Netzwerke: Allgemeine Theorie oder Universalmetapher in den Wissenschaften? Ein transdisziplinärer Überblick [1. Aufl.] 9783839409800

Der »Netzwerk«-Begriff ist in den letzten Jahren zu einer kulturellen Leitmetapher der modernen Gesellschaft und ihrer W

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Netzwerke: Allgemeine Theorie oder Universalmetapher in den Wissenschaften? Ein transdisziplinärer Überblick [1. Aufl.]
 9783839409800

Table of contents :
Inhalt
Noch ein Buch zu Netzwerken? Eine kurze Einleitung
Netzwerke – Natur oder Kultur?
Das Netzwerk als Natursystem und ästhetische »Pathosformel« der Moderne
Vernetztes Wissen: Kognitive Frames, neuronale Netze und ihre Anwendung im medizinhistorischen Diskurs
Netzwerkmodelle in der Historischen Sprachwissenschaft
Vernetzte Räume
Zeppeline oder Flugzeuge? Wirtschaftliche Verkehrsnetzwerke als Modell zur Erklärung eines Scheiterns
Räumliche Konstruktion und soziale Normen in Handelsnetzwerken des 18. Jahrhunderts
Geographische Entwicklungsmuster von Netzwerken der Ver- und Entsorgung
Kommunikation und soziale Beziehungen
Das Internet als Netzwerk des Wissens. Zur Dynamik und Qualität von spontanen Wissensordnungen im Web 2.0
Soziale Beziehungen: gesellschaftliche Determinanten und gesundheitliche Konsequenzen
Vernetzte Wissenschaft
Ein verborgenes internationales Netzwerk: Der synthetische Darwinismus
Der Austausch von Wissen und die rekonstruktive Visualisierung formeller und informeller Denkkollektive
Textvernetzungen und Zitationsnetzwerke
Statt eines Schlusswortes
Netzwerke – Eine allgemeine Theorie oder die Anwendung einer Universalmetapher in den Wissenschaften?
Zu den Autoren

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Heiner Fangerau, Thorsten Halling (Hg.) Netzwerke

2009-07-10 12-22-57 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b2215122012646|(S.

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Heiner Fangerau, Thorsten Halling (Hg.)

Netzwerke Allgemeine Theorie oder Universalmetapher in den Wissenschaften? Ein transdisziplinärer Überblick

2009-07-10 12-22-57 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b2215122012646|(S.

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Gedruckt mit Hilfe der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: D. Holder (benecus medien), © Photocase, 2009 Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-980-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-07-10 12-22-57 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b2215122012646|(S.

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Inhalt

Noch ein Buch zu Netzwerken? Eine kurze Einleitung ............................................................................. 7

Netzwerke – Natur oder Kultur? Das Netzwerk als Natursystem und ästhetische »Pathosformel« der Moderne ................................................................ 13 Igor J. Polianski Vernetztes Wissen: Kognitive Frames, neuronale Netze und ihre Anwendung im medizinhistorischen Diskurs ................. 29 Heiner Fangerau, Michael Martin, Robert Lindenberg Netzwerkmodelle in der Historischen Sprachwissenschaft..............49 Jens Fleischhauer

Vernetzte Räume Zeppeline oder Flugzeuge? Wirtschaftliche Verkehrsnetzwerke als Modell zur Erklärung eines Scheiterns ......................................... 71 Helmut Braun Räumliche Konstruktion und soziale Normen in Handelsnetzwerken des 18. Jahrhunderts ...................................... 93 Margit Schulte Beerbühl, Jörg Vögele

Geographische Entwicklungsmuster von Netzwerken der Ver- und Entsorgung ...................................................................... 111 Ulrich Koppitz

Kommunikation und soziale Beziehungen Das Internet als Netzwerk des Wissens. Zur Dynamik und Qualität von spontanen Wissensordnungen im Web 2.0 ......... 133 Hans-Jürgen Bucher Soziale Beziehungen: gesellschaftliche Determinanten und gesundheitliche Konsequenzen .......................................................... 173 Simone Weyers

Vernetzte Wissenschaft Ein verborgenes internationales Netzwerk: Der synthetische Darwinismus ........................................................ 199 Thomas Junker Der Austausch von Wissen und die rekonstruktive Visualisierung formeller und informeller Denkkollektive .............. 215 Heiner Fangerau Textvernetzungen und Zitationsnetzwerke ...................................... 247 Jürgen Rauter

Statt eines Schlusswortes Netzwerke – Eine allgemeine Theorie oder die Anwendung einer Universalmetapher in den Wissenschaften?........................... 267 Thorsten Halling und Heiner Fangerau

Zu den Autoren................................................................................... 287

Noch ein Buch zu Netzwerken? Eine kurze Einleitung

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Phänomenen von Vernetzung hat in den letzten Jahren viele interessante Publikationen hervorgebracht. Folgt man Hartmut Böhme, der Netzwerke zu Recht als eine »Leitmetapher der Moderne« definiert (Böhme 2004), so ist eine methodische und konzeptionelle Abgrenzung umso wichtiger. Sind beispielsweise der geistige Austausch in literarischen Salons oder der intendierte Machterhalt in politischen »Seilschaften« immer auch unter dem Aspekt der Verflechtung verstanden worden, so ist die systematische Analyse von Netzwerken erst in den letzten Jahrzehnten vor allem von der Soziologie ausgegangen. Die hier vorgelegten Studien schließen an diese Untersuchungen an und wollen Möglichkeiten aufzeigen, wie Netzwerke in unterschiedlichen Wissensformen methodisch und konzeptionell eingesetzt und verstanden werden können. Im grundsätzlichen Wortverständnis ist ein Netz ein Gegenstand, mit dem man etwas fängt, ein Gefüge, in dem man sich verstrickt, eine Struktur, die sich selber verknotet, oder aber auch eine Formation, die zusammenhält, verbindet, ordnet und strukturiert. Im wissenschaftlichen Kontext tritt vor allem die strukturierende Bedeutung im Begriff des »Netzwerks« in den Vordergrund. In der historischen Analyse wissenschaftlicher Aktivität, z.B. in der Beschreibung sozialer oder ökonomischer Beziehungen, in der Erklärung neuronaler Prozesse oder biologischer Zusammenhänge und in vielen anderen Wissenschaften kommt der Netzwerkmetapher dabei eine besondere Bedeutung zu. Anders als die denkökonomisch günstige Metapher eines linearen, dicho- oder polytom gegliederten Stamm-, oder Ent-

8 | H EINER FANGERAU , THORSTEN H ALLING scheidungsbaumes, mit der sich ebenfalls viele Wissensgebiete klassifizieren, ordnen und strukturieren lassen, erlaubt die Anwendung eines Netzwerkgedankens auch die Analyse von Querverbindungen, die sich nicht rein linear darstellen und die in einer Baumstruktur verloren gehen. Durch die Organisation von Wissens- und Tätigkeitsräumen in Form von Netz-Geographien lassen sich diese vielfältigen lateralen Verknüpfungen aufzeigen. In diesem Zusammenhang stellt die (Re-)Konstruktion von Netzen nicht nur ein retrospektives Konstrukt dar, sondern sie repräsentiert einen Teil der zeitgenössischen, intersubjektiven Wahrnehmung. Heterarchisch stehen dabei verschiedene Formen von Netzwerken nebeneinander, die unter Energieeinsatz intentional geknüpft, erweitert und gepflegt wurden oder werden. In der Wissenschaftssoziologie haben Netzwerkstudien seit Jahrzehnten (vgl. den Überblick bei Weingart 2003), in der Wissenschaftsgeschichte seit den 1990er Jahren Konjunktur. »Denkkollektive« werden untersucht, vernetzte Versuchsanordnungen rekonstruiert und dem verwobenen »Kreislauf wissenschaftlicher Tatsachen« (Latour 2002) wird nachgespürt. Ziel dieses Bandes ist es, einen transdisziplinären Überblick zu methodischen und konzeptionellen Varianten und zur Bedeutung von Netzwerken respektive der Netzwerkmetapher zu geben. Einerseits soll ihre Nutzbarmachung für Forschungsansätze in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen exemplarisch vorgestellt werden. Andererseits soll der Einfluss von Netzwerken auf die Wissenschaften selbst in spannenden Anwendungsbeispielen analysiert werden. Entsprechend dieser Zielsetzung stellt jeder Beitrag einführend den theoretischen Anwendungsbereich des Netzwerkgedankens als Methode oder Konzept im jeweiligen Wissensgebiet vor, um dann eine Fallstudie zur Umsetzung dieses Ansatzes zu präsentieren: Zunächst wird anhand der Analysen von Natursystematiken aus dem 17. und 18. Jahrhundert (Polianski), von Sprachverwandtschaften und ihrer Darstellung (Fleischhauer) und von semantischem Wissen und dessen neuronalen Voraussetzungen (Fangerau, Martin, Lindenberg) den Widersprüchen in den Zuschreibungen der Naturhaftigkeit beziehungsweise der kulturellen Überformung von netzartigen Beziehungsgeflechten nachgegangen. Die hieran anschließenden Untersuchungen konzentrieren sich auf »vernetzte Räume«. Die Untersuchungen zur Genese von Handelsnetzwerken im 18. Jahrhundert (Schulte-Beerbühl, Vögele), der sanitären Infrastruktur von Trink- und Abwasser im späten 19. Jahrhundert (Koppitz) und den ersten Luftverkehrslinien im frühen 20. Jahrhundert (Braun) verbinden dabei konstruierte Materialität mit »natürlichen« geographischen

