Neue Methoden der Theaterwissenschaft 9783839452905

Die Theaterwissenschaft ist im Umbruch: Neue Forschungsgebiete, interdisziplinäre Verbundprojekte sowie aktuelle Entwick

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Neue Methoden der Theaterwissenschaft
 9783839452905

Table of contents :
Inhalt
Für einen Methodenpluralismus in der Theaterwissenschaft
I. Erweiterungen der Aufführungsanalyse
Polyperspektivische Aufführungsund Inszenierungsanalyse am Beispiel von SIGNAs Söhne & Söhne
Bekommen alle das Theater, das sie verdienen?
Prozesse, Konflikte, Wirkungen
Aufführungsanalyse in Zeiten der Wiederholung
II. Neue Historiografien
Disability Performance History
Historiografie des Spektakels
Re-Collecting Theatre History
III. Theaterwissenschaftliche Organisationsund Institutionsforschung
Theater der Tabellen
Institution und Organisation
Zur Praxeologie des Theaters
Plädoyer für eine symmetrische Theaterforschung
Autor*innen

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Benjamin Wihstutz, Benjamin Hoesch (Hg.) Neue Methoden der Theaterwissenschaft

Theater  | Band 133

Benjamin Wihstutz ist Juniorprofessor für Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Benjamin Hoesch ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der ortsverteilten DFGForschungsgruppe »Krisengefüge der Künste. Institutionelle Transformationsdynamiken in den Darstellenden Künsten« an der Universität Gießen.

Benjamin Wihstutz, Benjamin Hoesch (Hg.)

Neue Methoden der Theaterwissenschaft

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustim­ mung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Verviel­ fältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Glogowski/Hoesch: UNA SOLO, 2018 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5290-1 PDF-ISBN 978-3-8394-5290-5 https://doi.org/10.14361/9783839452905 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Für einen Methodenpluralismus in der Theaterwissenschaft Benjamin Wihstutz und Benjamin Hoesch ............................................ 7

I. Erweiterungen der Aufführungsanalyse Polyperspektivische Aufführungs- und Inszenierungsanalyse am Beispiel von SIGNAs Söhne & Söhne Doris Kolesch und Theresa Schütz .................................................. 25

Bekommen alle das Theater, das sie verdienen? Übertragung und/oder/als Methode Eva Holling......................................................................... 47

Prozesse, Konflikte, Wirkungen Zu Methoden der Untersuchung von applied theatre Matthias Warstat ................................................................... 67

Aufführungsanalyse in Zeiten der Wiederholung Susanne Foellmer .................................................................. 87

II. Neue Historiografien Disability Performance History Methoden historisch vergleichender Performance Studies am Beispiel eines Projekts über Leistung und Behinderung Benjamin Wihstutz ................................................................ 109

Historiografie des Spektakels Kati Röttger ....................................................................... 133

Re-Collecting Theatre History Theaterhistoriografische Nachlassforschung mit Verfahren der Digital Humanities Nora Probst und Vito Pinto ........................................................ 157

III. Theaterwissenschaftliche Organisationsund Institutionsforschung Theater der Tabellen Zur Organisationsgeschichte des Theaters am Beispiel des Scenariums Andreas Wolfsteiner............................................................... 183

Institution und Organisation Theaterforschung in der Spannung sozialer Ordnungen Benjamin Hoesch.................................................................. 203

Zur Praxeologie des Theaters Stefanie Husel .................................................................... 225

Plädoyer für eine symmetrische Theaterforschung Über methodische Kälte, ethnografische Versuchungen und Lehren aus den Science und Technology Studies Ulf Otto ........................................................................... 247

Autor*innen ....................................................................271

Für einen Methodenpluralismus in der Theaterwissenschaft Benjamin Wihstutz und Benjamin Hoesch

Die Theaterwissenschaft befindet sich in einer Umbruchphase. Neue Forschungsgebiete, interdisziplinäre Öffnungen sowie Auseinandersetzungen mit dem gesellschaftlich-politischen Selbstverständnis des Faches und seiner Geschichte haben zur Kritik an zentralen theaterwissenschaftlichen Diskursen und Begriffen geführt.1 Einige wähnen die Theaterwissenschaft sogar in einer Krise,2 in der bisherige Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten radikal infrage gestellt sind und die Zukunft durch vielfältige Ansprüche und Impulse neu entworfen werden will. Während jedoch die notorischen Krisendiskurse um den Theaterbetrieb3 meist von Existenzbedrohung und Zukunftssorgen grundiert werden – diese Zeilen entstehen inmitten der Corona-Pandemie –, lässt sich die vermeintliche Krise der Theaterwissenschaft eher als engagierter Aufbruch zu neuen Forschungsgebieten denn als Rückzug in einen disziplinären Kanon beschreiben.4 Die Frage nach den Methoden der Theaterwissenschaft steht, wenn auch nicht immer explizit adressiert, im Zentrum dieses Aufbruchs. Es geht somit weniger um das Was (Gegenstand) als vielmehr um das Wie (Vorgehensweise) theaterwissenschaftlicher Forschung und damit nicht zuletzt um die Fra-

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Vgl. etwa Eiermann 2009, 337-391; van Eikels 2013, 17-197; Otto 2013, 49-84; Tecklenburg 2014, 37-60; Müller-Schöll 2016; Aggermann 2017; Kolesch 2017; Warstat 2018, 86-103. So etwa Müller-Schöll 2016, 139f., der die Krise allerdings auf einen Auslöser, »die Entdeckung des Singulären«, zurückführt. Vgl. Schmidt 2017. Der vorliegende Band entstand in Kooperation zwischen der Mainzer SFB-Initiative »Humandifferenzierung« und der ortsverteilten interdisziplinären DFG-Forschungsgruppe »Krisengefüge der Künste: Institutionelle Transformationsdynamiken in den darstellenden Künsten der Gegenwart«.

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Benjamin Wihstutz und Benjamin Hoesch

ge, wie Untersuchungen konkret durchgeführt werden sollen, welche Werkzeuge, Verfahrensweisen und Perspektiven als sinnvoll und erkenntnisweisend anerkannt werden und welche Wege5 die theaterwissenschaftliche Forschungspraxis in Zukunft einschlagen wird. Galten Methoden, abgesehen von Hermeneutik und Quellenanalyse, lange Zeit vielen Forschenden als etwas den Geisteswissenschaften eher Fremdes, auf das man bisweilen vom hohen Ross der Theorie aus herabschaute, wurden Theaterwissenschaftler*innen in jüngerer Zeit durch inter- und transdisziplinäre Verbundforschung zunehmend mit der Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Empirie und den in ihren Projekten zum Einsatz kommenden Methoden konfrontiert. Die Gretchenfrage »Wie hast Du’s mit der Methode?« hat daher für viele Geisteswissenschaftler*innen durchaus eine gewisse Ambivalenz: Sie weist einerseits daraufhin, dass eine transparente Darlegung methodischer Verfahren und Vorgehensweisen für die Wissenschaftlichkeit von Forschung unverzichtbar ist. Andererseits birgt sie jedoch auch das Risiko, dem Druck der Drittmittelakquise in der Wissenschaft mit einer Methodenfixation zu begegnen, die sich den Import empirischer oder digitaler Verfahren mit dem Verlust einer kritisch-geisteswissenschaftlichen Grundhaltung erkauft und einen Pakt mit dem Positivismus schließt. Was die Beziehung zwischen disziplinären und fachfremden Methoden angeht, kommt im Fall der Theaterwissenschaft außerdem eine Besonderheit hinzu, die mit kaum einem anderen Fach vergleichbar ist: So hat unsere Disziplin mit der Aufführungsanalyse genau eine genuin theaterwissenschaftliche Methode hervorgebracht und diese in zwei unterschiedliche Verfahren semiotisch und phänomenologisch ausdifferenziert.6 Natürlich kommen in theaterwissenschaftlichen Studien seit jeher zahlreiche weitere Methoden zum Einsatz – etwa diskursanalytische und quellenkritische, philologisch-hermeneutische oder solche der Genealogie und Dekonstruktion –, ohne dass diese zu eigenen Methodenprägungen des Fachs ausgearbeitet wurden. Entsprechend blieb die Methodenfrage lange unterkomplex, konnte sie doch auf jedem Qualifikationsniveau mit der einfachen Angabe einer Verbindung von semiotischen und phänomenologischen Ansätzen oder einem Verweis auf fachfremde Methoden beantwortet werden, für deren Reflexion und Weiterent-

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Julia Stenzel weist in ihrem Plädoyer für eine »heuristische Methodologie in der Theaterwissenschaft« auf die Etymologie des Methodenbegriffs hin, der von ὁδός (hodos= Weg, Pfad, Straße) abstammt. Vgl. Stenzel 2020, 27. Vgl. Weiler/Roselt 2017.

Für einen Methodenpluralismus in der Theaterwissenschaft

wicklung man sich nicht berufen fühlte. Kein Wunder also, dass die Darlegung von Methoden in vielen theaterwissenschaftlichen Qualifikationsschriften und Forschungsanträgen zur Pflichtübung geriet. Dieser strukturellen Methodenblindheit wirken seit einigen Jahren nun verschiedene Initiativen entgegen: Im Januar 2015 setzte sich an der Freien Universität Berlin ein Forschungskolloquium unter der Leitung von Doris Kolesch und Katharina Rost mit dem Thema »Methoden der Theaterwissenschaft« auseinander. Weitere methodenorientierte Workshops an der FU folgten im Rahmen des Sonderforschungsbereichs Affective Societies. Im Oktober 2016 fand auf unsere Initiative hin eine Studienfahrt des Mainzer Instituts nach Kaub am Rhein statt, wo ein Wochenende lang über Methoden der Theaterwissenschaft diskutiert wurde. In den Jahren 2017-2019 folgten drei weitere Workshops des »Kauber Kreises«. Im Februar 2017 luden Christopher Balme und Berenika Szymanski-Düll Fachvertreter*innen an die LMU München zu der Tagung »Methoden der Theaterwissenschaft« ein, deren Beiträge unlängst in der Schriftenreihe der Zeitschrift Forum Modernes Theater erschienen sind. Wir betrachten den hier vorgelegten Band nicht in Konkurrenz zu dieser uns zuvorgekommenen Kollektion, sondern als produktive und komplementäre Ergänzung der aktuellen Methodendebatte. Auch das »neu« im Titel unseres Bandes soll nicht etwa eine Abgrenzung implizieren oder gar anderen methodologischen Vorschlägen ihre Originalität absprechen. Vielmehr bezieht sich die hier präsentierte Zusammenstellung von Aufsätzen zur Methodenfrage auf einen anderen Ausgangspunkt der Debatte: Während die Münchner Publikation das Ziel verfolgt, »eine Auswahl an Methoden unseres Faches vorzustellen«7 und damit erstmals eine aktuelle Bestandsaufnahme theaterwissenschaftlicher Methoden in einem Band zu präsentieren, geht die vorliegende Publikation explizit von einzelnen Forschungsprojekten aus, die in interdisziplinären Kooperationen oder gegenüber neuen Forschungsgegenständen auf ein Ungenügen des theaterwissenschaftlichen Methodenbestands gestoßen sind und daraus neue Verfahren, neue Methoden-Kombinationen oder ein neues Verhältnis von Theorie und Empirie gewinnen. So ist der Titel dieses Bandes letztlich auch als Appell für einen anhaltenden Innovationsgeist in der disziplinären Methodenentwicklung zu verstehen. Es geht also nicht darum, die neuen Methoden der Theaterwissenschaft vorzulegen. Stattdessen ist unser Anliegen, die Aufmerksamkeit auf (Re-)Kombinationen, Weiterentwicklungen und originelle Anwendungen von 7

Balme/Szymanski-Düll 2020, 10

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Methoden und deren Explikation zu lenken und damit eine Diskussion fortzusetzen, welche die theaterwissenschaftliche Forschung einerseits stärker vernetzt und andererseits zur Ausdifferenzierung und Pluralität des Fachs beiträgt.

Pluralisierungsdynamiken Wie kommt es aber zu dem neu entfachten Interesse an der Methodenfrage und der Dringlichkeit einer Verständigung darüber in der Theaterwissenschaft? Es lassen sich grob drei Entwicklungen skizzieren, welche die Methodendiskussion in den vergangenen Jahren im Fach maßgeblich initiiert und geprägt haben: erstens ein Wandel des Gegenwartstheaters und eine damit verknüpfte Diversifizierung von Zuschauperspektiven, zweitens eine Vervielfältigung der Perspektiven auf die Geschichte und Historiografie von Theater, die ein monolithisches Geschichtsverständnis nachhaltig auflöst und drittens eine Inblicknahme der institutionellen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen von Theater und eine damit einhergehende Annäherung an die Sozialwissenschaften.   1) Zu den neueren Entwicklungen performativer Kunst gehören Formen und Formate, die die scheinbaren Gewissheiten ihrer Theoretisierung unterlaufen und herausfordern, indem sie Theater als offenen Prozess, plurimediales Gefüge oder ästhetisch-soziale Situation entwerfen, tradierte Raumordnungen sprengen oder vervielfachen, seine Zeiten dehnen und zersplittern und Zuschauende in gänzlich neue Positionen bringen. Hans-Thies Lehmann lobt, dass die Theaterwissenschaft diesen Entwicklungen auf der Spur bleibt: »Unser Gegenstandsbereich Theater hat sich, ich darf sagen, ›dramatisch‹ verändert, sein Begriff hat sich enorm erweitert. Dieser Entwicklung folgt, wo sie Interesse beanspruchen kann, seine Analyse.«8 Es existieren heute in der Tat eine Bandbreite an performativen Genres und Theaterformen, die eine Revision und Erweiterung bisheriger Verfahren der Aufführungs- und Inszenierungsanalyse geradezu einfordern: Immersive Theaterformen und Performance-Installationen9 , Audio- und Video-Walks10 , inszenierte Einzel-

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Lehmann 2016, 29. Vgl. Kolesch/Schütz/Nikoleit 2019. Vgl. Fischer 2011, Wehrle 2015.

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begegnungen zwischen Performer*in und Zuschauer*in11 , postspektakuläre oder posthumanistische Performances von Objekten, Robotern oder Tieren12 , Reenactments und Reperformances historischer (Kunst-)Ereignisse13 , digitale Theaterformen und Internetauftritte14 sowie Drive-Thru-Theater15 verlangen nach einer Überprüfung einiger mit dem Aufführungsbegriff eng verknüpfter Begriffe wie Liveness, leibliche Ko-Präsenz, Flüchtigkeit, Ereignishaftigkeit oder Singularität. Insbesondere Theaterformen, die Zuschauende als Teilnehmende adressieren und diese simultan in ganz unterschiedliche Situationen verwickeln, rufen in der Analyse nach einer Pluralisierung von Zuschauperspektiven, die sich von der Vorstellung eines idealen Zuschauers verabschiedet. So wie es je nach Zuschauposition, körperlicher oder intellektueller Disposition verschiedene Arten gibt, Theater zu rezipieren, gilt es auch, Analysemethoden zu entwickeln, die diverse und plurale Perspektiven einbeziehen, sei es durch qualitative Publikumsbefragungen, Tandemanalysen, imaginäre Perspektiven oder schlicht mehrmalige Aufführungsbesuche aus verschiedenen Blickwinkeln oder mit verschiedenen Teilnahmerollen.16 Wird in semiotisch oder phänomenologisch orientierten Aufführungsanalysen die Sinneswahrnehmung, Körperlichkeit und Interpretation ›des Zuschauers‹ nicht selten für allgemeingültig erklärt, sind es gerade auch politische Diskurse und empirische Befunde, die eine solche Generalisierung infrage stellen. So bedurfte es erst einiger politischer Debatten, um darauf hinzuweisen, dass etwa Blackfacing auf der Bühne von vielen PoC im Publikum anders wahrgenommen wird als vom normierten white gaze, der die rassistische Tradition dieser Praxis ausblendet und sie als freies ästhetisches Spiel behauptet. Es bedurfte erst des szenischen Einsatzes von accessibility tools wie Audio-Deskription oder Gebärdensprache, um darauf aufmerksam zu machen, dass es ebenso blinde Zuhörende oder taube17 Zuschauende in einem Theaterpublikum geben kann. Aus der Diversität der Körper auf der Bühne und der Diversität im Publikum muss

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Vgl. Bachmann 2020. Vgl. Eiermann 2009, Haas 2018, Ernst 2020. Vgl. Roselt/Otto 2012, Czirak u.a. 2019. Otto 2013. Während der Corona-Krise inszenierte das Deutsche Theater Göttingen im Mai 2020 das Stück Die Methode (nach Corpus Delicti von Juli Zeh, Regie: Antje Thoms) als Drivethrough-Theaterproduktion in einem Parkhaus. Zu neuen Methoden der Publikumsforschung siehe Reason/Sedgmen 2015. Vgl. Ugarte Chacón 2015.

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konsequenterweise eine Diversität von Analyseperspektiven folgen, die auch im vorliegenden Band längst nicht hinlänglich eingelöst ist. Es bedarf aber insbesondere neuer Analyseverfahren, die ›den Zuschauer‹ nicht mehr im (männlichen18 ) Singular denken, sondern die Rezeption von Theater selbst pluralisieren.   2) Die Pluralisierung von Perspektiven betrifft sowohl Untersuchungen des Gegenwartstheaters als auch die Theaterhistoriografie. Globale und postkoloniale Perspektiven auf Theatergeschichte19 haben gezeigt, dass es nicht mehr die Theatergeschichte gibt, sondern viele neue Theatergeschichten zu erzählen sind: Von der Rolle des Theaters in globalen Zusammenhängen des kalten Krieges20 über eine Geschichte des postmigrantischen Theaters in der Bundesrepublik21 bis hin zu einer Disability History im Tanz als kulturelles Erbe22 ist eine Diversifizierung der jüngeren Theatergeschichtsschreibung zu konstatieren, die in Zukunft neue methodische Ansätze hervorbringen wird. So sind neben Verfahren der Quellen- und Bildanalyse mit neuen Forschungsgegenständen etwa neue Verfahren der Oral History oder Ansätze der Diskursund Dispositivanalyse getreten, die marginalisierte Perspektiven auf Theatergeschichte ebenso einbeziehen wie Praktiken der Wiederholung oder Phänomene der Ungleichzeitigkeit. Theaterhistoriografie neu zu perspektivieren bedeutet mithin auch, verschiedene Auffassungen von Geschichte in ein Verhältnis zu setzen: etwa die Relation zwischen typologisch vergleichenden und transfergeschichtlichen Ansätzen23 , das Verhältnis von Kunst- und Organisationsgeschichte oder von Diskurs- und Rezeptionsgeschichte. Neue Verfahren der Archivierung und Auswertung größerer Quellensammlungen erhalten zudem durch die Digital Humanities Einzug in die Theaterwissenschaft: Liegt einmal ein digitalisierter Korpus von Tageszeitungen oder Theaterperiodika wie etwa dem Gothaer Theaterkalender oder Die Deutsche Bühne vor, sind Erforschungen von Entwicklungen in der longue durée durch Clusteranalysen auf neue Weise möglich und können gerade in Kombination mit tiefergehenden Quellenanalysen zu neuen Erkenntnissen beitragen. Und nicht zuletzt

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Zur Kategorie Gender in der Aufführungsanalyse siehe Schrödl 2014 und Schiel 2019. Vgl. Balme 2006 und Bala 2017. Vgl. Balme/Szymanski-Düll 2017. Zur Geschichte des postmigrantischen Theaters in Europa siehe Sharifi 2016. Vgl. Whatley u.a. 2018. Vgl. Lazardzig/Tkacyzk/Warstat 2012, 116f.

Für einen Methodenpluralismus in der Theaterwissenschaft

spielen in der Theaterhistoriografie auch politische Positionierungen zunehmend eine Rolle, wenn es etwa darum geht, die eigene Fachgeschichte kritisch zu hinterfragen.24 All diese Entwicklungen implizieren Erweiterungen der Theaterhistoriografie, deren Gegenstand sich keineswegs in einer Dramen-, Schauspiel- und Aufführungsgeschichte erschöpft, sondern etwa auch eine Geschichte der Arbeit am Theater25 , der Theaterzensur sowie Organisationsund Normengeschichten einschließt.   3) Der Blick weg von der Bühne hinter die Kulissen macht die Notwendigkeit neuer Methoden bewusst: Probenpraxis, Organisation und Administration von Theatern, die Arbeit und Auswahlverfahren an Schauspielschulen und Casting Agenturen oder schließlich applied theatre in unterschiedlichen Berufsfeldern bedingen für ihre Beforschung neben neuen Historiografien eine Empirie, die Annäherungen des Faches an sozialwissenschaftliche Methoden und Theorie mit sich bringt. Je weiter sich der Untersuchungsgegenstand vom Aufführungsereignis entfernt und damit Arbeitspraktiken und Organisationsstrukturen neben ästhetischen Fragen in den Fokus rücken, desto zwingender scheint eine Öffnung der Methoden in Richtung qualitativer und ggf. auch quantitativer Forschung, ohne die bestimmte Fragestellungen kaum untersucht werden können. Insbesondere die Verwandtschaft von Aufführungsanalyse und Ethnografie26 , die sich nicht zuletzt in der Geschichte der Performance Studies widerspiegelt,27 erfährt aktuell eine erneute Konjunktur. Während Ethnografie in der Regel nicht als Methode, sondern eher als Haltung und Perspektive der Feldforschung mit ganz unterschiedlichen Erhebungs-, Aufzeichnungs- und Auswertungsverfahren gewertet wird, sind es doch meist spezifische Praktiken wie die teilnehmende Beobachtung oder bestimmte Interviewverfahren, welche die Erforschung längerfristiger Proben- und Arbeitsprozesse am Theater ermöglichen. Es ist somit keineswegs allein die Innovation der Kunst, die zur Erneuerung von theaterwissenschaftlichen Forschungsmethoden führt; gerade die Spannung zwischen ästhetischen Perspektiven und vermeintlich anästhetischem Gegenstand verspricht ein besonderes Potenzial der Forschung, die im Modus einer »befremdenden Beobachtung«28 den Gegenstand distanziert und neu perspektiviert. 24 25 26 27 28

Dazu im Erscheinen: Lazardzig 2021. Vgl. Matzke 2012. Vgl. Kreuder 2016. Vgl. Schechner 2006, 1-28. Vgl. Breidenstein u.a. 2013, S. 121f.

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Theorie und Empirie Ausgehend von den geschilderten Impulsen verfolgt dieser Band als Beitrag zur aktuellen Methodendiskussion ein doppeltes Ziel: erstens ist unser Anspruch, aus der theaterwissenschaftlichen und interdisziplinären Forschungspraxis heraus die Vorschläge neuer Methoden zu reflektieren und zu überprüfen; zweitens möchten wir damit zugleich den Stellenwert von Methoden für die theaterwissenschaftliche Forschung selbst zum Thema zu machen und dabei auch das Verhältnis von Theorie und Empirie auf den Prüfstand stellen. Zwei Probleme sind in dieser Hinsicht zunächst zu konstatieren: Erstens die tendenzielle Methodenblindheit geisteswissenschaftlicher Theorie und zweitens die tendenzielle Theorieferne sozial- und kulturwissenschaftlicher Empirie: 1) Die Neigung theaterwissenschaftlicher Studien zu umfassenden theoretischen, gerade philosophisch fundierten Erörterungen, die dann auf ein Phänomen aus der Kunst angewendet und an ihm exemplifiziert werden, beweist zwar immer wieder die Nähe und gegenseitige Bereicherung von theoretischer Reflexion und ästhetischer Rezeption, geht aber der Frage nach dem methodischen Zugang oft aus dem Weg. Denn aufgrund ihrer Systematik und Instrumentalität stehen Methoden in den Geisteswissenschaften traditionell im Verdacht, weder dem singulären Ereignis des Denkens noch einem ästhetischen Gegenstand gerecht zu werden. Auf diese Weise bleibt das zielgerichtete, planvolle und nachahmbare Vorgehen der Forschung jedoch ungeklärt und intransparent, sodass theoretische Zugänge die Frage nach einer Methode generell zu überdecken scheinen. Auf welche Weise die Analyse einer künstlerischen Arbeit etwa aus einer bestimmten methodischen Vorgehensweise resultiert oder beispielsweise auch ein ästhetisches und normatives Urteil einschließt, wird häufig nicht offengelegt. So bleibt oftmals unklar, ob die Empirie der künstlerischen Praxis das theoretische Nachdenken leitet oder umgekehrt dieses lediglich exemplarisch das passende Material zur Veranschaulichung bevorzugter Theorien herausgreift und instrumentalisiert. 2) Umgekehrt verhält es sich mit der Theorieferne oder sogar Theoriefeindlichkeit sozial- und kulturwissenschaftlicher Empirie. So neigen die Ethnografie oder auch andere Ansätze qualitativer Sozialforschung häufig dazu, jede wissenschaftliche Erkenntnis an die Erhebung von Daten zu knüpfen, und Theorie allenfalls auf Grundlage dieser Daten zuzulassen. Theorie ist aus dieser Perspektive allein dadurch relevant, dass sie die Empirie in Begriffe überführt; zugleich werden die epistemische Reichweite und die implizi-

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ten Vorannahmen empirischer Forschung jedoch nur selten hinterfragt. Dies erweist sich insbesondere dann als problematisch, wenn mit einem positivistischen, empiriebasierten Wissenschaftsbegriff ein philosophisch-geisteswissenschaftliches, insbesondere normatives Denken als unwissenschaftlich disqualifiziert wird. Es entsteht dann der Eindruck, Theorie sei generell etwas der Empirie Nachgeordnetes und sogar Ahistorisches, das der Interpretation von Forschungsergebnissen dient, nicht aber selbst Teil der Forschung ist. Beide Sichtweisen gilt es zu korrigieren, indem das Verhältnis von Theorie und Empirie als reziproke Spannung jeder Methode in den Blick genommen und als solches in der Forschung selbst adressiert und produktiv gemacht wird. Die Qualität methodischer Konzepte bemisst sich mithin an ihrer Eignung, einen Erkenntnisweg zu weisen, der nicht theoriefern ist, sondern Theorie und Empirie miteinander vermittelt, ohne dass eine der beiden Seiten Vorrang hat. Dass dies gelingt, zeigen die versammelten Beiträge dieses Bandes, in denen etwa Konzepte der Psychoanalyse, der Praxeologie oder der Science and Technology Studies nicht allein als theoretische Begriffe fungieren, sondern zugleich methodische Vorgehensweisen implizieren. Auf der anderen Seite wird vorgeführt, dass der Einbezug von Erhebungsverfahren wie Publikumsbefragungen oder die Verfügbarkeit neuer Techniken und Erfassungsmethoden der Digital Humanities nicht ohne Reflexion ihrer Implikationen für das geisteswissenschaftliche Denken bleiben kann. Aus dieser Doppelperspektive wird einerseits deutlich, dass Methoden per se von theoretischen Prämissen ausgehen und andererseits, dass auch theoretische Begriffe selbst historisch gewordene und daher ebenso wenig wie Methoden universell anwendbar sind.

Arbeitsfelder der Methodenentwicklung In unserem Austausch mit den Autor*innen dieses Bandes und ausgehend von ihren spezifischen Forschungsinteressen haben sich entsprechend den skizzierten Pluralisierungsdynamiken drei Hauptfelder der theaterwissenschaftlichen Methodenentwicklung ergeben:

1. Erweiterungen der Aufführungsanalyse Als die Methode der Theaterwissenschaft in seiner bisherigen Ausprägung kann die Aufführungsanalyse auch von den neueren Entwicklungen des Fachs nicht einfach beiseitegeschoben werden. Es gibt zwar berechtigte,

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tiefgreifende Kritik an ihrer Rolle: Laut Lorenz Aggermann versteht die Aufführungsanalyse Kunst »ohne ihre genealogische und institutionelle Verankerung« und »gleicht infolge nicht selten einer selbsterfüllenden Prophezeiung, wird doch am Beispiel oft nur das erkannt und ausgewiesen, was der begriffliche Apparat und die damit einhergehende Methode zulässt«29 . Doch auch Aggermanns Verständnis von Theater als Dispositiv leugnet nicht die spezifische Ontologie und Erfahrungsqualität der Aufführung, noch weniger legt es nahe, Theaterwissenschaftler*innen könnten sich Aufführungsbesuche sparen. Kritiker*innen des Primats der Aufführung fordern eine methodische Neuausrichtung, gerade weil sie in der Aufführung das Zusammenkommen vielfältiger historischer, politischer, institutioneller und ästhetischer Kräfte erkennen. Methodische Innovation als Erweiterung des begrifflichen und methodischen Apparats ist daher unumgänglich, um die Aufführungsanalyse auch für polyperspektivische und immersive Theaterformen (Beitrag von Doris Kolesch und Theresa Schütz) oder für die wirkungsorientierten Prozesse von applied theatre (Beitrag von Matthias Warstat) nutzbar zu machen. Zudem kann die Methode der Aufführungsanalyse an Tiefe und Schärfe gewinnen, wenn sie Phänomene der Wiederholung in Reenactments, Rekonstruktionen und Reperformances (Beitrag von Susanne Foellmer) sowie die Verantwortung für die eigene ästhetische Wahrnehmung in der Übertragung zwischen begehrenden Subjekten (Beitrag von Eva Holling) ernst nimmt.

2. Neue Historiografien In der historischen Theaterforschung setzt sich die neuere Geschichtsschreibung nicht einfach ins Verhältnis einer Bestätigung und Anreicherung älterer, kanonischer Ansätze der Historiografie, sondern arbeitet gegen deren Reduktionen, Vereinfachungen und blinde Flecken. Sie kann so als Korrektiv einer positivistisch und logozentrisch geprägten Historiografie Gegengeschichten der Körper, der kulturellen und ästhetischen Praktiken und ihrer Verflechtungen entwerfen. Dabei erweist sich die Integration von Begriffs-, Theorie- und Quellengeschichte als unverzichtbar für eine Theaterhistoriografie, die durch einen spezifischen Umgang mit Quellen und neue Auswertungs- und Analyseverfahren Forschungsgebiete erschließt: So lässt sich etwa das Spektakel zum zentralen Begriff einer interkonnektiven Historiografie aufwerten (Beitrag von Kati Röttger) oder aus der Untersuchung von Disability Performances ein 29

Aggermann 2017, 8f.

Für einen Methodenpluralismus in der Theaterwissenschaft

neuer Ansatz historisch vergleichender Performance Studies entwickeln (Beitrag von Benjamin Wihstutz). Neue digitale Möglichkeiten archivarischer und vernetzender Verfahren zeigen wiederum Potenziale der Nachlassforschung, komplexe historische Beziehungsgeflechte zwischen Objekten, Personen, Ereignissen und Ideen sichtbar zu machen (Beitrag von Nora Probst und Vito Pinto).

3. Theaterwissenschaftliche Organisations- und Institutionsforschung Eine zentrale aktuelle Forschungstendenz im Fach zielt auf die Untersuchung institutioneller und organisationaler Voraussetzungen, Prozesse und Kontexte von Theater. Zahlreiche Forschungsprojekte sind mit dem Fehlen einer institutionstheoretischen Perspektive im Fach konfrontiert, insbesondere solche, die institutionelle Transformationen des Gegenwartstheaters oder theatrale Praktiken als Teilbereich gesamtgesellschaftlicher Dynamiken untersuchen. Dabei lässt sich etwa aus dem bislang übersehenen Instrument des Scenariums eine Organisationsgeschichte des Theaters gewinnen (Beitrag von Andreas Wolfsteiner) oder mit der Methodik sozial- und kulturwissenschaftlicher Praxistheorien sowie der künstlerischen Forschung die Grenze zwischen Produktions- und Rezeptionsästhetik unterlaufen (Beitrag von Stefanie Husel). Die sozialempirischen Begriffe von Institution und Organisation eröffnen hier ein konzeptuelles Spannungsfeld für die Erforschung der ambivalenten sozialen Ordnung von Theater (Beitrag von Benjamin Hoesch). Um eine symmetrische Theaterforschung auf Augenhöhe mit der Praxis zu ermöglichen, kann es letztlich auch darum gehen, im Zeichen einer negativen Methodik die überkommenen distanzierenden Gewissheiten und Begriffe der Theaterwissenschaft gänzlich aufzugeben (Beitrag von Ulf Otto).   Trotz der Unterschiedlichkeit der Beiträge lassen sich in der Zusammenschau einige allgemeine Tendenzen der gegenwärtigen Methodendiskussion ausmachen. Zunächst ist in den hier vertretenen Herangehensweisen an das Methodenproblem ein zielorientierter Pragmatismus festzustellen: Viele Überlegungen gehen etwa zurück auf die Frage, wie eine überzeugende theaterwissenschaftliche Methodik in der Lehre zu behaupten und zu vermitteln ist, oder wie den Perspektiven, Interessen und Wissensformen von Akteur*innen in der Praxis begegnet werden kann. Die Methodenfrage ist insofern auch eine Auseinandersetzung mit den beruflichen Herausforderungen und der gesellschaftlichen Verantwortung von Theaterwissenschaftler*innen.

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Damit einhergehen muss jedoch eine Entideologisierung der methodischen Zugänge. Sicher ist allen Beiträgen eine bestimmte akademische Prägung eingeschrieben, die aus aktuellen oder früheren Institutszugehörigkeiten und Netzwerken der Autor*innen resultiert. Von einer Konkurrenz einander ausschließender Schulen, die sich, wie teilweise noch zu Beginn dieses Jahrtausends, in der Beschränkung auf das bei ihnen Gültige gegenseitig Relevanz absprechen, kann jedoch keine Rede sein. Gerade in den transdisziplinären Anleihen zeigt sich eine besondere Aufgeschlossenheit des Faches: Die Beiträge lehnen sich nicht nur an die traditionelleren Verbündeten wie Philosophie und Ethnologie an, sondern beziehen auch solche Ansätze ein, gegenüber denen sich die Geisteswissenschaften bis vor kurzem noch tunlichst abgeschottet haben – wie etwa Organisationstheorie oder digitale Archivierung. Diese unideologische Offenheit ist nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln. Den meisten Leser*innen dieses Bandes dürfte bewusst sein, dass gerade in der Methodenfrage oftmals brisante Fachpolitik steckt – weil sich daran die Praxis, die Prioritäten und das Selbstverständnis der Theaterwissenschaft entscheiden. Viele Beiträge beinhalten daher leidenschaftliche, teils zugespitzte Plädoyers, oft gegen unausgesprochene normative Setzungen, Berührungsängste und Ausschlüsse in der Ordnung des Fachwissens, sowie für neue und offene Begegnungen mit vielfältigen Realitäten. Eine methodische Öffnung des Faches hin zu anderen Disziplinen evoziert damit zugleich die Notwendigkeit einer fachlichen Konturierung – auch von einem solchen interdisziplinären Aushandlungsprozess zeugen einige der hier versammelten Beiträge: Eine gewinnbringende Kooperation im Forschungsverbund liegt häufig gerade nicht in der bloßen Suche nach Gemeinsamkeiten, sondern in der Anerkennung von Unterschieden, die meist weniger die Theorie oder den Gegenstand als vielmehr die Methoden oder die Auslegung methodischer Verfahren betreffen. Jene Abgrenzungen und Plädoyers zu einer engeren fachpolitischen Forderung zusammenzufassen, verbietet ihre jeweilige Eigenständigkeit und Originalität. Wir leiten aus ihnen nur eine allgemeinere Empfehlung ab – die für einen Pluralismus in der Theaterwissenschaft, der sich auch und ganz besonders in der Offenheit für unterschiedlichste Methoden, ihre jeweilige originelle Aneignung, kreative Kombination und letztlich Weiterentwicklung niederschlagen muss. Daraus und nicht aus vorgeblichen Gewissheiten oder strategischen Festlegungen erhält das Fach seine Lebendigkeit und Widerständigkeit.

Für einen Methodenpluralismus in der Theaterwissenschaft

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Benjamin Wihstutz und Benjamin Hoesch

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Für einen Methodenpluralismus in der Theaterwissenschaft

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I. Erweiterungen der Aufführungsanalyse

Polyperspektivische Aufführungsund Inszenierungsanalyse am Beispiel von SIGNAs Söhne & Söhne Doris Kolesch und Theresa Schütz

Methodische Erweiterungen und Erneuerungen können auf höchst unterschiedliche Weisen entstehen: durch die Übertragung einer bestimmten wissenschaftlichen Perspektive und Methode auf einen neuen Gegenstand, wie dies in den Anfängen der Theatersemiotik und einer semiotischen Aufführungsanalyse in den 1980er Jahren der Fall war, in denen der Transfer des strukturalistischen Textmodells kultur- und literaturwissenschaftlicher Provenienz auf den komplexen Gegenstand der theatralen Aufführung einen Innovations- und Erkenntnisschub initiierte.1 Sie können aber auch durch Kritik an identifizierten Einseitigkeiten oder Problempunkten etablierter Methoden entstehen, so wie beispielsweise die phänomenologisch orientierte Aufführungsanalyse bestimmte Defizite einer semiotischen Aufführungsanalyse zu beheben oder zumindest zu vermeiden trachtet. Methodische Innovationen in der Theaterwissenschaft können aber auch durch neuartige Kunst- und Aufführungsformen eingefordert werden, die bislang erfolgreich etablierte und praktizierte Methoden wie auch Methodenkombinationen an ihre Grenzen bringen, weil diese dem neuen künstlerischen Format in seiner Eigenart und Vielschichtigkeit nicht oder nur bedingt angemessen erscheinen.

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Natürlich existierten Theateraufführungen und -inszenierungen schon lange vor der Theatersemiotik. ›Neu‹ waren Aufführungen und Inszenierungen aber als Gegenstand der semiotischen, im Bereich der Literaturwissenschaften entwickelten Analysemethode, und man könnte durchaus argumentieren, dass mit diesem Methodentransfer auch der Blick auf Aufführungen und ihre theoretische Konzeptionalisierung als genuiner und eigenständiger Gegenstand der Theaterwissenschaft, die schon Max Herrmann initiiert hatte, geschärft wurde.

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Doris Kolesch und Theresa Schütz

Wenngleich diese drei grundsätzlich verschiedenen Weisen der Methodenentwicklung hier vor allem in heuristischer Absicht unterschieden werden und häufig in Kombination und Vermischung auftreten, ist unser nachfolgender Beitrag vor allem dem dritten und letztgenannten Fall zuzuordnen: Wir plädieren für eine polyperspektivische Erweiterung bislang entwickelter aufführungsanalytischer Modelle, die vor allem durch die Entstehung und Etablierung partizipativer, insbesondere immersiver Theaterformen seit Beginn des 21. Jahrhunderts notwendig geworden ist. Denn unseres Erachtens stellen die seit den 2000er Jahren zunehmend erfolgreichen immersiven Theaterund Performanceformate unter anderem folgende drängende methodische Fragen: Wie analysieren wir eine theatrale Form, die das, was wir gemeinhin unter einer Aufführung verstehen und als zentralen Gegenstandes unseres Faches untersuchen, entgrenzt, fragmentiert und in unzählige Aufführungsvarianten vervielfacht? Wie beschreiben wir eine Aufführung, die aus vielen kleinen Aufführungen besteht und die erst durch die verschiedenen Begegnungen und Interaktionen von Zuschauer*innen und Performer*innen zustande kommt? Über welche Aufführung können wir überhaupt schreiben, wenn jede*r Zuschauende je unterschiedliche Aufführungen erlebt – und diese Unterschiedlichkeit nicht auf individuelle Vorlieben, Wahrnehmungsmuster oder Aufmerksamkeitsregime der Zuschauenden zurückzuführen ist, sondern strukturell und dramaturgisch bedingt ist? Wie wählen wir aus, wie grenzen wir ein, und wie schreiben wir über das Aufführungs- und Interaktionsgeschehen, welches wir selbst nicht miterleben konnten? Und wie gelingt es uns, gleichwohl eine intersubjektive Verbindlichkeit aufführungsanalytischer Untersuchungen zu erreichen? Es sind zuvorderst Aufführungen des immersiven Theaters als einer besonderen Spielart des partizipativen Gegenwartstheaters, entlang derer wir die Grenzen etablierter Strategien der Aufführungsanalyse2 aufzeigen und die Notwendigkeit sowie das Potential einer polyperspektiven Aufführungsund Inszenierungsanalyse erweisen wollen.3

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Zu den beiden etablierten Formen der Aufführungsanalyse, der semiotisch bzw. phänomenologisch verfahrenden Aufführungsanalyse vgl. u.a. Weiler/Roselt 2017, insbesondere S. 63-102. Zur Notwendigkeit einer Erprobung polyperspektivischer Aufführungsanalysen in Formen des Gegenwartstheaters, für die Relationalität zentral ist vgl. Kolesch/Warstat 2019. Der vorliegende Aufsatz entwickelt den dort vorgestellten Ansatz weiter.

Polyperspektivische Aufführungs- und Inszenierungsanalyse

Im Folgenden werden wir zunächst am Beispiel der Hamburger Produktion Söhne & Söhne des dänisch-österreichischen Kollektivs SIGNA eine Inszenierung vorstellen, die paradigmatisch ist für gegenwärtige Formen des immersiven Theaters im deutschsprachigen Raum. Wir haben die Produktion am 9. Januar 2016 gemeinsam besucht und überdies im Rahmen unseres Forschungsprojekts Reenacting Emotions. Strategies and Politics of Immersive Theater Zuschauer*innen-Befragungen wie auch Interviews durchgeführt.4 Ausgehend von unseren Erinnerungsprotokollen führen wir kurz in das erlebte »Erfahrungsgeschehen«5 von Söhne & Söhne ein, um im nächsten Schritt auf dramaturgische, formale und ästhetische Aspekte hinzuweisen, die Polyperspektivik bereits als Formmerkmal immersiven Theaters ausweisen. Anschließend zeichnen wir – vor dem Hintergrund der von uns durchgeführten empirischen Zuschauer*innen-Forschung – nach, wie das Polyperspektivische der Form mit der Polyperspektivik der gemachten und verbalisierten Zuschauererfahrungen korrespondiert und wie daraus nicht nur eine methodische Erweiterung etablierter Aufführungs- und Inszenierungsanalysen ableitbar ist, sondern auch grundlegende theoretische Fragen adressiert werden können.

Beispielaufführung: SIGNAs Söhne & Söhne (2015/16) Mit Erwerb unserer Theaterkarten beim Schauspielhaus Hamburg wird uns als Aufführungsort die ehemalige Gewerbeschule für Bauhandwerk in der Hamburger Averhoffstraße genannt. Auf dem Gebäude weht eine weiße Flagge mit Unendlichkeitssymbol, das am Eingang, im ins Glas eingelassenen Firmenlogo von »Söhne & Söhne«, wiederkehrt. Im Augenblick der Ticketübergabe an der Einlassschwelle beginnt für uns der Besuch des fiktiven, aber real durchgestalteten Unternehmens »Söhne & Söhne«, in dem wir für die Dauer von sechs Stunden nicht mehr (nur) Theaterzuschauer*innen, sondern Angestellte an unserem ersten Arbeitstag sein werden. Der Parcours, der uns bevorsteht, ist eine Mischung aus »Probe«-Arbeiten und emotionalem Assessmentcenter – gewissermaßen ein performativer Eignungstest, sowohl auf der

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Das Forschungsprojekt unter der Leitung von Doris Kolesch ist im DFG-geförderten SFB 1171 Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten an der Freien Universität Berlin angesiedelt. Die empirischen Untersuchungen in Form von Fragebögen, Interviews und Auswertung des Nachgesprächs hat Theresa Schütz durchgeführt. Weiler/Roselt 2017, 43.

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Doris Kolesch und Theresa Schütz

Ebene der Fiktion als auch auf der Ebene der Aufführung. Hierfür wird uns gleich zu Beginn ein Bewertungsbogen ausgehändigt, auf dem im Verlauf unseres Aufenthaltes unser Verhalten durch Performer*innen evaluiert werden wird.6 Sollten wir am Ende des Parcours bereit sein, uns in fiktiver Zukunft als Teil des Unternehmens zu sehen, erhalten wir als Zeichen der Zugehörigkeit einen Sohn-Namen der ersten Ordnungsstufe, in unserem Fall: Abelise und Adelinda Sohn. Besucht man Söhne & Söhne als Zuschauer*in noch ein zweites oder drittes Mal, erhält man zu Beginn nicht erneut einen Bewertungsbogen, sondern ein Namensschild (mit dem entsprechenden Sohn-Namen) und ist damit befugt, sich eigenständig durch das Gebäude zu bewegen. Auf den Bewertungsbögen befinden sich individualisierte Zeitpläne, die sekundengenau vermerken, wann wir uns in welcher Abteilung des Unternehmens »Söhne & Söhne« einzufinden haben. Auf diese Weise lernen wir nach und nach und in jeweils unterschiedlicher Reihenfolge wie auch unterschiedlicher Gruppenzusammensetzung von sechs bis acht Zuschauer*innen die einzelnen Unternehmensbereiche (Büro für interne Gesetze, Krankenstation, Freizeitzentrum, Abteilung für romantische Anliegen, Abteilung für Resistenzschulung usw.) kennen, die zugleich das Gemeinschaftsleben der Söhne strukturieren.7 Wir erfahren, dass es sich bei »Söhne & Söhne« um ein weltumspannendes Unternehmen handelt, das seit kurzem in einer Krise steckt und dringend neue Mitarbeiter*innen braucht, um seine Existenz zu

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Laut Aussage eines Performers während des Publikumsgesprächs zu Söhne & Söhne, das am 18. Januar 2016 in Hamburg stattfand, basiert der Bewertungsbogen auf dem sog. Interpersonalen Circumplex-Modell, welches seit den 1950er Jahren in der Sozialpsychologie und Verhaltensforschung zum Einsatz kommt, um die Persönlichkeit von Testpersonen in einem Spektrum von Dominanz und Unterwürfigkeit sowie Distanz und Nähe einzuschätzen. Bei Söhne & Söhne erhält man als Zuschauer*in nach jeder besuchten Station von einer der Performer*innen einen Vermerk auf dem Bewertungsbogen, der für die bewertete Person selbst weitgehend kryptisch erscheint und im Wesentlichen widerspiegeln soll, wie offen, vertrauenswürdig oder distanziert man sich auf die interaktive Situation eingelassen hat. Bewertet wird in diesem Assessmentcenter also keine Arbeitsleistung, sondern die Art und Weise, wie man sich als Persönlichkeit präsentiert. Hier wird deutlich, dass SIGNA auf die Struktur von modernen Arbeitswelten (wie bspw. bei Google oder Unilever) rekurriert, die auf eine möglichst vollumfängliche Einbindung der Mitarbeiter*innen durch die Gestaltung und Bereitstellung nicht nur von Arbeitsräumen, sondern auch von Wohn-, Freizeit- oder Dienstleistungsbereichen am Arbeitsplatz zielen.

Polyperspektivische Aufführungs- und Inszenierungsanalyse

sichern. Es wird schnell evident, dass »Söhne & Söhne« eine kollektive Lebensweise verkörpert, die neben Anspielungen an Unternehmensstrukturen und Formen des modernen Angestelltenalltags vor allem Assoziationen zu einer Sekte weckt: Es dominiert eine Form der visuellen Gleichschaltung (alle Performer*innen sind grau und/oder beige gekleidet, Frauen im Rock und Männer im Anzug), alle begrüßen sich ritualhaft mit dem Gruß »Elatus« und es gilt eine strenge Hierarchie, die Aufstieg und Ausschluss der Mitglieder regelt. Um ein gleichförmiges Eingestimmt-Sein aller Söhne auf- und miteinander zu gewährleisten, setzen die Abteilungen (wie jene für romantische Anliegen oder für Kindheitsanliegen) vor allem auf Ausgleich emotionaler und affektiver Dissonanzen. Sinnbildlich übt sich deshalb das Herzstück des Unternehmens, die Zentralabteilung für Expansion und Potentialentwicklung, auch im buchstäblich kollektiven klanglichen Einstimmen in die Frequenz der sog. Urfiliale.

 

Abbildung 1: Blick in das Treppenhaus von Söhne & Söhne, von links nach rechts im Uhrzeigersinn: Franz-Josef Becker, Lukas Steimer, Hans-Günter Brünker, Andreas Schneiders (Foto: Erich Goldmann).

   

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Doris Kolesch und Theresa Schütz

Verschiedene Modi der Involvierung und der Interaktion mit den Darsteller*innen wie Gruppengespräche, intime One-on-Ones, Telefonate, (geheime) Botengänge oder kollektive Simulationsübungen sorgen dafür, dass die Besucher*innen der Aufführung die fiktive Institution nicht einfach repräsentiert und dargestellt bekommen, sondern zugleich erfahrungsbasiert erleben und kennen lernen. Dazu gehört auch, dass wir Söhne & Söhne über die Fiktionsfakten hinaus in der minutiösen und detailgenauen Gestaltung von Räumen, sozialen Situationen und Atmosphären (im eklektischen Retrolook der 1950er bis 70er Jahre8 ) multisensorisch, das heißt mit allen Sinnen und in Form körperlicher Erkundungen erfassen und Eigenheiten der sektenartigen Struktur dieses Unternehmens emotional wie affektiv über verschiedene Strategien der Manipulation am eigenen Leib miterleben und nachempfinden. Am Ende des sechsstündigen Parcours bekommen wir die Möglichkeit, uns im Rahmen einer kollektiven Zeremonie den »Nachtsöhnen« zu unterwerfen, um damit unsere Zugehörigkeit zum Unternehmen zu bekennen. Wer dies ausschlägt, muss die Performance konsequenterweise verlassen. Entlang dieser schlaglichtartigen Einführung in SIGNAs Söhne & Söhne lassen sich unseres Erachtens formale und dramaturgische Kriterien herausarbeiten, die erstens den in der Theaterwissenschaft etablierten Aufführungsbegriff an seine Grenzen bringen und zweitens die Notwendigkeit einer polyperspektivischen Analyse aus der spezifischen relationalen Verfasstheit von immersivem Theater plausibilisieren.

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Hier zeigt sich die seit zwei Dekaden von Signa Köstler entwickelte Bleak-Ästhetik: Im Sinne der deutschen Übersetzung von »düster« oder »trostlos« gilt es, nur Materialien einzusetzen, die (idealerweise) vor 1984 hergestellt wurden und dem Aussehen nach etwas Verlebt-Defektes und Zeitlich-Entrücktes mit sich führen. Zudem dominieren in der Gestaltung der Räume blasse Beige-, Pastell- und Grau-Töne. Das reicht bis zu den Lebensmitteln: Auch die gereichte Kohl-Suppe in der Kantine von Söhne & Söhne ist grau-braun, leicht zerkocht und etwas eklig in Anblick, Geruch und Geschmack. – Informationen wie diese sind den Gesprächen mit Signa Köstler entnommen, die Theresa Schütz für ihre Dissertation Theater der emotionalen und affektiven Vereinnahmung. Polyperspektivische Analyse der Publikumsinvolvierung im immersiven Theater mit der Künstlerin in Kopenhagen geführt hat. Für ein Gespräch zu Strategien der Zuschauer*innenInvolvierung am Beispiel von SIGNAs Das Heuvolk vgl. Schütz 2019.

Polyperspektivische Aufführungs- und Inszenierungsanalyse

Entgrenzung des Aufführungsbegriffs im immersiven Theater Die Inszenierung ist dramaturgisch so gebaut, dass jede*r teilnehmende Zuschauer*in eine jede Aufführung auf je unterschiedliche Weise erlebt. Der Zeitplan auf dem Bewertungsbogen gewährleistet, dass sich das Publikum gleichmäßig auf die verschiedenen Räume verteilt, wodurch sich für jede Zuschauer*in eine unterschiedliche Reihenfolge der raumgebundenen Szenen und darin provozierten sozialen Situationen ergibt. Damit gehen je verschiedene Begegnungskonstellationen zwischen Zuschauer*innen und Darsteller*innen sowie Zuschauer*innen untereinander einher, die in Länge, Inhalt und Intensität maßgeblich vom Einsatz der Zuschauenden abhängen. Denn das situative Einbringen durch Nachfragen, die (pro-)aktive Teilnahme an den Aktivitäten (z.B. an der Notrettungssimulation in der Abteilung für Resistenz-Schulung) sowie die Bereitschaft, auch Privates oder Persönliches in Gesprächsrunden oder One-on-One-Begegnungen preiszugeben, bedingen das Gelingen einer immersiven Theateraufführung wie SIGNAs Söhne & Söhne und sind integraler Bestandteil nicht nur des Wahrnehmungs-, sondern vor allem auch des Aufführungsgeschehens. Auf diese Weise betrachtet, muss man davon sprechen, dass während einer Aufführung von Söhne & Söhne unzählige verschiedene Aufführungen im Zusammenspiel und in Interaktion von gestalteten Räumlichkeiten, Performer*innen und Zuschauer*innen hervorgebracht werden. Dabei sind, das sollte bei aller Betonung der wie auch immer gearteten Publikumsaktivitäten als integraler Bestandteil der Aufführungen festgehalten werden, die Handlungsmöglichkeiten und das Aktionsrepertoire von Performer*innen und Zuschauer*innen durchaus unterschiedlich, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass die Besucher*innen ihre Aufführungsteilnahme vorher zumeist nicht geprobt und eingeübt haben und dass sie über kein Wissen der dramaturgischen Strukturen, der Interaktionsregeln und weiterer produktionsästhetischer Verabredungen verfügen, sodass die Voraussetzungen für Performer*innen und Zuschauer*innen jeweils sehr verschieden sind.9 Die Arbeiten von SIGNA beruhen auf einer maßgeblich von Signa Köstler entwickelten narrativen Fiktion, auf Grundlage derer die Figuren von den ein-

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Die durchaus geläufige Rede davon, dass die Besucher*innen hier selbst zu Performer*innen würden, darf mithin nicht über die signifikanten Unterschiede bezüglich der Aktionsmöglichkeiten und der jeweiligen Handlungsdispositive beider Gruppen hinwegtäuschen.

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zelnen Performer*innen größtenteils eigenständig entwickelt werden. Es gibt folglich keine festgelegte Textgrundlage, sondern die Darsteller*innen improvisieren ihr Spiel im Rahmen der vorgegebenen, über mehrere Wochen gemeinsamen Probens, Diskutierens und Zusammenlebens eingeübten Fiktion. Dadurch ergibt sich die Freiheit, Zuschauer*innen in Gespräche zu den unterschiedlichsten, z.T. auch sehr persönlichen, Themen zu verwickeln. Die Inhalte dieser Gespräche können dann den Verlauf weiterer Aufführungen mitbestimmen. Denn alle geteilten Erfahrungen, die die Darsteller*innen/Figuren und Zuschauer*innen miteinander machen, wandern in den Mikrokosmos von Söhne & Söhne ein, beeinflussen und transformieren ihn. Aufgrund der Tatsache, dass die Darsteller*innen nicht auf einen bestimmten Textkorpus pro Aufführung festgelegt sind, sondern lediglich auf bestimmte Räume verteilt sind und abgesprochene Stationswechsel vollziehen müssen, wird ihren Figuren gewährt, sich innerhalb der insgesamt 31 Aufführungen (in der Zeit von Anfang November 2015 bis Mitte Januar 2016) weiterzuentwickeln. Was die Figuren untereinander innerhalb der Diegese erleben (Streitigkeiten, Liebeleien, Degradierungen etc.) ist für die Dauer eines SIGNA-Projekts im beständigen Fluss, entwickelt sich kontinuierlich weiter.10 Schon allein deshalb wird ein Zuschauer Anfang November 2015 eine signifikant andere Aufführung erleben als ein Zuschauer Anfang Januar 2016. Für eine Inszenierungsanalyse11 müsste man gewissermaßen einen ganzen Aufführungsblock betrachten und nach wiederkehrenden Strukturen, Inhalten, Figuren- und Situationskonstellationen Ausschau halten. Der Mikrokosmos von Söhne & Söhne reproduziert zwar pro Aufführungs-Abend eine bestimmte eingeübte Empfangs-, Stationen- und Auslassdramaturgie, lässt

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Natürlich wirkt auch das enge kommunenhafte Zusammenleben der Performer*innen während einer SIGNA-Produktion nicht nur auf die Verstrickungen der Figuren innerhalb der Fiktion, sondern auch auf die affektiven Dynamiken der Performer*innen untereinander ein. Vgl. dazu Mühlhoff 2019. Manche Forscher*innen legen Wert auf die Differenz von Aufführungsanalyse und Inszenierungsanalyse (vgl. Balme 1999, 87-101): Während in der Inszenierungsanalyse die Konzeption des auf der Bühne Gezeigten, also das im Probenprozess Erdachte und Erarbeitete im Vordergrund steht, geht es in der Aufführungsanalyse um die Erlebnisse und Deutungen im Hier und Jetzt des einzelnen performativen Ereignisses. Wir argumentieren im Folgenden, dass beide Perspektiven insbesondere in Bezug auf immersives Theater weniger klar zu unterschieden sind, da, wie ausgeführt, die Inszenierung sich nur aus der Zusammenschau aller Proben und Aufführungen bestimmen ließe.

Polyperspektivische Aufführungs- und Inszenierungsanalyse

aber dazwischen eine ganze Menge Spielraum für innerdiegetische Veränderungen der Figuren wie auch für die Mitgestaltung und Einflussnahme des Publikums. Als konkretes Beispiel möchten wir eine Situation anführen, die Doris Kolesch während ihres Besuchs am 9.1.2016 mit Justinus Sohn (Lukas Steimer) im Büro für interne Gesetze erlebt hat: Doris Kolesch fragte Justinus Sohn, warum die Schuld-Puppe, die man als Zuschauer*in auf den Arm nehmen sollte, schwarz ist und ob hier ein rassistischer Hintergrund anzunehmen sei. Justinus Sohn hat dies in der Situation verneint, in der nachfolgenden Vorstellung am 10.1.16 – vor gänzlich anderem Publikum – dieses Argument dann aber gleich vorwegnehmend entkräftet, indem er darauf verwies, dass manche Neu-Angestellte monieren würde, es handele sich bei der Puppe um eine schwarze Stellvertreter-Person, die Hautfarbe der Puppe habe aber nichts und schon gar nichts Rassistisches zu bedeuten, da uneingeschränkt gelte: »bei Söhne & Söhne sind alle gleich!« Als weiterer Aspekt der Entgrenzung der Aufführung im immersiven Theater à la SIGNA können zudem die sogenannten »Special Hours« genannt werden, in denen die Aufführung gleichsam über den festgelegten Aufführungszeitraum hinausgreift. Im Fall von Söhne & Söhne fand dies nur bedingt statt, indem man nach Beendigung des Abschlussrituals ein Kuvert mit dem söhnlichen Namen, einem Bonbon und einer Telefonnummer erhielt. Den Bonbon sollte man zu einem festgelegten Zeitpunkt lutschen und die Telefonnummer anrufen. Im Verlauf anderer Produktionen von SIGNA wie Wir Hunde (Wien 2016), Das Heuvolk (Mannheim 2017) oder Das halbe Leid (Hamburg 2017/18) fanden dagegen Treffen von Darsteller*innen (im Horizont ihrer Figuren) mit ausgewählten Besucher*innen außerhalb des Spielortes und nach Ende der jeweiligen Aufführung statt. Die »Special Hours« werden zumeist inhaltlich begründet. So ging es bei Wir Hunde z.B. darum, die Gastfreundschaft, die die Zuschauer*innen innerhalb der Fiktion des Aufführungsbesuchs erleben, konkret zurückzugeben, indem sie Hundsch-Familien12 zu sich in ihre privaten Wohnungen einladen.

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In SIGNAs Wir Hunde geht es um die Transspezies »Hundsch«, genauer: um Hunde, die im Menschenkörper geboren wurden und nun in Familien leben, die sie – nach einer Abrichtung zum Zwecke der Domestizierung – so akzeptieren wie sie sind. Das SIGNAPublikum besucht in diesem Fall einen fiktiven Tag der offenen Tür des Vereins »Canis Humanus« und ist eingeladen, die Familien mit ihren Hundschen näher kennenzulernen.

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Abbildung 2: Die »Schuld«-Puppe im Büro für interne Gesetze in SIGNAs Söhne & Söhne (Foto: Erich Goldmann).

Abbildung 3: Ronda und Justinus Sohn (Anne Hartung und Lukas Steimer) im Büro für interne Gesetze in Söhne & Söhne (Foto: Erich Gold-mann).

Polyperspektivische Aufführungs- und Inszenierungsanalyse

Diese Sonderfälle bezeugen nicht nur das Stattfinden weiterer, zur Inszenierung gehörender, entgrenzter Einzel-Aufführungen, sondern markieren auch das signifikante Ausgreifen und Nachleben von SIGNAs immersiven Performanceinstallationen: Die Aufführungen existieren über die institutionell gerahmte Aufführungszeit hinaus in der Lebenswelt der Zuschauer*innen weiter. Zum einen ganz konkret, indem die Performer*innen später noch einmal innerhalb der vier Wände oder anderer vertrauter Orte der Zuschauer*innen wie Lieblingscafés o.ä. die Fiktion in die Lebenswelt der Zuschauer*innen tragen und zum anderen aufgrund der Tatsache, dass sich wegen der Disparatheit der Aufführungserfahrungen ein verstärkter und langandauernder Austausch unter den Zuschauer*innen beobachten lässt13 . So erfährt man im Gespräch nach der Aufführung etwas über jene Stationen, die man selbst nicht erlebt hat, weil sie im individuellen Zeitplan auf dem Bewertungsbogen ausgespart wurden, oder gleicht mit anderen Besucher*innen die Erfahrungen und Emotionen in konkreten Situationen (wie z.B. beim Abschlussritual) ab. Damit setzt sich die Aufführung in individuellen Nachgesprächen wie auch in vom Theater organisierten Publikumsgesprächen im Grunde noch fort und führt ein aktives Nach- und Weiterleben. Methodisch wäre daraus der Schluss zu ziehen, insbesondere für Formen immersiven Theaters nachfolgende Aufführungsgespräche (ob offiziell vom Theater unter Beteiligung von künstlerisch Verantwortlichen organisiert oder einfach innerhalb von Freundes- und Bekanntengruppen nach Aufführungsbesuch entstehend) stärker als bislang üblich als Materialien für aufführungsanalytische Untersuchungen zu nutzen bzw. auch zum Zwecke der Untersuchung zu organisieren und auszuwerten, da hierbei häufig Besucher*innen ihre Perspektive bzw. ihr Erleben der Aufführung zu verbalisieren suchen.14

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Diese Erkenntnis geht aus den geführten Interviews hervor. Immer wieder wird dort bekräftigt, wie lange und mit wie vielen verschiedenen Menschen sich im Anschluss an die Aufführung noch über die gemachten Erfahrungen und Eindrücke ausgetauscht und verständigt wurde. Zur Untersuchung von Pausengesprächen aus gesprächsanalytischer Perspektive vgl. Linz/Hrncal/Schlinkmann 2016. In der Theaterwissenschaft erkunden inzwischen einige Forscher*innen Möglichkeiten des analytischen Einbezugs von Publikumsgesprächen, Workshops sowie kreativen Publikumsaktivitäten, welche in Relation zur Aufführung stehen, vgl. hierzu exemplarisch Reason 2012 und Reason 2019.

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Formale Kriterien von Polyperspektivik im immersiven Theater In dem Maße, in dem sich SIGNA-Besucher*innen in Nachgesprächen über die Fiktion verständigen und über gemachte Erfahrungen austauschen, erfassen sie weitere Elemente der Fiktion wie auch jeweils individuelle Strategien, als Zuschauer*in mit solchen Theaterformen umzugehen. Polyperspektivik ist jedoch nicht nur als die Mehrstimmigkeit der beteiligten Zuschauer*innen zu begreifen, deren verschiedene Aufführungserfahrungen (ex post) zusammengetragen werden, sondern unseres Erachtens bildet das Polyperspektivische ein entscheidendes Formmerkmal von immersivem Theater. 1. Multi- und Polyperspektivismus bezeichnet in der Narratologie verschiedene »Verfahren, durch die ein Geschehen, eine Epoche, eine Figur oder ein Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschrieben wird.«15 SIGNAs Theater-Welten sind voll von Erzählungen, Geheimnissen, Geschichten, Mythen, Anekdoten und persönlichen Vignetten. Sie bilden das Fundament der Fiktion, die einer jeden SIGNA-Produktion ihren je inhaltlichen Rahmen gibt, und sie sind auch das Repertoire für die Selbst- und Fremderzählungen sowie habituellen Verkörperungen der fiktiven Figurenbiografien. Die Welt von Söhne & Söhne kennenzulernen, heißt für das Publikum, Geschichten, Gesprächen und Erzählungen zu lauschen sowie Räume, Szenen und Interaktionen körperlich selbst zu erleben und erkunden. Auf der Ebene der Diegese verfolgen wir als Zuschauer*innen im Verlauf der Aufführung viele verschiedene, figurengebundene Perspektiven auf den gestalteten Mikrokosmos von »Söhne & Söhne«. Erst über die verschiedenen Konstellationen, Gespräche, Simulationsübungen und Begegnungen fächert sich nach und nach ein erfahrungsbasiertes Verständnis auf, um was für ein Unternehmen, um was für eine Gemeinschaft es sich bei »Söhne & Söhne« handeln könnte. Die Welt von Söhne & Söhne zu überblicken oder gar zu erfassen, ist für die Besucher*in zu Beginn völlig unmöglich, vielmehr muss er/sie vermittelt durch Einzelperspektiven der Figuren, durch Raum- und Atmosphärengestaltung und die verschiedenen Interaktionsmodi diese nach und nach im Modus der Relationalität aktiv selbst erschließen. Je nachdem, mit welcher Figur wir den intensivsten Austausch pflegen – sie wird unseren Blick auf das Gesamtgeschehen maßgeblich beeinflussen; je nachdem, ob wir bei Söhne & Söhne eher mit den opportunen Gefolgsleuten oder mit den wenigen dissidenten Figuren unsere Zeit verbringen, wird das Einfluss auf unsere Wahrnehmung der fiktiven Gemeinschaft 15

Nünning/Nünning 2000, 13.

Polyperspektivische Aufführungs- und Inszenierungsanalyse

nehmen. Denn zur Form von SIGNAs immersivem Theater mit seinem detailreichen und vielfach verknüpften narrativen Netz gehören die verschiedenen Erzähl-Stimmen, die ihre Geschichten und Erlebnisse mit uns – im Modus der Fiktionalisierung – teilen. Narratologisch gesprochen ist der Zugriff auf diese Welt per se ein polyperspektivisch vermittelter. 2. Während mit dem Begriff der Perspektive in der Narratologie vornehmlich eine spezifische Erzähl(er*innen)position adressiert wird, die es für die Vermittlung der erzählten (oder wie in unserem Falle: dargestellten und verkörperten) Welt braucht, ist der Begriff der Perspektive in der Kunstgeschichte viel stärker auf seine etymologische Dimension des Wahrnehmens, auf einen subjektbezogenen, primär visuellen Blickwinkel auf die Welt bzw. die Darstellung von Welt bezogen. Das Entscheidende am immersiven Theater von SIGNA im Hinblick auf die Betrachterperspektive ist nun, dass die durchgestaltete Welt der Fiktion gerade nicht – wie im traditionellen bürgerlichen Theater mit seiner Trennung von Zuschauerraum und Bühne – primär audiovisuell aus einer distanzierten, körperlich weitgehend stillgestellten und nicht veränderbaren räumlichen Position heraus betrachtet wird, sondern in körperlicher Eigenbewegung mit allen Sinnen und aus den verschiedensten nicht nur Blickwinkeln, sondern auch kinästhetischen Erkundungen und Erfahrungen innerhalb der gestalteten Räume wahrgenommen werden kann (und muss). Die Zuschauerposition bei SIGNA ist keine des Überblicks, sondern eine radikal partikulare, changierende und teilnehmende Position innerhalb einer (zunächst) unbekannten geschlossenen Fiktion, die uns ein- und umschließt. Die Welt von Söhne & Söhne ist buchstäblich eingerichtet, nicht um angeschaut, sondern um aktiv begangen, erlebt, gespürt, entdeckt und ausgehandelt zu werden. Zuschauer*innen müssen in ihr navigieren, sich orientieren und verschiedene Perspektiven ausprobieren. Die Wahrnehmung dieser gestalteten Welt erfolgt keinesfalls nur visuell oder audio-visuell, sondern in hohem Maße ganzheitlich, als multisensorisches Erleben, das die in zahlreichen modernen europäischen Theaterformen weitgehend vernachlässigten Sinne des Haptischen, Olfaktorischen und Gustatorischen prominent adressiert. Auch insofern scheint es sinnvoll vom Polyperspektivischen dieser Theaterform zu sprechen. 3. Zum immersiven Theater gehören nicht nur die (polyperspektivischen) Erzählungen und Handlungen sowie Haltungen der Performer*innen vor dem Horizont ihrer Figuren und die Multisensorik der gestalteten Erfahrungsräume, sondern auch die verschiedenen Modi des Zuschauer*in-Seins. In diesem Zusammenhang muss zunächst betont werden, dass der Begriff

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des »Zuschauers« hier – analog zum Begriff der Aufführung – an seine Grenzen kommt. Zwar gibt es immer wieder auch Situationen, die man aus einer relativ sicheren, distanzierten Position heraus betrachten kann – vor allem Situationen, in denen andere Zuschauer*innen gerade aktiv eingebunden werden –, meistens changiert man allerdings zwischen verschiedenen Publikums-Modi: So sind wir als Besucherinnen der fiktiven Institution aktiv in ihre Aktivitäten eingebunden (z.B. die Spiele im Freizeitzentrum, die Simulationsübungen in der Krankenstation), werden zu persönlichen Gesprächspartnerinnen oder zu Zeuginnen einer Situation des gewalttätigen Machtmissbrauchs, der vor unseren Augen an einer Figur/einer Performerin begangen wird, oder bilden mit anderen Gästen eine kurzfristige Erlebnisgemeinschaft. Bisweilen – denn auch dafür gibt es bei SIGNA Freiräume – werden wir gar zu aktiven Mitspielerinnen, erfinden eigene Rollenentwürfe einer Neu-Angestellten mit fiktiver Biografie, aus deren Perspektive heraus wir in die Begegnungen mit den Performer*innen treten. Die (möglichen) Modi des Zuschauer*in-Seins bei SIGNA sind zwar in Teilen dramaturgisch gerahmt (wie die Setzung »Neu-Angestellter« am ersten Arbeitstag zu sein), sind aber in ihren individuellen Strategien der Umsetzung nicht festgelegt, sondern ergeben sich je Zuschauer*innen-Konstellation pro Aufführungsabend immer wieder neu. Der Wechsel zwischen denkbaren Modi der Involvierung oder Interaktion seitens des Publikums ermöglicht in Kombination mit der relationalen und multisensorischen Anlage der Theaterform einen – im Vergleich zu »klassischen« Theaterformen – markant polyperspektivischen Modus der Rezeption. Vor allem auch dann, wenn man unter Perspektive – wie im alltäglichen Sprachgebrauch – einen Standpunkt meint. 4. Ein wirkungsästhetisches Potential von immersivem Theater besteht nicht zuletzt darin, dass man als teilnehmende Besucher*in der fiktiven Welt Anteil an subjektiven und kollektiven Perspektiven nehmen kann, die einem aus der eigenen Lebenswelt eher fremd sind. So können wir mit unserer Teilnahme an Söhne & Söhne Einblick in eine (fiktionalisierte Version) einer sektenähnlichen Gemeinschaft erhalten, die uns u.U. mit Sichtweisen konfrontiert, die sich mit unseren eigenen Lebenserfahrungen, Werten und Gefühlsregeln nicht in Einklang bringen lassen und dann mitunter in situ ausgehandelt (oder verteidigt) werden müssen. In solchen Situationen kann immersives Theater zu einem Möglichkeitsraum der Einübung sowohl in potentiell »andere« Standpunkte werden als auch in die Flexibilität, sich auch auf »andere« Standpunkte einzulassen. Dies umfasst auch die bereits genannte Ebene

Polyperspektivische Aufführungs- und Inszenierungsanalyse

des aktiven Mitspielens und der Selbstfiktionalisierung. Als Teilnehmer*innen von Söhne & Söhne haben wir immer wieder situativ die Möglichkeit, ein Spiel mit fiktionalisierten Mehrfach-Identitäten anzuzetteln. Besucher*innen können während der Aufführung kurzzeitig oder auch über den Verlauf der Aufführung zu jemand anderem werden, chamäleonartig verschiedene »Ichs« ausprobieren und experimentell überprüfen, wie andere darauf reagieren. Dadurch ergibt sich die spielerische Möglichkeit, im Schutzraum der – real erlebten und ausagierten – Fiktion temporär eine Perspektive – im Sinne eines Standpunktes – auszuprobieren, die aus dem eigenen Alltag unvertraut oder gar befremdlich erscheint, und auszutesten, wie sie sich anfühlt und wie das Umfeld situativ darauf reagiert.16 Dies darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass SIGNAs Arbeiten einen gleichsam problem- und voraussetzungslosen Identitätswechsel nahelegen würden – im Gegenteil: die performativen Prozesse und strukturellen, biografischen sowie affektiven Arrangements, die zur Ausbildung und Stabilisierung von Identitäten führen, werden in den szenischen Situationen verdichtet vorgeführt und intelligibel gemacht. Dass Identitätswechsel nicht beliebig vollzogen und Identitäten keinesfalls wie Kleider einfach an- oder abgelegt werden können, vergegenwärtigen unterschiedliche Gesprächs- und Interaktionstechniken, welche die Performer*innen gezielt einsetzen. So haben wir beide, Doris Kolesch während ihres Besuchs von Söhne & Söhne und Theresa Schütz bei einem Besuch von SIGNAs Ventestedet 2014 in Kopenhagen, gänzlich unabhängig voneinander eine vergleichbare Situation erlebt, als wir uns eine fiktive Persona zurechtgelegt hatten: Affektiv aufgeladene Gesprächssituationen mit Performer*innen und Zuschauer*innen hatten dazu geführt, dass wir je spontan aus der Perspektive einer fiktiven Persona antworteten und eine autoritär gefärbte Nachfrage mit der Nennung von erfundenen Namen, einer wahrscheinlichen, aber nicht persönlich zutreffenden Geschichte sowie einer ausgedachten Telefonnummer parierten. In beiden Aufführungen – und hier wird auch deutlich, inwiefern sich verschiedene SIGNA-Produktionen strukturell hinsichtlich der Strategien der

16

Die Zuschauer-Befragungen ergaben, dass fast die Hälfte (27 von 58) aller Befragten »während der Performance zwischen ich selbst und einem bzw. mehreren anderen ich/s« wechselten – hierfür gibt es also einen empirischen Nachweis. Mit einer im Vorfeld vorbereiteten Figur ging nur eine*r von 58 Zuschauer*innen in die Aufführung; 29 von 58 gingen »als sie selbst«; eine befragte Person hat an dieser Stelle keine Auswahl getroffen.

