanzigerjahren, die in der in einem Brief an Misch zu findenden Feststellung münden, nach der es die Gespräche mit Dilthey in Berlin waren (und nicht dessen Schriften), die vom Husserl der Logischen Untersu1 Frithjof Rodi, Hans-Ulrich Lessing, Einleitung, in: Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, hg. von F. Rodi, H.-U. Lessing, Frankfurt a. M. 1984, S. 15. 2 Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, GS Bd. 8, S. 73 – 118. 3 Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos I (1911); jetzt in: Husserliana Bd. 25: Aufsätze und Vorträge (1911 – 1921), hg. von Thomas Nenon, Hans Rainer Sepp, Dordrecht, Boston, Lancaster 1987, S. 3 – 62. 4 Georg Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl, Bonn 1930.

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chungen zum Husserl der Ideen führten.5 In diesen Zusammenhang gehört auch das Interesse am Diltheyschen Denken in Phänomenologenkreisen: nicht nur bei Heidegger6, sondern auch bei den Husserlschülern Ludwig Landgrebe7 und Dietrich Mahnke8. In diesem Beitrag versuche ich die wesentlichen Themen der direkt geführten Diskussion beider Philosophen herauszuarbeiten. Ich beginne mit der Rezeption der Logischen Untersuchungen von Seiten Diltheys und behandle dann die Frage des Verhältnisses von Philosophie und Weltanschauung, die beide im Briefwechsel9 diskutieren. Schließlich werde ich noch die Art und Weise betrachten, in der Husserl im Laufe der Zwanzigerjahre vom Standpunkt seiner Phänomenologie aus die Frage Diltheys nach dem Verhältnis von Psychologie, Geisteswissenschaften und Erkenntnistheorie neuformuliert, indem er in den Vorlesungen über phänomenologische Psychologie10 und in der Krisis11 nach dem Problem des Verhältnisses von Psychologie und Transzendentalphilosophie fragt. 1. Das Problem der Psychologie bildet sowohl für Dilthey wie auch für Husserl den Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen. Doch der Begriff der Psychologie hat 5 Husserl an Misch, 27.VI.1929, in: Husserl, Briefwechsel Bd. 6: Philosophenbriefe, hg. von Karl Schuhmann in Verbindung mit Elisabeth Schuhmann, Dordrecht, Boston, London 1994, S. 275. 6 Außer der Stellungnahme in § 77 von Sein und Zeit sind hier folgende Vorlesungen Heideggers zu erwähnen: Grundprobleme der Phänomenologie (WS 1919 – 20), Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung (SS 1920) und Ontologie. Hermeneutik der Faktizität (SS 1923). Diese Vorlesungen sind jetzt in den Bänden 58, 59 und 63 der Gesamtausgabe von Heideggers Werken zugänglich. Wichtig für die Rezeption des Denkens Diltheys durch Heidegger sind auch die Vorträge von 1925 zum Thema Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung, hg. von F. Rodi in: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992 – 93), S. 143 – 77, und die Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Gesamtausgabe, Bd. 20). Zum Verhältnis zwischen Heidegger und Dilthey vgl. F. Rodi, Erkenntnis des Erkannten, Frankfurt a. M. 1990, S. 102 – 122. 7 Ludwig Landgrebe, Wilhelm Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften. (Analyse ihrer Grundbegriffe), in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 9 (1928), S. 237 – 366. 8 In einer Besprechung von Band 7 der Gesammelten Schriften Diltheys hatte Mahnke die Idee einer Komplementarität zwischen den Philosophien von Dilthey und Husserl ausgedrückt. Vgl. dazu Guy van Kerckhoven, Die Grundsätze von Husserls Konfrontation mit Dilthey, in: Dilthey und der Wandel des Philosophiebegriffs seit dem 19. Jahrhundert, hg. von Ernst Wolfgang Orth, Freiburg i. Br., München 1984, S. 134 – 160. 9 Husserl, Briefwechsel Bd. 6, S. 43 – 53. 10 Husserl, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925, Husserliana Bd. 9, hg. von Walter Biemel, Den Haag 1962. 11 Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana Bd. 6, hg. von W. Biemel, Den Haag 1954.

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anscheinend für beide einen unterschiedlichen Stellenwert. Bei Dilthey ist die Psychologie, gemäß dem Projekt der Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, die grundlegende Wissenschaft für die Erkenntnis der historisch-geistigen Welt, die der Erkenntnistheorie die Grundlagen der Beschreibung des seelischen Zusammenhangs bereitstellen soll, der den »Untergrund des Erkenntnisprozesses«12 bildet. Deswegen ist sie eine »Psychologie in Bewegung«, die nicht mit den naturalistischen Psychologien verwechselt werden darf. Bei Husserl ist hingegen die Psychologie anfangs ein methodologisches Werkzeug, um die Vorgänge zu erhellen, die in der mathematischen Erkenntnis stattfinden. Trotz dieser Differenzen konnte Dilthey in einer Fußnote zu den Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften schreiben: »Suche ich nun hier diese meine Grundlegung einer realistisch oder kritisch objektiv gerichteten Erkenntnistheorie fortzubilden, so muss ich ein für allemal im ganzen darauf hinweisen, wie vieles ich den in der Verwertung der Deskription für die Erkenntnistheorie epochemachenden ›Logische Untersuchungen‹ von Husserl (1900 – 1901) verdanke«.13 Nach der harschen Kritik des Psychologen Hermann Ebbinghaus an den Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie14 und nach den Zweifeln, die Windelband gegenüber seinen Kriterien äußerte, die die Grundlage für seine Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften bildeten,15 kam der entscheidende Impuls, seine wenige Jahre zuvor unterbrochenen psychologischen und erkenntnistheoretischen Studien wiederaufzunehmen, erst durch das Gefühl, mit einem der brillantesten und tiefsten Genies der neuen Generation übereinzustimmen. In der Position Husserls sah er den Beweis für die Fruchtbarkeit seines eigenen Ansatzes, die Geisteswissenschaft auf einer Beschreibung des »psychischen Strukturzusammenhangs«, auf einer »beschreibend-zergliedernden Darstellung der Prozesse, innerhalb denen das Wissen entsteht«, zu gründen.16 Ausgehend von der Entdeckung des Apriori der Korrelation von Subjekt und Objekt, gelingt Husserl in den Logischen Untersuchungen die Bestimmung und Anwendung eines neuen phänomenologisch-deskriptiven Standpunkts, der dazu bestimmt sein soll, die Probleme der Logik zu lösen, indem er den Gegensatz zwischen Psychologismus und Logizismus überwindet. Im Unterschied zu den psychologistischen Tendenzen behauptet Husserl einerseits den idealen Charakter der logischen Gegenstände und den universalen und notwendigen 12 Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, GS Bd. 5, S. 151. 13 Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 14. 14 Hermann Ebbinghaus, Über erklärende und beschreibende Psychologie, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 9 (1896), S. 161 – 205. 15 Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihre Geschichte, Tübingen 1903, S. 136 – 160. 16 Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 10.

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Charakter der Denkgesetze. Andererseits wendet sich Husserl im zweiten Band der Logischen Untersuchungen gegen den impliziten Dogmatismus des Logizismus, der die Wahrheit der Objekte selbst behauptet, indem er die subjektiven Tätigkeiten untersucht, die in den Erlebnissen das logische Objekt konstituieren. Zum Hauptmerkmal des Erlebnisses im phänomenologischen Sinne wird auf diese Weise die Intentionalität, die Husserl als Gerichtetheit jedes Bewusstseinsaktes auf einen Gegenstand, sein Sich-Erstrecken auf einen Inhalt oder die »immanente« Bedeutung beschreibt. Dieser Ansatz beruht auf der Möglichkeit, den Begriff des Erlebnisses »rein phänomenologisch« zu bestimmen, d. h. unter Ausschaltung aller Beziehung »auf empirisch-reales Dasein«; somit wird das Erlebnis im deskriptiv-psychologischen Sinne zum Erlebnis im Sinne der reinen Phänomenologie.17 Kraft dieses neuen beschreibenden Ansatzes gelingt Husserl ein wesentlicher Fortschritt bei der Überwindung der naturalistischen Psychologie. Diese Überwindung hatte Dilthey als Bedingung für eine eigenständige Grundlegung der Geisteswissenschaften und Grundlage einer Erkenntnistheorie angemahnt, die an der Konkretheit psychologischer Erfahrung ansetzen sollte. Wie Husserl will wohl auch Dilthey mit seiner »Theorie des Wissens als philosophische Selbstbesinnung« einen Mittelweg zwischen Objektivismus und Psychologismus beschreiten. Denn tatsächlich weist er darauf hin, dass eines der grundlegenden Merkmale, die »gültiges Wissen« vom »bloßen Vorstellen, Vermuten, Fragen oder Annehmen« unterscheiden, der Umstand ist, dass in der Weise, in der der Inhalt sich dem Bewusstsein zu erkennen gibt, eine »objektive Notwendigkeit« liegt.18 Die Unterschiede in den Ansätzen Diltheys und Husserls sind allerdings nicht zu unterschätzen, und zwar sowohl was die Frage nach dem Begriff des Erlebnisses betrifft (das bei Dilthey keinen intentionalen Charakter besitzt) als auch hinsichtlich des Verhältnisses von Erlebnis und Ausdruck. Entscheidend für die Position Diltheys ist der Begriff der psychischen Struktur, den er schon in den Ideen ausarbeitete, als erlebte Beziehung zwischen den Teilen und dem Ganzen des psychischen Lebens: »Struktur ist ein Inbegriff von Verhältnissen, in welchen mitten in dem Wechsel der Vorgänge, mitten in der Zufälligkeit des Nebeneinanderbestandes psychischer Bestandteile und der Abfolge psychischer Erlebnisse einzelne Teile des psychischen Zusammenhanges aufeinander bezogen sind«.19 Um diesen artikulierten (und damit ausdrückbaren und verständlichen) Charakter des psychischen Lebens zu ver17 Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. 2, Teil 1: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Husserliana Bd. 19/1, hg. von Ursula Panzer, Den Haag 1984, S. 357. 18 Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 7. 19 Ebd., S. 15.

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deutlichen, benutzt Dilthey das ursprünglich von Brentano stammende (und von Husserl aufgegriffene) Schema, das als Hauptmerkmal der psychischen Phänomene die Beziehung zwischen Akt und Inhalt bestimmt. Dilthey unterscheidet sich jedoch von Brentano – den er als »Scholastiker« betrachtet – darin, dass er der Lehre der Intentionalität des Bewusstseins und der Brentanoschen Klassifikation der psychischen Phänomene die umfassende Faktizität des Lebens als ursprünglich Vorliegendes gegenüberstellt, das der Unterscheidung zwischen Bewusstsein und seinen Objekten vorhergeht. Mit dem Prinzip der Phänomenalität, das alle »Realität« auf die Dimension des Erlebnisses und auf seine Gegebenheit in einer Erfahrung des Widerstandes zurückführt, in dem der Wille auf die Grenzen in der Welt stößt, wird Dilthey zum Antipoden des Brentanoschen Realismus, der die Wahrheit als Koinzidenz zwischen Urteil und Objekt auffasste.20 Dieser Unterschied zu Brentano markiert zugleich den Abstand zu Husserl. An ihm wird vor allem Diltheys Interesse am Ausdruck als Lebensphänomen und nicht als rein intellektuelle Tatsache sichtbar. Zwar stimmt es, dass Dilthey, indem er die strukturelle Einheit zwischen dem Ausdruck als psychischem Phänomen und der Bedeutung als Gegenständlichkeit hervorheben will, auf die Husserlsche Definition des Ausdrucks zurückgreift: »jede Rede und jeder Redeteil sowie jedes wesentlich gleichartige Zeichen« – wobei die Eigentümlichkeit des Ausdrucks gegenüber anderen Zeichen gerade in der Bedeutsamkeit liegt.21 Doch während Husserl an der semantischen Dimension des Ausdrucks interessiert ist, an seiner Struktur als intentionalem Akt, in dem die Erlebnisse sich auf eine ideelle, identische und die Zeit überdauernde Bedeutungseinheit beziehen, untersucht Dilthey den Ausdruck als Objektivation des Lebens. Er sieht im Ausdruck vor allem die Artikulation eines Erlebnisses, das dadurch dem Verstehen zugänglich wird – nicht nur dem Verstehen im Sinne einer methodischen Vorgehensweise der Geisteswissenschaften sondern auch dem elementaren Verstehen, das auf einer vorwissenschaftlichen Ebene im praktischen Leben stattfindet.22 Für Dilthey macht der Ausdruck den Zusammenhangscharakter des Erlebnisses deutlich. 20 Zum Verhältnis von Dilthey und Brentano vgl. Jean-Claude Gens, La pens¦e herm¦neutique de Dilthey, Villeneuve, d’Ascq 2002, S. 110 – 113, und Ernst Wolfgang Orth, Dilthey und Brentano zur Wissenschaftsforschung, in: Dilthey und der Wandel des Philosophiebegriffs seit dem 19. Jahrhundert, hg. von E. W. Orth, S. 24 – 54. 21 Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 39. Die Husserlsche Definition findet sich in der ersten der Logischen Untersuchungen, die das Thema Ausdruck und Bedeutung behandelt. Vgl. Husserliana Bd. 19/1, S. 37. 22 Zur Wechselseitigkeit von Verstehen und Ausdruck bei Dilthey vgl. Georg Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens, hg. von Gudrun Kühne-Bertram, Frithjof Rodi, Freiburg i. Br., München 1994, S. 75. Zu den unterschiedlichen Formen des Verstehens, vor