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Voraussetzungen. Ohne die materiellen Bedingungen sozialer Interaktion zu verneinen, fokussieren die folgenden Beiträge zu Kommunikationsnetzwerken im Internet (Bucher) und in sozialen Gruppen (Weyers) auf Kommunikation und soziale Netzwerke als »virtuelle« Netzstrukturen. Im Versuch, diese Ansätze für den Einsatz in der Wissenschaftsgeschichte aufzugreifen, reflektieren die Beiträge zur ideen- und sozialgeschichtlichen Verflechtung von Evolutionsbiologen (Junker), zur Visualisierung von Denkkollektiven (Fangerau) und Textverbindungen durch Zitationen (Rauter) Vernetzungsstrategien in den Wissenschaften selbst. Der abschließende Beitrag der Herausgeber wird dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den vorgestellten Einsatzbereichen der Netzwerkmetapher bündeln und auf dieser Basis die Frage der Universalität des Netwerkkonzeptes für die Wissenschaften diskutieren. Der Aufsatzband vereint somit Einführungen in heterogene Forschungsfelder mit zahlreichen Anknüpfungspunkten zur Entwicklung einer allgemeinen Theorie von Netzwerken. Wir danken den Autoren für viele anregende Diskussionen sowie Ulrich Koppitz und Julia Schreitter von Schwarzenfeld für ihre zahlreichen Hinweise und Korrekturen. Die Herausgeber im Januar 2009

Netzwerke – Natur oder Kultur?

Das Netzwerk als Natursystem und ästhetische »Pathosformel« der Moderne Igor J. Polianski

1. Vernet zung, Ver flechtung, Ver wicklung: Zeitdiagnostische Vorüberlegungen »Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt«.1 Das Leitthema dieses Bandes »Netzwerke« macht es nochmals deutlich: Die Zeitdiagnose Michel Foucaults, wonach wir längst im Zeitalter des Netzes angekommen sind, findet immer mehr Bestätigung. In der Tat scheinen aktuell sowohl die Natur- als auch die Geisteswissenschaften der magischen Kraft der Vernetzungs-, Wechselwirkungs-, Multidimensionalitäts- und Dezentrierungsnarrative ganz verfallen zu sein. Aus ideengeschichtlicher Perspektive könnten für diese vielfältigen Retikulärisierungsphänomene der Gegenwart verschiedene Ursachen haftbar gemacht werden: Systemtheorien, Semiotik, Cultural Studies, Intertextualität etc. In den Geschichtswissenschaften etwa sind sie mit solchen Konzepten wie »Connected« und »Shared History« oder »Histoire croisée« theoretisch begründet. In der Wissenschaftshistoriographie verlagert sich das allgemeine Interesse ebenfalls von den historischen Längsschnitten sowie monokausalen und unidirektionalen Erklärungsmustern hin zu den synchronen Sinngeflechten, reziproken Verwicklungen »dichten Beschreibungen« und »reflexiven 1 | Foucault (1990), S. 34.

14 | I GOR J. P OLIANSKI Schleifen«. So sucht beispielsweise Mitchell G. Ash im Begriff »Beziehungsgeflecht« eine Art Zuflucht angesichts der »Vervielfältigung« und »Verkomplizierung« der Verhältnisse zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit in der Moderne, um das »überkommene« lineare Modell der Wissenschaftspopularisierung zu ersetzen.2 Selbst in den Biowissenschaften gewinnt das Netzmodell als universaler Erklärungsansatz (nicht selten aber auch als Erklärungsersatz) die Oberhand. In welchen Wissensbereichen die retikuläre Strukturmetapher auch immer zu Debatte gestanden hat und steht, ist die normative Auseinandersetzung damit ausgesprochen emotionsbeladen. So beispielsweise bei Ernst Cassirer, der allen »Fortschritt im Denken und in der Erfahrung« als Verfeinerung und Verfestigung des Netzes menschlicher Kultur in einem affirmativen Gestus umschreibt, zugleich aber nicht ohne Wehmut konstatieren muss: »Der Mensch kann der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten«.3 In einer netzwerkartig ausdifferenzierten Welt, wo nach Max Weber »jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält« 4, und wo es wohl am wichtigsten ist, »gut vernetzt« zu sein, gibt es, wie auch Niklas Luhmann feststellt, weder eine »Spitze« noch ein »Zentrum«.5 In der Netzmetapher mit ihrem Verzicht auf monokausale Erklärungsmuster und klare Relevanzhierarchien kommt also das Krisenbewusstsein der modernen Risikogesellschaft zum Ausdruck. Deshalb ist das Netzwerk mittlerweile auch jenseits der fachwissenschaftlichen Expertendiskurse zu einer populärkulturellen »Pathosformel« geworden. Nach dieser Einführung in die aktuelle Netzproblematik wäre es wohl an der Zeit die Frage zu stellen, aus welchen Traditionsbeständen das moderne Netzwerk seine Suggestiv- und Fesselungskraft geschöpft hat. In der Kulturwissenschaft ist es mittlerweile fast ein Routineverfahren geworden, Diskursstränge, »semantische Netze« und »Sehschulen« der Vergangenheit zu durchforsten, um die Historizität von kulturellen »Selbstverständlichkeiten« in unseren sprachlichen und visuellen Rhetoriken nachzuweisen. Oft stehen dabei die Natur und die diskursive Penetranz naturwissenschaftsverbundener Dispositive im Mittelpunkt. Demgegenüber soll hier eine entgegengesetzte Perspektive eingenommen werden. Dahinter steht die Überlegung, dass das Netzwerk zeichentheoretisch gesprochen in einer Art ikonisch-indexikalischer Relation 2 | Vgl. Ash (2007), S. 351f. 3 | Cassirer (1990), S. 50. 4 | Weber (1988), S. 613. 5 | Luhmann (1997), S. 803.

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zu der in den letzten zwei Jahrhunderten gewandelten sozialen Realität steht, wie sie die Modernisierungstheorien von Max Weber bis Ulrich Beck beschreiben. Das heißt, es gehört zu dieser Realität unmittelbar – auf ähnliche Weise, wie der Ton, die Mimik und die Geste (aber nicht die Sprache) Teil dessen sind, was gesagt wird. Eine polykontexturale, funktional ausdifferenzierte Gesellschaft mit ihren Rationalisierungsund Individualisierungsprozessen erfordert eben eine Aufhebung von traditionellen Lebensformen, festen gesellschaftlichen Rollen, Klassen- und Schichtzugehörigkeiten zugunsten einer kommunikativen Vernetzung und begünstigt ein Zeitbewusstsein, in dem die Zukunft stets offen bleibt. Damit ist das Netz auch die Selbstbeschreibungsformel einer durch soziale Beschleunigung und Gegenwartsschrumpfung geprägten Moderne: »Dieses ›Tempo‹ ist in der Tat nichts anderes, als ein Ausdruck für die Menge der Verflechtungsketten, die sich in jeder einzelnen gesellschaftlichen Funktion verknoten.«6 Wenn dieser Aufsatz aber dennoch einen Exkurs in die Geschichte der Natursystematik unternimmt, um dort nach netzartigen Ordnungsvorbildern zu suchen, so deshalb, weil gerade die Naturgeschichte sehr früh auf jene kulturhistorischen Umwälzungen und Erschütterungen reagierte, die die Geschichtswissenschaft allgemein als Übergang zur Hochmoderne bezeichnet. Als die Ordnungsdisziplin par excellence dient die Naturgeschichte für Michel Foucault nicht zufällig gleichsam als ein Seismograph, der den Übergang vom »klassischen Zeitalter« zur Moderne nachzuzeichnen erlaubt.7 Bekanntlich wird diese Transformationsphase in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts datiert, und ausgerechnet an dieser Schnittstelle zweier Epochen erfuhren – wie zu zeigen sein wird – für eine relativ kurze Zeit netzartige natursystematische Entwürfe europaweit eine unglaubliche Konjunktur. Mit Friedrich Schlegel kann man daher darüber sagen: »Es gibt Klassifi kationen, die als Klassifi kationen schlecht genug sind aber ganze Nationen und Zeitalter beherrschen, und oft äußerst charakteristisch und wie Zentralmonaden eines solchen historischen Individuums sind«.8 Im Mittelpunkt dieses Exkurses soll Johann Wolfgang von Goethe als wissenschaftspolitischer Funktionär, Naturforscher und Dichter stehen. Eine solche Akteurszentrierung erlaubt es, das Thema pointierter darzustellen. Zudem ist gerade Goethe als jemand bekannt, der auf allen Kulturfeldern eine ungeheuerliche Sensibilität für die »Zentralmonaden« seines Zeitalters besessen hat. Doch zunächst gilt es, einen 6 | Elias (1976), Bd. 2, S. 337. 7 | Foucault (1974), S. 279ff. 8 | Schlegel (1958), Abt. 1, Bd. 2, S. 173.