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Zuschauer*innen-Involvierung ähneln – wurden wir im Fortgang der Ereignisse überraschend ein weiteres Mal nach unserer Telefonnummer gefragt; ein durchaus wirksamer Test, den die Performer*innen nutzten, um uns Zuschauer*innen unter Druck zu setzen oder gar situativ vorzuführen. Nicht zuletzt wurde so gezeigt, dass der von zahlreichen Besucher*innen praktizierte Wechsel verschiedener Identitätsfacetten (siehe hierzu Anmerkung 16) bei SIGNA mehr und anderes ist als ein nur unverbindliches Spiel.17

Aus der Polyperspektive des Publikums Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen wird deutlich, wo die Herausforderungen einer Aufführungsanalyse von immersiven Theaterformen liegen. Geht man nur von seinen eigenen individuellen Aufführungserlebnissen aus, erfasst man damit faktisch nur einen äußerst singulären und partikularen Teil des Aufführungsgeschehens sowie der Inszenierung. Wählt man zudem für die Analyse z.B. Sequenzen aus, die kaum jemand sonst miterlebt hat oder die in anderen Aufführungen so schlicht gar nicht stattfanden, stellt sich die Frage nach der Repräsentativität der Studie. Auch muss thematisiert werden, mittels welcher Techniken und Verfahren Aufführungserfahrungen verbalisiert und be- bzw. erschrieben werden können, die in Teilen sehr persönlich und intim waren.18 Da sich die Aufführung in die verschiedenen Einzel-Aufführungen entlang der verschiedenen Weisen der Zuschauer*innen-Involvierung auffächert, liegt es nahe, zunächst Aufführungserfahrungen anderer Zuschauer*innen mit in die eigenen Überlegungen und Analysen einzubeziehen, den eigenen Standpunkt der Betrachtung zu diversifizieren und Erfahrungspluralitäten zu berücksichtigen. Im Kleinen machen wir das bereits, indem wir diesen Beitrag zu zweit schreiben. Darüber hinaus haben wir im Rahmen unseres Forschungsprojekts mit Strategien empirischer Zuschauerforschung experimentiert und exemplarische Aufführungsanalysen erprobt, 17

18

Hier scheinen Parallelen auf zwischen Identität und Geschlecht, die jeweils durch die Wiederholung performativer Akte hervorgebracht und stabilisiert werden: auch Judith Butlers Theorie der Performanz (Butler 1991) von Geschlecht wurde bisweilen so missverstanden, als könnten Subjekte ihr Geschlecht frei wählen, wodurch die von Butler durchaus betonte subjektive Handlungsfähigkeit überbewertet und die Wirkmächtigkeit sozialer Regeln, Institutionen und Konventionen unterbewertet wurde. Vgl hierzu den Vorschlag von Anna Gibbs: »Writing as Method« (Gibbs 2015).

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bei denen z.B. nicht nur die eigenen Thesen in Bezug zur jeweiligen Fragestellung analytisch bestätigt, sondern in einen Dialog mit divergierenden oder ergänzenden Positionen und Thesen anderer Zuschauer*innen gestellt werden. Eine polyperspektivische Aufführungs- und/oder Inszenierungsanalyse bietet sich an, wenn es um rezeptions- und wirkungsästhetische Fragestellungen geht. So lassen sich z.B. Analysen dominanter Wahrnehmungsdispositive innerhalb eines SIGNA-Aufführungsblocks unter Einbezug qualitativer Interviews auf eine empirische Basis stellen. Das griechische Präfix poly- impliziert neben einer qualitativen Vielheit der Stimmen auch die Dimension der Quantität, der Häufigkeit und Wiederholung. Vor diesem Hintergrund lässt sich mit einer polyperspektivischen Form der Aufführungsanalyse z.B. auch die theoretische Frage verfolgen, inwiefern die gemachten Zuschauer*innen-Erfahrungen in SIGNA-Aufführungen möglicherweise gar nicht so individuell oder »singulär« – um auf Reckwitz’ Sozialtheorie der Gesellschaft der Singularitäten (2017) zu verweisen – verlaufen, wie man vielleicht intuitiv annehmen könnte, sondern dass es in einem überraschend hohen Maße Parallelen und Ähnlichkeiten in der Wahrnehmung, Ausführung, Erinnerung und Interpretation gibt. Für Fragen der Polyperspektivik scheint nicht zuletzt erwähnenswert, dass der theoretisch wie praktisch mögliche Spielraum des Handelns und Re-Agierens seitens der Zuschauer*innen in Aufführungssituationen selten ausgeschöpft wird.19 Dies mag nicht zuletzt mit der Komplizenschaft der Besucher*innen zu tun haben, die sich durchaus auch für das Gelingen und die reibungslose Durchführung einer Aufführung mitverantwortlich fühlen, sowie mit einer gewissen Beharrungstendenz von leiblich verankerten Emotionsrepertoires und affektiven Dispositionen.

19

Zahlreiche Interviews mit Performer*innen legen nahe, dass es ein durchaus überschaubares, ja relativ begrenztes Set bzw. Repertoire von Verhaltensweisen seitens der Besucher*innen gibt, sodass erfahrene Performer*innen mit einer gewissen Sicherheit in Situationen der offenen Interaktion gehen können, insofern das Zuschauerhandeln zwar nicht im Einzelnen antizipierbar ist, aber doch nur selten einen gewissen Handlungs- und Erwartungshorizont übersteigt.

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Auch unsere Zuschauer*innen-Befragungen20 haben gezeigt, dass es einen relativ kleinen Kreis von (raumgebundenen) Schüsselszenen gibt, die von den meisten der befragten Zuschauer*innen als »markanteste Situation/Szene« erinnert wurden. Bei Söhne & Söhne (wie auch bei anderen SIGNA-Aufführungen) sind die Einlass- und/oder die gemeinschaftliche Abschlussszene die meist- und erstgenannten; es folgen – mit Blick auf Söhne & Söhne – die Krankenstation und die Abteilung für romantische Anliegen als jene zwei Stationen, innerhalb derer es zu besonders intensiven, emotionalen Begegnungen kam (je zehn Nennungen). Daran lässt sich u.a. ablesen, dass in diesen szenisch-situativen und sozial-relationalen Arrangements die Erfahrungsdichte, die als stark affektiv und besonders emotional erinnert wird, für viele Zuschauer*innen ganz unterschiedlicher Herkunft, Sozialisation, Alter oder Geschlecht ähnlich intensiv ist. Dies lässt wiederum Rückschlüsse auf dramaturgische und/oder ästhetische Besonderheiten in der Gestaltung und Inszenierung zu. Auch wenn bestimmte Re-Aktionen von Zuschauer*innen und auch bestimmte Wirkungen – wie gezielte Einschüchterung im Büro für interne Gesetze, das viele Zuschauer*innen an diktatorische Machtstrukturen denken ließ – innerhalb des relationalen Settings nicht determiniert sind, lässt sich über einen polyperspektivischen Zugriff sehr wohl ästhetisch (durch Analyse der Szenografie) wie auch empirisch (durch qualitative Interviews) nachweisen, welche Wirkungen das SIGNAsche Dispositiv zeitigt – und zwar nicht nur individuell, sondern auch dividuell21 , womit mit Michaela Ott eine Radikalisierung von Individuationsprozessen gemeint ist, die die unhintergehbare Verflochtenheit mit anderen und anderem betonen: 20

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Nach verschiedenen Vorstellungen von Söhne & Söhne in der Zeit von Anfang November 2015 bis Mitte Januar 2016 wurden insgesamt 80 Fragebögen verteilt; der Rücklauf lag bei 58 Bögen. Der Kreis der Befragten hat 21 verschiedene Aufführungen gesehen und besuchte die Aufführung zu 48 % in Begleitung. Das Alter der Befragten spannt sich von 18 bis 76 Jahren auf, wobei die Zuschauer*innen zwischen 20 und 40 Jahren die Mehrheit bildeten. 38 von 58 Zuschauer*innen waren das erste Mal in einer SIGNAPerformanceinstallation. Die Fragebögen für Söhne & Söhne kombinierten offene Fragen, die zur eigenen Beschreibung (z.B. einer Szene) einluden, mit Fragen, bei denen drei bis fünf mögliche Antworten vorgegeben waren. Für weitere Zuschauerbefragungen z.B. nach SIGNAs Das Heuvolk oder Wir Hunde wurde der sowohl quantitativ wie auch qualitativ ausgerichtete Fragebogen in beratender Abstimmung mit den Soziolog*innen Antje Kahl, Coline Kuche und Christian von Scheve aus dem SFB Affective Societies um Fragen mit numerischen Skalenvorgaben erweitert. Vgl. Ott 2015.

Polyperspektivische Aufführungs- und Inszenierungsanalyse

»Vor allem aber müssen wir erkennen, dass wir längst keine Individuen, keine Ungeteilte mehr sind und vermutlich nie gewesen sind. Wir sollten von der (sic!) entsprechenden Begrifflichkeiten wie den damit einhergehenden Imaginationen Abstand nehmen und uns dazu bekennen, dass wir notwendig Geteilte, verschiedene Ausprägungen von Dividuationen sind. Denn die Vorstellung von Individuen ruft eine erkenntnistheoretisch nicht mehr angemessene Perspektivierung der Welt auf.«22 In den nach der Aufführung geführten Gesprächen und Interviews zeigte sich auch, wie im Falle von Söhne & Söhne die Kombination aus multisensorischer Szenografie, vielfältigen Involvierungsstrategien sowie am eigenen Leib erfahrenen Wirkungen inner- wie extradiegetischer »affektiver Arbeit«23 an der fiktiven wie realen Gemeinschaft dazu geführt hat, dass (und wie) Zuschauer*innen ex post über emotionale Manipulation, Autoritäten und den eigenen Hang zum Opportunismus reflektierten.

Chancen und Grenzen einer polyperspektivischen Aufführungsanalyse Resümierend sind mithin folgende Herausforderungen festzuhalten, die immersive Theaterformen wie diejenigen von SIGNA an aufführungsanalytisches Arbeiten stellen: Zunächst ist das Paradox zu konstatieren, dass sich die Aufführung im Singular als bisher zentraler Untersuchungsgegenstand der Aufführungsanalyse auflöst und an die Stelle der einen Aufführung eine konzeptionell und dramaturgisch bedingte Serialität potential unendlicher Aufführungen tritt, bei gleichzeitig radikaler struktureller Singularität der Aufführungserfahrung. Zudem adressieren immersive Theaterformen nicht nur audiovisuelle Rezeptionsweisen, sondern richten sich an alle Sinne und an eine ganzheitliche, potentiell alle kognitiv-psychischen wie körperlich-physischen Vermögen des Menschen involvierende Wahrnehmung, deren konkrete leibliche Situiertheit dadurch betont wird, dass alle Re-Aktionen, Handlungs- und Verhaltensweisen wie auch Artikulationen der Besucher*innen integraler Bestandteil des Aufführungsgeschehens – und nicht nur des Rezeptionsgeschehens – sind. Hatte Helmuth Plessner die differentia specifica des Schauspiels im Vergleich 22 23

Ott 2016, o.S. Hardt 1999, 426.

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zu anderen Künsten darin begründet, dass ersteres im Medium und »Material der eigenen Existenz«24 stattfinde, könnte man in Analogiebildung zu dieser Aussage formulieren, dass die Besonderheit immersiver Aufführungserfahrungen darin begründet liegt, dass die ästhetische Erfahrung sich hier als soziale Interaktion und in einer sozialen Situation mit anderen (sowohl Performer*innen wie anderen Zuschauer*innen) vollzieht, in der etablierte ästhetische Kategorien des Als-ob und der Konsequenzverminderung nicht mehr oder nur bedingt gelten. Darüber hinaus multiplizieren immersive Theaterformen à la SIGNA nicht nur die Erzählinstanzen und Erzählperspektiven der fiktiven Narration, so dass rhizomatisch verzweigte Netzwerke von Geschichten und parallelen Figurendramaturgien entstehen, sondern die Polyperspektivik wird auf der Seite der Besucher*innen fortgesetzt und potenziert, indem unterschiedlich vorgeschriebene Parcours, wechselnde Besuchergruppierungen sowie dramaturgische Mittel wie One-on-Ones eine radikale Singularität der Aufführungserfahrung provozieren, die über die immer anzunehmende individuelle Prägung jeder Aufführungserfahrung insofern hinausgeht, als im Falle des immersiven Theaters auch die jeweils zu erlebende Aufführung – anders als in den meisten Theater- und auch Performance-Formen – sich grundsätzlich von derjenigen Aufführung unterscheidet, welche die anderen Mit-Besucher*innen erleben können. An die Stelle der einen Aufführung am jeweiligen Abend tritt so eine Vielzahl dramaturgisch und ästhetisch ähnlicher, aber doch gänzlich unterschiedlicher und nur bedingt vergleichbarer Aufführungen. Wir schlagen eine polyperspektivische Aufführungsanalyse als Reaktion auf diese strukturelle Verfasstheit immersiver Theaterformen vor. Eigene Aufführungserfahrungen, der Austausch anderer Aufführungserfahrungen in Nachgesprächen u.ä. sowie der Einbezug von Wahrnehmungserfahrungen, die durch Fragebögen, strukturierte Interviews und andere geeignete Formate eingeholt werden, können dazu beitragen, die notwendige Polyperspektivik exemplarisch aufzuzeigen und zu vergegenwärtigen. Immersive Theaterformate potenzieren eine Doppeladressierung, die in der Funktion der Theaterzuschauerin grundsätzlich angelegt ist: Sie ist Zeugin des Aufführungsgeschehens und zugleich diejenige, für die alles stattfindet – der dadurch aufgespannte Raum der wechselseitigen Vergleiche von Wahrnehmungen, der Verständigung über das Wahrgenommene wie über 24

Plessner 1979, 208.

Polyperspektivische Aufführungs- und Inszenierungsanalyse

den Prozess des Wahrnehmens selbst in Beobachtung eigener wie fremder Re-Aktionen wird im immersiven Theater in penibel gestalteten und realisierten fiktiven Welten in sozialer Interaktion erkundet. Die damit verbundene Pluralität und Dynamik der Aushandlung, der Thematisierung und beständigen Hinterfragung von Rezeptions- und Verhaltensweisen und deren komplexen Dispositiven können durch polyperspektivische Aufführungs- und Inszenierungsanalysen exemplarisch vergegenwärtigt werden. Den in wissenschaftlichen Kontexten häufig mitschwingenden Anspruch auf Vollständigkeit kann auch die polyperspektivische Aufführungsanalyse nicht befriedigen.

Literatur Balme, Christopher (1999): Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin: Schmidt. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gibbs, Anna (2015): »Writing as Method: Attunement, Resonance, and Rhythm.« In: Knudsen, Britta Timm/Stage, Carsten (Hg.): Affective Methodologies. Developing Cultural Research Strategies for the Study of Affect. Houndmills u.a.: Palgrave Macmillan, 222-236. Hardt, Michael (1999): »Affektive Arbeit.« In: Reckwitz, Andreas/Prinz, Sophia/Schäfer, Hilmar (Hg.): Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte der Soziologie und Kulturwissenschaften. Berlin: Suhrkamp, 425-434. Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (2019): »Affective dynamics in the theatre: towards a relational and poly-perspectival performance analysis.« In: Kahl, Antje (Hg.): Analyzing Affective Societies: Methods and Methodologies. London, New York: Routledge, 214-229. Linz, Erika/Hrncal, Christine/Schlinkmann, Eva (2016): »Foyergespräche im Theater. Interaktionale Aneignungspraktiken des Publikums.« In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) 46/182, 523-546. Mühlhoff, Rainer (2019): »Dark immersion: some thoughts on SIGNAs Wir Hunde/Us Dogs«. In: Kolesch, Doris/Schütz, Theresa/Nikoleit, Sophie (Hg.) (2019): Staging Spectators in Immersive Performances: Commit Yourself! London, New York: Routledge, 198-204. Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (2000): »Von ›der‹ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte: Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität.« In: Dies. (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspekti-

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venstruktur im englischen Roman des 18. und 20. Jahrhunderts. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 3-38. Ott, Michaela (2015): Dividuationen. Theorien der Teilhabe. Berlin: b_books.  Ott, Michaela (2016): »Es lebe die Dividuation! Zur Notwendigkeit anderer Denkkonzepte angesichts zeitgenössischer Teilhabepraktiken«. In: www.yeast-art-of-sharing.de/wp-content/uploads/2016/05/MichaelaOtt_Es-lebe-die-dividuation.pdf [11.11.2019]. Plessner, Helmuth (1979): »Zur Anthropologie des Schauspielers«. In: Ders.: Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 205-219. Reason, Matthew (2012): »Writing the Embodied Experience: Ekphrastic and Creative Writing as Audience Research«. In: Critical Stages 7, o.S. Reason, Matthew (2019): »Participatory audiencing and the committed return«. In: Kolesch, Doris/Schütz, Theresa/Nikoleit, Sophie (Hg.) (2019): Staging Spectators in Immersive Performances: Commit Yourself! London, New York: Routledge, 88-101. Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp. Schütz, Theresa (2019): »On the impossibility of being together. A conversation between performance artist Signa Köstler and Theresa Schütz«. In: Kolesch, Doris/Schütz, Theresa/Nikoleit, Sophie (Hg.) (2019): Staging Spectators in Immersive Performances: Commit Yourself! London, New York: Routledge, 52-57. Weiler, Christel/Roselt, Jens (2017): Aufführungsanalyse: Eine Einführung. Tübingen: Narr.

Bekommen alle das Theater, das sie verdienen? Übertragung und/oder/als Methode Eva Holling

»Wenn das gute Theater auf ein gutes Publikum angewiesen ist, dann hat jedes Publikum das Theater, das es verdient.«1 Auf diesem Satz von Peter Brook basiert einer der Lieblingsaussprüche Hans-Thies Lehmanns, der Verschiedenes durch ein einfaches »Jeder kriegt das Theater, das er verdient«, kommentiert. Einerseits interessiert mich an dieser Aussage die Frage nach der Verantwortung für die eigene ästhetische Erfahrung, und damit auch für die Analysen, die ich als Theaterwissenschaftlerin vornehme. Wie werde ich ein gutes Publikum? Und verdiene ich wirklich alles, was mir vorgesetzt wird? Und wie ist es mit der Wissenschaft – verdienen andere das, was ich verzapfe? Kriegen alle die Theaterwissenschaft, die sie verdienen? Aber noch etwas fällt mir heute an diesem Satz auf: das Verb verdienen – ein ökonomisch konnotiertes Wort; verdienen möchte ich eigentlich am liebsten genug. Ich möchte also im Folgenden die Frage nach der Verantwortung für die eigene ästhetische Erfahrung eng verknüpfen mit der Frage nach der Verantwortung für die Analyse der Aufführung. Die dabei diskutierte Perspektive der Übertragungstheorie stellt beide Verantwortungen in den Fokus (interund intra-)subjektiver Begehrensstrukturen, d.h. von Subjekten, die anscheinend »etwas verdienen wollen«. Kontexte der Übertragung können für diese Haltung der Gewinnmaximierung sensibilisieren. Grundlegend ist dabei, Theater nach wie vor als intersubjektiven Vorgang, als eine Konstellation zwischen Bühne und Publikum zu verstehen. Bühne – so meine Setzung2 – meint kein bestimmtes architektonisches Setting, sondern vor allem eine vielfältige und jeweils sehr unterschiedliche Tätigkeit des Theatermachens und Publikum erinnert vor allem daran, dass innerhalb eines Theaterpublikums 1 2

Brook 1997, 27f. Vgl. Holling 2016.

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die eigene Wahrnehmung innerhalb einer öffentlichen Funktion geschieht.3 Verschiedene grundlegende Begriffe wurden für diese gemeinsame Verantwortung für den Theaterprozess geprägt, wie etwa »Konkretisation« (Patrice Pavis), »Ko-Präsenz« (Erika Fischer-Lichte), »Theatron-Achse« und »Situation als Kraftzentrum des Theaters« (Hans-Thies Lehmann), »Liveness« (Peggy Phelan), »spectateur postdramatique« (Cathérine Bouko) oder auch »Kollektivität als Wirklichkeit der Praxis« (Kai van Eikels), um nur eine Auswahl zu nennen.4 Jedoch: wer ist denn da eigentlich kopräsent und wie? Publikum und Bühne benennen hauptsächlich Funktionen – bzw. spannen Menschen und ihre Tätigkeiten in Funktionen ein. Die genannten Ansätze verhandeln diese Funktionen und auch Tätigkeiten, vernachlässigen aber die Definition der Menschen, die diese einnehmen. Wenn sich ein Publikum nun aus psychoanalytischer Sicht aus begehrenden Subjekten zusammensetzt: wie wirkt das, was auf der Bühne passiert, auf sie bzw. wie wirken sie zurück, wie und was wird gemeinsam erschaffen? Meine Antwort darauf lautet zunächst: es findet gegenseitige theatrale Interpellation statt, d.h. im Theater passieren maßgeblich Subjektivierungsvorgänge. Dieses Konzept basiert auf den »Rapporten« zwischen Subjekten5 und stützt sich auf eine Verknüpfung Lacanianischer Übertragungstheorie und Althussers Anrufung im Kontext der Ideologie. Verschiedene theatrale Interpellationen können durch Sprache sowie durch alle anderen theatralen Mittel, als Verfahren, ausgeführt werden. Der Fokus liegt dabei auf der (künstlerischen) Arbeit mit der Struktur gegenseitiger Adressierung, die gelingt, weil sich in begehrenden Subjekten eine Disposition dazu findet, sich angesprochen zu fühlen. Präfigurationen, die dieser Arbeit vorausgehen, sowie jeweilige (imaginierte?) Profitversprechen sind zu betrachten: Wie steht es um die eigenen Unterstellungen den anderen gegenüber und inwieweit kollektivieren sich diese – sowohl beim Theaterschaffen als auch in der Rezeption? Interpellationsvorgänge finden sich allerdings nicht nur im Theater oder in der Kunst, besonders auch im analytischen Text zeigen sich Phänomene der Übertragung und Subjektivierung, die immer auch mit Fiktionalisierung und Funktionalisierung einhergehen, und mit denen mitunter auch bewusst 3 4 5

Publikum als »wesentliches Merkmal der Aufführung« ist immer auch sein »Öffentlichkeitscharakter« (Fischer-Lichte 1983, 16). Vgl. Pavis 1988; Fischer-Lichte 2004; Lehmann 2004 u. 1989; Phelan 1993; Bouko 2010; van Eikels 2013. In der psychoanalytischen Theorie ist der Begriff Rapport, frz.f. Verhältnis, Beziehung geläufig. Vgl. dazu Lacan 1966, 216.

Bekommen alle das Theater, das sie verdienen?

operiert wird. Wirkungsmethoden interessieren hier also sowohl in der Theatersituation als auch in der Aufführungsanalyse. Letztere, so meine Prämisse, kann als eine wesentliche Methode der Theaterwissenschaft gelten, wobei die beiden analytischen, als Gegenpole aufgebauten Verfahren (semiotisch und phänomenologisch) in der Übertragungsperspektive als zusammenwirkend begriffen werden. Damit ist sie ein dritter Ansatz der Aufführungsanalyse, der die Auflösung der Dichotomie vornimmt. Es gilt also, Wirkungsprozesse im Theater und in der Analyse zu beschreiben und Übertragung als Methode von Interpellation zu befragen. Nun werden Methoden zumeist als zielgerichtet definiert, wie bei Johannes Schilling: »Methode ist das planmäßige Vorgehen zur Erreichung eines Zieles.«6 Auch die Unterscheidung zwischen Konzept, Methode und Verfahren7 basiert auf einer Präfiguration von Zielen und Plänen. Dies bringt jedoch bereits ein Problem mit sich, wenn es um die Analyse von Kunst und Ästhetik gehen soll, denn der Wirkungsbegriff muss dort offen gedacht werden. Jacques Rancière etwa verneint ein direkt effektives Verhältnis zwischen Bühne und Publikum: »Die ästhetische Wirksamkeit bedeutet eigentlich die Wirksamkeit der Aufhebung jedes direkten Verhältnisses zwischen der Erschaffung von Kunstformen und der Erzeugung einer bestimmten Wirkung auf ein bestimmtes Publikum.«8 Zudem ist bei ihm der Appell zu finden, »Netz[e] von Vorannahmen«9 , unter denen Theater gemacht und erfahren wird, kritisch zu untersuchen, anstatt ihnen zu folgen. Wie ist dies nun mit einem Methodenbegriff überhaupt vereinbar, und welche wären formulierbare Ziele? Außerdem: wenn theatrale (und analytisch-wissenschaftliche) Interpellation wirksam sein soll, wie kann sie dann gleichzeitig offen oder indirekt operieren? Diese Fragen hängen eng mit dem Begriff des Verdienens zusammen: Der income wird anhand der Präfiguration und Erwartung berechnet, wie nah die erfolgreiche Methode dem Ziel kommt. Diese Prämissen

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Schilling 1993, 65. »Unter Konzept verstehen wir ein Handlungsmodell, in welchem die Ziele, die Inhalte, die Methoden und die Verfahren in einen sinnhaften Zusammengang gebracht sind. […] Methoden sind […] (konstitutive) Teilaspekte von Konzepten. Die Methode ist ein vorausgedachter Plan der Vorgehensweise. […] Während Methoden einen systematisierten Komplex von Vorgehensweisen darstellen, sind Verfahren Einzelelemente von Methoden. In gleicher Weise ist der Begriff der Technik in unserem Zusammenhang zu verstehen.« (Geißler/Hege 1991, 25-29.) Rancière 2008a, 71. Rancière 2008, 17.

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und Grundfragen sollen nun dazu dienen, den (Eigen-)Verantwortungen auf die Schliche zu kommen, wenn mitunter auch unbewusste Vorgänge diese Verantwortungen tragen.

Übertragung Das psychoanalytisch geprägte Konzept der Übertragung liefert ein Vokabular dafür, Theater als intersubjektiven Vorgang näher zu beschreiben. Subjekte werden dabei als begehrende vorausgesetzt, woraus sich die Prämisse ergibt, dass Unterstellung, bzw. Fiktion bei subjektiver Erfahrung und Wahrnehmung als Normalzustand anzunehmen sind. Freud formuliert für Übertragung zunächst einen Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart des Subjekts: »Eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig.«10 Daraus resultiert für ihn der Anspruch, gegenwärtige Gefühle und Situation abzugleichen, da beide nicht immer miteinander zu tun haben. Es wird viel gefühlt, das nicht direkt mit dem zusammenhängt, was gerade vorgeht. Diese Erkenntnis in der Psychoanalyse gemeinsam zu erarbeiten, ist Ziel, um etwa den Wiederholungszwang aufzubrechen. Hierbei stellt sich Übertragung sowohl als Hindernis als auch als psychoanalytisches Werkzeug heraus – womit noch ein weiterer Begriff des Methodenkontextes angesprochen wäre.11 Die Geschichte der psychoanalytischen Übertragung beginnt also mit der Erkenntnis, dass innerhalb der gegenwärtigen, subjektiven Wahrnehmung fiktionalisierende Anteile existieren, die wenig mit dem Gegenwärtigen zu tun haben – bzw. eben nur mit der gegenwärtigen subjektiven Wahrnehmung. Indem er den Vergangenheitsbezug in den Hintergrund stellt, erweitert Jacques Lacan Freuds Theorie und nennt die gegenwärtige intersubjektive Struktur, die diese fiktionalisierenden Anteile enthält, Übertragung. Dies veranschaulicht Lacan mit der Begegnung zwischen Alkibiades und Sokrates in Platons Symposion. Anhand Platons Textes beschreibt Lacan einen Sokrates, der sich genötigt fühlt, an sein Gegenüber zu appellieren: »Schau also, mein Bester, genauer hin, damit dir nicht entgeht, dass ich womöglich gar nichts bin.«12 Es geht Lacan um Übertragung als eine Struktur, die das

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Freud 1997b, 180. Vgl. Freud 1997, 426. Platon 2008, 71.

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Wahrnehmen und Handeln beeinflusst und dabei von einem (präfigurierenden?) Sehen geprägt wird, das mehr sieht, als da ist: Ein krea(k)tiver Vorgang. Nun ist die Problematik des Erkennens, was da ist, in vielerlei Hinsicht, wie etwa unter dem Stichwort subjektive Wahrnehmung, bereits diskutiert worden. Für die Übertragungsperspektive eignen sich die Begriffe Fiktion und Illusion jedoch besonders, um auf die Tragweite dieser Struktur hinzuweisen. Nikolaus Müller-Schöll argumentiert – ohne dabei ein explizites Interesse an Übertragung zu verfolgen – für Illusion als Modus der Wahrnehmung überhaupt, wenn er schreibt: »Illusion kann paradox als ›notwendiger‹ oder ›objektiver Schein‹ begriffen werden, als Verkennung der Wirklichkeit, die zugleich den einzig möglichen Zugang zu ihr darstellt.«13 Aus diesem Grund sagen Freud und Lacan mit Sokrates: »Schau genau hin«; und dieser Hinweis kann als methodischer Hinweis gelten. Ähnlich wie Müller-Schöll die Illusion für die Wahrnehmung allgemein postuliert, erweitert Lacan den Übertragungsbegriff über die Psychoanalyse hinaus, indem er feststellt, dass »es auch da, wo kein Analytiker am Horizont auftaucht, zu Übertragungsphänomenen kommen kann.«14 Gepaart mit der Erkenntnis, dass »Übertragung als eine Quelle von Fiktion im eigentlichen Sinne erscheint«, weil in ihr das Subjekt etwas »verfertigt, konstruiert«15 , bietet die Übertragung eine Perspektive auf performative Wirkungsstrukturen sozialer Vorgänge im Allgemeinen. Übertragung kann erklären, wie in Bereichen, in denen Sprache, Verkörperung und intersubjektives Zusammenspiel die gegenwärtige Situation beeinflussen, Fiktionalität und Phantasmatik aus der – intrasubjektiven – Struktur heraus Wirkung auf die gegenwärtige – intersubjektive – Situation ausüben. Dies trifft auf performative Bereiche innerhalb und außerhalb der Kunst zu, so etwa auf »Erfolgsmedien«, wie Niklas Luhmann Macht, Geld, Wahrheit oder Liebe bezeichnet.16 Dort bildet Übertragung die Grundlage für die Wirkung und wird auch häufig zum Werkzeug. Dies hängt mit einem strukturellen Machtgefälle zusammen, das sich durch Übertragung bildet und das genutzt werden kann. Lacan prägt die Begriffe agalma und sujet supposé savoir (s.s.s.), um auf dieses Machtgefälle und seine Konsequenzen hinzuweisen. Im

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Müller-Schöll 2007, 147. Lacan 1987, 131. Lacan 2008, 220. Luhmann 1997, 228.

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übertragenden Blick unterstellt das Subjekt etwas: das, was es in der gegenwärtigen Situation im Anderen sieht. Das ist bei Lacan zunächst agalma, etwas Wertvolles. Alkibiades sieht in Platons Text agalma in Sokrates, und diese Fiktionalisierung bestimmt das Verhalten beider. Im Laufe der Zeit definiert Lacan agalma genauer: Übertragung findet dann statt, wenn jemand einer anderen Person Wissen unterstellt und sie damit zu einem sujet supposé savoir (Subjekt, dem Wissen unterstellt wird) macht. Daraus erfolgt eine Struktur, die mit der von Liebe und Begehren übereinstimmt: Es stellt sich eine strukturelle Empfangsbereitschaft ein, die sich aus einem Hinzuverdienen-wollen speist. Dies ist die Disposition zur Interpellation. So fügt Lacans Sokrates, der das Funktionieren dieser Struktur zu hinterfragen sucht, seinem Appell hinzu: »[D]as, was du erhoffst, ist, dass das, wovon ich mich derzeit erfüllt fühle, in deine Leere übergehen wird, so wie das zwischen zwei Gefäßen geschieht, wenn man sich dafür eines Wollfadens bedient.«17 Es ist dies ein Machtgefälle, in dem das begehrende Subjekt den Worten des mit Wert belegten Gegenübers bereitwillig folgt, ja sogar vorauseilend. So wird Intersubjektivität aufgrund von Übertragungsprozessen immer von einem Potenzial zu Autorität und Macht begleitet: Das Interesse an Profit, am Verdienen im begehrenden Subjekt ist verantwortlich für seine freiwillige Unterwerfung (als assujet-tissement, Subjektivierung, wie Louis Althusser sagt18 ). Somit kann die Übertragungsstruktur als verantwortlich für das Funktionieren von Interpellation aufgefasst werden. Mehrere Konsequenzen sind daraus zu ziehen: Zunächst ist die strukturelle Überbewertung des Anderen wesentlich als Fiktion zu begreifen, die faktischen Ansprüchen nicht antwortet. Dann ist zu konstatieren, dass, wer in Übertragung gerät und Schätze im Gegenüber zu sehen in der Lage ist, von einer Position des Begehrens aus schaut. Dies hat wesentlichen Einfluss auf das zugrundeliegende Subjektverständnis. Und schließlich ist Übertragung als Grundlage für Subjektivierungsvorgänge gleichermaßen interessant für Theater als auch Theater-Analyse. Denn mit ihr sind immer die Performativität der Präfigurierung, Ziele und Erwartungen zu untersuchen, die aber als fiktional zu kennzeichnen wären und damit immer eine Offenheit beinhalten: Sie sind genuin unvorhergesehen, nicht nachvollziehbar, überraschend.

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Lacan 2008, 98. Vgl. Althusser 1976.

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… als Methode der Kunst Der Begriff der Interpellation wurde bislang erstaunlicherweise kaum mit Wirkungsweisen von Theater diskutiert. Patrice Pavis operiert damit, wenn er über das Verhältnis von Bühne und Publikum im Theater nachdenkt. Er benennt innerhalb seiner Lektüre von Enzo Cormann ein Missverständnis auf Seiten der Zuschauenden, das dazu führt, dass sie sich explizit persönlich angesprochen fühlen.19 Cormann schreibt von ergriffenen Zuschauenden (être pris), die sich plötzlich als Einzelne adressiert sehen: »[C]ette prise n’est-elle pas chaque fois malentendu, entendu-pour-soi, dans la secrète certitude que c’est à moi et à moi seul que ça s’adresse«20 – eine produktive Fiktionalisierung der Situation also, denn, wie bereits betont, niemand ist hier nur persönlich, sondern immer auch in der öffentlichen Funktion als Publikum gemeint. Nach Pavis ist diese Anrede, die als (zu) persönlich wahrgenommen wird, die »Anrede an sich selbst, die Althusser ›Interpellation‹ nannte.«21 Sie »repräsentiert die Signatur des Zuschauers im Werk, die Markierung der Wirkung, die diese auf ihn ausübt.«22 Pavis fokussiert bei der Interpellation also primär den Akt der Aneignung und Selbstversicherung, der in der Adressierung entsteht. Aber war dies das Ziel der Adressierung? Althusser bringt den Prozess der subjektivierenden Interpellation mit Ideologie zusammen, die »durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung (interpellation) nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte ›rekrutiert‹ […] oder diese Individuen in Subjekte ›transformiert‹ […].«23 Nach Althusser funktioniert Subjektivierung, wenn eine ideologisierte Anrufung auf eine aktive, freiwillige Hinwendung (aus Übertragung heraus) trifft: Ob aber beide Positionen das gleiche Ziel verfolgen, ist nicht von vornherein geklärt – die Anrufung kann produktiv missverstanden werden, am Realen oder auch am Begehren scheitern.24 In der vermeintlichen Anrede an sich selbst zeigt sich der Zusammenhang zwischen Übertragung und Verantwortung für die eigene ästhetische 19 20

21 22 23 24

Vgl. Pavis 2002, 226. »[D]iese Ergreifung (prise), ist sie nicht jedes mal missverstanden, für-sich-gehört, in der geheimen Gewissheit, dass sich das an mich und an mich allein wendet.« (Cormann 2003, 37. Übers.: E. H., zit. in Holling 2016, 283). Pavis 2002, 242. Ebd. Althusser 1977, 142. Vgl. Schütt 2015.

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Erfahrung: Die aus Übertragung heraus entstehende Empfangsbereitschaft ermöglicht die Subjektivierung, die das Theater auf das Publikum ausübt (oder verhindert sie). Der theatrale Rahmen sei hier also als Möglichkeit gesetzt, Subjektkonstitution als Problem und als Prozess aufzufassen. Wenn Gerald Siegmund im Tagungsband zur GTW-Konferenz Theater und Subjektkonstitution schreibt, »[d]as Subjekt des Theaters entsteht wie das gesellschaftliche Subjekt durch sprachliche Anrufung und Unterwerfung«25 , wird nicht nur eine Wirkung des Theaters auf Subjekte anvisiert, sondern eine Subjektivierung selbst als Wirkung des Theaters postuliert. Die Intitiator*innen des Kongresses weisen darauf hin, dass Subjektkonstitution eine »zentrale Schnittstelle bei der Betrachtung theatraler Praktiken aus einer kunst- und kulturwissenschaftlichen Perspektive« ist, wobei sie betonen, dass ein spielerischer Umgang damit »im theatralen Rahmen auf das Prekäre der Subjektkonstitution« hindeutet und den Vorgang letztlich »destabilisiert«.26 Hier wäre eine Antwort darauf zu finden, wie die Wirkung des Theaters offen gedacht werden kann. Theater kann subjektivieren. Jedoch kann es in seinen Interpellationen instrumentalisieren und experimentieren, d.h. ideologisch oder emanzipierend wirken. Es kann die Subjekte in ihrer Übertragung belassen und sie dadurch leicht anweisen (wie viele immersive Konzepte, die darauf beruhen, dass die Besucher*innen Folge leisten). Es kann aber auch die gewohnte, gesellschaftliche Anrufung und Unterwerfung befragen, unterbrechen, den Vorgang zur Disposition stellen und durch Verschiebung Alternativen aufzeigen. Siegmund schreibt daher dem Theater aufgrund seines Verhältnisses zur Wiederholung ein Potential zu, das reproduzierende Wiederholung aussetzt und somit zur Opposition wird – oder zumindest zu einem Ort, der die agalmatischen Zuweisungen des Alltags in Bewegung bringt.27 Theatersituationen lassen sich also – analytisch gesehen – dahingehend unterscheiden, ob sie instrumentell oder experimentell Subjekte interpellieren, ob das Publikum auf seine eigene Interpellation aufmerksam wird oder nicht, ob es sie annehmen muss oder nicht. Bei Rancière findet sich dazu der wichtige Hinweis, dass ein passives oder aktives Publikum eben nicht per se ein solches ist, sondern durch das Ausagieren von Vorannahmen – die theatrale Interpellation – dazu gemacht wird. Er fragt, was es eigentlich erlaubt, »den an seinem Platz sitzenden Zuschauer für inaktiv zu erklären,

25 26 27

Siegmund 2012, 52. Bachmann u.a. 2012, 11. Vgl. Siegmund 2012, 44.

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wenn nicht die vorher behauptete radikale Opposition zwischen dem Aktiven und dem Passiven?«28 Vorausgesetzte Behauptungen, Ziel und Methode präfigurieren die ästhetische Erfahrung und werden in Interpellationen ausagiert. Übertragungstheorie argumentiert also über Subjektivierung für die Verantwortung der Beteiligten am Theater. Zu fragen wäre in der Folge aber auch nach ihrer Tauglichkeit für Aufführungsanalysetechniken, ja als Analysetechnik der Analysetechnik selbst, indem die Aufmerksamkeit für Unterstellungen auf die Praxis einer Wissenschaft im Allgemeinen gelenkt werden kann.

… als Methode der Analyse »Was bedeutet das Ereignis für mich?«29 , formulieren Christel Weiler und Jens Roselt als eine erste grundlegende Frage der Aufführungsanalyse und fokussieren damit »Subjektivität der Bedeutung«30 als Herangehensweise und Problem gleichermaßen. Sie erkennen an, dass »›subjektives Gepäck‹ für den Wahrnehmungsvorgang bzw. die Bedeutungen, die wir dem Ereignis der Aufführung verleihen, […] von Belang sind.«31 Die prise der Zuschauenden und Analysierenden interessiert jedoch auch hier nicht als rein persönliche, denn es geht ihnen nicht um »idiosynkratische, nur subjektiv gültige oder im persönlichen Raum des Betrachters verbleibende beliebige Bedeutungen.«32 Diese subjektiven »Mitbringsel« seien nicht das, was »in der Aufführungsanalyse verhandelt« würde.33 Vielleicht sind sie es aber doch, insofern Theater und Analyse von einer subjektiven Struktur betroffen sind, die über Individuelles hinausgeht, die sozial und intersubjektiv Einfluss nimmt und daher nicht nur als rein persönliches Mitbringsel abgelegt werden sollten. Weiler/Roselt argumentieren, dass es in der Aufführungsanalyse um ein »›Zwischengeschehen‹«, nämlich »Inter-Subjektivität« gehe, wofür es notwendig sei, »sich der Voraussetzungen bewusst zu sein, die man als Zuschauer mit ins Spiel bringt.«34 Von der Übertragungswarte aus gesehen geht es genau darum: eine Struktur zu

28 29 30 31 32 33 34

Rancière 2008, 22. Weiler/Roselt 2017, 13. Hervorhebung im Original. Ebd., 15 Ebd., 16 Ebd. Ebd. Ebd.

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beschreiben, in die sich ein Subjekt in Publikumsfunktion versetzt sieht und die die Inter-Subjektivität beeinflusst. Was geht über die persönliche prise hinaus und bildet einen gemeinsamen Nenner? Übertragung ist das, was sowohl die Zuschauenden als auch die, die das Theater machen, »mit ins Spiel bringen«. Sie erklärt, wie Wirkung geschehen kann, und stellt für die Analyse eine Subjektdefinition zur Verfügung. Weiler/Roselts hilfreicher Genealogie der verschiedenen analytischen Aufführungsbegriffe, nämlich der Aufführung als Soziales Spiel, als Kommunikationsakt, als Text oder Erfahrungsgeschehen,35 wäre vor dem Hintergrund von Fragen nach Subjektivierung der Ansatz des Theaters als Dispositiv hinzuzufügen.36 Dieser ist in den Anteilen mit Übertragung diskutierbar, die sich innerhalb der Dispositiv-Forschung auf Subjektivierungsprozesse beziehen. Wenn Giorgio Agamben schreibt, dass das Subjekt »aus der Beziehung, sozusagen dem Nahkampf zwischen den Lebewesen und den Dispositiven hervorgeht,«37 kann dies als Anlass dienen, nach theatraler Subjektivierung zu fragen, ohne dass die Subjektdefinitionen genau übereinstimmen müssten. Im Theater als Dispositiv der Ansprache, der Adressierung zwischen Publikum und Bühne, werden Publikums- und Bühnensubjekte ›rekrutiert‹. Die Aufführungsanalyse wiederum kann als Dispositiv des Wissen-Schaffens gelten, oder des Vermittelns eines Wissens, das aus dem Theater kommt. Sie subjektiviert im Schreiben rückwirkend ihren Gegenstand und vorauseilend ihre Lesenden. »Mit der Anwendung einer Methode projiziert man auch immer ein bestimmtes Theaterverständnis auf eine konkrete Aufführung,«38 formulieren Weiler/Roselt in dieser Hinsicht. Die Übertragungstheorie geht darüber hinaus: Statt der oberflächlichen Projektion operiert dort das agalmatische Sehen, das das Gesehene sogar introjiziert; eine Unterstellung, die tiefer geht, anstatt an der Oberfläche haften zu bleiben. Für die Aufführungsanalyse werden also zwei Dinge relevant: der Blick auf die eigene ästhetische Erfahrung (welche interpellativen Methoden und Verfahren wurden angewendet und/oder erlebt?) sowie der analytische Schritt des Erlebten in den Text, wobei hier nicht noch einmal ausführlich auf die spezifische Problematik des flüchtigen Gegenstandes und die Analyse als Medienwechsel eingegangen werden soll. Nur kurz sei mit Isa Wortelkamp da-

35 36 37 38

Vgl. ebd. Vgl. Aggermann/Döcker/Siegmund 2017. Agamben 2008, 27. Weiler/Roselt 2017, 102.

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ran erinnert: »Der Rekurs auf Text und Schrift impliziert einen Versuch, der flüchtigen Aufführung einen Gegenstand zu verleihen, der ihr selbst nicht eigen ist.«39 Bei Theater und Analyse ist das Subjekt als solches krea(k)tiv beteiligt – das aufführungsanalysierende Subjekt »verfertigt, konstruiert« ja seine Gegenstände und Bedeutungen. Wenn Übertragung als Analyse-Methode gelten soll, verlangt und kreiert sie auch dort eine Sensibilisierung für Subjektivierungsprozesse, Machtverhältnisse und auch ideologische Umgebungen. Neben der Frage Was bedeutet das Ereignis für mich? stellen sich noch weitere, das wissenschaftliche Arbeiten betreffende Fragen, z.B.: Aus welcher Position schreibe ich und nehme ich wahr? Den strukturellen Kontext des eigenen Schreibens zu berücksichtigen kann mit Sarah Ahmed eine Mischung aus Übertragungstheorie und Phänomenologie bedeuten; die Frage nach dem eigenen Blicken ist für sie die nach dem eigenen »being oriented«40 , d.h. die eigene (agalmatische?) Blickrichtung generiert ebenso eine Richtung, der das Sehen den Rücken zukehrt – ein Rücken, der unter Umständen strukturell vom Umfeld freigehalten wird, damit der Blick ungestört in seiner Orientierung und körperlichen Praxis Bestand haben kann.41 Zur Orientierung der Analytikerin gehören inhaltliche Übertragungen: Wem unterstellt die eigene Überzeugung und Methode Wissen? Wen lässt sie als Bezug zu, wen schließt sie aus und warum? Soll der zu praktizierende Diskurs von Vielstimmigkeit oder von den Geltungsbereichen der Gebote einzelner, in Übertragung ausgewählter s.s.s. geprägt sein? Werden dann in bestimmten wissenschaftlichen Dispositiven plötzlich Bestimmungen der Zulässigkeit bestimmter Fragen – oder Methoden – relevant? Durch die Möglichkeit, mit Übertragung interpellative Strukturen sowohl praktisch als auch theoretisch zu untersuchen, geraten Fragen, wie Althusser sie aufwirft, in den Fokus des analytischen Schreibens: Innerhalb von Übertragung beeinflusster »Erfolgsmedien« (oder auch Dispositive), zu denen auch die Wissenschaft gezählt werden kann, geschieht mitunter eine Lehre von »›Fähigkeiten‹, aber in Formen, die die Unterwerfung unter die herrschende Ideologie oder die Beherrschung ihrer ›Praxis‹ sichern.«42 Nicht umsonst

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42

Wortelkamp 2006, 13. Vgl. Ahmed 2006. Vgl.: »Being orientated toward the writing table not only relegates other rooms in the house to the background, but also might depend on the work done to keep the desk clear.« (Ahmed 2006, 30.Hervorhebung im Original.) Althusser 1977, 112. Hervorhebung im Original.

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ist die Schule ein von Althusser angeführtes Beispiel für Ideologische Staatsapparate – d.h. eine Untersuchung der eigenen Methoden vor dem Hintergrund von Übertragungstheorie muss sich auch mit den eigenen Ideologien und Interpellationen – Phantasmen? – auseinandersetzen. In der Aufführungsanalyse geht es aber für Weiler/Roselt »nicht um ein ›objektives‹ Ergebnis, welches keinen Widerspruch mehr duldet«43 . Folglich sollte es auch nicht darum gehen, im Text die Stimme eines s.s.s. zu etablieren, das keinen Widerspruch duldet, um die Offenheit intersubjektiver Rapporte nicht zu unterschätzen bzw. die Rapporte nicht zur Folgsammachung von Subjekten zu instrumentalisieren, sondern zur Sensibilisierung und Emanzipation. Im wissenschaftlichen Schreiben geht es dann vor allem auch um den vorangenommenen Wissensbegriff – gerade in der Wissenschaft ist häufig von ›Schulen‹ die Rede,44 wird Wissen als weiterzugebendes verstanden oder werden eigene Erkenntnisse und Methoden den anderen vorgezogen. Diese Herangehensweise verrät den Wunsch, selbst als s.s.s. zu operieren; hierfür prägt wiederum Rancière das Bild der »Logik der verdummenden Pädagogik, die Logik der direkten und identischen Übertragung« von Ursache und Wirkung,45 und nimmt damit Lacans Metapher des Wollfadens indirekt wieder auf. Etwas soll von einer auf eine andere Seite übergehen. Jedoch haben die, die sich gern im Status des s.s.s. begreifen, ein Problem: Die WissensZuschreibung geht, wie die Übertragung lehrt, stets vom Gegenüber aus. Daher werden Methoden erdacht, um das Gegenüber in Übertragung zu nötigen. In der Lacanschen Übertragungstheorie hingegen finden sich innerhalb des Begehrensdiskurses häufig Dynamiken um Wissen und Nicht-Wissen herum; Subjekte wissen nicht, was sie haben, oder was ihnen fehlt.46 Vor diesem Hintergrund prägt Lacan die wichtige Erkenntnis, dass Wissen intersubjektiv sei.47 Ein offener Wissenschaftsbegriff wäre also einer, der ein gemeinsames Wissen Schaffen ernst nimmt und nicht von einem transferierbaren, fixen Wissen ausgeht, das man (sich) verdienen kann.

43 44 45 46 47

Weiler/Roselt 14. Schlimmstenfalls redet der Begründer eines Instituts selbst davon – vgl. Andrzej Tadeusz Wirth 2003, 124. Rancière 2008, 24. Vgl. Lacan 2008, 59. Vgl. Lacan 1961, 20.

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Wer verdient ökonomische Subjekte? Subjektive Wahrnehmung, Erfahrung und Bedeutungszuschreibung sind schwer fixierbar und objektiv zu untersuchen – sowohl die Theaterwissenschaft als auch die Psychoanalyse hatten daher im Laufe ihrer Etablierung ihre Wissenschaftlichkeit abgesprochen bekommen bzw. mussten erst um Anerkennung ihrer Gegenstände kämpfen. Bekanntlich bringen Transitorik und Wahrnehmung als Grundlage einer Analyse methodische Eigenheiten mit sich. Daher betonen Weiler/Roselt, die »eigenen Gesetzmäßigkeiten«, denen Wahrnehmung und subjektive Bedeutungszuschreibungen gehorchen und »die sich von denen der Naturwissenschaften unterscheiden.«48 Für diesen Unterschied argumentieren sie mit Jochen Hörisch, der auf der Seite der Naturwissenschaft veri- und falsifizierbare Aussagen verortet sieht, während Geisteswissenschaften »so wahrnehmen oder auch anders«49 , ohne das primäre Ziel, das eine als richtig oder das andere als falsch zu kategorisieren. Diese Argumentation rückt die geisteswissenschaftliche Praxis in die Nähe von Kunst nach Jurij Lotman, innerhalb derer er ein »Verhältnis der Koopposition« ermöglicht sieht, das nicht danach trachtet, einen Opponenten endgültig zu besiegen.50 Findet sich demnach die Aufführungsanalyse zwischen Kunst und Wissenschaft wieder? Bringen mögliche Ko-Oppositionen den wesentlichen Anspruch irreduzibler Offenheit ins Spiel, sowohl an künstlerische als auch wissenschaftliche Praxis? Eine Ko-Opposition ließe sich allerdings auch für das psychoanalytische Subjektverständnis behaupten. Die Spaltung des Subjekts, das Unbewusste als wesentlicher Teil der Subjektstruktur, enthält eine strukturelle, irreduzible Offenheit. Zudem verwehren sich Subjekttheorien wie Lacans »striktes« Subjekt einer Vergegenständlichung oder Quantifizierung – denn das wären Attribute von Objekten, die sich kommunizieren lassen und deren Wert zu bemessen ist. Ein Subjekt hingegen lässt sich nach Lacan mit einem anderen nicht aufrechnen, es ist »nicht einfach nur so viel wert wie ein anderes Subjekt – ein Subjekt ist, strikt, ein weiteres davon.«51 Dies ernst zu nehmen 48 49 50

51

Weiler/Roselt, 16. Vgl. ebd., mit Bezug auf Hörisch 2009. Lotman 1972, 352. Wobei bei Lotman sich wiederum ein enges (nach Hörisch wohl tendenziell eher naturwissenschaftliches) Verständnis von Wissenschaft vorfindet, wenn er schreibt: »Deshalb dient eine wissenschaftliche Auseinandersetzung dem Nachweis, daß die Gegenposition nichts taugt.« (Ebd.) Lacan 2008, 186f.

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würde bedeuten, methodisch von kalkulierenden und nutzenmaximierenden Methoden insofern absehen zu müssen, als dass die Definition von Ziel und Nutzen bereits ein Problem darstellt. Andererseits dominiert der kalkulierte eigene Profit als Motivation des begehrenden Subjekts mit Freuds affektiven Ökonomien den Übertragungsdiskurs; zu hinterfragen wäre also das Verdienen-Wollen und die Klassifizierung des Wünschenswerten. Freuds Triebtheorie begründet die Vorgänge der psychischen Strukturen mit einem Streben nach ausgeglichenen psychischen Kräften, nach einem nivellierten Energiehaushalt. So spricht Freud vom Konzept des inneren »Konstanzprinzips«52 , welches das Nervensystem verfolge. Diese ökonomische Vorstellung von einem Ausgleich ein- und ausgehender Energien basiert auf einer »zielgerechte[n] (adäquate[n]) Veränderung der [inneren] Reizquelle«53 , also auf optimierten, funktionellen Lösungsmechanismen. Auf dieser methodischen Kalkulierbarkeit psychischer Apparate und Energien basiert letztlich die Idee vom Begehren als/nach Profit: Nur im Abgleich mit dieser Idee, diesem Maßstab der optimalen und angemessenen Ausgeglichenheit, können Triebe und Energien, ja auch Handlungen, als zu viel oder zu wenig, Überschuss oder Mangel, Gewinn oder Verlust eingeschätzt werden. Dem folgt Lacan mit der Vorstellung eines kalkulierenden Subjekts, das die Auffüllung innerer Leere und das Beheben innerer Mängel anhand von wertvollen Beziehungen verfolge. Wenn also einerseits eine strukturelle Offenheit im Subjekt postuliert wird, wie kann dann auf der anderen Seite die Übertragungstheorie mit einem derart ökonomisierten Subjektverständnis operieren? Und wirkt sie deswegen so vertraut und glaubwürdig, weil sie derzeitig populäre – kapitalisierte – Dispositive und ihre Verinnerlichung bei den Subjektivierten erklärt – aber auch stützt? Verbleibt sie letztlich in der Logik der Frage nach dem Mehrwert und dient damit als ontologische Begründung für den Mangel an Imagination im »capitalist realism«54 ? Auch Agamben, seinerseits nicht psychoanalytisch motiviert, arbeitet mit dem Begriff der oikonomia, um sich dem Agieren von Dispositiven anzunähern. Ihn interessiert der theologische Kontext, in dem eine oikonomische Methode, die die Praxen der Menschen in eine Nützlichkeit ›nötigt‹, einer (göttlichen) »Regierungshandlung ohne Begründung im Sein« gegen-

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Freud 1997a, 83f. Ebd., 82. Vgl. Fisher 2009.

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übersteht.55 Diese non-kausale Grunddisposition ist auch der grundlose Grund, warum Dispositive ihre Subjekte aus den Lebewesen erst erschaffen müssen. Agamben spricht von einem Mangel, der durch dispositivische Subjektivierungen erzeugt wird: Letztere bedeutet immer auch eine Desubjektivierung durch den Anteil »eigene[r] Negation.«56 Um sich der Anrufung hinzuwenden, wendet sich der Blick der Subjektivierten von einer anderen Richtung ab, lässt aus der anderen Richtung den background werden. Diesen nach Agamben aufgrund eines »Glücksverlangens«57 abgespaltenen Bereich gelte es innerhalb der dispositivischen Subjektivierung dennoch zu nutzen (Stichwort Profanisierung), die Verbindung zu ihm zu halten, da sich sonst Subjekte nur in »gespenstischer Form«58 bilden würden. Der in diesen Formulierungen spürbare Wunsch nach ganzheitlichen Subjekten ist psychoanalytisch gesehen unmöglich, denn dieses neue Wesen würde der Definition des Subjekts nicht mehr entsprechen. Vielleicht wäre aber die Existenz des Gespensts nicht abzulehnen und die Abspaltung und das Unerreichbare nicht als zu behebendes Problem, sondern als wünschenswerte Mitgegebenheit zu begreifen. Denn als Gespenstisches wird bezeichnet, was einer eigenen Logik folgt, irgendwie unpassend und nicht appropriierbar ist. Es ist »Un-Fug«59 . Den übertragungstheoretischen Ansatz konsequent zu verfolgen, hieße also auch, das postulierte Subjektverständnis zu prüfen und Ernst zu machen mit der Fiktionalisierung und dem Unfug als Weltzugriff. Wenn ontologische und essentialistische Zuschreibungen wegfallen und Intersubjektivität von gespenstischen Anteilen mitkonfiguriert wird, ermöglicht sich eine Subjekttheorie, die vom Mangel und der Leere als Vermögen ausgeht: ein Vermögen zur Imagination, zur Hinwendung, zur Neugier, zur Potentialität. Das begehrende Subjekt hätte dann statt Angst vor der Leere einen Mut zum Mangel, ohne sich dabei mit sich selbst zufrieden geben zu können. Wenn die Definition des Mangels (oder des Überschusses?) nicht sofort als zu beheben lautet, wirkt sich dies auf eine methodische Zielsetzung aus, die dann nicht simplifizierend in der Beurteilung von Werten, Unterscheidung zwischen ja und nein/gut und schlecht vorgehen kann: Diese Beurteilung muss dann immer im Hinblick auf den jeweilig gerade abgespalteten background erfolgen. Negative Anteile, Unfug, das, was 55 56 57 58 59

Agamben 2008, 24. Ebd., 36. Ebd., 31. Ebd., 37. Vgl. Siegmund 2011 u. 2015.

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anscheinend nicht passt oder funktioniert oder woraus sich auf den ersten Blick kein Profit ergibt, sind zu berücksichtigen. Ein offenes Verständnis von Konzept und Methode wäre im Hinblick darauf eine Einladung an Unkontrolliertes, Unbeherrschbares, Anderes. Mit der Umdefinition einer wünschbaren Leere würde dann auch eine Umdefinition der leeren Gefäße erfolgen, die über die Wollfadenverbindung gefüllt zu werden hofften: Die Leere selbst gibt sich als wesentlicher Teil des Vorgangs zu erkennen und nicht als passives Nur-Empfangen. Über den Wollfaden als Verbindung erfolgt dann keine einseitige Übermittlung, sondern ein Austausch von Fähigkeiten, wie es bei Rancière anklingt: gegenseitige Verbundenheit, gemeinsames (Wissen)Schaffen. Sind also über die Beschäftigung mit der Übertragungstheorie Herangehensweisen als Methoden denkbar, die nicht auf den ersten Blick zielführend erscheinen, aber maßgeblich intersubjektives Zusammenwirken voraussetzen? Vorschläge hierzu sind: Heimsuchung60 durch Andere statt störungsfrei fließendem Profit; produktiver Irrtum; Entanglement61 als intersubjektive Haltung anstatt souverän-autonomes Subjekt; Agalmatophilie und wünschbare Täuschungsfähigkeit; gemeinsames und geteiltes Nichtwissen. Mit solchen grundlosen Grundfragen und Grundantworten nach dem Verdienen vom »guten« Theater und der »guten« Analyse übernehmen wir jedenfalls die Verantwortung für die Bestimmung des Guten und Wünschenswerten.

Literatur Agamben, Giorgio (2008): Was ist ein Dispositiv? Zürich/Berlin: diaphanes. Aggermann, Lorenz/Döcker, Georg/Siegmund, Gerald (Hg.) (2017): Theater als Dispositiv: Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung. Frankfurt a.M.: Peter Lang. Ahmed, Sarah (2006): Queer Phenomenology: Orientations, Objects, Others. Durham/London: Duke University Press. Althusser, Louis (1976): »Idéologie et appareils idéologiques d’État. (Notes pour une recherche).« In: Ders.: POSITIONS (1964-1975). Paris: Les Éditions sociales, 67-125.

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Vgl. Levinas 1992. Vgl. Barad 2007.

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Prozesse, Konflikte, Wirkungen Zu Methoden der Untersuchung von applied theatre Matthias Warstat

In den letzten Jahren ist die Theaterwissenschaft international mehr und mehr mit einem Theater konfrontiert, das meist außerhalb der Kunstsphäre situiert wird und sich selbst als politisch, pädagogisch oder therapeutisch versteht.1 Es ist auf bestimmte Anwendungskontexte ausgerichtet und operiert auf gesellschaftlichen Feldern, die traditionell nicht selbstverständlich mit Theater assoziiert werden – wie etwa die Klinik, das Gefängnis oder das Jugendhaus. Im Englischen dient der Begriff applied theatre als Sammelbezeichnung für Theaterprojekte mit politischer, pädagogischer oder therapeutischer Intention.2 Es handelt sich um Projekte, die sich an klar definierte Zielgruppen richten: Dorfgemeinschaften, Stadtteilgruppen, Patient*innen, Klient*innen, Häftlinge, Betriebsbelegschaften, Angehörige genau eingegrenzter sozialer Milieus, jedenfalls Gruppen, die explizit benannte soziale Merkmale teilen. Da diese Art von funktional bestimmtem Theater in verschiedenen Formen existiert – vom Dokumentarstück über das Improvisationstheater bis hin zum Psychodrama – fällt es schwer, anhand eines einzelnen Beispiels die Besonderheiten zu verdeutlichen. Ein

1

2

In diesem Aufsatz erörtere ich methodenbezogene Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt »The Aesthetics of Applied Theatre« (gefördert vom ERC), das von 2012 bis 2017 an der Freien Universität Berlin durchgeführt wurde. Viele der nachfolgenden Beobachtungen habe ich im Laufe der Jahre mit den Mitgliedern der Projektgruppe nicht nur diskutieren, sondern aus der Begleitung von deren Arbeit überhaupt erst gewinnen können. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken bei Florian Evers, Kristin Flade, Julius Heinicke, Joy Kristin Kalu, Fabian Lempa, Janina Möbius und Natascha Siouzouli. Zu Grundannahmen und Thesen der Projektgruppe siehe Warstat/Heinicke/Kalu/Möbius/Siouzouli 2015. Vgl. etwa die Begriffsverwendung in dem Überblickskapitel bei Balme 2008, 179-194. Viel beachtet auch Thompson 2003; Taylor 2003; Nicholson 2005.

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Grundzug allerdings verbindet die vielfältigen Formen und Praktiken: Die Wirkungsversprechen von applied theatre richten sich in der Regel eher an Mitwirkende als an Zuschauende. Anders als manchmal unterstellt wird, hegen die Praktiker*innen dieses Theaters kaum den idealistischen Glauben, schon das einmalige Anschauen einer Aufführung könnte das Leben tiefgreifend verändern. Ihre Hoffnungen gelten vielmehr dem aktiven Mitwirken und Mitspielen, idealiter über längere Zeiträume. Als Mitwirkende*r einer Theaterproduktion, so die Annahme, muss man sich mit anderen austauschen, gerät in affektive Relationen, trifft Entscheidungen, erhält Anlass zur Reflexion – und wird in jedem Fall intensive Erfahrungen machen. Solche aktiven Erfahrungen – im Sinne von: ›in der Aktion zu gewinnende Erfahrungen‹ – können Veränderungen initiieren.3 Die meisten Anbieter*innen oder Anleiter*innen von applied theatre meinen nicht im engeren Sinne Aufführungserlebnisse, wenn sie von den Möglichkeiten ihres Theaters berichten. Sie denken an längerfristige Lernprozesse, die die Akteur*innen durchlaufen sollen. Wenn etwa Kinder oder Jugendliche in den Probenprozessen zu einer Theateraufführung Stimm- und Sprechtechniken, mimetische Kompetenzen und Improvisation erlernen, können sie von diesen Fähigkeiten, so die Hoffnung, anschließend auch in anderen Lebensbereichen profitieren.4 Die wichtigsten Untergruppen von applied theatre sind: • • • • • • •

Theater in der sozialen und sozialtherapeutischen Arbeit Theater in Bildung, Erziehung und Schule Theaterpädagogische Projekte von Stadt- und Staatstheatern Dramatherapie, Psychodrama, weitere theatrale Therapieformen Gefängnistheater Unternehmenstheater Theater in der Bearbeitung politischer Krisen und gewaltsamer Konflikte

International haben Theaterformen an Bedeutung gewonnen, die unter Begriffen wie social theatre, community theatre oder eben applied theatre einer sozialen, pädagogischen oder therapeutischen Agenda folgen. Projekte,

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Vgl. Landy/Montgomery 2012; Jones 1996; siehe darin bes. die einleitenden programmatischen Setzungen, 1-6. Diese Hoffnung ist grundlegend für programmatische und theoretische Diskurse zum Theater in der Schule, vgl. etwa Liebau/Klepacki/Zirfas 2009. Siehe im selben Sinne Klepacki/Zirfas 2013, 166-180.

Prozesse, Konflikte, Wirkungen

die sich diesen wechselnden Etiketten zuordnen lassen, verändern in ihrer Massierung die globale Theaterlandschaft: Dort, wo vorher kommerzielle Theatersysteme dominiert haben, schaffen sie einen beträchtlichen NonProfit-Sektor. Wo hingegen – wie in Deutschland – ein kunstaffines Stadtund Staatstheater vorherrschend war oder noch ist, bedeuten die neuen Formen eine Herausforderung für das angestammte Autonomie-Ideal, weil sie von explizit definierten Zwecken ausgehen. Den Mitwirkenden sollen Erfahrungen ermöglicht werden, die in direkter, unmittelbarer Weise zu einer Veränderung ihrer Situation beitragen.5 Wie ein solches Theater von der Theaterwissenschaft methodisch untersucht werden kann, soll auf den folgenden Seiten erörtert werden.

Ein theaterwissenschaftlicher Fragehorizont Der Ausgangspunkt methodologischer Überlegungen zur Erforschung von applied theatre kann die Vermutung sein, dass Aufführungsanalyse als wichtigste etablierte Methode der Theaterwissenschaft für die Untersuchung dieses speziellen Theaters nicht hinreicht.6 Die Grenzen der Aufführungsanalyse treten in diesem Forschungsfeld deshalb schnell hervor, weil die Aufführung oft weder der entscheidende noch der interessanteste Teil eines appliedtheatre-Projektes ist. Im Vordergrund steht der Produktionsprozess. Von ihm erhoffen sich die Initiator*innen und Teilnehmer*innen die positiven Wirkungen des Projektes, seien sie politischer, pädagogischer oder therapeutischer Art. Die eingeschränkte Relevanz der öffentlichen Aufführung zeigt sich schon darin, dass sie in vielen applied-theatre-Projekten mit therapeutischem Hintergrund einfach wegfallen kann. Heilsame Wirkungen sollen von der szenischen Arbeit unter Anleitung des facilitators ausgehen, von den körperlichen Erfahrungen und begleitenden Gesprächen während der Sitzungen, wohingegen der Stress einer Aufführung vor Publikum oft bewusst vermieden wird.

5

6

Im weiteren Verlauf des Artikels werde ich den englischen Begriff applied theatre beibehalten und nicht übersetzen. Die deutsche Übersetzung ›angewandtes Theater‹ ist nicht wirklich eingeführt und wirft die Frage auf, wie ein ›nicht-angewandtes‹ Theater eigentlich aussehen könnte. Im Englischen scheint der Begriff dagegen unproblematischer, wird jedenfalls seit mehreren Jahren in relativ neutraler Weise verwendet. Vgl. zu methodologischen Grundlagen der Aufführungsanalyse auf neuestem Stand: Weiler/Roselt 2017.

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Aber auch dort, wo man sich am Ende doch für eine Aufführung entscheidet, um etwa aus einer positiven Resonanz beim Publikum weitere Kraft zu schöpfen, bleiben die wichtigsten Prozesse, Konflikte und Wirkungen der gemeinsamen – und eben nichtöffentlichen – szenischen Arbeit vorbehalten. Die methodische Herausforderung besteht deshalb darin, einen aufführungsanalytischen Zugang zu ergänzen um Untersuchungsverfahren, die die nichtöffentliche szenische Arbeit zu erschließen helfen. Von daher müssen die methodischen Bemühungen im Großen und Ganzen eine Richtung nehmen, wie sie die Hildesheimer Probenforschung aufgezeigt hat:7 Probenarbeit, Szenenentwicklung, Körpertraining und andere Praktiken, die der Aufführung vorgelagert sind oder sie sogar ersetzen, müssen beobachtet und reflektiert werden. Für häufig gewählte Formate wie etwa den ›Workshop‹ muss überhaupt erst ein theaterwissenschaftliches Untersuchungsverfahren entwickelt werden. Dabei kann der Kontakt zu anderen Fächern helfen, die – wie etwa Pädagogik, Anthropologie oder Psychologie – über beträchtliche Erfahrung in der wissenschaftlichen Begleitung von Gruppenangeboten und therapeutischen Prozessen verfügen. Schon in den 1980er- und 90er Jahren hatte sich die Theaterwissenschaft für ethnografische Verfahren in der Tradition des Feldforschungsparadigmas und der ›Dichten Beschreibung‹ (Clifford Geertz) interessiert.8 Dieses Interesse gilt es wiederzubeleben – ohne allerdings zu übersehen, dass sich die Ethnologie unterdessen erheblich weiterentwickelt und die Feldforschung einer kritischen Methodendebatte unterzogen hat. Sie bedient sich anderer Medien (etwa in der Video-Ethnografie), zeigt sich aufgeschlossen gegenüber künstlerischen Verfahren im Sinne von practice based research und teilt überhaupt so viele Erkenntnisinteressen und Methodenprobleme mit der Theaterwissenschaft, dass ein Austausch für beide Seiten fruchtbar erscheint.9 Welche Fragen hat die Theaterwissenschaft an eine Theaterpraxis, die sich ganz in den Dienst therapeutischer, pädagogischer oder politischer Zielsetzungen stellt? Zu welchen Aspekten einer solchen Praxis kann sie sich überhaupt seriös äußern? Theaterwissenschaft soll die Theaterpraxis in ihrer gan7 8

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Vgl. aus diesem Kontext insbesondere: Hinz/Roselt (Hg.) 2011; Matzke 2012. Vgl. aus dieser Phase etwa den Sammelband von Schmidt/Münzel (Hg.) 1998. Daneben die klassischen US-amerikanischen Beiträge von Turner 1987, sowie in deutscher Übersetzung Schechner 1990. Als Überblick über die gesamte Forschungsrichtung: Balme 2014a, 359-361. Einblicke in neuere Entwicklungen bieten etwa Pink 2007; Robbens/Suka (Hg.) 2007; Gobo/Molle 2008; Stoller 2010.