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2. Wenn Dilthey, mit den Unterschieden, die wir gerade gesehen haben, in den Logischen Untersuchungen eine Bestätigung der Richtigkeit des eigenen psychologisch-strukturellen Ansatzes sieht, so ist das Urteil, das Husserl anfangs über die Philosophie des älteren und etablierten Kollegen fällt, nicht ganz so wohlwollend und aufgeschlossen. In der programmatischen Schrift von 1911, Philosophie als strenge Wissenschaft, kritisiert Husserl vom Standpunkt einer Erkenntnistheorie im Sinne Kants (als Untersuchung der Bedingungen a priori der Gültigkeit des Wissens) die naturalistische Philosophie und die psychophysischen und experimentellen Psychologien. Indem diese den Verstand und die Subjektivität naturalisierten, öffnen sie einem Skeptizismus Tür und Tor, der seine Wirkung nicht nur auf erkenntnistheoretischem Gebiete sondern auch im Bereich der Ethik entfaltet. Implizit übernimmt Husserl also hier die Kritik, die Dilthey gegenüber der erklärenden Psychologie erhob. Trotz dieser Übereinstimmung kritisiert er aber dann im zweiten Teil seiner Schrift vehement die Philosophie Diltheys als eine Philosophie der Weltanschauung mit »historizistischen« und deshalb, seiner Ansicht nach, relativistischen und skeptizistischen Zügen. Der im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert in der deutschen Philosophie weit verbreitete »Historizismus«, so Husserl, brachte einen Relativismus hervor, »der seine nahe Verwandtschaft mit dem naturalistischen Psychologismus hat, und der in analoge skeptische Schwierigkeiten verwickelt«.23 Dies deswegen, weil der Historizismus, auch wenn er keine direkte und explizite Naturalisierung des Bewusstseins anstrebte, »seine Position in der Tatsachensphäre des empirischen Geisteslebens« einnimmt, indem er zwar Strukturen und Typen geistigen Lebens beschreibt, aber dabei auf der Ebene dessen verbleibt, was Husserl Tatsachenwissenschaften nennt.24 Husserl verkürzt nun allerdings das komplexere und ambitioniertere Vorhaben Diltheys auf die späte Lehre von den Weltanschauungen25, wenn er in der Philosophie Diltheys ein charakteristisches Beispiel für den Historizismus sieht. Dilthey, so Husserl, lehne den Skeptizismus zwar ab, doch positive Gründe gegen den Skeptizismus ließen sich gerade nicht auf der Grundlage einer Analyse der Weltanschauungen gewinnen, d. h. solange man auf der empirisch-tatsächlichen Ebene der Geschichte und der Geisteswissenschaft verbleibe, denn »weder gegen noch für irgendetwas, das auf objektive Gültigkeit Anspruch erhebt, kann eine doch empirische Geisteswissenschaft argumentie-

allem dem elementaren Verstehen vgl. Dilthey, Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 207 – 213. 23 Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, Husserliana Bd. 25, S. 41. 24 Ebd. 25 Husserl bezieht sich vor allem auf die Schrift Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen.

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ren«.26 Für eine Entscheidung über die Gültigkeit einer spezifischen und historisch bedingten Kulturform und damit auch einer Wissenschaft ist, nach Husserl, eine Philosophie erforderlich, die sich auf ein prinzipiell anderes Niveau als die empirischen Wissenschaften begeben kann. Trotz seiner Kritik gesteht Husserl Dilthey eine Art phänomenologischer Attitüde zu – und erkennt, dass dort, wo »die empirische Einstellung, die auf empirisches Verstehen geht, mit der phänomenologischen Wesenseinstellung vertauscht wird«, es »innerlich sein Denken zu bewegen« scheine.27 In seiner eigenen Phänomenologie sieht Husserl dann folgerichtig eine Radikalisierung und kohärente Vertiefung der Kritik Diltheys am Naturalismus: »Wenn Dilthey in so eindrucksvoller Weise zur Geltung gebracht hat, dass die psychophysische Psychologie nicht diejenige sei, welche als ›Grundlage der Geisteswissenschaften‹ dienen könne, so würde ich sagen, dass es einzig und allein die phänomenologische Wesenslehre ist, welche eine Philosophie des Geistes zu begründen vermag«.28 Im Anschluss an diese Kritik Husserls in Philosophie als strenge Wissenschaft fand im Jahre 1911, dem Todesjahr Diltheys, ein kurzer aber bedeutender Briefwechsel statt, den zuerst Georg Misch publik machte.29 In ihm bemühen sich die beiden Philosophen, die Übereinstimmungen und Unterschiede ihrer Positionen zu klären, wobei sie sich in der Diskussion, die sich um Fragen der Wissenschaftlichkeit der Philosophie und ihres Verhältnisses zur Metaphysik dreht, vor allem damit beschäftigen, Klarheit über die Bedeutung der Ausdrücke »Skeptizismus«, »Historizismus«, »Relativismus« und »absolute Gültigkeit« zu gewinnen. Dilthey, der die Etikettierung seiner Philosophie als Historizismus und Skeptizismus ablehnte, versucht hier zu verdeutlichen, dass sein philosophisches Bemühen darauf abziele, zu einer philosophischen Grundlegung der Einzelwissenschaften (in diesem Fall der Geisteswissenschaften) zu gelangen, die den Skeptizismus eindämmen könne. Die Übereinstimmung mit Husserl, schreibt Dilthey, liege in der Überzeugung, dass es möglich sei, eine allgemeine Theorie des Wissens zu erschaffen. Aber der gemeinsame Weg ende auch schon dort: »In dem weiteren Aufbau der Philosophie trennen sich dann unsere Wege. Mir erscheint eine Metaphysik unmöglich, welche den Weltzusammenhang durch einen Zusammenhang von Begriffen in gültiger Weise auszusprechen unternimmt«.30 Um Diltheys Argument zu verstehen, muss man sich daran erinnern, dass er mit seiner Weltanschauungslehre die »Antinomie zwischen dem Anspruch jeder 26 27 28 29 30

Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 45. Ebd. Ebd., S. 47. G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie, S. 180 – 186. Dilthey an Husserl. 29.VI.1911, in: Husserl, Briefwechsel. Philosophenbriefe, S. 43.

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Lebens- und Weltansicht auf Allgemeingültigkeit und dem geschichtlichen Bewusstsein«31 überwinden wollte. Indem Dilthey das implizite emanzipatorische Element im »historischen Bewusstsein« hervorhebt, das die Relativität aller Formen und Ausdrucksweisen menschlicher Kultur aufzeigt, geht es ihm darum, der Philosophie ihre eigene Geschichtlichkeit bewusst zu machen, ohne sie damit in die Situation zu versetzen, auf ihre eigentliche Aufgabe der Erkenntnisbegründung verzichten zu müssen. Der Ausgangspunkt für die Lösung dieses Problems ist für Dilthey die »geschichtliche Selbstbesinnung«, die mithilfe eines analytischen Ansatzes in der Vielfalt der Weltanschauungen und der von ihnen erzeugten Ideale »Struktur, Zusammenhang, Gliederung«32 entdecken will und dabei zeigen kann, dass diese sich in Übereinstimmung mit der Struktur des psychischen Lebens befinden. Jenseits aller Gegensätze zwischen den Weltanschauungen und den philosophischen Begriffen wird dann deutlich, dass die grundlegenden Züge der Weltanschauungen »die Seiten der Lebendigkeit in bezug zu der in ihr gesetzten Welt ausdrücken«33 und dass die Pluralität der Weltanschauungen der »Mehrseitigkeit« des Lebens entspricht.34 Da sie auf dem geschichtlichen und psychologischen Leben fußen (das die drei Komponenten der gegenständlichen Auffassung, der Wertschätzung und der Zwecksetzung einschließt, bzw. der Erkenntnis, des Gefühls und des Willens), entstehen die verschiedenen Weltanschauungen (Philosophie, Kunst und Religion) aus dem Versuch heraus, dem »Rätsel des Lebens und der Welt«35 gemäß der Lebenserfahrung zu begegnen und es zu lösen. Auch dort, wo sie eher zu einer begrifflichen Welterklärung neigen, wie bei der Philosophie, haben die Weltanschauungen keine rein intellektuellen Fundamente, sind keine reinen »Erzeugnisse des Denkens«, sondern sie gehen »aus dem Lebensverhalten, der Lebenserfahrung, der Struktur unserer psychischer Totalität«36 hervor. Die Einsicht in den Umstand, dass jedes metaphysische System, da es seinen Ursprung in einem psychischen Zusammenhang und einer historischen Situation hat, nur einen Aspekt der Welt ausdrückt, der in seiner rätselhaften Tiefe unergründlich und unkategorisierbar bleibt, schließt nicht aus, sondern fordert geradezu, dass man zwischen der geschichtlichen Bedingtheit der Wissenschaft und ihrer Geltung unterscheiden muss, denn sonst »verlöre die Idee des Wissens

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Dilthey, Das geschichtliche Bewusstsein und die Weltanschauungen, GS Bd. 8, S. 3. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 69. Dilthey, Handschriftliche Zusätze und Ergänzungen der Abhandlung über die Typen der Weltanschauung, GS Band 8, S. 138. 36 Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, GS Bd. 8, S. 86.

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selbst ihre Geltung«.37 In diesem Zusammenhang erklärt sich Dilthey denn auch »ganz einverstanden« mit Husserl, wenn dieser feststellt, dass auf der Ebene des Historischen und Tatsächlichen keine Gründe für oder wider die Wahrheit einer philosophischen oder wissenschaftlichen Theorie gefunden werden können. Dennoch bleibt Dilthey davon überzeugt, dass die Unmöglichkeit der Metaphysik nur »von geisteswissenschaftlicher Analyse ausgehend systematischer Untersuchung« bewiesen werden könne, die deswegen nichts anderes sei als »Ausbildung des geschichtlichen Bewusstseins«.38 Wie aus dem Antwortbrief Husserls an Dilthey deutlich wird, basieren die Diskussion und der Dissens beider Philosophen auf einem Missverständnis bezüglich des Begriffs der Metaphysik und der möglichen Wege einer Kritik und Überwindung derselben. Wenn für Dilthey Metaphysik der Anspruch ist, den Zusammenhang von Welt und Leben in einem Begriffssystem vollständig auszudrücken, so scheint Husserl, auf den Spuren Kants, eine traditionelle Metaphysik von einer kritischen Metaphysik zu unterscheiden, die er mit der Phänomenologie gleichsetzt. Aufgabe der letzteren ist es, jede objektive Gültigkeit, jedes spezielle Gebiet der Erfahrung auf ein Apriori zurückzuführen, auf ideale und absolute Prinzipien, die – von psychologischen, geschichtlichen und anthropologischen Tatsächlichkeiten unberührt – in der Lage sind, die Gültigkeit des Wissens zu garantieren. Dieses Apriori fällt mit der intentionalen Korrelation zwischen Subjekt und Objekt der Erfahrung, zwischen Ich und Welt zusammen. »Metaphysik« ist in diesem positiven Sinne Analyse der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, d. h. der intentionalen Beziehung zwischen Bewusstsein und Welt, »der rätselhaften Wesensbeziehungen zwischen Sein und Bewusstsein«.39 Damit ist aber zugleich eine Metaphysik des »Dings an sich« im Stile Kants oder eine Metaphysik »— la Spinoza«, die die Welt aus einem System von Begriffen heraus erklärt, ausgeschlossen, denn Husserl zufolge ist »die Rede von einem Sein, das noch ›dahinter‹ liegt und aus Prinzip unerkennbar« ist, widersinnig.40 Diese Ansicht unterscheidet sich nicht wesentlich von derjenigen, die der junge Dilthey mit dem Theorem der »völligen Positivität der Welt«41 zum Ausdruck brachte. Dieses richtete sich wie auch die späte Weltanschauungslehre gegen Systemkonstrukte, die die Welt und die Erfahrung auf rein begriffliche Weise begründen wollen. Wenn für Dilthey die Welt eine positive Ganzheit ist, die niemals völlig auf Begriffe zurückgeführt werden kann und die wir in ihrer »Phänomenalität« erfahren, so ist für die Phänomenologie die Welt »Phänomen«, und hinter den Phänomenen gibt es keine metaphysische Welten, die 37 38 39 40 41

Dilthey an Husserl 29.VI.1911, in: Husserl, Briefwechsel, Bd. 6, S. 46. Ebd., S. 47. Antwort Edmund Husserls auf den Brief Diltheys vom 29. Juni, ebd., S. 50. Ebd. Dilthey, Erkenntnistheoretische Fragmente (1874 – 79), GS Bd. 18, S. 198 – 199.