16 | I GOR J. P OLIANSKI Blick auf die Ausgangslage der Natursystematik im 18. Jahrhundert insgesamt zu werfen.

2. Das Net z als Struk turprinzip der Natur Es ist die physikotheologische »Meistererzählung« von der Kette der Wesen oder der Stufenleiter der Naturdinge, die das Naturbild der Aufklärung etwa bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts beherrschte. Demnach bildeten alle Dinge des Universums ein Formenkontinuum und standen in einem kettenartigen Zusammenhang, gegliedert in Stufen – in Arten, Gattungen, Ordnungen und Klassen. Man ging davon aus, dass trotz dieser Abstufungen alle Wesen zusammen eine große Kette mit unmerklichen Übergängen bildeten. Zudem stellte eine solche Kette der Wesen bzw. Stufenleiter eine axiologische Sequenz dar, da ihre Einzelglieder ihrem Vollkommenheits- bzw. Komplexitätsgrade nach geordnet waren. Gerne brachte man deshalb die Zahl dieser Systemstufen auf die magische 33, selbstverständlich mit Jesus Christus auf der obersten Systemetage. Diese Transzendierung der Natursystematik überrascht auch nicht, wenn man bedenkt, dass mit der Vorstellung der Stufenleiter Topoi, wie Jacobs Leiter aus dem Alten Testament (1. Mose 28, 12-13), fortgeschrieben wurden.9 Schließlich betrachtete die Naturgeschichte das Kontinuum von Existenzformen als eine funktionale Kette, in der Pflanzen zum Nutzen der Tiere und die Tiere zum Nutzen des Menschen als Endzweck in der Ökonomie der sublunaren Schöpfung existierten. Pathetisch ist diese »Great Chain of Being« von Alexander Pope in seinem Essay of Man 1734 besungen worden. Fast ein Jahrhundert später 1811 wird das skalare Naturmodell auch bei Goethe im ersten Teil seines autobiographischen Werks Dichtung und Wahrheit zum Thema. Doch nichts bleibt hier vom affirmativen Überschwang seines britischen Vorgängers. Zwar beschrieb Goethe seine erste Begegnung mit der Stufenleiter der Natur als sein frühkindliches Schlüsselerlebnis. Doch ging es ihm offenbar vielmehr darum, diese selbst als eine Attitüde der Kindheit unserer Zivilisation zu inszenieren. Auf einem pyramidenförmigen Musikpult seines Vaters habe er als kleiner Knabe eine Stufenleiter der Natur aus den Exponaten seiner Naturaliensammlung zum Zweck der Gottesanbetung heimlich aufgebaut, berichtet Goethe. An der Spitze dieses natursystematischen Altars zündete er eines 9 | Zur Entstehung dieses Ordnungsmodels siehe insbesondere: Thienemann (1909), Lovejoy (1936), Wyder (1998).

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Tages Räucherkerzen an und hätte dabei das Elternhaus beinahe in Brand gesteckt. Das ausgebrochene Feuer sei eine »Warnung« gewesen, die ihn belehrte, so Goethe, »wie gefährlich es überhaupt sei, sich Gott auf dergleichen Wegen nähern zu wollen.«10 Und so etikettierte der naturforschende Dichter die Stufenleiter ganz konsequent als ein »alttestamentisches« Relikt. Nun fiel Goethes Kindheit in der Tat in eine Zeit, in der die Scala naturae als Ordnungsprinzip der Historia naturalis europaweit ins Schwanken geriet. Mehr noch, das »lineare Modell« galt mittlerweile als nicht mehr »politisch korrekt«, und es war kein geringerer als Voltaire, der diese natursystematische Revolution artikulierte: »Solche Hierarchie gefällt den braven Leuten, welche meinen, sie erkennten darin den Papst und seine Kardinäle, gefolgt von Erzbischöfen und Bischöfen, nach diesen von den Pfarrern, den Vikaren, den einfachen Priestern, den Diakonen und Subdiakonen, danach erscheinen die Mönche, und das ganze schließt mit den Kapuzinern.«11 Seit den 1750er Jahren begann sich das Modell allerdings zu transformieren.12 Es war ein Wandel, den man, um die antiklerikale Metaphorik Voltaires fortzusetzen, als eine natursystematische Reformation bezeichnen könnte. Das Natürliche System entdeckte die zweite Raumdimension, es erschien nicht mehr als eine einreihige Kette, nicht als ein axiologisches Dienstverhältnis der Existenzformen, die in der emanativen Struktur des Universums fest verankert sind, sondern als ein landschaftsähnliches, das Freiheitsgefühl evozierende Gewebe von Quervernetzungen, welches oftmals auch schon ein dynamisch-temporales Moment beherbergte. Zum ersten Mal wurde dieses neue Bild 1750 von Vitaliano Donati in seiner Naturgeschichte des adriatischen Meeres angenommen: »Die Natur hält also bey ieder allgemeinen und bey ieder besondern Art ihre itzt-erzählte Ordnung. Eine andere Art ihrer Progression aber ist, daß sie auch immer unmerklich von einem Gliede ihrer Kette, das ist von einer Art zur andern, fortgeht. Diese Glieder stellen hierbey vielmehr ein Netz als eine Kette vor: und man kann sagen, daß die Natur in dieser andern Weise fortzugehen vielerley Faden zusammen-webe, die mit einander Gemeinschaft, Verhältnis und Verbindung haben sollen.« 13 10 | Vgl. Goethe (WA), I, 26, S. 66. 11 | Voltaire (1994), S. 162. 12 | Vgl. bspw. Thienemann (1909), S. 247ff. Peter F. Stevens gibt eine ausführliche Übersicht schematischer Systemdarstellungen der damaligen Zeit. Vgl. Stevens (1994), S. 164. 13 | Vgl. Donati (1753), S. 20.

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Abbildung 1: Tabula phytographica universalis affinitates ordinum naturalium plantarum exhibens, 1774. Johann Philipp Rüling, Ordines naturales plantarum commentatio botanica. Göttingen 1774. Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek Jena. Foto: Autor.

Sehr bald wurde die neue systematische »Metaerzählung« von der »Gemeinschaft« in der Natur durch viele Autoren begeistert aufgegriffen. Auf der einen Seite gab es Versuche, die einstmalige Unilinearität des Weltbildes aufzulockern. In diese Kategorie fällt z.B. das Pflanzensystem Johann Philipp Rülings14 (Abb. 1). Als ein weiteres Beispiel dafür kann eine arabeske Darstellung der Pflanzenfamilie Anonaceae Michel-Felix Dunals (1817) gelten15 (Abb. 2). Auf der anderen Seite wurde mit dem Unilinearitätsprinzip radikal gebrochen. So z.B. im Fall der Tabula affinitatum animalium Johannes Hermanns.16 »Wir suchen bey unsern systematischen Eintheilungen die Körper in geraden Linien zusammenzustellen«, hieß es bei Carl Ludwig Willdenow 1799, »aber die Natur bildet im Ganzen ein verwickeltes, nach allen Seiten ausgebreitetes Netz«.17 Der indeterministische Pathos dieses neuen dezentrierten Naturideals kommt schon im Titel des Willdenowschen Aufsatzes »Zufällige Gedanken über Pflanzengattungen« zum Ausdruck, wo der Berliner Botaniker 1790 beteuert: »Jede Pflanze, jedes 14 | Rüling (1774). 15 | Dunal (1817). 16 | Hermann (1777). 17 | Willdenow (1799), S. 118.

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vegetabilische Stäubchen hat in allen Theilen immer mit einer Menge anderer Gewächse Aehnlichkeit von welchen jedes wieder mit einer Menge zusammenstimmt, so dass jedes Produkt des Pflanzenreichs an und für sich selbst ein eigenes für sich von allen andern unterschiedenes Ding ausmacht, was ein Punkt im Netze der zusammenhängenden Körperwelt ist«.18

Abbildung 2: Tableau des affinités des genres, 1817. Michel-Felix Dunal, Monographie de la famille des Anonacees. Paris 1817. Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek Jena. Foto: Autor.

Ähnliche Projektionen der Pflanzenordnung auf den Raum finden sich auch bei Carl von Linné, der in seiner Philosophia botanica (1751) allerdings einen Landkartenvergleich benutzte.19 Die affirmative Systemmetaphorik des Netzes als einer Antithese der Stufenleiter und der geraden Linie erhielt aber eine besonders hohe Popularität. Denn diese stand gleichzeitig im konnotativen Magnetfeld des ewigen Webstuhls der Natur und des Universums als eines gewebten Teppichs, sowie der Mythen von Arachne, Ariadne und Ananke. Während die webende Göttin der Notwendigkeit Ananke als ein Symbol der Naturgesetzlichkeit tradiert und der Faden der Ariadne im verwickelten Wegenetz des Kretischen Labyrinths von Linné als ein Wegweiser der Botanik stilisiert wurde, verband sich die Ovidische Metamorphosengeschichte der Meisterweberin Arachne mit dem Motiv einer wagemutigen Herausforderung der Götter. Das klassische lineare Modell der Scala natu-

18 | Willdenow (1790), S. 13f. 19 | Linné (1751), § 77, S. 27.