Prozesse, Konflikte, Wirkungen

zen Breite beleuchten. Da applied theatre in den letzten Jahrzehnten stetig an Bedeutung gewonnen hat, steht außer Frage, dass dieses Theater verstärkt zum Gegenstand theaterwissenschaftlicher Forschung werden sollte. Weniger klar ist, ob sich die Theaterwissenschaft auch jene Fragen zu eigen machen sollte, die von den Praktiker*innen des applied theatre selbst immer wieder gestellt und diskutiert werden. Viele Anbieter*innen, Anleiter*innen und Praktiker*innen dieses Theaters fragen sich vor allem, ob ihre Projekte und Praktiken tatsächlich wirksam sind. Die Frage der Wirksamkeit scheint entscheidend für die Legitimation von applied theatre: Was kann die Theaterarbeit mit Jugendlichen und Schüler*innen bewirken? Ist sie wirklich pädagogisch wertvoll? Gibt es Nachweise dafür, dass es Patient*innen tatsächlich hilft, wenn sie – etwa in der Dramatherapie oder in Psychodrama-Gruppen – miteinander improvisieren und Szenen entwickeln? Können politische Konflikte in Theaterprojekten konstruktiv bearbeitet oder sogar gelöst werden? Welches sind die Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Theaterpraxis? Es sind solche Fragen nach Wirksamkeit, Effizienz und Nachhaltigkeit, die von den Praktiker*innen, die sich gegenüber ihren Geldgeber*innen bzw. gegenüber Förderinstitutionen, aber auch gegenüber politischen Entscheidungsträger*innen legitimieren müssen, immer wieder an die Wissenschaft herangetragen werden. Schon ein oberflächlicher Blick auf den Fragenkatalog zeigt, dass die Theaterwissenschaft für Untersuchungen dieser Art in methodischer Hinsicht nicht optimal ausgerüstet ist. Wonach die Praxis verlangt, ist wohl im Wesentlichen eine empirische Wirkungsforschung, die sozialwissenschaftlich, psychologisch bzw. erziehungswissenschaftlich fundiert sein müsste. Die Theaterwissenschaft kommt dagegen aus einer geisteswissenschaftlichen Tradition und war in langen Phasen ihres Bestehens nahezu ausschließlich auf die darstellenden Künste bezogen. Theaterwissenschaftler*innen sind darin geübt, Theaterformen zu benennen, Aufführungen zu beschreiben und diese in ihren Ausprägungen und Formen in ästhetische Traditionen einzuordnen. Sie können zum Beispiel Schauspielstile voneinander unterscheiden und auf bestimmte Techniken und Trainingsmethoden zurückführen. Sie kennen die Geschichte verschiedener Inszenierungsformen und erkennen neue Entwicklungen auf diesem Gebiet. Wenn sie sich mit diesen fachlichen Voraussetzungen dem applied theatre zuwenden, werden sie zweifellos mehr über dessen Formen und Verfahren als über dessen Wirkungen aussagen können. Anstatt im Methodenarsenal anderer Fächer zu wildern, sollte die Theaterwissenschaft eigene Zugänge zum applied theatre entwickeln. Sie sollte sich selbstbewusst gerade für die ästhetische, formale

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und technische Seite dieses Theaters interessieren.10 Auf welche Theaterformen wird im applied theatre eigentlich zurückgegriffen, und welche historischen Bezüge ergeben sich aus der je spezifischen Konstellation dieser Formen? Solche Klärungen sind am Ende vielleicht doch auch für diejenigen von Interesse, die vor allem auf die Wirkungen dieses Theaters schauen. Zumindest sagt die Geschichte einer Theaterform einiges über deren Wirkungspotenziale aus.

Zur Analyse von Prozessen Um applied theatre in seinen Praktiken und Formen zu verstehen, muss man vergleichsweise langfristige Prozesse beobachten. Anstatt einzelne Aufführungen zu analysieren, müssen ganze Projekte begleitet werden. Auf dem Feld von applied theatre ist die ›kleinste Einheit‹, um diesen traditionellen Begriff der Theatersemiotik zu bemühen, nicht die Aufführung, sondern das Projekt. Die Praxis des applied theatre vollzieht sich in Projekten, die von einem bestimmten Träger, einer Förderorganisation, einer NGO beispielsweise, konzipiert und in Auftrag gegeben werden. Niemand würde sich Wirkungen, die vor Beginn eines solchen Projekts versprochen werden, von einer einzelnen Aufführung erhoffen. Die wohl entscheidenden Phasen eines Projekts gehen der Aufführung voraus. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die Gruppe von Teilnehmer*innen, die kontinuierlich über einen längeren Zeitraum, oft über mehrere Wochen oder Monate, in dem Projekt arbeiten. Ganz gleich, ob Theater mit Schüler*innen, mit Patient*innen, mit Häftlingen oder mit Menschen an einem sozialen Brennpunkt: Positive Wirkungen sollen daraus erwachsen, dass diese Menschen gemeinsam szenisch arbeiten, dass sie z.B. über ihre Erfahrungen sprechen und aus diesen Erfahrungen nach und nach ein Stück entwickeln. Diese Arbeitsprozesse sind aufschlussreich: in ihrer sozialen Dynamik, ihren Lernpotenzialen, ihren inhärenten Konflikten. Die entstehende Inszenierung mag vergleichsweise banal sein, die Aufführung bieder, die künstlerische Leistung deplorabel – wenn die kollektiven Prozesse für die Beteiligten fruchtbar und anregend verlaufen, hat das Projekt sein Ziel schon vor der Aufführung erreicht. Dieses besondere Gewicht des Produktionsprozesses unterstreicht die Notwendigkeit, applied-theatre-Projekte über den gesamten Zeitraum ihrer Planung, Durchführung und Auswertung zu 10

Vgl. zu einer ästhetischen Perspektive auf das Forschungsfeld auch: Prentki (Hg.) 2015.

Prozesse, Konflikte, Wirkungen

begleiten. Eine solche Art der Prozessbegleitung ist allerdings aufwendig und teuer. Es muss ein Weg gefunden werden, die Projektabläufe beobachtend nicht zu stören und die eigenen Beobachtungen laufend zu dokumentieren. Formen der Video-Ethnografie sind dafür nicht immer geeignet, denn die Präsenz einer Kamera verändert Probenprozesse erfahrungsgemäß gravierend. Dagegen hat sich eine Kombination aus fotografischer Dokumentation und eigenen Notizen (etwa im Sinne eines ›Feldtagebuchs‹) bewährt. Fotos sind eine gute Erinnerungsstütze, können die notierten Beobachtungen und Beschreibungen sinnvoll ergänzen und stören gleichwohl die zu dokumentierenden Prozesse relativ wenig. Die eigenen Beobachtungen können in Dialog treten mit Gesprächen bzw. Interviews, die im Laufe des Prozesses mit ausgewählten Beteiligten geführt werden. Die Aufführung oder die Serie von Aufführungen, die früher oder später stattfinden können, sind als ein wichtiger Teil des Prozesses zu begreifen. So kann die teilnehmende Beobachtung des Projekts übergehen in eine Aufführungsanalyse, die es schließlich erlaubt, Probenprozess und Darbietung aufeinander zu beziehen. Hat die Aufführung vor Publikum stattgefunden, können auch Publikumsbefragungen, etwa im Rahmen von Fokusgruppen-Interviews, aufschlussreich sein.11 Nicht immer enden applied-theatre-Projekte mit einer Aufführung, aber wo sie eine solche Aufführung doch implizieren, situieren sie sich in einer spezifischen Form von Öffentlichkeit. Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive ist es aufschlussreich, diese Form jeweils genauer zu bestimmen, zumal dies einmal mehr unterstreicht, wie unterschiedlich theatrical public spheres beschaffen sein können.12 Im Falle von applied theatre handelt es sich zumeist um in besonderer Weise begrenzte Öffentlichkeiten. An klinischen Beispielen tritt das deutlich hervor: In psychosomatischen Kliniken sind Theaterbzw. Dramatherapie-Gruppen weit verbreitet. Im Zentrum der Arbeit solcher Gruppen steht die gruppeninterne (teils szenische) Interaktion auf den regelmäßigen Sitzungen. Wenn sich eine Gruppe gleichwohl zu einer Aufführung entschließt, dann findet diese Präsentation zumeist ebenfalls im klinischen Rahmen statt: Patient*innen spielen vor Patient*innen. Diese Konstellation birgt durchaus ein Moment von Öffentlichkeit, jedoch handelt es sich um eine

11 12

Vgl. zu empirischen Methoden der Publikumsforschung aus theaterwissenschaftlicher Perspektive: Sauter 2002. Zum Begriff der theatrical public sphere bzw. einem theaterspezifischen Verständnis von Öffentlichkeit: Schramm 1990, 224-239; Reinelt 2011, 16-27; Hulfeld 2014, 236-239; Balme 2014b, bes. 1-46.

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geschützte, hochgradig selektive Öffentlichkeit, die neben dem gemeinsamen Erfahrungshintergrund der Teilnehmer*innen weitere Besonderheiten aufweist: So ist es in einem solchen Rahmen beispielsweise unüblich, Eintrittsgelder zu erheben. Das Publikum ist auf eine wohlwollende Reaktion eingestellt und vermeidet Missfallensbekundungen gegenüber der Gruppe oder gar gegenüber einzelnen Darsteller*innen. Wie in jeder Aufführungsanalyse kommt es darauf an, neben der Bühne auch die Zuschauer*innen im Blick zu behalten, um solche Spezifika des Publikumsverhaltens herausarbeiten zu können. Applied-theatre-Projekte sind häufig in größere Kampagnen eingebettet, in denen sie mit anderen medialen Strategien und Angeboten zusammenwirken. Wer heute beispielsweise eine Kampagne gegen sexualisierte Gewalt in Schulen und Jugendeinrichtungen plant, wird vielleicht auch auf Theater setzen, aber sicherlich nicht nur. Zu einer solchen Aufklärungsarbeit gehören notwendigerweise auch Unterrichtsgespräche, Einzelgesprächsangebote, Lektürehinweise und – besonders wichtig – eine Ansprache in jenen digitalen sozialen Medien, mit denen Jugendliche heute tagtäglich umgehen. Die mediale Diversität von Kampagnen ist aber kein rezentes Phänomen. So war schon in den 1920er Jahren das von KPD-Organisationen gestaltete Agitproptheater, eine Form von applied theatre avant la lettre, stets in größere politische Kampagnen eingebunden, beispielsweise in Wahlkämpfe.13 Zu den Auftritten der Agitproptheater-Gruppen gesellten sich Versammlungen, Kundgebungen, politische Vorträge, Flugblätter, Broschüren und Plakate, Deklarationen in der Parteipresse und bisweilen auch Filme und Ausstellungen. Es ist davon auszugehen, dass die Agitproptheater-Revuen mit diesen anderen medialen Formaten und Angeboten interagierten. Mit Blick auf diese Kontexte erscheint es umso wichtiger, die Theaterinszenierungen und -produktionen, die aus theaterwissenschaftlicher Perspektive von besonderem Interesse sind, analytisch nicht zu isolieren oder gar wie klar abgegrenzte, für sich allein stehende ›Werke‹ zu behandeln. Bei aller Konzentration auf das Theater wird es darauf ankommen, intermediale Verbindungen und Wechselwirkungen herauszuarbeiten. Forschungsprojekte zum applied theatre sollten deshalb interdisziplinär nicht nur mit Fächern wie Politikwissenschaft, Pädagogik oder Soziologie kooperieren, sondern auch mit Film-, Literatur- und Medienwissenschaft sowie anderen künstebezogenen Fächern.

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Vgl. Bodek 1998.

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In den letzten Jahren hat die Theaterwissenschaft ihr Erkenntnisinteresse zunehmend auch auf die institutionelle Seite von Theater ausgedehnt. Die wachsende Aufmerksamkeit für Theater als Institution ist damit erklärbar, dass auch im öffentlichen Theaterdiskurs und an den Theatern selbst verstärkt über institutionelle Hierarchien, Machtverhältnisse, Ein- und Ausschlussprinzipien, aber auch – positiv gewendet – über institutionellen Wandel und eine mögliche Zukunft des Stadttheaters diskutiert wird.14 Diese Diskussionen zeigen, wie sehr auch die inszenatorische Arbeit und die künstlerische Produktion im Theaterbetrieb von institutionellen Strukturen abhängig sind.15 Gerade die Freie Szene hat dafür ein gesteigertes Bewusstsein entwickelt. Schaut man nun auf den Bereich des applied theatre, dann ergeben sich gegenüber einem klar auf dem Feld der Künste situierten Theater wesentliche Unterschiede: Vor allem sind die institutionellen Hintergründe von applied theatre für externe Beobachter*innen oft weniger transparent und weniger überschaubar. Während im Stadt- und Staatstheater Strukturen seit Langem etabliert sind – staatliche Subventionen, fest etatisierte Zuschüsse, Verantwortlichkeit gegenüber gewählten Gremien wie etwa kommunalen Kulturausschüssen –, sind die Förderwege des applied theatre oft verschlungener und schwerer zu ermitteln. Zugleich erscheint es aber beim applied theatre besonders wichtig, die Förderwege genau zu studieren und zu erläutern. Denn in der Regel sind mit der Förderung klare Aufträge verbunden. Hinter Theaterangeboten im Kontext von Migrations- und Fluchtbewegungen stehen beispielsweise große, international agierende Organisationen wie das UNHCR, USAID oder die IOM, die nicht einfach bestehende Initiativen fördern, sondern entlang ihrer jeweiligen strategischen Ziele weltweit selbst Theaterprojekte initiieren. Solchen Institutionen gegenüber sind die Theatermacher*innen rechenschaftspflichtig, sodass die Agenda der Institution für die gesamte Durchführung des Projekts eine gewichtige Rolle spielt.16 Meist ist es auch die Förderinstitution, die mit geringerem oder größerem Abstand zu dem dann abgeschlossenen Projekt eine Erfolgskontrolle im Sinne einer Evaluation nach vorab definierten Kriterien durchführt. Es gibt Länder und Gesellschaften, in denen fast das gesamte Theaterleben auf diese Weise von 14 15

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Vgl. etwa Goebbels/Mackert/Mundel (Hg.) 2011. Theoretisch wird das auch in den ästhetischen Konsequenzen reflektiert bei Jackson 2011. Aufmerksam auf institutionelle Rahmenbedingungen von sozial engagierter Kunst ist auch der viel rezipierte Band von Bishop 2012. Kritische Reflexionen dazu in den zunehmend pessimistischen Studien des erfahrenen Praktikers James Thompson, vgl. bes. 2009.

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NGOs bzw. internationalen Organisationen finanziert und gesteuert wird.17 Viele Praktiker*innen sind sich dieses Einflusses sehr bewusst und versuchen, eine zumindest partielle Distanz zu ihren Geldgebern zu wahren. Aus der Aufführung selbst können die institutionellen Rahmenbedingungen kaum erschlossen werden. Es bedarf einer bewussten Hinwendung zu institutionellen Fragen: Arbeitsverträge, Gagenvereinbarungen, Kassenbücher, Bewilligungsschreiben und Jahresberichte sind in diesem Sinne Materialien, die man lesen und einordnen können muss, zu denen einem vorher aber erst Zugang gewährt werden muss – was selten einfach zu erreichen ist. Welches sind die Zielsetzungen der Geldgeber? Oft werden sie gegenüber den Praktiker*innen überraschend deutlich formuliert, und oft betreffen sie nicht die ästhetische Gestaltung, sondern soziale oder politische Effekte. Die Praktiker*innen haben freie Hand in der Wahl ihrer theatralen Mittel und Darstellungsformen (fast eine Art ›ästhetische Autonomie‹), solange sie in Berichten den Eindruck erwecken können, ihre Arbeit stehe im Einklang mit den gesellschaftspolitischen Zielen des Geldgebers. Die Theaterwissenschaft befindet sich derzeit in einer Annäherungsbewegung an die sozialwissenschaftliche Institutionenforschung. Beschränkte sich das Interesse früher auf die künstlerische Auseinandersetzung mit den eigenen institutionellen Rahmenbedingungen (Institutional Critique), so finden sich mittlerweile Forschungsprojekte, die den sozialtheoretischen New Institutionalism rezipiert haben und daraus Schlüsse für die Beschäftigung mit Theater zu ziehen versuchen.18 Das gesamte Feld des applied theatre ist im globalen Maßstab tief in postkoloniale Strukturen verstrickt. Dies zeigt sich unmittelbar darin, dass viele im globalen Süden durchgeführte applied-theatre-Projekte vom Norden aus in Auftrag gegeben und gesteuert werden. Es ist absolut üblich, ja sogar der Regelfall, dass europäische und US-amerikanische Förderinstitutionen mit 17 18

Kritisch: Heinicke 2019. Das gilt insbesondere für die von der LMU München aus koordinierte, transregionale DFG-Forschungsgruppe »Krisengefüge der Künste« und für das ebenfalls an der LMU eingerichtete Forschungszentrum Institutionelle Ästhetik »inaes«. Auch das Mainzer DFG-Forschungsprojekt zu »Humandifferenzierung im Theater« hat seinen Blick in mehreren Förderperioden auf die Institutionen des Theaters und deren Ein- und Ausschlussmechanismen gerichtet. Der DFG-Sonderforschungsbereich 1178 »Affective Societies: Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten« an der Freien Universität Berlin wendet sich in seiner zweiten, 2019 beginnenden Förderperiode den Institutionen der Künste und deren affektiver Dimension zu.

Prozesse, Konflikte, Wirkungen

facilitators aus ihrer eigenen Region Theaterprojekte in den Krisenregionen des Südens durchführen. Gut dokumentiert und kritisch reflektiert wurde dies etwa für Mittelasien (Kirgisien) und Ostafrika (Uganda, Ruanda).19 Es ist auch weiterhin zu beobachten, dass etwa Anbieter aus Frankreich und Großbritannien Projekte in den ehemaligen Kolonialgebieten dieser Länder durchführen. Insofern fällt der Befund leicht, dass die internationale appliedtheatre-Landschaft entlang der alten kolonialen Machtrelationen organisiert ist. Theaterwissenschaftliche Forschungsprojekte zum applied theatre müssen in ihrer Kritik an solchen Strukturen aber mitreflektieren, dass sie sich selbst ebenfalls auf postkolonialen Bahnen bewegen, wenn sie applied theatre in afrikanischen, südamerikanischen oder süd- und südostasiatischen Regionen von europäischen Universitäten und Forschungsinstitutionen aus in den Blick nehmen. Oft gibt es in den betreffenden Ländern, in denen appliedtheatre-Projekte beobachtet werden, eine aktive und ausdifferenzierte universitäre Theaterwissenschaft, die längst selbst zu angewandten Theaterformen in der eigenen Region forscht. Zu Recht verlangen Wissenschaftsförderungsinstitute wie die DFG oder der ERC, dass sich Forschungsprojekte, die diese Regionen von Europa aus beforschen möchten, um Kooperationen mit Wissenschaftler*innen aus den betreffenden Regionen bemühen. Das gebietet auch die Qualitätssicherung, denn in vielen Fällen ist die Forschung vor Ort gegenüber europäischen Ansätzen weit vorangeschritten, so etwa die renommierte applied-theatre-Forschung an den südafrikanischen Universitäten in Johannesburg (Wits) und Kapstadt (UCT).20 Eine Reflexion postkolonialer Strukturen kann auch dazu führen, paternalistische und koloniale Gesten einer hiesigen applied-theatre-Praxis sensibler zu registrieren. Applied-theatre-Projekte richten sich oft proaktiv an Zielgruppen und Milieus, die überhaupt kein Theater ›bestellt‹ haben, geschweige denn ein solches selbst spielen wollen. Solche Tendenzen zu einem oktroyierten Theater wären aus theaterwissenschaftlicher Perspektive zu kritisieren, ohne dabei selbst in paternalistische Überheblichkeit zu verfallen.

19 20

Vgl. Breed 2014. Die Forschungsaktivitäten des Forschungszentrums »Drama for Life« in Johannesburg sind dokumentiert in Barnes (Hg.) 2013a; und Dies. (Hg.) 2013b. Zu den an der UCT lokalisierten Forschungen vgl. bes. Fleishman (Hg.) 2015. Darin etwa Studien zu Projekten des Magnet Theatre in Kapstadt (12-36), und zu therapeutisch ausgerichteten Theaterprojekten im Themenbereich Flucht und Migration (Flockemann 2015, 37-56).

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Zur Beobachtung von Akteur*innen In der Beschäftigung mit applied theatre bekommt man es mit Akteur*innen zu tun, die einem aus dem Kunsttheater nicht unbedingt vertraut sind. Dazu zählen insbesondere die sogenannten facilitators, d.h. die Anleiter*innen, die etwa theaterpädagogische Workshops, Psychodrama-Therapiegruppen oder Theaterprojekte an sozialen Brennpunkten durchführen.21 Diese Anleiter*innen arbeiten in der Regel professionell und auf der Grundlage spezifischer Qualifikationen, die allerdings sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können. Viele verfügen über eine pädagogische oder psychotherapeutische Ausbildung und haben Zusatzqualifikationen im Bereich praktischer Theaterarbeit erworben. Andere kommen aus den klassischen Theaterberufen, waren in früheren Phasen ihres Berufslebens zum Beispiel Schauspieler*innen oder Regisseur*innen und haben sich anschließend dem applied theatre zugewandt. Für diesen Wechsel kann es wiederum verschiedene Gründe geben: z.B. ein neu erwachendes, starkes Engagement für ein bestimmtes gesellschaftliches Thema (Klimawandel, Migration, Rassismus) und daraus resultierend der Wunsch, die eigene künstlerische Arbeit fortan diesem Thema zu widmen. Andere facilitators haben den engeren Bereich der Künste vielleicht nicht freiwillig verlassen, sondern hatten nach einer Schauspieloder Regieausbildung Mühe, im Theatersystem Fuß zu fassen oder waren an einem bestimmten Punkt ihrer künstlerischen Karriere mit den verbleibenden Arbeitsmöglichkeiten bzw. Rollenangeboten nicht mehr zufrieden. Bei manchen facilitators ist eine gelegentlich durchbrechende ›Sehnsucht nach der Kunst‹ zurückgeblieben und/oder ein starkes Bedürfnis, die eigene Theaterarbeit mit Patient*innen, Schüler*innen, Senior*innen, Häftlingen etc. möge als Kunst anerkannt werden. Abgesehen von gelegentlichen Tendenzen zum Minderwertigkeitskomplex ist die Position der facilitators innerhalb von applied-theatre-Projekten zumeist stark. Nicht selten kommt ihnen eine Doppelrolle als Gruppenleiter*in und Regisseur*in zu. Dabei kann die Auslegung der Gruppenleiter*innen-Rolle changieren zwischen einem eher 21

Zur Rolle der facilitators: Preston (Hg.) 2016. In dem Band reflektieren vor allem Theaterwissenschaftler*innen mit eigener Berufserfahrung als facilitators wie Ananda Breed, Cynthia Cohen, Liselle Terret, Paul Murray oder Kay Hepplewhite über ihre Arbeit. Insgesamt dominieren in der internationalen applied-theatre-Forschung weiterhin Publikationen, in denen sich Praktiker*innen an Praktiker*innen richten. Die Perspektive der facilitators ist insofern in der Forschung überproportional präsent, was nicht immer explizit problematisiert wird.

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therapeutischen, politischen, pädagogischen oder künstlerischen Selbstverständnis. Wer als Theaterwissenschaftler*in ein applied-theatre-Projekt begleiten möchte, kommt an den facilitators keinesfalls vorbei. Ohne Einwilligung und Unterstützung durch den facilitator gibt es keinen Zugang zur Gruppe. Oftmals fungiert der facilitator auch als Gedächtnis einer appliedtheatre-Gruppe, wenn diese von hoher Mitgliederfluktuation gekennzeichnet ist (wie etwa in vielen klinischen Therapiegruppen). Mit dem facilitator müssen eingehende Vorgespräche geführt werden, um die Modalitäten der teilnehmenden Beobachtung auszuhandeln. Er oder sie sondiert in der Regel auch die entscheidende Frage der Einwilligung der Gruppenmitglieder. Über den facilitator lässt sich oft schon vorab einiges über die Gruppenmitglieder herausfinden. Schließlich sind ausführliche Interviews mit dem facilitator unerlässlich, wenn die Motivationen, Intentionen, Einflüsse, Rahmenbedingungen und Probleme der konkreten applied-theatre-Arbeit ausgelotet werden sollen. All dies lässt sich schwer auf andere Weise klären – es ist mitnichten aus Aufführungen herauszulesen, aber es tritt auch im Probenprozess nicht unbedingt offen zutage. Insofern muss ein vertrauensvolles und konstruktives Verhältnis zum facilitator angestrebt werden. Mit einer gewissen Sensibilität und Wertschätzung für die Schwierigkeiten einer Theaterpraxis mit vulnerablen Gruppen ist das meist auch gut erreichbar. Anderseits sollten Probleme und Konflikte, die in der teilnehmenden Beobachtung auffallen, gegenüber dem facilitator auch offen angesprochen werden. Leitfaden-Interviews führen oft allein deshalb zu eher langweiligen und unergiebigen Aussagen, weil wesentliche Probleme und Konflikte im Fragenkatalog des Leitfadens gar nicht berücksichtigt wurden. Besondere Sensibilität ist auch im forschenden Umgang mit nichtprofessionellen Darsteller*innen gefordert. Was Jens Roselt in einem schauspieltheoretischen Kapitel zum Gegenwartstheater einmal als »Arbeit am NichtPerfekten« bezeichnet hat22 , ist im applied theatre gang und gäbe. In den Projekten agieren Menschen, die in aller Regel keine Schauspiel- oder sonstige Theaterausbildung genossen haben und die womöglich zum allerersten Mal Theater spielen oder auf einer Bühne stehen. Sowohl bei der Analyse entsprechender Aufführungen und bei der teilnehmenden Beobachtung der Probenarbeit als auch in Interviews mit den Akteur*innen muss das mitbedacht werden. Nun sind Aufführungsanalysen in der Regel ohnehin nicht auf die Beurteilung der künstlerischen Qualität von Darstellungsleistungen ausgerichtet. 22

Roselt 2005, 376-380.

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Aber auch wenn man sich mit der Frage beschäftigt, was in einer Darbietung zum Ausdruck kommt oder dargestellt wird, sollte man sich vor Augen führen, dass Menschen ohne Schauspielausbildung in dem, was sie zum Ausdruck bringen oder darstellen können, gewissen Beschränkungen unterliegen. Manche Figuren, Bilder oder Szenen, die ihnen gedanklich und affektiv überaus präsent sind, können sie szenisch nur rudimentär umsetzen. Umso mehr gilt es zu beachten, dass sich weite Teile eines applied-theatre-Prozesses subkutan vollziehen und sich nicht in sichtbaren performativen Handlungen oder Interaktionen manifestieren. Die Anwesenheit von zusätzlichen Beobachter*innen, die nicht integraler Teil der Gruppe sind, kann gerade von nichtprofessionellen Darsteller*innen als Belastung empfunden werden. Von daher sollte die Beobachtung zurückhaltend erfolgen und höchsten Wert auf kontinuierliches Einverständnis der Beobachteten legen. Meines Erachtens sollten Theaterwissenschaftler*innen auch nicht den Eindruck erwecken, als seien sie quasi als Teil des Anleiter*innen-Teams am Prozess beteiligt. Häufig sind es die Anleiter*innen, die einen in die Gruppe einführen, einen anfangs quasi ›an die Hand nehmen‹, aber im weiteren Verlauf sollte man bemüht sein, sich aus dieser erkennbaren Nähe zum facilitator zu lösen, die eigene Rolle des*der Forschenden markieren und sich entsprechend auch den Gruppenmitgliedern aus einer eigenen, unabhängigen Position nähern. Erst auf dieser Grundlage wird es möglich, dass Gruppenmitglieder im vertraulichen Gespräch auch Kritik am Projektverlauf oder an den Anleiter*innen durchblicken lassen. Für die Qualität und Aussagekraft der entstehenden Studien scheint die gewählte Distanz zum untersuchten Projekt entscheidend. Aus zu großer Nähe kann eine parteiliche und konfliktscheue Darstellung erwachsen. Wenn aber umgekehrt die Distanz zu groß wird, fehlt es an eigenem, direktem Einblick in die Prozesse und die mit ihnen verbundenen Probleme und Schwierigkeiten. Aus der Tatsache, dass es sich bei den Mitwirkenden an appliedtheatre-Projekten häufig um Menschen mit besonderer Vulnerabilität handelt (Minderjährige, Patient*innen, Angehörige marginalisierter Gruppen etc.), ergeben sich für die Forschenden besondere ethische Verpflichtungen. Entscheidend ist eine angemessene Aufklärung der Beteiligten über die Ziele und Vorgehensweisen des Forschungsvorhabens. Diese sollte mündlich und schriftlich erfolgen. Sie bildet die Grundlage für das individuell einzuholende Einverständnis der Beforschten, das auch schriftlich über die Signatur einer Einverständniserklärung dokumentiert sein muss. Über diese rechtlichen Erfordernisse hinaus verlangt die Mitwirkung von Menschen, die besonderen

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Risiken und Gefahren ausgesetzt sind, eine kontinuierliche Reflexion auf Seiten der Forschenden. Bestimmte problematische Konstellationen lassen sich vorhersehen und möglicherweise vermeiden. Wenn einzelne Teilnehmer*innen eine Beobachtung oder Befragung nicht wünschen, ist das in der Regel zu merken. Wird man selbst auf solche Vorbehalte nicht aufmerksam, dann werden die Anleiter*innen einen in aller Regel rechtzeitig darauf hinweisen. Die Beobachtung oder Befragung ist dann sofort einzustellen. Oft sind die Probleme aber komplexer und treten zu einem etwas späteren Zeitpunkt auf. Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive kann zum Beispiel eine szenische Arbeit oder ein Probenverlauf problematisch anmuten, der von den Beteiligten dennoch als konstruktiv oder sogar heilsam empfunden wird. Es stellt sich dann die Frage, wie offen man mit der eigenen kritischen Haltung umgehen soll. Persönlich neige ich dazu, solche Kritik zu verschweigen – schon um den Verlauf der pädagogischen oder therapeutischen Arbeit nicht zu stören. Viel später können daraus aber Schwierigkeiten entstehen: wenn nämlich die Mitwirkenden die entstandene Studie lesen möchten, was ihnen zweifellos zusteht. Sie werden sich nicht ganz zu Unrecht hintergangen fühlen, wenn in der Studie kritische Kommentare oder auch skeptische Untertöne auftreten, die man zuvor nicht offengelegt hatte. Solche späteren Konflikte mit Gruppen oder gerade auch mit Anleiter*innen, die man teilnehmend beobachtet hatte, sind offenbar keine Seltenheit.23 Zur Durchführung und vor allem Auswertung qualitativer Interviews gibt es aus der empirischen Sozialforschung diverse Richtlinien und Handreichungen.24 Es empfiehlt sich, diese Literatur zur Kenntnis zu nehmen, um grobe Fehler in der Interviewführung zu vermeiden. Zugleich kann die Theaterwissenschaft durchaus auf eigene Erfahrungen in der Gesprächsführung mit Praktiker*innen rekurrieren, denn in der Beschäftigung mit dem Gegenwartstheater war es von jeher üblich, Hintergrundgespräche mit Künstler*innen zu führen, um deren Arbeiten es ging. Solche Gespräche werden in theaterwissenschaftlichen Studien selten eigens problematisiert. Ihre Erkenntnisse fließen in die Studien oftmals ohne besondere Markierung ein. Das heißt nicht, dass die Gespräche selbst unkritisch oder gar

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Die allfällige Anonymisierung der untersuchten Akteure in der Studie kann dieses Problem allein nicht lösen, denn die Akteure haben in der Regel keine Mühe, sich auch in anonymisierten Beschreibungen persönlich wiederzuerkennen. Vgl. aus der großen Auswahl vorhandener Einführungen: Froschauer/Lueger 2003; Misoch 2019.

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unreflektiert geführt würden, nur fehlen die typisch sozialwissenschaftlichen Ansprüche der Repräsentativität oder der Standardisierung von Auswertungsprozessen, die einen Gutteil des Aufwands von Befragungen im Rahmen einer empirischen Sozialforschung ausmachen. Theaterwissenschaftliche Forschungsprojekte sollten sich diesen fachfremden Ansprüchen meines Erachtens nicht vollständig unterwerfen, weil es ihnen sonst an Zeit und Ressourcen für die anders gelagerten Ansprüche einer theaterwissenschaftlichen Studie fehlen wird. Wenn Projekte einen Großteil der ihnen zur Verfügung stehenden Forschungszeit darauf verwenden, standardisierte Auswertungsverfahren zu entwickeln und anzuwenden, werden sie kaum dazu kommen, szenische Vorgänge, Probenprozesse oder Übungsverläufe so ausführlich und differenziert zu beschreiben, wie es eine theaterwissenschaftliche Forschungsanordnung in der Tradition der Aufführungsanalyse mit ihrem fein ziselierten Deskriptionsstil eigentlich erfordert. Wenn die Interviews akustisch sorgfältig dokumentiert sind, erscheint auch eine vollständige schriftliche Transkription in vielen Fällen verzichtbar. Transkribiert werden sollten vor allem jene Passagen, die für die Analyse tatsächlich im Wortlaut interessant sind und die später womöglich auch im Wortlaut in der Studie zitiert werden. Im Übrigen können theaterwissenschaftliche Interviews auf der Grundlage eines sorgfältig durchdachten Leitfadens (mit Themen und Fragen) in freier Form geführt werden. Es entspricht der Tradition des Fachs, die Erkenntnispotentiale von Interviews mit Akteur*innen nicht überzubewerten. Da aber die Erfahrungen von Gruppenmitgliedern und Anleiter*innen Aspekte eines Prozesses transparent machen können, die aus der Beobachtung von Proben und Aufführungen nicht ersichtlich sind, müssen Gesprächsformen, mit denen solche Erfahrungen erschlossen werden können, in die Methodenreflexion der Theaterwissenschaft verstärkt Eingang finden.

Resümee Aus dem bisher Ausgeführten lassen sich bestimmte Qualitätskriterien für theaterwissenschaftliche Forschungen zum applied theatre ableiten. Solche Kriterien ergeben sich auch aus der Einsicht, dass die Theaterwissenschaft auf diesem Forschungsfeld beileibe nicht allein ist. Politikwissenschaftliche, soziologische, pädagogische und psychologische Studien sind bereits reichlich vorhanden, sodass Theaterwissenschaftler*innen sich fragen müssen,

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was ihr fachspezifischer Beitrag zu den disziplinübergreifenden Forschungsbemühungen sein kann. Aus meiner Sicht kann dieser Beitrag nicht zuletzt darin bestehen, die ästhetische Dimension von applied theatre stärker in den Vordergrund zu rücken. Denn in vielen Studien aus anderen Fächern kommt diese Dimension zu kurz: Theaterformen werden nicht genau genug beschreiben, Darstellungsweisen und Schauspielstile nicht erkannt oder historisch nicht adäquat eingeordnet, die konkreten raumzeitlichen Vollzüge kommen nicht zur Geltung. In allen diesen Hinsichten können sich theaterwissenschaftliche Untersuchungen um mehr Genauigkeit und Transparenz bemühen. Dazu gehört es auch, die Aufführungsanalyse als Methode in Untersuchungen zum applied theatre konsequent einzubeziehen – ohne sich freilich auf Aufführungsanalyse zu beschränken,25 denn ohne eine Berücksichtigung von Probenprozessen, Übungsabläufen, Gruppendynamiken etc. geraten die wohl wirkungsvollsten Elemente von applied theatre aus dem Blick. Die Prozesse und Mechanismen dieses Theaters sind aufs engste mit je spezifischen sozialen Kontexten verwoben. Entsprechend sollten theaterwissenschaftliche Studien die eigentlichen theatralen Praktiken nicht zu abstrakt beschreiben, sondern in ihren Interferenzen mit Besonderheiten des jeweiligen gesellschaftlichen Kontextes betrachten. Bei der Einbeziehung solcher Kontexte sollten Forschungen anderer, insbesondere sozialwissenschaftlicher Fächer mit herangezogen werden. Schließlich könnte ein Qualitätsmerkmal theaterwissenschaftlicher Studien in diesem Feld darin bestehen, sich mit wirkungsbezogenen Aussagen weitgehend zurückzuhalten. Dies erfordert einige Anstrengung, denn die Erwartungen an wissenschaftliche Forschungen zum applied theatre richten sich gerade auf Wirkungsnachweise und -prognosen. Die Theaterwissenschaft kann solche Nachweise und Prognosen aufgrund ihrer fachlichen Traditionen und Methoden nicht bieten – und sollte dazu auch stehen. Eine strenge Abstinenz gegenüber Wirkungshypothesen eröffnet umso mehr Raum für genaue, reflektierte Beschreibungen szenischer Prozesse. Am Ende kann sich herausstellen, dass solche Beschreibungen die Potenziale und Grenzen von applied theatre genauer einfangen als empirische Wirkungsstudien, die mit

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Und ohne die Aufführungsanalyse vorwiegend als eine Form der ästhetischen Kritik zu verstehen. Gerade in Bezug auf applied theatre scheint wichtig, was für viele ohnehin zu den methodologischen Prinzipien der Aufführungsanalyse gehört: dass sie weniger auf Beurteilung als auf genaue Beschreibung abzielt.

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theatralen Prozessen verbundene Erfahrungen auf klar benennbare Effekte oder Emotionen reduzieren.

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Aufführungsanalyse in Zeiten der Wiederholung Susanne Foellmer

Uferstudios Berlin 2011: Das Tanzkollektiv Lupita Pulpo zeigt sein aktuelles Stück mit dem Titel New. Die Situation erinnert ein wenig an den Beginn einer neuen Produktion im Proberaum: Ayara Hernández Holz, Felix Marchand und Irina Müller betreten die Bühne und verharren sogleich, ein wenig ratlos wie es scheint. Momente des Überlegens, Umhergehens, dann schließlich der Vorschlag »Or we could enter from here« gefolgt von der Feststellung »This has been done.« Rasch zeigt sich, dass dieses Frage-und-Antwort-Format das Stück dominieren wird. Jeder Vorschlag einer szenischen Idee oder eines Bewegungspatterns wird sogleich mit der Aussage gekontert, dass es das schon mal gegeben habe. Nichts Neues also im ästhetischen Diskurs des Tanzes der letzten Jahrzehnte, das sich noch zeigen oder als Kreation behaupten ließe – so zumindest lässt es das Erinnerungsrepertoire der drei Darstellenden glauben. Unterdessen stellen sich im Publikum Momente des Wiedererkennens ein, je nach eigener Seherfahrung freilich. Lachen oder andere Formen der Zustimmung sind zu hören, wenn ein augenscheinlich signifikantes Bewegungsmuster gezeigt, erkannt und mithin als nicht ›original‹ identifiziert wird – das Spiel mit dem Verwerfen auf der Bühne wandelt sich auf Seiten des Publikums zur Überprüfung des eigenen Katalogs dessen, was man erkennt oder glaubt, doch zumindest kennen zu müssen. Spätestens seit Aufführungsformate wie Reenactments, Rekonstruktionen, Reperformances und andere Wiederholungen vergangener Tanz-, Theater- und Performance-Ereignisse vermehrt Einzug auf den Bühnen halten,1 hat sich, so meine These, die Methodik der Aufführungsanalyse (weiter) verkompliziert. Freilich kann es beim Wahrnehmen, Rezipieren und

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Im Tanz etwa gefördert durch Programme wie Tanzfonds Erbe, die sich einer verstärkten Sichtbarmachung des Tanzes im 20. Jahrhundert verpflichtet haben. Siehe https:// tanzfonds.de/home/

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schließlich Analysieren des auf der Bühne Gesehenen in der Regel nicht nur um das alleinige Erfassen des Theaterereignisses selbst gehen, sondern sollte dies üblicherweise von der Einbettung und Kontextualisierung etwa im Hinblick auf herrschende jeweilige Theaterdiskurse gerahmt werden.2 Ich meine jedoch, dass Aufführungen wie jene von Lupita Pulpo, deren Darstellungen im Grunde ausschließlich aus referentiellen Andeutungen bestehen – und die damit eine Art Intertext-Theater konstellieren –, die Grenzen einer auf beispielsweise semiotischen oder phänomenologischen Ansätzen beruhenden Aufführungsanalyse prägnant aufzeigen. Denn die Analyse kommt in diesem Fall nicht ohne ein gewisses Background-Wissen aus, um ›Sinn‹ zu machen, auch wenn sich womöglich die Erkenntnis einstellt, dass der/dem Analysierenden dieses Wissen fehlt – hier stellen sich dann Fragen danach, wie diese Lücke zu füllen wäre. Ich spreche hier nun nicht davon, dass Intention, Konzept und die diskursiven wie kulturellen Rahmen einer Aufführung vollständig offenbar sein müssen, um eine Analyse zu ›komplettieren‹. Stücke wie New jedoch zeigen, dass sich Fragen, die über das rezeptive Vermögen hinaus gehen, fast automatisch stellen, wenn wie in diesem Fall das Verweisen auf ein breites Referenzsystem im Tanz der letzten Jahrzehnte tragendes Konzept der Aufführung selbst ist. New ist in diesem Sinne nicht unbedingt neu, arbeiten doch nicht nur darstellende Künstler/innen immer wieder mit Zitaten und intermedialen Verweisen3 , die man, wenn nicht explizit angesprochen, als Analysierende/r vielleicht oder vielleicht auch nicht entdeckt. In seiner Ausschließlichkeit jedoch kratzt New an den Grundfesten von Aufführungsanalyse und fordert eine Erweiterung nahezu ein. New ist in dieser Hinsicht kein Sonderfall, sondern zeigt in seiner Verwobenheit mit dem Außerhalb der Aufführung vielmehr, dass insbesondere neue Aufführungsformate wie etwa Reenactments noch komplexere, das heißt, kombinierte Analyseansätze erfordern. Denn wie wäre ein Bühnengeschehen, das sein Fundament explizit auf vergangene Ereignisse stellt, einzuordnen, ohne etwa von einer historiografischen Analyse begleitet zu werden.

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Vgl. Balme 2014, 45. Vgl. Döhl/Wöhrer 2014 und hier besonders Kalu/Wihstutz, die mit Gob Squads Kitchen (You’ve Never Had It So Good) (2007) ein Beispiel für referentielle Verfahren anführen, in dem die Performer/innen den zitierten Warhol-Film selbst nicht einmal gesehen haben. (Vgl. Kalu/Wihstutz 2014, 97)

Aufführungsanalyse in Zeiten der Wiederholung

Im Folgenden möchte ich am Beispiel von New die Möglichkeiten und Limitierungen von Aufführungsanalyse anhand der gängigen Modelle skizzieren und mich sodann Fragen der historiografischen Verschränkung am Beispiel des Reenactments A Mary Wigman Dance Evening von Fabián Barba (2009) widmen, um zudem die Frage nach der Notwendigkeit von Vor- oder Begleitwissen um das Aufgeführte nochmals kritischer zu stellen.

»This has been done« In etwa der Mitte der Aufführung von New vollzieht der Tänzer Felix Marchand einige Posen mithilfe seines T-Shirts. Irina Müller beobachtet ihn. Es entspinnt sich folgender Dialog, Teil des stückübergreifenden Angebots-undAblehnungs-Schemas. Marchand zieht sein Shirt über den Kopf und fragt: »What about this?«, daraufhin entgegnet Müller: »Done.« »Or this?« – er streckt die Arme mit dem darüber gezogenen T-Shirt nach oben aus, sodass sein nackter Oberkörper exponiert ist. Müller: »Done.« Schließlich beugt sich Marchand nach vorne, das T-Shirt verdeckt weiterhin Kopf und Oberarme – und landet in einer Pose ähnlich des im Yoga bekannten herabschauenden Hundes, das heißt Hände und Füße sind am Boden, die Hüfte nach oben und hinten hin ausgerichtet bei durchgestreckten Beinen: »Or?« Müller: »Done.« (Abb. 1) Ein raunendes Erkennen geht durch das Publikum: Die Pose Marchands wird als Bewegungs-Still des Tänzers Xavier Le Roy aus seinem Stück Self unfinished (1998) identifiziert, das mittlerweile schon ikonisch ins Gedächtnis des zeitgenössischen Tanzes eingegangen4 und daher offenbar vielen der anwesenden Zuschauer/innen bekannt ist (Abb. 2). Mit Erika Fischer-Lichtes Modell der semiotischen Aufführungsanalyse könnte die beschriebene Szene im Rahmen eines komplexen Zeichensystems untersucht werden. In ihrem von der Linguistik geprägten Analyseverfahren, das die Aufführung als einen Theatertext versteht, entwickelt Fischer-Lichte ein erweitertes Textmodell, das unter anderem den Raum, Sound und auch den Körper und seine verschiedenen gestischen, mimischen und proxemischen Zeichen einbezieht.5 Fischer-Lichtes Schwerpunkt liegt dabei auf dem Sprechtheater mit dem Fokus auf Schauspieler/innen. Ihr Modell stellte zur Zeit seiner Entwicklung einen wertvollen Ansatz dar, die Textbezogenheit des 4 5

Vgl. Foellmer 2009, 12. Vgl. Fischer-Lichte 1994, 47-93.

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Abbildung 1: Lupita Pulpo: New (2011/13) (Foto: Dieter Hartwig).

Theaters hinsichtlich der Analyse aufzuweichen und die mediale Vielschichtigkeit einer Aufführung zu erfassen. Später ergänzte Fischer-Lichte ihr entwickeltes Schema um phänomenologische Ansätze, die das engmaschige linguistische Modell überschreiten und auch die eigene Verfasstheit als Analysierende/r sowie etwa die Umgebung und Atmosphären einbeziehen, die sich einer klaren semiotischen Taxonomie entziehen.6

6

Vgl. Fischer-Lichte 2004.

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Abbildung 2: Xavier Le Roy: Self unfinished (1998), (Foto: Katrin Schoof).

Ich möchte jedoch noch einmal zurück zur Semiotik gehen und genauer fragen, inwieweit anhand der oben beschriebenen Szene insbesondere der Konnex von linguistischen und körperbasierten Zeichen produktiv wäre. Dabei fällt sofort eine Spaltung von linguistischer Äußerung und Verkörperung auf (wenn man einmal die etwas abschätzige Mimik von Irina Müller anhand des Schon-Gesehenen außer Acht lässt). Denn es handelt sich hier um Tanz und sogleich wird eine Verdrehung der Kategorien evident: Das Verkörperte, in diesem Fall die diversen angebotenen Posen, rückt in den Vordergrund und wird durch die Frage »What about this?« eher als Angebot verstärkt, das anschließend abgewiesen wird. Das Sprachliche begleitet in diesem Fall die Bewegung und nicht umgekehrt. Dies mag nun schlicht eine häufige Eigenheit im Bühnentanz sein, der allerdings nicht erst in zeitgenössischen Produktionen verbale Texte selbstverständlich in die Aufführung integriert. Mich interessiert hier jedoch, was sich genau in diesem Körper-Angebot-Frageund-Ablehnungsschema abspielt und inwiefern dies mit dem Verfahren der

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Semiotik analysierbar wäre. Denn deutlich wird im sprachlichen Dialog, dass sich das Gezeigte wie das Gesagte auf ein Außerhalb der Aufführung beziehen. Dies wiederum ist kein Außen, dass im Sinne eines Verweissystems verdichteter theatralischer Zeichen funktioniert und einfache Gegenstände mitunter transzendiert, so etwa ein Tisch, der auch Anderes denotieren kann als schlicht die Funktion Tisch.7 In New wird vielmehr die von Fischer-Lichte betonte deiktische Funktion des theatralischen Zeichens selbst und insbesondere jene der Geste8 in den Mittelpunkt gerückt: Die jeweils aufgeführten Bewegungssequenzen sind im Grunde nur ›anwesend‹, um auf ein Außerhalb kultureller Muster – hier jene des zeitgenössischen Tanzes – zu verweisen. Jene szenische Anordnung lässt das bloße Beschreiben dessen, was ich auf der Bühne vor Augen habe, als obsolet erscheinen, so lange ich den ›Fingerzeigen‹, die die Tänzer/innen mir fortwährend geben, nicht folge. Allerdings: Muss ich wissen, worauf die Performer/innen verweisen? Würde es nicht ausreichen, zu wissen, dass mir hier etwas an-gezeigt wird, auch wenn es sich um etwas handelt, das sich unter Umständen meiner Kenntnis entzieht? Denn dass hier ein Spiel mit dem kulturellen Kanon der jüngeren zeitgenössischen Tanz-›geschichte‹ gespielt wird, ist spätestens dann klar, wenn die phänomenologische Ebene in die Aufführungsanalyse integriert wird: Jene der Publikumssituation und die hier evozierte Atmosphäre des Erkennens, die wiederum durch paralinguistische Zeichen identifizierbar ist: Raunen, Aufschnaufen, Lachen und dergleichen – und die im Übrigen die verbalen Zeichen ersetzen, denn im Theater sollte man als Zuschauende/r üblicherweise nicht selbst sprechen. Es käme nun freilich darauf an, was genau im Fokus der Analyse liegen soll und ob das Kontextwissen um die angedeuteten Zitate ein Teil dessen wäre. Eine gewisse unbefriedigte Situation lässt sich jedoch nicht leugnen, wenn eine Aufführung sich als explizites Verweis-Theater gestaltet, dessen Indizes sich der eigenen Kenntnis entziehen. Ich mache diesen Punkt deshalb so deutlich, da der Besuch dieser Aufführung Teil eines meiner Seminare war9 und ich feststellen musste, dass sich meine eigene Seherfahrung, wenig überraschend, nicht mit derjenigen der Studierenden deckte und es 7

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Fischer-Lichte wählt dieses Beispiel zur Veranschaulichung der Verfasstheit theatralischer Zeichen. Ein Tisch könne demnach auch eine Anhöhe, eine Höhle oder Ähnliches darstellen. (Vgl. Fischer-Lichte 2010, 85) Vgl. Fischer-Lichte 1994, 60-87. Hauptseminar re.act.feminism, BA Theaterwissenschaft, Vertiefungsmodule Theorie und Ästhetik; Historiographie, Freie Universität Berlin, Sommersemester 2013.

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mithin einige Frustrationen gab: Manche konnten zwar das Stück als solches genießen, andere jedoch hatten eine Aufführung ›erwischt‹, in der sie das »wissende Lachen«10 der anderen Zuschauer/innen als störend bis ausgrenzend empfanden. Das Stück hinsichtlich des alleinigen Faktums seiner deiktischen Funktion – und mithin Strategie – zu analysieren, scheint also in diesem Fall nicht auszureichen. Was tun?

Kon-Texte Zwei Jahre später erhalten Lupita Pulpo eine Förderung vom Berliner Senat zur Wiederaufnahme des Stücks. New wird 2013 erneut gezeigt, wieder in den Uferstudios. Anders als zuvor jedoch ›liefert‹ das Kollektiv nun ein regelrechtes Informationspaket mit: Ein Booklet wird herausgegeben, in dem sich der Ablauf der Aufführung mit Kurzbeschreibungen der Szenen und Bewegungssequenzen, die Aufgaben und Bewegungsanweisungen, die den jeweiligen Abschnitten zugrunde lagen, sowie die referenzierten Stücke wiederfinden. Zusätzlich gibt es an einem der Abende eine szenische Lesung dieses ›Scripts‹. Fast erscheint das Heft wie ein Hilfsmittel zur Aufführungsanalyse, denn Bewegungsabschnitte sowie »tasks« und Referenzen sind sorgsam chronologisch in einer Tabelle angeordnet11 – eine freundliche Dienstleistung des Kollektivs gleichsam, die als zusätzliche Informationsquelle und als Erinnerungsstütze dienen kann. Christopher Balme plädiert in seinen Ausführungen zu theaterwissenschaftlichen Methoden12 für die Verwobenheit der Betrachtungsebenen in Form der Inszenierungsanalyse. Ebenfalls ausgehend von einem textlich basierten Modell unterteilt er den »Theatertext« – beispielsweise das zugrundeliegende Drama oder eine Choreografie –, den »Inszenierungstext« – das heißt die Konzeption etwa durch die Regie – sowie schließlich den »Aufführungstext«. Balme kritisiert damit die postulierte Einmaligkeit der Aufführung, die sich vielmehr in einem intertextuellen Geflecht der oben angeführten Ebenen ereigne.13 10 11 12 13

Vgl. Schmidt 2020, 149-160. Vgl. Hernández Holz/Marchand 2013, np. Vgl. Balme 2014, 80-88. Vgl. Balme 2014, 89. Balme betont in diesem Sinne etwa das Repertoiretheater, dessen Möglichkeit, Aufführungen mehrmals zu zeigen, das Theaterereignis doch als ein recht »[k]onstant[es]« erscheinen lasse, da die Stücke über einen längeren Zeitraum

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Was aber nun sind die Texte bei Lupita Pulpo? Balmes Konzept der Inszenierungsanalyse ist in einem recht engen System von Drama/Choreografie – Inszenierung – Aufführung verortet, auch wenn er ein Hintergrundwissen für unerlässlich hält, etwa die Kenntnis des Feldes zeitgenössischer Choreografie.14 Was jedoch tun, wenn jemand am Beginn ihres/seines Studiums steht und ein solches Wissen schlicht noch nicht verfügbar ist? Wie lässt sich News »Theatertext« erfassen, der doch vielmehr aus einem vielschichtigen Gewebe jüngerer Tanzkunst besteht, das überdies den Aufführungserinnerungen der drei beteiligten Performer/innen entsprungen ist? Es zeigt sich, dass Balmes Textbegriff auf dieser Ebene weiter gefasst werden muss. Die Kategorie »Theatertext« beziehungsweise Choreografie kann insbesondere im zeitgenössischen Tanz so linear nicht (mehr) gedacht werden – insbesondere im Zuge von Produktionsformaten, die das kollektive Erarbeiten eines Stückes favorisieren: Kreation wird als gemeinsamer Prozess praktiziert, konträr zum Modell eines ›vor-geschriebenen‹ choreografischen Textes, der in der Probe schlicht ausgeführt würde. Der Text, der New zugrunde liegt ist folglich eine Verknüpfung aus einem Geflecht von Zitaten, den erinnernden Körpern der Performer/innen und nicht zuletzt einem gewissermaßen übergeordneten Zitat selbst: Denn sogar die konzeptuelle Idee des Stücks New ist nicht neu, sondern ein intermedialer Verweis auf die Videoarbeit der polnischen Performancegruppe Azorro mit dem Titel Everything Has Been Done (2003). In dieser formulieren die drei Darsteller die Unmöglichkeit, in der bildenden Kunst noch etwas Neues zu schaffen, und legen mit der wiederkehren Formel »This Has Been Done« die Basis für Lupita Pulpos zitierende Adaption des Konzepts.15 Mit dieser Metazitatebene ist wiederum eine weitere Komplikation geschaffen, die sich aus der

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(manchmal gar mehrere Jahre) im Grunde immer wieder angeschaut werden können. Ausgeblendet wird hier allerdings die weitaus prekärere Situation in der sogenannten Freien Szene, in der ein Stück oftmals lediglich drei- bis vier Mal aufgeführt werden kann, um dann häufig in der Versenkung zu verschwinden – und insofern wiederum einer gewissen Transitorik Rechnung zu tragen, wenn man diese auf die Gelegenheiten des Aufführens begrenzt (allerdings sind auch ›dauerhaftere‹ Extensionen etwa in Form von Theaterkritiken oftmals nicht gegeben). Auch wäre die Frage, wie in dieser Hinsicht singuläre Happenings in der Performance Art zu situieren wären (abgesehen von ihrer anschließenden medialen und diskursiven Verbreitung). Balme 2014, 114. Interessanterweise macht Balme dies am »Theatertanz« fest, für das Sprechtheater selbst erwähnt er solche Notwendigkeiten der Kontextualisierungen nicht. Vgl. Hernández Holz/Marchand 2013, np.

Aufführungsanalyse in Zeiten der Wiederholung

referentiellen Charakteristik des Stückes New ergibt: Denn wie wäre hier der »Theatertext« vom »Inszenierungstext« zu unterscheiden? Was ist Konzept des Stückes, was ›Grundlagen‹-Text? Was liegt vor den Proben, was entsteht währenddessen? Und was wiederum ist Konzept, was Aufführung, wenn, als erneute Komplexitätssteigerung, die Aufführung im Format einer Probe dargeboten wird? Dann wiederum legt das Kollektiv mit dem Booklet 2013 ein regelrechtes Script der Aufführung vor. Aber ist dies nun der Theatertext – geht ihm doch eigentlich bereits ein anderer, referenzierter Text voraus – oder vielmehr ein gleichsam nach-geholter, dokumentierender Inszenierungstext? Eine Antwort hierauf kann es, so meine ich, nicht eindeutig geben, vielmehr verdeutlichen die obigen Fragen, dass auch die heuristischen textlichen Trennungen, wie Balme sie mit der Perspektive der Intertextualität unternimmt, in Produktionen wie New nicht (mehr) greifen. Balme weist wiederum auf die Notwendigkeit einer »Quellenkunde« hin, das heißt, Kenntnis des Theatertextes, aber auch das Zuhilfenehmen der eigenen Notate sowie Videomitschnitte der Aufführung ebenso wie Programmheft, Kritiken und dergleichen werden als Hilfsmittel und mithin »Quellen« zur Analyse einer Inszenierung empfohlen.16 In diesem Sinne stellt das Booklet eine durchaus nützliche Quelle dar. Was aber jedoch würde das im Detail bedeuten? Selbst wenn ich genau nachvollziehen kann, auf welches Tanzereignis die Performer/innen jeweils anspielen, welchen Sinn ergibt es, die jeweiligen Referenzen nachzuschauen und unter Umständen gar Fotos oder Videos der Aufführungen zu recherchieren, falls ich das ›Original‹ nicht kenne? Würde dadurch die Analyse vollständiger, das Inszenierungsgeschehen transparenter? Oder geht es am Ende doch vielmehr um die grundsätzliche Tatsache, dass in New ausschließlich paraphrasiert wird? Zwei Anekdoten stützen diese Vermutung: Im Seminar erzählt mir eine Studentin, dass sie die angespielten Bezüge zwar meist nicht erfasst habe, eine Situation jedoch sei ihr bekannt vorgekommen: Ein Verweis auf eine Performance von Jérôme Bel (Véronique Doisneau, 2004), die sie wiederum in einem Video in einem anderen Seminar gesehen hatte. Das Zitierte muss also nicht einmal ›selbst gesehen‹ worden sein, sondern kann über verschiedene mediale Verweissysteme ins kulturelle Gedächtnis einwandern. Das wiederum spricht für Balmes Postulat, sich nicht auf die Aufführung als einziges Referenzmodell der Analyse zu beschränken, sondern ihre medialen Extensionen (wie Video) mit einfließen zu lassen. Balmes Intention ist hier die genaue16

Vgl. Balme 2014, 90f.

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re Analyse etwa von Tanzaufführungen, die das Video, durch seine Wiederholfunktion, ermögliche.17 Meines Erachtens jedoch greift das Einbeziehen der verschiedene Materialien noch wesentlich weiter, situiert es doch nicht nur Aufführungen wie New in einem diskursiven Gewebe von Vergleichen im Kontext aktueller Strömungen: Etwa durch Kritiken, in der Herangehensweise und der eigenen Einbettung des Stücks der Kreateur/innen durch Programmhefte, und in der Art und Weise, wie die Performer/innen ihre ›nachgelagerten‹ Produkte wie etwa Videos gestalten (als Totale, künstlerisch durch Schnitte gestaltet, als Fragment?). Balmes Modell ist ein hermeneutisches, er versteht Theater im Sinne eines »Kommunikationssystem[s]«.18 Dazu gehört auch das Wissen um theatrale Konventionen und »soziokulturelle« Rahmen sowie das Einbeziehen der Publikumsreaktionen auf einer affektiven Ebene19 – mit den Anzeichen des Erkennens von Zitaten in New war hiervon zuvor bereits die Rede. Diese Kenntnisse fließen wiederum ein in die detaillierte Untersuchung der genannten Textebenen. Ich frage mich jedoch, was es im Falle von New zu verstehen gäbe, und dies führt mich zu meiner zweiten Anekdote: Denn manches des Angespielten, das ich zu erkennen dachte, erwies sich später als ›falsch‹. So glaubte ich, an einer Stelle der Aufführung eine Sequenz aus einem Stück Eszter Salamons (Giszelle, 2001) identifiziert zu haben, tatsächlich jedoch referierte Lupita Pulpo auf eine Produktion der Gruppe Forced Entertainment (Bloody Mess, 2004).20 Im Moment der Aufführung ist es jedoch unerheblich, ob ich das ›Richtige‹ erkenne, denn es scheint vielmehr darum zu gehen, etwas zu erkennen zu glauben. Ohne das Booklet, das, mit einiger Verspätung, die Referenzen preisgibt, hätte ich weiterhin im Glauben sein können, das Zitierte ›richtig‹ gedeutet zu haben. Insofern zeigt sich meines Erachtens, dass es hier nicht um ein detailgenaues oder gar kenntnisreiches ›Entschlüsseln‹ der Aufführung oder gar ihres Textes geht. Vielmehr schiebt sich Lupita Pulpos Konzept und damit der Inszenierungstext des Verweisens in den Vordergrund, der sich jedoch, wie bereits argumentiert, mit dem Theatertext überlagert. In diese Annahme spielt Patrice Pavis’ Semiotik der Theaterrezeption hinein. Er fokussiert in seinem Konzept auf die Ebene der Zuschauenden. Die

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Vgl. Balme 2014, 91. Balme 2014, 121. Balme 2014, 139f. Vgl. Hernández Holz/Marchand 2013, np.

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»Rezeptionslenkung« in einer Aufführung geschehe dabei unter anderem auf »generisch[e]« Weise, das heißt, es werde auf die »Kenntnisse [der Zuschauenden] über die Strukturgesetze der Gattung« Bezug genommen, sowie im »ideologisch[en]« Sinn: der Bezugsrahmen sei hierbei unter anderem das »Referenzuniversum des Publikums«.21 »Rezeptionslenkung«, so Pavis, sei dabei ein »auf eine bestimmte Lesestrategie gegründete[r] Textmechanismus«.22 Auch Pavis ist einem Textmodell verpflichtet, in dem die Idee der Lenkung recht strikt erscheint.23 So rigoros dieses Konzept wirkt, fruchtbar ist es in Bezug auf die Diskurse der Gattung und der Lesestrategien, die das Publikum immer schon ›mitbringt‹. Aus meiner Sicht ist New hier ein Exempel für die Möglichkeit des gleichermaßen Kennenlernens wie Verfehlens bestimmter Gattungsmerkmale und Erfahrungshorizonte. Denn selbst wenn ich nicht in der Lage bin, das Referierte zu bestimmen, so wird in der Aufführung eines deutlich: dass das Verfahren des Verweisens gleichsam aufgeführt und vorgeführt wird, und mit ihm ein Signum postmoderner Strategien, die entgegen der Idee eines Originals24 vielmehr die Kombinatorik intertextueller Bezüge in den Mittelpunkt rücken. Bemerkenswert ist dabei, dass Lupita Pulpo im Grunde Unbestimmtheiten zulässt – falls ich das Gezeigte nicht erkenne – und zugleich verunmöglicht: Das Booklet gibt mir am Schluss zumindest die theoretische Gelegenheit, über alles, wenn auch nur nominell, ›Bescheid zu wissen‹. Solche Fragen der Wissens-Verhältnisse stellen sich wiederum besonders im Bereich von Reenactments und ihren Bezugssystemen und rufen Aspekte des Historiografischen auf, die sich, so meine ich, mit den Verfahren der Aufführungsanalyse überlagern.

Wieder-Holungen Tanzkongress Kampnagel Hamburg, November 2009: Eine konzentrierte Versammlung von Tanzexpert/innen sieht die Premiere von A Mary Wigman Dance 21 22 23

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Pavis 1988, 43. Pavis 1988, 31f. Allerdings plädiert Pavis für eine hermeneutische Offenheit: Anders als in Ingardens Textmodell versteht er »Unbestimmtheitsstelle[n] eher als Fragestelle[n] […] der Begegnung zwischen dem Text und seinem gegenwärtigen Leser, als Stelle[n] der[] Ambiguität und Polysemie« (Pavis 1988, 29). Vgl. Groys 1992, 40.

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Evening, eine Soloarbeit des in Ecuador und in Belgien (P.A.R.T.S.) ausgebildeten Tänzers und Choreografen Fabián Barba. Das Stück basiert auf dem Reenactment eines der Tanzabende der titelgebenden Tänzerin, die besonders in den 1920er Jahren als eine der Mitbegründerinnen des Ausdruckstanzes u.a. Programme mit kurzen Soloarbeiten darbot. Der Abend ist mithin ein doppeltes Reenactment: Zum einen sind die einzelnen Soli detailgetreu recherchiert und ›nach‹-getanzt, zum anderen entspricht das gesamte etwa eine Stunde dauernde Stück einer Rekonstruktion des Aufführungsformats aus der Zeit Wigmans: Auf den Sitzen im Publikum finden sich Programmzettel, die im Layout – so etwa der Schrifttype – den Ankündigungsflyern der damaligen Zeit ähneln,25 die dargebotenen Stücke sind Soli, die von kurzen mit Musik untermalten Intervallen unterbrochen werden, in denen Barba sich für den nächsten Tanz umkleidet, abseits der Bühne und verborgen vor den Augen des Publikums. Die einzelnen Tanz-Nummern, wie Pastorale, Sommerlicher Tanz oder Raumgestalt sind wiederum minutiöse Nachvollzüge sowohl des tänzerischen Repertoires, der Bewegungsqualitäten und -gestaltungen Wigmans, als auch der gewählten Kostüme und ihrer Stofflichkeit. Sogar die Frisur scheint jener Wigmans zu ähneln. (Abb. 3) Im Anschluss an die Aufführung entspannen sich Debatten, die man grob als eine Diskussion um Authentizität und Originaltreue fassen kann26 und die in ihrer Kontroversität in begeistertes Befürworten versus strikte Ablehnung gespalten waren. Die Auseinandersetzungen drehten sich im Wesentlichen um die Frage, inwieweit das, was auf der Bühne zu sehen war, nun eine ›brauchbare‹ Rekonstruktion dessen sei, was Wigmans Tanzästhetik ausmache – und die Aufführung mithin künftig als historiografische Quelle herangezogen werden könnte – oder ob wir hier einem gescheiterten Nachahmungsversuch bewohnen mussten.27 Im Rahmen meiner Ausfüh25

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In diesem Fall beziehen sich meine Kenntnisse auf Archivrecherchen, die ich 1998 im Rahmen meiner Diplomarbeit zu Valeska Gert – und begleitend zu Mary Wigman – in der Akademie der Künste Berlin unternahm, wobei mir zahlreiche solcher Programmzettel für Tanzabende ab 1918 in die Hände fielen. Zur Problematik der Bezugnahmen auf vergangene Tanzereignisse in Rekonstruktionen und Reenactments sowie der Nachzeichnung der akademischen Debatte um einen problematisch gewordenen Originalbegriff besonders im Tanz vgl. Foellmer 2014. Vgl. zur positiven Beurteilung exemplarisch Lise Smith über die Aufführung im Rahmen des Londoner Festivals Dance Umbrella (8. Oktober 2012). Kritik an der Aufführung im Rahmen des Tanzkongress 2009 übt etwa Ulrich Völker (2009). Brian Seibert vermisst wiederum anhand der Aufführung im New Yorker Museum of Modern Art (Februar 2013) gerade die ›authentische‹ Nähe zu Wigman: »While Mr. Barba’s per-

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Abbildung 3: Fabián Barba: A Mary Wigman Dance Evening (2009), (Foto: Dieter Hartwig).

rungen, die auf aktuelle Fragen der Aufführungsanalyse fokussieren, kann ich nun nicht auf die Chancen und Schwierigkeiten sowie ontologischen Herausforderungen von Rekonstruktionen und anderen Wiederholungen im Tanz eingehen.28 Vielmehr möchte ich die analytischen Möglichkeiten eines

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formance was true to the subjugation of ego of which Wigman wrote, it lacked the intensity and charisma that so impressed those who wrote about her.« Zum Wigman-Reenactment Barbas vgl. Timmy De Laet: Seiner Einschätzung nach vergrößere Barba die historische Distanz zu Wigman gerade durch die unternommenen formalen wie physischen Anähnlichungen. Mit einem gleichsam aus der Zeit gefallenen Tanzstil, dargeboten für ein zeitgenössisches Publikum, generiere der Choreograf oszillierende Figuren zwischen dem »historischen Bild« Mary Wigmans und dem eigenen, zeitgenössisch verfassten Körper (De Laet 2017, 41, 39). Zum tanzwissenschaftlichen Diskurs von Theorien und Methoden von Rekonstruktionen und Reenactments vgl. außerdem Thurner/Wehren 2010 sowie hier insbesondere Giersdorf 2010 zum Verhältnis von praktischer Tanzrekonstruktion und akademischer Geschichtsschreibung. Zum Reenactment in Theaterkontexten vgl. Roselt/Otto 2012. Zur Ontolgie der Aufführung im Sinne einer fraglichen Präsenz am Beispiel von Reenactments vgl. Schneider 2011.

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Reenactments wie jenes von Barba skizzieren und die Überlagerungen von Aufführungsanalyse und Theaterhistoriografie aufzeigen. Unterzieht man A Mary Wigman Dance Evening nun einer Aufführungsanalyse, so wird rasch deutlich, dass diese ohne den Kontext des vorgängigen historischen Ereignisses kaum möglich sein wird. Selbst wenn ich als Analysierende – oder schlicht als Theaterbesucher/in – keine Kenntnis von Wigman und ihren Aufführungspraktiken habe, wird sichtbar, dass hier auf etwas verwiesen wird, das jenseits der Aufführung liegt. Nicht zuletzt das Programmheft des Abends deutet darauf hin. Das ›Jetzt‹ der Aufführung wird also immer schon von einem Vorgängigen durchquert. Muss jedoch die Aufführungsanalyse im Falle von Reenactments immer von einer Konsultation historischer Quellen begleitet werden? Und falls ja: Wie wären hier Kontextualisierungen möglich, wenn ich von der Aufführung als Basis für meine Untersuchungen ausgehe? Der Versuch, A Mary Wigman Dance Evening in sein historisches Verweisgeflecht einzubetten, eröffnet gleich einen ganzen Strauß an Fragen. Zunächst ist zu überlegen, welchem Zweck das Heranziehen historiografischer Quellen über und von Mary Wigman dienen soll. Geht es nur darum, sich über das Referierte zu informieren, um geschichtlich einbetten zu können, worum es sich bei Barbas Adaption dreht? Soll der Fokus auf Arten und Weisen von Reenactments heutzutage liegen, für das Barba als eines von mehreren Beispielen dienen könnte?29 Oder ist eine komparative Untersuchung geplant, im Wechselspiel zwischen Wigman und Barba? Insbesondere letzterer Ansatz eröffnet ein multiples Problemfeld. Zum einen stellt sich die Frage nach dem Original, das in jüngsten, insbesondere tanzwissenschaftlichen Diskursen als kritische Kategorie zu verorten ist. Denn was genau wäre das »Original Mary Wigman«? Claudia Jeschke wirft einen skeptischen Blick auf die Rede vom Original insbesondere anhand tanzgeschichtlicher Begebenheiten, da nicht nur Reenactments »Versionen« eines vergangenen Ereignisses seien, sondern dieses selbst je schon als ein Multiples verfasst sei, das sich in »mehrere[n] Iden29

Läge der Fokus beispielweise auf Analysen von aufgeführten Reenactments, die sich mit Mary Wigman befassen, so könnte etwa Barbas Projekt mit der Rekonstruktion des Wigmanschen Le Sacre du Printemps (1957; Theater Osnabrück 2013) oder Christoph Winklers Annäherung an Mary Wigman (Abendliche Tänze 2013) verglichen werden. Diese kommen jedoch auch nicht ohne zusätzliche Kontextmaterialien aus, die hier, mit Balme, insbesondere die verschiedenen Inszenierungstexte im Sinne der jeweiligen künstlerischen Konzepte und Herangehensweisen an das Wiederholen einbeziehen müssten.