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unerkennbar bleiben oder sich in den Erscheinungen zeigen. Husserl ist sich dieser Nähe deutlich bewusst, wenn er in seiner Antwort an Dilthey abschließend auf die gemeinsamen Bestrebungen und Forschungsziele der eigenen »phänomenologischen Elementaranalyse und phänomenologischen Analyse im Grossen« und der Diltheyschen »Morphologie und Typik der grossen Kulturgestaltungen« hinweist.42 Doch jenseits der versöhnlichen Erklärungen und der Versuche, zu einem Konsens zu gelangen, bleiben die theoretischen Unterschiede bestehen. In seinem Kommentar zur Diskussion zwischen Dilthey und Husserl hat Misch darauf hingewiesen, dass die gemeinsame Einsicht in die Notwendigkeit einer allgemeingültigen Wissenstheorie weit davon entfernt ist, den Konflikt zu lösen. Sie verlagert ihn lediglich auf eine andere Ebene. Tatsächlich ist der Begriff des Wissens, für dessen Fundierung beide Philosophen eine Theorie suchen, ein gänzlich verschiedener. Bei Husserl hat er den »Zug der absoluten Erkenntnis, der dem mathematisierenden Logiker ansteht, das platonische Ideal der reinen Wissenschaft«, bei Dilthey bezieht er sich auf die Realwissenschaften und auf die erfahrbare Wirklichkeit.43 Zudem scheint auch die Suche der Grundlegung in unterschiedliche Richtungen zu verlaufen, denn obwohl bei beiden der Begriff der Bedeutung zentral ist, wird er bei Husserl als eine »rein theoretische Form« und bei Dilthey als eine »Objektivation des Lebens« verstanden.44 In der Entwicklung von der statischen Phänomenologie der Ideen zur genetischen Phänomenologie der Zwanzigerjahre, die im transzendentalen Bewusstsein eine passive Dimension der Geschichtlichkeit entdeckt, kommt es jedoch zu einer ähnlichen Denkbewegung wie bei Diltheys »Auflockerung des Bodens des logischen Phänomens«.45 Letztere stellt nach Misch die theoretische Grundgeste der »Lebenslogik« dar, von der Dilthey spricht und die auf die Verwurzelung der logischen Formen im vorkategorialen Boden des Lebens hinweist.46 Es ist deswegen bezeichnend, dass im Laufe der Entwicklung Husserls die Diltheysche Frage nach den Geisteswissenschaften einen prominenten Platz einnimmt. 3. Die Kritik an Dilthey im Briefwechsel lässt schon Themen anklingen, die Husserl im ersten Band der Ideen in den Überlegungen zur Methode der phänomenologischen epoch¦ entwickeln wird. Damit ist vor allem der Unterschied zwischen natürlicher Einstellung und phänomenologischer Einstellung gemeint 42 Antwort Edmund Husserls auf den Brief Diltheys vom 29. Juni, Husserl, Briefwechsel Bd. 6, S. 51. 43 Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie, S. 183. 44 Ebd., S. 184. 45 Ebd. 46 Es war G. Misch (ebd., S. 208 f), der als erster eine Annäherung Husserls an Diltheys Vision einer genetischen Logik feststellte.

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und dementsprechend der zwischen Tatsachenwissenschaften und Wesenswissenschaften, aufgrund dessen Husserl behaupten kann, dass die Phänomenologie »das wesentliche eidetische Fundament der Psychologie und der Geisteswissenschaften ausmacht«.47 Der auf seine Art »empirische« Charakter der phänomenologischen Einstellung ist für Husserl durch das »Prinzip aller Prinzipien« garantiert, das, wie E.W. Orth bemerkt hat48, an das Diltheysche »Prinzip der Phänomenalität« erinnert. Dieses Prinzip gewährleistet, »dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt«49 ; in ihm drückt sich also der intuitive Charakter der phänomenologischen Erfahrung aus. Von der Ausarbeitung der Texte, die Eingang in den zweiten Band der Ideen fanden (begonnen 1912 und in einigen Teilen fortgeführt bis 1928) über die Vorträge und Vorlesungen über Natur und Geist (gehalten 1919 und 1927) bis zu den Cartesianische Meditationen (1929) und der Krisis-Schrift (1935 – 36), d. h. in der Phase des Übergangs von der »statischen« Phänomenologie zur »dynamischen« bzw. »genetischen« – von der Untersuchung über die Konstitution der Objekte im reinen Bewusstsein bis zur Untersuchung über das sich seinerseits in der Zeit bildende Bewusstsein – erweitert Husserl den Bereich phänomenologischer Forschung zusehends. In dieser Phase kommt er auf Diltheys Thema der Geisteswissenschaften zurück, die, obwohl ihre Untersuchungen auf einer empirischen Ebene wurzeln, dennoch dahin tendieren, die Grenzen der naturalistischen Wissenschaftlichkeit zu überwinden und den Weg zur Betrachtung des subjektiv bestimmten Charakters der Erfahrung eröffnen. Parallel zur Behandlung des Themas der Fremderfahrung beschäftigt sich Husserl in dieser Phase auch mit der Frage der Erfahrung der geistigen, sozialen und geschichtlichen Welt, bei der die Antworten nicht in Kausalerklärungen zu suchen sind, sondern im »Motivationszusammenhang«. Diese thematische Linie lässt sich bis zur Untersuchung der »statischen« Konstitution der Objektivität im dritten Abschnitt von Band II der Ideen verfolgen.50 47 Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Husserliana Bd. 3, hg. von W. Biemel, Den Haag 1950, S. 41 – 42. 48 Vgl. dazu E. W. Orth, Einleitung, in: Dilthey und die Philosophie der Gegenwart, S. 24. 49 Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, S. 52. 50 Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II, Husserliana, Bd. 4, hg. von Marly Biemel, Den Haag 1952, S. 172 – 302. In einem Brief an Mahnke vom 26. Dezember 1927 (in: Husserl, Briefwechsel, Bd. 3: Die Göttinger Schule, hg. von K. Schuhmann in Verbindung mit E. Schuhmann, Dordrecht, Boston, London 1994, S. 460) erinnert Husserl daran, wie er nach dem Treffen mit Dilthey in Berlin einige Übungen in Göttingen über »Natur- und Geisteswissenschaft« abhielt und dass ihn viele Jahre lang

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Dennoch bleibt auch in dieser Phase die Beurteilung von Diltheys Denken ambivalent. Husserl gesteht Dilthey eine große (geschichtliche) Bedeutung zu, im Kampf »gegenüber der dem naturwissenschaftlichen Zeitalter selbstverständlichen naturalistischen Deutung der Geisteswissenschaften als blossen deskriptiven Naturwissenschaften«.51 Trotz der historischen Bedeutung seines Kampfes gegen die naturalistische Psychologie und obwohl »Hermann Ebbinghaus’ elegante, aber nur die unzulängliche wissenschaftliche Ausgestaltung der Diltheyschen Ideen zersetzende Kritik« nicht den Einfluss der Diltheyschen Philosophie auf die jüngeren Generationen verhindern konnte, unterstreicht Husserl einmal mehr dasjenige, was ihm die Grenze Diltheys zu sein scheint – der Mangel an theoretischer Strenge.52 Und wieder ist es die Phänomenologie, die intentionale Analyse der Objektkonstitution (in diesem Fall der geistigen Welt) in und für das Bewusstsein, die eine Lösung für die von Dilthey aufgeworfenen Probleme anbietet.53 Ebenso wenig wie Dilthey leugnet Husserl den teilweisen Wert der Ergebnisse der naturalistischen Psychologien. Er stellt sich jedoch dem Problem, die Grenzen ihrer Gültigkeit durch die intentionale Untersuchung der Bewusstseinsakte, in denen sich die Objekte der empirischen Wissenschaften konstituieren, festzulegen. Auf diese Weise rekonstruiert er das System regionaler Ontologien, innerhalb dessen die Ontologie der Region »Seele« verortet wird. Die Betrachtung des Menschen als Natur ist zwar, so Husserl, legitim, sie trägt der Spezifizität des Menschen aber nicht Rechnung: »so wenig umspannt dieser Titel [Natur, M. M.] die spezifisch geistige Sphäre in ihren geistigen Beziehungen«. Es ist lediglich ein Vorurteil, »dass Natur das wahre Sein des Subjektes ist«.54 Der naturalistischen Einstellung setzt Husserl die »personalistische Einstellung« der Geisteswissenschaften entgegen, die der alltäglichen Einstellung der Lebenspraxis entspricht und derjenigen des Naturwissenschaftlers vorgängig sei; denn auch der Naturwissenschaftler fasst nicht permanent die Welt in Begriffen einer objektiven Natur auf.55 In der personalistischen Einstellung ist nach Husserl die Person nicht isoliert, sondern in einer intentionalen Beziehung mit der umgebenden Welt, die eine Welt für eine Gemeinschaft von Subjekten in Einfühlungszusammenhängen ist.

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»geisteswissenschaftliche Phänomenologie« fast mehr als alle anderen Probleme beschäftigte. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II, S. 172 – 173. Ebd., S. 173. Ebd. Ebd., S. 346. Ebd., S. 183. Zum Begriff der Person bei Husserl im Verhältnis zur Philosophie Diltheys vgl. Stephan Otto, Rekonstruktion der Geschichte. Zur Kritik der historischen Vernunft, München 1982, S. 93 – 99.