20 | I GOR J. P OLIANSKI rae mit seinen in Reih und Glied stehenden Geschöpfen war aber nunmehr mit dem Odium behaftet, antiquiert und gekünstelt zu sein. Nicht nur dessen hierarchisches Auf bauprinzip sorgte dabei allgemein für Unmut, sondern auch der augenfällige Demutsgestus der Scala naturae, die als der Höchstausdruck der prästabilisierten Harmonie der Schöpfung jenes Leibnizsche Postulat »empirisch« belegen sollte, wonach wir – trotz aller augenfälligen Unzulänglichkeiten des Daseins – in der besten aller möglichen Welten lebten und dafür dem Himmel einen ewigen Dank schuldeten. Eine solche natursystematische Theodizee ließ keinen Platz für die normative Vielfalt, geschweige denn für das Böse, was später insbesondere in der deutschen Romantik auf Widerspruch stoßen sollte. Christian Dietrich Grabbe etwa stellte 1822 in seinem Stück Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung drei Naturhistoriker dar, die gar den Teufel »systematisch« bestimmen wollten, aber – welch ein Unglück! – er passte nicht in ihr System.20 Das Netz taucht auch in Goethes Faust II auf als Verlust des »Scharfen Blickes« auf die Welt und zugleich als eine Relativierung der Grundfesten der Sitte und Moral. Die moralisch-ästhetische Aufladung des Systemdiskurses legt die Vermutung nahe, dass es um mehr ging als um eine utilitaristische Ordnung der Naturobjekte. Und in der Tat erweist sich die Vernetzung der Natur als eine Schlegel’sche »Zentralmonade«, wenn man auf die weiteren zeitgenössischen Diskursfelder schaut. Denn in vielen Kulturbereichen der damaligen Zeit fand eine entschiedene Abkehr von den hochselektiven hypotaktisch-perspektivischen Gestaltungsprinzipien hin zur »Vernetzung« und »Pluralisierung« statt. Besonders deutlich zeigt sich dieser Wandel in einem unmittelbaren Nachbargebiet der Botanik – in der Gartenkunst. Hier realisierte sich die »Zentralmonade« im Übergang vom so genannten »künstlichen« französischen Barockgarten zum »natürlichen« englischen Landschaftsstil, den gerade eine enthierarchisierte, irreguläre und netzartige Formsprache auszeichnete. Analoge Verschiebungen lassen sich in weiteren Bereichen registrieren. Ich beschränke mich hier aber nur auf die Metaebene der menschlichen Wahrnehmung, wie sie die so genannte empirische Psychologie damals interpretierte. Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts galt der menschliche Geist als nach stringent-hierarchischen Prinzipien der Logik mit klaren Zu- und Unterordnungsvorgaben strukturiert. Der Stufenleiter der Natur entsprach die Stufenleiter der Erkenntnis, wie sie Ramon Lull 1512 darstellte (Abb. 3); oder, wie dies noch Giorda20 | Grabbe (1960-1970), Bd. 1, S. 220.

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no Bruno beschrieb: »Zuerst also merkt euch, daß es eine und dieselbe Stufenleiter ist, auf welcher die Natur zur Hervorbringung der Dinge herabsteigt, und auf welcher die Vernunft zur Erkenntnis derselben emporsteigt«.21 Dieses Zeitalter der Gradualität ist nun Mitte des 18. Jahrhunderts zu Ende. Die mentale Welt des Menschen wird nicht mehr komplementär zu seiner physischen Umwelt als eine Stufenleiter der Ideen interpretiert. Nicht nur in der natürlichen Erfahrungswelt, sondern auch in der sie reproduzierenden menschlichen Seelenmechanik hängt nunmehr alles mit allem – in kontinuierlichen Sequenzen netzartig miteinander verbunden – zusammen. Daher wundert es nicht, dass der Psychologe Christoph Meiners das menschliche »Gedanken-System« in gleicher Rhetorik wie die zeitgenössischen Naturhistoriker das System der Natur hoch preist: »Keine einzige Idee ist isolirt. Das ganze Gedanken-System ist eine ungeheure complexe Idee, deren Theile minder oder mehr große Ideen Reihen sind.«22

Abbildung 3: Die Stufenleiter der Erkenntnisgegenstände, 1512. Holzschnitt. Ramon Lull, De ascensu et descensu intellectus, 1512.

21 | Vgl. Bruno (1902), S. 105f. 22 | Vgl. Meiners (1773), S. 39.

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3. Johann Wolfgang von Goethe und die Magie des Net zes Soweit der Blick auf die Vernetzung der naturhistorischen Systematik und benachbarte Kulturfelder im 18. Jahrhundert. Goethe, an dessen Wirken das Themenfeld nun exemplarisch betrachtet werden soll, hat diesen fundamentalen Wandel persönlich miterlebt und vollzogen, wie wir bereits am Beispiel von Dichtung und Wahrheit gesehen haben. In Goethes Schriften finden sich immer wieder Stellen, an denen er eine Ordnung der Naturreiche beschwört, in welcher »gleich alle Wesen mit einander in Communication stehen«, und die sich durch »eine unzählige Combination und Modification«23 auszeichnet.24 Vor dem Hintergrund all dieser Sinnzusammenhänge nimmt es nun kein Wunder, dass Goethe das netzartige Ordnungsprinzip – wodurch »alle Mittelglieder Daseyn und Leben, Werth und Fülle genießen«25 als eine verbindliche Strukturvorlage auch für ein Leitprinzip des praktischen Handelns erklärt. Den politischen Systematikdiskurs transformiert er allerdings auf eigene Weise, indem er das Netzmodell als ein Spannungsverhältnis von Freiheit und Notwendigkeit interpretiert. Diese Spannung wird von Goethe ausgerechnet auf dem botanischen Feld verhandelt. Und genau das war das Thema seiner Elegie Magisches Netz, die in einer nahen Verwandtschaft zu solchen besser bekannten botanischen Dichtungen Goethes steht wie Die Metamorphose der Pflanzen (1798). Magisches Netz hat der Dichter mit dem Vermerk »Zum ersten Mai 1803« versehen – ein klarer Bezug zum mythopoetischen Substrat der Walpurgisnacht. Und in der Tat wird hier der Leser zum Zeugen eines mysteriösen Rituals. Zehn geheimnisvolle Gestalten, fünf Knaben und fünf Geschwister tanzen einen Krieges- und Liebestanz im nächtlichen Mondeslicht und Nachtviolenduft und flechten dabei ein magisches, die ganze Natur umfassendes Netz zusammen. Bei genauem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass es sich hier in Wirklichkeit 23 | Goethe an P. Seidel, Brief vom 29. Dezember 1787, in: WA, IV,

8, S. 319. 24 | Daher stellte er auch in einer weiteren Memoireschrift – in der Einwirkung der neuern Philosophie bezugnehmend auf die Botanik fest, dass die Natur in ihrem Verfahren entweder trennend-analytisch oder verbindend-synthetisch vorgehe und entfernte Formen miteinander verknüpfe. Vgl. Goethe, Einwirkung der neuern Philosophie, in: WA, II, 11, S. 50. 25 | Goethe, Der Verfasser theilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit (Paralipomena), in: WA, II, 13, S. 42.

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nicht um ein Hexen- und Teufelsfest auf dem Brocken handelt, wie es eigentlich zu erwarten wäre. Denn es sind keine Hexen und Zauberer, sondern tanzende Stamina und Karpellen in einer Blume. Damit handelt es sich um eine pflanzensystematische Blumenmetaphorik, die von Goethe mit dem Poem The Botanic Garden Erasmus Darwins bereits 1798 rezipiert worden war. Im nächtlichen Zaubertanz der Blütenorgane wird das System der Natur selbst gewebt. Dies ist aber keine Stufenleiter, sondern ein dynamisches System von wechselseitigen Herr- und Dienerschaften, die nach einem spielhaft-offenen Gesetz der Wahlverwandtschaften sich bilden und wieder lösen.26 Umso negativer erscheint vor diesem Hintergrund die Stufenleiter in Goethes Schrifttum. So erklärte Goethe in einem Gespräch mit Heinrich Luden: »Ich kann mich überhaupt mit der Stufenleiter, auf welche man die Geister zu stellen pflegt, nicht recht vertragen, und möchte glauben, daß die Bahnen des Geistes nicht unter einander gebaut sind, sondern neben einander fortlaufen.«27 Nun ist Goethe als Fallbeispiel auch deshalb gewählt worden, weil er die beschriebenen epistemischen Umbrüche nicht nur diskursiv erläuterte, sondern auch in die Tat umsetzte und sie zum Gegenstand seiner eigenen symbolischen Wissenschaftspolitik machen konnte. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang, dass der »Dichterfürst« im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach unter Carl August sich an der Spitze der herzoglichen »Oberaufsicht über die unmittelbaren Anstalten für Wissenschaft und Kunst« befand und faktisch der fürstliche Kultur- und Bildungsminister war. Auf eine denkwürdige Koinzidenz zweier benachbarter Kulturfelder, Botanik und Gartenkunst, ist in Bezug auf die Vernetzung bereits verwiesen worden. Wenn Goethe seiner kunsttheoretisch und moralphilosophisch fundierten antiscalaren Grundhaltung nun auch wissenschaftsintern Geltung zu verschaffen suchte, so konnte es dafür kaum ein geeigneteres Betätigungsfeld geben als eine Verschmelzung von Botanik und Gartenkunst in einem botanischen Garten. Und in der Tat wurde in Jena 1794 auf Betreiben Goethes ein botanischer Garten gegründet, in dem das systematische Netzwerk räumliche Verwirklichung finden sollte. Der Garten unterstand dabei nicht der Universität Jena, sondern direkt dem Herzog und seinem botanisierenden Dichter, weshalb man mit Recht behaupten kann, dass es sich hier um eine politisch, ideologisch und ästhetisch pointierte Botanik handelte. 26 | Goethe, Magisches Netz, in: WA, I, 2, S. 104f. 27 | Goethe, Gespräche, Gespräch mit H. Luden am 19. August 1806, in: WA, V, 2, S. 98.