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titäten« gebe.30 Hinsichtlich des ›Ausgangs‹-Ereignisses wäre also zu fragen, was genau dieses konstituiert. Die Premiere eines der Wigmanschen Soli? Oder eine besonders ›gelungene‹ Aufführung? Und welche von diesen Versionen wäre schließlich verfügbar und in welchem Format? Oder wäre das Original in diesem Falle vielmehr schon eine Kopie, nämlich in Form von (den wenigen) Filmmitschnitten, die im Archiv zu finden sind, oder fotografischen Referenzen? Es wären im Grunde diese, die für einen Vergleich heranzuziehen wären, sind es doch jene Materialien, mit denen Barba unter anderem gearbeitet hat.31 Doch was wiederum würde ein solcher Vergleich ergeben, wenn er nicht der Suche nach ›Original-Treue‹ dienen kann und soll? Zu untersuchen wären dann vielmehr die Genealogien jener Aufführungen und die zugrundeliegenden Geschichten, die auch jene (biografischen) Fabián Barbas mitbedenken müssten.32 Einen solchen »[d]iskursarchäolog[ischen]« Ansatz schlagen etwa Jan Lazardzig, Viktoria Tkaczyk und Matthias Warstat in ihrem Überblick zur Theaterhistoriografie vor.33 Zu bedenken wären bei einem solchen Zugang nicht zuletzt auch die medialen Differenzen zwischen Aufführung einerseits und Medienprodukten wie Foto, Film oder auch Tanzkritik andererseits. Alle drei Formate jedoch sind, so Balme, miteinzubeziehen, wenn man Aufführungsanalyse vielmehr als Inszenierungsanalyse versteht. Fokus wäre dann ein erweitertes Quellenstudium, um, wie oben kurz erwähnt, Barbas historiografische Ansätze und Fokussierungen besser zu verstehen: eine Art ausgedehnter Theatertext also. Ist dann aber das Quellenstudium der historischen Materialien, so sie überhaupt ohne weiteres verfügbar sind, ein erweitertes aufführungsanalytisches oder wäre es vielmehr als historiografisches Arbeiten zu verstehen, das sich in die Analyse des gerade Aufgeführten einblendet? Ich meine, dass Untersuchungen von Reenactments in einem Konglomerat aufführungsanalytischen und historiografischen Arbeitens zu situieren sind. Beide Verfahren schließen einander keineswegs aus, sondern können vielmehr fruchtbare Verbindungen eingehen – Lazardzigs, Tkaczyks und Warstats 30 31 32

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Jeschke 2010, 78. Vgl. Barba 2010, 117. So begründet Barba die Motivation, sich Mary Wigman zuzuwenden, mit seiner eigenen Tanzerfahrung: Der Unterricht in zeitgenössischem Tanz in Ecuador ist einer Tradition der ausdruckstänzerischen Moderne verpflichtet. Dies fiel Barba allerdings erst auf, als er anschließend an der Brüsseler Schule P.A.R.T.S. gänzlich andere Konzepte des Zeitgenössischen kennenlernte (vgl. Barba 2010a, 112-114). Vgl. Lazardzig/Tkacyzk/Warstat 2012, 104-107.

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Einführung in theaterhistoriografische Methoden etwa zeigen, dass Aufführungsanalysen gerade Bestandteil geschichtlicher Untersuchungen sind – wenn sie auch eher mit Balme, im Sinne der Inszenierung, anhand ihrer Kontexte, Konventionen und jeweiligen Besonderheiten qua Quellenstudium zu fassen wären und sich freilich nicht auf ein präsentes Ereignis beziehen können.34 Insbesondere die kritische Auseinandersetzung mit der Rekonstruktion von vergangenen Theaterereignissen und der ihr zugrundeliegenden Aporie der Wieder-Holung eines damaligen Geschehens kann im Rahmen von Reenactments wertvolle Bereicherungen erfahren, etwa im Blick auf »[e]reignisgeschichtlich[e]«35 Analysen, die also am Einzelfall, wie Mary Wigman, versuchen, Aussagen zu treffen, hier dann sowohl über die Vergangenheit Wigmans als auch die Gegenwart Fabián Barbas. Reenactments können folglich als Verweisgeflechte verstanden werden, die Aufführungsanalyse und Historiografie miteinander verknüpfen. Sie lassen insbesondere die »Transferprozesse«36 zwischen den Zeiten und Ausdrucksformen hervortreten, welche überdies, im analysierenden Hin und Her zwischen vergangenem und gerade geschehenem Ereignis einer »unreflektierte[n] Chronologie« historiografischen Arbeitens37 eine Absage erteilen.

Verweisende Posen Projekte wie die hier vorgestellten von Lupita Pulpo und Fabián Barba sind nicht nur in einem Netz von Referenzen zu sehen, die im Grunde jede Aufführung durchziehen. New und Reenactments wie A Mary Wigman Dance Evening betonen vielmehr Aufführungen als genuine Verweiszonen. Dies betrifft nicht nur die hier diskutierten Re-Performances, sondern wirft auch Fragen auf nach dem methodischen Umgang mit Aufführungen, die oftmals nicht mehr einem (Dramen-)Text-Aufführungsschema folgen, sondern in einem diskursiven Geflecht kultureller, sozialer oder auch autobiografischer Bezüge entwi-

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Vgl. Lazardzig/Tkacyzk/Warstat 2012, 87-123. Lazardzig/Tkacyzk/Warstat 2012, 91. Lazardzig, Tkacyzk und Warstat beziehen sich hierbei auf Stephen Greenblatts Ansatz des New Historicism (vgl.Lazardzig/Tkacyzk/Warstat 2012, 110). Balme 2014, 44. Entsprechend plädiert Balme für einen »Methodenpluralismus« in der Historiografie. Ebd.

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ckelt werden.38 Ich möchte dies zum Abschluss mit der Figur der Pose resümieren. Gabriele Brandstetter konturiert die Pose insbesondere im Tanz als eine »Umspringzone […] zwischen Bild und Korporalität, zwischen picture und performance«, die sie hierbei besonders im Wechselspiel zwischen Bewegung und Stillstellung positioniert.39 Posen sind in diesem Sinne immer schon intermedial verfasst, so etwa zwischen »Bild und Text« und stellten mithin ein »Medium der Übersetzung«40 dar. In New werden solche Posen explizit durchgespielt, etwa jene herabgebeugte Felix Marchands, dessen Bewegungsmuster sogleich an Xavier Le Roys Self unfinished erinnert – zumindest, wenn man dieses Stück gesehen hat. Lupita Pulpos Spiel mit Verweisen stützt sich explizit auf solche markanten Posen, die gleichsam Bewegungs-Piktogramme des Repertoires aus der jüngeren zeitgenössischen Tanzgeschichte darstellen. Bemerkenswert dabei ist, dass jene Posen nicht einmal akribisch nachvollzogen werden müssen. Ein Andeuten reicht bereits, um einen »Déjà-vu-Effekt« zu erzeugen: Die Pose »produziert ein Bild und eine Figur, die nur vage an ein Vorbild erinnert«, so Bettina Brandl-Risi, Gabriele Brandstetter und Stefanie Diekmann.41 Diese jedoch, so meine ich, ist bereits genug, um das Angespielte zu erkennen oder vielmehr: In New reicht im Grunde schon das Faktum des Posierens selbst aus, um das Dargestellte als Teil eines komplexen Zitat-Programms zu identifizieren – selbst wenn ich das Referenzierte nicht selbst gesehen habe oder gar verkenne, sprich: ›falsch‹ lese. Lupita Pulpo führt in ihren Posen markante Momente der eigenen und geteilten erinnerten tanzästhetischen Kulturmuster jüngerer Zeit exemplarisch auf. Geschieht dies in New in der signalisierenden Verbindung verkörperter Piktogramme und sprachlicher Formeln, so stellt A Mary Wigman Dance Evening im Grunde eine deiktische Gesamt-Pose dar. Brandstetter betont

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Ein Beispiel unter vielen sind etwa die Produktionen des Performer/innen-Kollektivs She She Pop, so das Testament (2010): Zwar wird hier mit einem Dramentext gearbeitet (William Shakespeares King Lear), jedoch ist das Projekt genuin mit der eigenen Geschichte der Protagonistinnen und der ihrer Familie verwoben, die hier in Gestalt ihrer Väter auf der Bühne persönlich anwesend ›eine Rolle‹ spielen. Auch wäre eine solche Aufführung referentiell mit der genuinen Performancegeschichte und dem Aufführungs-›Stil‹ des Kollektivs zu verbinden. Brandstetter 2012,46. Hervorhebung im Original. Brandl-Risi/Brandstetter/Diekmann 2012, 15. Ebd., 14. Zum Déjà-vu als zitathafte Erfahrung im zeitgenössischen Tanz vgl. auch Schmidt 2020.

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die Ausschnitthaftigkeit der Pose am Beispiel von Jérôme Bels Véronique Doisneau: Hier stehe die Tänzerin für den »Gesamtkörper« des Balletts.42 Ich meine nun, dass sich das Posenhafte einzelner Szene sowohl hier wie auch bei Barba auf den »Gesamtkörper« des jeweiligen Stücks übertragen lässt. Barbas Reenactment lässt sich mithilfe einer kombinierten, historiografisch verflochtenen Aufführungsanalyse als Pose des Transfers verstehen, gerade in seinem minutiösen Nachzeichnen der Wigmanschen Ästhetik, die, wie erwähnt, bis in die Haarspitzen alle Details aufzunehmen versucht. So vollzieht Barba eine Pose des Anähnlichens, die weniger als (möglicherweise gescheiterter) Versuch zu verstehen ist, ›dasselbe‹ wie Wigman zu tun. Vielmehr regt der Mary Wigman Dance Evening dazu an, Reenactments als Posen des Transfers zu verstehen, die diachrone Geschichtsverhältnisse hinterfragen und historiografische Methoden, nochmals, deutlich im Kontext aktueller Diskurse betonen. Sie fordern das permanente Wechselspiel zwischen Jetzt und Zuvor nachdrücklich ein, nicht um abzugleichen, sondern vielmehr um die Verfahren des Transferierens und Verweisens selbst43 – ebenso wie jene des Erinnerns in New – zum Erscheinen zu bringen.

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Brandstetter 2012, 43. Als eine solche Pose wäre auch Martin Nachbars Stück Urheben Aufheben (2008) zu verstehen. In seiner Rekonstruktion der Affectos Humanos von Dore Hoyer (1962) betont der Choreograf insbesondere die Schwierigkeiten des Hervorholens des Vergangenen im Archiv sowie des körperlichen Bewegungstransfers.

Aufführungsanalyse in Zeiten der Wiederholung

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II. Neue Historiografien

Disability Performance History Methoden historisch vergleichender Performance Studies am Beispiel eines Projekts über Leistung und Behinderung Benjamin Wihstutz

Der Begriff Performance umfasst im Englischen ein weites Spektrum an Bedeutungen: Neben Ausführung und Darbietung kann er auch Leistung und Entwicklung, Ertrag oder kompetitives Abschneiden bezeichnen.1 Vor allem die ökonomischen Konnotationen des Begriffs haben sich in der deutschen und englischen Alltagssprache eingebürgert; in Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsdiskursen ist Performance in den vergangenen Jahrzehnten zu einem inflationär gebrauchten Begriff avanciert: neben der Work Performance des einzelnen Angestellten spricht man auch von der Performance eines Unternehmens, einer neuen Technologie oder einer Aktie. Der Leistungsimperativ, der von Jon McKenzie so treffend mit dem Appell Perform or else2 benannt wurde, ist damit nicht allein an menschliche Handlungen gebunden, sondern richtet sich generell an alle Akteur*innen und Aktanten postfordistischer Gesellschaften. Angesichts der Omnipräsenz von Performance mag es überraschen, dass sich die Theaterwissenschaft bislang nur selten explizit mit Performance als Leistung beschäftigt hat. Neben McKenzie, der die Wirkung und Effizienz organisationaler, technologischer und kultureller Performance aufeinander bezieht, führt Kai van Eikels in Die Kunst des Kollektiven3 aus, auf welche Weise Performance im 21. Jahrhundert von einem sowohl bewertenden als auch quantifizierenden Denken geprägt ist, dass aus jedem Wie der Ausführung einer Tätigkeit zugleich ein Wie viel? macht und mithin den Anspruch einer

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Vgl. Umathum 2005, 231. Vgl. McKenzie 2001. Vgl. van Eikels 2013.

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Messbarkeit und Kontrolle des Handelns impliziert.4 Während van Eikels diese Überlegungen zum Ausgangspunkt nimmt, um eine Theorie der kollektiven Improvisation zu entwickeln, stellt eine historiografische Auseinandersetzung mit Performance als Leistung nach wie vor ein Desiderat dar. Gelänge es, genealogisch die Diskurse und Praktiken von Performance als Leistung in ganz unterschiedlichen Feldern wie Kunst und Populärkultur, Sport und Ökonomie aufeinander zu beziehen, ließen sich womöglich auch gegenwärtige Bedeutungen von Performance im Postfordismus historisieren und neu perspektivieren. Kulturelle Performances sind historisch betrachtet mal enger und mal weniger eng an Leistungskonnotationen gekoppelt. So erfahren um 1900 im Globalen Norden verschiedene Leistungsschauen eine erstaunliche Konjunktur: Die Weltausstellungen, die Olympischen Spiele sowie Zirkus, Vaudeville und Varietétheater setzen Leistung und Wettbewerb etwa zur selben Zeit vor Publikum in Szene, in der Performance in Bezug auf die Messbarkeit von Leistung auch in der Betriebswirtschaft durch Taylorismus und Fordismus an Bedeutung gewinnt.5 In den 1960er und 1970er Jahren grenzt sich wiederum die Performance-Kunst teilweise explizit von einer Gesellschaft des Spektakels und vom Warencharakter der Kunst ab, unterhält aber zugleich ein enges Verhältnis zum Leistungsimperativ, wenn durational performances Ausdauer und Durchhaltevermögen von Künstler*innen ausstellen. Die zwei Beispiele deuten an, dass eine Untersuchung jener ›Performativitätsschübe‹ der Moderne sich gerade im Vergleich mit Leistungsdiskursen der jeweiligen Zeit lohnte, um den Wandel einer performativen Kultur nicht allein auf Cultural Performances als elementare Beobachtungseinheit6 , sondern ebenso auf ein PerformancePrinzip im Sinne Herbert Marcuses7 zu beziehen. Mit einer Historiografie von Performance entfernt sich die Theaterwissenschaft von einigen Prämissen, die sowohl den Gegenstand des Faches als auch die Methoden der Untersuchung betreffen: Erstens erweitert sich das Feld der Theaterwissenschaft gewaltig, wenn mit Performance nicht nur

4 5 6 7

Vgl. ebd., 307. Vgl. dazu genauer: Wihstutz 2021. Zur Geschichte und Kritik des von Milton Singer übernommenen Begriffs der Cultural Performance in der Theaterwissenschaft vgl. Warstat 2018, 92. Marcuse schreibt bereits in den 1950er Jahren vom »performance principle« (1966, 40) kapitalistischer Gesellschaften, das die Stratifizierung der Gesellschaft qua kompetitiver Leistung ihrer Mitglieder organisiere.

Disability Performance History

künstlerisch gerahmte, sondern ebenso andere, nicht-künstlerische Darbietungen gemeint sind. Wenn Aufführungen und öffentliche Handlungen aller Art in den Blick genommen werden, wird damit einem erweiterten Performance-Begriff Rechnung getragen, der in den angelsächsischen Performance Studies seit ihrer Gründung bereits etabliert ist.8 Zweitens gilt es, sich von Singularität und Unwiederholbarkeit als konstitutive Merkmale von Performance zu verabschieden. Übung, Training, Routinisierung sowie Normen und Konventionen der Ausführung und Darbietung sind grundlegend für einen Performancebegriff, der sich neben der Aufführungsdimension auf Konnotationen von Leistung und Kompetitivität bezieht. Und drittens ist selbst die Ko-Präsenz eines Publikums keine notwendige Voraussetzung für Performances. So benötigt weder die Work Performance noch die Performance eines Motors oder einer Sprintprothese die aktuelle Anwesenheit eines Publikums. Vielmehr rücken mit Performance als Leistung Kriterien und Normen der Messbarkeit und Beurteilung in den Fokus, die in traditionellen ästhetischen Diskursen allenfalls als Frage des Geschmacks virulent werden. Zugleich bleibt jedoch Performance auch ohne live anwesendes Publikum gewissermaßen ein Aufführungscharakter eingeschrieben, der in den Prinzipien der (Selbst-)Kontrolle und Quantifizierbarkeit bereits angelegt ist. Unabhängig davon, ob ich im Wald mit Pulsmesser für einen Wettkampf trainiere, allein im Atelier eine Performance auf Video aufzeichne oder im Home Office meinen Work Load abarbeite: Performance bleibt stets auf eine Beobachtungsinstanz ausgerichtet, sei diese die Performerin selbst, ein zuschauender Vorgesetzter oder eine Smartphone App. Ironischerweise hat in dieser Hinsicht gerade die Geschichte der Performance-Kunst gezeigt, dass die Wirkung von Performances nicht allein in der Live-Situation erzeugt wird, sondern maßgeblich beeinflusst ist von der Zirkulation von Bildern, Dokumenten und Erzählungen. Diese Archivalien sind es, die häufig im Nachhinein aus Performances erst außergewöhnliche und erinnerungswürdige Ereignisse machen und damit zugleich zu ihrer Wiederholung anregen.9

8 9

Vgl. Schechner 2002. Zur Bedeutung der Archivalien von Performances vgl. mit Bezug auf Reenactments: Schneider 2011; am Beispiel John Cages: Bormann 2008; am Beispiel Vito Acconcis: Hefele 2016 und in Bezug auf den Tanz der Beitrag von Susanne Foellmer in diesem Band.

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Mit der Zielsetzung, Performance-Kulturen und -diskurse über eine longue durée in den Blick zu nehmen, kann die Historiografie aber auch an Arbeiten in der Theaterwissenschaft anknüpfen, die verschiedene Performance-Typen historisch verglichen haben. So hat Erika Fischer-Lichte in Theatre, Sacrifice, Ritual mit den Olympischen Spielen, den Thingspielen und den zionistischen Pageants ganz unterschiedliche Massenspektakel des 20. Jahrhunderts in ihrer rituellen und politischen Dimension untersucht.10 Weniger eng am Aufführungsereignis orientiert sind Rebecca Schneiders Studien über Reenactments seit den 1960er Jahren, die das Bleibende und die Wiederholbarkeit von Performance hervorheben.11 Rustom Bharuchas Auseinandersetzung mit Terror und Performance oder Larry Bogads Überlegungen zu Tactical Performances nehmen wiederum politische, terroristische und aktivistische Performance-Praktiken und Diskurse in den Blick.12 All diesen Studien ist gemeinsam, dass sie sowohl künstlerische als auch außerkünstlerische Performances aus verschiedenen Jahrzehnten miteinander in Bezug setzen und daraus eine genealogisch orientierte Studie von ›Performance und X‹ erstellen: Performance und Ritual, Performance und Reenactment, Performance und Terror, Performance und Aktivismus. Der vorliegende Beitrag widmet sich in diesem Sinne der Relation von Performance und Disability und versteht sich als exemplarischer Versuch, Performance Studies, Disability Studies und Historiografie zusammenzuführen. Die dabei angestellten methodologischen Überlegungen gehen von einem geplanten Forschungsprojekt aus, das die Frage untersucht, wie die Kategorien Leistung und Behinderung in der industrialisierten Moderne aufeinander bezogen sind und wie sich dieses Verhältnis im Globalen Norden in den vergangenen 200 Jahren performativ gewandelt hat.13 Drei Typen von Disability Performances nimmt das Projekt historisch vergleichend in den Blick: die Freak- und Sideshows des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Wettkämpfe des paralympischen Sports seit den 1960er Jahren sowie inklusive Theaterperformances seit der Jahrtausendwende. Gemeinsam ist diesen Disability Performances, dass es sich sowohl um Inszenierungen und Präsentationen von Behinderung als auch um Darbietungen von besonderen Fähigkeiten 10 11 12 13

Vgl. Fischer-Lichte 2005. Vgl. Schneider 2011. Vgl. Bharucha 2014 und Bogad 2016. Das geplante Forschungsprojekt wurde im Rahmen der SonderforschungsbereichsInitiative Humandifferenzierung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz für die erste Laufzeit 2021-2025 zur Begutachtung eingereicht.

Disability Performance History

und Fertigkeiten handelt – mithin um Performances, die das Verhältnis von Behinderung und Leistung explizit ausstellen und thematisieren. Der Titel des Projekts Disability Peformance ist daher doppeldeutig zu verstehen: Er bezeichnet einerseits die Aufführung von Performer*innen mit Behinderung vor einem Publikum, andererseits aber auch die historisch spezifische Konstellation und Diskursivierung von Behinderung (Disability) und dargebotener Leistung (Performance). Entsprechend gilt es, Aufführungs- und Strukturgeschichte historiografisch aufeinander zu beziehen, um anhand der Praktiken und Diskurse über zwei Jahrhunderte und verschiedene Performance-Genres hinweg Kontinuitäten und Zäsuren, Traditionen und Brüche hinsichtlich des Verhältnisses von Leistung und Behinderung beschreibbar zu machen. Methodisch steht ein solches Forschungsvorhaben vor großen Herausforderungen, die sich auf drei Probleme zurückführen lassen: erstens auf das Problem der longue durée, das den Überblick über einen komplexen kulturund begriffsgeschichtlichen Wandel im Untersuchungszeitraum von knapp 200 Jahren impliziert; zweitens auf das Problem der Vergleichbarkeit, das sich im Hinblick auf die Heterogenität und Divergenz der drei Performancetypen (bzw. -genres) ergibt, die nicht nur zeitlich Jahrzehnte auseinanderliegen, sondern sich auch in Bezug auf ihre Intention und ihr Publikum unterscheiden; und drittens den Anspruch einer Disability History, Stimmen behinderter Akteur*innen ins Zentrum der Forschung zu stellen, anstatt nur eine Geschichte ›über behinderte Performer*innen‹ aus nichtbehinderter Sicht zu schreiben, was die Frage nach einer adäquaten Auswahl der Quellen und Daten aufruft sowie die Ambivalenz einer identitätspolitischen Positionierung der Forschung. Ich werde im Folgenden die drei genannten Probleme einzeln und exemplarisch am Material des Projekts diskutieren und schließlich thesenhaft einige abschließende Bemerkungen zu dem hier vorgeschlagenen Ansatz historisch vergleichender Performance Studies machen.

I

Das Problem der longue durée

Den historischen Wandel von Disability Performances in der longue durée zu untersuchen, ist schon allein deshalb schwierig, weil sich in einem Untersuchungszeitraum von zwei Jahrhunderten nicht allein die kulturhistorischen und gesellschaftlichen Bedingungen für Disability Performances, sondern auch die im Zentrum stehenden Begriffe Behinderung und Leistung maßgeblich gewandelt haben. Dies wirft zum einen die Frage nach dem Verhältnis

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von Kultur- und Begriffsgeschichte auf, zum anderen gilt es, methodisch die Relation zwischen Struktur- und Ereignisgeschichte zu klären. Ich beginne mit einigen konkreten Ausführungen zu den genannten Begriffen und diskutiere anschließend am Gegenstand das Verhältnis von Struktur- und Aufführungsgeschichte.

Behinderung und Leistung Während sich der Behinderungsbegriff im Deutschen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts etabliert und erst in den 1930er Jahren die Unterscheidung zwischen körperlich und geistig behindert eingeführt wird14 , ist der Leistungsbegriff um einiges älter. Allerdings ist es vor allem ein spezifisch modernes, auf Messbarkeit und Wettbewerb gründendes Verständnis von Leistung, das einen Bezug zum Konzept der Behinderung nahelegt.15 Noch heute findet sich in der Definition des deutschen Sozialgesetzbuchs die Auffassung einer Messbarkeit von Behinderung, wenn diese als Abweichung »von dem für das Lebensalter typischen Zustand«16 definiert wird und Menschen mit Schwerbehindertenausweis nach Graden der Behinderung zwischen 20 und 100 eingeteilt werden. Der implizit einer solchen Definition zugrunde liegende Begriff von Leistungsfähigkeit wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch die Konstruktion von Normalität qua statistischer Normalverteilung17 und um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert durch die Arbeitswissenschaft und Ökonomie geprägt, indem der physikalische Leistungsbegriff (Quotient aus verrichteter Arbeit und benötigter Zeit) auf die Messung industrieller Produktivität übertragen wird. Maßnahmen der Rationalisierung im Sinne des Taylorismus und Fordismus haben schließlich einen erheblichen Anteil daran, die Leistungsfähigkeit von Arbeiter*innen und deren Grenzen in betriebs- und volkswirtschaftliche Überlegungen zu integrieren.18 Die Historikerin Nina Verheyen weist daraufhin, dass der moderne Leistungsbegriff parallel zu dieser

14 15 16 17 18

Vgl. Schmuhl 2007, 29-31. Zur Geschichte des Leistungsbegriffs siehe Verheyen 2018. SGB IX, §2. Vgl. Davis 2003, 23-49. So schlägt Taylor bekanntlich als Rationalisierungsmaßnahme die Messung jedes einzelnen Arbeitsschritts mit der Stoppuhr und das Aussortieren jeder unnützen und langsamen Handlung im Arbeitsprozess vor, vgl. Taylor 1909, 118. Zur Geschichte der Rationalisierung in der Unternehmensgeschichte siehe auch Berghoff 2016.

Disability Performance History

betriebswirtschaftlich-industriellen Prägung jedoch ebenso vom entstehenden Wohlfahrtsstaat geprägt wird. So wird der im Deutschen ursprünglich aus dem Schuldrecht stammende, juridische Leistungsbegriff im Zuge der von Bismarck eingeführten Sozialversicherungen auf das öffentliche Recht ausgeweitet, wodurch der Leistungsanspruch eines Gläubigers nun auch auf Ansprüche einzelner gegenüber dem Staat übertragen wird.19 Dass dabei der ökonomische Leistungsdiskurs in die Bemessung staatlicher Fürsorge einfließt, zeigen wiederum politische Diskurse und sozialdemokratische Errungenschaften der Weimarer Republik. So ist es kein Zufall, dass nach dem ersten Weltkrieg in deutschen Betrieben sowohl die sogenannte Kosten- und Leistungsrechnung etabliert wird als auch ausdifferenzierte Sozialleistungen des deutschen Staats wie die 1919 eingeführte Kriegsbeschädigtenfürsorge.20 Eine Historiografie, die das Verhältnis von Leistung und Behinderung untersucht, muss diese begriffliche Nähe zwischen Leistung (im doppelten Sinne –ökonomisch und sozialrechtlich) und Behinderung in Augenschein nehmen und sie entsprechend auf Kontinuitäten und historische Zäsuren eines ›langen 20. Jahrhunderts‹ untersuchen. Gesetzestexte, Theorien der Betriebs- und Volkswirtschaft sowie sozialstaatliche Reformen können in dieser Hinsicht als diskursiver Raum betrachtet werden, der die historischen Bedingungen von Disability Performance maßgeblich prägt und verändert. Historische Zäsuren wie das Ende des ersten Weltkriegs, welches mit dem Anstieg von Kriegsversehrten in der Bevölkerung erst den wachsenden Einfluss von Sozialverbänden ermöglichte, sind ebenso zu untersuchen wie unerwartete Kontinuitäten, die sich etwa in Überresten der NS-Ideologie nach dem zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik21 zeigen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts markiert vor allem die 2006 von Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention eine diskursive Zäsur im Hinblick auf das Verhältnis von Leistung und Behinderung, da letztere rechtlich nun nicht mehr als individuelle Leistungseinschränkung oder medizinisch diagnostizierbares Problem gefasst, sondern auf »umwelt- und ein19 20 21

Vgl. Verheyen 2018, 140-142 und 150. Vgl. Schmuhl 2007, 27. So weist etwa Elisabeth Bösl auf eine Formulierung des bundesrepublikanischen Innenministeriums von 1958 hin, in der deutlich das »unwerte Leben« des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms nachhallt: »Als behindert gilt ein Mensch, der entweder aufgrund angeborener Missbildung bzw. Beschädigung oder durch Verletzung oder Krankheit eine angemessene Tätigkeit nicht ausüben kann. Er ist mehr oder minder leistungsgestört (lebensuntüchtig)«, zitiert nach Bösl 2010, 6.

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stellungsbedingte Barrieren«22 zurückgeführt wird. In den Disability Studies spricht man in diesem Fall von einem sozialen Modell von Behinderung, das im Gegensatz zum medizinisch-individuellen Modell Behinderung weniger als individuelles Problem der Beeinträchtigung (impairment) definiert, das durch technische Hilfsmittel (Rollstuhl etc.) oder Therapie gelöst werden muss, als vielmehr die Gesellschaft in die Pflicht nimmt, durch den Abbau von Barrieren die Inklusion von Menschen mit Behinderung (disability) zu gewährleisten. Ist das soziale Modell vor allem im Kontext der Independent Living Bewegung seit den 1960er Jahren entstanden, tritt in jüngerer Zeit in den Disability Studies neben diese beiden Modelle mit dem kulturellen Modell ein drittes, das Behinderung nicht primär als zu behebendes Problem betrachtet, sondern im Sinne einer Disability Culture als positiven Beitrag zur Diversität der Gesellschaft affirmiert.23 Nimmt man diese drei unterschiedlichen Modelle als Ausgangspunkt diskursanalytischer Forschung, stellt sich entsprechend die Frage, welchem Modell welcher Diskurs über Behinderung im jeweiligen historischen Kontext folgt. Darüber hinaus impliziert die Forschung des geplanten Projekts einen Bezug zur jeweiligen Performance Culture: Wie verhalten sich die unterschiedlichen Genres von Disability Performance hinsichtlich der drei Modelle von Behinderung? Sind paralympische Wettkämpfe und ihre Rezeption notwendigerweise an ein individuelles Modell geknüpft? Positionieren sich künstlerische Darbietungen von Menschen mit Behinderung im Sinne eines kulturellen Modells als Beitrag zu einer diversen Kultur und damit womöglich auch in Abstand zu einer normbasierten Leistung oder konventionellen Kriterien des Gelingens? Welche Rolle spielen soziale Barrieren in solchen Inszenierungen von Leistung und Behinderung? Und inwiefern gibt es womöglich bereits Freakshow-Performances im 19. Jahrhundert, die sich dezidiert von einem medizinisch-individuellen Modell von Behinderung abgrenzen? Gerade weil das Leistungsdispositiv nicht allein durch Texte, sondern vor allem auch durch Praktiken hervorgebracht wird, ist es naheliegend, Diskurse und Praktiken weniger als Gegensatz aufzufassen,24 als vielmehr die 22 23

24

Vgl. www.behindertenrechts-konvention.info. Vgl. Waldschmidt 2005, 24-28. Besonders eingängig ist das kulturelle Modell von Behinderung am Beispiel der Deaf Culture: So ist Gebärdensprache als eigene Sprache anzuerkennen, gehörlose Menschen verfügen in Großstädten über eigene Kultureinrichtungen wie Theater und Cafés und tragen somit zu einer kulturellen Vielfalt der Gesellschaft bei. Zum durchaus problematischen Verhältnis von disability und diversity vgl. Davis 2013, 1-14. Vgl. Reckwitz 2008.

Disability Performance History

ökonomischen, medizinischen, politischen und juridischen Diskurse selbst als diskursive Praktiken zu rezipieren und auf die konkreten Bedingungen, Traditionen und Konventionen der Aufführung von Disability Performance zu beziehen.

Aufführungs- und Strukturgeschichte: Disability Performance als Leistungsschau Parallel zur sprachgeschichtlichen Entwicklung lässt sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts, wie einleitend erwähnt, in Europa und Nordamerika eine ansteigende Popularität unterschiedlicher Leistungsschauen konstatieren, die eine theaterwissenschaftliche Untersuchung des Themas nahelegen: Die Weltausstellungen, welche einem internationalen Publikum immer neue Höchstleistungen und Superlative der industriellen Moderne präsentieren, ziehen ebenso ein großes Publikum an wie die von Coubertin wiedereingeführten Olympischen Spiele, welche den sportlichen Wettkampf und die Jagd nach Rekorden zu einem Ereignis der Massenmedien machen.25 Großereignisse wie diese gehen zudem mit einer enormen Popularität von Zirkus, Jahrmarktsattraktionen, Varieté oder dem amerikanischen Vaudeville einher – allesamt Genres, die verschiedene Variationen von Leistungsschauen institutionalisierten. Dass auch Menschen mit Behinderung ab dem späten 19. Jahrhundert diesem Leistungsparadigma entsprechend als Virtuosen und »Sieger über ihre eigene Behinderung«26 auftreten, ist daher wenig überraschend. Dabei handelt sich um kein spezifisches Phänomen der Freak- und Sideshows, sondern um ein Paradigma der Überwindung, das im Kontext einer performativen Populärkultur zu betrachten ist, welche die Darbietung und Inszenierung von Leistung als Attraktion auf neue Weise entdeckt.27 Zahlreiche Freak-Fotografien und Filmaufnahmen sowie autobiografische Texte zeugen von überhöhenden und kompensierenden Freak- und 25

26 27

Zur performativen Geschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit siehe Fischer-Lichte 2005, 69-86 und in Bezug auf die Kommerzialisierung und den Leistungsbegriff im Amateursport vgl. Llewellyn/Gleaves 2016. Sloterdijk 2009, 69-99. In diesem Sinne sind sowohl Bezüge zu einem »theatralischen Zeitalter« um 1900 im Sinne von Peter Marx gegeben, der u.a. die Figur des Hochstaplers als paradigmatisch für eine theatrale Kultur sozialer Auf- und Abstiege kennzeichnet (vgl. Marx 2008, 11-50), als auch zu der von Erika Fischer-Lichte erörterten »performativen Wende« in der europäischen Kultur- und Wissensgeschichte um 1900, die neue Theaterformen

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Sideshow-Performances des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: ›Siamesische‹ Zwillinge beim Tennisspiel, Sealo the Sealboy beim Holzsägen, armlose Geigenvirtuosen sowie ›Zwerge‹ und ›Riesen‹ führten allerhand herausfordernde Tätigkeiten vor, die das Publikum zum Staunen brachten.28 So ist z.B. in Tod Brownings berüchtigten und in vielen Ländern jahrzehntelang zensierten Film Freaks (1932) eine Szene zu sehen, in welcher der arm- und beinlose Prince Randian, einer von P.T. Barnums Freakdarstellern, vorführt, wie er sich eine Zigarette allein mit dem Mund und einem Streichholz anzündet. Es war unter anderem diese Performance, die Randian als »living torso« zu einem der Stars der Barnum-Truppe machte und die er unzählige Male in Sideshows präsentierte.29 Die Historiografie von Disability Performance lenkt somit den Fokus einerseits auf einzelne Darsteller und ihre Performance-Nummern, die paradigmatisch für historisch tradierte Praktiken, Inszenierungsstrategien und Routinen stehen können, andererseits aber auch für langfristige Wandlungsprozesse und spezifische Kontinuitäten über Zeiten und Genres hinweg. So liegt es nahe, die Geschichte und Inszenierung der Paralympischen Spiele in der Tradition jener Überwindungslogiken der Side Show zu betrachten, zumal die Einführung von funktionalen »Schadensklassen« in den Disziplinen ab den 1980er Jahren die Athlet*innen umso deutlicher hinsichtlich der Einschränkung von Leistungsfähigkeit klassifizierten.30 Dass die Logik der Überwindung in der Rezeption des Behindertensports bis heute noch präsent

28

29 30

ebenso hervorbrachte wie körperbetonte Praktiken und eine Hinwendung zur Ritualforschung (vgl. 2004, 42-61 und 281-314). Robert Bogdan beschreibt diese Art Kompensations-Performance als »aggrandized status mode«: »Performances in the aggrandized status mode were of two types. The first involved doing tasks that one might assume could not be done by a person with that particular disability. A person without legs, for example, might show how he walked with his arms. The emphasis was on how the person exhibited compensated for the disability. The second kind of performance was more standard show business. Freaks sang, danced, and played musical instruments, emphasizing their conventional talents and accomplishments.« (Bogdan 1996, 30). Zu Tod Brownings filmischen Auseinandersetzungen mit der Freakshow siehe Nowak 2011. Bis 1980 orientierte sich das Klassifikationssystem der Paralympischen Spiele allein an medizinisch diagnostizierten impairments der Athlet*innen, ab den 1980er Jahren wurde ein weitaus komplexeres System eingeführt, das die funktionalen Beeinträchtigungen des impairments für die jeweilige Sportart in »Schadensklassen« kategorisiert. Vgl. International Paralympic Committee 2020.

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ist, zeigen Paralympics-Werbespots wie Meet the Superhumans (2012) und We are the Superhumans! (2016) des Britischen Fernsehsenders Channel 4, in denen Athlet*innen, Musiker*innen und Tänzer*innen mit Behinderung atemberaubende Stunts und virtuose Performances vorführen.31 In historischen Gegenüberstellungen offenbaren diese Bilder erstaunliche Parallelen zu den Freak-Darstellungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, während sie andererseits Prothesensprinter als Cyborg-Pioniere einer technisierten Zukunft der Selbstoptimierung darstellen.32 Eine vergleichende Analyse kann hier struktur- und transfergeschichtliche Dimensionen aufzeigen, die sich im Migrieren bestimmter Darstellungs- und Inszenierungskonventionen von einem in ein anderes Performance-Genre, von einer Epoche in eine andere, offenbaren. Neben einer diskursanalytischen »Spurensuche«33 , liegt der Gewinn einer theaterwissenschaftlichen Forschung mithin auch im Bloßlegen einer Aufführungsgeschichte, die im Schatten der Medizin-, Sozial- und Rechtsgeschichte stattfindet und somit einen neuen Blick auf die Konstruktion von Behinderung und Leistung jenseits des Rechts- und Medizindiskurses ermöglicht. Struktur- und Ereignisgeschichte34 können durch diese Doppelperspektive aufeinander bezogen werden, wobei Ereignisgeschichte hier nicht als eine rein auf das Aufführungsereignis und auf die unmittelbare Publikumsrezeption bezogene Rekonstruktion missverstanden werden darf – vielmehr gilt es, über die Auswertung von Aufführungsberichten, Zeitungskritiken, autobiografischen Quellen, Abendzetteln sowie insbesondere auch Bild- und Tonquellen die auf Wiederholbarkeit angelegten Konventionen der Aufführung, der Probe und des Trainings sowie der Organisation von Disability Performance strukturhistorisch mit in den Blick zu nehmen. Anstelle der Analyse singulärer Ereignisse ist der anhand von Aufführungsund Trainingskonventionen abzulesende Wandel von Disability Performance als Dispositiv zu erforschen.

31 32 33 34

Vgl. Crow 2014. Vgl. hierzu Harrasser 2013, 35-52 sowie McRuer 2018, 55-91. Vgl. Lazardzig/Tkaczyk/Warstat 2012, 104. Vgl. ebd., 91.

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II

Divergenz und Ungleichzeitigkeit

Die drei Performance-Genres Freakshow, Paralympics und inklusives Theater zeugen nicht nur von Gemeinsamkeiten, sondern divergieren teilweise ebenso stark hinsichtlich ihrer Kopplung von Leistung und Behinderung. Gegenbeispiele zum Leistungsparadigma bieten vor allem Disability Performances aus dem Bereich der Kunst im 21. Jahrhundert, die dem kulturellen Modell von Behinderung und ihrer Betonung von Diversität weitaus näherstehen als Narrativen der Überwindung. Neben der Würdigung des Dilettantismus durch Künstler wie Christoph Schlingensief, Jérôme Bel oder Rimini Protokoll, die mehrfach mit behinderten und neurodiversen Schauspieler*innen zusammenarbeiteten,35 sind hier Künstler*innen mit Behinderung wie z.B. die Choreografin Claire Cunningham, die Dramatikerin Kaite O’Reilly oder die Performerin Jess Thom (Tourette’s Hero) zu nennen, die anstelle von Kompensation, Überwindung oder Inspiration eine explizite Wertschätzung von Disability als Identität und ästhetische Ressource sowie nicht zuletzt die möglichst barrierefreie Adressierung eines diversen Publikums ins Zentrum ihrer Arbeiten stellen.36 Der Heterogenität und Divergenz der zu vergleichenden PerformanceFelder muss mit unterschiedlichen vergleichenden Methoden und Prämissen begegnet werden: Zum einen kann mit Verfahren der Typisierung gearbeitet werden. So lässt sich die Fülle der zu analysierenden Quellen nicht nur einzelnen Feldern zuordnen (Zirkus, Varieté, Freakshow, Parasport, Rollstuhl-Tanz, Kunst-Performance, Schauspiel etc.), sondern ebenso über spezifische Narrative typisieren, die quer zu den Performance-Genres liegen. Die MenschTier-Grenze wird beispielsweise sowohl von Narrativen und Namen in der Freakshow (Elephant Man, Löwenmensch, Monkey Girl, Schlangenfrau) als auch in

35 36

Zu Schlingensiefs Dilettantismus vgl. u.a. Kroß 2015, zu Jérôme Bel siehe Umathum/Wihstutz 2015. Gerade neue »Ästhetiken des Zugangs« bekommen in diesem Kontext eine besondere Relevanz. Indem die genannten Künstlerinnen accessibility tools wie Audio Deskription, Gebärdenspräche, Untertitel sowie gelockerte Verhaltenskonventionen und diverse Sitz- und Liegemöglichkeiten im Sinne des Konzepts »relaxed performance« als integrativen Bestandteil der Inszenierung einsetzen, wird Inklusion nicht allein auf die Bühne und die beteiligten Performer*innen bezogen, sondern ebenso auf den Zuschauersaal und diverse Rezeptionsweisen ausgeweitet. Vgl. Ugarte Chacón 2015 sowie zur »relaxed performance« Fletcher-Watson 2015.

Disability Performance History

der Berichterstattung über den paralympischen Sport (Prothesen als »Cheetah Legs«) thematisiert, wobei diese im Sport offenbar ebenso in eine MenschMaschine-Differenz umschlagen kann (Blade Runner, Cyborg).37 Die Diskursanalyse ermöglicht auf diese Weise diachrone Quervergleiche von Disability Performances, die zunächst weit voneinander entfernt sein zu scheinen. Ein zweites Verfahren, das, der Ethnografie entlehnt ist und sich als historisch vergleichendes Verfahren als besonders fruchtbar erweisen kann, ist eine wechselseitige »befremdende Betrachtung«38 von Quellen. So kann eine wiederholte Spiegelung zwischen den drei Genres anhand historischer Quellen dazu dienen, Parallelen und Differenzen von Disability Performances quer zu den Feldern und Kontexten zu diskutieren, indem etwa die Freakshow als Sportveranstaltung und Theaterinszenierung, der Sportwettkampf als Freakshow oder Kunstperformance und die Tanzperformance als eine Art Leistungssport erneut analysiert und ausgewertet werden. Diese, in der Theaterhistoriografie bisher unbekannte, analytische Perspektivenvariation, dient damit auch einer theoretischen Distanzierung, die erst nach der Quellenanalyse in den Feldern gewonnen werden kann. Wichtig für diese Verfahrensweise ist eine vorübergehende Abstandnahme von moralischen Urteilen. So kann eine befremdende Betrachtung offensichtlich nicht gelingen, wenn moralische oder politische Urteile die Analyse von vornherein prägen. Im Gegenteil führt gerade die vorübergehende Aussetzung des moralischen Urteils über die Freakshow als per se diskriminierende Praxis dazu, in der Betrachtung neue Parallelen der Inszenierungsstrategien zwischen den Genres zu erkennen oder auch umgekehrt Wettkampfelemente oder Aspekte einer Disability Aesthetics39 in den Inszenierungen der Freak- und Sideshows aufzuzeigen. Drittens ist in dieser Hinsicht von einer Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen verschiedener Performance-Genres auszugehen. Eine große Erzählung, wie Garland-Thomsons Geschichte der Freakshow »From Wonder to Error«40 oder »von Mythologie zur Pathologie«41 , läuft zwangsläufig Gefahr, widerstreitende und gegenläufige Entwicklungen außer Acht zu lassen, die nicht 37 38 39

40 41

David Mitchell und Sharon Snyder (2015, 54-59) sprechen in diesem Kontext von Repräsentationen des »able-disabled« als »neoliberal overcompensation strategies«. Vgl. Breidenstein/Hirschauer/Kalthoff 2013, 121f. Unter Disability Aesthetics versteht Tobin Siebers (2010) eine Ästhetik, die sich von Normen der Schönheit und Perfektion abwendet und vielmehr das Imperfekte, Deformierte und Zerbrochene als ästhetische Werte anerkennt. Vgl. Garland-Thomson 1996a. Vgl. Nestawal 2010.

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minder relevant sind. Wie Michel Foucault angemerkt hat, müssen Diskurse in diesem Sinne als »diskontinuierliche Praktiken behandelt werden, die sich überschneiden und manchmal berühren, die einander aber auch ignorieren und ausschließen«42 . Dies bedeutet, dass verschiedene Diskurse von Leistung und Behinderung parallel existieren und sich zu unterschiedlichen Zeiten profilieren: Ein spezifischer Begriff von Behinderung, eine bestimmte Logik der Überwindung, ein Narrativ der Leistungsschau vermag Jahrzehnte nach einem vermeintlichen Abflauen der Konjunktur in neuem Gewand wieder auftauchen – die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen impliziert hier verschiedene Entwicklungen und Diskurse zur selben Zeit. Vergleichende Perspektiven auf Disability Performances können in ihrer Auseinandersetzung mit Leistung somit quer zu den Genre-Grenzen gewinnbringend sein, zeigt sich in diesen Vergleichen doch eindrücklich, welche Bilder und Narrative von Behinderung in Bezug auf Leistungsfähigkeit verblassen, welche Praktiken sich voneinander abgrenzen oder neue entstehen lassen. Ursprünglich von Ernst Bloch in den historischen Diskurs eingeführt und von Reinhart Koselleck weiterentwickelt,43 hat die Denkfigur einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in den vergangenen Jahren von unterschiedlicher Seite Kritik erfahren, indem ihr einerseits ein teleologisches Geschichtsverständnis, andererseits ein eurozentrisches Denken unterstellt wurde. Diese Kritik ist zum Teil berechtigt, bleibt doch die Figur bei einigen Autor*innen einem historischen Denken verhaftet, das letztlich ein Fortschrittskonzept legitimiert und damit »zur Abwertung von Erscheinungen beitragen kann, die anderen Rhythmen und Zeitlogiken folgen«44 . Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Figur als ganze unbrauchbar geworden ist. Vielmehr kann das Konzept einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auch nicht-teleologisch und pluralisiert, etwa in Anlehnung an das Konzept der multiple modernities, interpretiert werden.45 Entsprechend ist nicht von einer Richtung der Entwicklung auszugehen, nur weil verschiedene Entwicklungsstadien zur gleichen Zeit zu beobachten sind. Mit einer Relativierung der Fortschrittsgeschichte im Zeichen der Ungleichzeitigkeit kann zugleich ein (selbst)kritischer Blick auf die normativen Tendenzen der Disability Studies geworfen werden, die teilweise aus politischen Gründen dazu neigen, eine historisch teleologische Ent-

42 43 44 45

Foucault 1991, 34. Vgl. Bloch 1962 und Koselleck 1977. Schmieder 2017, 350. Vgl. Eisenstadt 2007 und Bohmann/Niedenzu 2013.

Disability Performance History

wicklung von der Diskriminierung zur Emanzipation vorauszusetzen. Ebenso stellt die Perspektive der Ungleichzeitigkeit aber auch eine bildungsbürgerliche Hierarchisierung und Fortschrittsgeschichte von Performance-Genres (mit der Kunst an der Spitze) infrage. Und drittens kann das Konzept der Ungleichzeitigkeit dafür sorgen, Struktur- und Aufführungsgeschichte so aufeinander zu beziehen, dass auch divergierende und widersprüchliche Entwicklungen zur selben Zeit in unterschiedlichen Feldern aufgezeigt werden.

III

Disability History

Allen zeitgemäßen Verfahren der Historiografie liegt die Einsicht zugrunde, dass es keine neutrale oder rein objektive Geschichtsschreibung geben kann. Jacques Rancière hat darauf hingewiesen, dass die Geschichtswissenschaft auf einem narrativen Vertrag beruht, Geschichte zu erzählen.46 Wie Geschichte erzählt wird, hängt dabei nicht zuletzt vom Erzähler ab, der häufig weiß, männlich und nichtbehindert ist. Vor allem die postcolonial studies und neuere, dekoloniale Ansätze der Kulturwissenschaft haben dargelegt, dass Historiografien dazu neigen, bestimmte Positionen zu marginalisieren und mit der Auswahl bestimmter Quellen und Akteure subalterne Perspektiven auszublenden. Die mit einer Historiografie von Performance verbundene methodische Frage ist daher nicht allein, wie Quellen erhoben und analysiert werden, sondern vor allem auch, welche Quellen als relevant erachtet werden und wie und aus welcher Perspektive Geschichte erzählt werden soll. Mit dem Begriff der Disability History haben Elisabeth Bösl, Anne Klein und Anne Waldschmidt vorgeschlagen, eine neue Perspektive auf die Geschichte von Behinderung einzunehmen, die sich nicht nur diskursanalytisch und kulturhistorisch mit Behinderung als Thema auseinandersetzt, sondern Aussagen und Biografien von Menschen mit Behinderung selbst in den Mittelpunkt stellt. Dem Slogan der Disability Studies »Nothing about us without us« entsprechend, verfolgt die Disability History den Anspruch, über die Auswahl von Quellen und Erhebung von Daten, aber auch über die historische Forschung von Wissenschaftler*innen, die sich selbst als Mitglieder der Disability Community verstehen, behinderte Perspektiven auf die Geschichte von Behinderung aufzuzeigen und ins Zentrum der Forschung zu stellen. Bedeutet dies nun, dass ein nichtbehinderter und noch dazu weißer und 46

Vgl. Rancière 1994, 10f.

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männlicher Wissenschaftler, wie ich es bin, von einem solchen Thema aus politischen Gründen lieber die Finger lassen sollte? Nicht, wenn die eigene Position als nichtbehinderter Forscher mitreflektiert wird, lautet die kurze Antwort. Ich möchte diese in drei Punkten näher ausführen: Erstens verlangt der Anspruch einer Disability History von jede*r Wissenschaftler*in, die Auswahl historischer Quellen nicht allein an Gesetzestexten, der Medizin-, Sport- und Aufführungsgeschichte zu orientieren, sondern darauf zu achten, marginalisierte Stimmen behinderter Akteur*innen ins Zentrum zu stellen und ihre Perspektive auf die Geschichte der Freakshow, der Paralympics, des inklusiven Theaters aus dem jeweiligen Feld heraus auf eine historisch vergleichende Ebene zu heben. So liegt es zwar nahe, Aussagen und Autobiografien von bekannten nichtbehinderten Protagonisten der Freakshow-Geschichte wie P.T. Barnum, Rudolf Virchow oder Carl Hagenbeck zu analysieren, umso wichtiger erscheint es jedoch, Zeitungsinterviews mit Charles Stratton, bekannter unter dem Namen General Tom Thumb (u.a. im Boston Herald und Brooklyn Eagle in den 1870er und 1880er Jahren)47 die Autobiografien von Carl Hermann Unthan (Das Pediskript, 1925)48 oder der Hilton Zwillinge (Intimate Loves and Lives of the Hilton Sisters, 1950)49 ebenso als Quellen heranzuziehen. Zwar sind auch jene autobiografischen Quellen ähnlich wie die Freak-Darstellungen nicht selten von Übertreibungen und von Hochstapelei gekennzeichnet. Gerade diese Übertreibungen können von Interesse sein für eine historische Performance-Forschung, die das Verhältnis von Behinderung, Leistung und Selbstinszenierung von Freakdarsteller*innen um 1900 untersucht. Die Forschung positioniert sich somit bewusst gegen eine strukturelle Marginalisierung dieser Quellen, indem entsprechende Autobiografien und Interviews teilweise erst wieder ausgegraben und entdeckt werden müssen. Zusätzlich können auch Zeitzeugen im Sinne einer Oral History50 befragt werden, wenn es etwa um die Geschichte der Paralympics oder des inklusiven Theaters geht. Dabei ist nicht allein von Interesse, inwieweit sich die interviewten Athlet*innen, Tänzer*innen oder Performer*innen mit populären Leistungs-Narrativen der Kompensation und Überwindung identifizieren können oder diesen ablehnend gegenüber stehen. Auch

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Vgl. Lehmann 2013, 213. Vgl. Unthan 1925 sowie Storchová 2012. Vgl. Hilton 1950 Vgl. Klein 2010, 50.

Disability Performance History

kommt es darauf an, die Fragestellung einer solchen historiografischen Studie gegebenenfalls anzupassen, falls aus Sicht der Akteur*innen ganz andere Aspekte von Performance als Leistung im Vordergrund stehen als die hier ansatzweise diskutierten. Nicht zuletzt gehören auch Identitätskonzepte und Selbstzuschreibungen zu den relevanten Quellen und Daten, um die Perspektiven der Akteur*innen in die Disability-Forschung aufzunehmen. »In der Disability History«, schreibt Anne Klein »werden die historischen Erzählungen von Opfern zu Geschichten von Subjekten.«51 Zweitens muss die Bearbeitung eines solchen Themas auch theoretische Perspektiven der Disability Studies einbeziehen. Dazu gehört, »Behinderung« prinzipiell als soziale Konstruktion zu betrachten, welche durch kulturelle Praktiken und Diskurse überhaupt erst hervorgebracht wird. So treten in der Freakshow keine ›Freaks‹ auf, sondern Menschen, die über Inszenierungspraktiken und Narrative des Enfreakments erst zu Freaks gemacht werden, ebenso definiert die »Schadensklasse« bei den Paralympics erst die für den Wettbewerb relevante Behinderung als Leistungseinschränkung. Eine historiografische Disability-Forschung muss diese Differenzierungen zur Kenntnis nehmen und je nach historischem Kontext entscheiden, auf welche Art und mithilfe welcher Praktiken Behinderung jeweils konstruiert wird. Wenn im Theater ein Performer mit Behinderung auf der Bühne über alltagsgebundene Barrieren spricht und dabei explizit ein inklusives Publikum adressiert, handelt es sich um eine vollkommen andere Art Disability Performance, als wenn er alles daran setzt, seine Querschnittslähmung oder Ticks auf der Bühne unsichtbar und unhörbar zu machen oder wenn wiederum ein nichtbehinderter Schauspieler eine behinderte Figur verkörpert52 . Mit den Theorien und Positionen der Disability Studies können Strategien des Enfreakments somit ebenso untersucht werden wie Strategien des Empowerments oder der Crip Resistance.53 Entscheidend ist, diese unterschiedlichen Sichtweisen nicht zu ignorieren oder zu marginalisieren, sondern in der Forschung als relevante Positionierungen wahrzunehmen. Drittens verlangt eine Perspektive der Disability History, den eigenen sozialisationsbedingten Blick in der Forschung stets mit zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen. Dazu gehört insbesondere für nichtbehinderte Wissenschaftler*innen, anzuerkennen, dass sie sich gerade nicht in die Haut je-

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Klein 2010, 58. Zur Problematik des sogenannten Cripping up im Schauspiel siehe Kasch 2018. Vgl. McRuer 2019, 92-130.

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de*r behinderten Akteur*in hineinversetzen können. Wer im Leben und in der Wissenschaft stets aus einer privilegierten Sicht die Inszenierung des Anderen und Exotisierung des Fremden betrachtet hat, wird unter Umständen zu ganz anderen theoretischen und historischen Auswertungen von Quellen und Daten kommen als jemand, der selbst im Alltag diskriminierende Erfahrungen aufgrund von Barrieren, Mitleidsbekundungen oder Exotisierungen erlebt. Diese Differenz der Perspektive hat nichts mit Un/wissenschaftlichkeit zu tun, verweist vielmehr auf die Tatsache, dass es in den allermeisten Fällen keinen rein objektiven Blick geben kann. Auch historiografische Analysen werden von der Beziehung der Forschenden zum Gegenstand geprägt. Indem die eigene Positionierung zum Feld immer wieder hinterfragt wird, die kritische Distanz zum Gegenstand markiert, aber auch problematisiert wird, können sich historiografische Verfahren vor Universalismus und Identitätspolitik gleichermaßen schützen. Wenn die Historiografie von Disability Performance auf der Einsicht beruht, dass nicht allein Behinderung, sondern auch Normalität und Normalisierung historisch-kulturelle Konstruktionen der Moderne sind,54 so gehört zu dieser Einsicht zwangsläufig die Problematisierung der eigenen ›normativen‹ Perspektive. Die Lust der Avantgarde am Unkonventionellen und ›Verrückten‹, an Tabubruch, Kontingenz und Risiko, die sich etwa in Schlingensiefs Arbeiten mit geistig behinderten und neurodiversen Schauspieler*innen abzeichnete, gilt es in dieser Hinsicht ebenso zu hinterfragen wie ableistische Normen und Konventionen des Zuschauens. Dazu gehört auch das Eingeständnis, dass eine behinderte Wahrnehmung behinderter Körper auf der Bühne sich deutlich unterscheiden kann von einer nichtbehinderten Perspektive und dass so manche zeitgenössische Disability Performance womöglich gar nicht an nichtbehinderte Zuschauende gerichtet ist.55 Strukturell betrifft die Anerkennung behinderter Perspektiven darüber hinaus eine kritische Reflexion des eigenen Forschungsumfelds. Der Kontakt und die Kooperation mit behinderten Forscher*innen ist für ein Projekt, das sich Disability History auf die Fahnen schreibt, essenziell. Dazu gehört ebenso, über barrierefreies Forschen oder barrierefreie Zugänge zum Theaterwissenschafts-Studium nachzudenken und die Bedingungen zu

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Vgl Davis 1995, 28f. So schreibt Georg Kasch (2020) über die Performance No Limit in den Sophiensälen 2020: »Angela Alves lässt nichtbehinderte Gäste ihrer kreischbunten ZoomPerformance spüren, wie es ist, nicht gemeint zu sein«.

Disability Performance History

schaffen, die Zusammenarbeit mit behinderten wie nichtbehinderten Wissenschaftler*innen überhaupt zu ermöglichen. Diese Einsicht verlangt nicht, dass sich die Wissenschaft selbst einer identitätspolitischen Agenda verschreibt, denn wissenschaftliches Forschen und Schreiben ist nicht mit politischem Aktivismus gleichzusetzen. Das Problem der Identitätspolitik in der Historiografie bleibt ein ihr oftmals eingeschriebener Essenzialismus, der im Widerspruch, so Florian Malzacher, im » zur Vorstellung von Identität als einer kulturellen, performativen Konstruktion« steht, »die nur im Zusammenspiel mit der Umwelt entsteht – als ein Mix aus Narrationen, aus Schnittmengen von Geschichten, die wir erzählen und die andere über uns erzählen«56 . Für eine kritische und selbstreflexive Haltung beim Forschen ist daher die Pluralisierung von Perspektiven eine wichtige Voraussetzung, um Praktiken und Diskurse für die Konstruktion von Behinderung zu befragen. Die Multiperspektivität auf ein politisch aufgeladenes Thema wie Disability Performance hilft dabei, den Drahtseilakt zu meistern, die Forschung weder einem ideologischem Programm zu unterwerfen, noch in die Falle einer vermeintlich apolitischen oder ahistorischen Objektivität zu tappen.

Vier abschließende Thesen Inwiefern können die hier angestellten Überlegungen nun verallgemeinert und auf methodische Ansätze und Perspektiven einer historisch vergleichenden Performance Studies übertragen werden? Auf den Beginn dieses Beitrags zurückkommend und anstelle einer Zusammenfassung möchte ich zum Abschluss vier Thesen aufstellen, die sich aus meinen Ausführungen über eine Disability Performance History ableiten und aus meiner Sicht insgesamt für historisch vergleichende Performance Studies relevant sind: 1. Das weite Feld der Performance Studies ist gerade im Hinblick auf eine historisierende Perspektive noch nicht weit genug: Leistung, Übung, Wettbewerb, Routine, Normen der Ausführung und Kriterien der Beurteilung sind als weiße Flecken auf der Landkarte der Performance Studies erst noch zu entdecken. Es gilt entsprechend, sowohl Praktiken als auch

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Malzacher 2020, 50.

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Diskurse von Performance in all ihren Konnotationen in den Blick zu nehmen und sich nicht allein auf künstlerisch gerahmte Performances zu konzentrieren. 2. Performance Studies sollten sich weder allein auf die Gegenwart noch auf die Performance-Kultur seit den 1960er Jahren beziehen. Stattdessen kann gerade der Vergleich von unterschiedlichen Performance-Typen und Genres über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinweg neue Erkenntnisse über eine Performance-Gesellschaft im Wandel der Moderne liefern. 3. Mit Untersuchungen der longue durée rücken weniger einzelne Aufführungsereignisse als vielmehr der Wandel von Traditionen, Normen und Konventionen sowie Diskontinuitäten und Phänomene der Ungleichzeitigkeit in den Fokus. Letztere sind nicht im Hinblick auf eine lineare und normative Fortschrittsgeschichte hin zu interpretieren, sondern in Bezug auf divergierende, auch widerstreitende Entwicklungen performativer Kultur. 4. Eine Historiografie von Disability Performance zeigt eine von vielen Möglichkeiten, marginalisierte historische Praktiken und Diskurse in den Fokus zu rücken. Dabei wird zum einen eine performative Dimension von Behinderung aus dem Schatten der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte ins Licht gerückt, zum anderen die Performance-Geschichte aus Sicht behinderter Akteur*innen mithilfe neuer Quellen und der Oral History erforscht. Eine solche Perspektive beschränkt sich nicht auf die Geschichte von Disability Performance, sondern gilt ebenso für feministische, queere, postkoloniale oder posthumane Perspektiven. Grundlegend für solch alternative Historiografien ist nicht zuletzt das kritische Hinterfragen des eigenen Blicks und jener Privilegien, die mit der Organisation von Forschung und der Geschichtsschreibung immer auch verbunden sind.

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Historiografie des Spektakels Kati Röttger

Im Folgenden möchte ich eine historiografische Methode vorschlagen, die sich am Begriff des Spektakels orientiert. Dass ein solches Vorhaben zunächst auf berechtigte Widerstände stoßen muss, ist nicht von der Hand zu weisen. Schließlich genießt der Begriff des Spektakels in den Geistes- und Kulturwissenschaften keinen guten Ruf. Denn mit dem Spektakel werden Eigenschaften wie Verdummung, Effekthascherei, Täuschung und Verführung verbunden, die einen diametralen Gegensatz zu einem auf Vernunft, Einsicht und höhere Erkenntnis beruhenden Anspruch auf Wissen bilden.1 In der Theatergeschichtsschreibung hat sich der Begriff gleichermaßen als Bezeichnung für eine Theaterästhetik durchgesetzt, »die vor allem auf visuellen Attraktionen beruht«,2 und »die Show, die Intrige, das Maskenspiel und die Substanzlosigkeit«3 meint. Als Vulgärform des Theaters betrachtet, sind spektakuläre Praktiken nur partiell in der theatergeschichtlichen Forschung berücksichtigt worden.4 Obgleich eingeräumt werden muss, dass sich die Negativkonnotation des Begriffs vor allem im deutschsprachigen Raum durchgesetzt hat,5 so hat das Erscheinen von Guy Debords viel beachteten Thesen über Le Société du Spectacle 1

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Dieses dichotomisch geprägte Differenzgefälle zeigt sich zum Beispiel, wenn im Zusammenhang mit dem Spektakel von »bewusster Zerstörung rationaler Erkenntnis« und »Zerstreuung des Wissens« die Rede ist. (Pelka 2016, 200) Ruppert 1995, 156. Etzold 2006, 231. Das Metzler Lexikon Theatertheorie zum Beispiel berücksichtigt den Begriff weder in der ersten (2005) noch in der zweiten (2014) Auflage. Vgl. zu Ansätzen in den Visual Culture Studies (wie z.B. Crary 1999) Röttger 2017. In den romanischen Sprachen wie auch im Englischen wird der Begriff im Allgemeinen wertneutraler als umfassende Bezeichnung von Aufführungen verwendet. Vgl. dazu z.B. den Eintrag zu spectacle im Larousse : »Ensemble de ce qui se présente au regard, à l’attention, et qui est capable d’éveiller un sentiment. Représentation théâtrale, projec-

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(1967) endgültig dazu beigetragen, das vom antitheatralen Vorurteil geprägte Spektakel zu einem zentralen Bezugspunkt kulturkritischen Denkens über Landesgrenzen hinaus zu erheben.6 Debords marxistisch inspirierte Thesen rücken die modernen kapitalistischen Gesellschaften unter dem Vorzeichen des Spektakels in eine direkte Nähe zum Theater, genauer gesagt zu einem ›schlechten‹ Theater eines äußeren Scheins, das das Leben nur vortäuscht.7 Gleichzeitig erhob Debord das Spektakel zu einer theoretischen Perspektive, als eine »ins Materielle übertragene Weltanschauung der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen«.8 Massenhafte Warenproduktion und eine Kulturindustrie technisch reproduzierter Bilder machen, so Debord, im Zeichen des Konsums die Bedingungen der modernen Gesellschaft aus, die das Spektakel ist. Dabei insistiert er darauf, dass das Spektakel nicht selbst als Produkt der Bildtechnologien der Massen verstanden werden darf, sondern identisch ist mit der Rechtfertigung des Systems, das es abbildet. Im Spektakelbegriff Debords verbinden sich also die Kritik an kapitalistischen Produktionstechniken, massenmedialen Informationstechniken, reproduzierenden Bildkulturen und damit einhergehenden Techniken der Individuation mit der Kritik an einer Totalität des Spektakels, die das Leben der Menschen in Abhängigkeit, Entfremdung und Isolation treibt. In dieser Form hat sich der Begriff des Spektakels in den Kulturwissenschaften als einflussreiches und totalisierendes Analysemodell der ›Krankheiten‹ der Moderne und der Krise des Subjekts etabliert,9 die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit zunehmendem technischen Fortschritt einstellten, und heute, im digitalen postdemokratischen Zeitalter, eine neue Relevanz erlangt, die allerdings nicht immer für unproblematisch gehalten wird, wie unter anderem Juliane Rebentisch treffend formuliert.

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tion cinématographique etc. Ensemble des activités du théâtre, du cinéma, du musicHall etc.« »Kaum ein anderer Titel taucht in den Literaturlisten so häufig auf wie Die Gesellschaft des Spektakels.« (Schellow 2016, 123.) Um der Komplikation der Übersetzung des Begriffes ins Deutsche gerecht zu werden, verweist Jean-Luc Nancy in der deutschen Übersetzung von Être singulier pluriel (1996) auf die Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Spektakel, der Debord mit Akzent auf dem schlechten Spektakel Folge leistet, wobei er die Verstrickung beider übersieht. (Nancy 2004, 108-109). Debord 1996, 14. Vgl. u.a. Gandesha/Hartle 2017, Opalsky 2011, Hedges 2010, Lütticken 2008, Etzold 2006, Ploebst 2001.

Historiografie des Spektakels

»Gerade der offensichtlich totalisierende Zug [von Debords] Diagnose scheint sich vielmehr heute nur zu gut zu eignen, um die empfundene politische Ohnmacht in Radikalität umzumünzen, eine Radikalität freilich, die kaum noch mehr ist als eine Verfallsform heroischer Melancholie: Wir sind alle Teil des Spektakels, aber wir prangern es an. So – als gratisradikale Leerformel – eingesetzt, verstellt die Kritik des Spektakels allerdings gerade das Verständnis der ökonomisch-politischen Verhältnisse, auf das sie Anspruch erhebt.«10 Rebentisch schlägt angesichts dieses Problems vor, den Begriff des Spektakels einfach zu suspendieren, da kaum einer bis heute so unbeschadet und kritiklos rezipiert wird wie dieser. Andere wollen ihn durch den Begriff des Postspektakulären ersetzen, um dem Spektakel eine neue Unmittelbarkeit mit den Mitteln des postdramatischen Theaters entgegenzusetzten.11 Muss man das Spektakel vielleicht sogar einfach hinter sich lassen?12

Eine Historiografie – und Theoriegeschichte des Spektakels? Will man vor diesem Hintergrund Jean-Luc Nancys Herausforderung annehmen, »das Denken des ›Spektakels‹ als solches wiederauf[zu]nehmen und es auf eine neue Rechnung [zu] begründen,«13 dann bietet sich a priori eine theaterwissenschaftliche Perspektive an. Schließlich bezeichnet das Spektakel in seiner ursprünglich lateinischen Bedeutung von spectaculum einen Gegenstandsbereich, der ein Kerngeschäft der Theaterwissenschaft ausmacht: Schauplatz und Schauspiel, mit besonderem Akzent auf den Raum des Sehens und Gesehen-Werdens und die Aktivität des Zuschauens (Blick).14 Dennoch hat die Theatergeschichtsschreibung bisher versäumt, eine Geschichte des Spektakels vorzulegen. Was also wäre naheliegender, als der Herausforderung Nancys nachzukommen, indem man diesem theaterwissenschaftlichen Desiderat mit einem historiografischen Ansatz begegnet? Zumal »[d]ie 10 11 12 13 14

Rebentisch 2007, 120. Vgl. Eiermann 2009. Siehe auch Thackara 2003. Vgl. Schellow 2016, 125. Nancy 2004, 111. Das Langenscheidt Wörterbuch Latein bietet zum Beispiel folgende Übersetzungen des Begriffs spectaculum an: »1. Schauplatz (meist pl.) a) Zuschauerplätze, Tribüne, b) Amphitheater, Theater; 2. a) (aufgeführtes) Schauspiel; b) Anblick, Augenweide, Schauspiel« (1999, 490).

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Besonderheit des Spektakel-Begriffs gegenüber anderen historiografischen Konzeptionen darin [liegt], dass er selbst auf eine Geschichte der Theoretisierung und Historisierung zurückgreifen kann, die bis in die Antike reicht.«15 Ein solches Unterfangen ist ihm Rahmen des vorliegenden Artikels selbstredend nicht zu leisten.16 Stattdessen sollen lediglich Vorüberlegungen angestellt werden, die erste Konturen einer methodologischen Herangehensweise an eine Geschichtsschreibung des Spektakels umreißen. Es bietet sich an, zunächst die Begriffsgeschichte des Spektakels in Augenschein zu nehmen, um möglichen historischen Umwertungen des Spektakels nachzugehen.17 Eine Begriffsgeschichte des Spektakels wiederum kommt nicht ohne Theoriegeschichte aus, die darüber Aufschluss geben kann, welcher ästhetische oder epistemologische Stellenwert dem Spektakel bzw. unterschiedlichen spektakulären Praktiken in bestimmten (historischen) Konstellationen der Zurschaustellung zugesprochen wurde. In frühneuzeitlichen Theater und der Theaterforschung umfasst der Begriff eine große Bandbreite an theaterübergreifenden Phänomenen wie »Oper, Ballett, bzw. alles was in Theatern und Amphitheatern gesehen werden kann,«18 sowie öffentliche Rituale und Festkulturen wie königliche Einzüge, Krönungen, Feuerwerke, Maskeraden und religiöse, militärische und juridische Zeremonien. Was diese Ereignisse unter dem Begriff des Spektakels zusammenführte, war deren affektive, Leidenschaften erzeugende und überraschende Wirkung auf die Zuschauer, die in erster Linie durch eine opulente (Bild)Ästhetik und oft maschinell hergestellte Effekte erzielt wurde.19 Erst im Zuge der allmählichen Entstehung der Nationaltheater und einer bürgerlichen Öffentlichkeit verliert der Begriff seine übergeordnete Funktion. Dass diese Entwicklung nicht bruchlos vonstattengeht, zeigt der Eintrag zum Lemma »spectacle« in der Enzyklopädie von Diderot und D’Alambert. Der Autor dieses Lemmas, Louis de Jaucourt, naturalisiert die Notwendigkeit des Spektakels geradezu. Infolge von Charles Batteux (1730-1780) betrachtet er das Spektakel als Antwort auf die Tatsache, dass

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Lazardzig 2018, 77. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang die Publikation zum Spektakel als ästhetische Kategorie (Frisch/Fritz/Rieger 2018), die als eine der ersten den Versuch unternimmt, den Spektakelbegrif für die kulturwissenschaftliche Forschung zu öffnen. Vgl. dazu ausführlicher Röttger 2016. Van Oostveldt/Bussels 2017. Vgl. Furetière 1690, s. v. »spectacle«.