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An die Stelle der Einsamkeit des transzendentalen Bewusstseins tritt hier die Dimension einer egologischen Pluralität, einer »monadologischen Bewusstseinsvielheit«.56 In dieser Welt der Lebensbeziehungen ist jedes geistige Subjekt, jedes Ich sich bewusst, einer geistigen Welt anzugehören. Es erfährt sich selbst als Subjekt in einer Welt der Dinge, die sich ihm entgegensetzen. Um diese erlebte Welt bedeutungsvoller Zusammenhänge zu verstehen, die nicht von einem Kausalverhältnis zwischen Subjekt und Umwelt getragen werden, sondern von Motivationszusammenhängen57, ist eine Psychologie erforderlich, die nicht nach naturalistischen Bestimmungen sucht, sondern sich »für Bewusstsein in sich und seine Wesenseigentümlichkeiten, ebenso für Geister, geistige Individuen, geistige Zusammenhänge« interessiert.58 Während naturalistische Psychologien unfähig sind, die wesentlichen Eigentümlichkeiten des Psychischen und seiner Strukturen zu erblicken, könnte eine solche Psychologie die Aufgabe bewältigen, das ihr »völlig eigentümliche Reich verstehbarer Zusammenhänge aufzuklären und damit zur Grundwissenschaft zu werden für die gewaltige objektive Welt des Geistes, deren Eigenes es wieder ist, eine verstehbare Welt zu sein«.59 Um die Mitte der Zwanzigerjahre herum entwickelt Husserl während der Beschäftigung mit dem Verhältnis von empirischer Psychologie und Phänomenologie die Idee einer phänomenologischen (»reinen« oder »intentionalen«) Psychologie, die sich auf mittlerer Ebene zwischen empirischer Psychologie und transzendentaler Phänomenologie einreiht, zu der sie sowohl methodologisch als auch thematisch parallel verläuft.60 In diesem Zusammenhang setzt sich Husserl erneut mit Dilthey auseinander. Dieses Mal ist er jedoch weniger abwertend als noch in Philosophie als strenge Wissenschaft und stärker darauf bedacht, die Nähe zwischen der deskriptiven Psychologie Diltheys und seiner eigenen Phänomenologie zu betonen. Für Husserl bleibt zwar auch hier Dilthey »viel mehr ein Mann genialer Gesamtintuitionen als der Analyse und abstrakter Theoretisierungen«. Ein Denker, der weder die Fähigkeiten zur »elementaren Erfahrungsanalyse«, noch der »logischen Präzision« und des »Denkens in Präzisionsbegriffen« entwickelt hat, sondern vielmehr nur in der Lage ist, »das konkrete Geistesleben, das individuelle und das gesellschaftlich-geschichtliche, 56 Vgl. dazu Iso Kern, Einleitung des Herausgebers, in: E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905 – 1920, Husserliana Bd. 13, Den Haag 1973, S. XXV. 57 Für Husserl bildet der Begriff der Motivation das eigentümliche Erklärungsmittel der Geisteswissenschaften. Vgl. dazu Husserliana Bd. 13, S. 93, 96, und Natur und Geist, Husserliana Bd. 25, S. 322. 58 Husserliana Bd. 13, S. 96. 59 E. Husserl, Natur und Geist, S. 319 – 320. 60 E. Husserl, Phänomenologische Psychologie, a.a.O.

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in seiner lebendigen Konkretion zu überschauen«.61 Doch abgesehen von diesen bekannten Einschränkungen empfiehlt Husserl seinen Studenten die Lektüre der Diltheyschen Werke, da sie »eine geniale Vorschau und Vorstufe der Phänomenologie«62 seien. Er urteilt über die Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie positiv und gibt zu, sie seinerzeit unter dem Einfluss der »glänzende Antikritik« von Ebbinghaus nicht gelesen zu haben. Er nennt sie »eine geniale, wenn auch unvollkommen ausgereifte Arbeit, die sicher in der Geschichte der Psychologie unvergessen bleiben wird«.63 Husserl zufolge hat sich Dilthey zwei Verdienste erworben: Zum einen hat er den einheitlichen Charakter des psychischen Lebens als »Erlebniseinheit« bestimmt und daraus die Notwendigkeit einer rein beschreibenden Psychologie gefolgert, die auf intuitive Weise vorgeht. Zum anderen hat er die Eigentümlichkeit der inneren Erfahrung und die Methoden ihrer Beschreibung verstanden, indem er zeigte, dass das geistige Gebiet durch eine besondere Art eines nichtkausalen ursprünglichen Zusammenhanges gekennzeichnet ist: der Motivation, die zum Erlebnisbestand gehört und deshalb »der schlichten Intuition und Deskription direkt zugänglich« ist.64 Diese Wertschätzung hindert Husserl jedoch nicht, der Diltheyschen Psychologie einige grundsätzliche Schwächen vorzuwerfen. Vor allem vermisst Husserl einerseits klare Prinzipien, die über Sinn und Grenzen der Ansprüche der erklärenden Wissenschaften entscheiden. In der Sprache Husserls: Es fehlt die Unterscheidung zwischen Wesenswissenschaften (a priori) und Erfahrungswissenschaften. Andererseits bemängelt er auch die fehlende methodische Strenge bei der Konstruktion der psychologischen Problematik. Wie soll es möglich sein, fragt sich Husserl, aus der Beschreibung intuitiver Singularitäten heraus eine Psychologie im Sinne einer Grundwissenschaft zu entwickeln? Wenn es stimmt, dass Geisteswissenschaften mit Individualität zu tun haben, so ist doch ebenso wahr, dass die Psychologie keine Wissenschaft sein will, die »die individuellen und historischen Faktizitäten in ihren individuellen Zusammenhangsmotivationen individuell verständlich macht«. Sie will vielmehr »die Gesetze des Seelenlebens und die Gesetze, nach denen Gemeingeistigkeit und Kultur überhaupt erwächst«, erkennen.65 Solange man aber auf der Ebene der empirischen Intuition der Individualität verbleibt – und für Husserl ist dies die Ebene, auf der sich die Diltheysche Untersuchungen bewegen – kann dann die Beschreibung überhaupt anderes umfassen als empirische Individualitäten? Husserl hält Dilthey vor, sich nicht »das radikale Problem der Objektivität 61 62 63 64 65

Ebd., S. 6 – 7. Ebd., S. 35. Ebd., S. 35 f. Ebd., S. 10. Ebd., S. 10 – 13.

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geistiger Gebilde, sowohl solcher, die im einzelpersonalen Leben als einzelpersonale Leistung erwachsen, als auch solcher Gebilde von vergemeinschafteten Persönlichkeiten« gestellt zu haben.66 Husserl vertritt hier also eine Position ähnlich der des neukantianischen Philosophen Rickert67, wobei er seinerseits allerdings nicht nur die Passagen in den Ideen, in denen Dilthey explizit von der Unmöglichkeit spricht, die Psyche unabhängig von ihren historischen Manifestationen zu erkennen, sondern auch die 1927 veröffentlichten Texte (im Band 7 der Gesammelten Schriften) auber Acht lässt, die ja gerade das Verstehen des Lebens aus seinen Objektivationen zum Gegenstand haben. Diese Mängel Diltheys verweisen, Husserl zufolge, auf den größten Irrtum, der die Methode bei der Untersuchung des Bewusstseins betrifft. Von empirischer Intuition ausgehend, habe Dilthey nicht erkannt, dass es möglich ist, zu einer Wesensintuition der Bewusstseinsakte überzugehen. So erkennt Dilthey nicht, dass »die das radikale Wesen des psychischen Lebens ausmachende Beziehung auf Bewusstseinsgegenständlichkeiten das eigentliche und unendlich fruchtbare Thema systematischer Seelenanalysen ist und zwar als Wesensanalysen«.68 Nur eine intentionale Psychologie kann fü Husserl die Aufgaben, die Dilthey sich stellte, lösen. Aufgaben, die Husserl hinsichtlich der transzendentalen Problemstellung aufnimmt, um die Psychologie zu einer »Grundwissenschaft des Verstehens« zu machen, die die »Einheit des seelischen Zusammenhangs« als »Untergrund aller Erkenntnisprozesse« sichtbar macht.69 Da Husserl die Intentionalität als Grundeigenschaft des Bewusstseins bestimmt, bildet die phänomenologische Psychologie die Grundlage aller naturalistischen Psychologien und der Geisteswissenschaften. Sie ist auberdem ein Durchgangspunkt auf dem Weg zur transzendentalen Philosophie. Während die traditionellen Psychologien sich auf die »vorgegebene Welt« beziehen und zu den mundanen Wissenschaften gehören, wird erst durch den Vollzug der transzendentalen Reduktion die Welt und jede natürliche Weltbetrachtung »von einem letzten Standpunkt, der uns in die transzendentale Geistigkeit führt«, thematisiert. »Die Grundwissenschaft«, schreibt Husserl, »wird nun die transzendentale Phänomenologie, eine Psychologie höchsten und neuen Sinnes, welche alle Vernunftkritik in sich befasst und alle echten philosophischen 66 Ebd., S. 359. 67 In seinem Buch Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (Tübingen 1921, S. IX) vermisst Rickert bei Dilthey die Unterscheidung zwischen dem empirischen Bereich des Seelischen und der geistigen Sphäre des Wertes. Zur Kritik Rickerts an Dilthey vgl. auch H. Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1922. Hier sieht Rickert im gemeinsamen »Dringen auf Unmittelbarkeit« (ebd., S. 29) eine enge Verwandtschaft zwischen Dilthey und Husserl. 68 Husserl, Phänomenologische Psychologie, S. 13. 69 Ebd., S. 15.

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Massimo Mezzanzanica

Probleme«.70 Mit dieser Haltung will der Phänomenologe zur originären Welterfahrung zurückkehren (die von Husserl jeweils unterschiedlich als »natürlichen Weltbegriff«, »Erfahrungswelt« und »Lebenswelt« bezeichnet wird), um zu verstehen, wie sich die empirischen Wissenschaften im Verhältnis zu ihren notwendigen und a priori gegebenen Strukturen entwickeln. Mit der Entdeckung dieser Erfahrungswelt gelangt Husserl zum einheitlichen Ursprungsort aller Wissenschaften, seien es Natur- oder Geisteswissenschaften, die in den Augen des Phänomenologen dem »konkreten Leben« zugehörig sind. Sie sind Ergebnisse der konstituierenden Tätigkeit des Bewusstseins, welches sich seinerseits in der genetischen Phänomenologie als das Resultat einer passiven Konstituierung entpuppt. Man kann auch hier eine Nähe zur Auffassung Diltheys feststellen, der im Lebenszusammenhang die Ursprungsdimension der natur- und geisteswissenschaftlichen Erkenntnis sah. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass anders als Dilthey Husserl diese Ursprungsdimension als transzendentale Subjektivität und transzendentales Leben auffasst. Zugleich unterscheidet Husserl dabei zwischen der Reflexion über das Apriori der phänomenologischen Psychologie, die sich noch auf dem Boden der Welt bewegt, und der transzendentalen Phänomenologie, die sich durch ihr Infragestellen des Welthorizontes auszeichnet. Mit der Einklammerung dieses Welthorizontes und der »personale[n] Geistigkeit in ihrem natürlich-weltlichen Dasein« reduziert sich dieser für die Phänomenologie auf die Dimension der »Phänomenalität«. Er liegt nun nicht mehr »in der Welt, sondern in der Subjektivität«. Nicht in der »personalen Subjektivität, die erfahren ist als in der Welt seiende«, sondern »in derjenigen Subjektivität, die da die Personalität ständig erfahrende ist und in demjenigen Leben, das nicht objektiv personales Leben, sondern subjektiv das dieses Personale umfassende, in sich subjektiv darstellende ist«.71 Wenn man sich diese Entwicklungen vergegenwärtigt, wird verständlich, warum Husserl sich bei dem für seine genetische Phänomenologie charakteristischen Versuch, vom phänomenologischen Standpunkt aus die Probleme der historisch-psychologischen Erfahrung anzugehen, nicht nur im »Contrast« zu, sondern auch in einer »inneren Gemeinschaft« mit Dilthey fühlte, wie er in einem Brief im November 1930 an Misch anlässlich der Veröffentlichung von Band 8 der Gesammelten Schriften Diltheys anmerkte.72 Zugleich gab er dort seiner Hoffnung Ausdruck, dass die von Misch und Groethuysen herausgegebenen Schriften Diltheys ihm »nach der Vollendung der Zeichnung des Rahmens einer universalen (konstitutiv-phänomenologischen!) Philosophie, die jetzt in Ausarbeitung ist« hilfreich sein könnten. Der alte Husserl betont dabei, sich in 70 Ebd., S. 222. 71 Ebd., S. 233. 72 Husserl, Briefwechsel, Bd. 6, S. 283.

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einer neuen Phase seines Schaffens zu befinden. Er sei jetzt nicht mehr der »ahistorische Husserl«, der »nur zeitweise Distanz von der Historie nehmen musste (die er doch stets im Blick hatte), gerade um in der Methode soweit kommen zu können, an sie wissenschaftliche Fragen zu stellen«.73 Zu einer wirklichen Begegnung der lebensphilosophischen Richtung Diltheys mit der phänomenologischen Methode Husserls konnte es aber auch hier nicht mehr kommen. Wichtiger als die gemeinschaftliche Verweigerung gegenüber jeglicher naturalistisch verkürzten Auffassung des Subjekts, der Erfahrung und des Wissens blieb wohl der Umstand, dass »Husserls rationalistische Interpretation, die er seinen eigenen Entdeckungen gab, Dilthey nicht Konform war, während Diltheys Tendenz in ihrer Tiefe keine Resonanz bei Husserl finden konnte«.74

73 Ebd., S. 283 f. 74 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften Bd. 4, Frankfurt a. M. 2003, S. 66.

Eric S. Nelson

Dilthey, Heidegger und die Hermeneutik des faktischen Lebens

1.