24 | I GOR J. P OLIANSKI Engagiert oder besser gesagt erfunden hat Goethe für dieses Projekt einen Botaniker Namens August Georg Karl Batsch. Dieser Gründungsdirektor des Jenaer botanischen Gartens stand in der pflanzensystematischen Tradition der so genannten »Göttinger Schule«, wo es in Deutschland die ersten »natürlichen« Systeme und Systemvernetzungen gegeben hat. Selbst Teil eines wissenschaftlichen Netzwerkes der Befürworter des »natürlichen« Netzsystems gab Batsch in Bezug auf das Natursystem mit Genugtuung zu, »in ein ungleich wahreres Netzwerk verstrickt« zu sein und distanzierte sich damit von der Stufenleiter, wie sie etwa durch den französischen Botaniker AntoineLaurent de Jussieu verteten wurde.28 Gleichzeitig lehnte Batsch das so genannte künstliche Pflanzensystem Carl von Linnés ab. Denn es ging ihm und seinem Patron darum, der einzig »wahren« Ordnung der Natur, dem großen Schöpfungsplan, auf die Spur zu kommen. In der Bepflanzung des Jenaer Gartens, wie ich sie rekonstruieren konnte, war die Pflanzenordnung Batschs in ihren Hauptzügen bereits 1794 realisiert worden.29 Detailliert ausgearbeitet hat Batsch seinen Systementwurf bis 1802 und publizierte ihn unter dem Titel Tabula affinitatum regni vegetabilis30 (Abb. 4). Schaut man diese Systematik an, so mag etwa das Urteil des Botanikhistorikers Peter F. Stevens einleuchtend erscheinen, der sie als ein »demented spider’s web« abqualifizierte.31 Aber es sei hier nochmals an Schlegels Plädoyer für die »schlechten« Klassifi kationen erinnert, die als epistemische »Zentralmonaden« aber wirkungsmächtig sind. Eben eine solche begegnet uns im Batschen System und in seinem botanischen Garten. Damit erklärt sich auch jener erbitterte Widerstand, den die Jenaer Universität gegen Goethe, Batsch, seinen Garten und sein Netzsystem leistete. Was die botanischen Ordinarien in Jena vehement verteidigten, waren »gute« Klassifi kationen, die aber gerade deshalb als Signaturen des neuen Zeitalters nicht taugten.

28 | A. J. G. C. Batsch an K. L. von Knebel, Brief vom 18. Mai 1788, gedruckt in: Düntzer (1858), Bd. 1, S. 126ff. 29 | Die Nachweise dazu im Einzelnen siehe in: Polianski (2004), S. 269ff. 30 | Batsch (1802). 31 | Vgl. Stevens (1994), S. 185.

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4. Schluss Als Schluss kann man nun sagen, dass das moderne Netzideal sich in Europa bereits im 18. Jahrhundert mit den Netzsystemen der Botanik und Zoologie und der neuen Naturästhetik des Netzes, wie z.B. in der gartenkünstlerischen Raumgestaltung, zu etablieren begann. So gehören die Formierung naturwissenschaftlicher Kommunikationsnetze, die ja der Hauptgegenstand dieses Bandes sind, und der Wandel naturwissenschaftlicher Ordnungsvorstellungen selbst zu einem gemeinsam tief greifenden Wandlungsprozess, einem Übergang, der sich – da wir doch beim Thema »Systematik« sind – in systemtheoretischer Terminologie als ein Wechsel von der stratifi katorischen zur funktionalen Gesellschaftsordnung der Hochmoderne interpretieren lässt. Das Netz stellt dabei eine ikonisch-indexikalische Grundsignatur dieses Prozesses dar. Der bedeutendste Aspekt in diesem Zusammenhang ist aber, dass das Netz dabei nicht anders als vorher die Stufenleiter mehr als eine distanzierte Selbstbeschreibungskategorie der Gesellschaft sein wollte und will. Als vermeintliches Strukturgesetz der Schöpfung und ästhetisch-moralische Norm nobilitierte es die Moderne mit den Weihen der Natur und avancierte schließlich zu deren »Pathosformel«. Wer sich in dieser »besten aller möglichen Welten« seiner »Vernetzung« verweigert, ist deshalb ein Sünder. Dieser von Pierre Bourdieu als »ideologische Alchemie«32 bezeichnete Prozess zeigt sich besonders deutlich am Beispiel Goethes, der sich für dieses große Vernetzungsprojekt der Auf klärung auf allen seinen Teilgebieten eingesetzt hat – sowohl als dichtender und philosophierender Naturkundler durch begrifflich-diskursive und poetische Sprache als auch als handelnder und gestaltender Akteur der Bildungs-, Wissenschafts- und Gartengeschichte. Auch Goethe hat dazu beigetragen, dass unsere Zeit als das Zeitalter des Netzes nicht nur beschrieben, sondern auch gefeiert werden kann.

Summar y This article issues from the observation that the network metaphor is enjoying increasing attention in modern society. This is the case for sciences that make extensive use of the network narrative, but this is also true of the public discourse. A theoretical premise of this development is that the network stands in a kind of iconic-indexical relation 32 | Bourdieu (2000), S. 48.

26 | I GOR J. P OLIANSKI to social reality as it has been transformed over the last two hundred years, something described in the modernisation theories from Max Weber up to Ulrich Beck. The network is thus also the self-description formula of a modernity characterized by social acceleration and a shrinking present. Against this backdrop, the article explores the historical semantics of the network by way of the classification systems found in natural history and the related discursive field of natural aesthetics. The central assumption in the investigation is that it is precisely natural history and landscape architecture that responded very early on to such cultural-historical uprooting and convulsions, which historians generally refer to as marking the transition to high modernity. In fact, there are two fundamental displacements that occurred at the end of the 18th century. On the one hand, the turning away from a unilinear hierarchy in favour of network-like, natural systematic concepts and, on the other hand, a transition from the »artificial« French Baroque gardens to the »natural« style of English landscapes. These transformations will be analysed using the example of Johann Wolfgang von Goethe, who engaged himself in the great network project of the Enlightenment as well as being a naturalist poet and philosopher, and an active and formative contributor to the history of science and landscape architecture.

Literatur Ash, Mitchell G.: Wissenschaft(en) und Öffentlichkeit(en) als Ressourcen füreinander. Weiterführende Bemerkungen zur Beziehungsgeschichte. In: Nikolow, Sybilla; Schirrmacher, Arne (Hg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M.; New York 2007, S. 349-362. Batsch, August Johann Georg Karl: Tabula affi nitatum regni vegetabilis. Weimar 1802. Bourdieu, Pierre: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens. Konstanz 2000. Bruno, Giordano: Von der Ursache, dem Princip und dem Einen. Aus dem Italienischen übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen versehen von Adolf Lasson. Dritte verbesserte Auflage. Leipzig 1902. Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Frankfurt a.M. 1990.