Historiografie des Spektakels

»der Mensch als Zuschauer geboren wird«20 . Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die dreisprachige Übersetzung dieses Eintrags in der 1779 erschienen Wochenschrift Schauplatz [Spectacle] der Natur und der Künste, in vier Sprachen, deutsch, lateinisch, französisch und italienisch.21 Ohne den Bezug zur Enzyklopädie zu erwähnen und auch nicht ganz vollständig (der letzte Teil zu den Römischen Spektakeln fehlt), wird hier Spectacles im Deutschen mit »Schauspiele« übersetzt, was als Hinweis für die sich abzeichnende unterschiedliche Konnotierung des Begriffs in den verschiedenen europäischen Sprachen gelesen werden muss. Infolgedessen erfährt das Spektakel mit dem zunehmenden Bildungsanspruch des Theaters und der damit verbundenen Dominanz des Dramas eine Negativkanonisierung22 , die bis über das 20. Jahrhundert hinaus gültig bleibt. Dieser Sachverhalt ist umso bemerkenswerter, als die Nationaltheater und die Nationalgeschichte etwa zeitgleich entstanden sind. Die konstitutive Bedingung für die Begründung von Geschichte als wissenschaftliche Disziplin bestand darin, die Nation und den Nationalstaat zu ihrem fundamentalen Gegenstand zu erklären. »Nations emerge as the subjects of history just as History emerges as the ground, the being, of the nation.«23 Theatergeschichte wurde konsequenterweise bisher weitgehend als Nationaltheatergeschichte geschrieben. Mit einer intra-, inter- und transnationalen Geschichte des Spektakels könnte auch ein substantieller Beitrag zur gegenwärtigen Infragestellung des Nationalstaats als grundlegenden (räumlichen) Rahmen für die Geschichtsschreibung24 geleistet werden. Ohne hier in aller Ausführlichkeit auf die bisher geleisteten begriffs- und theoriegeschichtlichen Forschungen eingehen zu können, möchte ich eini20

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Jaucourt 1751 : Art. »Spectacle«, 446-447 : »SPECTACLES, (Invent. anc. & mod.) représentations publiques imaginées pour amuser, pour plaire, pour toucher, pour émouvoir, pour tenir l’ame occupée, agitée, & quelquefois déchirée. Tous les spectacles inventés par les hommes, offrent aux yeux du corps ou de l’esprit, des choses réelles ou feintes; & voici comme M. le Batteux, dont j’emprunte tant de choses, envisage ce genre de plaisir.L’homme, dit-il, est né spectateur; l’appareil de tout l’univers que le Créateur semble étaler pour être vu & admiré, nous le dit assez clairement.« Sechster Jahrgang. Von 48 Platten und 48 Beschreibungen nebst Titelkupfer und Vorbericht. Verlegt von Joseph Ehlen von Kurzböck, kais., königl, fürstlichen und aller orientalischen Sprachen Hofbuchdruckern und Buchhändlern, 1779. [Wochenschrift für wohlunterrichtete Kinder]. Vgl. Röttger 2001. Lorenz 2010, 72. Vgl. Lorenz 2010, 80.

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ge entscheidende Hinweise herausheben, anhand derer sich mögliche Bedingungen für die Methodologie einer Historiografie des Spektakels skizzieren lassen. Erstens hat das Spektakel innerhalb der Theatergeschichtsschreibung den Status des ›Anderen‹ im Verhältnis zum nationalen Theaterkanon zugeteilt bekommen. Theatrale Praktiken, die am Spektakulären orientiert sind, werden nicht berücksichtigt und gehören entsprechend nicht zum Gegenstandsbereich und Wissensbestand der Theaterwissenschaft. Eine Historiografie des Spektakels würde sich dementsprechend dazu eignen, Parameter der traditionellen Theaterhistoriografie zu hinterfragen und neu zu konfigurieren. Aber worin genau lägen die Errungenschaften einer Historiografie, die die Parameter um die des Spektakels erweitert? Jan Lazardzig leitet aus einer detaillierten vergleichenden Analyse zweier Traktate zum Stellenwert von Spektakelkultur im 17. Jahrhundert25 folgende neue Aufgaben für die Theaterhistoriografie ab: »(a) die konsequente Relativierung und Kontextualisierung des Schauspiels (d.h. seiner vielfältigen theoretischen und historischen Erscheinungsformen) im Verhältnis zu anderen (nicht-mimetischen) Formen öffentlicher Spektakel; (b) die Berücksichtigung und Aufwertung einer Material- und Objektkultur des Spektakels (Architekturen, Technologien) und damit einhergehend (c) die Ebenbürtigkeit nicht-menschlicher Akteure und Agenten des Spektakels (wie Maschinen oder aber auch Tiere), ferner (d) eine transnationale bzw. grenzreflexive und an Transferprozessen ausgerichtete Historiographie.«26 Diese ersten wegweisenden Hinweise auf Konturen einer Historiografie des Spektakels möchte ich im Folgenden auf zwei meines Erachtens hervorspringende Aspekte fokussieren, nämlich erstens auf Überlegungen zur Spektakelgeschichte als Technikgeschichte und zweitens auf damit einhergehende erste Vorschläge zu einer transnationalen und an Transferprozessen ausgerichteten Historiografie.

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Es handelt sich um maschinentheoretische Erörterungen bei Michel de Pure (1668) und Claude-François Menestrier (1669). Lazardzig 2018, 77.

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Spektakelgeschichte als Technikgeschichte: eine genealogische Perspektive ›Das Spektakel‹ ist seit Debords Einführung des Begriffs als negative Herrschaft und Totalität bis heute in den Kulturwissenschaften ein zentraler Bezugspunkt kulturkritischen Denkens geblieben.Wenn ich den Begriff ›das Spektakel‹ infolgedessen in den Mittelpunkt methodologischer Überlegungen stelle, dann behalte ich diesen Bezugspunkt bei, um über einen historiografischen Zugriff die Widersprüchlichkeit von Konstellationen offenzulegen, die im Spektakel wirksam sein können, und Kritik an der Totalität des Begriffs zu üben, ohne ihn deshalb zu suspendieren. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Spektakel und Technologie. Obwohl Debord das Leben der Gesellschaften als Ansammlung von Spektakeln bezeichnet hat, »in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen«27 , leistete er kaum eine Auseinandersetzung mit der Frage nach den Technologien, die diese Produktionsbedingungen voraussetzen.28 Genau diese Unterlassung führt meines Erachtens zur Totalisierung des Begriffs. Geht man, wie Debord, davon aus, dass Moderne und Spektakel ein besonderes Bündnis bilden, dann bildet der Begriff der Technik den missing link, der Spektakel und Moderne29 in ein besonderes Verhältnis setzt. Folgt man zum Beispiel Bernard Stiegler, dann sind »[d]ie modernen Zeiten […] wesentlich die der modernen Technik.«30 Welche Rolle spielt das Spektakel in den verschiedenen historischen Konstellationen von Technik und Moderne? Ich schlage vor, diese Frage aus einer genealogischen Perspektive in den Blick zu nehmen. In Anlehnung an Nietzsche bedeutet dies erstens, Ereignisse zu untersuchen, die sich in historischen Konstellationen zutragen, die Spektakel genannt wurden und als Spektakel Modernität beanspruchten. Es handelt sich um Konstellationen,

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Debord 1996, 13 In These 24 bezeichnet er das Spektakel als Form, die ihren eigenen technischen Inhalt wählt, vgl. Debord 1996, 22. Mit Moderne meine ich alle geschichtlichen Phasen, in denen sich Modernität als Grunderfahrung einer Radikalisierung moderner Prinzipien und somit als Desynchronisierung von Zeiterfahrung kistallisiert. In diesem Sinne schließe ich die verschiedenen Phasen von Modernisierung, die mit Begriffen wie Zweite Moderne, Spätmoderne, Neuzeit, Klassische Moderne usw. benannt werden, in den hier verwendeten Beriff von Moderne mit ein. Vgl. dazu Rosa 2005. Stiegler 2009, 18.

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in denen (neue) technische, künstlerische und wissenschaftliche Verfahren mit spektakulären Aufführungspraktiken eine unlösliche Verbindung eingehen. Sie generieren neue Formen von Wahrnehmung, Darstellung und Wissen und sind jeweils entscheidend an der Bildung eines urbanen Massenpublikums beteiligt. Ein solcher Ansatz würde es ermöglichen, die Geschichte des Spektakels ebenso bis zu den Römischen Gladiatorenspielen (mit ihren spektakulären Aufführungen neuer Waffen- und Wagentechniken) wie zum Maschinentheater der Barockzeit zurückzuverfolgen und diese in einen Zusammenhang mit den heutigen spektakulären Technologien der globalen Digitalkultur zu bringen.31 Zweitens bedeutet die genealogische Perspektive, auf den Spuren dieser und ähnlicher Technologien des Spektakels der kritischen Frage nachzugehen, wie das Spektakel in die Herkunftsgeschichte moderner Gesellschaften involviert ist, inwieweit es konstitutiv und integrativ gewirkt hat oder zu Spannungen und Verwerfungen führte. Dazu müssen der Umgang mit und die Wirkungen von den Technologien in den Blick genommen werden, die in spektakulären Praktiken zur Aufführung gelangen. Voraussetzung ist, Technologie in diesem Zusammenhang keineswegs nur mit der optimistischen Idee einer ständig fortschreitenden und die Lebensumstände verbessernden Moderne gleichzusetzen. Vielmehr muss berücksichtigt werden, dass technische Innovationen auch zu politisch-ökonomischen Deregulierungen bzw. Umsteuerungen und – im direkten Zusammenhang mit beschleunigten wissenschaftlich-technischen Entwicklungen – zu grundlegenden Schwierigkeiten in allen gesellschaftlichen Bereichen führen, weil die brutale Evolution dieser Entwicklungen gesellschaftlich immer schwerer zu erfassen ist und Desorientierungen mit sich bringt.32 Die im Englischen angelegte mehrfache Bedeutung des Begriffs spectacle als besondere Form der Darstellung und als Perspektive33 ist für einen genealogischen Ansatz drittens insofern von besonderem Interesse, als damit im Spektakelbegriff verschiedene Konstellationen von Kulturtechniken und Technikkulturen angelegt sind, die verfolgt werden können. Erstens verweist der Begriff auf eine besondere Praxis der Darstellung. Gleichzeitig ist die Bedeutung von Spektakel als Medium oder Instrument, durch die etwas betrachtet

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Vgl. zu der Zeit der industriellen Revolution um 1800 Röttger 2020. Vgl. Stiegler 2009, 29. Vgl. Oxford English Dictionary, 165.

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wird, impliziert. Drittens schließlich verweist der Begriff auch auf eine Perspektive, einen point of view, der an eine bestimmte Erkenntnis und theoretisches Wissen gekoppelt ist. Einerseits gehen im Spektakelbegriff also praktisches und theoretisches Wissen Hand in Hand. Das führt zu der Frage, in welcher Weise Spektakel ein praktisches Wissen von den Techniken implizieren, die sie zur Aufführung bringen und durch die sie zur Aufführung gebracht werden. Andererseits aber stellt sich die Frage, inwieweit ein Spektakel als Perspektive, das heißt auch als ein theoretisches Wissen (episteme) über die Mechanik der Moderne wirksam ist, indem es »ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte«34 beherrscht. Das schließt im gegebenen Zusammenhang den Begriff der Technologie mit ein. Technologie bezeichnet im Allgemeinen den Diskurs über die Technik.35 Spezieller nennt man Technik dann Technologie, wenn – im Gegensatz zu den vormodernen Techniken wie eben das Feuer oder auch die Sprache – moderne Wissenschaften integriert sind, wie etwa das Ingenieurswesen als angewandte Wissenschaft der Technik.36 Insofern ist Technologie ein moderner Begriff. Seit dem späten 18. Jahrhundert wird Technologie (als wissenschaftlicher Diskurs) erweitert um eine Geschichte der Technik, um auf systematische Weise die Verfahrensweisen, Gründe und Nutzen der verschiedenen Techniken darzustellen.37 Generell bezeichnet Technik hier den Bereich der Instrumente und Werkzeuge bzw. Objekte, bis hin zu Maschinen. So verstanden wird Technik zu einem neutralen Gegenstand in der Hand des Menschen, der zum Guten oder Bösen angewandt werden kann.38 Dieser instrumentalisierte Begriff von Technik basiert auf einer strikten Trennung zwischen Mensch und Technik. Einer falschen Trennung, wie Jean-Luc Nancy meint, weil damit ange-

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Foucault 1971, 22. Auch wenn ich mich hier bewusst in Anspielung auf das Konzept der Archäologie der methodologischen Begrifflichkeit Foucaults bediene, lasse ich dessen Auseinandersetzung mit Technik und Technologie im Rahmen dieses Artikels außen vor, da sich seine Frage nach der Technik in erster Linie auf Techniken der Herrschaft und auf Prozesse bezieht, in denen Individuen auf sich selbst einwirken, und Technologien des Selbst in Macht und Herrschaftsstrukturen integriert werden. In einem erweiterten Kontext der Spektakelforschung könnte die Berücksichtigung dieses biopolitischen Ansatzes durchaus zu produktiven Ergebnissen führen. Vgl. Stiegler 2009, 130. Vgl. Beckmann 1777. Vgl. Bradley 2011.

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nommen wird, der Mensch kontrolliere die Technik.39 Diese Trennung muss in Frage gestellt werden, wenn man davon ausgeht, dass der Mensch ein technisches Wesen ist, das jeweils durch technologische Wirkungsfelder definiert und redefiniert wird.40 Im Sinne eines spezialisierten know-how oder Wissen über Verfahrensweisen, die in Kunst, Wissenschaft und Technologie hineinreichen (abgeleitet vom griechischen techné41 ), hat jedes menschliche Handeln mit Technik zu tun. Gleichzeitig lässt sich mit Simondon argumentieren, dass das, was Maschinen innewohnt, menschliche Realität ist.42 Ihm zufolge liegt die stärkste Ursache der Entfremdung in modernen Gesellschaften in der Verkennung der Maschinen. Stattdessen plädiert er für die Anerkennung und Reflexion einer Ko-Existenz von Maschinen, Menschen und Natur. Demzufolge wären in die Technik nicht nur Akte der Gewalt eingeschlossen, die auf eine Materie einwirkt, wie der Anthropologe André Leroi-Goudhon zu Bedenken gibt.43 Darüber hinaus stellt sich auch die für die heutige Moderne immer drängendere Frage, inwiefern Technik nur ein Mittel ist, durch das der Mensch die Natur beherrscht, oder ob die Technik den Menschen beherrscht, der ja auch Teil der Natur ist.44 Von der Schwierigkeit dieser Voraussetzung und der daraus abgeleiteten Frage – »der Mensch, die Technik. Wo beginnt (beginnen), wo endet (enden) der Mensch – die Technik?«45 – ist die genealogische Perspektive geprägt, die hier vorgeschlagen wird. Anstatt nach Ursprüngen zu suchen und damit festzulegen, wo Mensch und Technik, bzw. wo Leben und Spektakel klar voneinander zu trennen sind, eröffnet dieser 39

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»Technology is a fetish-word that covers over our lack of understanding of finitude and our terror at the precipitate and unbridled character of our ›mastery‹, which no longer knows either end or completion«. Nancy 2003, 25. Vgl. Wills 2008. In der Nikomachischen Ethik bringt Aristoteles den Begriff der techné in einen direkten Zusammenhang mit dem Begriff der poiesis (Produktion): »Jede tekhné hat das Merkmal, ein Werk hervorzubringen, und sucht nach den technischen und theoretischen Mitteln, um etwas herzustellen, das zu der Kategorie der Möglichkeiten gehört und dessen Prinzip in der Person, die etwas ausführt, und nicht im ausgeführten Werk liegt.« (Aristoteles 1969, IV, 4) Demnach handelt es sich bei Technik also nicht um das Produkt, sondern um die Herstellung durch eine Person. Heidegger leitet daraus den Begriff des Hervorbringens (Entbergens) ab, mit dem er techné definiert und betont damit die Medialität von Technik (vgl. Heidegger 1985, 13). Vgl. Simondon 2012, 9. Vgl. Leroi-Gourhan 1943, 47. Das ist u.a. die zentrale Frage nach der Technik in Heideggers gleichnamigem Aufsatz (1985). Stiegler 2009, 137.

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Ansatz die Möglichkeit verschiedener historischer Konstellationen, die Technologien und Spektakel in der Moderne eingehen. Sie bilden Schnittstellen, an denen die Interrelationen von Techniken, Wissen und Sensationen auf ihre besonderen Wirkungen, Darstellungsweisen und Wahrnehmungsimplikationen hin befragt werden, um die Spannung zwischen Krise und Fortschritt, die der Erfahrung von Moderne implizit ist, in den Blick zu bekommen. Technologien des Spektakels meinen in diesem Zusammenhang auch die spektakulären Aufführungspraktiken, die sowohl ein allgemeines know how als Techniken implizieren, die zur Aufführung gebracht werden und das Spektakel hervorbringen, als auch den Diskurs oder die Wissenschaft von den Techniken, die identisch sind mit dem Spektakel.

Zu einer interkonnektiven Historiografie des Spektakels Wie bereits erwähnt, zeichnen sich spektakuläre Praktiken durch die hohe inter- und transnationale Mobilität und Zirkulation von Techniken, Apparaten, Motiven, Bildern, Wissen, Melodien und nicht zuletzt auch Personen aus. Wie kann nun dem transnationalen und transmedialen Gestus des Spektakels historiografisch Rechnung getragen werden? Ich möchte im Folgenden gemäß dem genealogischen Verständnis von Geschichte den Vorschlag einer interkonnektiven Historiografie unterbreiten. Eine interkonnektive Historiografie ruft neben inter- und transmedialen Ansätzen gleichermaßen inter- und transnationale sowie inter- und transdisziplinäre Perspektiven auf. Das bedeutet zum einen, Theater- und Operngeschichte, Kunst- und Bildgeschichte, Ästhetik- und Mediengeschichte, Technik- und Wissenschaftsgeschichte in einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu bringen.46 Dieses Unterfangen – also der Anspruch auf eine interkonnektive Geschichte des Spektakels – begründet sich zum anderen aus der Tatsache, dass die Technologien, die für die Moderne grundlegend wurden, auf ihre historische Entstehung und ihre Teilhabe an der Bildung von Netzwerkstrukturen zurückverfolgt werden können, die auch das Spektakel organisieren. Der Begriff Interkonnektivität leitet sich entsprechend aus den nichtlinearen Verteilernetzen wie den Elektrizitätsnetzen ab, die heterogen aufgebaut sind. Geschichte wird hier in Anlehnung daran nicht als chronologischer, entwicklungsorientierter, fortschreitender, mithin auch 46

Vgl. zur methodischen Anwendung Kleie 2019.

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fortschrittsorientierter Prozess aufgefasst, sondern orientiert sich an der Leitmetapher der Zirkulation und stellt die Verbindung unterschiedlicher Elemente, unterschiedlicher Konstellationen, in den Vordergrund. Das bedeutet im Umkehrschluss, spektakuläre Praktiken nicht am Fortschreiten von Technologien im Sinne stetiger Verbesserung ihrer Leistungen zu messen, ebenso wenig wie am deterministischen Maßstab gängiger Meilensteine wie etwa ›die Erfindung der Oper‹ oder die ›Erfindung der Fotografie‹. Es geht nicht darum, eine teleologisch und monodisziplinär angelegte Geschichte darzulegen, die auf die Entstehung eines Mediums hin geschrieben ist. Die Logik des Erfindens soll demgemäß nicht mit einer Logik des Erfinders gleichgesetzt werden, sondern als eine Techno-Logik ernstgenommen werden, an der verschiedene Prozesse, Erfindungen und Erfinder beteiligt sind: In Verbindung mit dem Spektakel eröffnet eine interkonnektive Historiografie darüber hinaus einen Blick darauf, wie technologische, künstlerische, wissenschaftliche und soziale Prozesse im Sinne einer Techno-Anthropologie zusammenwirken. Dabei geht es nicht nur um Enthüllungen gesellschaftlicher Lebensverhältnisse des Menschen durch Technologie, sondern auch um Spannungen zwischen Lebensverhältnissen und technologischen Systemen etwa dann, wenn Technologien mit lokalen Kulturen in Konflikt geraten, weil Technologie tendenziell universell ist, Kultur aber partikular.47 Dabei möchte ich an dieser Stelle betonen, dass ich mit interkonnektiver Historiografie keine Netzwerkanalyse etwa im Sinne von Bruno Latour meine. Interkonnektive Historiografie geht nicht von einer ›flachen‹, generalisierenden Symmetrie von Natur, Technik und Gesellschaft aus, in der Machtgefälle, Konflikte oder Anachromismen ebenso wenig Platz haben wie die Frage nach dem Umgang mit Technik, Natur und Gesellschaft in Narrativen und Symbolen.48 Ganz im Gegenteil: gerade die Geschichten und Bilder interessieren hier, die aus dem Umgang mit und dem Entstehen von Technologien hervorgehen. Wie kommt es zum Beispiel, dass Erzähl-Figuren des Wiedergängers wie Vampire oder Gespenster in das Werden und Vergehen von (Unterhaltungs-)Technologien scheinbar inkorporiert sind? Um Antworten auf solche Fragen zu finden, schließt eine interkonnektive Historiografie

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Vgl. Stiegler 2009, 53. Ich teile mit H. Rosa die Kritik an einem kontrollierten und einheitlichen Methodendesign, das »den Blick […] an eine scharf restringierte Oberfläche fesselt, die es nicht erlaubt, Tiefenstrukturen und weit gesteckte Zusammenhänge zu erfassen.« (2005, 56.)

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einen gewissermaßen tiefenzeitlichen Blick auf Zeitschichten mit ein.49 Nach dem geologischen Vorbild wird davon ausgegangen, dass die verschiedenen historischen Quellen, die befragt werden, Zeitebenen verschiedener Dauer und Herkunft bloßlegen, die in spektakulären Praktiken vorhanden und wirksam sind. Besondere Knotenpunkte bilden in Folge Aufführungspraktiken im weitesten Sinne, in denen Bilder, Motive, Plots, Wissen, Affekte, Melodien, Texte, Techniken, Objekte usw. aus verschiedenen Bereichen und Zeiten in einem inszenierten Raum-Zeit-Gefüge auf intermediale Weise zusammentreffen. Methodisch gliedert sich dieser Zugang in vier Schritte auf. Erstens gilt es, das Spektakel als Phänomen und Modalität der Moderne zu untersuchen. Als Phänomen zeichnet es sich in diversen spektakulären Praktiken ab. Als Modalität gräbt es sich in die Kultur ein und manifestiert seine Geschichte in den Bedingungen, die es ermöglichen. Insofern wird das Spektakel auch als stumme Ordnung des Sichtbaren und Hörbaren, der Bilder und Erzählungen der Moderne in spezifischen historischen Formationen aufzuspüren sein. Das bedeutet zweitens, das Spektakel in einem inter- und transmedialen Zusammenspiel zu betrachten. Sofern Medien in einer Aufführung oder einer konkreten historischen Situation vor den Augen des Zuschauers im transformativen Wechselspiel zu Ereignissen werden, ist von intermedialen Prozessen die Rede. Sofern aber Motive, Bilder, Melodien, Techniken und dergleichen über Zeit- und Raumgrenzen hinweg von Medium zu Medium wandern (etwa vom Text zur Bühne zum Film), ist von transmedialen Prozessen die Rede.50 Der Vampir ist zum Beispiel dann ein transmediales Phänomen, wenn man dessen Wanderungen von der Bühne in den Stummfilm über den Hollywoodfilm bis hin in gegenwärtige Serien betrachtet. Wird die Figur aber als Bestandteil einer spezifischen Inszenierung im Wechselspiel mit anderen Medien, die sie hervorbringen (Körper, Technik, Wort, Musik etc.) untersucht, dann macht sie einen Bestandteil des intermedialen Prozesses aus, der sich im hic et nunc einer Aufführung ereignet. Daraus folgt drittens, dass bestimmte massenmediale Formate wie Fernsehen, Film, Theater, Panorama usw. als Spektakel untersucht werden können, die gleichzeitig bestimmte spektakuläre Praktiken als Ereignisse einschließen. In vielen Fällen ist die Popularität dieser Medien eben mit diesen Praktiken und den durch sie und mit ihnen herausgeformten Genres wie zum Beispiel der Grand Opera, der Feerie, dem

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Vgl. Hutton 2010. Vgl. Röttger 2016.

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Musical oder dem Western verbunden. Das Spektakel ›passiert‹ also Medien und Genres einerseits und umspannt sie andererseits. Dadurch wird es möglich, bestimmte Formen von Darstellungen als Spektakel über Medienund Genregrenzen hinaus zu konzeptualisieren. Gleichzeitig erlaubt dieser Ansatz, spektakuläre Praktiken zwischen Medien- und Genregrenzen auszuweisen, zu analysieren und zu vergleichen. Dieser Erweiterung des Begriffs des Spektakels liegt ein Medienbegriff zugrunde, der sich am Ereignis orientiert51 und nicht an einer Essenz unterscheidbarer Medien. Als Ereignis betrachtet, lassen sich Medien nicht auf eindimensionale Entitäten wie einzelne Technologien, Instrumente oder Apparate reduzieren. Medien-Ereignisse konstituieren sich vielmehr jeweils in unterschiedlichen und einzigartigen lokalen, historischen Situationen gewissermaßen als Szenen, indem sich Medien wechselseitig zur Erscheinung bringen, indem sie aufeinander reflektieren. Das schließt den Zuschauer oder Beobachter als Medium mit ein. Das Ereignis ist an die Medialität des Mediums gekoppelt, indem ein Medium erst in seinem Entstehungsprozess erkennbar wird. Dies bedeutet viertens, einen aktiven Bildbegriff an das Spektakel heranzutragen. Hierbei stütze ich mich auf Untersuchungen im Bereich der Kritischen Ikonologie, die dazu anregen, Bilder als Akteure oder Agenten zu verstehen, die an Prozessen kultureller Kommunikation beteiligt sind, indem sie etwa Erinnerungen aufrufen, in kollektive Gedächtnisse eingehen, Gefühle auslösen, von Hand zu Hand gehen und so weiter.52 Dieser phänomenologisch inspirierte bildwissenschaftliche Ansatz reduziert Bilder nicht mehr auf ein einfaches Differenzverhältnis, das sie auf die ›andere‹ Seite von Wahrheit, Realität, Leben etc. verbannt und als rein visuelle Phänomene isoliert. Bilder werden zu komplexeren Größen, die nicht nur textuelle und auditive Potentiale in sich tragen, also auch gelesen oder gehört werden können. Gleichzeitig sind sie aktiv an intermedialen Prozessen des Zu-Sehen-Gebens beteiligt, indem sie, im Wechselspiel mit dem Blick der Zuschauer, in Medien eintreten und als Medium auf- und abtreten können. Wir haben es hier mit einem performativen Bildbegriff zu tun, der Bilder nicht zu Objekten reduziert, sondern zu Ereignissen macht.53 So gesehen treten sowohl Akte der Bildtransformation in den Vordergrund, die zwischen den Medien stattfinden (zwischen Körper,

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Vgl. Vogl 2007. Vgl. Jackob 2020. Vgl. Belting 2005, 302.

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Text, Film, Musik etc.), als auch der soziale und imaginäre Umgang mit Bildern sowie mit dem sozialen Imaginären. Es handelt sich gleichsam um einen lebenden Bildbezug, der sich »in der physischen Bildproduktion fort[setzt], die wir im sozialen Raum veranstalten.«54 Mit dieser Erweiterung des Begriffs gelangen wir zu einem Verständnis von Spektakel als Praktik (Verfahrensweise), in welche theoretisches Wissen (Episteme) und praktisches Wissen (techné) über die Mechanik der Moderne eingeschrieben sind. Dies ist ein Wissen, das gleichermaßen die Bedingung der Möglichkeit von Wissen innerhalb der modernen Epochen repräsentiert.

Möglichkeiten und Probleme einer interkonnektiven Historiografie am Beispiel von Medienereignissen um 1800 Um den von mir vorgeschlagenen methodologischen Zugriff zu veranschaulichen, möchte ich im Folgenden beispielhaft einige Vorgehensweisen in meiner eigenen Forschung über Technologien des Spektakels um 1800 anführen.55 Dabei ist von wesentlicher Bedeutung, dass die besonderen Forschungsgegenstände und ihr besonderer Bezug zur Moderne erst aus dem oben beschriebenen Ansatz heraus in Erscheinung treten. Die Mediengeschichtsschreibung ist sich einig, dass wir es hier mit Gegenständen zu tun haben, die zu einer Geschichte einer vergessenen Kunst 56 bzw. zu den »known unkowns« der Kulturgeschichte gehören.57 Zunächst möchte ich einige Gründe anführen, die zu diesem Desiderat geführt haben, Gründe, die durchaus auch methodologischer Art sind. Schaut man sich zum Beispiel die Forschung zur visuellen Massen- und Unterhaltungskultur im 19. Jahrhundert an, dann stellt man fest, dass hier in Anlehnung an Walter Benjamin58 und aus rein mediengeschichtlicher Perspektive der Zeitpunkt der Entstehung einer visuellen Moderne erst im späten 19. Jahrhundert angesetzt wird. Jonathan Crary zufolge entsteht sie zum Beispiel in den späten 1870er Jahren, als »parallel zur Emergenz neuer technologischer Formen von Spektakel, Schaustellung, Bildprojektion, Attraktion und Registrierung auch die

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Belting 2001, 12. Vgl. Röttger 2020. Vgl. Comment 2000. Huhtamo 2013, 18. Vgl. Benjamin 1963.

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Vorstellungen von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit transformiert wurden.«59 Diese in Medien- und Kulturgeschichten weit verbreitete Einschätzung geht unter anderem auf die Annahme zurück, dass die Erfahrungen des medial bedingten Sehens und Hörens im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert noch von der Dominanz optischer und drucktechnischer Apparate geprägt waren, die im Zuge der Aufklärung eher eine vereinheitlichende, modellhafte Wirkung etwa durch die Verbreitung der Schriftkultur entfaltet hatten.60 Auf der anderen Seite aber finden sich in Einzelstudien und Ausstellungskatalogen jede Menge Hinweise auf die Existenz optischer und akustischer (Unterhaltungs-)Medien wie etwa das Eidophusikon, das Panorama, das Diorama, die Phantasmagorie, die Stereoskopie61 oder die Androiden, die ab dem späten 18. Jahrhundert im Zuge der industriellen Revolution in den damals entstehenden europäischen Großstädten ein Massenpublikum anzogen und auf die alle von Crary genannten Kriterien zutreffen. Da diese Studien jedoch aus monodisziplinären Perspektiven etwa einer Technikgeschichte, Filmgeschichte oder Geschichte der Fotografie geschrieben sind, beschränken sie sich auf die entsprechenden Einzelmedien im Modus einer Entwicklungsgeschichte. Die frühmodernen Medien werden entsprechend auf den Status einer Vorform reduziert. Damit werden weder die Querverbindungen zwischen diesen medialen Praktiken, noch deren performative Eigenschaften noch ihr sozial- und kulturgeschichtlicher Stellenwert berücksichtigt. Eine Historiografie des Spektakels hätte demnach zuallererst die Aufgabe, diese monodisziplinären Ansätze in einen interdisziplinären Zusammenhang zu überführen, indem trans- und intermediale Interkonnektionen zwischen den einzelnen medialen Praktiken nachgewiesen werden.62 Erst dann auch erweist sich die Hybridität dieser Praktiken. Dieser Zugang erlaubt uns darüber hinaus, der Komplexität jedes einzelnen Medienereignisses gerecht zu werden. So kann der je spezifische Zusammenhang zwischen Technik, Kunst und Performanz aufgezeigt werden, wie etwa das Zusammenspiel von Malerei, chemischen Lichtexperimenten und Aufführungsmodalitäten im Diorama. Aus genealogischer Perspektive wird es auch möglich, die progressiv gedachte Sicht auf Vorstufen zu ›optimierten‹ Medien durch eine eher tektonisch gedachte Sicht auf Sedimentstrukturen innerhalb historischer Medien59 60 61 62

Crary 1999, 14. Vgl. Kittler 1985 und Krämer 2002, 323-346. Vgl. Leonhardt 2016. Erst in jüngster Zeit lässt sich ein Interesse an einer Zusammenführung der Einzeltechniken beobachten. Vgl. Huhtamo 2013.

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landschaften zu öffnen. Damit können sowohl topografische Verschiebungen als auch ›Topoi”63 in den Blick genommen werden, die je nach Beschaffenheit eines bestimmten Mediums wiederholt zur Erscheinung gelangen, wie zum Beispiel das Motiv des Vulkanausbruchs. Wenn Joachim Paech feststellt, dass »[…] zu allen Zeiten insbesondere das mimetische Abbilden mit Versuchen verbunden ist, das Prozessuale im Dargestellten (Zeit, Entwicklung, Veränderung, Bewegung) und den Prozess des Darstellens in einem einzelnen oder mehreren aufeinander bezogenen Bildern auszudrücken«64 , dann wird damit ausgesagt, dass der technische Topos der optischen Kinematik (der Zusammenhang zwischen Bewegung und Bild) historisch betrachtet ein durchgehendes Motiv ist, auf das Medien in verschiedenen Zeiten in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Beschaffenheit verschiedene Antworten finden. Jedes Medium stellt mit den ihm eigenen Mitteln Prozessualität und damit Bewegung und Veränderung dar. Das gilt auch für die Medien des Panoramas, Dioramas, des Androiden und der Phantasmagorie. In ihrer je spezifischen medialen Form bringen sie in unterschiedlicher Weise optische Figurationen von Bewegung hervor. Dass diese Medien bisher in der Theaterwissenschaft kaum Beachtung gefunden haben, ist nicht nur auf ihre Hybridität zurückzuführen, sondern auch auf ihren populärkulturellen, teilweise für zwielichtig gehaltenen Charakter. Nicht selten wurden sie aufgrund ihrer Nähe zu unwissenschaftlichen Bereichen wie Magie oder Zauberei als Jahrmarktsattraktion abqualifiziert. Ein weiteres Problem ist die schwierige Quellenlage: Zum einen wurden Quellen aufgrund ihres semiwissenschaftlichen Charakters nicht selten falsch oder schlampig ausgelegt, was zu hartnäckigen Fehlurteilen in der Fachliteratur führt. So hält sich zum Beispiel hartnäckig die Behauptung, dass Louis Jacque Mandé Daguerre, bekannt als Erfinder der Daguerrotypie (1839), weniger bekannt als Erfinder des Dioramas (1822), in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts als Panoramamaler tätig war.65 Zweitens sind so gut wie keine Apparaturen und Leinwände erhalten geblieben. Die Forschung ist im Falle des Panoramas in erster Linie auf die Anzeigen, Presse- und Akademieberichte sowie auf die Orientierungspläne und Programmhefte zur Sehanleitung angewiesen, welche die Besucher der Panoramen mit genauen

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Vgl. ebd., 16. Paech 2010/11, 3. Vgl. Daniels 1993, 41.

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Informationen zu den dargestellten Sujets erhielten. Bei einer solchen Quellenlage ist man also auf ein ähnliches Instrumentarium angewiesen wie bei einer historischen Aufführungsanalyse. Schließlich kann erst im Blick auf die interkonnektiven Konstellationen von Spektakel und Technologie erschlossen werden, wie zum Beispiel Theater- und Opernbühnen in den europäischen Metropolen jener Zeit zum spektakulären Experimentierfeld für Physiker, Ingenieure, Maler und Bühnenbildner (teilweise in einer Person) wurden, um neue technische Wege zur Abbildung von Natur, etwa in den Bereichen des Lichts oder mechanisch bewegter Bilder, zu entwickeln. Um solche Spuren nachzuvollziehen, bietet es sich an, ausgehend von einem konkreten Medienereignis in einer konzentrischen Bewegung die Motive, Apparaturen, Techniken, Bilder, Diskurse etc., die ein solches Ereignis konstituieren, zu destillieren und zu kontextualisieren. Betrachtet man zum Beispiel das Panorama, das 1792 von Robert Barker in London aufgestellt wurde (View of London from the Roof of the Albion Mills 1792-1793), dann erschließt sich ein technisches Ensemble von Architektur, Malerei, Massenpublikum, Camera Obscura und einer Theorie des Wirklichen, das eine für diese Zeit vollständig neue Art der Perspektive ermöglichte. So bot das Panorama eine damals ganz neue, spektakuläre Aussicht in eine Ferne, die zugleich ganz nahekam. Sieht man sich darüber hinaus den Standort an, von dem aus das Rundbild den Blick auf die Stadt London eröffnete, dann lässt sich eine direkte piktorale und narrative Verbindung mit den neuesten technischen und industriellen Errungenschaften jener Zeit herstellen, die die Moderne als spektakulär erfahren ließ. Barker hatte das Panorama vom Dach der Albion-Mühle aus gemalt. Um den besonderen Stellenwert dieses für das Publikum imaginären Aussichtspunktes einschätzen zu können, muss man wissen, dass die Albion-Mühle zu jener Zeit als das industrielle Wahrzeichen schlechthin galt, denn es handelte sich um die erste dampfangetriebene Getreide-Fabrikanlage in Europa. James Watt war 1786 persönlich angeheuert worden, um eine Rotationsdampfmaschine zum Mahlen des Getreides zu entwickeln. Betrachtet man dann im zweiten Schritt die schnelle Verbreitung dieser »Kunstform der industriellen Revolution«66 in Europa bis in das späte 19. Jahrhundert hinein, dann lassen sich transmediale Achsen zwischen Bildmotiven (neben dem Rundhorizont einer Stadt waren die beliebtesten Motive Schlachten und Landschaften),

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Oettermann 1999, 38.

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Zuschauerverhalten, Unternehmertum und Biografien sowie Querverbindungen zu anderen Medienereignissen herstellen. So kann man zum Beispiel feststellen, dass in Deutschland der Architekturmaler und Direktor der Kunstschule Danzig, Johann Adam Breysig (1766-1831), für sich beanspruchte, das Panorama bereits ein Jahr vor Barker, 1788, entwickelt zu haben.67 Seine Experimente mit der neuen optischen Erfahrung von Ferne, der Tiefendimension von Zeit und Raum und der Mobilisierung des Blicks, die aus dem Panorama hervorging, wandte er zur Reform der szenischen Illusionsmittel im Theater an, vor allem ab 1808 am Königsberger Neuen Schauspielhaus, wo er auch die Idee eines Autokinesitheaters entwickelte.68 Einer seiner Schüler, Johann Carl Enslen (1759-1848), führte zusammen mit dessen Vater Panoramen in Deutschland auf Jahrmärkten ein. Gleichzeitig genoss er hohes Ansehen als Medientechniker und machte in Berlin Furore mit Vorführungen von mechanisch operierenden Automaten, Phantasmagorien und aerostatischen Figuren. Ein regelmäßiger Besucher dieser Veranstaltungen war E.T.A. Hoffmann, der seine eigenen Experimente mit Phantasmagorien wiederum in seine Erzählungen und in seine Bühnenbilder für die Oper einfließen ließ.69 Ein anderer Schüler von Breysig, Karl Friedrich Schinkel (1781-1841), machte 1816 sein Oper-Debüt mit den wegweisenden Bühnenbildern zu Mozarts Zauberflöte 1816. Von diesem Zeitpunkt an sollte er bis 1832 – neben unter anderem auch Carl Gropius (der 1827 in Berlin das erste Diorama aufstellte) – die visuelle Gestaltung romantischer Opern wie etwa E.T.A. Hoffmans Undine und auch verschiedener Spontini-Opern prägen. Er war wiederum beeinflusst von den Panoramabildern das französischen Malers Charles-Marie Bouton (1781-1853), der 1822 zusammen mit Daguerre das erste Diorama in Paris aufstellte. Wollte man sich allein auf die Wiedergabe von Lebensläufen vergleichbarer Persönlichkeiten jener Zeit konzentrieren, dann könnte man eine Landkarte erstellen, welche die transnationalen Wege nachzeichnet, die das parallele Aufkommen und die transnationalen Zirkulationen verschiedener spektakulärer Praktiken wiedergibt. Ähnliches ließe sich mit Bildmotiven, Techniken und Experimentalaufstellungen leisten. Ein solches Herangehen könnte nicht nur neue Aufschlüsse über das Verhältnis von Technik, Wissen und Kunst liefern, sondern auch einen neuen Einblick in die Theatergeschichte ermöglichen. Darüber hinaus eignet sich eine

67 68 69

Vgl. Breysig 1798-1801, 87-88. Vgl. Krengel-Strudthoff/Rudin 1993. Vgl. Röttger 2020.

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Historiografie des Spektakels dazu, sich mit Fragen auseinanderzusetzen wie: Wie nimmt sich nun zum Zeitpunkt des Aufkommens der industriellen Technik das Verhältnis zwischen der maschinellen Funktion des Menschen und der menschlichen Funktion der Maschinen aus? Wie verhalten sich technische und soziale Dynamik zueinander? Damit kann es möglich werden, nicht nur einen Einblick in das Verhältnis zwischen Mensch und Technik zu gewinnen, das sich mit Beginn der industriellen Revolution abzeichnet, sondern auch, wie sich hier jeweils die wechselseitigen Zusammensetzungen der unterschiedlichen Bereiche »des Natürlich-Künstlichen und des Künstlich-Natürlichen,«70 ausnehmen. Zu fragen wäre schließlich auch, wie spektakuläre Praktiken über die Landesgrenzen hinaus zur Ausbildung eines ›kollektiven Imaginären‹ des modernen Menschen und der modernen Gesellschaften in Europa und zur Bewältigung von als krisenhaft erfahrenen neu entstehenden sozialen Gefügen beitrugen.

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70

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Re-Collecting Theatre History Theaterhistoriografische Nachlassforschung mit Verfahren der Digital Humanities Nora Probst und Vito Pinto

Materielle Spuren theatraler Ereignisse Die hochformatige Schwarzweißfotografie zeigt eine Schauspielerin in stehender Position, mit erhobenem Kinn und halb geschlossenen Augen, die Arme vor der Brust verschränkt, die nackten Füße dicht beieinander (Abb. 1). Ihr aufwendig drapierter Blumenschmuck im Haar harmoniert mit dem fremdartig wirkenden, zweiteiligen Kostüm. Die Ecken der Fotografie sind abgestoßen, einzelne Knickspuren sind erkennbar. Aus der dezenten Beschriftung am unteren Bildrand geht hervor, dass das Berliner Fotostudio Otto Becker & Heinrich Maaß Tilla Durieux (1880-1971) in der Rolle der Salome aufgenommen hat. Das Querformat hingegen (Abb. 2), eine Fotografie mit deutlichen Gebrauchsspuren, aufgeklebt auf dunkler Pappe, zeigt eine szenische Darstellung auf einer Theaterbühne. Auch hier geben Beschriftungen Auskunft über die Urheberschaft (Atelier Zander&Labisch) und einige der abgebildeten Personen: Vor dem Hintergrund einer monumentalen Bühnenkulisse ist Max Eisfeld1 (1863-1935) als Joachanaan in der Bildmitte zu sehen, der mit hoch erhobenem Haupt auf dem Zugang zur Zisterne steht. Auf der linken Seite befindet sich eine Reihe von Soldaten, behelmt und mit Speeren bewaffnet, rechts führt Durieux als Salome ihren verführerischen Tanz auf. Als Oscar Wildes (1854-1900) gleichnamiges Drama2 in der Übersetzung Hedwig Lachmanns (1865-1918) am 15. November 1902 in Max Reinhardts (1873-1943) Schall und Rauch/Kleinen Theater in Berlin Premiere hatte (die 1 2

Der Name des Schauspielers schreibt sich allerdings entgegen der Angabe auf der Postkarte ohne ›t‹ am Ende. Wilde 1903.

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Abbildung 1: Tilla Durieux als Salome (Foto: Becker&Maaß, Berlin 1903. TWS, Universität zu Köln, Fotoabteilung).

aufgrund der strengen Zensurvorgabe als geschlossene Vorstellung stattfand), spielte zunächst der Publikumsliebling Gertrud Eysoldt (1870-1955) die Titelrolle.3 Erst nach der Freigabe des Stücks durch die Zensurbehörde kam 3

Vgl. Kohlmayer 1996, 10. Am 22. Februar 1903 wurde Salome erneut als geschlossene Veranstaltung für die Lessing-Gesellschaft aufgeführt. Vgl. Theaterzettel des Berliner Schall und Rauch/Kleinen Theaters zur Salome-Aufführung, 22.02.1903. TWS, Programmheftarchiv.

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Abbildung 2: Szenische Darstellung aus der Salome-Inszenierung (Foto: Zander&Labisch, TWS, Universität zu Köln, Fotoabteilung).

es in der folgenden Spielzeit zu einer öffentlich zugänglichen Vorstellung im Neuen Theater. Aufgrund einer kurzfristig eingetretenen Erkrankung der Hauptdarstellerin sprang Durieux am 8. Oktober 1903 für Eysoldt ein – ihr war der Text dank eines früheren Auftritts mit dem Breslauer Ensemble noch vertraut und ihre Rolleninterpretation verhalf Durieux endgültig zum Durchbruch.4 Flankiert wurde ihre darstellerische Leistung von Emanuel Reicher (1849-1924) als Herodes, Hedwig Wangel (1875-1961) als Herodias sowie dem bereits erwähnten Max Eisfeld als Jochanaan.5 Max Kruses (1854-1942) Bühnenbild, dessen Bühnenprospekt an Karl Friedrich Schinkels (1874-1945) berühmten Zauberflöte-Entwurf erinnert, trug darüber hinaus zum Erfolg der Inszenierung bei. Die beiden Fotografien verdeutlichen durch die an der Inszenierung beteiligten Personen, Orte, Institutionen, Werke, Ereignisse, Konzepte und Zeiträume paradigmatisch das komplexe Verhältnis von theaterhistorischem Ma-

4 5

Vgl. Durieux 1979 [1971], 61f. Zu den wechselnden Besetzungen vgl. Huesmann 1983, 193.

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terial und transitorischem Forschungsgegenstand: Nicht nur sind vielfältige Informationen theaterhistoriografisch relevant, die über das konkrete Objekt hinausgehen, sondern ein quellenkritischer Zugriff macht zudem deutlich, dass die beiden Fotos mitnichten einen Augenblick während der Aufführung vor Publikum zeigen, sondern eine eigene szenische Darbietung für die fotografische Aufnahme wiedergeben. Deutlich wird dies im vorliegenden Beispiel unter anderem durch die abgebildete Anwesenheit Jochanaans, die während Salomes Tanzeinlage in der Spielvorlage nicht vorgesehen ist. Statt also eine authentische Bühnensituation während der Proben zu dokumentieren, verdichtet die Inszenierungsfotografie durch die Abbildung zweier zentraler Protagonist_innen ikonisch das Spannungsverhältnis zwischen dem gottesfürchtigen Prediger und der grausamen, auf Rache sinnenden Herodiastochter. 

Von den materiellen Spuren zu den ephemeren Netzwerken des Theaters Bezieht man für die theater- und kulturhistorische Einordnung jener Salome-Inszenierung weitere Archivalien wie Besetzungszettel, Rezensionen, Bühnenbildentwürfe, technische Zeichnungen, Regiebücher usw. mit ein, so lassen sich fein verflochtene Netzwerke der Theaterschaffenden analysieren, die aus den Tätigkeitsbereichen Intendanz, Dramaturgie, Regie, Darstellung, Bühnen- und Kostümbild, Bühnentechnik usw. zu einem historisch definierten Zeitpunkt an einem spezifischen Ort zusammengekommen sind, um ein Inszenierungskonzept auf der Bühne zu verwirklichen. Es wird deutlich, dass theatergeschichtliche Quellen in der vorgefundenen Vielschichtigkeit ihres Informationsgehalts nur der materielle Ausgangspunkt sind für die Generierung von Wissen über eine immaterielle, der theatralen Darstellung verpflichtete Kulturgeschichte.6 Theatergeschichtliche Quellen markieren als Spuren, Überreste, Dokumente theatraler Ereignisse in ihrer konkreten,

6

Im Sinne einer theaterwissenschaftlich adäquaten Modellierung von Forschungs(meta)daten hat Enes Türkoğlu deshalb jüngst den tentativen Begriff des »Kontextualisats« vorgeschlagen (Türkoğlu 2019, 232). Anstelle eines bloßen Digitalisats stellt das Kontextualisat ein digitales Forschungsobjekt dar, das sich aus Daten und Metadaten zusammensetzt und sowohl kulturhistorische Kontexte als auch Vernetzungen des Objekts mit anderen Objekten berücksichtigt. Vgl. Probst/Türkoğlu 2019, 186.

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haptischen Form eben jene Leerstelle, der die Theaterhistoriografie nachspürt. Der theaterwissenschaftliche Zugriff bedeutet im Vergleich mit der Kunst- oder Literaturgeschichte eine Fokusverschiebung, die die Relevanz von Informationen betont, die über das konkrete Objekt hinausgehen.7 Diese Quellen sind in theaterwissenschaftlicher Perspektive vorwiegend als Informationsträger über theaterhistorische Ereignisse, Zusammenhänge und Entwicklungen von Interesse – weniger als Objekte, Kunstwerke oder Artefakte per se. Folglich sind nicht nur die Urheber_innen des konkreten vorliegenden Objekts für die Theaterforschung bedeutsam, sondern im Grunde all jene Personen, die eine mit dem Objekt verknüpfte Inszenierung vorbereiten, an ihrer Durchführung beteiligt sind oder sie auf privater oder professioneller Ebene in Bild, Schrift, Ton und/oder Bewegtbild dokumentieren. Unter der Voraussetzung einer Quellenüberlieferung und -verfügbarkeit stützt sich die Erforschung einer theaterwissenschaftlichen Fragestellung deshalb selten auf Einzelobjekte oder widmet sich selten einem einzelnen Kunstwerk en detail, sondern greift im Idealfall auf eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen zurück, die Informationen über Aufführung, Inszenierung, das Schauspiel der Darsteller_innen, über die Kostüme, Requisiten, das Bühnenbild, technische Apparate oder gestalterische Entscheidungen beinhalten. Neben materiellen Objekten und Dokumenten gehören zudem unterschiedliche Trägermedien von Film- oder Tonaufnahmen zum Quellenkorpus der Theaterforschung. Abgesehen von künstlerisch hochwertigen Objekten rücken außerdem immer wieder auch aus kunsthistorischer Perspektive wertlose Reproduktionen aus Zeitungen oder Illustrierten in den Fokus. In diesem Sinne hat sich theaterhistoriografische Forschung immer wieder auch durch die Neuerschließung und Nobilitierung von Quellenmaterial ausgezeichnet. Festzuhalten ist somit vorerst, dass theatergeschichtliche Quellen 1. sich in der Regel aus heterogenen Dokumenten, Objekten und Medien zusammensetzen,

7

Vgl. dazu u.a. Marx 2019, 20: »So gilt für theaterhistorische Archivalien – selbst für gedruckte Spieltexte in gewisser Weise –, dass sie nicht ›in sich ruhen‹, sondern immer auf eine Verwendung hin orientiert sind. Erst im Hinblick auf diese Kontextualisierung – die sich eben nicht in einem engen performativen Sinn alleine deuten lässt, sondern auch narrative Einbettungen etc. mitbedenken muss – öffnen sich die Objekte in ihrer Komplexität, mithin auch in ihrer Widersprüchlichkeit.«

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2. häufig auf immaterielle, performative Praktiken verweisen und 3. eine quellenkritische, kulturhistorische Einordnung erfordern, um die komplexen Kontextinformationen über beteiligte Personen, Institutionen, Orte, Werke, Zeiten, Konzepte und Kollaborationen adäquat berücksichtigen zu können.

Mit Blick auf den hier skizzierten Informationsgehalt theaterwissenschaftlicher Quellen lässt sich fragen, wie etwa die bestandshaltenden Institutionen, d.h. theaterhistorische Sammlungen und Theatermuseen, mit der komplexen Informationsstruktur umgehen, wie sie diese Informationen bewahren, organisieren und zugänglich machen. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung8 , die auch und gerade im akademischen Kontext der Forschung und Lehre für Praktiken der Generierung, Strukturierung und Organisation von Wissen gravierend an Bedeutung zugenommen hat, lassen sich noch eine Reihe weiterer Fragen anschließen: Wie können solche materiellen Kulturgüter wie die beiden eingangs abgebildeten Fotografien digitalisiert, erschlossen und mit Verfahren der Digital Humanities für Forschung und Lehre aufbereitet werden?9 Wie lassen sich die komplex geschichteten Kontextinformationen über Artefakte, Werke, Inszenierungen, involvierte Personen, Orte, Institutionen und Konzepte strukturieren, gruppieren, miteinander verknüpfen und in ein theaterwissenschaftliches Wissenssystem überführen? Und welche formalen und inhaltlichen Erschließungsstandards sollten bei einer theaterwissenschaftlichen Erfassung von Quellen Berücksichtigung finden, um Forschungsdaten10 zu generieren, die wichtige

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9 10

Der Begriff Digitalisierung ist im Deutschen unscharf, da er zwei Bedeutungsebenen in sich vereint: Er bezieht sich einerseits auf die Umwandlung von analogem Material in digitale, d.h. maschinenlesbare Formate, andererseits bezeichnet er grundsätzlich den Prozess der digitalen Transformation, d.h. der zunehmenden Nutzung von digitalen Verfahren und Methoden in allen gesellschaftlichen Bereichen. Im Englischen dagegen werden beide Teilbereiche mit unterschiedlichen Begriffen adressiert (digitization vs. digitalization). Zu diesen Verfahren vgl. Reiche u.a. 2014. Unter diesem Begriff werden hier alle Daten und Metadaten verstanden, die von der Forschung genutzt werden, ungeachtet ihrer Form (Texte, [Bewegt-]Bilder, Tonaufnahmen) oder Formate (Textdateien, Bilddateien, Audiodateien usw.). Vgl. hierzu: DARIAH-DE Digitale Forschungsinfrastruktur für die Geistes- und Kulturwissenschaften.

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Impulse für weiterführende Fragen der Theaterwissenschaft liefern und gegebenenfalls über die Disziplingrenzen hinweg Forschungsperspektiven aufzeigen können? Um diesen Fragen nachzugehen, soll im Folgenden ein Forschungsprojekt der Universität zu Köln im Verbund mit der Freien Universität Berlin als Fallbeispiel dienen, das an der Schnittstelle von Digital Humanities und Theaterwissenschaft angesiedelt ist. Darauf aufbauend soll diskutiert werden, wie sich Verfahren und Methoden der Digital Humanities für die Theaterwissenschaft gewinnbringend nutzen lassen – und welche Herausforderungen und Probleme hier zu bedenken sind. Der hier unternommene Versuch einer disziplinspezifischen Analyse des Status quo versteht sich dabei als Teil eines aktuellen Diskurses über Digitalisierungsentwicklungen im akademischen Feld. Da Erkenntnisse und Schlussfolgerungen der vorliegenden Ausführungen unter Vorbehalt der weiteren technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen gestellt werden müssen, geht es hier vor allem um anschlussfähige Denkimpulse für eine längerfristige Strategie zur gewinnbringenden Einbindung der Digital Humanities in theaterwissenschaftliche Forschung und Lehre.

Ausgangspunkte des Projekts: Nachlässe und Sammlungen Anhand des Verbundprojekts Re-Collecting Theatre History11 der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln mit den theaterhistorischen Sammlungen der Freien Universität Berlin lässt sich paradigmatisch skizzieren, wie eine digital gestützte, theaterhistoriografische Nachlasserschließung mit einem dezidierten Fokus auf einer theaterwissenschaftlichen Forschungsdatenkuratierung12 aussehen kann. Im Projekt wird ein Verfahren entwickelt, das die Erschließung theaterhistorischen Materials auf der Basis internationaler Standards und unter Einbindung von Normdaten und kontrollierten Vokabularen ermöglicht. Ausgangspunkt des Projekts waren 18 ausgewählte personenbezogene Bestände der Theaterwissenschaftlichen 11

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BMBF-Verbundprojekt zwischen den Theatersammlungen der Universität zu Köln (Projektleitung: Peter W. Marx) und der Freien Universität Berlin (Projektleitung: Doris Kolesch, Matthias Warstat) sowie dem Cologne Center for e-Humanities (CCeH); Laufzeit: 2017-2020; http://tws.phil-fak.uni-koeln.de/34619.html sowie https://www. geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we07/forschung/forschungsprojekte/theaterwissenschaft/re-collecting/index.html [08.09.2020]. Zur Bedeutung der Kuratierung im Kontext digitaler Sammlungen vgl. Sabwarhal 2017.

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Sammlung der Universität zu Köln, der theaterhistorischen Sammlungen der Freien Universität Berlin sowie ergänzende Konvolute der Theatermuseen in Düsseldorf und München.13 Die in den Sammlungen vorfindliche Zufälligkeit einer biografischen Ordnung, die nicht selten in Spannung steht zu historiografischen Methoden und historischen Begriffen, wird dabei gleichermaßen in ihrer Kontingenz intelligibel wie auch potenziell produktiv gemacht für eine neu konturierte kulturwissenschaftliche Historiografie. So wird die personenbezogene Ordnung, nach der die Bestände theaterhistorischer Sammlungen nicht zuletzt aufgrund provenienzrechtlicher Erfordernisse häufig organisiert sind, mithilfe digitaler Aufbereitungstechniken dazu genutzt, gängige Verlaufsmodelle und Epochengrenzen der Kultur- und Theatergeschichtsschreibung zu hinterfragen. Die von den Nachlässen ausgehenden biografischen Netzwerke (aus Personen und Objekten) werden digital rekonstruiert und in ihren Dissonanzen zu den Lineaturen etablierter theaterhistorischer Narrative beleuchtet. Sowohl in zeitlicher als auch in regionaler Hinsicht bieten die ausgewählten Konvolute eine große Bandbreite symptomatischer Fallstudien, die es erlauben, sowohl die unterschiedlichen politischen Systeme und Wendepunkte als auch verschiedene Berufsfelder des Theaters (Schauspiel, Tanz, Regie, Gesang, Bühnenbild, Bühnentechnik) zu berücksichtigen.  Bei den Objekten, die sich in den Nachlässen befinden und die im Rahmen des Projekts digitalisiert werden, handelt es sich zum Teil um bislang gänzlich unbekannte Archivalien oder um Quellen, die kaum oder nur schwer für Außenstehende zu recherchieren sind, da sie bislang noch nicht erfasst waren und somit nur partiell bzw. gar nicht in größeren Datenbank-Kontexten auftauchen. Je nach Persönlichkeit und Berufsgruppe, der ein bestimmter Nachlass zugeordnet werden kann, sind die Objekte der Sammlungen unterschiedlich gewichtet: So ergibt sich aus dem Nachlass eines Bühnentechnikers 13

Dabei wurden folgende personenbezogene (Teil-)Nachlässe, die vor allem den Zeitraum zwischen 1900 und 1960 abdecken, ausgewählt und für das Projekt aufbereitet: Josef Ambach (1901-1989), Eugen Burg (1871-1944), Tilla Durieux, Lucy Kieselhausen (1897-1927), Heinz Lingen (1888-1959), Traugott Müller (1895-1944), Lothar Müthel (1896-1964), Julius Richter (1883-1965), Robert Taube (1880-1964), Hedwig Wangel (aus den theaterhistorischen Sammlungen der FU Berlin); Max Behrend (1862-1927), Louise Dumont (1862-1932), Tilla Durieux, Alice Guszalewicz (1866-1942), Carl Hagemann (1871-1945), Max Martersteig (1853-1926), Traugott Müller, Therese Rothauser (1865-1943), Gustav Rudolf Sellner (1905-1990), Hedwig Wangel (aus der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln).

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möglicherweise eine ganz andere Zusammenstellung und Sortierung von Objekten als aus dem Nachlass einer Opernsängerin oder eines Choreografen. Die Objekte, die in den meisten Nachlässen vorkommen, lassen sich vorwiegend den folgenden Kategorien zuordnen: berufliche Korrespondenz (Arbeitsverträge, Korrespondenz zu Besetzungs- oder organisatorischen Fragen); private Korrespondenz (die oftmals nicht nur aufs Private beschränkt ist, sondern auch darin den beruflichen Kontext aufruft); Objekte, die der Vorbereitung oder Dokumentation einer Inszenierung dienen wie etwa Regiebücher und Strichfassungen der zu inszenierenden bzw. inszenierten Werke, zudem Probenpläne, Besetzungslisten, Fotoalben, (gestellte) Szenenfotografien und Rollenporträts, Probenfotografien, Tondokumente, Klavierauszüge, Bühnenbild- und Kostümbildentwürfe; Sammlungen von Rezensionen zu den jeweiligen Inszenierungen (i.d.R. aus Anlass der Premiere oder eines Gastspiels). Nicht zuletzt geben die Bestände an Theaterzetteln und Programmheften Auskunft über den Ort der Inszenierung, die am Inszenierungs- und Aufführungsprozess beteiligten Institutionen (vor allem Theater), Personen (inklusive der konkreten Art und Weise ihrer Beteiligung und Rolle) sowie der aufgeführten Werke.

Zur Realisierung des Projekts Neben der Herstellung von Digitalisaten der aus den Nachlässen ausgewählten Archivalien sind für die methodische Umsetzung des Re-CollectingProjekts die Entwicklung von zwei digitalen Tools zentral: zum einen ein offen einsetzbares Erschließungswerkzeug für theaterhistorische Sammlungen sowie zum anderen die darauf aufbauende Realisierung einer virtuellen Forschungsund Lehrplattform für die Theaterwissenschaft. Die Funktionsweisen der beiden Tools sollen im Folgenden beschrieben werden.

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Eingabemaske zur Erhebung theaterwissenschaftlicher Metadaten Die im Rahmen des Projekts prototypisch entwickelte Eingabemaske14 als Erschließungstool ermöglicht die Erhebung von Metadaten15 in einer konzeptionellen Verknüpfung von disziplinspezifischer Perspektive mit archivarischen Erschließungsstandards. Die Eingabemaske ist als eine Webapplikation realisiert, die keine Installation auf dem Rechner erfordert und online wie offline funktioniert. Sie leitet die Benutzer_innen durch einen Workflow der Metadatenerhebung, der aus sechs Modulen (Abb. 3) besteht: Objektidentifikation, Objektbeschreibung, Herstellung, Inszenierung/Performance, Ereignisse und Erwerb/Provenienz. In den Modulen können jeweils unterschiedliche Akteur_innen (Personen und Institutionen) mit dem Objekt verknüpft werden, die unter Berücksichtigung der GND-Nummer und ihrer Funktion in Bezug auf das verbundene Ereignis angelegt werden (Abb. 4 und 5). Mit der Speicherung der XML-Datei wird der Workflow abgeschlossen. Auf diese Weise lässt sich mit der Eingabemaske institutsunabhängig heterogenes Quellenmaterial aus den theaterhistorischen Sammlungen als Einzelobjekte oder als Konvolute erschließen, wobei die Verzeichnung der Objekte unter Berücksichtigung des MetadatenAustauschformates LIDO (Lightweight Information Describing Objects) erfolgt.16 In die Konzipierung und Entwicklung der Eingabemaske sind intensive Überlegungen zur Implementierung fachspezifischer Normvokabulare und zur Metadatenmodellierung in der Theaterforschung eingeflossen, deren Ergebnisse als Vorarbeiten für weitere Fachdiskurse und für die weitere Professionalisierung des Forschungsdatenmanagements dienen sollen.17 14

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Die Eingabemaske nutzt eine für theaterwissenschaftliche Forschung angepasste Version des sogenannten CMDI-Makers (Component Metadata Infrastructure), der aus einem Projekt des Cologne Center for eHumanities hervorgegangen ist; vgl. http://dch. phil-fak.uni-koeln.de/cmdi-maker.html [08.09.2020]. Unter dem Begriff Metadaten werden strukturierte Informationen verstanden, die spezifische Ressourcen beschreiben, erklären, lokalisieren, mit dem Zweck, diese Ressourcen leichter auffindbar zu machen, zu nutzen und zu managen. Vgl. Riley 2017, 1. Vgl. www.lido-schema.org/ [08.09.2020]. Bereits jetzt wird die Einbindung bestehender Normdaten (GND) und kontrollierter Vokabulare (AAT) sowie die Überführung der erhobenen LIDO-konformen Metadatensätze in eine XML-Datenbank gewährleistet (vgl. zur Gemeinsamen Normdatei [GND] https://www.dnb.de/DE/Professionell/Standardisierung/GND/gnd_node.html [08.09.2020]; zum Arts and Architecture Thesaurus [AAT] www.aat-deutsch.de/aat_info/ sowie https://www.getty.edu/research/tools/vocabularies/aat/ [08.09.2020]; bei

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Abbildung 3: Die Module im Workflow der Eingabemaske CMDI-Maker von der Objektidentifikation bis zum XML-Output.

 

Abbildung 4: Eingabemaske CMDI Maker, hier: Startseite zur Objektidentifikation und Signaturvergabe mit der Fotografie zur Salome-Inszenierung 1903.

der Datenbank handelt es sich um eXist, eine native XML-Datenbank, die als Open Source Software verfügbar ist; vgl. http://exist-db.org/exist/apps/homepage/index. html [08.09.2020]). Diese Aspekte sind vor allem vor dem Hintergrund der laufenden Initiative der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) relevant, an dessen Konsortium NFDI4Culture und die Gesellschaft für Theaterwissenschaft als Fachverband ebenso beteiligt sein wird wie die TWS in Köln als Sammlungsinstitution; vgl. https://nfdi4culture.de/ [08.09.2020].

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Abbildung 5: Eingabemaske C MDI-Maker, hier: das Modul der mit dem Objekt verknüpften Inszenierung/Performance sowie den daran beteiligten Akteur_innen.

Die Eingabemaske ist auf eine einfache Handhabung ausgerichtet und enthält im Einklang mit den Vorgaben des Austauschformates LIDO nur wenige Pflichtfelder. Das bedeutet, dass auch eine rudimentäre Erschließung im Sinne eines reinen Bestandsverzeichnisses möglich ist, wenn die vorhandenen Ressourcen keine vollständige Datenerhebung zulassen. Durch die Implementierung eines Mouseovers mit konkreten Hinweisen und Beispielen zu den jeweiligen Eingabefeldern wird eine weitgehend intuitive Bedienung gewährleistet. Auf diese Weise lässt sich die Metadatenerhebung nicht nur von ausgebildeten Archivar_innen oder Dokumentarist_innen durchführen, sondern ist nach einer intensiven Einarbeitungsphase grundsätzlich auch von studentischen oder wissenschaftlichen Hilfskräften zu leisten. Die Entwicklung der Eingabemaske basiert auf methodischen Überlegungen zur Datenmodellierung in der Theaterwissenschaft und ist in dieser Hinsicht anschlussfähig für ähnliche Projekte, die von theaterhistorisch relevanten Objekten in Theatersammlungen und -museen ausgehen. Dabei soll im Sinne eines weit gefassten Theaterbegriffs mit globaler Forschungsperspektive nicht nur die Erschließung von kanonischen Theaterarchivalien wie Programmheften, Thea-

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terrezensionen oder Szenenfotografien ermöglicht werden, sondern auch von Objekten aus anderen, seltener erforschten Kontexten und Theatertraditionen.

Nutzung der (Meta-)Daten. Eine theaterwissenschaftliche Forschungs- und Lehrplattform War die Eingabemaske als Werkzeug der Datenerhebung für die Projektarbeit von entscheidender Bedeutung, so ging es bei der Konzipierung der virtuellen Forschungs- und Lehrplattform darum, eine Auswertung und (Nach-)Nutzung der erhobenen Metadatensätze und Digitalisate zu ermöglichen. Auf der Plattform werden zum einen disparat lagernde Objektbestände im digitalen Raum zusammengeführt – allein darin liegt bereits ein maßgeblicher Zugewinn für die historiografische Theater- und Biografieforschung. Zudem wird basierend auf einer wissenschaftlichen Kuratierung die Komplementarität der erschlossenen Bestände aus den unterschiedlichen Theatersammlungen und -museen als Digitalisate und Metadaten sichtbar und erforschbar gemacht.18 Darüber hinaus ist die Plattform nicht nur mit klassischen Recherchetools wie Suchleisten, Filteroptionen und Timelines ausgestattet, sondern bringt auch die Kollaborationen und Netzwerke der unterschiedlichen Akteur_innen aus den Tätigkeitsbereichen Intendanz, Regie, Schauspiel, Tanz, Bühnenbild etc. mithilfe von Visualisierungstools zur Anschauung. Die Nutzungsmöglichkeiten der Plattform sind vielfältig: ob als digitales Bildarchiv mit visuell ansprechendem Material für digitale Flaneur_innen, als Informationsportal für die Erforschung konkreter Fragestellungen oder als induktives Analysewerkzeug, das durch die eigene Datenauswahl und -sortierung zur Generierung von neuen Forschungsfragen beiträgt. Indem die Plattform das für eine kulturwissenschaftliche Theaterhistoriografie konstitutive Spannungsmoment zwischen Objekten (Archivalien), künstlerischen Prozessen (den vergangenen Aufführungen sowie deren hinterlassenen Spuren) und historischen Personen der Theatergeschichte produktiv macht, werden die Komplexitäten theaterbezogenen Lebens und Arbeitens im 20. Jahrhundert auf neue Weise vermittel- und erfahrbar. Die im Projekt entstande18

Die Onlinestellung der Digitalisate erfolgt unter Berücksichtigung guter wissenschaftlicher Praxis und unter Vorbehalt rechtlicher Einschränkungen wie Urheber_innenund Persönlichkeitsrechten.

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ne Plattform ist prinzipiell für weitere Sammlungsinstitutionen erweiterbar und offen für die Einbindung externer Digitalisate und Metadaten. In diesem Sinne will das Re-Collecting-Projekt als Auftakt zur stärkeren Standardisierung komplexer Forschungsdaten in der Theaterwissenschaft verstanden werden.19 Die systematische Einbindung digitaler Tools und Methoden in theaterhistoriografische Forschungsprojekte bietet vielfältige Chancen, um neue methodische Zugriffe zu explorieren und Beziehungsgeflechte zwischen Objekten, Akteur_innen, Orten, Inszenierungen und Konzepten zu analysieren. Eine wichtige Grundlage hierfür bildet das planmäßige Ineinandergreifen von Digitalisierungsprozessen, Datenmodellierung, Metadatenerhebung, Einbindung von Normdaten und Thesauri, fachwissenschaftlicher Recherche, Datenkuratierung, -bereinigung und -analyse sowie die Implementierung

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Durch die Verwendung von Standards wie XML-Austauschformaten, Normdaten und kontrollierten Vokabularen lassen sich Datensätze unterschiedlicher bestandshaltender Institutionen für eine übergeordnete, vergleichende Betrachtung heranziehen. Die Schwierigkeit bei der Entwicklung solcher Standards besteht dabei unter anderem darin, dass möglichst viele der für die wissenschaftliche Erschließung wichtigen Objektarten, Ereignistypen, Akteur_innen, Konzepte und Begriffe mitbedacht werden. Gleichzeitig muss trotz dieser notwendigen Komplexität gewährleistet sein, dass die Erhebung und das Management der Forschungsdaten handhabbar bleibt. In diesem Spannungsfeld einer angestrebten best practice bewegen sich Ansätze der Standardisierung, die im Idealfall von einem Fachverbund verfolgt werden – sowohl, um eine nachhaltige Etablierung der entwickelten Standards für ein Fachgebiet zu sichern, als auch, um ihre fortlaufende Aktualisierung und Pflege zu gewährleisten. Die Etablierung von Standards bedeutet die Einrichtung von verbindlichen Regeln, die allerdings in Einzelfällen, d.h. etwa in Spezialsammlungen oder im Kontext projektspezifischer Detailfragen zu flach – oder in anderen Fällen zu detailliert – sein können. So zielt beispielsweise der Fachinformationsdienst Darstellende Kunst vor allem auf die Sichtbarkeit theaterwissenschaftlicher Bestände im Netz ab und forciert die »Entwicklung und Etablierung eines Nachweis- und Rechercheportals, das das gesamte Spektrum fachwissenschaftlicher Informationsdienstleistungen für die Darstellenden Künste abbildet.« (https://www.performing-arts.eu/Content/uber [08.09.2020]) Aus diesem Grund stützt sich der Metadatenstandard von performing-arts.eu vornehmlich auf dublin core (vgl. https://www.dublincore.org/ [08.09.2020]) mit einer eher flachen Datenstruktur, der die Kerndaten aus den unterschiedlichen Bestandsverzeichnissen auf einer gemeinsamen Plattform versammelt. Dagegen geht es im Forschungsprojekt ReCollecting Theatre History weniger um reine Bestandsverzeichnisse als vielmehr um eine theaterwissenschaftliche Standardisierung von tiefergehenden, komplex modellierten und hierarchisch strukturierten Forschungsmetadaten.