Einleitung1

Die Begriffsbildungen Endlichkeit, Faktizität, Geschichtlichkeit und Hermeneutik, die sich alle auf das Verstehen des menschlichen Daseins beziehen, werden verständlicherweise in der gegenwärtigen Philosophie häufig in Verbindung mit Martin Heideggers frühem philosophischem Projekt gebracht und von hier aus auch gedeutet. Weniger wird jedoch darauf geachtet, wie stark Heidegger diese leitenden Grundbegriffe mit Bezug auf Wilhelm Diltheys Denken über die menschliche Existenz interpretiert und auf seine eigene Art und Weise umgewandelt hat.2 Im Zusammenhang der wichtigen Auseinandersetzung des frühen Heidegger mit Dilthey in den 1920er Jahren hat Heidegger Edmund Husserls transzendentale Phänomenologie erst lebensphilosophisch und dann hermeneutisch umgedeutet. Heidegger hat in diesem Kontext die »kategoriale Anschauung« (die nach Husserl das Universale im Singularen wahrnimmt) als eine interpretative Hermeneutik und als »formal anzeigend« gedeutet; eine Formalisierung, die auf das »auslegende Vorlaufen« der konkreten Faktizität des menschlichen Daseins in seiner Mannigfaltigkeit hinweist.3 Nach Diltheys Begriff einer »modernen Lebensphilosophie« kann das Leben 1 Ich möchte Malgorzata Bogaczyk-Vormayr, Annette Hilt und Gunter Scholtz besonders danken sowie den Teilnehmern der Breslauer Dilthey-Tagung vom Oktober 2011. 2 Vgl. Jae-Chul Kim, Leben und Dasein: die Bedeutung Wilhelm Diltheys fu¨ r den Denkweg Martin Heideggers, Wu¨ rzburg 2001. 3 Die Hermeneutik der Faktizität, als formal anzeigend verstanden, ist bei Heidegger mit und gegen Dilthey entwickelt und umgestaltet. Vgl. Martin Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA (= Gesamtausgabe) Bd. 59, Frankfurt a. M. 1993, S. 154, 167. Vgl. weiter meine Deutung von Heideggers Methode der Formalisierung in: Eric S. Nelson, Questioning Practice: Heidegger, Historicity and the Hermeneutics of Facticity. In: Philosophy Today 44 (2001), S. 150 – 159; ebenso E. S. Nelson, Die formale Anzeige der Faktizität als Frage der Logik. In: Heidegger und die Logik, hg. von Alfred Denker, Holger Zaborowski, Amsterdam: Editions Rodopi BV, 2006, S. 31 – 48.

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nur »aus ihm selbst gedeutet werden.«4 Die eindrucksvollen, sehr frei ausgedrückten und gefühlsmäßigen Deutungen des Lebensbegriffs, die von den Lebensphilosophen stammen, sollen von einer in der Luft schwebenden Spekulation befreit werden und zu wahrer Erkenntnis führen. Das gelingt laut Dilthey, wenn diese Deutungen in der Selbstbesinnung und in der wissenschaftlichen Reflexion methodisch und begrifflich geklärt werden. Heidegger hat teilweise – und zwar in seinen früheren Vorlesungen nach dem Ersten Weltkrieg – in ähnlicher Weise die Philosophie als einen Versuch dargestellt, das faktische Leben aus sich selbst zu verstehen.5 Aber das »Aus-sich-selbst Verstehen« ist beim früheren Heidegger gegen die erkenntnistheoretischen und psychologischen Tendenzen der neuzeitlichen Philosophie gewendet, die er immer noch im Neukantianismus sowie bei Husserl und Dilthey spürt und beklagt und die er besonders in der Mitte der 1920er Jahre im Rückgriff auf Aristotelus gedeutet hat.6

2.

Das Faktische Leben und die Formale Anzeige

Das »Sich-selbst-Verstehen« heißt, das faktische Leben zu Wort (»logos«) kommen zu lassen. D.h. dieses Leben »spricht mit sich selbst« (»kategorein«), und in diesem Gespräch kommt das Leben zum immanenten »kategorialen« Sinn des faktischen Lebens7: »Das Wie [philosophischer] Forschung ist die Interpretation dieses Seinssinnes auf seine kategorialen Grundstrukturen: das heißt die Weisen, in denen faktisches Leben sich selbst zeitigt und zeitigend mit sich selbst spricht (kategorein).«8 Die Sprache selbst hebt an als Ansprechen von Welt, so wie die Welt sich zeigt: »Das ursprüngliche Wort war eine Nennung, aber nicht eines bloßen Namens; vielmehr etwas, was in der Welt begegnet, wird angesprochen, wie es begegnet.«9 Die Begegnung selbst ist zugleich ein Ansprechen und Angesprochensein. 4 Dilthey, Das Wesen der Philosophie (1909), GS Bd. 5, S. 370. 5 Vgl. Georg Misch, Lebensphilosophie und Pha¨ nomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl, Darmstadt 1967, S. 7. 6 Vgl. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles: Einführung in die phänomenologische Forschung, GA Bd. 61, hg. Walter Bröcker, Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt a. M. 1985; Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Stuttgart 2003 (im Folgenden wird diese Ausgabe zitiert). 7 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen, S. 28. 8 Ebd., S. 26. 9 Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA Bd. 17, Frankfurt a. M. 1994, S. 21. Zu »Ansprechen« und »Angesprochensein« bei Heidegger siehe E. S. Nelson, Ansprechen und Auseinandersetzung: Heidegger und die Frage nach der Vereinzelung von Dasein, in: Existentia 10 (2000), S. 113 – 122.

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Doch die menschliche Existenz kann normaleweise nicht einfach mit sich selbst sprechen und sich selbst verstehen. Die Hermeneutik sollte sich deswegen »destruktiv« gegen die verfremdete Begrifflichkeit der Überlieferung wenden, um das Leben in seiner vollen, immanenten und weltlichen Tatsächlichkeit auszulegen, seine Fraglichkeit herauszustellen und es stets noch ursprünglicher zu deuten.10 Obwohl Heidegger genau diesen Denkweg zum Teil in Auseinandersetzung mit Diltheys Philosophie entwickelt, ging er Mitte der 1920er Jahre von der Hermeneutik des faktischen Lebens zur Ontologie des Seins über : zur »ersten Anzeige der Faktizität«. Heidegger verwendet die »Lebensphilosophie«, um zur Ontologie zu gelangen, die der Lebensbefangenheit entreißen soll.11 Das »Wie« (die Art und Weise des Umgangs oder die Methode) und das »Was« (die Inhalte oder die Sachen selbst) sollten nach Heidegger aus der begrenzten Bedingtheit – die er bei Dilthey kritisierte – herausgelöst, verallgemeinert und formalisiert werden.12 Die Hermeneutik ist keine Art induktiver Erkenntnis, die vom Partikularen zum Allgemeinen aufsteigt, meint Heidegger, und damit wendet er sich gegen das Bild, das er von Dilthey hat. Diltheys Student und Schwiegersohn Georg Misch hat in seiner Abhandlung Lebensphilosophie und Phänomenologie diese Kritik beantwortet, indem er eine Art hermeneutischer Induktion verteidigt und den abstrakten »Deduktivismus« und den Primat der theoretischen Philosophie in Heideggers Begriff der formalen Anzeige, den er schon vor Sein und Zeit aus Natorps Bericht kennengelernt hatte, kritisiert.13 Die Bezeichnung »formale Anzeige«, der Grundsinn aller philosophischen Begriffe, hat Heidegger bald durch den Begriff des »Weges« ersetzt. Aber in dieser Zeit soll der anzeigende erwartende Vorgriff, »das Wie des Worauf des Bezugs«, das auf keinen Inhalt reduziert werden kann, die Dinge selbst in ihrer Konkretheit befreien und sehen lassen. Heidegger hat dies zweimal gesagt, das erste Mal im Zusammenhang mit der »formalen Anzeige« und das zweite Mal in Sein und Zeit: Man müsse »das, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.«14

10 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen, S. 11. 11 Misch, Lebensphilosophie, S. 11. 12 Nach Heidegger sollten wir in der Frage das »was« als das Erfragte, das Gefragte und das Befragte unterscheiden. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA Bd. 20, hg. Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1979, S. 195. 13 Misch, Lebensphilosophie, S. 27. 14 Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles GA 61, S. 53; ders., Sein und Zeit, Tübingen 1985, S. 34.

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3.

Eric S. Nelson

Die hermeneutische Lebensphilosophie als Frage nach dem faktischen Leben

Im Licht von Georg Mischs Lebensphilosophie und Phänomenologie sind die Differenzen zwischen Heidegger und Dilthey klarer zu deuten. Bei der Frage nach dem faktischen Leben geht es Heidegger nicht nur – wie in der Deutung Diltheys – um ein biologisches, anthropologisches und gemeinschaftliches Lebenskonzept und auch nicht um ein persönliches Leben. Ungeachtet der »Jemeinigkeit« des Lebens und des Todes kann Heidegger behaupten, dass Aristoteles gelebt hat und gestorben ist: d. h. dass die Philosophie von dem empirischen Leben des Aristoteles abgesondert wird.15 Dilthey aber interessiert sich für das singuläre Leben im Kontext der mehr oder weniger stabilen äußeren Bedingungen und gesellschaftliche Strukturen, und dies bedeutet, dass sein Lebensbegriff, der nicht nur abstrakt und allgemein funktioniert, auch im Lichte der persönlichen Biographie und Autobiographie zu verstehen ist.16 Heiddeger hingegen geht es hauptsächlich um einen Begriff des Lebens, das, wie Misch betont, immer abstrakter zu fassen ist. Durch die steigende Formalisierung des Lebens zu einem formal angezeigten Dasein wird das Dasein bei Heidegger von der sog. »Lebensphilosophie« befreit, die Dilthey noch gefangen hält. In diesem Zusammenhang kritisiert Heidegger die »Tautologien der Lebensphilosophie« und ihre Tatsächlichkeiten »von verschiedener Provenienz«, die für Dilthey jeweils nicht ableitbar aus einer anderen sind. Heidegger betont die Einheit des Seins gegenüber der Heterogenität bei Dilthey, und damit wird das »ontologisch« gefasste Leben des Daseins von allen »ontischen«, biologischen sowie anthropologischen, Elementen befreit.17 In Heideggers Kritik ist Diltheys Denken den Aporien der Lebensphilosophie verfallen; aber dieses Denken zeige zugleich einen Ausweg auf, indem Dilthey die »Kategorien des Lebens« dargestellt habe. Heidegger selbst nutzte in seinen Vorlesungen von 1921/22 diese Terminologie der »Lebenskategorien«, die er in Auseinandersetzung mit Dilthey entwickelt hatte, und erklärt, dass der Logos dem Leben und seiner antwortenden Selbst-Thematisierung wie auch der dem

15 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA Bd. 18, Frankfurt a. M. 2002, S. 4 f. 16 Zu »ein Leben« und die hermeneutischen Konsequenzen des biographischen Lebens bei Dilthey siehe E. S. Nelson, Self-Reflection, Interpretation, and Historical Life in Dilthey, in: Recent Contributions to Dilthey’s Philosophy of the Human Sciences, hg. von Hans-Ulrich Lessing, Rudolf A. Makkreel, Riccardo Pozzo, Stuttgart 2011, S. 105 – 134. 17 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 1, S. 10; Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA Bd. 27, Frankfurt a. M. 2001, S. 347.