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Vernetztes Wissen: Kognitive Frames, neuronale Netze und ihre Anwendung im medizinhistorischen Diskurs Heiner Fangerau, Michael Martin, Robert Lindenberg

Einleitung Der Gedanke, Netzwerke als ein mögliches Ordnungsformat anzunehmen, erlebt – das belegt u.a. der vorliegende Band – gerade eine Konjunktur, erscheint es doch mit ihrer Hilfe möglich, komplexe und scheinbar chaotische Zusammenhänge einem analytischen Zugang zu öff nen. Mit diesem Beitrag wird ein Ansatz vorgestellt, auch die Analyse der Entwicklung von wissenschaftlichen Konzepten als Vernetzungsprozess zu begreifen. In erster Linie wird hierbei semantisches Wissen fokussiert, d.h. konzeptualisiertes Wissen über Begriffe, Zusammenhänge, Fakten oder Gegenstände, das verallgemeinert und depersonalisiert nicht nur von Einzelpersonen, sondern von ganzen Personengruppen als valides Wissen anerkannt wird. Dabei stehen weniger die ebenfalls thematisierten Verbindungen und Verknüpfungen zwischen den Trägern von Wissen im Zentrum. Vielmehr wird der netzartige Charakter des menschlichen Denkens in den Vordergrund gerückt, über den die Einzelbestandteile eines Konzeptes in der lateinischen Grundbedeutung des Wortes gemeinsam erfasst werden. In einem interdisziplinären Ansatz soll eine Möglichkeit skizziert werden, den Wandel von Konzepten als eine Veränderung der in ihnen enthaltenen Verbindungen zwischen Gegenständen und Begriffen zu

30 | H EINER FANGERAU , M ICHAEL M ARTIN , R OBERT L INDENBERG untersuchen, wobei im Wesentlichen drei Komponenten miteinander in Verbindung gebracht werden. Zuerst wird mit der Frame-Theorie ein Modell aus den Kognitionswissenschaften vorgestellt, das für die Verarbeitung von semantischem Wissen eine netzartige Struktur auf kognitiver Ebene vorschlägt. Diese kognitionswissenschaftliche Perspektive, die davon ausgeht, dass die Organisation und Verarbeitung der Elemente eines Konzepts als vernetzte Informationen angesehen werden können, die Wissen logisch und ökonomisch speichern, wird dann auf die Interpretation neurowissenschaftlicher Befunde angewendet. Zuletzt soll die Möglichkeit diskutiert werden, die Vorschläge und Befunde aus den Kognitions- und Neurowissenschaften für die Analyse von Wissensentwicklungen nutzbar zu machen. Das zunächst vorgestellte Frame-Modell bildet dabei die Klammer, da es methodologisch sowohl für den neurowissenschaftlichen als auch den historischen Bereich erkenntnisleitend ist.

Semantisches Wissen – Kognitionswissenschaf tliche Theorien Semantisches (oder auch: konzeptuelles) Wissen ist eine zentrale Grundlage des sprachlichen Umgangs mit konkreten Dingen und abstrakten Begriffen.1 Wesentlicher Aspekt ist dabei die Fähigkeit zur Kategorisierung. Erste kognitionswissenschaftliche Annäherungen an das Problem einer kategorialen Strukturierung semantischer Inhalte bedienten sich Wortlisten (engl. feature lists). Darin wird ein bestimmter Begriff durch das Aneinanderreihen seiner charakteristischen Merkmale definiert.2 Diesen Modellen, denen Kritiker Eindimensionalität und fehlende Flexibilität vorgeworfen haben, kann ein Ansatz gegenüber gestellt werden, der von einer systematisch vernetzten Struktur der Charakteristika eines Gegenstandes oder Konzeptes ausgeht. Hiernach bilden so genannte Frames das allgemeingültige Format verschiedener Wissensformen und Wissensfelder.3 Sie konzentrieren sich auf die hierarchische Ordnung der Merkmale, die einen bestimmten Begriff kennzeichnen. Diese allgemeinen Frames 1 | Klein (1999). 2 | Rosch/Mervis/Gray u.a. (1976). 3 | Barsalou (1992). Der Terminus »Frame« geht zurück auf Marvin Minsky, der ihn in seiner einflussreichen Studie »A Framework for Representing Knowledge« (1974) in die Künstliche Intelligenz-Forschung einführte. Abgedruckt in: Minsky (1975), S. 211-277.

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sind stereotype, empirisch fundierte Wissensstrukturen. 4 Als Einheiten lassen sie sich mit dem vergleichen, was in der Linguistik und den Kognitionswissenschaften mehr oder weniger übereinstimmend als »Konzept« bezeichnet wird. Durch Kombination der in den Frames enthaltenen Informationseinheiten wird Wissen über die Konzepte modellhaft repräsentiert.5 Frames ordnen die sinnlich erfassten Daten in einen eindeutigen Kontext ein. Sie lassen sich für einfache Alltagszusammenhänge ebenso erstellen wie für komplexe Systeme wie Paradigmen oder Diskurse.6 Im Detail beschreiben Frames ihren Gegenstand anhand allgemeiner Attribute, für die jeweils ein spezifischer Wert angegeben werden kann.7 Beispielsweise lassen sich dem Tier »Schaf« zahlreiche Attribute wie Anzahl und Länge der Beine, Behörnung, Fell bzw. Vlies, Ohrform, Farbe etc. zuordnen. Diesen Attributen sind, je nach konkretem Schaftyp (z.B. je nach Art), bestimmte Werte zuzuweisen (z.B. Art des Vlieses, Krümmung oder Länge der Behörnung, weiße/schwarze Wolle). Die Werte sind dabei den Attributen untergeordnet und repräsentieren eine Möglichkeit innerhalb des Wert/Attribut-Konzepts (engl. attribute-value set). Daher können sie weitere Frames bilden (Merinowolle als eine Art von Vlies) oder zu übergeordneten Frames gehören (Schaf als eine Art von Hornträger). Werten können Attribute und diesen wiederum Werte zugeordnet werden: die Struktur ist rekursiv und daher beliebig verfeinerbar bzw. ausdifferenzierbar. Folglich ist jeder Frame in mindestens zwei Dimensionen lesbar: (1) in horizontaler Richtung: entlang der syntagmatischen Organisation ihrer einzelnen linguistischen Einheiten; (2) in vertikaler Richtung: innerhalb ihres vom jeweiligen Denkparadigma bestimmten Kontextes aus über- und untergeordneten Frames. Attribute wie auch Werte innerhalb eines Frames sind nicht unabhängig voneinander und willkürlich kombinierbar, sondern entsprechend dem konzeptionell vorgegebenen Rahmen. Diesem Rahmen enstprechend sind sie in einer vernetzten Struktur miteinander verbunden. Da die miteinander verknüpften strukturellen Elemente sich innerhalb kurzer Zeiträume kaum ändern, nennt Barsalou sie 4 | Minsky (1985), S. 244. 5 | »Im modernen Kognitivismus« werden »Konzepte, obwohl universal determiniert, doch als individual-mentale Einheiten begriffen«. Strauß (1996), S. 42. 6 | Das gilt auch für Texte jeglicher Art; vgl. Holly (2001); für den Bereich der Linguistik grundlegend: Konerding (1993). 7 | Zum Folgenden vgl. Barsalou (1992).

32 | H EINER FANGERAU , M ICHAEL M ARTIN , R OBERT L INDENBERG structural invariants. Die übergeordneten Frame-Netzwerke determinieren die Struktur und den Inhalt der linguistischen Einheiten jedes einzelnen Frames. Sie können in der Darstellung eines untergeordneten Frames fehlen, müssen aber »mitgedacht« werden. Frames repräsentieren also auch das Potential eines Konzeptes, überhaupt in Kommunikationsprozesse eingegliedert und innerhalb dieser Prozesse verstanden zu werden. Darüber hinaus bietet das Framemodell Anschlussmöglichkeiten für neurowissenschaftliche Überlegungen zur kategorienspezifischen Verarbeitung von Wissen. Denn ähnlich der Kognitionswissenschaft spielen Prozesse der Kategorisierung auch in den Neurowissenschaften traditionell eine wichtige Rolle. Im Folgenden soll daher untersucht werden, inwieweit sich Entsprechungen oder Ergänzungen des aufgezeigten Frame-Modells in den Neurowissenschaften finden lassen. Den Ausgangspunkt bildet eine neurowissenschaftlichen Theorie, die davon ausgeht, dass die physiologische Repräsentationsebene semantischen Wissens in einer zerebralen neuronalen Vernetzung zu suchen ist.

Semantisches Wissen – Neurowissenschaf tliche Befunde Bereits in den frühen 1870er Jahren hat der schottische Philosoph Alexander Bain (1818-1903) darüber spekuliert, dass für jeden Assoziations-, Gedächtnis- oder Bewegungsakt eine spezielle Gruppierung von Zellverbindungen im Gehirn spezifisch sei.8 Die in der Neuroanatomie gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Neuronen-Theorie oder Neuronen-Doktrin schien genau diese Annahme einer vernetzten Gruppierung von Hirnzellen auf funktioneller Ebene durch morphologisch-anatomische Befunde zu stützen.9 Im Wesentlichen wurde bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Neuroanatomen darum gerungen, ob es sich bei den Bestandteilen des Nervensystems um einzelne Nervenzellen handle, die miteinander über Axone in Kontakt treten, oder ob der Faserfi lz der verwachsenen Nervenfasern selbst das strukturbildende Element des Nervensystems sei. Die NeuronenTheorie ging dabei davon aus, dass das Gehirn aus vielen einzelnen Nervenzellen bestehe, deren funktionelle Anordnung für motorische und geistige Phänomene verantwortlich sei. Diese Idee wurde von ver-

8 | Bain (1873). 9 | Zur Geschichte der Neuronen-Theorie vgl. Breidbach (1993).