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von Visualisierungstools, um einen neuen Blick auf inszenierungs- und personenbezogene Forschungsdaten zu gewinnen. Bei konsequenter Fortführung, systematischer Datenanreicherung und -verknüpfung bergen Digitalisate in Kombination mit den qualitativ hochwertigen Metadaten ein enormes Potenzial für die theaterhistoriografische Forschung: Wie sahen bspw. die unterschiedlichen Kostüme von SalomeDarstellerinnen zwischen 1919 und 1932 aus – möglicherweise im Vergleich zu den dazugehörigen Kostümbildentwürfen? In welchen weiteren Inszenierungen haben Tilla Durieux und Gertrud Eysoldt gemeinsam auf der Bühne gestanden? Mit welchen Bühnenbildner_innen außer Max Kruse hat Max Reinhardt im Neuen Theater noch zusammengearbeitet? Während solche Fragen derzeit noch mit herkömmlichen theaterhistoriografischen Methoden als dezidierte Einzelfälle aufwendig recherchiert und bearbeitet werden müssen, würde eine systematische und konsequent kuratierte Datenerhebung und -analyse eine Beantwortung mit wenigen Klicks ermöglichen.20 Zudem sind die Fragestellungen auf der Grundlage der generierten Metadaten und Digitalisate in alle erdenklichen Richtungen anschlussfähig und erweiterbar: Wie sahen die Kostüme von Gretchen-/Nora-/Emilia Galotti- oder Maria Stuart-Darstellerinnen zwischen 1919 und 1932 sowie zwischen 1933 und 1945 aus? In welchen Inszenierungen haben Eduard von Winterstein und Louise Dumont nach der Salome-Inszenierung noch mitgewirkt? Welche weiteren Theater (in Berlin und darüber hinaus) haben Salome im Anschluss an die Reinhardt’sche Inszenierung in ihre Spielpläne aufgenommen? Die Forschungsdaten könnten Impulse für Fragen liefern, die wir heute noch gar nicht kennen. Die Vorteile einer in diesem Sinne digital gestützten Theaterforschung liegen somit nicht nur in der Erschließung von Quellenmaterial und in der standortunabhängigen Verfügbarmachung von Digitalisaten und 20

Zwar ist eine solche forschungsorientierte Metadatenerhebung aufwendiger als die Erstellung reiner Bestandsverzeichnisse, die Anreicherung und Optimierung von Forschungsdaten hat jedoch zukunftsweisende Bedeutung für die Theaterwissenschaft sowie ihre Sammlungsinstitutionen im digitalen Zeitalter und sollte deshalb im Rahmen von Projektanträgen und infrastrukturellen Maßnahmen Berücksichtigung finden. Auf diese Weise ließen sich auch theaterhistorische Sammlungen und Archive stärker in Forschungsfragen und -projekte einbinden. Zu den Grundsätzen nachhaltig nutzbarer Forschungsdaten siehe die Richtlinien der GO FAIR-Initiative, die vier Merkmale besonders hervorhebt: »Findability, Accessibility, Interoperabilty, and Reusability« (Auffindbarkeit, Zugänglichkeit/Erreichbarkeit, Interoperabilität und Wiederverwendbarkeit); vgl. https://www.go-fair.org/go-fair-initiative/ [08.09.2020].

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Metadaten. Durch eine gewinnbringende Verknüpfung von fachwissenschaftlicher Expertise und Methoden der Digital Humanities lassen sich vielmehr Analyse- und Visualisierungstools entwickeln, die einen maßgeblichen Beitrag leisten, um theaterhistoriografische Forschung zu ermöglichen oder zumindest zu erleichtern. Die eingehende Auseinandersetzung mit digital gestützten Forschungsverfahren birgt für die Theaterwissenschaft aufgrund des intensiven Nachdenkens über die Organisation von Wissen, über fachspezifische Taxonomien und Terminologien zudem die Chance, vermeintlich etabliertes Wissen zu hinterfragen, in der methodischen Annäherung blinde Flecken auszumachen oder neue Forschungsperspektiven aufzuzeigen. Dabei ersetzen die Daten und Tools allein keine Forschung: Die Kernaufgabe theaterhistoriografischer Forschung, nämlich die Interpretation historisch verbürgter Ereignisse und ihrer Kontexte, muss weiterhin von den Forschenden geleistet werden. Ohne eine fachwissenschaftliche Expertise, die sich Fragen nach kausalen Zusammenhängen und größeren Kontexten widmet, lassen sich aus Daten lediglich empirische Statistiken generieren – die jedoch jenseits von rein positivistischen Ansätzen stets einer kultur- und theaterhistoriografischen Auslegung und Einordnung bedürfen.

Hürden bei der Implementierung von DH-Verfahren in der Theaterwissenschaft Ungeachtet des Potenzials der hier skizzierten DH-Verfahren und -Methoden ist zu konstatieren, dass die Einbindung solcher Ansätze in der Theaterwissenschaft im Unterschied zu anderen Disziplinen bislang eher zögerlich erfolgt.21 Die Gründe dafür sind vielfältig. Abgesehen von einer verbreiteten

21

In ihrer Analyse zum Status quo der Verwendung von DH-Verfahren in den Fachdisziplinen sind Reiche u.a. zu dem Ergebnis gekommen, dass für die Theaterwissenschaft keine nennenswerten Erkenntnisse vorliegen – erwähnt werden lediglich die Philologien, die Geschichtswissenschaft, die Kunstgeschichte, die Archäologie, die Musikwissenschaft, die Theologie, die Philosophie sowie Jüdische Studien; vgl. Reiche u.a. 2014, 9. Klaus Illmayer hat sich 2017 kritisch zu den Vorbehalten der Theaterwissenschaft gegenüber digitalen Methoden geäußert und auf der österreichischen DH-Konferenz in Innsbruck konstatiert, dass »die akademische Disziplin der Theaterwissenschaft noch Nachholbedarf [habe], wenn es um die Anwendung von Methoden aus den Digital Humanities geht«; vgl. Illmayer 2017.

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(und in Teilen sicherlich berechtigten) Skepsis22 der Theaterforscher_innen gegenüber einer zunehmenden Empirisierung in den Geisteswissenschaften ist ein kritischer Diskurs über die zunehmende Bedeutung digitaler Tools und Methoden notwendig und wünschenswert.23 So ist beispielsweise festzuhalten, dass Datenbanken mit elaborierten Forschungsmetadaten ebenso wenig reine Ansammlungen von vermeintlich neutralen Fakten/Daten darstellen wie etwa Theaterzettel. Die Auseinandersetzung mit Daten verlangt ebenso wie das Arbeiten mit anderen Informationsquellen eine kritische Prüfung der Informationsqualität, also unter anderem Herkunft, Auswahl, Aufbereitung und Präsentation der Informationen.24 Abgesehen von diesen grundlegenden Vorbehalten lässt sich in der Auseinandersetzung mit der Modellierung von Forschungsdaten zudem ein fachimmanentes Problem konstatieren. So steht die Theaterwissenschaft vor der Herausforderung, dass eine reine Bestandserschließung mit rudimentären Informationen über das vorliegende Artefakt nicht ausreicht, um einen theaterwissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt abzubilden.25

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25

Vgl. u.a. Baum/Stäcker 2015 sowie Missomelius 2014. Nic Leonhardt hat 2014 in ihrer Keynote im Rahmen der SIBMAS-Konferenz in New York über Digital Humanities and the Performing Arts betont, dass skeptische Stimmen gegenüber DH-Methoden insofern notwendig sind, als sie für die Entwicklung und Entfaltung eines kritischen Diskurses eminente Bestandteile darstellen; vgl. Leonhardt 2014, 2. Hier findet sich zudem ein wertvoller Überblick über aktuelle DH-Projekte der Theaterwissenschaft und Performance Studies; vgl. ebd., 5-8. Im Falle des Re-Collecting-Projekts wird über die Eingabemaske auch vermerkt, wer von den Projektmitarbeiter_innen die vorliegenden Metadaten erhoben hat. Zudem wird jede Informationsquelle nachgewiesen: In der Regel beziehen sich die Metadaten unmittelbar auf die vorliegenden Objekte und die darauf befindlichen Beschriftungen. Wurden zusätzliche Recherchen zu den theatralen Kontexten durchgeführt, so müssen die externen Informationsquellen ebenfalls vermerkt werden. Widersprechen sich die vorliegenden Informationen, so wird diese Diskrepanz in einem Freitextfeld offengelegt. Sind offensichtliche Fehler in den vorliegenden Objekten enthalten – wie etwa falsche Namensschreibweisen, Daten, Orte o. ä., so werden sie im Metadatensatz korrigiert angegeben und die Korrektur im Freitextfeld vermerkt. Das Digitalisat des Objekts macht in diesem Fall weiterhin die Fehler in der Vorlage transparent. Theaterwissenschaftliche Kategorien wie Inszenierungen oder Aufführungen sind anders als literarische oder Kunstwerke transitorisch und Ereignis-bezogen. Das Konzept der Inszenierung stellt aus Sicht der Datenmodellierung vor allem deswegen eine Herausforderung dar, weil es aus einer Reihe von Ereignissen (Aufführungen) besteht, in denen die Attribute Ort, Zeit sowie im Grunde alle beteiligten Akteur_innen – außer der Regie – vollständig austauschbar sind.

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Vielmehr muss es der Anspruch einer forschungsbasierten Erschließung und systematischen Vernetzung von theaterwissenschaftlichen Archivobjekten sein, die vielschichtigen Informationen über das vorliegende Objekt, über die damit verknüpften theatralen Ereignisse, die beteiligten Personen, die Orte und Zeiträume, über ästhetische Konzepte und Prozesse abzubilden sowie Bezüge zu weiteren forschungsrelevanten Objekten, Inszenierungen und Personen sichtbar zu machen. Wie lässt sich dieser Anspruch in die Realität umsetzen? In der Vergangenheit haben Theaterarchive und -museen auf der einen Seite versucht, diesem theaterbezogenen Forschungsinteresse Rechnung zu tragen, indem sie jeweils eigene Eingabefelder und individuell konzipierte Metadatensätze entwickelten. Auf diese Weise entstanden zwar komplexe Metadatenstrukturen, die theaterwissenschaftliche Fragestellungen mitbedachten, zugleich aber Insellösungen der jeweiligen Institutionen darstellten. Da diese Listen oder Datenbanken nicht auf überregionalen Standards der Metadatenerschließung aufbauten, war eine interoperable (Nach-)Nutzung der Forschungsmetadaten nicht möglich – eine Limitierung, die im (vermeintlich) grenzenlosen Informationszeitalter ein schwerwiegendes Problem darstellt. Auf der anderen Seite gab und gibt es zunehmend Gedächtnisinstitutionen, die bei der Erfassung einen dezidierten Fokus auf die Berücksichtigung übergreifender Standards der Objekterschließung legen. Allerdings bieten viele etablierte Standards wie etwa dublin core26 für die Spezifik theaterwissenschaftlicher Forschungsfragen eine zu flache Datenstruktur und sind deshalb für eine Erschließung im Grunde ungeeignet. So müssen im dublin core-Schema zentrale theaterhistoriografische Informationen über die (theatralen) Ereignisse und involvierten Akteur_innen bei der Metadatenerschließung zum Teil in Freitextfeldern untergebracht werden, wo sie jedoch aufgrund der fehlenden Informationsstruktur bei einer computergestützten Auswertung nur bedingt nutzbar sind. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Problematik einer adäquaten Metadatenerhebung in der Theaterwissenschaft eine komplexere Aufgabe darstellt als in manch anderen Disziplinen, da sich die Datenmodellierung mit einer hohen Variabilität der mit dem Theater im weitesten Sinne verbundenen Konzepte, mit vielfältigen Akteur_innen und ihren Funktionen sowie mit heterogenen Quellen auseinandersetzen muss, ohne dass bislang eine wissenschaftliche Standardisierung im Hinblick auf Datenformate 26

Vgl. https://www.dublincore.org/ [08.09.2020].

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und Normvokabulare konsensuell etabliert ist. Das Projekt Re-Collecting Theatre History hat sich der Herausforderung gestellt, ein Datenmodell zu entwickeln, das sowohl die theaterwissenschaftlichen Fragestellungen ins Zentrum rückt als auch die Interoperabilität der Daten gewährleistet.27 Zudem ermöglicht die Eingabemaske, dass Entscheidungsprozesse bei der Metadatenerhebung und die genutzten Informationsquellen nachvollziehbar bleiben. Auf diese Weise liefert das Projekt wichtige Impulse für die angestrebte Professionalisierung des Forschungsdatenmanagements innerhalb der Fachrichtung und versteht sich als Auftakt für eine angestrebte systematische Einbindung von DH-Methoden in die Theaterforschung und -lehre.28

Salome und die Netzwerke von Objekten, Ereignissen, Akteur_innen Indem bei der Datenerhebung im Re-Collecting-Projekt möglichst alle vorliegenden Informationen strukturell verzeichnet werden, lassen sich die Netzwerke der Objekte, theatralen Ereignisse und der daran beteiligten Akteur_innen auf Grundlage der erhobenen Metadaten nachvollziehen – inklusive der beteiligten Zuschauer_innen. So war durch die Auswertung persönlicher Aufzeichnungen eines Akteurs feststellbar, dass bei Max Reinhardts Salome-Inszenierung von 1903 unter anderem Richard Strauss (1864-1949) im Publikum saß.29 Der Komponist griff für das Libretto der gleichnamigen Oper ebenfalls auf die deutsche Wilde-Übersetzung von Hedwig Lachmann zurück und brachte seine Musiktheater-Fassung der Salome am 9. Dezember 1905 unter der musikalischen Leitung von Ernst 27

28

29

Die Verwendung des XML-basierten Harvesting Schemas LIDO hat sich im vorliegenden Projekt insofern als praktikabel erwiesen, als es die Erhebung Ereignis-bezogener Daten ermöglicht, was für theaterwissenschaftliche Fragestellungen von herausragender Bedeutung ist. Gleichzeitig ist es als international anerkannter Standard für den Datenaustausch etabliert und beinhaltet nur wenige Pflichtfelder; vgl. www.lidoschema.org/ [08.09.2020]. Seit Januar 2019 verfügt die TWS über eine eigene DH-Abteilung unter der Leitung von Nora Probst, die projektbezogene Erkenntnisse im Bereich der digitalen Theaterwissenschaft bündeln und die DH-Expertise im Kontext theaterwissenschaftlicher Forschung und Lehre der TWS verstärkt nutzbar machen soll. Auf diese Weise soll zudem in enger Abstimmung mit dem Data Center for the Humanities (DCH) der Universität zu Köln eine nachhaltige Bereitstellung und Pflege der generierten Metadaten und ihrer technischen Infrastrukturen gewährleistet werden. Vgl. Strauss 1980 [1942], 138.

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Abbildung 6: Alice Guszalewicz als Salome (Foto: Höffert&Blum, Köln 1906. TWS, Universität zu Köln, Fotoabteilung).

von Schuch (1846-1914) in Dresden zur Uraufführung. Etwa ein halbes Jahr später übernahm die Sängerin Alice Guszalewicz am 2. Juli 1906 unter der musikalischen Leitung des Komponisten im Kölner Opernhaus die Titelrolle (Abb. 6). Aus ihrem persönlichen Nachlass, der im Rahmen des Re-CollectingProjekts ebenfalls erschlossen und in Teilen digitalisiert wurde, stammen

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Abbildung 7: Die Beteiligten der Kölner Inszenierung von Strauss’ Salome (Foto: Unbekannt, Köln 1906. TWS, Universität zu Köln, Fotoabteilung).

vielfältige Aufnahmen, die sie und weitere Akteur_innen der Kölner Aufführung zeigen (Abb. 7). Ausgehend von Max Reinhardts Salome-Inszenierung 1902/03 lässt sich auf diese Weise paradigmatisch demonstrieren, wie die Auswertung von Ego-Dokumenten wie Briefen, Tagebüchern oder privaten Erinnerungen historische Verbindungslinien von Theaterschaffenden des 20. Jahrhunderts auch spartenübergreifend nachzeichnet – Verbindungslinien, die zukünftig auch im digitalen Raum erforschbar sind.

Literatur Baum, Constanze/Stäcker, Thomas (2015): »Die Digital Humanities im deutschsprachigen Raum. Methoden – Theorien – Projekte.« In: Dies. (Hg.): Grenzen und Möglichkeiten der Digital Humanities (= ZfdG – Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, Sonderband 1), www.zfdg.de/sb001_023 [08.09.2020].

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DARIAH-DE Digitale Forschungsinfrastruktur für die Geistes- und Kulturwissenschaften (Hg.) (o.J.): Fachspezifische Empfehlungen für Daten und Metadaten. Kapitel 1.2 »Terminologie«, https://wiki.de.dariah.eu/display/ publicde/1.2+Terminologie [08.09.2020]. Durieux, Tilla (1979 [1971]): Meine ersten neunzig Jahre: Erinnerungen. Die Jahre 1952-1971 nacherzählt von Joachim Werner Preuß. München/Berlin: Herbig. Huesmann, Heinrich (1983): Welt, Theater, Reinhardt. Bauten, Spielstätten, Inszenierungen. München: Prestel. Illmayer, Klaus (2017): »Aufbau einer digitalen Infrastruktur für Theaterwissenschaft« (Abstract), https://www.uibk.ac.at/congress/dha 2017/bilder-und-dateien/aufbau-einer-digitalen-infrastruktur-fuertheaterwissenschaft.pdf [08.09.2020]. Kohlmayer, Rainer (1996): Oscar Wilde in Deutschland und Österreich. Untersuchungen zur Rezeption der Komödien und zur Theorie der Bühnenübersetzung. Tübingen: Niemeyer. Leonhardt, Nic (2014): Digital Humanities and the Performing Arts: Building Communities, Creating Knowledge. Keynote auf der SIBMAS/TLA Konferenz, New York (NY), 12. Juni 2014, https://mappinggth.hypotheses.org/files/ 2014/09/Nic-Leonhardt_DH-and-the-Performing-Arts_June-2014.pdf [08.09.2020]. Marx, Peter W. (2019): »Vom Verfertigen der Gedanken beim Sammeln. Versuch einer Annäherung an das Jubiläum der Theaterwissenschaftlichen Sammlung.« In: Ders. (Hg.): Dokumente, Pläne, Traumreste. 100 Jahre Theaterwissenschaftliche Sammlung. Berlin: Alexander Verlag, 8-41. Missomelius, Petra (2014): »Medienbildung und Digital Humanities. Die Medienvergessenheit technisierter Geisteswissenschaften.« In: Ortner, Heike u.a. (Hg.): Datenflut und Informationskanäle. Innsbruck: Innsbruck Univ. Press, S. 101-111, https://books.openedition.org/iup/1264 [08.09.2020]. Probst, Nora/Türkoğlu, Enes (2019): »Magische ›Wiederbelebung‹? Zur historischen und gegenwärtigen Reanimation von Spielfiguren und Masken«. In: Marx, Peter W. (Hg.): Dokumente, Pläne, Traumreste. 100 Jahre Theaterwissenschaftliche Sammlung. Berlin: Alexander Verlag, 174-189. Reiche, Ruth u.a. (2014): Verfahren der Digital Humanities in den Geistes- und Kulturwissenschaften (= DARIAH-DE Working Papers Nr. 4), http://webdoc. sub.gwdg.de/pub/mon/dariah-de/dwp-2014-4.pdf [08.09.2020]. Riley, Jenn (2017): Understanding Metadata. What is Metadata, and What is it for? (A Primer Publication of the National Information Standards Organi-

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Internetquellen www.aat-deutsch.de/aat_info/ http://dch.phil-fak.uni-koeln.de/cmdi-maker.html https://www.dnb.de/DE/Professionell/Standardisierung/GND/gnd_node.html https://www.dublincore.org/ http://exist-db.org/exist/apps/homepage/index.html https://www.geisteswissenschaften.fuberlin.de/we07/forschung/forschungsprojekte/theaterwissenschaft/recollect ing/index.html https://www.getty.edu/research/tools/vocabularies/aat/ https://www.go-fair.org/go-fair-initiative/ https://www.lido-schema.org/ https://nfdi4culture.de/ https://www.performing-arts.eu/Content/uber http://tws.phil-fak.uni-koeln.de/34619.html

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III. Theaterwissenschaftliche Organisationsund Institutionsforschung

Theater der Tabellen Zur Organisationsgeschichte des Theaters am Beispiel des Scenariums Andreas Wolfsteiner

Einleitung: Der Mensch als Umwelt der Handlungen Dieser Beitrag fokussiert den Bereich theaterwissenschaftlichen Theoriedesigns aus historiografischer Perspektive. Das Ziel ist nachzuweisen, inwieweit gerade organisationsgeschichtliche1 Aspekte einerseits das Forschungsfeld progressiv begleiten, aber andererseits die Kerninhalte traditioneller Ausbildungsgänge im Feld Theater notwendig verschieben – und zwar, indem sie aus technischer Sicht eben nur die teilweise stark eingeschränkte Selektion, Filterung und Normalisierung von Daten und Materialien zulassen. Durchgespielt wird dieses hypothetische Programm einer Theatergeschichte als Organisationsgeschichte anhand eines bis dato kaum berücksichtigten bühnenlogistischen Materials: dem sogenannten »Scenarium«. Methodisch liegt die Hypothese zugrunde, dass den jeweils vorherrschenden Inszenierungsstilen in einem historischen Abschnitt nicht nur ein Set kulturhistorischer Bedingungen gegenübersteht; vielmehr sind es gerade die in diesem Abschnitten praktizierten Organisationsformen, Bürokratiestufen und Verwaltungsstile, die bis auf die Ebene der Aufführung nachhaltig durchgreifen. In diesem Zusammenhang kommt nun das »Scenarium« ins Spiel. Mit dem Begriff werden ab der ersten Hälfte des 1

In organisationsgeschichtlicher Hinsicht stützt sich der vorliegenden Artikel vielfach auf die Arbeiten Günther Ortmanns. Zentral ist hier etwa das Wechselverhältnis von Ausnahme, Spiel und Regel sowie die intrikaten Infrastrukturen, die »Kontrakte, Programme, Anweisungen, Anreize, Kontrollen, Normen« bilden (Ortmann 2003, 247f.). Die Progression von »Regelanwendung«, »Regelneusetzung« und »Regelverletzung« synthetisiert der Autor aus Husserl und Derrida. (Vgl. ebd., 232)

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Andreas Wolfsteiner

19. Jahrhunderts tabellenförmige Übersichten bezeichnet, die dazu dienen, das szenische Geschehen zu organisieren und zu regeln. Anhand derselben wird als organisationaler Tatbestand sichtbar, »daß nicht Menschen, sondern Handlungen als Elemente sozialer Systeme aufzufassen seien – die Menschen daher als deren Umwelt.«2 Diese paradox anmutende systemische Sachlage lässt sich für das Theater im Untersuchungszeitraum plausibilisieren. Vor dem Hintergrund weitreichender geopolitischer und globalgesellschaftlicher, informationaler und medialer Umbrüche sehen sich die geistes-/kulturwissenschaftlichen Disziplinen mit der Notwendigkeit methodischer Paradigmenwechsel konfrontiert – nicht zuletzt aufgrund ihrer interdisziplinären Basis betrifft das auch gerade jene Fächer, die das Theater, die darstellenden Künste, performance art, Festkulturen und weitere Theatralitätsphänomene in den Blick nehmen. Bei der Sondierung methodischer Literatur im Bereich der Theaterwissenschaft, der performance studies und der Bewegungsstudien fällt eine starke Polarisierung auf. Einerseits wird die methodische Flexibilität jener Forschung betont, die in der Hauptsache Aufführungs- und/oder Inszenierungsanalyse, geistes-/kulturwissenschaftliche Theorie und Ästhetik und Historiografien theatraler Kulturen in den Blick nimmt (Interdisziplinaritätshypothese). Andererseits führt die hohe methodische Flexibilität nicht selten zum Vorwurf eines nicht vorliegenden einheitlichen Forschungsparadigmas – dieses sei schließlich Voraussetzung, um ein Forschungsfeld überhaupt als eigenständige Disziplin zu legitimieren (Illegitimitätshypothese). Der folgende Hauptteil schlüsselt drei Bedeutungshorizonte des historischen Scenariumbegriffs für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, um nachzuzeichnen, wie sehr in dieser Zeit das Theater beginnt, Ordnungsmuster der Verwaltung, des Militärs und der (Betriebs-)Wirtschaft zu übernehmen – im Zentrum steht dabei die Theatralität tabellarischer Ordnungssysteme.

2

Ortmann 2008, 11.

Theater der Tabellen

Scenarium: Szenenskelett – Dramennarrativ – Handlungstabelle »Scenarium« (auch »Scenario« oder »Szenario«) ist offenbar kein theaterwissenschaftlicher Grundbegriff.3 Das liegt unter Umständen daran, dass mit dem Terminus recht heterogene Gegenstände bezeichnet werden. Und doch scheinen Szenarien heute allgegenwärtig, und zwar gerade dann, wenn damit das Durchspielen hypothetischer Zukünfte gemeint ist. Als klimatische und ökonomische Szenarien, die den best case oder den worst case beschreiben, tauchen sie täglich in sämtlichen analogen und digitalen Nachrichtenmedien auf. Auch existiert zur sogenannten Szenarioanalyse (siehe auch scenario planning) eine Fülle an Consulting- und How-to-Literatur.4 Der verfolgte Zweck ist meist das spekulative Durchkalkulieren von Zukünften. Zentral bleibt dabei die Vorstellung, dass mehrere Szenarien gleichberechtigt nebeneinander stehen, um beim Eintreten eines (auch eher unwahrscheinlichen) Falls mit einem passenden Reaktionsschema aufwarten zu können. Somit unterscheidet sich die Szenarioanalyse grundlegend von anderen Formen der Prognose, die bspw. versuchen, den höchstwahrscheinlichen Fall probabilistisch vorauszusagen. Die Frage, die sich nun aufdrängt, ist, wann dieser aus dem Theater stammende Begriff – Szenario – auf andere Bereiche der Kultur übergeht. Der vorliegende Abschnitt gibt darauf organisationsgeschichtliche Teilantworten und fokussiert die Phase zwischen dem Wiener Kongress 1815 und der Märzrevolution 1848. Zum sondierten Material gehören die »Scenariae« selbst, aber auch Handbücher, Manuale und praktische Beratungsliteraturen, die sich – wie es so oft heißt – an Dilettanten, Kunst- und Theaterfreunde richten. Während in Aufklärung und Aufklärungskritik wahrhafte Ungetüme philosophischer Systementwürfe entstehen, taucht eine pragmatisch orientierte Literatur im Stile beschaulichen Salongeplauders auf, die das Betriebsgeheimnis des Theaters in der Verschaltung von Theorie und Praxis sucht. Nach Auswertung der Materialen lassen sich generell drei Bedeutungsschichten des Begriffes »Scenarium« unterscheiden. (1) Szenenskelett: Noch in der Commedia dell’arte ist die Bezeichnung »Scenarium« für das Argumento gebräuchlich, d.h. der kurzen inhaltlichen 3

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Im Metzler Lexikon Theatertheorie werden lediglich die Begriffe »Szene« und »Szenographie« berücksichtigt. Dies betrifft die erste sowie die erweiterte zweite Auflage: Vgl. Fischer-Lichte/Kolesch/Warstat 2009; Dies. 2014. Frank 1985; Reibnitz 1992; Götze 1993; Graf/Klein 2003; Ulbrich Zürni 2004; Wilms 2006; Neuhaus 2006; Pillkahn 2007; Kosow/Gaßner 2008; Storch/Heimann/Güss 1999; Heinen/Mai/Müller 2009.

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Beschreibung des zu improvisierenden Stücks mit Angaben zu verwendeten Rollentypen (Dottore, Arlecchino etc.).5 Darüber hinaus finden sich dort meist skizzenhafte Angaben zu einer Kette zentraler Szenen. Diese semantische Ebene bleibt noch bis Ende des 18. Jahrhunderts fast durchgängig die einzige. In den Anekdoten und Karakterzügen aus dem Leben des Grafen von Mirabeau aus dem Jahre 1791 steht nachzulesen: »Das ganze Projekt, das Puppenspiel mit großen Kindern, war ein von dem Grafen ausgefertigtes Scenarium, bei dessen Ausführung er auf die gute Gabe des Extemporirens seiner Schauspieler sich verlies. Daß er selbst darinne Meister war, ist bekannt.«6 Auf diese Weise gebraucht wird der Begriff auch in den 1793 publizierten Kreuz- und Querzügen des Ritters A bis Z: »Daß die Großmeisterinn und die andern agirenden Personen nur ein ausführliches Scenarium vor sich hatten und in vielen Stellen improvisirten – darf ich das bemerken? Auch daß es wörtlich vorgeschriebene Stetten gegeben, versteht sich […]«7 Trotz der Ausführlichkeit des Scenariums, so wird in diesem Zitat deutlich, bleibt dieses fragmentarisch. Leerstellen, Lücken und Unvollständigkeiten werden im ansonst allzu verpönten Extemporieren vervollständigt. Das szenische Spiel besteht dann nicht in der Reproduktion umfänglicher und auswendig gelernter Textapparate, sondern ist Kunst der Überbrückung. (2) Dramennarrativ: Des Weiteren bezeichnet »Scenarium«, als Textbegriff, das Gesamt des dramatischen Narrativs (Fabel) im Sinne der Sequenzen an Akten und Szenen – diese wiederum werden aus Kombinationen von Haupt- und Nebentext8 gebildet. Zudem wird eine räumliche Dimension mitgeliefert, die, so könnte man spekulieren, noch von der antiken skené herrührt. Gemeint ist jene Hütte oder jenes Zelt, in welcher/m hinter dem Proskenium 5 6 7 8

In der umfassenden historischen Kompilation der Comedia-all’improvviso-Szenarien wird dies besonders deutlich: Hulfeld/Quadri 2014. Trenck 1791, 27f. Hippel 1793, 517. Die analytische Differenzierung von Haupt- und Nebentext, von Didaskalien und Rede erfolgt erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Roman Ingarden nimmt diese Unterscheidung in seinem Text Das literarische Kunstwerk in §30 mit dem Titel »Andere Weisen der Darstellung durch Sachverhalte« vor (vgl. Ingarden 1972 [1931], 208-222, insbes. 220-222).

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Masken und Kostüme u. dgl. mehr verstaut werden. Diese semantische Stufe taucht in der Geschichte immer wieder auf und hat in weiten Teilen bis heute seine Gültigkeit behalten.9 Im Leipziger Kunstblatt für gebildete Kunstfreunde, erschienen im Jahr 1818, erreicht der Begriff etwa kritisches Potential: »Die Wahl dieses Stoffes macht dem Hrn. Compositeur [die Rede ist von Franz Ritter Morlacchi, fälschlich im Text als Morlachi bezeichnet, AW] gerade so viel Ehre, als sie dem Publikum Vergnügen gewährte. Die ganze Fabel ist ein völlig witzleeres, langweilendes Scenarium, und besteht bloß in einem ewigen Kommen, um eine Arie oder ein Duett zu singen, und zu gehen, um einer andern Person zu demselben Zwecke Platz zu machen.«10 Die erwähnte spatiale Dimension wird immer dann besonders deutlich, wenn das »Scenarium« auf einer Ebene mit Kostüm, Dekor, Lichtsetzung oder Szenenlärm o.ä. genannt wird. In Der Wanderer aus dem Jahr 1831 ist eine Kritik nachzulesen, die den »großen Styl« des Scenariums wie auch der Garderobe (Vestiarium) in einem Atemzug herausstreicht. »Venedig. Am 22. Februar ging im Phönix-Theater ein neues Ballet von Morosini in die Scene. Es heißt: ›Die beiden Königinnen‹ und wurde stark beklatscht. Die Handlung geht in die Zeit König Pipins zurück, gehört also ins Fach der Romantik. Aber das Ballet ist für die geschickte erste Tänzerinn, Anna Silet, componirt, welche schon in Vigano’s Balleten und auch in diesem alle Stimmen zu ihrem Lobe vereinigte. Neben ihr erhielten die Tänzerinnen Rebaudengo, die Tänzer Priora und Blasis Beifall. – Auch Scenarium und Vestiarium waren in großem Styl und geschmackvoll ausgeführt.«11 (3) Szenentabelle: Nach dem Wiener Kongress 1815 entsteht neben den beiden genannten Bedeutungsebenen eine weitere – und zwar parallel zur Entwicklung eines organisationsorientierten Inszenierungsbegriffs und der Entstehung des modernen Probensystems. Unter der Überschrift »In die Scene setzen« berichtet August Lewald 1837 von folgender Trouvaille: »In neuester Zeit ist der Ausdruck: ›In die Scene setzen,‹ bei allen deutschen Theatern eingeführt worden; ich hörte ihn zum ersten Male im Herbste des 9

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Exemplarisch für diese Begriffsverwendung: »[…] Lessing war mit dem Plane im Allgemeinen fertig und mochte auch schon eine Art von Scenarium entworfen und in Prosa auszuarbeiten begonnen haben.« (Ohne Autor [Gosche] 2016 [1867], 3) Quandt 1818, 148. Seyfried 1831, np.

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Jahres 18 [gemeint ist das Jahr 1818, AW] in Wien, und wußte damals nicht recht, was ich mir dabei denken sollte. Herr Carl Blum, dem ich auf der Straße begegnete, sagte mir: er wolle noch so lange in Wien verweilen, bis er sein neuestes Ballet ›Aline‹ in die Scene gesezt [sic!] haben würde. Es klingt allerdings vornehmer als: geben lassen, aufführen lassen, und wir haben es uns offenbar von den Franzosen angeeignet. Diese sagen aber auch: ›la mise en scène,‹ die ›Setzung in die Scene,‹ was bei uns bis jezt [sic!] noch nicht gebräuchlich ist.«12 Parallel zu dieser Einführung des Inszenierungskonzepts erweitert sich das Einsatzgebiet des Scenariums. Der Begriff bezieht sich dann auf einen Formularzettel, der dazu dient, die Logistik der Szenen zu steuern. Es handelt sich dabei um einen tabellarischen Sachweiser, der im Organisationswesen der Theaterbetriebe notwendig wird. Ein solches Scenarium zu Schillers Fiesco aus dem Jahre 1841 ist etwa wie folgt gestaltet (Abb. 1): In der linken Spalte (»Requisiten«) werden Objekte auf der Bühne verzeichnet (»2 Armleuchter a. d. Tischen« oder »Brieftasche mit Banknoten«), in der mittleren Spalte finden sich Akt- und Szenennummern sowie Stichworte des dramatischen Haupt- und Nebentextes, in der rechten Spalte (»Bemerkungen«) finden sich Anweisungen, was nun in der Szene zu geschehen hat (»Musik schweigt«, »Tusch« oder »Möbel bleiben wie vorher«). Wie streng diese Handlungsanweisungen zu nehmen sind, wird deutlich, wenn man die »Gesetze den Souffleur betreffend« nachliest, die Hans Wilhelm Bärensprung in seinem Versuch einer Geschichte des Theaters in Meklenburg Schwerin als Strafkatalog formuliert: »Für jede von ihm vergessene Requisite oder Brief, wenn der Fehler sich bei den Vorstellungen äußert, bezahlt er 8 Taler […]. § 7 er schreibt von Stücken, worin stumme Personen vorkommen, zweimal das Scenarium aus dem Hauptbuch und hängt auf jeder Seite der Flügel eine Abschrift.«13 Was sich in diesem Fall zeigt, ist, dass die sich ändernden Organisationsformen, die durch das Scenarium ins Spiel kommen, gleichsam Verregelungsprozeduren entfesseln. Diese wiederum werden als Verhaltensregulative in den Arbeitsprozess des Theaters implementiert. Bemerkenswert ist, dass bei Beachtung der Regeln nichts passiert, die Nichtbeachtung hingegen führt zu

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Lewald 1837, 251. Bärensprung 1837, 217.

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Abbildung 1: Schema eines Scenariums zu einer Inszenierung von Schillers Fiesco. (Düringer, Philipp Jakob/Barthels, Heinrich Ludwig (Hg.) (1841): Theater-Lexikon: Theoretisches-Practisches Handbuch für Vorstände, Mitglieder und Freunde des deutschen Theaters. Leipzig: Otto Wigand, 959f.)

Sanktionen (ein Mechanismus, der bekanntlich in Foucaults Surveiller et punir herausgearbeitet worden ist). Dabei kann die Form des Scenariums als Tabelle keinesfalls als selbstverständlich gelten. Ist doch, wie oben beschrieben, bei der Commedia dell’arte das Scenarium noch ein Skelett an Szenen: ein Gerüst in Form einer Liste. »Tabellen jedoch bestehen«, wie Jack Goody im Aufsatz Woraus besteht eine Liste? konzediert, »im wesentlichen aus Spalten und Zeilen oder, aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, aus einer oder mehreren vertikalen Listen.«14 Durch Prozeduren der Klassifizierung und Hierarchisierung15 wird im Fall der Ta-

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Goody 2012 [1977], 338. Vgl. ebd., 384.

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belle auf dem Papier ein Messungs-, Übersichtlichkeits- und Ordnungsparadigma sichtbar, das nicht automatisch zur Kultur des Theaters gehört – im Gegenteil. Die szenische Kultur des mitteleuropäischen Theaters wird lediglich von diesen numeralen, seriellen und schematischen pattern tingiert. Gleich mehrere kulturtechnische Aspekte haben daran Anteil: Im nachrevolutionären Frankreich kommt es (a) in den 1790er Jahren zur Einführung der Längen- und Gewichtsnormale,16 die die Grundlage des metrischen Systems bilden. Des Weiteren ist (b) die Vermessung der Welt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vollem Gange.17 Zusätzlich ist (c) die Ästhetik der Tabelle aus den Bereichen der Statistik, der Bürokratie, der Betriebswirtschaft und nicht zuletzt der militärischen Übungskultur geborgt. All diese Bereiche – Behördenwesen, Verwaltung, Ökonomie, militärisches Exerzieren – haben nach dem Wiener Kongress 1815 Konjunktur18 und beeinflussen nachhaltig sämtliche Bereiche von Kunst und Alltag. In diesem Klima straffer Schreibstubenorganisation wird dann auch im Jahre 1837 von August Lewald in der Allgemeinen Theater-Revue ein neuartiges Probensystem beschrieben.19 Grosso modo ist dieses mit Blick auf die dort formulierten Instanzen – Leseprobe, Setzprobe (=erste Probe), Hauptprobe, Generalprobe – heute noch intakt. Lewald kolportiert im Zuge dessen, wie bereits erwähnt, nicht nur als einer der ersten Theoretiker den Begriff der Inscenierung (»In die Scene setzen«),20 auch macht er, in der Zeit vor seiner ersten Karriere als Schauspieler und Intendant, einschlägige Erfahrungen hinsichtlich der militärischen Ordnungskul-

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Die Formatänderungen hinsichtlich der Längen- und Gewichtsnormale durch die Einführung des metrischen Systems in Europa ziehen auch Formatänderungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen nach sich (vgl. Wenzlhuemer 2010). Aus postkolonialer und infrastrukturtheoretischer Perspektive vgl. insb. Echterhölter 2015. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehen die mathematischen und astronomischen Berechnungen Gauß’ in großformatige Kartenwerke ein (vgl. Papen 1832-1847). Statistische Verfahren sind freilich seit biblischen Zeiten überliefert. Das Motiv der Volkszählung findet sich bereits im Buch Samuel des Tanach (Volkszählung unter König David). Nachhaltiger Einfluss auf die Künste durch die Statistik wird dann im 17. Jahrhundert nachweisbar – etwa in Hinsicht auf die Literatur Daniel Defoes (vgl. dazu Campe 2001, 521-535). Die Konjunktur nach 1815, von der oben die Rede ist, betrifft allerdings auch das Organisationswesen statistischer Behörden in einer Vielzahl europäischer Staaten (vgl. Osterhammel 2009, 59). Die »Schreibstubenherrschaft«, wie die Bürokratie im 19. Jahrhundert auch bezeichnet wird, trägt nicht minder zum gesellschaftlichen Wandel bei (vgl. Forgacs 2016, 15). Vgl. Lewald 1837. Vgl. ebd., 251.

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tur: u.a. dient er in den Befreiungskriegen 1813-1815 (Polen, Russland) und kommt unter General von Rosen nach Frankreich.21 Auch deshalb sei betont, dass Jens Roselts Charakterisierung Lewalds als »Vermittler und Organisator«22 im militärischen Sinne präzise sitzt.23 Das »Scenarium« findet sich dann bald inmitten soldatischer Requisiten als schematische Gedächtnisstütze. Im Biographischen Taschenbuch deutscher Bühnen-Künstler und Künstlerinnen (1837) werden in diesem Sinne kryptomilitärische Merkwürdigkeiten im Aufführungsprozess festgehalten. Mit Blick auf eine Don Carlos-Vorstellung am 4. Januar 1821 in Braunschweig erläutert der Autor etwa: »Während des dritten Aktes verfügte sich Fabrizius [in der Rolle Philipp II, AW] in seine Wohnung, kleidete sich von Kopf bis zu den Füßen anders an, und zwar so, wie er gemalt in seinem Zimmer hing, kam dann wieder auf die Bühne, und nachdem auf das von ihm gegebene Zeichen der fünfte Akt begonnen, setzte er sich hinter dem Prospekt auf einen Stuhl, legte das Scenarium über das Knie, drei Pistolen neben sich, und die vierte, mit zwei Kugeln geladen, hielt er in der Hand. So das Stichwort zu seinem Tode erwartend, saß er, als der Schauspieler Rehne sich mit der Frage zu ihm gesellte: ›Nun, Herr Fabrizius, wollen sie denn heute den Schuß selbst besorgen?‹«24 Wie Bewegung und Sprache, ja das gesamte szenische Handeln, mittels des Scenariums unter Kontrolle gebracht werden, kommt in den Blättern für literarische Unterhaltung aus dem Jahre 1839 zum Ausdruck. Als Vorschrift für den Schauspieler steht dort zu lesen: »Der Schauspieler ging ins Theater, wo in der ersten Coulisse das Scenarium des aufzuführenden Stückes angeschlagen war. Die Rollen waren meist fest und stehend, zum Theil Masken: Arlekin, Pantalon, Mezzetin, Doctor ec., wozu noch etwa ein Liebhaber oder eine Nebenperson kam. Der Schauspieler, welcher den Doctor z.B. spielte, wußte also, daß er heute Abend zu thun habe; wie und was ihm zu sagen oblag, deutete ihm das Scenarium an,

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Vgl. Art. »Lewald, August« 2007, 356-381. Vgl. Selbmann 1985, 408f. Roselt 2015, 74. Zur Geschichte des Inszenierungsbegriffs und die Bedeutung Lewalds bei dessen Genese vgl. Fischer-Lichte 1998. Wie sehr Ideal und Realverhältnisse an den Theatern in Bezug auf die Ansprüche Lewalds auseinandergehen, wird ausführlich beschrieben in der Einführung zu »In die Scene setzen«: Roselt 2015, 74-78, hier: 75f. Alvensleben 1837, 23-24.

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welches Scene für Scene dem Inhalte nach bestimmte; die Ausführung Spiel und Sprache, blieb aber seinem Genie überlassen.«25 Die »Lebendigkeit der Phantasie« der Akteure weicht nun dem tabellarischen »Verzeichnis« sämtlicher Elemente, derer es zur Inszenierung bedarf (Requisiten, Rede, Lichtwechsel, Gesten, Proxemik, Musikeinsätze etc.). Durch diesen Registerwechsel, vom subjektiven szenischen Phantasieren zur objektiven logistischen Tabelle, wird das Scenarium nun ein technischer Teil des Theaterdispositivs. Nachweisbar ist dies etwa im Allgemeinen Theater-Lexikon oder Enzyklopädie alles Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theaterfreunde. Das betreffende Lemma behandelt das Scenarium nun buchstäblich als einen Terminus technicus: »Scenarium (Techn.), das Verzeichniß alles Beiwerkes, dessen man zur theatral. Aufführung eines dram. Gedichtes bedarf. Das Wort wird von dem ital. Scenario (s. Argumento) abgeleitet. Zur Zeit der Entstehung der Commedia dell’arte war es gebräuchlich, dass den Schausp. nach dem Vorlesen des Argumento in dem Scenario das Skelett der Scenen gegeben wurde, nach denen sie aufzutreten oder die Bühne zu verlassen hatten. Es enthielt mit möglichst kurzen Worten das, was jedenfalls gesagt werden musste, ohne dem Schausp. über das Wie irgend eine Schranke zu stecken.«26 Zum Scenarium als technisch-logistisches Medium nehmen zwar auch schon Philipp Jakob Düringer und Heinrich Ludwig Barthels 1841 im TheaterLexikon: Theoretisch-Practisches Handbuch für Vorstände, Mitglieder und Freunde des deutschen Theaters Stellung. Betont wird dabei noch nicht das übersichtlich zusammengestellte »Verzeichniß alles Beiwerkes«, sondern die handlungsseitige Relation zwischen dem Stegreifspiel und der schlichten Liste an Handlungen, die das Scenarium liefert: »Scenarium (ital. Scenario, von Scene, s.d.) nannte man früher zur Zeit der extemporirten Komödien, das Verzeichnis der aufeinanderfolgenden Scenen, in welchem der wesentliche Inhalt der Szenen angegeben war […]. Bei den Pantomimen, Ballets, und wohl auch großen Opern, pflegte man, wie auch jetzt noch zuweilen, das Scenario auf den Anschlagszettel zu drucken.«27

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Anonym 1839, 227 (linke Spalte). Blum/Herloßsohn/Marggraff 1846, 234. Lemma »Scenarium« 1841, 958f.

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Die Autoren erkennen in diesem Fall aber bereits den Funktionswandel des Scenariums: Die Anschlagszettel habe man in der Folge »in Opern- und Pantomimen-Programme verwandelt«, so die Autoren weiter. »Die Acte, die Auftritte mit den nöthigen Stichworten, die Requisiten und die Bemerkungen nebst Stichworten zu dem Scenenlärm für den Inspicienten, da sich jene ihre besonderen Auszüge aus dem Regiebuche machen.«28 Gar werden bei Düringer und Barthels (zusammenfassend für die Theaterentwicklungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) in der Folge Inspicientenscenarien, Hauptscenarien, Setz-Scenarien, Meuble-Scenarien, Coulissen-Scenarien, Chor- sowie Komparsenscenarien unterschieden.29 Diese treten in je unterschiedlichen Ausfertigungsarten und Druckformaten auf: mal handschriftlich; mal als technisch reproduzierte Zettel; mal für die Zuschauer sichtbar auf die Programmzettel gedruckt; mal kommen die Scenarien in Buchform daher, wie im Falle der Chor- und Komparsenscenarien, oder gar als Plakat. Gerade die Plakatform wird kritisch gesehen, denn »[f]ür die Statisten (in Masse) Scenarien aufzuhängen, ist völlig nutzlos und unpraktisch. Sie werden militärisch behandelt, geordnet, eingeübt, von dem Statisten-Aufseher und Anführer zur Stelle geschafft […].«30 Eben der Aspekt soldatischen Drills wird in diesem Paragraphen nicht von ungefähr auffällig. Es geht um die Wiederholung von Handlungen, bis diese ›eingefleischt‹ sind.31 Dieser Tatbestand wird jedoch noch tiefer in der Institution verwurzelt. Nicht zufällig werden bei Düringer und Barthels im Vorwort neben Angaben zu »Scenerie, Maschinerie, Malerei« auch dezidiert folgende Angaben gemacht, die in Bezug auf die Stellung des Theaters und dessen Infrastruktur im 19. Jahrhundert Bände sprechen. Verhandelt werden etwa theaterspezifische »Verwaltungszweige, Garderobe (mit Angabe der billigsten zweckmäßigsten Zeuge, deren Fabriken ec.); Costums (hierher gehört z.B. die Uniformirung des Militärs in verschiedenen Ländern, ebenso die auf der Bühne vorkommenden Nationaltrachten).«32 28 29 30 31

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Ebd., 959. Vgl. ebd. Ebd., 964. Im militärischen Kontext ist dies kein ungewöhnliches Verfahren: Bereits im 17. Jahrhundert sind sequenzierte kryptokinematografische Abbildungen üblich, die dem Betrachter mittels einer Art Loop konsekutiver Einzelbilder Bewegungsfolgen erläutern – bspw. wie ein Musketenschuss korrekt ausgeführt wird (vgl. Berns 2000). Vgl. das »Vorwort« in: Düringer/Barthels 1838, np.

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Auch wird im Anhang Auskunft über die »Gesetze des Theaters« erteilt.33 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen Theaterinstitutionen oftmals unter sogenannter »Kavaliersintendanz«.34 Das bedeutet, dass zur Leitung der Häuser Adlige (oftmals mit militärischem Rang) eingesetzt werden, die, wenn man den Klagen von Seiten der Theatergänger Glauben schenken darf, keine Ahnung von der Theaterei hätten. Inmitten des Theaterapparats wird nun der Gap zwischen disziplinierter Inszenierung und militärischer Disziplinierung umso deutlicher.35 Es entsteht ein Bedarf an Techniken, die sowohl die Klassifizierung als auch Hierarchisierung szenischen Handelns bündig und nachvollziehbar halten: das Scenarium. In seiner tabellarischen Form wird dasselbe im Zeitraum zwischen 1815 und 1848 zu einem wesentlichen Medium szenischen Gestaltens – und zwar gerade auch in zeitorganisatorischer Hinsicht. Dies klingt etwa in Eduard Devrients Versuch einer Geschichte der deutschen Schauspielkunst aus dem Revolutionsjahr 1848 an. Über die Mannheimer Schule berichtet er folgendes: »Erinnert das Alles nicht deutlich an die alten ›repräsentirten Historien‹ der englischen Comödianten, mit dem mittelalterlich weitläufigen Scenarium, dem epischen Nacheinander und den unablässigen Sprüngen von Ort und Zeit? Drängt sich der Stoff, der Reiz der bunten Begebenheit, nicht wieder in den Vordergrund? und erinnert das, was Iffland, Schink und Andre von der Darstellungsweise dieser Stücke sagen, nicht stark an die Haupt- und Staatsaction und an die alte ›englische Manier‹. Eine Epoche der Verwilderung drohte diesem Mißbrauch der Shakespeare’schen Muster, mit dieser mißverstandenen und entstellten Natürlichkeit hereinzubrechen. Mit Unwillen hatte Lessing, schon bei ihrem Beginn, die dringenden Warnungen gegen die einbrechende Barbarei dieser Formlosigkeit, Vernachlässigung der Sprache und Sitte ausgesprochen.«36 33 34

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Ebd. Folgender Passus gibt einen Überblick: »Doch setzte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Zeit der ›Kavaliersintendanzen‹ ein: Die Theaterleitung wurde Adligen übertragen; die Herkunft entwickelte sich zum entscheidenden Kriterium, die künstlerische Befähigung der Intendanten hingegen war nebensächlich. So hatte der Gardeleutnant Botho von Hülsen über Jahrzehnte die Generalintendanz der Königlichen Bühnen zu Berlin inne – eine Zeit, in der die künstlerische Entwicklung stagnierte.« (Eisermann 2010, 19). Von Interesse ist hier die Analyse gesellschaftlicher Gebautheit von Disziplin als kompulsives Blick- und Sichtbarkeitsverhältnis (vgl. Ortmann 1984). Devrient 1848, 35f.

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Das Scenarium bildet in diesem Zusammenhang die materialisierte Spur bühnenseitiger Planung. Es organisiert die Handlung in der Zeit, Verwandlungen der Szene, Wechsel der Requisiten und Technik, Einsätze von Orchester und Gesang, Redebeginn, Stichworte, Abtritte, Auftritte etc. Bemerkenswert ist, dass es sich hier um eine Verwaltungsinnovation dreht. Dieselbe realisiert sich im Zuge des grundlegenden Organisationswandels und der Festigung eines Institutionalisierungsprozesses des Theaters während der Industriellen Revolution (und den damit einhergehenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen). Auffallend ist, dass nahezu zeitgleich die zuvor marginale Beamtenfigur des Regisseurs allmählich zum zentralen Arrangeur des Szenischen aufzusteigen vermag.37 Die eigentliche Nachricht aber ist, dass dies geschieht, weil die Tabelle – ein Funktionsobjekt der Verwaltung – auf die Ästhetik der Bühne übergreift. Die Veränderung des Organisationswesens des Theaters bewirkt erwartungsgemäß kapitale Umgestaltungen, was die Darstellungsstile anbetrifft – hiervon zeugt u.a. die Neuordnung der Inszenierungspraxis im deutschen Sprachraum. Mit dieser Rekonzeptualisierung bühnenästhetischer Arbeit geht sodann eine Transformation des ganzen Theaterapparats einher.38 Kulturelle Institutionen konstellieren sich von nun an inmitten von Werkstätten, Manufakturen und Fabriken.

Fazit: Schibboleth Die Hinzunahme des organisationsgeschichtlichen Blickwinkels zu den Methoden der Theaterwissenschaft geschieht in vorliegendem Fall im Sinne einer qualitativ orientierten Organisationsforschung: »Die zunehmende Verbreitung der qualitativen Methodik in der Organisationsforschung stützt sich auf zentrale Argumente der phänomenologischen Forschungstradition. Besondere Bedeutung messen qualitativ orientierte

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Vgl. Roselt 2015. In der Theaterwissenschaft konnten in den letzten Jahren gerade die Methoden der Inszenierungs- und Aufführungsanalyse aufgrund einer fundierten Theoretisierung der Probe geschärft werden (vgl. Matzke 2015, 189-192; dazu ferner die Monografie Arbeit am Theater: Eine Diskursgeschichte der Probe, Dies. 2012). Hier wird zudem der aufgrund der Flüchtigkeit der Aufführung problematische Charakter des Arbeitsbegriffs im Theater diskutiert.

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Organisationsforscher der frühen Erkenntnis der Klassiker bei, dass soziale Wirklichkeit nicht unabhängig von Zeit und Raum als objektive Wahrheit zu begreifen sei. Vielmehr wird sie als Ergebnis kollektiver und individueller Wahrnehmung und Interpretation betrachtet und dementsprechend prozessual, d.h. in Form von Kommunikations- oder Handlungssequenzen im alltäglichen Kontext untersucht.«39 Gerade an einem Material wie dem Scenarium zeigen sich diese Formen von Kommunikations- und Handlungssequenzen in Gestalt der weiter oben genannnten Goody’schen Tabellen. Dieser Blickwinkel rentiert in dreierlei Hinsicht: Es werden (erstens) die Theaterbetriebe unter einem pragmatischen Blickwinkel als ökonomische Betriebe sichtbar, deren Output in ästhetischer Hinsicht einer großen Zahl pekuniärer, infrasruktureller und ressourcenmäßiger Zwänge unterliegt; es werden (zweitens) im Spiegel dieser wirtschaftlich-organisatorischen Fragen die Bedingungen sozialer, kultureller und institutioneller Verflechtungen sichtbar, die beim ausschließlichen Blick auf Rezeption, Kritik und andere Quellen nicht zutage gefördert werden können;40 es wird (drittens) das jeweilige herrschende Theaterdispositiv im Hinblick auf die medialen, apparativen und technologischen Laufumgebungen schärfer konturiert (Sichtbarmachung der jeweiligen Netzwerke von Akteuren und Aktanten). Organisation ist hierbei im basalsten Sinne als eine »bewusst geschaffene Ordnung«41 zu verstehen, und zwar im Gegensatz zu geordnet erscheinenden Strukturen, die jedoch spontan entstehen: also Emergenzphänomenen. Organisation ist im vorliegenden Fall aber nicht als eine Art Negation des Emergenzparadigmas zu betrachten, sondern stellt eine Erweiterung in Richtung praxistheoretischer Fragen dar. Die Aufgabe aus organisationsgeschichtlicher Sicht könnte etwa sein, die Differenz der organisationalen Strukturen so zu betrachten, dass ein klareres Bild des eigenen kulturellen und historischen Standpunktes entsteht. Denn die Differenz ist doch immer auch eine Differenz sozialer Strukturen zueinander. In diesem

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Kühl/Strodtholz/Taffertshofer 2009, 18. Die Autoren nehmen hier Bezug auf: Glaser/Strauss 1993. Von Interesse ist insbesondere das Verhältnis von Bühnentechnik und menschlichen Körpern in Theaterorganisationen. Diese Relation ist als ›Mischung‹ von menschlichen und nicht-menschlichen Handlungsträgern beschreibbar (Vernetzungszusammenhang von Akteuren/Aktanten). Exemplarisch: Latour 1988. Nicolai 2017, 1.

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Fall wird eine Struktur beobachtet – das Scenarium –, die andere soziale Strukturen übersetzt, überliefert, transponiert und verzerrt. Die Art und den Grad der Verzerrung hilft der organisationsgeschichtliche Blickwinkel klarer zu beschreiben, indem Theaterorganisationen als eigentümliche »Wissenschafts-Praxis-Kontaktfelder«42 beobachtet werden. Sichtbar wird mittels des »Scenariums« das jeweilige Planungs- und Steuerungswissen, das für die kommunikativen Routinen in einem historischen Abschnitt charakteristisch ist. Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass (a) eine Rückkehr zu philologischen und hermeneutischen Methoden umgangen werden kann; und es unterbleibt (b) ein rollback zu den Entzifferungsgesten der Semiotik. Gleichsam ist dieser Blickwinkel aber auch eine Fortleitung der Performativitätstheorie im Sinne einer Praxeologie des Theaters: Denn ist nicht Organisation, im Sinne einer bewusst geschaffenen Ordnung, die Grundlage jeglichen Handelns?   Reden wir ganz zum Schluss dieses Beitrags über die Funktion eines Schibboleths. Dieses beschreibt bereits im alttestamentarischen Kontext (Tanach) eine besondere Art des Kennworts:43 Ein Shibboleth charakterisiert dadurch, wie es ausgesprochen wird, die regionale oder soziale Zugehörigkeit der Sprecher. Analog kennzeichnet das »Scenarium«, dadurch wie es bühnenseitig angewendet wird, die organisationale oder institutionelle Zugehörigkeit der Theatermacher, die es verwenden. Die jeweilige Umwelt an Handlungen, die das Scenarium komplementär zur Objektwelt beschreibt, wandelt 42 43

Kühl/Strodtholz/Taffertshofer 2009, 23. Dabei handelt es sich um ein Wort, das dazu dient, Gruppen von Menschen voneinander zu scheiden. Im biblischen Kontext war es dieses Wort selbst. Im Buch der Richter wird von der Folgenden unerhörten Prozedur berichtet: »Darauf sammelte Jiftach alle Männer aus Gilead und kämpfte gegen Efraim und die Männer aus Gilead schlugen Efraim. Die Efraimiter hatten gesagt: Ihr seid Flüchtlinge aus Efraim; Gilead liegt ja mitten in Efraim, mitten in Manasse. Gilead schnitt Efraim die Jordanfurten ab. Und wenn die Flüchtlinge aus Efraim sagten: Ich will hinüber!, fragten ihn die Männer aus Gilead: Bist du ein Efraimiter? Wenn er Nein sagte, forderten sie ihn auf: Sag doch einmal Schibbolet! Sagte er dann Sibbolet, weil er es nicht richtig aussprechen konnte, ergriffen sie ihn und machten ihn dort an den Furten des Jordan nieder. So fielen damals zweiundvierzigtausend Mann aus Efraim.« (Ri 12, 4-6). Trotz dieser hoch problematischen Hypothek des Schibboleth – schließlich geht es hier um fatale Formen der Ab- und Ausgrenzung – ist dieses heute in neutrale methodische Denkfiguren überführt worden: etwa wenn im Kontext digitaler Medien damit Kenn- oder Codewörter bezeichnet werden, die der Authentifizierung von Nutzern dienen.

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sich im Voranschreiten der Zeit durch Handlungsstile. In der Organisationsgeschichte des Theaters der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird das »Scenarium« insofern zu einem körpertechnischen Schibboleth, als sich dieses zu einer Art Dialekt militärischer und administrativer Organisationsweisen entwickelt – es dreht sich um effiziente, aber nicht minder »traditionelle, wirksame Handlungen«44 . Auf der Ebene der Bühnenhandlungen kommen neue Arten der ›Aussprache‹, ›Formulierung‹ und ›Lautung‹ hinzu: Die Töne werden nicht nur vernehmlich administrativer, sondern auch militärischer. Die europäische Schreibstubenherrschaft im Übergang vom Zeitalter der Revolution zu dem des Kapitals45 , die nun in Aufmärschen, Großbanketten und Schlachtszenen bildgewaltig in Szene gesetzt wird, materialisiert sich im Phantasma tabellarischer Übersichtlichkeit. Doch es wird nicht lange dauern, bis dieses Schibboleth – metaphorisch geredet – wieder anders ausgesprochen wird. Spätestens dann nämlich, wenn im neuro- und physiologischen Diskursumfeld Ende des 19. Jahrhunderts auch noch der »Gesichtsausdruck« und »das feine Spiel der Gesichtszüge« zum »nach aussen projicirten Scenarium cerebraler Aktionen«46 gerät. Die Anästhesie des Theaters setzt dann direkt im Gehirn an.

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45 46

In einem Vortrag am 17. Mai 1934 vor Anthropologen und Soziologen entwickelt Marcel Mauss seinen Begriff der »Körpertechniken« auf diese Weise. Er qualifiziert die »Körpertechniken«, fußend auf einem aktualisierten Verständnis der τέχνη, als »traditionelle, wirksame Handlungen«. Diese sind im Modus der hier vorgeschlagenen Historisierungsleistung von besonderem Interesse, da in dieser somatischen und handlungszentrierten téchne selbst etwas liegt, das einem Modell von Resonanz zuzuschlagen ist (vgl. Mauss 1996 [1936]). Die Periodisierung Zeitalter der Revolution (1789-1848) und Zeitalter des Kapitals (18481875) stammt von: Osterhammel 2009, 89. Schleich 1894, 135.

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Institution und Organisation Theaterforschung in der Spannung sozialer Ordnungen Benjamin Hoesch

Theater als soziale Ordnung Zu den unstrittigen, oft stumm mitlaufenden Gewissheiten allen Nachdenkens über Theater zählt, dass dieses ein Ort und Ereignis von Gesellschaft ist. Auch die Theaterwissenschaft stützt diese Annahme: Die Praxis »einer Person A, welche X verkörpert«, wird nur durch die notwendige Zusatzbedingung: »während S zuschaut«1 zu Theater, das sich somit erst als ein soziales Verhältnis von A und S – völlig unabhängig von jedem X – konstituiert. Schon in dieser Minimaldefinition zeigt sich jedoch, dass Gesellschaft nicht einfach als solche im Theater stattfindet, sondern in ganz spezifische Verhältnisse gefasst ist – die etwa A und S unterscheiden sowie durch die zeitliche und räumliche Zusammenführung ein Zuschauen ermöglichen. Theater gießt das Soziale in Formen und schafft so eine Ordnung, ohne die es von aller Kommunikation der Gesellschaft gar nicht unterscheidbar wäre. Diese hat es in der Geschichte in unzähligen Varianten ausgebildet – im antiken Drama und Geistlichen Spiel, in der Commedia dell’Arte und dem Bürgerlichen Trauerspiel, im Regietheater und in der Performance –, die immer auch untrennbar mit geregelten sozialen Konstellationen verbunden sind: dem Chor Athener Bürger, dem Marktplatz, den Wandertruppen, der stehenden Bühne, dem Ensemble, der Solo-Performerin. Auf welche Weise aber lassen sich soziale Ordnungen des Theaters erforschen und wie können die Dynamiken erfasst werden, die immer neue Erscheinungsformen ausbilden? Für das Verständnis von sozialer Ordnung möchte ich im Folgenden zunächst Konzepte theoretisch herleiten, um dann

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Fischer-Lichte 1983, 16.

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zu überlegen, mittels welcher methodischen Verfahren ihr Verhältnis zueinander untersucht werden kann. Theater als soziale Ordnung muss zweierlei garantieren: Gesellschaftsmitglieder dazu mobilisieren, sich in die Funktionen von A und S zu begeben – was sich erst durch die Entwicklung professionellen Schauspiels und die Formierung eines Publikums als allgemeine bürgerliche Öffentlichkeit auf Dauer stellen ließ; und eine grundsätzliche Nachvollziehbarkeit der Handlungen von A durch S etablieren und aufrechterhalten, ohne die es kein Zuschauen geben kann. Es sind die grundlegenden Probleme der Organisation, »unter welchen Bedingungen ein abgegrenzter Kreis von Mitgliedern sich ein als Arbeit definiertes, anforderungsreiches Verhalten zumuten läßt« und wie »Arbeitsvollzüge in die Form eines (mehr oder weniger rationalen) Entscheidungsverhaltens gebracht werden können«2 . Theater lässt sich als Organisation verstehen, die das Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure zu einem spezifischen Zweck koordiniert – besonders dann, wenn es als stehendes Unternehmen mit (relativ) geregelten Arbeitsabläufen und Hierarchien formalisiert ist.3 Worin aber haben die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Mobilisierung, ebenso wie die Attraktivität der Organisation ihren Grund? Wovon hängt ab, welches Entscheidungsverhalten als nachvollziehbar akzeptiert wird? Wie alle Organisationen operieren auch solche des Theaters nicht im sozialen Vakuum, sondern in gesellschaftlichen Umwelten, die bereits von Vorstellungen darüber durchzogen sind, was und wie Theater – jenseits seiner konkreten Umsetzung in der jeweiligen Organisation – ist oder sein sollte. Diese Vorstellungen werden als Bedingungen und Ansprüche der Organisation entgegengehalten und auch bei erfolgreicher Mobilisierung als Erwartung mit in diese hineingetragen. Gehen aber die Vorstellungen über Theater der konkreten Beteiligung in der Organisation voraus, so müssen sie stärker gesellschaftlich tradiert als individuell verfasst, stärker regelhaft als von Erfahrung abgeleitet sein. Eine solche Erwartungsstruktur wird gemeinhin als Institution bezeichnet. Institutionen ordnen gesellschaftliche

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Luhmann 1984a, Sp. 1327. Auf der Gegenseite der professionellen Arbeit von Theaterschaffenden ist auch Zuschauen ein anforderungsreiches Verhalten – und zwar nicht erst, seit AvantgardeBewegungen es immer wieder herausfordern und irritieren: Erving Goffman hat das Zuschauen gerade in einer konventionell modellierten Theateraufführung als »höchst bemerkenswerte Fähigkeit«, nämlich als rahmenanalytisch anspruchsvolle Wahrnehmungsoperation hervorgehoben (Goffman 1996, 165).

Institution und Organisation

Kommunikation und liefern Bezugsrahmen für Wahrnehmung und Handeln: »Alles gesellschaftliche Handeln wird nur durch Institutionen hindurch effektiv, auf Dauer gestellt, normierbar, quasi-automatisch und voraussehbar.«4 Damit steht jede soziale Praxis unter dem normativen Einfluss institutioneller Erwartungen: »Institutions are the rules of the game in a society or, more formally, are the humanly devised constraints that shape human interaction. In consequence, they structure incentives in human exchange, whether political, social, or economic.«5 Institutionelle Regeln sind für ihre Realisierung auf Organisationsformen angewiesen – seien es Familien, Unternehmen, Parteien, Universitäten, Sportvereine oder Theater –, die wiederum ihre spezifische Identität als Organisation nur durch Übereinstimmung mit diesen Regeln erhalten. Institutionen wirken als Instanz der »legitimen Ordnung«6 – indem sie sozialen Praktiken und Organisationen Legitimität verleihen, solange sie selbst legitimiert und geltend sind. Theater ist eine Institution, insofern es als kulturelle Selbstverständlichkeit mit regelhaften Erwartungen verbunden ist. Für Theater ist also immer dieser Doppelcharakter anzunehmen: als Institution vorausgesetzt, erwartet und eingefordert, als Organisation mobilisiert, entschieden und umgesetzt. Wird die soziale Ordnung des Theaters als ein Aufeinandertreffen von Organisation und Institution untersucht, kann dies nicht nur die ›Außenbereiche‹ von Produktionsbedingungen und Wirkungskontexten in den Blick nehmen, sondern Theater in seinem Kern betreffen. Will heißen: Das Aufeinandertreffen findet auf allen Ebenen von Theater statt – der Kulturpolitik, des Betriebs, der Produktion und der Aufführung –, auch wenn sich Institution und Organisation dabei in höchst unterschiedlichen ›Aggregatszuständen‹ zeigen.7 Die Spannung zwischen der Institution und der Organisation dürfte sich als eine zentrale Beziehung im Dispositiv des 4 5 6 7

Gehlen 1956, 48. North 1990, 3. Weber 2002, 16. Hervorhebung im Original. Dirk Baecker hält für die Institution Theater zwar die Unterscheidung von Organisation, Bühne und Publikum für wesentlich; diese führt allerdings das Unterschiedene jeweils in die Form seiner Unterscheidung wieder ein – mit dem Ergebnis, »dass Regisseure, die die ›vierte Wand‹ zu sprengen versuchen, Geschäftsführer und Kulturverwalter, die die Organisation des Theaters ,modernisieren‹ wollen, sowie Kulturpolitiker und Betriebswirte, die über die Vermittlung und das Marketing den Auslastungsgrad des Theaters erhöhen wollen, offenbar mehr miteinander zu tun haben, als auf den ersten Blick auffällt, und vor allem mehr, als es ihnen wechselseitig lieb sein dürfte.« (Baecker 2013, 124f.)

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Theaters8 und damit als Motor für dessen Dynamik und Produktivität erweisen. Dafür ist in der Theaterwissenschaft jedoch noch ein weiter Weg zu gehen; die verstreuten Ansätze der Institutions- und Organisationsforschung mussten bei allen Erkenntnissen zum Einzelfall bislang grundlegende Fragen offenlassen, etwa: Welche sozialen Ordnungsprinzipien sind für Theater fundamental, welche historisch kontingent – und in welchen Abhängigkeiten? Welche Verhältnisse (insbesondere der Abgrenzung oder der Nachahmung) bestehen zu Ordnungen anderer Künste und gesellschaftlicher Bereiche? Schließlich – und vielleicht am schwersten zu beantworten: Welcher Zusammenhang (wenn überhaupt einer) besteht zwischen der sozialen Ordnung von Theater und dessen Ästhetik? Eine tragfähige Institutions- und Organisationstheorie des Theaters steht also noch aus.9 Einstweilen können (und müssen) jedoch Fallstudien der institutionell und organisational interessierten Forschung den Rahmen für Anforderungen und Reichweite einer solchen Theorie abstecken. Die hier vorgeschlagene Perspektive will dafür mögliche analytische Ansatzpunkte markieren und auf Zusammenhänge und Dynamiken aufmerksam machen, in denen die Forschung mit Verwechslungen, Unschärfen, Paradoxien zu rechnen hat. Entsprechend wird auch kein systematisches Methodenprogramm vorgestellt, das an beliebigen Institutionen und Organisationen einfach abzuspulen wäre – ein solches stellen auch die empirischen Sozialwissenschaften nicht bereit.10 Stattdessen sollen die zentralen Begriffe und Prinzipien für eine Institutions- und Organisationsforschung so geklärt, konstelliert und im Weiterdenken wieder geöffnet werden, dass sie konkrete institutionell und organisational interessierte Beobachtungen des Theaters befruchten können. Implizit wird dabei auch einer weitverbreiteten Sorge begegnet, die entsprechende Forschungen in der Theaterwissenschaft – und den Geisteswissenschaften überhaupt – bislang hemmen mag: den Eigensinn des (primär, oder zumindest immer auch) ästhetisch bestimmten Gegenstands an eine betriebswirtschaftliche Logik von Angebot/Nachfrage-, Zweck/Mittel- und Kosten/Nutzen-Relationen zu verlieren, von denen jede Seite eindeutig zu ermitteln und ein optimales Verhältnis zu errechnen wäre. Tatsächlich haben die

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Vgl. Aggermann 2017; Klöck 2017; Aggermann/Siegmund/Holling/Döcker 2016. Beide Begriffe sind weder im Metzler Lexikon Theatertheorie (Fischer-Lichte/ Kolesch/Warstat 2014) noch im Theaterlexikon (Brauneck 2007) verzeichnet. Vgl. etwa Walgenbach/Meyer 2008; Hasse/Krücken 2005; Esser 2000.