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Leben inhärenten Tendenz, sich selbst auszuweichen, sich selbst fern zu sein und sich selbst zu ruinieren, innewohnt.18 Die Lebensphilosophie, so behauptet Heidegger, hat diese Ruinanz und die Unheimlichkeit des Lebens unterschätzt, denn die Lebensphilosophie konnte die fundamentale Unruhe der Geschichte und des Lebens19, d. h. ihre immanente Fragwürdigkeit und die Tendenz, sich selbst zu ruinieren, nicht thematisieren.20 Aber das Leben wird nicht nur als Stabilität, Sicherheit und Gewissheit, sondern auch als Zerstreuung, Ferne, und Ruinanz erfahren.21 Obwohl schon Dilthey versuchte, eine logische Artikulation des Lebens in den »Kategorien des Lebens« zu entwickeln, behauptet Heidegger, dass dieser Versuch unzureichend war, insofern Dilthey die fundamentale Unruhe des Lebens und dessen Kategorien nur so weit akzeptierte, als er sie beruhigen und sublimieren konnte.22 Das Hin und Her in der Unruhe des Lebens zeigt die fundamentale geschehende Bewegtheit des Daseins.23 Diese Ruinanz des faktischen Lebens wird wenige Jahre später in Sein und Zeit in die Verfallenheit des Daseins umgedeutet: Das Verfallen zeigt sich als »eine existenzial eigene Weise der Bewegtheit.«24 Laut Heidegger hat die Lebensphilosophie übersehen, dass das ständige »Leben-zum-Tode« – eine lang dauernde Geburt in der Faktizität der Sterblichkeit – eine Grundtendenz des menschlichen Daseins bezeichnet, nämlich das Zu-Grunde-Gehen. Es ist die Selbstaneignung des Lebens in seiner faktischen Zeitlichkeit sich selbst verfallen und ruiniert zu sein: »Das faktische, ruinante Leben ›hat keine Zeit‹, weil seine Grundbewegtheit, die Ruinanz selbst, die ›Zeit‹ wegnimmt, eine wegnehmbare Zeit, die faktisch ruinantes Lebens für sich selbst in sich selbst wegnimmt.«25 Heideggers Begriff der Faktizität des Daseins ist also als Bedingung, Begrenzung und als Lebensfrage dieser Existenz zu verstehen. Jedoch hieß es bereits bei Dilthey, dass die Durchsichtigkeit des Selbst »den Gestalten des Dichters, nicht der Anschauung des wirklichen Lebens (eigne).«26 Ebenso hat Dilthey in seiner späteren Kritik an Hegels Begriff des objektiven Geistes die Relativität und Vergänglichkeit, die Endlichkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins hervorgehoben:

18 19 20 21 22 23 24 25 26

Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA Bd. 61, Kap. 2. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA Bd. 60, Frankfurt a. M. 1995, S. 30 – 54. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA Bd. 61, S. 2. Ebd., S. 103. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA Bd. 60, S. 38 – 50. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA Bd. 61, S. 93. Heidegger, Sein und Zeit, S. 134. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA Bd. 61, S. 140. Dilthey, Einleitung, GS Bd. 1, S. 62.

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»Hegel konstruiert metaphysisch; wir analysieren das Gegebene. Und die heutige Analyse der menschlichen Existenz erfüllt uns alle mit dem Gefühl der Gebrechlichkeit, der Macht des dunklen Triebes, des Leidens an der Dunkelheit und den Illusionen, der Endlichkeit in allem, was Leben ist, auch wo die höchsten Gebilde des Gemeinschaftslebens aus ihm entstehen. So können wir den objektiven Geist nicht aus der Vernunft verstehen, sondern müssen auf den Strukturzusammenhang der Lebenseinheiten, der sich in den Gemeinschaften fortsetzt, zurückgehen.«27

Heidegger betont, dass die Lebensphilosophie dem Leben selbst, das sie erhellen und verstehen sollte, verfallen sei. Gegen die Weltbefangenheit stellt Heidegger die Radikalität der Entscheidung.28 Die Lebensphilosophie gründet für Heidegger deswegen nicht in einer erhellenden und geklärten Leidenschaft, sondern in einer Leidenschaft dem Prinzip gegenüber, das sie klären sollte. So kann sie sich selbst nicht zu Erhellung und Reife bringen. Sie ist wie eine »Botanik der Pflanzen« eine leere Tautologie, die nichts über den kategorialen und formalen Charakter des Lebens, welches sie thematisiert, zu sagen hat.29 Sie sagt nichts über den ontologischen Rang des Lebens30, d. h. über den formalen aber nicht logischen Charakter des Lebens, den sie auf Grund der »Kategorien des Lebens« oder existentiell begreifen sollte. Die formalisierende Aufhebung der ontischen empirischen Mannigfaltigkeit des Lebens, die sogenannte Blindheit der Partikularitäten, die Heidegger gegen Dilthey auch in der Vorlesung »Einleitung in die Philosophie« vom Wintersemester 1928/29 behauptet, bedeutet die Möglichkeit, die Einheit des Sein-Sinnes in der »ontologischen Differenz« von Sein und Seiendem zu denken. Beides, die Einheit und die Differenz, geschehen jenseits der »heterogenen« Unterschiede von Natur und Geschichte und jenseits der Differenzen der Weltanschauungen usw., die bei Dilthey von unableitbarer, »verschiedener Provenienz« sind. Heideggers Analytik des Daseins wollte deswegen nur eine neutrale vor-anthropologische Grundverfassung der Existenz beschreiben. Wegen der faktischen Zerstreuung in der Welt ist das Dasein wesentlich ein gebrochenes Neutrum.31 Heidegger betont: »Dieses neutrale Dasein ist nie das Existierende; es existiert das Dasein je nur in seiner faktischen Konkretion.«32 Vielmehr geht das neutrale Dasein stets der Leiblichkeit, Geschlechtlichkeit sowie den anderen ontischen Eigenschaften der Menschen voraus.33 In diesem Kontext ist die 27 28 29 30 31 32

Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 150. Misch, Lebensphilosophie, S. 7. M. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, Frankfurt a. M. 1976, S. 216. Heidegger, Sein und Zeit, S. 46. Heidegger, Einleitung in die Philosophie GA Bd. 27, S. 146. M. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA Bd. 26, Frankfurt a. M. 1990, S. 173. 33 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe, GA Bd. 26, S. 172.

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menschliche Existenz als das jedesmal eigene Dasein in seinem Seinsbezug zu verstehen: d. h. als jeweils mein eigenen Daseins (als »Jemeinigkeit«) im Verhältnis zu dem unpersönlichen ›Da‹ des Seins.34 Misch beschrieb in Lebensphilosophie und Phänomenologie, wie Heidegger »ethisch-idealistisch eingestellt ist, während bei Dilthey die objektiv-idealistische Einstellung sich darin verriete.« Misch betont gleichzeitig die Übermacht der Strukturen und der unpersönlichen Tendenzen der ontologischen Wende Heideggers.35 Im Unterschied zu Diltheys Sich-Finden von Selbst und Anderen in »einer Atmosphäre von Gemeinsamkeit« hat Heidegger nach Misch die »radikalste Individuation« verabsolutiert und verdinglicht.36 Interessanterweise hat Rudolf Carnap die Metaphysik als eine Verdinglichung des Lebens kritisiert, und später hat Emmanuel L¦vinas, der Heideggers Vorlesung im Wintersemester 1928/29 besuchte, das unpersönliche Sein bei Heidegger – das »es gibt« (il y a) – als ein Sein beschrieben, das von jeder zwischenmenschlichen Begegnung und somit auch von ethischen Beziehungen losgelöst ist.37

4.

Dilthey: Eine Alternative zur ontologischen Wende Heideggers?

Obwohl Heidegger einige Grundbegriffe und Strategien aus dem Begriffsfeld von Dilthey übernommen hat, wie wir gesehen haben, gibt es bestimmte unüberwindbare Unterschiede zwischen Diltheys hermeneutischer Philosophie der Wissenschaften und seiner Philosophie des Lebens einerseits und der philosophischen, ontologischen Hermeneutik Heideggers andererseits. Im Begriff der Zeit von 1924 hat Heidegger sich auf Diltheys Freund Graf Yorck von Wartenburg bezogen: »Yorck findet, dass Diltheys Untersuchungen ›zu wenig die generische Differenz zwischen Ontischem und Historischem betonen,‹« und er meinte damit die Differenz zwischen dem »okularen« oder optischen Schauspiel, das historisch beschrieben und verglichen wird, und der lebendigen Virtualität der Geschichtlichkeit, die ursprünglich-geschichtlich gelebt wird. Die Virtualität bedeutet das Möglichsein des Daseins, das sich primär aus seiner Zukunft versteht. Die Hauptgründe für den Unterschied zwischen Diltheys Philosophie und 34 35 36 37

Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA Bd. 27, S. 347. Misch, Lebensphilosophie, S. 29 – 30. Ebd., S. 82 – 83. Rudolf Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften, Hamburg 2004, S. 51; Emmanuel Le´vinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 2003, S 24.

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Heideggers Daseinsanalytik (und der ontologischen Hermeneutik von Yorck bis Gadamer) hat teilweise schon Misch genannt, es sind die folgenden: (1) Dilthey zielte ab auf eine objektive wissenschaftlich orientierte Philosophie, eine Philosophie, die die Wissenschaften und ihre Vernunft erweitert und ihre Aufgabe in der menschlichen Welt versteht. (2) Die Natur und die Naturwissenschaften, die Heidegger grundsätzlich in Frage stellt, die bei Dilthey aber eine positive Rolle spielen38, wollte Dilthey kontextualisieren und nur begrenzen, ohne ihre eigene Bedeutung aufzuheben. (3) Die wissenschaftliche Forschung benötigt laut Dilthey die ontische Dynamik des Lebens, die empirische Heterogenität, die widerstrebende Materialität der Sachen selbst, welche die beschreibenden, induktiven, reflektierenden und komparativen Methoden erzeugt. Diese Dynamik spricht gegen Heideggers umgreifende Einheit und monistische Ganzheit des Sinns des Seins, die Misch als eine radikale allgemeine Dynamik ohne geschichtliches und wirkendes Werden beschreibt.39 Misch merkt weiter an, wie bei Heidegger alle Seinsweisen des Daseins die theoretische Einheit des Seins voraussetzen und die Fragen der Wissenschaften und des praktischen Lebens nur als »Sonderprobleme« verstanden werden.40 (4) Dilthey, in diesem Zusammenhang eher W. von Humboldt und Herder näher als Hegel, hat die Bedeutsamkeit und den Wert der kulturellen und individuellen Unterschiede gegenüber der Einheit der kulturellen Überlieferung verstanden und betont. (5) Schließlich wollte Dilthey mit seinem weltimmanenten Personalismus den Sinn und die Werte des persönlichen und ethischen Lebens des Individuums mitten in ihrer Kontextabhängigkeiten von natürlichen Gewalten, von geschichtlichen Prozesse und sozialen Strukturen deuten und verteidigen. Von diesem Standpunkt aus, der von Yorck bis Heidegger und Gadamer als »Kulturliberalismus« bezeichnet wird, bleibt Dilthey ein Philosoph der Moderne.41 Misch betont die Umwandlung und Fortsetzung der Aufklärung in einer geschichtlichen, lebensphilosophischen und pluralistischen Bildungsphilosophie bei Dilthey ;42 dennoch bleibt Diltheys Stellung ambivalent: Er ist ein Ver-

38 39 40 41

Vgl. Misch, Lebensphilosophie, S. 23, 33. Ebd., S. 43. Ebd., S. 10 – 14, 35. Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik im Ru¨ ckblick. Gesammelte Werke Bd. 10, Tu¨ bingen 1995, S. 9. 42 Vgl. Georg Misch, Von den Gestaltungen der Persönlichkeit, in: Weltanschauung. Philosophie und Religion in Darstellungen von Wilhelm Dilthey u. a. [hg. von Max Frischeisen-Köhler],

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treter der Lebensphilosophie und der Aufklärung, und zwar in ihrer geschichtlich erweiterten und vertieften Gestalt; das ergibt sich z. B. klar aus den letzten Passagen seines Werkes Das Wesen der Philosophie. Die lebensphilosophische Nähe zu Gefühl und Leben sollte nicht in ihrer Unmittelbarkeit verbleiben, sondern in der Selbstbesinnung methodisch reflektiert und geprüft werden.43 Allerdings hat Diltheys reflektierende prüfende Besonnenheit des Lebens aus und über sich selbst nicht den Charakter von Heideggers Formalisierung und Entleerung des Daseins, weil die Selbstbesinnung und Selbstmitteilung bei Dilthey nicht so deutlich von den konkreten Lebensinhalten und Verweisungszusammenhängen abstrahiert werden können. Das gilt auch für die empirische, induktive und komparative Erforschungen der »Tatsächlichkeit« (s. u.), die nicht nur im Denken als ein Faktum des Daseins gegeben ist. Heideggers Forderung, »den Geist des Grafen Yorck zu pflegen, um dem Werke Diltheys zu dienen«, bedeutet eine Umkehrung, die etwas Wichtiges vergisst und verfehlt, nämlich die empirische Mannigfaltigkeit und die zwischenmenschliche Verbindlichkeit des gemeinsamen Lebens innerhalb des Seins.44 Insofern ist Diltheys Verfahrensweise für das Verständnis des geschichtlichen, praktischen Lebens zwischen den Standpunkten der ontologischen Immanenz des Seins und der ethischen Transzendenz zu positionieren. Sie vermittelt das individuell persönliche Moment, das innerhalb der faktischen Immanenz der natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen und Begegnungen angesiedelt und bedeutsam ist.