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schiedenen Wissenschaftlern nicht nur theoretisch, sondern auch klinisch-pathologisch aufgegriffen. Basierend auf der Korrelation von spezifischen klinischen Symptomen (aphasische Störungen) mit postmortal erhobenen neuropathologischen Befunden kam z.B. Carl Wernicke (1848-1905) zu einer modellhaften Vorstellung der Sprachverarbeitung,10 die in der Weiterentwicklung durch Ludwig Lichtheim (1845-1928) zu einer schematischen Darstellung miteinander verknüpfter Zentren führte, durch deren Interaktion erst zerebrale (Sprach-)Funktionen erreicht würden.11 Eine Renaissance erlebte dieser Ansatz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Arbeiten Norman Geschwinds (19261984).12 Auch hier dienten neuropathologische Befunde als Grundlage der Interpretation verschiedener klinischer Syndrome. Entscheidend an Geschwinds Ansatz ist, dass die Symptome der Patienten nicht auf eine Störung der unmittelbaren Funktion distinkter zerebraler Areale zurückgeführt werden. Vielmehr erklärt Geschwind das jeweilige Ausfallsmuster durch Störungen des Zusammenspiels verschiedener Regionen und prägt in diesem Zusammenhang den Begriff »Diskonnektionssyndrom«. Ursache kann entweder eine Durchtrennung von direkten Faserverbindungen zwischen kortikalen Arealen sein oder eine Läsion von Hirnrindenbereichen, die gewissermaßen als Vermittler zwischen anderen Arealen dienen. Das Studium struktureller zerebraler Verbindungen erlebte in den 1990er Jahren ein erneutes Wiederaufleben durch ein Verfahren der Magnetresonanztomographie, mit dem sich Faserverbindungen des Gehirns auch beim gesunden Probanden visualisieren lassen.13 Unter anderem lassen sich so Faserzüge rekonstruieren, deren Verlauf Geschwinds Interpretationen bestimmter zerebraler Verbindungen stützen.14 Neben klassischen Methoden zur Untersuchung struktureller Verbindungen stehen mit elektrophysiologischen Methoden wie Magnet- und Elektroenzephalographie sowie mit der PositronenEmissions-Tomographie und der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) auch Verfahren zur Untersuchung zeitlicher bzw. zeitlich-räumlicher Kopplung örtlich entfernten Hirnbereiche zur Verfügung. Damit sind in Ergänzung zu den genannten strukturellen Netzwerkanalysen auch Untersuchungen der funktionellen (= zeitli10 | Wernicke (1874). 11 | Lichtheim (1885). 12 | Geschwind (1965a) und Geschwind (1965b). 13 | Jones (2008). 14 | Catani/Jones (2005).

34 | H EINER FANGERAU , M ICHAEL M ARTIN , R OBERT L INDENBERG chen) Konnektivität und der effektiven (= »kausalen«) Konnektivität möglich.15 Mit diesen neuen Analysemethoden scheint ein auf konnektionistischen Modellen basierender Untersuchungsansatz gefunden, der über rein lokalisationistische Theorien hinausgeht, in denen die Repräsentation verschiedener Funktionen in jeweils distinkten zerebralen Arealen gesucht wurde. Auch mit Blick auf semantisches Wissen sind derartige Untersuchungen unternommen worden. Die Ergebnisse sind vielschichtig, doch es lassen sich im Wesentlichen zwei Interpretationsansätze unterscheiden: In einem ersten Erklärungsversuch der kategorienspezifischen Sprachverarbeitung wird die Existenz eines Netzwerks bestehend aus einzelnen, jeweils unimodalen Assoziationsarealen, also Arealen mit entweder motorischer oder sensorischer Qualität, postuliert, wobei die letzte Gruppe aufgeteilt werden kann nach den einzelnen Sinnesmodalitäten (Sehen, Hören etc.).16 Die kategoriale Spezifität wird nach diesem modularen Modell einerseits durch die Organisation innerhalb einzelner Areale und andererseits durch das Zusammenspiel mehrerer Areale realisiert. Ausfallserscheinungen werden durch Störung der (unimodalen) kortikalen Regionen oder aber der Verbindungen zwischen diesen Regionen erklärbar. Somit kann die Argumentationslinie in der Tradition des Konnektionismus über Geschwind bis hin zu Wernicke zurückverfolgt werden. Ein zweiter Erklärungsansatz bezieht sich auf Kasuistiken von Patienten mit zerebralen Störungen unterschiedlicher Genese, in denen isolierte kategorienspezifische, jedoch nicht zwangsläufig modalitätsspezifische semantische Störungen beschrieben werden.17 Dieser Ansatz ist als Weiterentwicklung der genannten Interpretation der Befunde zu sehen, die distinkte kortikale Areale oder deren Verbindung jeweils spezifischen Störungen der semantischen Verarbeitung zuordnet.18 Neben der Annahme einer übergeordneten Dichotomie von sensorischem und motorischem System und deren Assoziations-

15 | Siehe z.B. Friston (2005). 16 | Für eine Übersicht siehe Patterson/Nestor/Rogers (2007). 17 | Neben funktionellen Studien an gesunden Versuchspersonen sind seit den Arbeiten von Elizabeth K. Warrington und Mitarbeitern (beginnend mit Warrington, 1975) zahlreiche Fallbeschreibungen dieser Art erschienen. 18 | Gainotti (2004).

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arealen wird eine zentrale, selbst amodale Instanz eingeführt, die das Ensemble der unimodalen Regionen integriert.19

Semantisches Wissen – Anwendung der Frame-Theorie auf neurowissenschaf tliche Befunde In der Übersichtsarbeit von Karalyn Patterson zu den neurowissenschaftlichen Befunden des semantischen Wissens wird zu Beginn ein Patient beschrieben, der unter dem Krankheitsbild der semantischen Demenz leidet.20 In der Beschreibung sitzt er als Beifahrer mit seiner Ehefrau im Auto und leitet sie durch eine ihm gut bekannte Gegend, die sie lange nicht besucht haben. Als sie an einer Weide mit Schafen vorbeikommen, fragt er sie unvermittelt: »Was sind das denn für Dinger da?« – Er ist also nicht in der Lage, die von ihm gesehenen Tiere als Schafe zu spezifizieren. In neuropsychologischen Tests können diese Defizite genauer evaluiert werden, wobei sich regelhaft zeigt, dass die Störung unabhängig von der Sinnesmodalität besteht. Der Patient würde das Schaf also auch nicht benennen können, wenn er in dessen Wolle griffe oder sein Blöken hörte. Typischerweise findet sich bei Patienten mit solchen kategorialen semantischen Störungen eine umschriebene pathologische Gewebeveränderung im vorderen Schläfenlappen (Temporalpol). Wie weiter oben bereits angeführt, deuten diese Befunde in die Richtung, dass nicht nur das Ensemble verschiedener Hirnareale unterschiedlicher Sinnesmodalität eine Rolle spielt. Vielmehr zeigt sich, dass die Ursache der Störung in einer übergeordneten Instanz im Sinne eines Vermittlers zwischen den distinkten Regionen zu suchen ist. Das aus unimodalen Komponenten zusammengesetzte Netzwerk wird modellhaft um ein zentrales Areal (»Drehkreuz«, engl. hub) ergänzt, das als modalitätsübergreifende Schaltstelle fungiert.21 Im Einklang damit zeigte sich auch in funktionellen Bildgebungsstudien im Temporalpol die Repräsentation von Aspekten der Sprachverarbeitung unabhängig von der Modalität (z.B. visuell und akustisch). Zur weiteren Evaluierung dieses neurowissenschaftlichen Modells des semantischen Wissens bietet sich eine Anwendung der oben vorgestellten Frame-Theorie an, da linguistische Frame-Modelle zur kate19 | Vgl. Patterson/Nestor/Rogers (2007). 20 | Vgl. Patterson/Nestor/Rogers (2007). 21 | Vgl. Patterson/Nestor/Rogers (2007).

36 | H EINER FANGERAU , M ICHAEL M ARTIN , R OBERT L INDENBERG gorialen Struktur semantischer Inhalte bereits etabliert sind. Indem das Beispiel des Schafs wieder aufgenommen wird, veranschaulicht Abbildung 1 verschiedene neurowissenschaftliche Konzepte des semantischen Wissens mit Hilfe von Frames. Hierbei zeigt sich, dass die weiter oben genauer beschriebene Vorstellung einer modularen zerebralen Repräsentation semantischer Inhalte multipler Frames bedarf.

Abbildung 1: (a) Notwendigkeit einer Folge von (unimodalen) Einzel-Frames zur Erfassung des Begriff s »Schaf«; (b) Möglichkeit der Erfassung des Begriff s »Schaf« in einem einzelnen Frame durch Integration verschiedener Sinnesmodalitäten (hier beispielhaft visuell, taktil und akustisch) in einer zentral vermittelnden, modalitätsübergreifenden Instanz.