Institution und Organisation

Wirtschaftswissenschaften die Organisationsforschung nie ganz für sich vereinnahmen können11 – die Institutionsforschung sogar noch weniger. Deshalb können Anleihen, die deren Postulate ernst nehmen und zu einem (immer vorläufigen) Ende denken, an dem sich Gesetzmäßigkeiten verflüssigen und Begriffe ihre Ambivalenz wiederbekommen, gerade eine dem geisteswissenschaftlichen Denken gemäße, eigene Antwort auf das drohende Primat des Wirtschaftlichen fundieren. Die vorliegende, teils systemtheoretisch, teils neo-institutionalistisch inspirierte Skizze12 möchte dazu beitragen.

Verwechslungen Kaum eine Einführung in das Forschungsfeld beginnt anders als mit der Mahnung, Institution und Organisation auseinanderzuhalten – besonders, weil die Alltagssprache oft als Institutionen bezeichnet, was für die Sozialwissenschaften formalisierte Organisationen sind.13 Wie eng jedoch gerade im Fall des Theaters beide Konzepte miteinander verzahnt sind, zeigt sich schon in einem oberflächlichen Blick über das Feld des Gegenwartstheaters: Theater – als professionell produziertes und öffentlich gefördertes KunstTheater in seiner breiten Ausdifferenzierung in Genres und Stile – ist eine Institution. Die 140 Stadt- und Staatstheater sowie 220 Privattheater, die diese Institution im deutschsprachigen Raum tragen, sind Organisationen unterschiedlicher Rechtsform.14 Die Volksbühne Berlin etwa ist eine davon, die nach der Rechtsform des Regiebetriebs zu verwalten ist – doch gleichzeitig ist das Haus mit seiner spezifischen Geschichte, politisch-kulturellen Bedeutung und Öffentlichkeit auch eine Institution; nur so sind etwa die Verwerfungen zu erklären, die die Entscheidung über die Besetzung der organisationalen Leitung mit dem belgischen Kunst-Kurator Chris Dercon und die damit einhergehende Neuorientierung der Organisation begleiteten. Andere Theater pochen dagegen vergebens auf ihren Status als Institution, um organisationalen Beschneidungen und Umbauten zu entgehen (z.B. Wuppertal) oder werden umgekehrt trotz der Infragestellung ihrer institutionellen Notwendigkeit durch organisationale Umwidmung gerettet (z.B. Augsburg). Unein11 12 13 14

Vgl. Luhmann 2006, 11-38. In dieser nach wie vor eher seltenen (eklektizistischen) Verknüpfung folgt sie dem Desiderat in Hasse/Krücken 2005, 95. Vgl. Hasse/Krücken 2005, 13-21; North 1990, 4f. Vgl. Schneidewind/Trockel 2017.

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deutigkeiten und Verwechslungen von Organisation und Institution sind also auch in der Praxis häufig und keineswegs folgenlos. Offenbar steckt in der Unschärfe der Alltagssprache ein Wissen um die Schwierigkeit und Durchlässigkeit der Unterscheidung. Entsprechend sollte sich auch die theaterwissenschaftliche Analyse vor voreiligen Zuweisungen hüten, was im Feld organisational und was institutionell verfasst ist. Von Interesse ist genau die Zone des Übergangs, wo Organisationsformen zur Institution werden und sich Institutionen organisational realisieren: Die Organisationen des Stadt- und Staatstheaters sind erst durch ihre Verbreitung, Kanonisierung, massive politische Unterstützung und soziale Anerkennung zu oft synonym verstandenen ersten Vertretern der Institution Theater geworden; für ihren Fortbestand sind sie auf den Erhalt der Institution öffentlicher Kulturförderung angewiesen, dem sie wiederum durch gesellschaftlich akzeptable Organisationspraktiken zuarbeiten können. Die Freie Szene, einst als nicht-institutionalisierte Alternative dazu begonnen, hat längst eigene Organisationsformen ausgebildet, die eine selbstbewusste Institutionalisierung anstreben. Theaterfestivals sind ein Modell für organisationale Flüchtigkeit,15 das zugleich auf Institutionalisierung angewiesen ist, damit die regelmäßige Wiederkehr des Festivals erwartet wird. Und auch im Einzelfall lassen sich Wechselwirkungen beobachten: Die Tumulte um die Organisation Volksbühne zu beenden, wird letztlich nur einer Leitung zugetraut, die – in der Person René Polleschs – auch durch deren Institution legitimiert ist.

Analyse (in) der Krise Während die Organisation sich also als klar begrenzte, greifbare soziale Einheit selbst definiert, bleibt die Institution eine zunächst diffuse Kraft, die sich erst »über den Effekt bzw. die Spur – also a posteriori – bestimmen lässt«.16 Das macht sie aber keineswegs weniger wirkmächtig – im Gegenteil: Institutionen regulieren durch ihre Objektivation und Naturalisierung bereits unbewusst als Selbstverständlichkeiten die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.17 Folglich bewegt sich auch die Analyse von Institutionen selbst

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Vgl. Elfert 2009. Seyfert 2011, 20. Vgl. Berger/Luckmann 1969, 58.

Institution und Organisation

in ihrem Geltungsbereich – die Institution entzieht sich der Betrachtung dadurch, dass man sich ihr nicht entziehen kann. Der Soziologe Dirk Baecker verortet deshalb klassisch theaterwissenschaftliche Analysen innerhalb der Institution ihres Gegenstands: »Man beschreibt die Geschichte des Theaters, die regionalen Varianten, die verschiedenen Gattungen, die zugrunde liegenden Ästhetiken, die Organisationsformen, die verschiedenen Formen gesellschaftlicher Akzeptanz und Einbettung, möglicherweise auch das Verhältnis zu anderen Künsten. Damit bewegt man sich jedoch streng im Rahmen der Institution. Man stellt sie nicht in Frage und kommt ihr nicht auf die Spur, sondern man unterscheidet nur Grade: Grade der Ausdifferenzierung, Grade der Entwicklung, Grade der Subtilität, Grade der Anerkennung.«18 Theaterwissenschaftliche Institutionsforschung läuft also Gefahr, von denselben normativen Strukturen reguliert zu werden wie ihr Gegenstand: »Wir müssen uns selbst in die Analyse einschließen […und] damit rechnen, dass wir bestimmte Selbstverständlichkeiten so sehr teilen, dass wir nicht auf die Idee kommen, sie zum Thema zu machen.«19 Baecker empfiehlt deshalb ein soziologisches Verfahren, um die Institution durch ihre Analyse im Wortsinn ›auflösen‹ zu können: »den Blick des Praktikers theoretisch zu rekonstruieren«20 . Ein solches Vorgehen kann jedoch nur produktiv werden, wenn Forscher*innen und Praktiker*innen nicht die gleichen selbstverständlichen Blindheiten teilen. Dem ließe sich zwar durch Strategien etwa der historischen oder kulturellen Distanzierung beikommen; doch auch damit ist institutioneller Einfluss schwer nachzuweisen – schließlich kann sich die Wirkmacht einer Institution als Selbstverständlichkeit insbesondere darin zeigen, dass von ihr nicht die Rede ist. Solange Institution und Organisation deckungsgleich aufeinanderliegen, wird die Wirkung der Institution weder der Praxis noch ihrer Analyse bewusst. Zum Glück (weil es analytische Zugänge erlaubt) und Unglück für die Forschung (weil es Wirkungszusammenhänge unendlich verkompliziert) ist diese spannungsfreie Entsprechung von Institution und Organisation nicht der Regelfall. Sozialer Wandel ist immer auch institutioneller Wandel, weil

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Baecker 2013, 115. Ebd., 121. Ebd., 119.

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Institutionen sich ändern, von neuen durchkreuzt werden oder gerade als unveränderte zu überkommenen Relikten ohne offensichtlichen Sinngehalt werden;21 dies muss das Gleichgewicht stören und lässt Institution und Organisation auseinandertreten. Die Institution zeigt sich immer erst in diesem Moment, wo sie ihre Selbstverständlichkeit verliert, ihre Geltung nicht mehr gesichert ist oder ihre Legitimität bröckelt – mit anderen Worten: in ihrer Krise. Für die Theaterwissenschaft bedeutet das zweierlei: dass ihre Institutions- und Organisationsforschung besonders aussichtsreich an Phänomenen und Epochen der krisenhaften Transformation von Theater, der De- und Re-Institutionalisierungen22 , ansetzen kann – und dass umgekehrt eine Zeit der tiefgreifenden Infragestellungen von Theater, seiner Funktion, Arbeitsweisen und Öffentlichkeiten für ihre theaterwissenschaftliche Durchdringung eine Institutions- und Organisationsforschung unverzichtbar macht.23 Die dahingehende Interessensverschiebung des Fachs in der jüngeren Vergangenheit ist demnach sicher kein Zufall. Die Krise einer Institution heißt in diesem Sinne übrigens nicht, dass damit der Weg zu ihrem Ableben und zur Existenzgefährdung der Organisationen, die sich auf sie berufen, bereits vorgezeichnet wäre. Institutionen ruhen neben ihrer kognitiv-kulturellen Verankerung als Selbstverständlichkeit noch auf weiteren Säulen, die bei deren Verlust tragen oder sogar ausgebaut werden – etwa einer regulativen der Verordnungen und Verträge sowie einer normativen der Wertbeimessung und Beurteilung.24 So können sich durchaus Organisationen in der Krise ihrer Institution einrichten und diese als Motor für Produktivität und Innovation nutzen. Mit Krise ist hier nichts anderes gemeint als die Transformationsdynamiken durch Verlust der institutionellen Selbstverständlichkeit eines organisationalen Status quo: Erwartungen und Ansprüche der Institution werden bewusst, zugespitzt und ausgehandelt – und Organisationen auf die Entscheidung hingedrängt, wie sie sich dazu verhalten.

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Vgl. Walgenbach/Meyer 2008, 85-114; Esser 2000, 367-399; North 1990, 73-104. Vgl. Seyfert 2011, 29-67; Walgenbach/Meyer 2008, 89-97. Letzteres ist die Ausgangsthese der überregionalen und interdisziplinären DFGForschungsgruppe 2734 »Krisengefüge der Künste – Institutionelle Transformationsdynamiken in den darstellenden Künsten der Gegenwart«, in deren Rahmen die vorliegenden Überlegungen entstanden sind. Vgl. Scott 2001, 52.

Institution und Organisation

Erwartung und Entscheidung Der Institution liegt also das Prinzip der Erwartung25 , der Organisation das der Entscheidung26 zugrunde. Jede Betrachtungsweise von Theater, die dessen Entscheidungen auf vorgängige Erwartungen bezieht – sei es im Feuilleton, in Aufführungsanalysen oder im vorreflexiven Gefallen/Missfallen –, bewegt sich – methodisch oder protomethodisch – im Spannungsfeld von Institution und Organisation. Mit diesem Spannungsfeld bewusst umzugehen, ist aber keineswegs banal und geht nicht in einem simplen Abgleich von feststehender Erwartung und festgestellter Entscheidung mit daraus folgenden Kategorisierungen und Urteilen auf; vielmehr sind beide Seiten hochgradig voraussetzungsreich und damit auch instabil, weshalb sie ihr Aufeinandertreffen nicht ungebrochen lassen kann. So bleibt an der Institution als Erwartung schon vor jeglichem Inhalt oder Bezug das Subjekt offen: Wer erwartet? Institution ist schließlich nicht die private Erwartung Einzelner – aufgrund persönlichen Geschmacks oder unterschiedlicher Wissensstände –, sondern eine allgemeine, sozial diffuse: ›es ist zu erwarten‹ oder ›man wird ja wohl erwarten dürfen‹. Genau dieser fundamentalen Offenheit verdankt die Institution die Möglichkeit ihrer Geltung: Jede konkrete persönliche Erwartungshaltung darf sich ihrer bedienen, sie kann – und muss! – jederzeit situativ aktiviert und aktualisiert werden.27 Und gleichzeitig kann sie angenommen und damit vorausgesetzt werden: Man kann sich auf sie als eine außerhalb individueller Vorlieben liegende, von vielen anderen Legitimationsgrundlagen gestützte und damit weithin geteilte Regel berufen. Beide Operationen können freilich auch schiefgehen: Der Zugriff auf die Institution als sozialen Erwartungsbestand setzt deren Kenntnis und damit bereits ihre Geltung voraus – und die Konstruktion einer allgemein geteilten Erwartung kann an den empirisch vorhandenen Haltungen vorbei ins Leere laufen. Ihre soziale Geltung sichern Institutionen entweder mit besonderer Rigidität – oder aber mit Unterbestimmtheit und Flexibilität, die ein weites Spektrum konkreter Erwartungshaltungen und Situationen unter eine Institution subsumierbar machen. Wenn es eine Stabilität, Starre, Trägheit der Institution gibt, dann nur, weil sie sich immer wieder ›bewährt‹ – und das

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Vgl. Jaeggi 2009, 532f.; Esser 2000, 69-92. Vgl. March/Simon 1993, 3; Luhmann 2006, 9; Tacke/Trepper 2018, 31-74. Vgl. Jaeggi 2009, 543.

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heißt: modifiziert, alteriert, dies aber unbemerkt lässt. Auch hierin lauert jedoch wieder die Gefahr des Geltungsverlusts, durch die Aushöhlung des Sinns einer Regel und die Kreuzung verschiedenster, einander widersprechender Erwartungen: Die Institution kann sich ihrer Geltung nie gewiss sein, wenn sie in Organisationen auf eine Entscheidung trifft. Daher macht sich die Erwartung auf ihre Nichterfüllung gefasst, die selten zum Abbruch der Begegnung mit der Organisation führt (welchen Bezug hätte die Institution sonst auch?), häufiger entweder zum vorwurfsvollen Beharren auf den eigenen Standpunkten – oder auch zur Korrektur, Verschiebung, Erweiterung der Erwartungshaltung.28 Insbesondere Institutionen der Kunst ist eine Volte möglich, die beides – Festigung der Erwartung als Anspruch und ihre ständige Überschreitung – vereint: die Erwartung des Unerwarteten. In allen Fällen stehen die Entscheidungen der Organisation unter wertender Beobachtung. Theater im Hinblick auf Entscheidungen zu betrachten, die es konstituieren, ist keineswegs selbstverständlich. Nicht Räume, Rollen, Sprache, Körper, Atmosphären, Emergenzen und ihre Erfahrung sind demnach das Primärmaterial von Theater, sondern das System von Entscheidungen, das einige von ihnen geplant entstehen lässt und dabei unzählige andere ausschließt. Entscheidungen sind auf allen Organisationsebenen auszumachen – etwa der Kulturpolitik über Rechtsform und Mittelzuweisungen, des Betriebs über Engagements und Budgets, der Produktion über Stückauswahl und Besetzung, der Inszenierung über Textstriche, Spielweise, Kostüme etc.; als Gegenstand der Analyse werden diese hinterfragbar: Die Perspektive auf Theater als Organisation unterstellt, dass die Entscheidung in diesem Moment am konkreten Gegenstand der Beobachtung getroffen wird und nicht längst allgemeingültig gefallen ist – etwa durch die gesellschaftliche Indienstnahme des Theaters, den Autor des dramatischen Texts, das Geschlecht von Rolle und Schauspieler*in. Das Erkenntnispotential der Organisationsanalyse liegt also zunächst darin, die Praxis der Organisation ihrer institutionellen Selbstverständlichkeit zu entheben. Während historisch betrachtet erst relativ spät, nämlich mit der Ausdifferenzierung der Kunst, überhaupt sinnvoll nach darin eigenlogisch getroffenen Entscheidungen zu fragen ist, drängen theatrale Organisationsformen der Gegenwart die Beobachtung ihrer Entscheidungen geradezu auf: Das Regietheater stellt die inszenatorischen Entscheidungen in der

28

Vgl. Jaeggi 2009, 543; Luhmann 1984b, 437.

Institution und Organisation

Haltung gegenüber einem dramatischen Text in den Vordergrund,29 das Performancetheater solche über das Format der Aufführung,30 die Programmauswahl thematisiert ihre Entscheidungen zunehmend selbst als Kuration31 . Die hier akzentuierten Praktiken stehen in anderen Epochen und Organisationsformen des Theaters so sehr außer Frage, dass es in ihnen überhaupt nichts zu entscheiden gibt. Nun findet die Entscheidbarkeit ihre Entsprechung auch auf der Rezeptionsseite: Der Theaterbesuch ist längst von der unhinterfragten sozialen Pflicht des Bürgertums zur Konsumentscheidung einer Kundschaft geworden, um die es zu werben gilt. Das alles ist auffällig in einer Zeit, die die Grundlagen von Entscheidungsmacht – autonome Subjekte, transparente Medien, eindeutige Kommunikation etc. – längst grundlegend in Zweifel gezogen und weitgehend verabschiedet hat. Die entscheidungsstarken Organisationen des Theaters erweisen sich somit als »Kompensationseinrichtungen (Supplemente)«32 für die tatsächliche Unmöglichkeit der Entscheidung: Organisationale Entscheidungen sind dadurch gekennzeichnet und müssen gleichzeitig kaschieren, dass sie immer »in einem Netzwerk früherer und künftiger Entscheidungen« stehen, das ihre Alternativen und Reichweiten schon eng eingegrenzt hat.33 Hier liegt die grundlegende Problematik einer reinen Organisationsanalyse: Sie kann zwar Ensemblezusammenstellungen, Programme und auch Inszenierungen auf die darin getroffenen Entscheidungen hin untersuchen (oder auch markieren, wo diese ›unentschieden‹ bleiben); dabei stünde die Analyse jedoch vor der Wahl, entweder jede Entscheidung als unabhängig zu behandeln, ohne ihr Eingespanntsein in Hierarchien und Entscheidungsketten zu berücksichtigen – oder aber die hierarchische Kausalität dieser Ketten zu verfolgen und damit die tatsächliche Relevanz von Entscheidungen immer weiter nach oben zu verschieben: Jede Entscheidung könnte dann etwa letztlich auf die Entscheidung der finanziellen Mittelzuweisung zurückgeführt werden, die alle anderen zur bloßen Verwaltung von Ressourcenknappheit degradiert. Eine solche Heteronomie und Fiktionalität von Entscheidungen gilt nicht minder für die Organisation der Forschung selbst: Gemäß institutioneller Erwartung der Wissenschaft wird Forschungsleistung immer auch auf ihre Ent29 30 31 32 33

Vgl. Gutjahr 2008. Vgl. Baecker 2013. Vgl. Malzacher 2010. Baecker 2004, 99. Ebd., 101. Zur Paradoxie des Entscheidens vgl. auch Luhmann 2006, 123-151.

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scheidungen hinsichtlich der Auswahl von Fallbeispielen, Untersuchungsmaterial und Methoden geprüft. Deren wohlbegründete Darlegung – prospektiv in Forschungsanträgen und retrospektiv in der Publikation von Ergebnissen – überspielt, dass der tatsächlichen Forschungspraxis in der Begegnung mit dem Feld solche Entscheidungen in großen Teilen abgenommen werden und wesentlich von Zugangsentscheidungen der untersuchten Organisationen, der Auskunftsbereitschaft verantwortlicher – sprich: entscheidender – Personen, sowie der Verfügbarkeit, Zusammenstellung und Herausgabe von Materialien abhängen. Die Organisation von Organisationsanalysen begibt sich also selbst in das Netzwerk von Entscheidungen und kann es sich dabei – jenseits von Antragsrhetorik – nicht leisten, bestimmte Methoden von vornherein auszuschließen, weil unvorhersehbar ist, für welche sich im Feld Ansatzpunkte auftun: In der ›organisierten Anarchie‹ der Organisationsforschung sind Methoden ganz im Sinne des ›Garbage Can Model‹ Lösungen, die nach einem Problem suchen, auf das sie passen könnten, und die Forschenden »arrive at an interpretation of what they are doing and what they have done while in the process of doing it«34 . Aus der Alternative der Organisationsanalyse zwischen fiktiver Entscheidungsautonomie und der Indifferenz vollkommen fremdbestimmter Entscheidungen eröffnet erst wieder die Verschaltung mit der Ebene der Institution einen Ausweg: In ihrer Auseinandersetzung mit organisationsexternen und diffusen Erwartungsnormen erhalten Entscheidungen – von Intendant*innen und Kurator*innen, Ausstatter*innen und Betriebsrät*innen, Regisseur*innen und Schauspieler*innen, schließlich auch von Wissenschaftler*innen – paradoxerweise ihren Spielraum gegenüber einer rein funktionalistischen Organisationshierarchie zurück, ohne in die Fiktion der autonomen Entscheidung zu fallen; schließlich können sie die Erwartung nicht nur erfüllen oder ignorieren, sondern diese offenlegen, kreativ unterlaufen, gegen sich selbst wenden, mit ihr spielen und dabei auf ihre

34

Cohen/March/Olsen 1972, 2. Das sog. Garbage Can Model betrachtet die Organisation als Ansammlung von bereits verfügbaren Entscheidungen, Problemen und Lösungen, die in begrenzter Zeit und Aufmerksamkeit zusammengeführt werden – damit die Entscheidungsträger ihre Arbeit behalten. Auch wenn nicht explizit auf die Methodenfrage bezogen, beansprucht das Modell Gültigkeit insbesondere in universitären Organisationen, vgl. ebd., 11.

Institution und Organisation

Veränderbarkeit spekulieren35 – und bei alldem die Institution als Argument gegen hierarchisch vorgelagerte Entscheidungen ins Feld führen.

Kommunikation Freilich ist für all das – die Behauptung von organisationaler Entscheidungsstärke durch die reflexiv-kreative Auseinandersetzung mit der Institution – unter Praktiker*innen sehr viel kommunikative Arbeit und Kompetenz erforderlich. Die Institutions- und Organisationsforschung schaltet sich in diese Kommunikation ein und macht sie durch deskriptive, qualitativ-inhaltsanalytische und diskursanalytische Verfahren zu ihrem Material. Die Herausforderung dabei besteht darin, unterschiedlichstes Material zu integrieren – wie etwa Programmhefte und Websites, Presseberichterstattung, schriftliche Befragungen und Interviews, die Theaterstatistik des Deutschen Bühnenvereins, Publikumsgespräche, Aufzeichnungen zu informellen Gesprächen und teilnehmender Beobachtung, Beschreibungen architektonischer und sozialer Raumstrukturen, Proben- und natürlich auch Aufführungsprotokolle. In dieser Überfülle infrage kommenden Materials ist die Vollständigkeit eines systematisch durchzuarbeitenden Korpus kein sinnvolles Ziel. Vielmehr müssen die vielschichtigen Zusammenhänge zwischen einzelnen, paradigmatisch ausgewählten Kommunikationsmaterialien im Fokus stehen – Zusammenhänge, die sich oft deshalb nicht vereindeutigen lassen, weil Kommunikation zwischen Institution und Organisation nie transparent und stabil kursiert. Eine Grundregel der Organisationstheorie besagt: Soziale Kommunikation ist diffus – in der Organisation erst wird sie spezifisch in Form, Übertragungswegen und Inhalt.36 Wieder stellt sich der Analyse eine Seite – die Organisation – explizit und klar greifbar dar, während die andere – die Institution – formlos bleibt und sich nur in ihren Effekten auf organisierte Kommunikation zeigt, d.h. in etwas anderem, als sie ist. Die Analyse tut deshalb gut daran, Bezugnahmen auf die Institution nicht mit dieser selbst zu verwechseln und vielmehr genau darauf zu achten, wem aufgrund einer organisationalen Position – in der Intendanz, im Feuilleton, im Betriebsrat etc. – welches Gewicht in der kommunikativen Spezifizierung einer Institution zukommt.

35 36

Zur Handlungsfähigkeit in normativen Strukturen zwischen Reproduktion und Transformation vgl. Emirbayer/Mische 1998. Vgl. March/Simon 1993, 21f.

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Weil die Institution für ihre Geltung durch organisationale Kommunikation (re)konstruiert werden muss, kann sie strategisch in Dienst genommen werden – sie kann aber auch als paradoxe Erwartung des Unerwarteten den unbestimmbaren Hintergrund abgeben, vor dem die organisationale Kommunikation in ihrer Struktur, ihren Bestimmungen und ihren implizit bleibenden Interessen befragbar wird. Jede Organisation kommuniziert über Grundsatz- und Einzelentscheidungen, welcher institutionellen Erwartung sie sich primär verpflichtet fühlt: der Kulturpflege oder dem Avantgarde-Experiment, dem Erzählen von Geschichten oder der politischen Auseinandersetzung, der Hochkultur oder dem allseits zugänglichen Event, der Stadt oder dem internationalen Markt. Dabei steigt jedoch der Druck, diese Erwartungen (und noch viele weitere) alle in einer Organisation zu bedienen – was die selbstprofilierende Auswahlentscheidung wieder entkräftet. Die Organisation kann auch nie behaupten, einen dieser Ansprüche endgültig erfüllt zu haben, sondern immer nur die Entscheidungen und Maßnahmen kommunizieren, die in deren Sinn getroffen wurden. Mit der diskursiven Festschreibung scheinbarer Gewissheiten über die Institution wird jedoch Macht über organisationale Entscheidungen reklamiert: Annahmen darüber, ›was die Leute wollen vom Theater‹ oder welche Ästhetiken man ›dem Publikum zumuten kann‹, wirken ausschließend und begrenzen die Möglichkeiten organisationaler Entscheidung – umgekehrt kann aber auch der gefühlte Druck, welche Identitätspolitik ›gerade gefragt‹ ist oder welche vernachlässigten Publikumsmilieus man ›erreichen‹ müsse, neue Wege eröffnen. Theaterwissenschaftliche Institutionsforschung sollte daher auch bedenken, welcher organisationalen Agenda ihre Analysen zuarbeiten: Es gibt durchaus hegemoniale Verfahren etwa der Publikumsabstimmung oder der Kritiker*innen-Umfrage, um diffuse Kommunikation in den Jargon der Organisation zu übersetzen und damit Erwartungen in etablierten Entscheidungswegen über erprobte Strategien bearbeitbar zu machen. Eine kritische Institutions- und Organisationsforschung kann dagegen rezeptartige Auseinandersetzungen aufbrechen, indem sie alternative Ermittlungswege der Institution aufzeigt und im Diskurs auch anderen Kommunikationen der Erwartung Gehör verschafft. Der Soziologe Robert Seyfert hat angemahnt, in der Analyse auch vernachlässigte Kommunikationswege, etwa »die Bedeutung von institutionellen Gerüchen, Geräuschen etc.«37 zu berücksichtigen, 37

Seyfert 2011, 18.

Institution und Organisation

mithin einer institutionellen Affektivität Ausdruck zu verleihen, die durch die ›Einrichtung‹ spezifischer institutioneller Zeiten und institutioneller Räume hindurch wirkt. Damit erst ließe sich überlegen, ob die Bindungswirkung bestimmter Formate wie z.B. Theaterfestivals vielleicht stärker in der institutionellen Affektivität begründet liegt als in den organisationalen Entscheidungen über das Programm – oder ob umgekehrt die affektive Kommunikation von Räumen und Zeitstrukturen eine organisationale Programmatik unterminiert. Solche Gegenentwürfe bleiben nicht in atmosphärischen Beschreibungen hängen, sondern stellen die Gewissheiten über die Institution und damit ihre Stabilität als Bezugspunkt organisationaler Kommunikation infrage. Jede Auseinandersetzung über die Bestimmung geltender Institutionen ist deshalb so folgenreich, weil diese wiederum für die Organisation und ihre Entscheidungen bestimmend werden.

Legitimationsmythen Gegenüber anderen Feldern mit relativ klaren Aufgaben, gesicherten technischen Verfahren und messbaren Zielen ist für das Theater von einer besonders hohen institutionellen Abhängigkeit auszugehen38 – und zwar ungeachtet seiner staatlichen Subventionierung oder kommerziellen Ausrichtung: Theater kann eben nicht gesellschaftlich unbeobachtet seiner Funktion nachgehen, sondern sucht die Öffentlichkeit und riskiert im Aufeinandertreffen mit deren Erwartung die eigene Legitimität immer wieder aufs Neue. In solchen Organisationen werden in der Regel nach außen »rituals of conformity«39 mit geltenden Legitimationsmythen aufgeführt; als solche ermöglichenden und zugleich verpflichtenden Begründungszusammenhänge dienten dem Theater vormals etwa der Kult und die politische Repräsentation, dann die Moral und bürgerliche Identifikation, schließlich die Nationalkultur, Pflege kulturellen Erbes oder Demokratisierung – heute wird eher auf Leitideen wie kulturelle Bildung, aktuelle politische Relevanz oder Nachwuchsförderung zurückgegriffen. Mit den tatsächlichen Arbeitspraktiken einer Organisation muss die ›zeremonielle‹ Befolgung der Legitimationsmythen allerdings nichts zu tun haben, wenn sie von diesen strukturell entkoppelt wird: 38 39

Vgl. DiMaggio/Powell 1983, 157. Ebd., 150.

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»To maintain ceremonial conformity, organizations that reflect institutional rules tend to buffer their formal structures from the uncertainties of technical activities by becoming loosely coupled, building gaps between their formal structures and actual work activities.«40 Tatsächlich sind für Theaterorganisationen strukturelle Entkopplungen prägend – etwa zwischen Sparten und Gattungen, künstlerischem und nichtkünstlerischem Personal, Repertoire und Festivals, in jedem Fall grundsätzlich zwischen Produktion und Aufführung. Theater können so nicht nur gegenläufige institutionelle Ansprüche befriedigen; vor allem können sie ihre erprobten Arbeitsabläufe vor sich wandelnden institutionellen Erwartungen abschirmen und so auch dann im Kern beibehalten, wenn sie nach Außen längst Bereitschaft zu Reform oder Experiment demonstrieren. Die Institutionsund Organisationsforschung muss mit dieser strategischen Doppelbödigkeit der organisationalen Kommunikation rechnen und sollte ein gewisses Misstrauen pflegen gegenüber den Selbstdarstellungen der Organisation – ob in ihrer Öffentlichkeitsarbeit oder ihren Inszenierungen. Die Herausforderung besteht darin, die strategischen Funktionen von Entkopplungen aufzuzeigen und ihnen soweit möglich mit analytischen Rück-Kopplungen – etwa zwischen Wertediskursen und Organisationshierarchien, Kulturpolitik und Arbeitsbedingungen, mimetischer und politischer Repräsentation, Ressourcen und Ästhetik, Technik und Kunst etc. – zu begegnen. Dabei sollte Institutions- und Organisationsforschung aber gerade die künstlerische Praxis und ihre Aufführungen nie zu reinen Verschleierungen der ›tatsächlichen‹ organisationalen Arbeitsweisen abqualifizieren – denn das hieße, die transformatorische Kraft von Theatralität und Fiktion deutlich zu unterschätzen: Wenn Theater ideale Entstehungsbedingungen seiner selbst fingiert, wo diese nicht vorliegen, verweist es nicht nur legitimierend auf die Organisation – es macht auch erst andere Bedingungen vorstellbar und markiert in seinen ästhetischen Reibungen, Leerstellen und Brüchen, wo die Widerstände dagegen liegen. Theater ist mehr als nur organisationale Kommunikation; vielmehr stellt es die Möglichkeit und Dynamiken jeder Kommunikation auf die Probe.41

40 41

Meyer/Rowan 1977, 341. Vgl. Luhmann 1996, 82-91.

Institution und Organisation

Ausweitung des Sozialen in der Aufführung Jede Aufführung arbeitet mit der Spannung und bearbeitet das Verhältnis zwischen Theater als Organisation und Theater als Institution. Das gilt nicht nur für die zunehmende Zahl von Theaterarbeiten, die sich auf Praktiken der Institutional Critique beziehen;42 die explizit fiktive und modellhafte Institutionen und Organisationen entwerfen und zum Leben erwecken;43 die sich als instituierende Praxen der Kategorisierung in bestehenden Strukturen entziehen und zugleich den transversalen Austausch mit nichtkünstlerischen Kritikformen suchen;44 die sich schließlich als applied theatre in den Dienst anderer institutioneller und organisationaler Kontexte stellen.45 In all diesen Tendenzen kann die krisenhafte Spannung zwischen Institution und Organisation schon explizit adressiert werden und bewirkt somit die Ausformung neuer Genres mit eigenen institutionellen Erwartungen und organisationalen Strategien. Für die Institutions- und Organisationsforschung bieten sie zweifellos aufschlussreiches Anschauungs- und Veranschaulichungsmaterial; der grundlegenden Bedeutung ihrer Perspektive wird sie aber nur gerecht, wenn sie für jede künstlerische Praxis eine bislang vernachlässigte Operation als zentral annimmt: durch die Kommunikation von Entscheidungen die eigene Organisationsform mit Anspruch und Erwartung der Institution ins Verhältnis zu setzen – ob dieses Verhältnis nun konzeptuell am Anfang steht, im künstlerischen Prozess nach und nach austariert wird oder sich erst im Moment des Öffentlichwerdens herstellt. Ausgehend von, aber nicht aufgehend in der Unterscheidung »stimmig/unstimmig unter der Zusatzbedingung hoher Komplexität, also selbsterzeugter Schwierigkeiten«46 , setzt dieses Verhältnis eine grundsätzlich unvorhersehbare und sprachlich nie vollends einzuholende Beziehungsdynamik in Gang: Die Aufführung »selbst engagiert die Beobachter mit Wahrnehmungsleistungen, und diese sind diffus genug, um die Bifurkation des ›ja oder nein‹ zu vermeiden. […] Auf diese Weise wird eine unnegierbare Sozialität erreicht.«47 Die Institutions- und Organisationsforschung könnte mit ihrem Blick auf diese Dynamik auch das Verständnis für solche Theaterarbeiten erweitern, die 42 43 44 45 46 47

Vgl. Wihstutz 2018. Vgl. Blanga-Gubbay/Piazza 2016; Mohren/Herbordt 2015. Vgl. Nowotny/Raunig 2016. Vgl. Bala 2017. Luhmann 1996, 317. Ebd., 36.

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sich des diskursiven Kommentars zur sozialen Ordnung enthalten, aber mit überraschenden Organisationsformen die institutionelle Erwartung irritieren.48 Dafür dürfte sie jedoch die Aushandlung von Institution und Organisation nicht mehr nur auf sprachliche Kommunikation49 von ausschließlich menschlich-subjektiven Erwartungen und Entscheidungen begrenzen, sondern müsste in Rechnung stellen, dass Ansprüche, Beobachtungen und Entscheidungen auch von nicht-menschlichen Akteuren ausgehen können:50 von Texten und Diskursen, Räumen und Atmosphären, Licht und Klängen, Materialien und Apparaten. Diese künstlerischen Einsätze und ihre Analyse können die soziale Ordnung des Theaters auf bisher nicht vorgesehene Bereiche und Mitglieder ausweiten – verlassen können sie diese Ordnung nicht.

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48 49 50

Exemplarisch für einen solchen Versuch vgl. die Perspektive auf die künstlerische Praxis Heiner Goebbels’ in Hoesch 2020. Vgl. Luhmann 1996, 39-48. Vgl. Baecker 2013, 7; Seyfert 2011, 211-214.

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Zur Praxeologie des Theaters Stefanie Husel

In den vergangenen rund 20 Jahren erfreut sich die Familie der sozial- und kulturwissenschaftlichen Praxistheorien zunehmender Beliebtheit auch in der Theater- und Performance-Wissenschaft.1 Gemeinsam haben die Mitglieder dieser Theoriefamilie, dass sie Sozialität und Kulturelles als in konkreten Praktiken ausagiert und aufbewahrt begreifen. Entsprechend fokussieren Praxistheorien auf Materialität und Korporalität, auf Prozesshaftigkeit und Teilnehmerschaft. Sie fragen nach dem praktischen Erwerb von Fertigkeiten, nach der Ordnung sowie der Logik der Praxis; damit wenden sie sich gegen ein traditionell ausgerichtetes Handlungs-Konzept, das an Akteure und deren Intentionalität gekoppelt ist.2 Praxistheorien besitzen insofern eine große, zugleich aber auch noch wenig bestimmte Schnittmenge mit den Theaterund Performance-Wissenschaften, die sich im beidseitigen Interesse an der Performativität des Sozialen/Kulturellen begründet.3 Darüber hinaus entsteht inzwischen eine Kontaktzone zu Ansätzen künstlerischer Forschung, da in beiden Kontexten Fragen nach dem situativen und verkörperten Wissen und den Spielregeln kultureller Begegnungen zentrale Bedeutung gewinnen. Mein Beitrag möchte aufzeigen, dass theaterwissenschaftliche Methodologie praxistheoretisch neu justiert werden kann, indem über Feldzugänge, Aufzeichnungsweisen, (bislang stummes) Teilnehmerwissen, Feldtheorien u.v.a. reflektiert wird; besonderes Augenmerk liegt dabei auf einer Episteme

1

2 3

Als Indikatoren und Eckpunkte dieses practice turn wären die Sammelbände Performativität und Praxis (Kertscher/Mersch 2003) sowie Performance und Praxis (Klein/Göbel 2017) zu nennen – in ersterem liefern einzelne Theaterwissenschaftler ihre Perspektive auf das Theorem der Performativität, um praxistheoretische Positionen zu bereichern, während in zweiterem gezielt Positionen aus der Theater- und Performancewissenschaft mit solchen der Praxistheorie verschränkt werden. Vgl. hierzu z.B. Hirschauer 2016. Vgl. hierzu ausführlich Klein/Göbel 2017b.

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des Spiels, die in der Kontaktzone zwischen Praxistheorie und Theaterwissenschaft besonders fruchtbar gemacht werden kann. Ein Blick in den Kontext künstlerischer Forschung soll dieses Unternehmen komplementär ergänzen, und dazu motivieren, die jeweilige Nähe und/oder Distanz zwischen Gegenstand und Forschungsvorhaben aktiv und explizit zu reflektieren. Zunächst möchte ich einen knappen Überblick über die Genese der sozialund kulturwissenschaftlichen Praxistheorien bieten (1), um im Anschluss die theoretischen Berührungspunkte mit der Theater- und PerformanceWissenschaft sowie der sogenannten künstlerischen Forschung zu benennen (2); darauf möchte ich mögliche methodologische Auswirkungen auf die Verfahrensweisen der Theaterwissenschaft diskutieren (3), um abschließend (4) ein Plädoyer für eine Praxeologie des Theaters zu halten.

Das Feld der sozial- und kulturwissenschaftlichen Praxistheorien In seinem 2003 erschienen Aufsatz »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken« fasst Andreas Reckwitz die Grundzüge von Praxistheorien zusammen: Er gruppiert dort Theorien und Methodologien aufgrund des ihnen gemeinsamen Forschungsinteresses und ihres spezifischen Blicks auf das Soziale und/oder Kulturelle, mit dem sie sich von anderen Theoriefamilien abgrenzen lassen.Anstatt die Grundlage des Sozialen/Kulturellen in abstrakten Strukturen und Strukturgesetzen, oder aber ›in den Köpfen‹ von Akteuren zu verankern, zeichnen sich Theorien der Praxis dadurch aus, dass hier Praktiken als der Ort des Sozialen bzw. des Kulturellen identifiziert werden:4 »Das Soziale ist hier nicht in der ›Intersubjektivität‹ und nicht in der Normgeleitetheit, auch nicht in der ›Kommunikation‹ zu suchen, sondern in der Kollektivität von Verhaltensweisen, die durch ein spezifisches ›praktisches Können‹ zusammengehalten werden.«5 Doch was genau ist in diesem Zusammenhang überhaupt unter dem Begriff Praktiken zu verstehen? Eine im Umfeld von Praxistheorien häufig herange4

5

Vgl. Reckwitz 2003, 283. Im Folgenden werden die Begriffe Theorien der Praxis und Praxistheorien synonym verwendet, als Bezeichnung für die genannte Theorie-Familie. Den ebenfalls im vorliegenden Aufsatz prominent genutzten Begriff der Praxeologie beziehe ich darüber hinaus auch auf praktisches Wissen und Teilnehmer-Theorien (zu letztgenannten Konzepten vgl. unten). Ebd., 289.

Zur Praxeologie des Theaters

zogene Definition stammt aus der Arbeit des Geographen Theodore Schatzki mit dem Titel Social Practices; dort wird »practice as a temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings«6 gefasst. Mit Schatzki geht es der Praxistheorie darum, das wissenschaftliche Interesse zentral auf das zu lenken, was Menschen tun (und dabei ggf. sagen) – wobei die genaue Verortung dieses »Sagens« derzeit noch diskutiert wird.7 Praktiken entfalten sich darüber hinaus quer zu ihren Teilnehmern und zu den mitwirkenden Artefakten; daher nutzen Praxistheoretikerinnen auch Begriffe wie »Partizipanden«, anstatt von Akteuren und/oder Objekten zu sprechen.8 Zum »Nexus« einer Praxis zählen also (intendierte ebenso wie unbewusste) Tätigkeiten, ihre Teilnehmer, die sowohl menschlicher als auch tierischer Natur sein können, weiterhin Artefakte, Medien, u.v.a. Um ein alltägliches Beispiel zu verwenden, würde zur Praxis des Pokerspielens also sowohl das sachkundige Hantieren mit den Spielkarten, wie das Aussprechen folgenreicher Äußerungen (»Ich erhöhe auf 500« o.ä.) gerechnet werden, auch das auf unterschiedliche Akteure verteilte formale Wissen um die Spielregeln und deren Anwendung, wie ggf. die Nutzung schriftlicher Spielanleitungen, weiterhin das implizite oder sogar eingekörperte Wissen zur Wahrung des sprichwörtlichen eigenen, sowie das Wissen über das Lesen gegnerischer Pokerfaces usw. Das Beispiel des Pokerns bringt eine Heuristik des Spiels nahe, wie sie Praxistheoretiker Robert Schmidt nutzt, um in seinem Überblickswerk verschiedene Praxistheorien auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen,9 und wie ich sie in meiner Studie Grenzwerte im Spiel vorschlage, um theaterwissenschaftliche mit sozialwissenschaftlichen Vokabularien zu verbinden:10 »Die sozialen Spiele sind strukturiert, jedoch werden diese Strukturen in den Spielen selbst erzeugt, transformiert und (als von vergangenen Spielen in

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8 9 10

Schatzki 1996, 89. So steht zur Debatte, ob Diskurse als Untergattung von Praktiken zu verstehen wären – Hirschauer 2016 beantwortet dies beispielsweise abschlägig, indem er Diskurse als eine Art Infrastruktur bzw. eine mediale Voraussetzung für Praktiken der Äußerung begreift (vgl. Hirschauer 2016, 58). Vgl. Hirschauer 2004. Vgl. Schmidt 2012, 38f. Vgl. Husel 2014, 29f. und 37-72; im Sammelband Spiele spielen (Kreuder/Husel 2018) sind ebenfalls zahlreiche Ansätze vereint, die sich unter Nutzung von SpielBegrifflichkeiten theater- und medienpraktischen Fragen widmen.

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den Körpern niedergelegte oder in Artefakten materialisierte) Strukturierungen aktualisiert.«11 Praktiken im Rahmen einer Spielheuristik als zentrale analytische Einheit zu betrachten, bringt (neben den genannten von Struktur und Handlung) noch zahlreiche weitere traditionelle Polaritäten sozial- und kulturwissenschaftlicher Theorie ins Wanken – denn als ein »nexus of doings and sayings« und soziokulturelle Spiele sind Praktiken zugleich als materiell und als ideell beschreibbar, sie sind transitorisch, performativ, sie oszillieren zwischen Partizipanden, Situationen und übergreifenden Strukturen (wie z.B. Institutionen); zudem wandern Praktiken, sind also weder an einzelne Akteure noch an geografische Zusammenhänge gebunden, sie können also weder zur Gänze als lokal und situativ noch als global umfassend begriffen werden: Die Praxis des Pokerns beispielsweise wird an unzähligen Orten von unzähligen Spielern in immer neuer Weise aus- und zugleich aufgeführt; und doch kann diese Praxis als solche überhaupt nur identifiziert werden, überdauern, sich langsam verändern etc., indem zahlreiche Partizipanden immer wieder aufs Neue konkret, lokal und situativ an dieser Praxis beteiligt sind.

Ein praxeologischer Performativitätsbegriff Ich möchte im Folgenden diejenigen praxeologischen Konzepte/Theoreme herausheben, die im theaterwissenschaftlichen und performancetheoretischen Kontext interessant werden, und die von ihren inzwischen zahlreichen Nutzern favorisiert werden.12 Zentral ist hierbei mit Sicherheit das Konzept der Performativität zu nennen, bezogen auf den präsentierenden Vollzug von Handlung (bzw. Praktiken), als die immer wieder aufs Neue praktizierte, konkrete und wirklichkeitskonstituierende Komponente der Be-Deutung. Da die mit diesem Begriff assoziierbaren Themen im Grenzbereich zwischen Theater- und Praxistheorie so divers wie zahlreich sind, möchte ich Performativität anhand dreier semantischer Felder diskutieren: So kann Performativität als besonders durch Iterativität und Mimesis gekennzeichnetes 11 12

Schmidt 2012, 40. Als theater- bzw. performancewissenschaftlich und zugleich praxistheoretisch ließen sich z.B. folgende Arbeiten verorten: Hinz/Roselt 2011, Husel 2014, Husemann 2009, Klein/Göbel 2017a&b, Kleinschmidt 2018, Kreuder 2017, Matzke 2011, Müller 2016, Risi 2017, Sack 2011, Warstat 2018, Wortelkamp 2006, u.v.a.

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Moment sozialer Praxis betrachtet werden; der Begriff kann weiterhin als eine Optik dienen, die den analytischen Blick auf körperlich/materielle Vollzüge lenkt; schließlich kann Performativität auf die Komponente der (Selbst)Darstellung (bzw., mit Robert Schmidt gesprochen, der »Öffentlichkeit«) von Praktiken verweisen. Hieran möchte ich das praxistheoretische Konzept des Wissens anschließen, das weiter unten diskutiert wird. Alle hier interessierenden Charakteristika des Performativen fußen begrifflich in der Sprechakttheorie nach Austin und Searle, wo das Theorem erstmalig eingeführt wurde, um Äußerungen zu beschreiben, die das, was sie äußern, zugleich verwirklichen (ein berühmtes Beispiel lautet: »Hiermit erkläre ich die hier Anwesenden zu Mann und Frau«).13 Sprechakte müssen zum einen konkret vollzogen sein (man muss die Heiratsformel tatsächlich aussprechen), zum anderen benötigen sie Wiedererkennbarkeit;14 sie sind also iterativ, sie werden immer wieder aufs Neue aus- bzw. aufgeführt. In den Praxistheorien wird eben dies auch für soziale Praktiken angenommen – auch sie müssen, um sozial/kulturell anschlussfähig zu sein, wiedererkennbar werden, es muss ein gemeinsames praktisches Verständnis vorherrschen für das, was Praxisteilnehmer gerade gemeinsam tun.15 Die genuine Materialität und damit auch die Widerständigkeit der Praxis – im Sinne einer nicht einfach in Text aufhebbaren empirischen Wucht und Wirksamkeit – ist ein weiteres wesentliches Moment, betrachtet man Praxistheorien im Lichte des Performativen und umgekehrt. Ebenso wie der oben genannte Sprechakt der Verheiratung nicht nur eine sozial und kulturell etablierte Form benötigt, sondern auch und vor allem ein konkretes Setting unter Anwesenden, inklusive deren körperlicher Anwesenheit, passenden Formularen, Stempeln etc., verwirklichen sich Praktiken grundsätzlich nur in ihrem

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Vgl. auch die weitere Ausarbeitung der Theorie durch Searle, wobei letztlich alle sprachlichen Äußerungen zu Handlungen erklärt werden, vgl. z.B. in Wirth 2002, 63103. Gerade im Zusammenhang mit der Ritualforschung wird die Nähe praxistheoretischer Stichwortgeber (wie z.B. Goffman u.a. Kultursoziologen) zu Forschern aus dem Umfeld der Performance Studies besonders deutlich, vgl. Köpping/Rao 2000. Im ästhetischen Diskurs um das Theater war das Moment des zugleich immer neu Verwirklichten und doch immer schon Dagewesenen aktuell, lange bevor auch hier das Performative diskutiert wurde, und zwar in Form der Debatten um den Topos der Mimesis. Im Rahmen des Performative Turn, und seiner insbesondere in der deutschen Theaterwissenschaft intensiven Rezeption, erfuhr die Thematik erneut große Beachtung, vgl. beispielsweise Gebauer/Wulf 2003 und Wulf/Mironov 2014.

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materiell, körperlich, zeitlich und räumlich konkretisiertem Vollzug. Praxistheoretiker legen daher Wert darauf, diesen ›gewichtigen‹ Anteil der Praxis ernst zu nehmen und ihm in Beschreibung und Analyse entsprechend große Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. An dieser Stelle treffen sich Praxistheorien mit der Position der Theaterwissenschaft nach dem Performative Turn, vertreten beispielsweise durch die Forscher aus dem Umkreis des Sonderforschungsbereiches Kulturen des Performativen (FU Berlin, 1999-2011).16 Schließlich muss die genannte (Wieder)erkennbarkeit von empirisch gewichtigen Praxisvollzügen situativ und sozial abgesichert werden – Praxis muss sich gewissermaßen selbst darstellen, bzw., mit Robert Schmidt, sich »veröffentlichen«: »Gegenstand praxeologischer Beobachtungen ist […] eine immer schon praktisch erzeugte soziale Sichtbarkeit. Sehen und Erkennen selbst sind in diesem Sinne Fähigkeiten, die voraussetzen, dass der Teilnehmer ›schon ein Spiel beherrscht‹.«17 Diese Überlegung lenkt den Blick auf all jene Praxis-Anteile, die für die Wahrnehmbarkeit von Praxis sorgen: Die Standesbeamtin im Sprechaktbeispiel muss nicht nur die richtige Formel sprechen, sondern sie muss darüber hinaus auch dafür sorgen, diese in einem Augenblick auszusprechen, wenn alle Anwesenden gespannt lauschen; es muss also ein theatrales Setting produziert werden, um sicherzustellen, dass der Sprechakt gelingt. Ebenso müssen auch weniger intentionale oder explizite Praktiken eine Form der sozialen bzw. kulturellen Zurechenbarkeit produzieren, und sei diese noch so unspektakulär.18 Insbesondere in Vermittlungssituationen ist solch basale Expressivität von Praxis gefragt19 – geschulte Praktikerinnen können spontan modulieren, wie expressiv oder beiläufig ihr Praxis-Vollzug stattfindet; sie können einmal selbstvergessene Perfektion performen, ein andermal ihre Praxis

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Vgl. z.B. Fischer-Lichte 2007 und Fischer-Lichte u.a. 2012. Schmidt 2011, 27 – Schmidt zitiert hier Wittgenstein, Originalzitat vgl. Fußnote 23. Die »Zurechenbarkeit« bzw. »accountability« ist ein wichtiges Konzept das v.a. Harold Garfinkel im Rahmen der Ethnomethodologie nutzt, einer (mikro)soziologischen Schule, die als wichtiger theoretischer Vorreiter bzw. Zulieferer der Praxistheorien gelten kann (vgl. z.B. Hillebrandt 2014, 43f). Vgl. Schindler 2011, 118f – hier wird beschrieben, wie die Praktiken einer Kampfkunst durch den Trainer demonstrativ hervorgehoben und verlangsamt werden, um Schülern Zug um Zug ein Nachahmen zu ermöglichen.

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lehrend oder kontrollierend verlangsamen.20 Der Theoretiker, der sich wohl am intensivsten mit dieser performativen Komponente sozialer Praxis befasst hat, ist Erving Goffman, der sich in seinen Arbeiten für die Kanalisation, Gestaltung und Nutzung sozialer Aufmerksamkeit interessierte. In seinem frühen Essay Spaß am Spiel beispielsweise beschrieb er, dass Spieler Bescheid wissen müssten, welche Verhaltensweisen nicht in den Rahmen einer Praxis fallen, sie müssten verstehen, was zum Spiel gehört, und was hingegen ignoriert werden sollte, um die Aufmerksamkeit auf das Spiel zu bündeln.21 Auch für diese dritte Komponente des Performativen interessieren sich Praxistheorien ganz zentral: Performativität wird dann begriffen im Sinne einer (Selbst)Darstellung von Praxis und der hierbei erzeugten Theatralität, die einmal mehr, einmal weniger explizit zu Tage tritt.22 Als viertes begriffliches Feld, das sowohl für die Praxistheorien als auch für die Theater- und Performancewissenschaft von zentraler Bedeutung ist, möchte ich weiterhin auf das Praxiswissen bzw. das praktische Wissen verweisen: Neben dem expliziten, sprachlich verfügbaren Wissen (im Zusammenhang mit dem oben genutzten Beispiel entspräche das z.B. dem Wissen zu den Spielregeln beim Poker) gehen Praxistheorien von einem ungleich größeren Pool impliziten, praktischen Wissens aus; schon Wittgenstein besprach solches Praxiswissen – und verwendete hierfür das Beispiel vom Erlernen von Spielen.23 Ebenso wie viele theater- und performancetheoretische Ansätze gehen Praxistheorien also davon aus, dass das Wissen in den von ihnen untersuchten Feldern häufig zunächst nicht direkt zugänglich bzw. sprachlich expliziert vorliegt, sondern dass es vielmehr als eingekörpertes Knowhow oder als in Artefakte und Settings eingelassene Gebrauchsanweisung prozessiert wird.

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Den musikalisch anmutenden Begriff der »Modulation« (engl.: »Keying«) nutzt Erving Goffman in der Rahmenanalyse (Goffman 1989), um das Übersetzen in sich sinnvoller Handlungszusammenhänge in je unterschiedliche Kontexte zu beschreiben – z.B. zum Zwecke des Probens, Lehrens etc.: »[A]lles kann das Original sein, von dem etwas eine bloße Nachahmung ist – was den Gedanken nahe legt, das Eigentliche sei die Relation und nicht die Substanz.« (Goffman 1989, 602). Vgl. Goffman 1973, 21f. Die jeweils veränderten Praktiken und Diskurse des Theatralen nutzen beispielsweise Vertreter des Leipziger Theatralitätsmodells als Fokus ihrer Theaterhistoriografie; vgl. z.B. Münz 1998. »[N]icht dadurch, daß der, dem wir die Erklärung geben, schon Regeln weiß, sondern dadurch, daß er in anderem Sinne schon ein Spiel beherrscht.« Wittgenstein 1984, 255.

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»Der Wissensbegriff der Praxistheorien ist gewissermaßen ›tiefergelegt‹, er zielt auf vorsprachliche Kompetenzen, denen gegenüber das auskunftsfähige Wissen nur eine Restgröße darstellt. Diese Theorien führen zu einer körpersoziologisch begründeten Verschiebung des Wissensbegriffs. Die alte wissenssoziologische Frage, wer etwas weiß […], wird verdrängt durch die konstitutionstheoretische Frage, wie etwas überhaupt gewusst wird? Auf welche Weise ist es bekannt, vertraut, präsent, verfügbar, verstanden?24 Um Praktiken wissenschaftlich nutzbar in Sprache zu überführen, beobachten Praxis-Theoretiker also nicht nur sorgfältig deren empirischen Vollzug, sie fahnden auch und vor allem nach dem praktischen Wissen, über das dessen Partizipanden (oft unwissentlich bzw. implizit) verfügen und in dem »mehr implizite Bedeutung und Poesie« vermutet wird »als in den konventionellen Erzählungen und Diskursen der bekannten Sprach- und Sprechgemeinschaften.«25 Auch in dieser Hinsicht verfolgen zeitgenössische Theater- und Performanceforscher also eine den Praxistheorien ähnliche Agenda – wenn sich Letztere auch ungleich radikaler von traditionellem Subjektbezug, ja vom Anthropozentrismus geisteswissenschaftlicher Prägung überhaupt losgelöst haben und den Begriff des Wissens nicht nur für implizites, eingekörpertes Wissen menschlicher Akteure nutzen, sondern auch für in Artefakten schlummernde implizite Gebrauchsanweisungen u.ä.26 Schließlich – um ein fünftes und letztes diskursives Feld aufzuzeigen, in dem sich Theaterforschung und Praxistheorien treffen – ähneln Positionen der sogenannten künstlerischen Forschung denen aus dem Umfeld der Praxistheorie in ihrem Bezug auf praktisch-implizite Wissensschätze: Denn auch hier wird häufig mit einem veränderten Wissensbegriff operiert, sowohl die Subjektivität von Teilnehmerwissen als auch der eingekörperte wie der Vollzugscharakter praktischen Wissens werden ernst genommen und quasi forscherisch verwertet. Henk Borgdorff verweist auf 24 25 26

Hirschauer 2008, 977. Hörning 2001, 192. Zum Diskurs um eingekörpertes, praktisches Wissen in der Theaterwissenschaft bzw. insbesondere in der Tanzwissenschaft vgl. beispielsweise Huschka 2009 oder Brandstetter 2016, sowie Warstat 2016 (letztere erschienen in einem Band der Zeitschrift Paragrana, der sich dem Thema Körperwissen widmete). Im Jahr 2006 fand weiterhin der von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Tanzkongress zum Thema Wissen in Bewegung statt, hierzu entstand ein gleichnamiger Sammelband, vgl. Gehm/Husemann/Wilke 2007.

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die methodologische Vielfalt dessen, was man als künstlerische Forschung bestimmen könnte: So zeichneten sich künstlerisch forschende Verfahren, auch wenn sie mit der geisteswissenschaftlichen Forschung zahlreiche begriffliche Interessen teilten, im Gegensatz zu diesen insbesondere durch ihre praktische Einbindung aus, sie hätten »mehr mit technischer Designforschung oder mit partizipativer Aktionsforschung zu tun als mit Forschung in den Geisteswissenschaften.«27 Neben der methodologischen Nähe zur anwendungsbezogenen Technik- und Designforschung betont Borgdorff die Verwandtschaft künstlerisch forschender Verfahren mit qualitativen Ansätzen aus der Sozial- und Kulturwissenschaft, insbesondere mit Strategien der Ethnografie u.ä.28 Künstlerische Forschung nähert sich mit Borgdorff also offenbar mit einem ähnlichen theoretischen Zugriff der künstlerischen Wirklichkeit, wie es Studien tun, die sich in der Theorie der Praxis verorten lassen: Es interessieren die Logik der Praktiken, die Sozialität und die Materialität der zu entdeckenden Empirie. Während Praxistheoretikerinnen ihr zentrales Anliegen darin finden, das in dieser Empirie schlummernde praktische Wissen zu übersetzen und für einen akademischen Kontext nutzbar zu machen, liegt das Interesse der meisten forschenden Künstlerinnen/künstlerisch Forschenden allerdings eher in der Anwendung des Erforschten – sei diese begriffen als Exploration ästhetischen Materials zur weiteren künstlerischen Nutzung oder als politische Sendung, die versucht, eingefahrene Strukturen herauszufordern. Darüber hinaus führt der Siegeszug des Konzeptes der künstlerischen Forschung meines Erachtens aber zu Theaterpraktikerinnen, die sich als äußerst reflektiert und auskunftsfähig der eigenen Praxis gegenüber zeigen und die eine praxeologische Theaterforschung, wie ich sie im Folgenden vorschlagen möchte, entsprechend zu bereichern vermögen.

Verfahrensweisen für eine praxistheoretisch informierte Theaterwissenschaft In theoretischer Hinsicht existieren also eine ganze Reihe nicht nur kompatibler, sondern sogar geteilter Positionen zwischen den sozial- und kulturwissenschaftlichen Praxistheorien und der Theaterwissenschaft bzw. den Performance Studies. Der bedeutendste Unterschied beider wissenschaftlicher 27 28

Borgdorff 2015, 70. Vgl. ebd., 71.

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Zugangsweisen besteht allerdings bis heute fast durchgängig in deren methodologischer Umsetzung. Während sich die Theaterwissenschaft, selbst im deutschsprachigen Bereich, noch relativ lange an ihrer philologischen Herkunft abgearbeitet hat und sich der Empirie wie einem zu lesenden Text näherte, um nach und nach vorsichtig phänomenologische Perspektiven in ihr Repertoire aufzunehmen, existierte sowohl in der Soziologie wie auch in der Ethnologie schon vor dem Siegeszug der Praxistheorien ein breiter Pool sogenannter qualitativer Forschungsmethoden, die über jede Form des »Textualismus« hinausweisen.29 Insbesondere ethnografische Verfahren erfreuen sich unter sozial- und kulturwissenschaftlichen Praxisforschern großer Beliebtheit – erste Ansätze, entsprechende Vorgehensweisen auch für theaterwissenschaftliche Zwecke zu nutzen, tauchen inzwischen im Zuge der Rezeption praxistheoretischer Positionen sowie in den oben genannten Ansätzen künstlerischer Forschung vermehrt auf.30 Im Folgenden möchte ich darstellen, in welcher Hinsicht die Theaterwissenschaft von einem gezielten Import entsprechender sozial- und kulturwissenschaftlicher, praxistheoretisch informierter Verfahren sowie einer Akademisierung des in künstlerischer Forschung erarbeiteten Wissens profitieren könnte. Das praxistheoretische Vorgehen par excellence ist in der teilnehmenden Beobachtung bzw. der Ethnografie gegeben, die sich gerade durch ihren »Methodenopportunismus« auszeichnet.31 Dieser – durchwegs positiv verstandene – Begriff soll umschreiben, dass Ethnografinnen die Methoden ihrer Datenerhebung bzw. Datenproduktion (z.B. qualitative Interviews, Beobachtung mit Feldnotizen, Video- oder Audio-Mitschnitte usw.) jeweils angepasst an ihr Forschungsfeld auswählen und hierbei eben keine spezifische Metho-

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Zum Begriff »Textualismus« vgl. Reckwitz 2006, 581-616. Sibylle Krämer spricht in ähnlichem Zusammenhang vom »protestantischen Gestus« der Geisteswissenschaften, der sich immer auf der Suche nach zu interpretierenden Wirklichkeiten hinter der Empirie befände (und auf diese Weise letztlich die Empirie verfehlt): »Wir wollen diese weit verbreitete Einstellung, dass das, worauf es ankomme, ›hinter den sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen liege‹, den ›protestantischen Gestus‹ in den Geistes- und Kulturwissenschaften nennen.« (Krämer 2002, 325). Vgl. z.B. Wortelkamp 2006, Husemann 2009, Husel 2014, Tinius 2017, Kleinschmidt 2018 usw. So Breidenstein u.a. 2013, 34.

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de favorisieren.32 Dasselbe gilt – und dies erscheint mir noch viel bedeutungsvoller – auch und vor allem für die Forschungsfragen, die sich im Rahmen einer Ethnografie ebenfalls erst im Laufe des Feldaufenthaltes Schritt für Schritt konkretisieren. Insofern initiiert Ethnografie einen potenziell unabschließbaren, zirkulären Prozess aus Annäherung und Distanznahme, der sein Feld zunehmend eingrenzt und formt, um schließlich in einer Verschriftlichung zu münden – vgl. Abb.1.33 Hierbei gelten – trotz aller Offenheit in der Vorgehensweise – einige meines Erachtens auch für die Theaterforschung höchst brauchbare methodische ›Spielregeln‹34 , so z.B. ein Hin-und-Her aus going native und coming home, sowie die Idee einer laufenden »Befremdung der eigenen Kultur«35 . Beides soll im Folgenden kurz erläutert werden. So versteht sich die Ethnografie historisch als eine Beschreibung fremder Kulturen, die ihr Wissen in teilnehmender Forschung generiert; Forscher sollten sich in die Mitte der durch sie Beforschten begeben, um in die Lage zu kommen, Binnenperspektiven der untersuchten Kultur wiederzugeben. Später nutzten Sozialwissenschaftler teilnehmende Beobachtung nicht mehr nur zur Erforschung fremder Kulturen sondern auch um (fremdartige) Sub-Kulturen zu studieren – bekannt wurde beispielsweise William Foote Wythes Studie Street Corner Society aus dem Jahr 1943.36 Spätestens seit den 1990er Jahren wird Ethnografie allerdings zumeist als ein Verfahren begriffen, das sich durch einen Erkenntnisstil

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Johanna Drucker spricht beispielsweise von »Capta« statt von »Data«, um zu illustrieren, dass die aus dem Feld mitgebrachten Materialien viel eher durch die Forscherin verfertigt als nur vorgefunden würden (vgl. Drucker 2011). Ähnliche Wege beschreitet das Vorgehen der Grounded Theory, in dem Sinne, dass auch dort ein zirkulärer Prozess in Gang gebracht wird, bei dem Forscher Daten erarbeiten; im Rahmen von Grounded Theory-Verfahren wird darüber hinaus großer Wert auf die Arbeit an diesen Datenkorpus gelegt, sie werden »codiert« und »gesampelt«, woraufhin Forscherinnen mit entsprechend neu justierten Fragestellungen wieder zurück ins Feld gehen usw. Im Gegensatz zum zentralen Anliegen ethnografischer Forschung, die sich v.a. als offen explorativ versteht und sich insbesondere mit praktischen Wissensschätzen und deren Explikation befasst, betrachtet sich die Grounded Theory als Theorie-generierendes Verfahren, das aus feldimmanenten Diskursen gesättigte Konzepte zur Beschreibung ebendieser Felder abschöpfen möchte. Vgl. beispielsweise Strübing 2013, 109f. oder Hillebrandt 2015, 26. Vgl. z.B. aufbereitet im Lehrbuch Die Praxis der Feldforschung (Breidenstein u.a. 2013). Vgl. die gleichnamige Veröffentlichung, Hirschauer/Amann 1997. Vgl. Whyte/Blomert/Atteslander 1996.

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Abbildung 1: Zirkulärer Prozess der Ethnographie (vgl. Breidenstein u.a. 2013, 46).

des Entdeckens von vormals Unbekanntem auszeichnet, dies wurzelt in ihrer »ethnologischen Erfahrung kultureller Fremdheit«37 . Diese Grundhaltung wenden Forscher praxistheoretischer Provenienz heute performativ, indem sie zunächst lediglich die Idee einer Enkulturation übernehmen, diese aber nicht auf fremde Kulturen, sondern auf praktische Felder (i.S. Bourdieus) anwenden: Indem dort gezieltes going native betrieben wird, erwerben Ethnografen typisches Teilnehmerwissen; mehr noch, sie erlernen feldspezifische Praktiken, enkorporieren also in ihrer eigenen Leiblichkeit praktisches Wissen aus dem Feld.38 Neuere Ethnografie lässt sich insofern als eine »mimetische Form empirischer Sozialforschung«39 beschreiben. Gleichberechtigter 37 38 39

Hirschauer/Amann 1997, 8. Vgl. ebd., 21. Ebd., 20.

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Gegenpart zum going native besteht in der perspektivierenden Bewegung eines coming home: Bei Rückkehr in den Kreis der disziplinären Kollegen wird erworbenes Praxiswissen sukzessive expliziert und perspektiviert, um schließlich in einer schriftlichen (oder anderweitig medial gestützten) Darstellung aufbereitet zu werden. Voraussetzung für diese Gegenbewegung zum Erwerb der nativeness ist ein schon in der Feldpraxis betriebenes, ständiges »Befremden« des Erlebten und Erlernten, das zum Beispiel durch das Führen von Feldtagebüchern oder durch das Herstellen diverser medialer Mitschnitte, ebenso aber durch theoretische Werkzeuge, z.B. bestimmte Begriffe oder Modelle, unterstützt wird: »Das weitgehend Vertraute wird dann betrachtet, als sei es fremd, es wird nicht nachvollziehend verstanden, sondern methodisch ›befremdet‹: es wird auf Distanz zum Beobachter gebracht.«40 Schon die Rede vom going native und coming home enthält dabei eine Geste ironischer Distanzierung, mit der eine spielerische Befremdung vollzogen wird; schlüpft doch die Forscherin ganz explizit in die Rolle einer Ethnografin, die fremde Welten bereist und fremde Völker und deren Praktiken erkundet. Der epistemische Hintergrund solch performativ-spielerischer »Befremdung der eigenen Kultur« ist der Wunsch, die Transparenz sozialer/kultureller Praxis zu überwinden – im Sinne der Durchdringung einer zunächst ganz ›durchsichtig‹ und simpel erscheinenden Logik und Folgerichtigkeit bekannter und alltäglicher Praktiken. Als besonders aufschlussreich erweisen sich in diesem Zusammenhang häufig gerade Schwellen- und Krisenmomente: So können Zugangsschwierigkeiten zum gewünschten Forschungsfeld viel darüber erzählen, wie Felder sich selbst praktisch begrenzen, welche Ausschließlichkeiten praktisch für nötig erachtet werden, u.ä. Der ethnografische Prozess aus Annährung und Distanznahme ist »im Prinzip unabschließbar: er entspricht der Bodenlosigkeit kultureller Phänomene.«41 Im Rahmen einer so verstandenen Ethnografie werden Forscher zu versierten Insidern der durch sie beforschten Felder und stehen daraufhin vor der Herausforderung, erworbenes praktisches Wissen (i.S.v. KnowHow) und Daten (bzw. »Capten«42 ) aus dem Feld zurück nach Hause, also in den Kontext ihrer Herkunftsdisziplin zu bringen und dort, unter wissenschaftlichen/akademischen Gesichtspunkten, zu analysieren. Gerade im Rahmen der hierbei

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angestrengten Suche nach geeigneten Aufzeichnungsweisen, nach Übersetzungen und annehmbaren Erklärungen für das disziplinäre Umfeld wird intensiv an einer Explikation vormals impliziter Wissensschätze gearbeitet, es entstehen Interpretationen praktischer Erfahrungen, die sich – im besten Fall – gekonnt jenseits der Positionen von Feldtheorien einerseits (also: der Theorien, die Feldteilnehmer über das teilen, was sie gemeinsam tun) und wissenschaftlicher Exotisierung andererseits bewegen.43 Je nach erforschtem Feld mündet die teilnehmende Beobachtung in einer Selbst-Beobachtung – die Forscherin reflektiert dann insbesondere selbst durchlebte Prozesse und eigenes Praxiswissen und die Umstände des Erwerbs neuer Fertigkeiten. An dieser Stelle ähneln praxistheoretisch informierte Methodologie und Verfahrensweisen der oben erwähnten künstlerischen Forschung einander: denn im Rahmen einer Reflexion der eigenen Praxis entwickeln Künstler hier Arbeitsweisen, die die eigene Methodizität laufend reflektieren und neu justieren, und insofern in situ ästhetische Praxis verlangsamen, sie hierbei bis zu einem gewissen Grade befremden und – zum Zwecke ihrer künstlerischen Weiterverarbeitung – offen legen. Im Vokabular der Ethnografin gesprochen, entstehen hier also Felder, in denen im höchsten Maße reflexive natives sozialisiert werden. Allerdings liegt zugleich auf der Hand, dass das im Feld reflektierte Wissen noch weiterer Übersetzungs- und Reflexionsschritte bedarf, um in einen akademischen Kontext, zum Beispiel den der Theater- und Performancewissenschaft, eingetragen zu werden. Unter Berücksichtigung der bis hier beschriebenen ethnografischen Spielregeln würden – je nach letztlich gewähltem bzw. entwickeltem Forschungsfeld – theaterwissenschaftliche Studien denkbar, die sich ganzen Projektzusammenhängen nähern. Ich möchte ein entsprechendes Forschungsvorhaben beispielhaft durchspielen, indem ich mich auf eine geplante, fünfgliedrige Studie zur Gruppe machina eX beziehe, mit der ich mich derzeit intensiv befasse. Machina eX beschreibt sich als »Medientheaterkollektiv«, das die »Schnittstelle von Theater und Computerspiel erforscht« [Herv. S. H.] und »spielbare Theaterstücke« entwickelt, »die zugleich begehbare Computerspiele sind«44 . Der erste praktische Schritt bestünde hierbei in einer Begleitung der Fördergeldbeschaf-

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Zur Verfahrensweise der Ethnografie, wie sie hier kurz beschrieben ist, vgl. ausführlich Breidenstein u.a. 2013. Vgl. hierzu die Selbstbeschreibung der Gruppe auf deren Website www.machinaex.com (zuletzt überprüft am 18.11.2019).