5.

Die Wände der Tatsächlichkeit und die Endlichkeit des biographischen Lebens

Dilthey hat folgendes ausgesprochen: »Der letzte Erklärungsgrund der Welt ist die Tatsächlichkeit.«45 Die Tatsächlichkeit ist nicht eine »tote äußere Tatsächlichkeit«, sondern in der inneren Erfahrung und im Erlebnis gegeben und lebendig. Das bloß Faktische wird im Innewerden, im Lebensgefühl und in der Besinnung als eine gegenübertretende Wirklichkeit erfahren, die »da für mich« ist. Das »da für mich« und die Tatsächlichkeit des Bewusstseins sind weitere Berlin 1911, S. 82, 95; und auch E. S. Nelson, Heidegger, Misch and the Origins of Philosophy, in: Journal of Chinese Philosophy 39, Supplemental Issue (2012), S. 41. 43 Dilthey, GS Bd. 5, S. 412. 44 Gadamer, Hermeneutik im Ru¨ ckblick, S. 9. 45 Dilthey, Der Aufbau, GS Bd. 7, S. 53.

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Phänomena als die Tatsachen der physikalischen Welt und des gesellschaftlichen Lebens. Es geht hier um eine reflexive Tatsächlichkeit, die Heidegger eher die Faktizität nennen würde, es geht um das Verhältnis des Selbst zu sich selbst ohne einen bestimmten Bezug oder einen Gegenstand. So kann z. B. ein Gefühl eine Stimmung des eigenen Selbst sein, die nur in dem selbstbezogenen Innewerden existiert: »Wenn ich mich traurig fühle, so ist dies Gefühl von Traurigkeit nicht mein Objekt, sondern indem dieser Zustand mir bewußt ist, ist er für mich da, für mich, als welchem er eben bewußt ist. Ich werde seiner inne.«46 Dieses »da sein für mich« ist nicht nur als Gefühl und affektives Leben gegeben, da es ferner die Möglichkeit bedeutet, eine Welt zu haben, ein Thema, das Heidegger von Dilthey aufgenommen hat. Nach Dilthey ist die Materialität als eine Art der Tatsächlichkeit zu deuten, als eine Mannigfaltigkeit, die nicht verneint oder aufgehoben werden kann. Aber die Tatsächlichkeit umfasst mehr als die physikalischen Elemente und die Momente dieser Mannigfaltigkeit, die nur im Widerstand und in der Auseinandersetzung, d. h. in der Differenzierung von Selbst und Welt, zu einer oder der »Welt« wird. Die »Welt« ist in diesem Sinn nicht nur ein ontologisches »es weltet«, das unabhängig von den ontischen Unterschieden, die eine Welt konstituieren, geschehen kann. Das menschliche Selbst existiert für Dilthey nie ohne die Andersheit und Weltlichkeit, deren Widerstand es ausgesetzt ist.47 Heidegger hat Diltheys Deutung des Widerstands in Sein und Zeit kritisiert, weil Widerstand sowie Leiblichkeit schon das In-der-Welt-sein und die Welt voraussetzen.48 Schon in den Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs vom Sommersemester 1925 argumentiert Heidegger : »[…] Widerstand [ist] ein phänomenaler Charakter, der Welt schon voraussetzt.«49 Laut Dilthey aber ist es nicht die Einheit der Welt oder des Seins der Ontologie, sondern die Entzweiung zwischen Leib und Welt, NichtIch und Ich, Selbst und Anderen, die sinngebend ist für ein sinnhaftes Leben innerhalb der konkreten Spannungen, Oszillationen und Durchkreuzungen: »[…] nur ideale Repräsentation ist harmonisch. Jede reale Darstellung enthält ein Gegensätzliches von Gewahren der Singularität«.50 Die Biographie ist für Dilthey die höchste philosophische Form der Geschichte.51 Jedoch ist den Einzelnen in seinen verschiedenen Äußerungen zu verstehen und zu deuten eine unendliche Aufgabe, weil das Individuum unergründlich ist. Das Motto von Diltheys umfangreicher Biographie von Friedrich Schleiermacher war Goethes »individuum est ineffabile«. Die Biographie ist eine 46 47 48 49 50 51

Dilthey, Ideen über beschreibende und zergliedernde Psychologie, GS Bd. 5, S. 197. Vgl. Dilthey, Weltanschauungslehre, GS Bd. 8, S. 18. Heidegger, Sein und Zeit, S. 209 – 211. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA Bd. 20, S. 301. Dilthey, Der Aufbau, GS Bd. 7, S. 331. Dilthey, Ideen über beschreibende und zergliedernde Psychologie, GS Bd. 5, S. 225.

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kreisende Annäherung und Darstellung des Singularen, das weder eine pure irrationale Singularität ist noch vollständig begrifflich erfasst und vorgestellt werden kann und deshalb nicht ganz darstellbar ist.52 Es kann keineswegs in der Lebenserfahrung ein reines Chaos von ungedeuteten sinnfreien Singularitäten als facta bruta geben. Die begrifflichen Kategorien wie Ähnlichkeit und Identität, womit wir das Erfahrene ordnen, sind deswegen keine bloßen Illusionen; vielmehr bilden und entwickeln sich jene Kategorien in der Immanenz ihrer Lebenszusammenhänge, weil das Leben sinnschaffend ist und Sinndeutungen aufbaut. Die realen Lebenskategorien wie Selbigkeit und Differenz, Leiden und Wirken, Bedeutsamkeit sind in der weltlichen Dynamik begründet und haben schon in den elementarsten Regungen des Lebens ihre reale Funktion. Das Selbst ist nicht als eine einfache Einheit oder als eine Person intuitiv oder unmittelbar sich selbst gegeben; das Individuum als Person ist gesellschaftlichgeschichtlich vermittelt, es wird mittelbar so verstanden und reflektierend so gedeutet; der Forderung nach der prinzipiellen Möglichkeit einer absoluten Gegebenheit kann nicht entsprochen und eine solche Möglichkeit kann nicht demonstriert werden. Das Leben ist für Dilthey nicht allein als ein subjektloses »es ist« oder als ein unpersönliches Ereignis zu schildern.53 Heideggers »jemeiniges« Dasein hingegen darf nicht als die jeweilige Biographie eines konkreten Menschen verstanden werden. Die Rede vom »Dasein« ist bei Heidegger nur formal-anzeigend und entleert von allen bestimmten Lebensinhalten. Dilthey teilt deshalb auch nicht Heideggers Abneigung gegenüber historischen biographischen Darstellungen des Lebens. Ein eigenes Leben ist nicht nur ein neutrales Ereignis und Geschehen; es wird erlebt und durchlebt, gebildet und ausgedrückt, verstanden und ausgelegt. Diltheys hermeneutischer Dreischritt von elementarem und komplexem Erleben, Ausdruck und Verstehen fungiert wie ein dynamischer Wirkungszusammenhang. Im jeweiligen gesellschaftlichen geschichtlichen Kontext von Gewalt, Strukturen und Verweisungen ist der Mensch als Person durch mannigfaltige Bildungs- und Lernprozesse vereinzelt. Zwischen dem Selbst und den Anderen, in der Selbst-Distanz und SelbstFremdheit der Selbststellung und in der innewerdenden Reflexivität und Besinnung vollzieht sich ein Leben. Ein »Leben als Ganzes« geschieht in der lebensweltlichen praktischen Ausbildung einer lebensgeschichtlichen ethischen Einheit, die nicht wie bei Heidegger auf eine radikale Entscheidung oder Entschlossenheit zurückführbar ist. Dieses individuelle Leben ist eher als eine 52 Vgl. E. S. Nelson, Begründbarkeit und Unergründlichkeit bei Wilhelm Dilthey, in: Existentia 12/1 – 2 (2002), S. 9. 53 Vgl. Emmanuel Le´vinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 2005, S. 138.

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ethische Gestaltung und Bildung denn als eine romantische Fiktion zu verstehen. In Helmuth Plessners anthropologischer Deutung heißt es: »Der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt.«54 Das Leben ist zugleich biologisch-geschichtlich er- und ge-lebt: ein Leben geschieht in seinem interpretativen Vollzug, in der Auslegung und Deutung des Lebens.55 In diesem Zusammenhang bezeichnet Plessner Diltheys Philosophie als eine »neue Anthropologie« — im Sinne einer ethisch-politisch orientierten geschichtlichen Besinnung eines Lebens — und betont überdies die ethische-soziale Bedeutsamkeit der politischen Anthropologie: die Politik, wenn sie nicht nur blinde Macht ist, sei der »geschichtsaufschließende Horizont eines Lebens, das sich zur ganzen Welt ermächtigt weiß«.56 Bei Dilthey und Plessner gibt es anders als bei Heidegger eine enge und konstitutive Beziehung zwischen der allgemeinen Anthropologie des Lebens und der Autobiographie eines bestimmten persönlichen Lebens, die eine biographische Anthropologie des »exzentrischen« individualisierten Menschen ermöglicht. Das Sich-selbst-verstehen-Lernen, die Selbstbeziehung und die elementare Selbstbesinnung in der Autobiographie als eine hermeneutisch darstellende Kunst sind deswegen ebenfalls keine unmittelbare Selbstanschauung von einem allgemeinen Selbst oder eine Enthüllung vom »Dasein im Menschen.«57 Während in Heideggers Ontologie das Dasein im Menschen ontologisch weltbildend ist, ist weltbildend in Diltheys geschichtlichem Denken eher das faktische autobiographische Leben. Dieses Leben ist entweder ein singulares »ich« oder ein plurales »wir«, ohne ein kollektives Subjekt darzustellen. Die Autobiographie ist eine interpretative lebensgeschichtliche Selbstauslegung im Kontext der Selbstbildung, die mit der grundlegenden konstitutiven Rolle der Einbildungskraft im Leben in Verbindung steht; diese Verbindung besteht wegen der beständigen Vermittlung und der Endlichkeit meines faktischen individuellen Bewusstseins und persönlichen Lebens.

54 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die Philosophische Anthropologie, Berlin 1975, S. 310, 345. 55 Vgl. Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur, GS Bd. 5, Frankfurt a. M. 1981, S. 231. 56 Ebd., S. 165, 220. Vgl. Volker Schu¨ rmann, Die Unergru¨ ndlichkeit des Lebens. Lebens-Politik zwischen Biomacht und Kulturkritik, Bielefeld 2011. 57 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA Bd. 29/30, Frankfurt a. M. 1992, S. 414; vgl. Otto Friedrich Bollnow, Dilthey. Eine Einfu¨ hrung in seine Philosophie, Stuttgart, Berlin, Ko¨ ln, Mainz 1967, S. 45.

Dilthey, Heidegger und die Hermeneutik des faktischen Lebens

6.

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Abschluss

Dilthey hat folgendes bemerkt: »Der Widerstand wird zum Druck, ringsum scheinen uns Wände von Tatsächlichkeit zu umgeben, die wir nicht durchbrechen können«. »Immer sind Wände da.«58 In Otto Friedrich Bollnows DiltheyDeutung ist das menschliche Verhältnis zur Wirklichkeit so, dass der Mensch sie als eine »drohenden Macht« erfährt, »die den Menschen umklammert hält und der er ausgeliefert ist.«59 Die lebensbezogene Faktizität, deren Ursprung jenseits des abstrakten begrifflichen Denkens liegt und deren Wert und Geltung seiner Macht entzogen bleibt, ist durch Widerstand und Druck in der Differenzierung des Selbst und der Welt gegeben und ermöglicht den Umfang und die Grenzen des Aufbaus der natürlichen und sozialen Objektivität. Dilthey legt dar, wie die Faktizität der letzte Grund der Erkenntnis ist, weil die Erkenntnis die Faktizität nicht durchdringen kann, um die Faktizität und die Singularität innerhalb des unergründlichen gestaltenden Zusammenhangs des Lebens zu deuten.60 Nach Diltheys Argumentation ist Wissen und Erkennen möglich, aber immer nur lebensimmanent und kontextuell: »Hinter das Leben kann das Erkennen nicht zurückgehen, d. h. es kann keinen Zusammenhang machen, der nicht in der eigenen Lebendigkeit gegeben ist.«61 Dies bedeutet, dass die elementare Spannung und prinzipielle Unvergleichbarkeit zwischen dem unentwirrbaren Zusammenhang und dem Individuum, zwischen dem zusammenhängenden Ganzen und dem Singularen, nicht zu Ende kommen kann.