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fung für das neueste geplante Projekt und einer gleichzeitigen Dokumentation meines Feldzugangs. Hierbei würden z.B. Fragen aufkommen wie: In welchem Zusammenhang stehen die Entwicklung künstlerischer Ideen mit den Vorgaben und Ansprüchen von Förderanträgen? Welche praktischen Formen der Professionalisierung – z.B. in Form spezifischer Arbeitsteilung in der Gruppe – haben sich in diesem Zusammenhang herausgebildet? Inwieweit werden künstlerische Interessen – hier beispielsweise die Gestaltung von Theater Games – in vermutete gesamtgesellschaftliche Diskurse übersetzt, z.B. indem auf eine weitverbreitete Gameification der Arbeitswelt kritisch Bezug genommen wird etc. In der daran anknüpfenden Phase der Studie stünden die praktischen Umstände und Abläufe der Produktion im Fokus des Interesses, die in teilnehmender Beobachtung praktisch mitvollzogen würden. Hierbei könnte beispielsweise eruiert werden, inwiefern sich die (materielle) Ausstattung, die Zeitfenster für die Arbeit am Projekt, die räumlichen Umstände usw. in die Ästhetik einer Produktion einschreiben. Im Probenprozess selbst hospitierend, könnte die Forscherin des Weiteren Einblick nehmen in die innere Logik der künstlerischen Arbeit – nach welchen Relevanzen werden hier Darstellungsmittel und Spielvorgaben ausgewählt, kombiniert, verworfen oder fixiert? Welche Praktiken formen den Prozess der Spielerfindung und Inszenierung? Gerade an dieser Stellen würde der Dialog mit den künstlerisch-forschenden Ansprüchen der Gruppe interessant: Wie diskursivieren die Mitglieder der Gruppe machina eX ihre Praxis, welche Anteile ihres Tuns werden beispielsweise im Interview betont, welche interessieren nur am Rande?45 Hierbei würden vermutlich zahlreiche Übersetzungspraktiken beobachtbar, die letztlich den ästhetischen Prozess formen, um schließlich in Aufführungen bzw. spielbare Settings und Teilnahmemöglichkeiten für ein Publikum zu münden. Hierauf könnten auch die konkreten Nutzungen der entworfenen theatralen Games teilnehmend beobachtet werden: Welche Spielangebote werden von Publikumsmitgliedern konkret genutzt, wie werden ästhetische Vorgaben wahrgenommen etc. Schließlich würden die Verbreitung und die mediale Resonanz einer Produktion beobachtbar: Auf welche Weise werden konkrete Mitspiel-Erfahrungen medial beworben, kommentiert und kritisiert?

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Im Interview betonten machina eX Mitglieder beispielsweise die große Bedeutung, die ethische Überlegungen zum Thema Wahlfreiheit in ihrer Arbeit spielen, sowie den Zusammenhang entsprechender Überlegungen mit technischen und medialen Gesetzmäßigkeiten der Spielentwicklung (vgl. Husel/Hädicke/Prinz 2018).

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Die jeweils fließend ineinander übergehenden Phasen einer solchen Studie würden im Idealfall immer wieder durch sogenannte Datasessions im Kollegenkreis unterbrochen, während derer die ethnografisch teilnehmende Theaterwissenschaftlerin ihre praktischen Erfahrungen beschreibt, neu kontextualisiert und akademisiert, um wiederum mit neuen Fragen in die ästhetische Praxis (sowohl der Produktion wie auch der Rezeption) zurückzukehren. Im beschriebenen ethnografischen Forschungsprozess würden sich sukzessive Forschungsfragen herauskristallisieren, die bestimmte Praktikenkomplexe und deren Aggregatsformen betreffen: Im genannten Beispiel könnte dies etwa die Spielpraxis betreffen, die Teilnehmer in den Theatergames ausführen. Welche Momente solcher Praxis sind in Vorerfahrungen der Teilnehmer angelegt, inwieweit sind (Mit)spielpraktiken durch die Strukturen der Games vorgeformt, anhand welcher ausprobierender Praktiken wurden diese Games entworfen, inwieweit sind bestimmte Diskurse (z.B. zur kritisch betrachteten Gameification) hier eingeflossen und praktisch erfahrbar gemacht usw.

Für eine Praxeologie des Theaters Ich möchte zusammenfassen: Die im Rahmen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Praxistheorien entwickelte Heuristik, die sich auch eingängig in einer Spielheuristik abbilden lässt, teilt eine Reihe theoretischer Standpunkte mit der Theater- und Performance-Wissenschaft. Methodologisch allerdings könnte die Theaterforschung noch sehr von einem Blick in die Praxistheorie und deren sozial- und kulturwissenschaftliche Umsetzung profitieren, wobei auch Positionen aus der künstlerischen Forschung auf fruchtbare Weise mitreflektiert werden könnten. Eine entsprechend eingestellte, theaterwissenschaftliche Vorgehensweise böte sich an, da sie erlaubt, die sowohl übliche wie auch ungeliebte Unterscheidung in Produktions- und RezeptionsÄsthetik zu unterlaufen und zugleich Aufführungsanalyse konstruktiv mit Positionen der Erforschung der Förderlandschaft, der Institutions- und der Probenforschung, wie auch der Publikumsforschung zu verbinden. Das zentralste Novum einer so gestalteten Theaterforschung besteht in der radikalen Kontextualisierung der erforschten ästhetischen Praxis und dem hierdurch evozierten Bewusstsein für einen notwendigen »Bruch« im Prozess des Erkenntnisgewinns, wie er Bourdieu vorschwebte – einem Bruch

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mit vorgefertigten Interpretationsschemata bzw. mit »prä-konstruierten Objekten«, der letztlich erst dazu führt, dass Forschung zu neuen Inhalten gelangt, anstatt Altbewährtes oder Teilnehmer-Theorien aus dem Feld (beispielsweise zur politischen Wirksamkeit ästhetischer Konzepte o.ä.) nachzuerzählen. Ein solcher Bruch kann mit Bourdieu nur gelingen, wenn praktisches Wissen aus dem Feld einer Akademisierung zugeführt wird, während wissenschaftliche Prämissen zugleich mit der praktischen Logik des Feldes konfrontiert werden.46 Entsprechend ließe sich für die oben genannte, scheinbar so unhintergehbare wie grundlegende Unterscheidung in Produktions- und/oder Rezeptions-Ästhetik konstatieren, dass sie unhinterfragt die in der Praxis übliche Grenze zwischen Bühnen- und Zuschauerraum reproduziert und diese Differenzierung in die Sprache ihrer Akademisierung einträgt – ein Umstand, der schon lange kritisch bearbeitet wird, insbesondere durch die Fokussierung theaterwissenschaftlichen Interesses auf Aufführungsanalyse aber, wie oben angemerkt, bisher kaum befriedigende Auflösung erfahren hat. So untersucht Aufführungsanalyse zwar immer zugleich Produktions- und Rezeptionsprozesse, allerdings existiert bis heute kein methodisches Handwerkszeug, um jenseits situationsspezifischer Analysen die untrennbar ineinander verschränkten Praktiken von Darstellung und Wahrnehmung zu untersuchen, sowie deren Kontingenz zu beleuchten – theaterwissenschaftliche ästhetische Analyse macht also bisher gewissermaßen an den Grenzen der Aufführungssituation halt. Entsprechend scheint mir der disziplinäre Diskurs hier wiederum dem (präkonstruierten) Denkmuster aus dem Feld verhaftet zu sein, dass einzig im quasi magischen Moment der Aufführung sich Ästhetik ereigne, wohingegen praktische Umstände der Produktion und Rezeption als letztlich ästhetisch uninteressant und lediglich sozialwissenschaftlich relevant abgetan werden. Ginge Theaterwissenschaft das Wagnis ein, im größeren Stil als bisher praxistheoretisch informierte Feldforschung/Ethnografie zu betreiben, bestünde eine realistische Chance, solche und andere prä-konstruierten Objekte mit ungeahnter Leichtigkeit abzustreifen; dann würde beispielsweise begreifbar und

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»Es gibt alle möglichen prä-konstruierten Objekte, die sich als wissenschaftliche Objekte durchsetzen und die, weil ihre Wurzeln im common sense liegen, von vornherein in der scientific community wie in der breiten Öffentlichkeit auf Beifall rechnen können. Ein Gutteil der Objektdefinitionen entspricht beispielsweise bürokratischen Einteilungen: Die großen Sparten der Soziologie entsprechen der Aufteilung auf Ministerien.« (Bourdieu 2011, 272.)

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beschreibbar, auf welche Weise und unter welchen Umständen ästhetische Diskurse in Fördergelder und Strukturen übersetzt werden, zu Inszenierungen und gestalteten Spielvorgaben führen, durch Publikumsmitglieder weitergenutzt und schließlich wieder in neue ästhetische Diskurse überführt werden. Hierbei würde keineswegs die Aufführungsanalyse ausgesetzt, Aufführungen würden aber zudem dahingehend befragt, wie bestimmte Darstellungsweisen und Wahrnehmungsmöglichkeiten sowie die konkreten rezeptiven Praktiken von Publikumsteilnehmern überhaupt in die Situation hineingelangen, sich dort lokalisieren und verwirklichen und zugleich globale Verbindungen über diese Situation hinaus aufrecht erhalten (beispielsweise zu Diskursen, institutionellen Infrastrukturen etc.). Darüber hinaus hätte eine entsprechend methodologisch informierte Theaterwissenschaft einen praxeologisch so versierten eigenen Standpunkt, dass sie die Reflexionen, die im Rahmen künstlerischer Forschung entstehen, konstruktiv nutzen und in einen akademischen Kontext eintragen könnte – auf diese Weise würden auch die prä-konstruierten Objekte der künstlerischen Forschung thematisch. Oder, um abschließend mit Hans-Jörg Rheinberger zu sprechen: »Was wir tun können, ist einen diskursiven Raum abzustecken, in dem es möglich ist, dass Wissenschaftler und Künstler sich gegenseitig auf ihre Hände schauen können, weniger auf das, was sie sagen, als vielmehr auf das, was sie tun, wenn sie ihr Handwerk praktizieren.«47

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47

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Plädoyer für eine symmetrische Theaterforschung Über methodische Kälte, ethnografische Versuchungen und Lehren aus den Science und Technology Studies Ulf Otto

Wissenschaft braucht Methode, Forschung aber fängt dort an, wo Methode aufhört. Das ist der produktive Widerspruch, in dem sich Wissenschaft bewegt. Schwierig wird es, wenn dieser Widerspruch zugunsten der Methode aufgelöst werden soll, die Diversität von singulären und kontingenten Projekten zugunsten abstrahierter Reglements aufgelöst wird und die Methode als etwas konzipiert wird, das von Objekten und Subjekten der Forschung unabhängig ist, aber zwischen beiden vermittelt. Ein solcher positiver (wenn nicht positivistischer) Begriff von Methode, als how-to, dessen Vorschriften die Akkumulation des Wissens garantieren, ist tendenziell antragstauglich, aber forschungsfeindlich, weil er zu dem führt, was man das methodische Missverständnis nennen könnte: dass nämlich Forschung im Grunde die Anwendung von Methoden wäre. Stattdessen wird hier ein negativer Begriff von Methode vorgeschlagen, als etwas, das immer schon am Ausschluss von Erkenntnis arbeitet und umgekehrt gerade in der Verneinung Räume öffnet, nämlich als ein do-not, das vorschlägt, was man lieber lassen sollte, um Erkenntnis nicht auszuschließen. Eine solche negative Methodik hat nichts gegen Methoden, möchte die Methodendiskussion aber auf ein epistemologisches Fundament stellen und mit der Frage nach der Forschung beginnen. Das aber heißt, die Praxis ins Spiel zu bringen, das, was Theaterwissenschaft macht, wenn sie Theaterwissenschaft betreibt, und führt zu der Frage, was eine Theaterforschung anderes sein könnte als die Verwaltung eines abgegrenzten Wissensbestandes. Inspiration nehmen diese Überlegungen bei der Wissenschaftsforschung (STS, ANT etc.), insbesondere bei Donna Haraways früher Beschreibung der Situierung des Wissens und Bruno Latours späterem Programm einer

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symmetrischen Anthropologie.1 Ausgehend von einer kursorischen Lektüre von Descartes’ Schlüsseltext zum Methodenbegriff argumentiert der erste Abschnitt für eine ausgeprägte Methodenskepsis. Denn insofern Methoden von einer epistemischen Distanz ausgehen, welche die Reinheit der Erkenntnis garantieren soll, hängen sie einem Objektivitätsbegriff an, der von der Wissenschaftsforschung längst als Phantasma und Politikum entlarvt worden ist. Daran anknüpfend hinterfragt der zweite Abschnitt das theaterwissenschaftliche Begehren nach sozialwissenschaftlicher Empirie und plädiert für den Rückgang zur Aufführungsanalyse als Ausgangspunkt einer methodischen Selbstreflexion, da diese unmittelbar mit dem Gegenstand der Disziplin verbunden ist. Gerade die phänomenologische Fundierung des Verfahrens erweist sich dabei, wie sich in Übertragung von Latours philosophischer Diskussion zeigen lässt, als eng begrenzend. Am Ende des Abschnitts wird daher der Vorschlag eines ethnografisch inspirierten Ansatzes gemacht, der den zugewiesenen Platz im Saal verlässt und sich in Richtung Bühneneingang begibt. Entsprechend nimmt der dritte Abschnitt aktuelle und mögliche Grenzgänge zwischen Theaterwissenschaft und Ethnografie auf und fragt danach, was eine ethnografisch inspirierte Theaterforschung ausmachen könnte, die weder produktionsästhetische Fragestellungen nach der Herstellung von Meisterwerken wiederaufleben lässt, noch solche der Kulturanthropologie nach Prozessen der sozialen Individuation, Differenzierung oder Kollektivbildung einfach übernimmt. Schließlich wird im Fazit vorgeschlagen, eine ethnografisch inspirierte Theaterforschung an den Laborstudien zu orientieren. Eine solche Theaterforschung würde, abermals in Anlehnung an eine von Latour aufgemachte Unterscheidung von Wissenschaft und Forschung, dort beginnen, wo die Theaterwissenschaft eine symmetrische Perspektive entwickelt, die vor den wesentlichen Unterscheidungen des Feldes einsetzt und dessen begriffliche Setzungen und Wertungen hinterfragt, anstatt sie vorauszusetzen.

1

Vgl. Haraway 1995, Latour 2015.

Plädoyer für eine symmetrische Theaterforschung

Ghost in the shell: philosophische Methodenzwänge Die Methode hat ihre entscheidende Prägung durch den Descartes’schen Discours de la méthode (1637) erhalten, dessen vollständiger Titel bereits den Sinn und Zweck desselben nahelegt: »pour bien conduire la raison, & chercher la verité dans les sciences«2 . Um die Vernunft zu lenken und in den (Natur-)Wissenschaften die Wahrheit zu suchen, dafür braucht es Methode. Wer dank einer solchen den Geist richtig anzuwenden wisse, könne sich trotz mittelmäßiger Begabung und gegebener Kürze des Lebens durch fortschreitende Akkumulation von Wissen zu einer Wahrheit erheben, die ihm (oder der vermutlich derzeit nicht mitgedachten ihr) tiefe Befriedigung verschaffe, so Descartes.3 Eine solche Methode aber taucht in Descartes’ Schrift erst am Ende eines individuellen Bildungsromans auf, der damit beginnt, dass der Autor – wie später Faust (›nun ach‹) – Rhetorik, Poesie, Mathematik und Theologie, also das tradierte Wissen seiner Zeit, studiert, dabei jedoch nur auf immer mehr Ungewissheit stößt.4 Von der Welt des Buchwissens enttäuscht, verlegt schon Descartes sich aufs Reisen, um, wie alle Aufklärer nach ihm, im »Buch der Welt« zu lesen: »Und entschlossen, keine andere Wissenschaft mehr zu suchen als diejenige, die ich in mir selbst oder im großen Buch der Welt würde finden können, verwendete ich den Rest meiner Jugend darauf, zu reisen, Höfe und Heere kennen zu lernen, mit Menschen unterschiedlichen Temperaments und unterschiedlicher Herkunft zu verkehren […] und überall solche Überlegungen über die Dinge, die sich darboten, anzustellen, dass ich hieraus einigen Nutzen ziehen konnte.«5 Im Gegensatz zur gelehrten Spekulation, der Descartes keine Konsequenzen mehr abgewinnen kann, erscheint ihm die Logik der Praxis, die sich in der Anwendung beweist, der Wahrheit näherzukommen. »Denn es schien mir, dass ich weit mehr an Wahrheit in den Überlegungen antreffen könnte, die jeder hinsichtlich ihm wichtiger Angelegenheiten anstellt und deren Resultat ihn bald danach bestrafen muss, wenn er schlecht 2 3 4 5

Descartes 2 2019, Titelseite, 5. Vgl. ebd., Absatz 1, 9f. Vgl. ebd., Absatz 6, 13f. Ebd., Absatz 14, 21f.

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geurteilt hat, als in den Überlegungen, denen ein Gelehrter in seinem Studierzimmer hinsichtlich Spekulationen nachgeht, die keine Wirkung hervorbringen und die für ihn keine andere Konsequenz bedeuten als vielleicht, dass er aus ihnen umso mehr Eitelkeit gewinnt, je weiter sie vom gesunden Menschenverstand entfernt sein werden.«6 Der Theorie mit Misstrauen begegnend wie ein Ingenieur der Dekonstruktion wird Descartes also zuerst einmal Anthropologe. Nur findet er auch in der Praxis nicht das, was es ihm erlauben würde, sich »in diesem Leben mit Sicherheit zu bewegen«7 . Auch dort wird sein »großes Verlangen, das Wahre vom Falschen unterscheiden zu lernen«8 , nicht befriedigt. Denn die Praxis entpuppt sich als ähnlich vielfältig wie die Ansichten der Gelehrten. Auch »in den Sitten anderer Menschen« entdeckt Descartes »ebenso viel Verschiedenartigkeit wie zuvor bei den Meinungen der Philosophen«9 . Jene Sicherheit aber, nach der es ihn dürstet, ist, so glaubt er, auf so viel Verschiedenheit nicht zu bauen. Der Nutzen der Begegnung mit den fremden Sitten reduziert sich daher für Descartes auf die Relativierung des Eigenen. »Somit bestand der größte Nutzen, den ich hieraus [aus den Reisen, Anm. d. Verf.] zog, darin, dass ich, indem ich viele Dinge sah, die obwohl sie uns sehr überspannt und lächerlich erscheinen, bei anderen großen Völkern doch allgemein aufgenommen und gebilligt sind, an nichts allzu fest glaubte, was nur durch Beispiel und Herkommen überzeugt hatte.10 Die Entdeckung der Kontingenzperspektive der Kulturwissenschaft11 , die Einsicht in die Gemachtheit aller Dinge, in ihre fundamentale Historizität und Kulturalität, führt bei Descartes nicht weiter als bis zum Zweifel: »Wenn man aber zu viel Zeit auf das Reisen verwendet, wird man schließlich im eigenen Land fremd«12 , stellt er bereits im 8. Absatz fest und fasst daher am Ende des ersten Teils den Beschluss, sich von Theorie (Büchern) wie auch Praxis (Welt) zu verabschieden und alle Aufmerksamkeit stattdessen nach Innen zu richten, die Wahrheit fortan »in mir selbst zu studieren«13 . 6 7 8 9 10 11 12 13

Ebd., Absatz 6, 13. Ebd., Absatz 14, 23. Ebd. Ebd., Absatz 15, 23. Ebd. Vgl. Reckwitz 2011. Descartes 2 2019, Erster Teil, Absatz 8, 17. Ebd., Absatz 15, 25.

Plädoyer für eine symmetrische Theaterforschung

Der Ort aber, an dem sich diese Wende ins Innere vollzieht, liegt in Deutschland, im Krieg und im Winter.14 Dort eingeschlossen in eine warme Stube, weit weg vom gesellschaftlichen Trubel Frankreichs, ist Descartes gezwungen, sich »mit [s]einen Gedanken zu unterhalten«15 und entwickelt im distanzierten Blick auf die Mode seine Methode. Denn die Mode sei eben nur noch Mode, keine (ständische) Kleiderordnung, (gott)gegebene, allerorts gültige und aller Zeit enthobene Norm, stellt Descartes fest. Wenn aber die Kultur so viele Möglichkeiten und Erscheinungen hat, argumentiert Descartes weiter, dann sind auch Barbaren und Wilde vielleicht nie welche gewesen. Nur ist diese Entdeckung für Descartes anno 1620, im Dreißigjährigen Krieg, in Deutschland, im Winter, kein Anlass zur Freude. Dass es auch anders sein könnte, die Dinge nicht ewig gegeben, vielmehr bloß wahrscheinlich und zusammengesetzt sind, nimmt er als Defizit wahr. Die Vielfalt stellt weniger Reichtum als Verlust dar, nämlich denjenigen der (einen) Wahrheit. Sein Schluss lautet daher, es gelte nun alles, das gesamte Gebäude des Wissens, das bislang nur unzuverlässig in der Himmelsmechanik aufgehängt war, restlos abzureißen und auf sicherem Baugrund neu zu errichten: einem »Boden […], der ganz zu mir gehört«16 . Dieser Boden aber ruht auf den »einfachen Überlegungen, die ein Mann von gesundem Verstand auf natürliche Weise hinsichtlich der sich zeigenden Dinge anstellen kann«17 , jenem Privateigentum des cogito, das nichts Gemeinsames mehr hat und nicht geteilt werden muss. Und der Bauplan, mit dem die gottlose Theologie Descartes’ errichtet werden soll, heißt Methode. Diese Methode nun, die dem Descartes’schen Wahnsinn ihren Sinn verleiht, die die Vielfalt der modischen Welt wieder der einen Wahrheit unterwerfen soll und sich vor dem fürchtet, was zu viel und zu verschieden ist, besteht aus vier Vorschriften, denen das Denken unterworfen wird: Es darf nichts geglaubt werden, was sich nicht auch bezweifeln ließe. Nichts darf ganz bleiben, was sich nicht auch zerlegen ließe. Nichts darf gedacht werden, was sich nicht in ein aufsteigendes Gebäude einfügen ließe. Nichts darf ausgelassen und alles muss aufgezählt werden.18 Es ist eine ahistorische, atomare, hierarchische und totale Ordnung des Wissens, mit der sich

14 15 16 17 18

Vgl. ebd., Zweiter Teil, Absatz 1, 27f. Ebd. Ebd., Absatz 3, 33. Ebd., Absatz 1, 29. Vgl. ebd., Zweiter Teil, Absatz 7-10, 39-41.

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das Descartes’sche Subjekt umgibt. Sie belohnt den Philosophen, nach eigener Aussage, täglich mit der Entdeckung neuer, den Anderen unbekannten Wahrheiten, die ihn mit so »außerordentlich große[r] Befriedigung« erfüllen, »dass alles andere [ihn] nicht mehr berührte.«19 Dem Winter und dem Krieg in Deutschland schließlich entkommen, hat sich Descartes’ Verhältnis zur Welt verändert, er begegnet ihr fortan als (unbeteiligter) Zuschauer. »Und während der ganzen neun folgenden Jahre machte ich nichts anderes, als hier und dort in der Welt herumzuschweifen, wobei ich versuchte, eher Zuschauer als Akteur in all den Komödien zu sein, die sich in ihr abspielen, und indem ich mir bei jeder Sache überlegte, was sie verdächtig machen und Anlass zur Täuschung geben könnte, riss ich währenddessen all die Irrtümer samt Wurzeln aus meinem Geist, die sich ehedem dort hatten einschleichen können.«20 Die Welt ist dem Philosophen, der nicht mehr mitspielen will, insgesamt verdächtig geworden und nur noch Anlass einer Selbstkasteiung um der Befriedigung durch Wahrheit willen. Der Preis für diese Befriedigung aber ist die Verbannung in den Zuschauerrang, der Rückzug auf eine Position, die ihren Platz in der Welt nur durch die Distanz zu ihr erlangt. Das Theater, das er fortan mit sich und in die Welt trägt, scheint daher nichts anderes zu sein als das Trauma, das er aus dem Dreißigjährigen Krieg mitbringt. Mit seiner Methode führt Descartes das einsame Selbstgespräch weiter, das ihn den deutschen Winter überstehen ließ.   Wie John Law in After Method schreibt, ist Methode ein System, das Sicherheiten vermittels der Erkenntnis garantiert, indem es die Kluft zwischen uns und der Welt auf kürzestem Wege zu überbrücken verspricht, eine Kluft, die sie zuallererst herstellt. »Method, as we usually imagine it, is a system for offering more or less bankable guarantees. It hopes to guide us more or less quickly and securely to our destination, a destination that is taken to be knowledge about the processes at work in a single world. It hopes to limit the risks that we entertain along

19 20

Ebd., Dritter Teil, Absatz 5, 55. Ebd., Absatz 6, 57, Herv. d. Verf.

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the way. […] [A]s a framework, method itself is taken to be at least provisionally secure. The implication is that method hopes to act as a set of shortcircuits that link us in the best possible way with reality, and allows us to return more or less quickly from that reality to our place of study with findings that are reasonably secure, at least for the time being.«21 Methode, als positiver Begriff, wäre also das, was dem transzendentalen Subjekt, einem ›Geist im Gefäß‹, wieder Gewissheit über das Wirkliche verschaffen soll, indem es den angenommenen Abgrund zur Welt überbrückt. Es entpuppt sich aber als eben das, was die radikale Trennung des Subjekts von der Welt überhaupt erst einfordert, herstellt und aufrechterhält, als das, was die Distanz zur Welt zur Grundlage allen gültigen Wissens erklärt. Eine negative Methodik hingegen verneinte eben diese kategorische Distanzierung und würde sich darin üben, zu unterlassen, was die Verbundenheit mit den Dingen gefährden könnte.22 Denn Forschung (auch in den ›harten‹ Fächern), das wäre die Pointe der Wissenschaftsforschung, produziert kein distanziertes Wissen über die Welt da draußen, vielmehr geht sie neue Verbindungen zwischen Menschen und Dingen ein, stellt Übersetzungen her und bringt Vermittlungen hervor.23

Lost in the loop: aufführungsanalytische Verlustängste Wenn die Theaterwissenschaft eine Methode hat, dann ist dies die Aufführungsanalyse. Sie ist das einzige Verfahren des Faches, das unmittelbar aus dem disziplinären Kontext hervorgegangen ist, und ist darüber hinaus eng verbunden mit der theoretischen Gegenstandskonstitution der Disziplin, nämlich der Ausformulierung des Aufführungsbegriffs. Mit dem Begriff der Aufführung ist insofern die Überzeugung verbunden, dass in der schreibenden Annäherung an eine (ausgewählte) Aufführung, sei es nun hermeneutisch, semiotisch, phänomenologisch oder auch historiografisch, etwas passiert, das über die Voraussetzungen der Aufführung, also das Stück, das Genre, die Regie etc. hinausgeht und dessen Bericht einen Erkenntniswert hat. Eine aufführungsanalytische Forschungspraxis realisiert sich damit zugleich als praktizierter Glauben an den Gegenstand des Fachs, 21 22 23

Law 2004, 9f. Vgl. Latour 2000. Vgl. Haraway 1995.

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der schon mit dem Kauf der (welcher?) Karte und dem abendlichen Gang ins Theater beginnt, und in dem sich die Praxis des Theaters und der Wissenschaft begegnen und an der Konstitution des gemeinsamen Bezugspunktes arbeiten. Da Forschungspraxis insofern nie unabhängig ist von einer Gegenstandsbestimmung, der disziplinären Verortung und ästhetischen Präferenzen, wären daher auch aktuelle Methodendiskussionen auf ihre glaubenspraktische Stoßrichtung zu befragen. Denn offensichtlich scheint die disziplinäre Tendenz zur Erweiterung und Reflektion des Methodenspektrums nicht zuletzt aus einem Unwohlsein mit den Grenzen des aufführungsanalytischen Paradigmas und der einhergehenden Beschränkung auf das (wenn auch im weiten Sinne) Ästhetische geprägt.24 Nicht selten entpuppt sich dabei der Versuch, dasjenige wieder einzuholen, was sich jenseits autopoetischer Feedback-Schleifen abspielt, als ein Flirt mit der sogenannten Empirie.25 Mit Empirie sind allgemein solche Erkenntnisse über die Welt gemeint, die aus sinnlicher Erfahrung gewonnen werden, und von der Wissenschaftsphilosophie traditionell in Gegensatz zu den nicht-empirischen Erkenntnissen von Mathematik, Philosophie und Theologie gesetzt werden. Geprägt ist der Begriff in der zeitgenössischen Wissenschaftssprache durch die Sozialwissenschaften (in der Physik bspw. wird zwischen »experimenteller« und »theoretischer« unterschieden, nicht zwischen »theoretisch« und »empirisch«.) Dort bezeichnet er eine Sammlung von Daten und wird der Theorie gegenübergestellt, die meist als Verallgemeinerung der empirisch gewonnenen Erkenntnisse verstanden wird. Diskutiert wird die Empirie in den Sozialwissenschaften daher einerseits in Bezug auf die Art der Datenerhebung, ob diese quantitativ oder qualitativ ausfällt, andererseits im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Theorie. Doch auch die Ansätze einer qualitativen und theoriegeleiteten Empirie basieren auf der kategorialen Unterscheidung von Daten, Methode und Welt, die ganz in Descartes’scher Tradition steht. Der Begriff der Empirie legt insofern nahe, dass die Repräsentation von Welt und die Erkenntnis auf Grundlage dieser Repräsentation begrenzt problematisch ist. Er beinhaltet das Versprechen, einen Zugang zur Wirklichkeit zu eröffnen, der mehr vermag, als Texte über Texte zu liefern, und der über die Erfahrungen, die mit Zeichen gemacht werden, hinausgeht. Die Gefahr aber, 24 25

Vgl. Balme 2014. Vgl. Balme 5 2014.

Plädoyer für eine symmetrische Theaterforschung

die mit dem Begriffsimport einhergeht, besteht darin, in eine epistemologische Konstellation à la Descartes und einen unkritischen Neopositivismus zurückzufallen. Ein ästhetisches Ereignis lässt sich eben nicht als Datensatz erfassen und eine historische Quelle ist sicher kein empirischer Datenbestand. Daher schlage ich vor, auf der Suche nach Auswegen aus der Aufführung vorerst zur Aufführungsanalyse zurückzukehren, nämlich einem Verfahren, das insofern nicht empirisch ist, weil es keine Daten sammelt, da es mit Zeichen und Erfahrungen zu tun hat, die vom Prozess der Lektüre und den Materialitäten der Kommunikation nicht zu trennen sind. Und das zum anderen auch keine Methode in einem positiven Sinn ist, weil es erstens ohne Distanz zwischen Beobachterin und Beobachtetem auskommen muss, und zweitens nur als Einübung des Vermeidens (von Interpretation, Selbstzensur, Verstehenszwängen) praktizierbar wird.26 Da es aber insofern die Phänomenologie ist, die aktuell die Potentiale wie auch die Grenzen des Verfahrens prägt,27 muss ein Weiterdenken der Aufführungsanalyse eben dort ansetzen. Auch hier bietet sich ein Bezug auf Latour an, der die epistemische Konstellation der Phänomenologie am Ende seiner Kritik an der Cartesischen Trennung von Geist und Körper und der langen Trajektorie dieses ›Geistes im Gefäß‹ in der Geschichte der Philosophie anführt.28 Denn die Phänomenologie, schreibt Latour, scheine diese Trennung von Subjekt und Objekt zu überwinden, da sie schließlich einen Teil des Geistes aus dem Gefäß entnehmen und ihm wieder einen Körper geben würde. »Das so wieder zusammengesetzte wird von neuem mit der Welt in Beziehung gebracht, die nicht länger ein von uns betrachtetes Schauspiel ist, sondern eine gelebte, selbstverständliche und unreflektierte Erweiterung unserer selbst.«29 Zwar werde damit in gewisser Weise eine neue verkörperte Lebenswelt geschaffen, in der Subjekt und Objekt wieder zusammenkämen, zu dem Preis allerdings, dass diese Welt eben immer nur ›für uns‹ sei, also auf den menschlichen Gesichtspunkt beschränkt, und der subjektiven Seite der Dichotomie zugeschlagen würde.

26 27 28 29

Vgl. Weiler/Roselt 2017. Vgl. Roselt 2008. Vgl. Latour 2000. Latour 2000, 16f.

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»Die Phänomenologie hat es nur mit der Welt-für-ein-Bewußtsein zu tun. Wir erfahren durch sie zwar eine Menge darüber, daß wir nie ein entferntes Schauspiel betrachten, daß wir nie Abstand haben von dem, was wir sehen, daß wir immer in das reiche und erlebte Gewebe der Welt eingebunden sind, doch dieses Wissen ist leider nutzlos, wenn erklärt werden soll, wie die Dinge wirklich sind, da wir den engen Fokus menschlicher Intentionalität nie verlassen können.«30 Eine Begegnung von Beobachter und Beobachtetem im Phänomen wäre also durch die noch radikalere Trennung einer intentionalen Lebenswelt von der unmenschlichen Welt der Wissenschaft erkauft. So würde die ohnehin als unüberwindbar angelegte Unterscheidung von Menschen und Dingen eher noch zementiert. Die Phänomenologie führe so letztlich in eine Sackgasse, kompensiere einen Verlust und produziere dabei nur einen größeren. Auf das Theater übertragen wäre der Preis für die phänomenologische Verbindung von Saal und Bühne in der Aufführungsanalyse die Verabschiedung der Theaterwissenschaft von der Produktion des Theaters: den (toten) Autoren, den sozialen Strukturen, ihren historischen Entwicklungen. Zwar wird der distanzierte Blick einer passiven Interpretin überwunden und der Zuschauer als affektiver und aktiver Teil eines Theaters wiedergeboren, dessen Sinn ohne ihn nicht mehr denkbar ist, weil das Theater überhaupt erst in der Begegnung mit ihr entsteht. Dafür aber hat die Analyse nun nichts mehr dazu zu sagen, was sich hinter und jenseits der Bühne abspielt. Als Phänomenologie ist die Theaterwissenschaft aktives Publikum, aber eben nur noch Publikum, und hat sich von der Dramaturgie und der Regie, die sie gerade in den Anfängen noch stark bestimmt haben, restlos getrennt. Der methodische Gewinn geht mit einem Gegenstandsverlust einher. Folgt man Latours Argumentation, ist ein solches Mehr an Realität nun gerade nicht durch den Versuch erreichbar, eine letztlich unüberwindbare Teilung zu überwinden, also im post- der Phänomenologie zu finden, sondern nur noch im prä-, im Rückgang vor die Cartesische Trennung, das hieße auf den Kontext des Theaters übertragen vor die Unterscheidung von Saal und Publikum. Eine konsequente Fortführung der Aufführungsanalyse würde also gerade nicht den Blick aus dem Saal auf die Bühne um weitere Aspekte ergänzen, sondern vielmehr den Saal vorerst ganz verlassen und zwar in Richtung

30

Latour 2000, 17.

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jenes Zeitorts, an dem die Trennungen noch instabil sind. Das würde bedeuten, von einer phänomenologischen zu einer phänomenotechnischen31 Perspektive zu wechseln und nach den Kollektiven Ausschau zu halten, in deren Zusammenwirken sich Aufführungen überhaupt erst artikulieren. Eine Verbündete auf diesem Weg könnte die Ethnografie sein. Denn für die Aufführungsanalyse wie für die Ethnografie ist teilnehmende Beobachtung das Kerngeschäft, also eine Forschungspraxis, die insofern keine Methode ist, weil sie um die Tatsache weiß, dass Beteiligung nicht die Einschränkung, sondern die Voraussetzung von Erkenntnis ist.32 Nicht als Empirie also, nicht als Methode, die dem Fach neue Wege der Datensammlung erlaubte, könnte die Ethnografie die Theaterwissenschaft inspirieren, sondern als eine Praxis, welche die Descartes’schen Parameter eines positiven Methodenbegriffs an seine Grenzen führt, und zur Infragestellung der eigenen Kategorien, Positionen und Haltungen führt. Die zentrale Frage dabei wäre, was aus der Theaterwissenschaft und ihrem Gegenstand wird, wenn sie der Anthropologie folgend das Foyer verließe und, statt das ehrfurchtsvolle Gespräch mit Peter, Frank oder Karin auf dem Podium zu moderieren, zum Bühneneingang schliche, um dem Regieassistenten bei der Probenplanung auf die Finger zu schauen. Was findet sich, wenn die Theaterwissenschaft ins Feld statt ins Theater geht? (Die Tatsache, dass Kreativität immer kollektiv ist,33 Theater vor allen Dingen Arbeit34 oder die Probebühne ein Labor möglicher Zukünfte35 ist?) Und inwiefern unterscheidet sich dies von dem, was die Kulturanthropologie dort sucht?36 Denn wenn, wie oben beschrieben, der Gang ins Parkett mit einem Glauben an einen bestimmten Grund des Theaters aufs Engste verbunden ist, muss gefragt werden, woran sich nach der Entmystifizierung37 des Schaffensprozesses noch glauben lässt.38

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Vgl. Bachelard 1953. Vgl. das konzise Plädoyer für Ethnografie in der Soziologie von Klaus Amann und Stefan Hirschauer (Amann/Hirschauer 1997), sowie die kritischen Einlassungen von Kirsten Hastrup (Hastrup 1995) oder Tim Ingold (Ingold 2013). Vgl. Kurzenberger 2008. Vgl. Matzke 2012. Vgl. Leupin 2018. Vgl. Tinius/Flynn 2015; Wewerka/Tinius 2020. Vgl. Matzke 2012, 281. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die ethnografischen Ansätze von McAuley 2012 und Husel 2014.

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Into the wild: ethnografische Versuchungen Der Weg des Ethnografen führt ins Feld. In teilnehmender Beobachtung entdeckt sie dort ›befremdete‹ Kulturen39 , die in dichter Beschreibung erschlossen werden.40 Ethnografische Forschung beobachtet Kulturen als gelebte Praxisvollzüge in ihrer räumlichen und zeitlichen Realisierung vor Ort und realisiert sich ebendort als situative Selektion des Beobachteten. Enkulturation, die mitvollziehende Inkorporierung feldspezifischer Praktiken, ist eine Seite der Arbeit, die parallele Rekonstruktion des Miterlebten in feldfremden Kategorien bildet die andere.41 Daher verspricht das ethnografische Abenteuer heutzutage nicht mehr die naturalistische Repräsentation einer als fremd, stumm und statisch imaginierten Kultur und berichtet stattdessen von Begegnungen, die unter Vorbehalt stehen. Denn erstens begegnet die ethnografische Beobachterin immer schon einem sich beobachtet Wissenden und kann folglich immer nur das Beobachtete beobachten. Zweitens, ist die Beobachtung der Beobachterin nie die einzige und immer schon im Gespräch mit der Selbstbeobachtung der Beobachteten, denen sie begegnet. Drittens, ist die Beobachtung von den Verfahren und Begriffen der Beobachtung geprägt und nimmt daher immer schon nur Ausgewähltes wahr. Schließlich, viertens, folgt die Beobachtung, da sie teilnehmend ist, zwangsläufig den Vollzügen jener Kultur, die sie beobachtet, und ist also immer schon einer anderen Logik als der eigenen unterworfen. Es sind daher vielfältige Vorgänge der Übersetzung, die im Zentrum ethnografischer Arbeit stehen. Die Konsequenz aber ist, dass die Ethnografie keine positive Methode ist, kein abstrahierbares Verfahren, das es erlauben würde, das Vorgehen der Forschung oder auch nur den Gegenstand im Vorhinein eindeutig zu bestimmen. »Der entscheidende methodologische Schritt für die Etablierung ethnographischer Empirie«, betonen Stefan Hirschauer und Klaus Amann, sei »die Befreiung von jenen Methodenzwängen, die den unmittelbaren, persönlichen Kontakt zu sozialem Geschehen behindern.«42 Stattdessen gelte es »opportunistische« Erkenntnisstrategien43 zu entwickeln, die auf dem »Kontrollverlust 39 40 41 42 43

Vgl. Amann/Hirschauer 1997. Vgl. Geertz 2003. Vgl. hier und im Folgenden im Wesentlichen Amann/Hirschauer 1997. Ebd., 17. Ebd., 20.

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über Bedingungen des Erkenntnisprozesses«44 aufbauten und damit umgingen, »daß der Methodenzwang primär vom Gegenstand und nicht von der Disziplin ausgehen muß«45 . Es zeigt sich in diesen Formulierungen deutlich, wie der Methodenbegriff hier an seine Grenzen gerät, was die Ethnografie u.a. durch vielfältige geregelte Verfahren der Dokumentation und Reflektion zu kompensieren versucht. Doch auch wenn Verfahren wie das Schreiben von Feldtagebüchern positive Regeln formulieren, bleibt doch die Ethnografie selbst, ganz ähnlich wie die Aufführungsanalyse, im Kern eine negative Methodik, die Erkenntnis durch Vermeidung von Verhalten ermöglicht. Anders als die Anthropologie aber, die im Theater auf etwas Fremdes trifft, begegnet die theaterwissenschaftliche Ethnografie am selben Ort zuerst einmal etwas Eigenem, über das sie traditionell Deutungshoheit beansprucht. Sie ist daher immer schon Teil des Feldes, teilt grundlegende Überzeugungen (und sei es nur den Glauben an die Kunst des Theaters), und ist (zuerst, wenn auch nicht nur) Selbstbeobachtung des Feldes, auch wenn sich diese Deutungshoheit gerade aus der zeitgleichen Beheimatung in einem anderen Feld, nämlich dem akademischen, herleitet. Diese Position der Theaterwissenschaft hat ihren Vorläufer in der Dramaturgie, die ebenfalls ein Teil des Theaters ist und doch keiner, da auch sie traditionell einem anderen Feld verpflichtet ist, dem der Literatur. Literatur wird später durch Wissenschaft ersetzt, die Position der Fremdheit im Eigenen, inklusive des damit einhergehenden Reformationseifers, bleibt jedoch mit Gründung der Disziplin bestehen. Damit aber wird auch die Produktionslogik des Theaters in die Wissenschaft übernommen: Während die Qualitätskontrolle der Dramaturgie dem Theaterhandwerk auf die Finger schaut, um die Funktionalität der Produkte zu garantieren, wendet sich die Theaterwissenschaft anfangs eher dem modernen Produktdesign und den Produktdesignern zu (es sind vor allen Dingen Männern, denen sich zugewendet wird),46 später dann Fragen nach dem Konsum, dem diese Produkte zugeführt werden. Das Theater als Produktionszusammenhang aber bleibt, wenn auch aus wechselnden Perspektiven betrachtet und von wenigen Ausnahmen abgesehen, der kategoriale Horizont der Disziplin. Diese feldimmanente Produktorientierung der Theaterwissenschaft setzt sich häufig auch dort noch fort, wo seit den 1990er Jahren die kollektiven und

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Ebd., 17. Ebd., 19. Vgl. Pavis 2018.

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kontingenten Prozesse der Produktion in den Blick genommen werden, wie dies in der klassischen Inszenierungsdokumentation,47 aber auch in der ethnografisch inspirierten Probenforschung48 der Fall ist. Durch den Fokus auf künstlerische Schaffensprozesse bleibt auch hier häufig eine Feldlogik prägend, aus der heraus die Auseinandersetzung mit der Produktion wesentlich in Hinblick auf das Produkt von Bedeutung ist.49 Wo die Probe aber ausschließlich als Weg zum Ziel der Inszenierung verstanden wird, bleibt die Forschung letztlich einer ästhetischen Teleologie verhaftet, die auf eine Kanonisierung und Interpretation großer Werke hinausläuft. So sollen es beispielsweise auch in Jen Harvies und Andy Lavenders Band zu internationalen Probenprozessen gerade herausragende Gruppen sein, deren signifikante und innovative Schaffensprozesse durch den Blick in den Probenraum untersucht werden sollen, um letztlich die künstlerischen Werke der Gruppen besser zu verstehen und analysieren zu können.50 Eine solche unreflektierte Übernahme tradierter Wissenskategorien wie dem Werkverständnis und historischer Wertvorstellungen wie der ›Innovation‹ aber läuft Gefahr, subtile Hagiografien zu produzieren. Die Expeditionen in den »Intimbereich«51 der Probebühne scheinen für die Klappsessel-Theaterwissenschaft (um Malinowskys armchair-anthropology zu variieren) jene Angstlust in der Annäherung an ein tabuisiertes Arkanum

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Nachdem im 19. Jahrhundert vielfach standardisierte Regiebücher verlegt wurden, sind es im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts die ›großen Regisseure‹ wie Stanislawski, Brecht, Grotowski oder Brook, die vielfach ihre Musterinszenierungen verlegen (vgl. Cole 1992), eine Tendenz, die von Inszenierungsdokumentationen im Archiv der Akademie der Künste oder den Theatre Quarterly Production Casebooks durch Gedächtnisinstitutionen und Wissenschaft aufgenommen wird (Erken 1985; Ullrich 1999). Vgl. neben den unten erwähnten Beispielen aus dem anglofonen Bereich die Projekte von Rahel Leupin (2018), Katarina Kleinschmidt (2018), Grit Köppen (2017), David Roesner (https://www.theaterwissenschaft.uni-muenchen.de/forschung/theatermusik/index.html), sowie die in der Kulturanthropologie verorteten Arbeiten von Jonas Tinius (2015, 2020). Vgl. McAuley 1998, 78. Dies scheint auch weitgehend auf jene Projekte zuzutreffen, die sich keiner dezidiert ethnografischen Annäherung verschrieben haben, wie viele der Projekte die bspw. im Kontext des Graduiertenkollegs »Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses« (1998-2005) an der Universität der Künste oder im Umfeld der Hildesheimer Kulturwissenschaften entstanden sind. Vgl. Kurzenberger 2009, Hinz/Roselt 2011, oder auch Buchmann/Lafer/Ruhm 2016. Vgl. Harvie 2010, 1ff. Mundi 2005, 19.

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zu wiederholen, die schon den Forschungsreisenden zu Kolonialzeiten angetrieben hat: Wie sich unlängst auf einem Methoden-Workshop zeigte, den ich teilnehmend beobachten durfte,52 war dort auffällig viel von künstlerischen Entscheidungen die Rede, die nachts im Bett von verpaarten Leitungsteams oder nackten Regisseuren (es war von Männern die Rede) unter der Dusche getroffen würden, und den epistemologischen Problemen, die diese unbekleideten Künstler darstellten. Das aber schien wiederum insbesondere in Hinblick auf Qualifikationsarbeiten Bedenken bezüglich des Verlusts der eigenen Wissenschaftlichkeit zu verursachen, die sich in einem intensiven Suchen nach methodisch garantierter Abstandswahrung ausdrückte, als wäre die entscheidende Herausforderung der ethnografischen Arbeit, einer unwillkürlichen Auflösung der Wissenschaft im Feld, d.h. im Theater vorzubeugen.53 Die Herausforderung aber, vor die das ethnografische Abenteuer die Theaterwissenschaft stellt, besteht m.E. gerade nicht darin, methodisch eine Distanz zu wahren, die schon kategorial nicht gegeben ist, also auf möglichst objektive Weise das Zustandekommen ›großer Werke‹ zu beschreiben. Vielmehr bestände die Chance des ethnografischen Zugangs darin, dem Theater persönlich näher zu kommen und zugleich zur Feldlogik des Theaters begrifflich in Distanz zu treten: die ethnografische Herausforderung bestände für die Theaterwissenschaft insofern in erster Linie darin, die eigenen Kategorien und damit einhergehend die eigene epistemische Position einer Revision zu unterziehen. Sie würde die hochinteressante Frage aufwerfen, was eine Theaterwissenschaft wäre, die mit der Regie unter der Dusche steht, und mit welchen Begriffen sich der Kunst am sinnvollsten der Rücken einseifen ließe? Aus Sicht der Sozialwissenschaften ist der ethnografische Zugriff auf das Theater relativ unkompliziert: Die Disziplinen bringen ihre Begriffe und Fragen – nach Identitäts- und Differenzbildungen, Prozessen der Subjektivierung und Kollektivierung etc. – einfach mit und tragen sie an die soziale Praxis des Theaters heran. Den Sozialwissenschaftler Axel Schmidt beispielsweise interessiert an Theaterproben, wie in multimodalen Interaktionen Wirklichkeiten sozial hergestellt werden, und er untersucht dieselben anhand von videobasierten Transkriptionen, mit denen er die Proben selbst in kleine

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Unter dem Titel »Methodologische Diskurse der aktuellen Probenforschung« fand die Arbeitskonferenz im Rahmen des DFG-Projekts »Theatermusik heute als kulturelle Praxis« (Leitung: Prof. Dr. David Roesner) am 5. und 6. April 2019 in München statt. Wacquant 2010, 15, zit.n. Kleinschmidt 2018, 47.

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Theaterstücke inklusive Dialogen und Didaskalien verwandelt.54 Es sind zwei recht klar getrennte Sprachen, die sich in der Forschung begegnen und in deren Übersetzung die Forschung im Wesentlichen besteht. Das Potential der ethnografischen Perspektive erweist sich also im kategorialen Bruch mit der Feldlogik und stellt eine ethnografisch inspirierte Theaterwissenschaft vor die zentrale Frage, welches Vokabular ihr bleibt, wenn sie die vom Feld vorgegebene und zugewiesene Position im Zuschauerraum verlässt. Oder, um es in der ethnografischen Dialektik von going native/coming home55 auszudrücken, auf welche theoretische Heimat sie sich zurückziehen kann, um das Feld zu ordnen und das Geschehen auf der Probebühne anders zu betrachten. Welche Kategorien legt die Theaterwissenschaft an das Theater an, wenn es weder jene des Theaters noch jene der Soziologie sein sollen?

Towards the real: Forschung statt Wissenschaft Anfang der 1980er Jahre entsteht die Wissenschaftsforschung am Schnittpunkt von Ethnografie und historischer Epistemologie, im Kontext jenes Forschungsfeldes, das im anglofonen Sprachraum als Science and Technology Studies bekannt ist.56 Anhand der Beobachtung von materiellen, sozialen und semiotischen Praktiken arbeiten u.a. die Laborstudien an einer praxeologischen57 Beschreibung der Kultur des Labors.58 Anhand dessen, »was Wissenschaftler tun, wenn sie ihre jeweilige Forschung betreiben«59 , wird untersucht, wie Wissen entsteht. Damit einher geht eine konsequente Distanz zur Selbstbeschreibung des wissenschaftlichen Tuns als auch aller wissenschaftstheoretischen Vorannahmen. Stattdessen verfolgt die Wissenschaftsforschung eine symmetrische Perspektive60 , die sich von den üblichen Erfolgsgeschichten der Wissenschaft abgrenzt. Zurückgewiesen wird die unterschiedliche Herangehensweise an das, was sich bewahrheitet hat, und das, was als widerlegt gilt, in Zuspitzung

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Schmidt 2014. Die Dialektik von going native und coming home ist ein ethnografischer Topos, vgl. Flick 1995, Henning u.a. 2011. Vgl. Bammé 2009, Bauer/Heinemann/Lemke 2017. Vgl. Schatzki/Knorr-Cetina 2002. Vgl. Knorr-Cetina 1981, Latour/Woolgar 1986. Rheinberger 2007, 11. Vgl. Bloor 1984.

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dessen auch die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Fakt und Fetisch und damit letztlich die Differenzierung zwischen Moderne und Vormoderne.61 Mit der gleichen befremdenden Neugier, mit der Clifford Geertz dem Hahnenkampf auf Bali begegnete, untersuchen beispielsweise Bruno Latour und Steve Woolgar, wie im Labor ein wissenschaftliches paper, d.h. ein beschriebenes Stück Papier, produziert wird und wie es dazu kommt, dass sich die Gesellschaft dieses Papier im Schnitt 30.000 € kosten lässt. Statt eines autonomen Wissenschaftssystems, das es mit einer reinen Erkenntnis zu tun hätte, entdeckt die Wissenschaftsforschung dabei quer durch die Disziplinen eine Forschungspraxis, die mit ihrer sozialen Wirklichkeit, ihren technischen Voraussetzungen und ihrem materiellen Gegenüber aufs Engste verstrickt ist. Die Wissenschaften (im Plural) inklusive der Naturwissenschaften, das zeigt die Wissenschaftsforschung deutlich, liefern keine abstrakten, zeitlosen und übernatürlichen Wahrheiten Descartes’scher Natur, die es nur zu entdecken gelte, sondern vielmehr Wahrheiten, die einer komplexen materiellen und sozialen Praxis bedürfen, um sie hervorzubringen und aufrechtzuerhalten, die also Arbeit erfordern und immer schon Teil der Welt sind. Eine Theorie der Wissenschaft (im Singular) hingegen, welche eine eigentlich unüberbrückbare Distanz zwischen Subjekt und Objekt einsetzt, die es dann durch eine möglichst transparente Repräsentation zu überbrücken gilt, erscheint aus Sicht der Praxis als eine politisch motivierte Reinigungsbemühung, der es primär um die Delegitimation anderer Wissensformen geht.62 Am Ende dieser praxeologischen Polemik gegen die Theorie steht insbesondere bei Bruno Latour daher ein politisches Projekt, das als Alternative zur Postmoderne einen Rückgang vor die Differenzierungen der Moderne vorschlägt und eine »gewaltige Verschiebung« fordert, »von der Wissenschaft zu etwas, das wir Forschung nennen könnten (oder Wissenschaft Nr. 2 […])«63 . »Wissenschaft besaß Gewißheit, Kühlheit, Reserviertheit, Objektivität, Distanz und Notwendigkeit, Forschung dagegen scheint all die entgegengesetzten Merkmale zu tragen: Sie ist ungewiß, mit offenem Ausgang, verwickelt in die niederen Probleme von Geld, Instrumenten und Know-how und kann nicht so leicht zwischen heiß und kalt, subjektiv und objektiv, menschlich und nicht-menschlich unterscheiden.«

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Vgl. Latour 2015. Vgl. Latour 2014. Latour 2000, 31.

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Im Gegensatz zur Wissenschaft besitzt Forschung eine radikale Kontingenz, welche durch die vielfach aufgehobene Trennung von den anderen Gesellschaftssystemen entsteht und überhaupt das entscheidende Merkmal von Forschung ist. Anstelle der individualisierten Erkenntnisrelation geht es dabei um Kollektivität, und zwar um eine Kollektivität, welche weder eine vorab festgelegte Trennung in Handlungsträger (Menschen) und Handlungsempfänger (Dinge) kennt, noch einen geschlossenen Horizont hat. »Forschung ist diese Zone, in die Menschen und nichtmenschliche Wesen geworfen sind und in der im Laufe der Zeit das außergewöhnlichste kollektive Experiment durchgeführt worden ist, bei dem es darum geht, in Echtzeit zwischen ›Kosmos‹ und ›Chaos‹ zu unterscheiden, wobei niemand, weder Wissenschaftler noch Wissenschaftsforscher, im vorhinein weiß, wie die provisorische Antwort lauten wird.«64 Während Wissenschaft also wesentlich mit Grenzsicherung befasst ist, sich als abgehobenes und unberührbares ›god’s eye‹ à la Descartes stilisiert, das die Dinge herabblickend durchschaut, ist Forschung ein situiertes Wissen, das damit beschäftigt ist, an der Ordnung der Dinge mitzuarbeiten.65 Ein Umstellen auf Forschung heißt für Latour daher auch ein Wechsel von einer intellektuellen Politik, die sich auf die kritische Dekonstruktion aus der Distanz spezialisiert hatte, hin zu einer Mitwirkung an der produktiven Konstruktion von Wirklichkeiten. Eine symmetrische Theaterforschung, die hier ansetzt, müsste die Frage, wie (gutes) Theater entsteht, durch die Frage ersetzen, was da eigentlich im Theater gemacht wird, d.h., was dort mittels welcher Praktiken hergestellt wird. Sie müsste an dem historiografisch längst vollzogenen Bruch mit den Erfolgsgeschichten des Theaters ansetzen, konsequent aufhören, vorab und implizit zwischen erfolgreichen und gescheiterten Projekten, zwischen Professionellen und Dilettanten, zwischen Provinz und Metropole, Kunst und Unterhaltung, Aufführung und Probe zu trennen. Das hieße sich von den normativen Vorannahmen des Feldes emanzipieren und die Probebühne ähnlich wie die Wissenschaftsforschung das Labor in den Blick nehmen, als Teil eines größeren Zusammenhangs, zu dem ebenso Werkstätten wie Garderoben und Redaktionsstuben gehören. 64 65

Ebd. Vgl. Haraway 1995.

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Anstelle der Diskussion ästhetischer Trends und anerkannter Produktionen, welche die Wissenschaft des Theaters größtenteils prägen, träte in der Forschung die Frage nach den Bedingungen, die geschaffen werden müssen, nach den sozialen, semiotischen und materiellen Praktiken, die es braucht, um so etwas wie Aufführungen entstehen zu lassen. Es wäre die Meso-Ebene der Theaterkultur statt singulärer Werke oder globaler Strukturen, die von Interesse wäre. Die Untersuchung des Reichtums an Verhandlungsprozessen, die das Theater mit den Kollektiven der Gesellschaft verbinden, müsste die ewig gleichen (theoretischen) Leerformeln der kritischen Repräsentation oder der performativen Subversion ersetzen. Theaterforschung hieße, unter Aufführungsanalyse weniger die Analyse von gegebenen, begrenzten Ereignissen zu verstehen, als vielmehr das praktische Zustandekommen eben dieser Zeiträume (und ihrer Grenzen) in den Blick zu nehmen. Nicht aufgegeben würde hingegen das Interesse am Ästhetischen, es wäre nur ein anderes Interesse am Ästhetischen, das die Aufführung als eine unwahrscheinliche Wirklichkeit verstände, die es auf das Zustandekommen ihrer Kollektivität hin zu untersuchen gelte. Eine solche Theaterforschung stände daher im Widerspruch zur Theatertheorie (und ihren impliziten normativen Setzungen), die in Absehung von der Praxis oder in ihr nacheilender Deutung versucht zu erklären, was Theater ist, was es soll oder was es tut. Stattdessen würde sie der Praxis auf Augenhöhe begegnen: im Bewusstsein um die Eigenständigkeit der Praxis und ihres situierten Wissens, das keines Exegeten bedarf, um verstanden zu werden, da es selbst und für sich sprechen kann. Je stärker sich die Theaterwissenschaft damit zugleich von den kategorialen Setzungen des Theaters zu emanzipieren und sich aus der kategorialen Abhängigkeit zu befreien vermöchte, desto eher könnte die Forschung dem Theater mit anderem Selbstbewusstsein als ein Gegenüber begegnen, das seinem Gegenstand in einem verantwortlichen, weil antwortenden Verhältnis entgegentritt. Theaterforschung wäre insofern zuerst einmal eine Frage der Haltung gegenüber dem Theater, die darauf verzichtet, dank gelehrter Expertise oder methodischer Immunisierung über den Dingen stehen zu wollen, und sich stattdessen als eine immer schon teilnehmende Beobachtung begreift, deren Erkenntnismöglichkeiten von der Positionalität und den Kategorien abhängen, mit denen sie sich von der vorgegebenen Zuschauerrolle emanzipiert. Eine solche Forschung wäre immer das, was Aufführungsanalyse schon ist, eine Form der Übersetzung im Dialog mit dem Theater. Anstelle einer unterwürfigen Ehrerbietung gegenüber der Kunst, die jederzeit in abwertende Ver-

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achtung umzuschlagen droht, würde sie einen pragmatischen Umgang mit dem Heiligtum der Kunst suchen. Beweisen müsste sie sich in den Wirklichkeiten, an deren Produktion sie beteiligt ist. Denn wenn der anfängliche Skandal der Wissenschaftsforschung darin bestand, die wissenschaftliche Erkenntnis als etwas Fabriziertes (und dennoch nicht weniger Reales) zu beschreiben, bestände die Herausforderung der Theaterforschung vielleicht darin, eine Realität des Theaters in den Blick zu nehmen, die über das Performative hinausgeht und sich nicht in den individuellen performativen Akten der initialen Benennung oder der gestischen Variation erschöpft. Vielmehr gälte es, die wirklichkeitskonstituierende Macht des Theaters in den Verbindungen zu suchen, die es zwischen ontologisch so unterschiedlichen Dingen wie Körpern, Schriften und Wahrnehmungen herzustellen im Stande ist, und Aufführungen als etwas den Mikroben nicht ganz Unähnliches zu behandeln.

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Autor*innen

Susanne Foellmer ist Associate Professor in Dance an der Coventry University, Centre for Dance Research (C-DaRE). Von 2011-2016 war sie Juniorprofessorin für Tanz- und Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Gender Studies an der Freien Universität Berlin. Von 2014-18 leitete sie das DFG-Projekt »ÜberReste. Strategien des Bleibens in den darstellenden Künsten«. Publikationen (Auswahl): Am Rand der Körper: Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz (transcript 2009), Performing Arts in Transition. Moving Between Media, hg. mit M. K. Schmidt und C. Schmitz (Routledge 2019); On Leftovers, hg. mit R. Gough (2017, Performance Research 22/8 sowie On Remnants and Vestiges. Negotiating Persistence and Ephemerality in the Performing Arts (im Erscheinen, Routledge). Benjamin Hoesch ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie Doktorand in der ortsverteilten interdisziplinären DFG-Forschungsgruppe »Krisengefüge der Künste: Institutionelle Transformationsdynamiken in den Darstellenden Künsten der Gegenwart« mit einem Projekt zu Nachwuchsfestivals. Neben der Forschung ist er künstlerisch im Regieduo mit Gregor Glogowski tätig: www.glogowskihoesch.com/. Publikationen u.a.: »Junge Kunst oder wahre Kunst? Institutionelle Reproduktion durch die Subjektivierung ›Nachwuchskünstler/in‹ in Festivalformaten« in F. Kreuder/E. Koban/H. Voss (Hg.): Re/produktionsmaschine Kunst (transcript 2017); »Nachwuchsförderung als Legitimationsmythos« in B. Mandel/A. Zimmer (Hg.): Cultural Governance: Legitimation und Steuerung in den darstellenden Künsten (Springer 2020). Eva Holling ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig Universität Gießen. Sie ist zudem als

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Neue Methoden der Theaterwissenschaft

freie Autorin, Herausgeberin und in der künstlerischen Praxis tätig, gründete die Gruppe manche(r)art mit und ist Mitglied der Kollektive Mühlenkampf und Raumfaltung. Nach ihrem Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Kunstgeschichte und Französisch in Frankfurt a.M. und Paris promovierte sie zum Thema Übertragung im Theater. Theorie und Praxis theatraler Wirkung (Neofelis 2016). Die Arbeit wurde 2017 mit dem Missing Link Preis des Psychoanalytischen Seminars Zürich ausgezeichnet. Stefanie Husel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Bis 2014 war sie als wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungsschwerpunktes SoCuM (Social and Cultural Studies Mainz) tätig, zuvor war sie freie Dramaturgin und Festival-Produzentin in Berlin. Im Moment habilitiert sie sich zum Thema Praxeologie des Theaters an der Universität Mainz. Sie veröffentlichte u.a. zum Spielbegriff (Spiele spielen, hg. mit F. Kreuder, Fink 2018) und zur Theaterpraxis der Kompanie Forced Entertainment (Grenzwerte im Spiel, transcript 2014). Doris Kolesch ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Co-Sprecherin des DFG-Sonderforschungsbereichs »Affective Societies«, in dem sie ein Forschungsprojekt zu affektiven Dynamiken in immersiven Theaterformen leitet. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Theorie und Ästhetik von Theater und anderen Künsten, Theorien des Performativen, Stimme und akustische Kultur sowie kulturwissenschaftliche Affekt- und Emotionsforschung. Ihre wissenschaftliche Arbeit wurde unter anderem mit dem Heinz-Maier-Leibnitz-Preis der DFG, dem Essay-Preis der Gesellschaft für Theaterwissenschaft sowie der Berufung in die Junge Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. Aktuelle Buchpublikation: Staging Spectators in Immersive Performances: Commit Yourself! Hg. mit T. Schütz, S. Nikoleit (Routledge 2019). Ulf Otto ist Professor für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Intermedialitätsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat Philosophie und Theaterwissenschaft (Mag. Art.) sowie Informatik (B.A.) in Berlin, Toronto und Paris studiert und mehrere Jahre als freier Regisseur im Theater gearbeitet. 2011 wurde er an der Universität Hildesheim mit einer Arbeit zur Theatergeschichte der neuen Medien promoviert (Internetauftritte, transcript 2013) und hat sich mit einem von der VW-Stiftung geförderten

Autor*innen

Forschungsprojekt zur Elektrifizierung des Theaters und der Theatralität der Elektrizität habilitiert. Weitere Publikationen: Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. (hg. gem. mit Jens Roselt, transcript 2012), Auftritte: Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien (gem. mit Annemarie Matzke und Jens Roselt, transcript 2015) sowie Das Theater der Elektrizität. Technologie und Spektakel im ausgehenden 19. Jahrhundert (Metzler 2020, i. E.). Vito Pinto lebt in Berlin und war zuletzt Wissenschaftlicher Mitarbeiter im BMBF-Projekt »Re-Collecting Theatre History«, einem Forschungsprojekt zur digitalen Nachlasserschließung am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin (2017-2020). Er arbeitete u.a. am SFB »Kulturen des Performativen«, wo er eine theaterwissenschaftliche Dissertation zum Thema Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film (transcript 2012) verfasste. Seine Forschungsschwerpunkte sind Dramaturgien und Ästhetiken des Hörspiels, zeitgenössisches Theater, Selbstinszenierungen im Pop. Zudem ist er als Kulturarbeiter tätig u.a. als Radioautor für den RBB, als Moderator für DLF Kultur (2015-2019) sowie als Mitveranstalter des »Berliner Hörspielfestivals« (2013-2017). Zuletzt erschienen: »Listen and Participate! The Work of the Hörspielmacher Paul Plamper«, in: Radio as Art. Concepts, Spaces, Practices (transcript 2019). Nora Probst ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Theaterwissenschaftlichen Sammlung (TWS) am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln. Als Leiterin der im Januar 2019 eingerichteten Abteilung für Digital Humanities betreut sie die digitalen Sammlungen der TWS. Zusätzlich koordiniert sie gemeinsam mit Vito Pinto von der Freien Universität Berlin das vom BMBF geförderte Verbundprojekt Re-Collecting Theatre History. In ihrer 2019 abgeschlossenen Dissertation Objekte, die die Welt bedeuten: Carl Niessen und der Denkraum der Theaterwissenschaft verhandelt sie die ›Gründungsmythen‹ der Theaterwissenschaft in Köln. Ihre Forschungsinteressen beinhalten u.a. Themenbereiche der Wissen(schaft)sgeschichte, Theaterhistoriografie, der materiellen Kultur sowie der Digital Humanities. Kati Röttger ist Professorin für Theaterwissenschaft und Leiterin des Instituts für Theaterwissenschaft an der Universität von Amsterdam. Ihr gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt sind Technologien des Spektakels um 1800. Weitere Forschungsgebiete: Theater als Medium des Sehens, Politik

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des Bildes, globale Theatergeschichte und postkoloniales Theater. Publikationen (Auswahl): Welt – Bild – Theater (Hg. von Bd. I + II, Narr 2010, 2012) und themenspezifisch »Technologien des Spektakels« in: Transmediale Genre-Passagen. Interdisziplinäre Perspektiven. (hg. v. in I. Ritzer & P. Schulze, Springer 2016) sowie »Spectacle and Politics: Is there a Political Reality in the Spectacle Society?«, in: The Spell of Capital: Reification and Spectacle hg. v. S. Gandesha, & J. F. Hartle, Amsterdam Univ. Press 2017). Theresa Schütz studierte Deutsche Literatur, Kultur- und Theaterwissenschaft in Berlin und Paris. Seit 2015 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Doris Kolesch im DFG-Sonderforschungsbereich »Affective Societies« an der Freien Universität Berlin, in dessen Rahmen sie zu Theorie und Ästhetik von zeitgenössischem immersiven Theater promoviert. Seit 2013 ist sie auch theaterjournalistisch tätig und schreibt regelmäßig für Theater der Zeit sowie seit 2016 für den Wissenschaftsblog Affective Societies. Aktuelle Buchpublikation: Staging Spectators in Immersive Performances: Commit Yourself! Hg. mit D. Kolesch, S. Nikoleit (Routledge 2019). Matthias Warstat ist seit 2012 Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin sowie Teilprojektleiter im Sonderforschungsbereich Affective Societies. Zwischen 2008 und 2012 hatte er den Lehrstuhl für Theaterund Medienwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg inne, zwischen 2012 und 2017 leitete er das durch einem ERC-Grant finanzierte Projekt The Aesthetics of Applied Theatre. Weitere Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Ästhetik des Gegenwartstheaters, Geschichte politischen Theaters sowie Relationen von Theater und Gesellschaft. Publikationen (Auswahl): Soziale Theatralität. Die Inszenierung der Gesellschaft (Fink 2018); Theaterhistoriografie (gem. mit Jan Lazardzig und Viktoria Tkacyzk, Francke 2012) sowie Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis (mit Joy Kristin Kalu u.a., Theater der Zeit 2015). Benjamin Wihstutz ist Juniorprofessor für Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Aktuell vertritt er an seinem Institut (FTMK) eine Professur für »Alltagsmedien und digitale Kulturen«. Er ist Mitglied der Forschungsinitiative Forum Humandifferenzierung und des Zentrums für Social and Cultural Studies Mainz (SoCuM). 2011 wurde er an der Freien Universität Berlin promoviert, wo er von 2007-2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sonderforschungsbereich Ästhetische Erfahrung

Autor*innen

im Zeichen der Entgrenzung der Künste war. Arbeitsschwerpunkte: Politisches Gegenwartstheater, Theater- und Performancegeschichte, Performance und Disability. Publikationen (Auswahl): Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater (diaphanes 2012), Disabled Theater (hg. gem. mit Sandra Umathum, diaphanes 2015), sowie Transformative Aesthetics (hg. gem. mir Erika Fischer-Lichte, Routledge 2018). Andreas Wolfsteiner ist Professor für Angewandte Theaterwissenschaft am Institut für Theaterpädagogik der HS Osnabrück. Zuvor vertrat er Professuren an der Freien Universität Berlin sowie der Stiftung Universität Hildesheim und war Gastprofessor am Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin im Programm »Vielfalt der Wissensformen/Diversity of Knowledge« (2017/18). Wolfsteiner wurde 2008 am GRK »Körper-Inszenierungen« der Freien Universität Berlin mit einer Untersuchung zur Geschichte und Theorie von Interfaces promoviert (Der formatierte Körper, Kadmos 2011); seine Habilitation folgte im Jahr 2015 mit der Schrift Sichtbarkeitsmaschinen. Zum Umgang mit Szenarien (Kadmos 2018). Weitere Publikationen: Paradigmenwechsel. Wandel in den Künsten und Wissenschaften (hg. mit Andrea Sakoparnig und Jürgen Bohm, de Gruyter 2014) sowie Trial and Error. Szenarien medialen Handelns (hg. mit Markus Rautzenberg, Wilhelm Fink 2014).

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Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein

Pina Bausch und das Tanztheater Die Kunst des Übersetzens 2019, 448 S., Hardcover, Fadenbindung, 71 Farbabbildungen, 28 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4928-4 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4928-8

Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten. Das Buch (2. Aufl.) 2019, 280 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4677-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4677-5

Manfred Brauneck

Die Deutschen und ihr Theater Kleine Geschichte der »moralischen Anstalt« – oder: Ist das Theater überfordert? 2018, 182 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3854-7 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3854-1 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3854-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater- und Tanzwissenschaft Hans-Friedrich Bormann, Hans Dickel, Eckart Liebau, Clemens Risi (Hg.)

Theater in Erlangen Orte – Geschichte(n) – Perspektiven Januar 2020, 402 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 24 Farbabbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4960-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4960-8

Mateusz Borowski, Mateusz Chaberski, Malgorzata Sugiera (eds.)

Emerging Affinities – Possible Futures of Performative Arts 2019, 260 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4906-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4906-6

Irene Lehmann, Katharina Rost, Rainer Simon (Hg.)

Staging Gender – Reflexionen aus Theorie und Praxis der performativen Künste 2019, 264 S., kart., 9 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4655-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4655-3

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