58 Dilthey, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890), GS Bd. 5, S. 105. 59 Bollnow, Dilthey, S. 32. 60 Dilthey, Einleitung, GS Bd. 1, S. 322; Leben Schleiermachers, GS Bd. 13, S. 53. 61 Dilthey, Weltanschauungslehre, GS Bd. 8, S. 180.

II. Einfluss auf die Wissenschaften

Helmut Johach

Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften – Programmatik und Bedeutung für die Gegenwart

1.

Zur Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften

Wilhelm Dilthey ist nicht nur ein hervorragender Historiker der Geisteswissenschaften, sondern auch einer der wichtigsten Theoretiker auf diesem Gebiet. Mit der Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 wurde der Terminus »Geisteswissenschaften« in der deutschen Wissenschaftstradition fest verankert.1 Als nächstliegende Quelle für diese Bezeichnung gilt die Schielsche Übersetzung von John Stuart Mills Logik, deren 2. Auflage (1862/63) Dilthey benutzt hat; sein Handexemplar befindet sich im Göttinger Nachlassteil. Die Überschrift des VI. Buchs von Mills Logik – im Original: On the Logic of the Moral Sciences – lautet bei J. Schiel: Von der Logik der Geisteswissenschaften, darunter in Kleindruck: oder moralischen Wissenschaften. Dabei ist zu beachten, dass Dilthey in den Vorarbeiten zur Einleitung, vor allem in der Abhandlung Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat von 1875, noch durchgängig von »moralisch-politischen Wissenschaften«2 spricht, was sowohl der Variante im Untertitel bei Schiel als auch der Terminologie Robert v. Mohls (in dessen Geschichte und Litteratur der Staatswissenschaften, 1855) entspricht. Er hat sich also erst bei der Niederschrift des Manuskripts der Einleitung für den Terminus »Geisteswissenschaften« entschieden. Umschreibungen Diltheys, die das damit Gemeinte bezeichnen, sind: Wissenschaften, welche »die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zum Gegenstande haben«3 oder die sich auf »die Menschen, ihre Verhältnisse zueinander und zur äußeren Natur«4 beziehen. Dilthey spricht in seinen frühen Entwürfen auch kurz von »Wissenschaften

1 Vgl. Erich Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Darmstadt 1970, S. 9. 2 Dilthey, Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, GS Bd. 5, S. 36. 3 Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 1, S. 22. 4 Dritte Studie: Die Abgrenzung der Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 70.

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des handelnden Menschen.«5 Daran wird deutlich, dass die Geisteswissenschaften im Sinne Diltheys nicht nur die historisch-philologischen, d. h. auf Literatur und schriftliche Dokumente bezogenen Wissenschaften, sondern auch die erst später ausdifferenzierten Sozialwissenschaften umfassen.6 Ihr Kern liegt im Bereich der – um einen Ausdruck Luhmanns zu gebrauchen – »alteuropäischen« praktischen Philosophie7, von der sich die Geisteswissenschaften zur Zeit Diltheys zu lösen begonnen haben. Dilthey will für diese Wissenschaften eine »zusammenhängende erkenntnistheoretische und logische Grundlegung«8 liefern. Er formuliert damit ein ehrgeiziges Ergänzungs- und Kontrastprogramm zur Erkenntnistheorie und Logik der Naturwissenschaften, welche sich zu seiner Zeit bereits weitgehend als empirische, die Spekulation der Naturphilosophie hinter sich lassende Erfahrungswissenschaften konstituiert haben. In den Geisteswissenschaften wird ebenfalls die Erfahrung zu Grunde gelegt, allerdings eine Erfahrung eigener Art, die, anders als in der Erkenntnistheorie Kants, auf einem geschichtlichen Apriori beruht und im Gegensatz zum Empirismus die innere Wahrnehmung favorisiert. Es ist Diltheys Zielsetzung, die Eigenart dieser Erfahrung genauer zu fassen. Eine andere Bezeichnung, die zur Zeit Diltheys in Gebrauch kam und auch heute noch weit verbreitet ist, ist die Bezeichnung »Kulturwissenschaften«. Sie findet sich z. B. in Heinrich Rickerts programmatischer Schrift über Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften (1899) und beinhaltet, ähnlich wie Wilhelm Windelbands Differenzierung zwischen »idiographischen« und »nomothetischen« Wissenschaften, eine Unterscheidung, die sich nicht an unterschiedlichen Objekten, sondern an logischen Differenzierungen festmacht. Der Historiker sucht entsprechend dieser Unterscheidung individuelle, durch einen Wertbezug konstituierte Kulturphänomene zu erfassen, während der Naturwissenschaftler an generellen Gesetzesaussagen interessiert ist. Die hierauf basierende, im südwestdeutschen Neukantianismus übliche Wissenschaftseinteilung ist Dilthey zu eng. Auch er sieht zwar, dass sich die Geisteswissenschaften vorwiegend mit individuellen Gegebenheiten in der Geschichte befassen, er besteht jedoch darauf, dass die »eigenste Natur der systematischen Geisteswissenschaften« auf der »Verbindung des Generellen und der Individuation«9 beruht. Die Geisteswissenschaften lassen sich ihm zufolge nicht auf den Gegensatz von historisch-individueller Beschreibung und der Erforschung ge5 Vorarbeiten zur Abhandlung 1875, GS Bd. 18, S. 19 (Hervorhebung H.J.). 6 Vgl. Helmut Johach, Handelnder Mensch und objektiver Geist. Zur Theorie der Geistes- und Sozialwissenschaften bei Wilhelm Dilthey, Meisenheim/Gl. 1974, S. 10 ff. 7 Vgl. Manfred Riedel, Einleitung zu Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1970, S. 21. 8 Einleitung in die Geisteswissenschaften, GS Bd. 1, S. 46. 9 Beiträge zum Studium der Individualität, GS Bd. 5, S. 258 (Hervorhebung H.J.).

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setzmäßiger Zusammenhänge festlegen, sondern sie suchen – zumindest zu einem relevanten Teil ¢ individualisierende und generalisierende Aussagen zu verknüpfen. Weniger Bedenken hat Dilthey gegen die Bezeichnung »Kulturwissenschaften«, denn es trifft zu, dass sich die Geisteswissenschaften mit »Niederschlägen der Kulturarbeit«10, d. h. mit von Menschen hervorgebrachten Gegenständen und Institutionen befassen und insofern auch als »Kulturwissenschaften«11 bezeichnet werden könnten. Dilthey kritisiert allerdings, dass diese Bezeichnung »eine unbeweisbare, ja einseitige Bestimmung über einen Sinn und ein Ziel der Geschichte«12 enthalte. In seiner eigenen Systematik verwendet er die Bezeichnung »Kulturwissenschaften« nicht, obwohl sich etliche Kapitel seiner Einleitung mit den »Wissenschaften von den Systemen der Kultur«13, d. h. der Religion, der Kunst, dem Recht, aber auch der »politischen Ökonomie«14 befassen. Führend bleibt bei ihm der Terminus »Geisteswissenschaften«, der historisch hinter die Übersetzung von Mills Logik weiter zurück zu verfolgen ist. Sein Ursprung liegt im Deutschen Idealismus, da nicht nur Hegel, sondern auch Schelling und seine Schule dazu beigetragen haben, dass »Geist« zu einem Grundwort der Philosophie wurde und die Termini »Geisteswissenschaft« und »Geistesgeschichte« schon vor Dilthey in Gebrauch kamen.15 Im Englischen und Französischen gibt es dazu eine andere Vorgeschichte. Hier spricht man von »Humanities«, »Human Studies«16 bzw. »Sciences humaines«. Dabei ist zu beachten, dass die Bezeichnung »Human Studies« primär für den literarisch-künstlerischen Zugang zum menschlichen Leben gilt, während der Ausdruck »Science« den exakten Natur- und Sozialwissenschaften vorbehalten bleibt. Eine weitere Unterscheidung, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss, ist die zwischen empirisch-analytischen und historisch-hermeneutischen Wissenschaften. Jürgen Habermas hat in seiner akademischen Antrittsvorlesung über Erkenntnis und Interesse diese Unterscheidung geprägt und in seinem gleichnamigen Buch, das ein ausführliches Dilthey-Kapitel enthält17, weiter 10 11 12 13 14 15

Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 25. Dritte Studie: Die Abgrenzung der Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 70. Zusätze zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, GS Bd. 7, S. 323. Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 49. Ebd., S. 57. Vgl. Odo Marquard, Geist, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. 3, Darmstadt 1974, S. 186 ff.; Lutz Geldsetzer, Geistesgeschichte, ebd., S. 208. Siehe besonders den materialreichen Aufsatz von Ulrich Dierse, Das Begriffspaar Naturwissenschaften – Geisteswissenschaften bis zu Dilthey, in: Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, hg. von Gudrun Kühne Bertram, Hans-Ulrich Lessing, Volker Steenblock, Würzburg 2003, S. 15 – 33. 16 Vgl. Rudolf A. Makkreel, Dilthey – Philosopher of the Human Studies, Princeton 1975. 17 Vgl. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968, S. 178 ff.

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ausgeführt. Habermas promovierte bei Erich Rothacker ; im Bonner Philosophischen Seminar, wo er in den 50er Jahren zusammen mit K.-O. Apel studierte, hat er mit Sicherheit auch Diltheys Schriften kennen gelernt. In seinen Ausführungen zur Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften stützt er sich allerdings mehr auf H.-G. Gadamer als auf Dilthey, weil Wahrheit und Methode (1960) für ihn die fortgeschrittenere Version von Hermeneutik darstellt.18 Ich werde an späterer Stelle noch einmal auf Habermas zurückkommen. An dieser Stelle sei vorweg nur soviel gesagt: Habermas’ Unterscheidung macht sich, ebenso wie Windelbands Trennung zwischen idiographischen und nomothetischen Wissenschaften, nicht am Gegensatz von Natur und Geist, sondern an unterschiedlichen Erkenntniszielen und den entsprechenden Verfahren fest. Sie verdeutlicht, dass die jeweiligen Methoden in forschungslogischer Hinsicht in unterschiedliche Interessen eingelagert sind: »In den Ansatz der empirischanalytischen Wissenschaften geht ein technisches, in den Ansatz der historischhermeneutischen Wissenschaften ein praktisches Erkenntnisinteresse […] ein.«19 Die Zuordnung des Erkennens zu bestimmten Interessen halte ich trotz gewisser Vorbehalte, die man für die »reine« Grundlagenforschung machen mag, für einleuchtend. Was die empirisch-analytischen Verfahren angeht, ist deren potentielle technische Verwertbarkeit ja nicht erst mit der tatsächlichen Anwendung gegeben, sondern bereits mit der Suche nach prognostisch aussagekräftigen Gesetzmäßigkeiten. Und dass die historisch-hermeneutischen Wissenschaften einem praktischen Interesse im Sinne von »Erhaltung und Erweiterung der Intersubjektivität möglicher handlungsorientierender Verständigung«20 unterliegen, halte ich - im Gegensatz zur Auffassung eines unverbindlichen l’art pour l’art – auf der Ebene der erkenntnistheoretischen Reflexion für zutreffend. Genauer gesagt: Diese Wissenschaften haben, wie vermittelt auch immer, das menschliche Leben und die Lebenspraxis zum Inhalt, im Gegensatz zur Technik, bei der es nach der klassischen Unterscheidung bei Aristoteles um ein Herstellen oder Bewirken im Sinne der Zweck-Mittel-Relation geht. Habermas’ Anwendung dieser Unterscheidung in seiner Theorie der Erkenntnisinteressen ist mit Diltheys Sicht vereinbar, denn ihm zufolge sollen die Geisteswissenschaften menschliches Handeln und seine Voraussetzungen nicht nur deskriptiv analysieren und historisch verstehen, sondern auch normativ begründen. Als ein erstes Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass Dilthey den 18 Vgl. Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1982, S. 272 ff. 19 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: ders., Technik und Wissenschaft als >Ideologie