Zur Erklärung ist eine Art »Frame-Netzwerk« nötig (s. Abbildung 1 a), dessen einzelne Komponenten jeweils einer Sinnesmodalität zuzuordnen sind (z.B. visuell – das Wolkige der Wolle; taktil – das Weiche

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bis Wachsig-Drahtige der Wolle; akustisch – das Blöken). Die Erweiterung um ein zentrales »Drehkreuz«, das als Vermittler zwischen die einzelnen Modalitäten tritt und sie integriert, hat demgegenüber eine Konzentrierung in einem einzelnen Frame zur Folge (Abbildung 1 b). Diese simplifizierenden Darstellungen der Frames zeigen natürlich nur einen kleinen Ausschnitt der möglichen Attribut-Wert-Kombinationen der Kategorie »Schaf«; darüber hinaus haben die Frames keine starre Struktur, sondern sind dem jeweiligen Kontext flexibel angepasst. So bleibt ein Schaf auch nach der Schur ein Schaf, also ohne den Wert »Wolle« im Beispiel-Frame. Eine Übertragung dieser kognitionswissenschaftlichen und neurowissenschaftlichen Überlegungen auf historische Analysen der Entwicklung von wissenschaftlichen Konzepten bietet nun die Möglichkeit, Konzeptwandel und -evolution auf kognitiver Ebene zu untersuchen.

Konzept wandel in den Wissenschaf ten Thomas S. Kuhn (1922-1996) leitete mit seiner 1962 erschienenen »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen«22 ein Umdenken in der Beurteilung wissenschaftlicher Konzeptwandel ein, indem er den bis dahin gängigen Theorien vom kumulativen Wachstum des Wissens eine Theorie wissenschaftlicher Revolutionen entgegensetzte.23 Danach führten einzelne, punktuelle Paradigmenwechsel zur Änderung wissenschaftlicher Vorstellungen. Neu aufkommende und bestehende Paradigmen seien dabei unvereinbar. Diese Inkommensurabilität werde aber dadurch verschleiert, dass sich die einander ablösenden Paradigmen mitunter gleicher (oder zumindest ähnlicher) Begrifflichkeiten bedienten. Ludwik Fleck (1896-1961) hat schon vor Kuhn in seiner 1935 erschienenen Schrift zur »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« für diese Form eines sich historisch wandelnden kollektiven Denkens den Begriff des Denkstils eingeführt.24 Die Träger des Denkstils, die Forschergemeinschaften, die durch eine spezifische geistige Verarbeitung des Wahrgenommenen zwangsweise miteinan-

22 | Kuhn (1986). 23 | Zu Kuhns Gesamtwerk vgl.: Marcum (2005); Nickles (2003); Bird (2000); zur Diskussion um sein Werk immer noch grundlegend: Hoyningen-Huene (1989). 24 | Fleck (1980).

38 | H EINER FANGERAU , M ICHAEL M ARTIN , R OBERT L INDENBERG der verbunden sind, bezeichnete er als Denkkollektive. Der jeweilige Denkstil wird durch gemeinsame Fragestellungen und Lösungen, die eine Gruppe von Wissenschaftlern als evident betrachtet, geformt. Nicht zuletzt entsprechen auch die Methoden dem Denkstil, den die Forschergruppe als Erkenntnismittel anwendet.25 Die Erzeugung und der Umgang mit Wissen ist nach Fleck also vor allem auch als sozialer Prozess zu verstehen, in dem die Angehörigen eines Denkkollektivs miteinander verbunden sind und auf der Basis des gemeinsam Gedachten einen eigenen Denkstil generieren, den er als »gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen« definiert.26 Dabei erscheint ihm der Vorgang der Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache »als die geschichtlich einmalig mögliche Verknotung von Ideengängen« und Gedanken, die so einen fi xen Punkt schaffen. »Dieser wird zum Ausgangspunkt neuer Linien, die ringsherum sich entwickeln und wiederum an andere anstoßen. Auch die alten Linien bleiben nicht unverändert: immer neue Knoten entstehen und die alten Knoten verschieben sich gegenseitig. Ein Netzwerk in fortwährender Fluktuation.«27 Im Gegensatz zu Kuhn, der abrupte Konzept- und Kategorienwandel als Revolutionen verstanden wissen wollte, sind nach Flecks Theorie in den neuen Denkstilen durchaus alte wissenschaftliche Vorstellungen latent vorhanden. Wie Kuhn sah aber auch Fleck wissenschaftliches Fortschreiten nicht als kumulatives Anhäufen von Wissen an. Vielmehr ging er davon aus, dass ein Denkkollektiv zunächst versucht, neuere nicht erwartete empirische Ergebnisse als Denkstilergänzungen zu integrieren, bevor es grundlegende Konzepte revidiert. Diesen Vorgang illustriert er am Beispiel der historischen Entwicklung einer Syphilis-Nachweisprobe, der Wassermann-Reaktion. Dabei zeigt er auf, wie neue empirische Forschungsergebnisse, die dem tradierten Denkstil widersprechen, den interkollektiven Denkzwang destabilisieren und so die Denkvoraussetzungen eines Kollektives unbemerkt verschieben. Je nach Ausprägung und Umfang der neu eingeführten Parameter (Forschungsergebnisse, Methoden) kann dies über den immanenten Drang zur »Harmonisierung« zu neuen Kategorienbildungen führen und bis hin zur Ablösung des bisherigen Denkstils. 25 | Vgl. aus der umfangreichen Literatur zu Fleck: Schnelle (1982); Cohen/Schnelle (1986); Löwy (2004); Egloff (2005); Griesecke/Graf (2007); Choluj/Joerden (2007). 26 | Fleck (1980), S. 130. 27 | Fleck (1980), S. 105.

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Unter dem »Denkzwang« versteht Fleck dabei die durch den Denkstil eines Kollektivs konstituierte Kraft, die sich Alternativen, der individuellen »freien Willkürlichkeit des Denkens« entgegensetzt und auf deren Basis sich eine »wissenschaftliche Tatsache« erst als solche etabliert. Widerspricht das Reflektieren über einen Tatsachenbestand den Gewohnheiten des Kollektivs diametral, besteht kaum eine Chance, dass dieser den Charakter einer wissenschaftlichen Tatsache annehmen kann. Der Denkzwang nimmt hier einen Doppelcharakter an, da er zum einen sozial im Kollektiv beheimatet ist, zum anderen aber eine kognitive Komponente beinhaltet, die sich ihrerseits wieder an kognitionswissenschaftliche Theorien des Wissens anschließen kann. Das Darstellungsformat der Frames ermöglicht es, »Denkstile«, »Denkzwänge« und »Denkstilergänzungen« – bis hin zum konzeptuellen Wandel – auf der Stufe von kollektivgebundenen Wissenssystemen zu visualisieren. Gerade die minimalen, zunächst unbemerkten Brüche und Umorganisationen innerhalb der Denkstile, die dann letztendlich zur Umgestaltung des ganzen Systems führen, lassen sich über eine dezidierte Frameanalyse herausarbeiten.28 Wie im oben aufgeführten vereinfachten Beispiel-Frame können auch wissenschaftliche Konzepte oder – was für die Medizingeschichte relevant ist – medizinische Diagnosekonzepte im Frameformat abgebildet werden. Im Mittelpunkt stehen dabei die Begriffe und ihre Verortung im Frame bzw. ihre inhaltliche Aufladung (Attribute, Werte). »Begriffe«, so konstatierte Fleck bereits 1938, »sollte man natürlich nicht als gesonderte, nur an sich bestehende Bausteine auffassen, aus denen sich der gegebene Gedanke zusammensetzt. Wir isolieren ihn natürlich erst ex post aus diesem Gedanken, aus einem ständigen Gedankenprozeß. Doch selbst isolierte Begriffe weisen […] eine spezifische, für den gegebenen Denkstil charakteristische Stilfärbung auf.«29 Die Bedeutungsvarianzen können im interkollektiven Gedankenverkehr so gravierend sein, dass eine Verständigung zwischen den Mitgliedern verschiedener, selbst historisch »verwandter« Denkkollektive nicht mehr möglich ist. Damit gab Fleck bereits einen Aufriss jener Problematik, die unter dem Schlagwort der »Inkommensurabilität«, insbesondere anhand der Theorien Kuhns, diskutiert wurde.30 Während Kuhn aus28 | Vgl. Wittgensteins Metapher vom Fluss der Gedanken in ihrem Flussbett. Nur ahistorisch betrachtet ist das Flussbett unveränderlich. Wittgenstein (1970), § 95f. 29 | Fleck (1983). 30 | Babich (2003).

40 | H EINER FANGERAU , M ICHAEL M ARTIN , R OBERT L INDENBERG schließlich den blockierenden Charakter von Begriffsverschiebungen hervorhebt, weist Fleck aber darauf hin, dass darin auch positive Effekte liegen können. Sprachverstehen ermöglicht nicht nur eine Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern übernimmt auch durch »Fehlinterpretation« aufgrund von Bedeutungsverschiebungen eine positive Funktion für die Wissenschaftsentwicklung.

Konzept wandel – Anwendung der Frame-Theorie Angesichts der Prozesshaftigkeit der Begriffsverschiebungen, die sich auf sprachlicher bzw. kognitiver Ebene manifestieren, scheint die Frameanalyse ein besonders lohnenswerter Ansatz zu sein, gerade auch das Postulat der Inkommensurabilität zu überprüfen. Der Kernpunkt der Inkommensurabilität besteht darin, dass in Theorien, die einander ablösen, bestimmte Begriffe auf unterschiedliche Art benutzt werden. Eine neue Theorie führt neue Begriffe ein und verwirft Begriffe der alten Theorie. Hinsichtlich der Inkommensurabilität weit komplexer sind indes solche Fälle, in denen Begriffe der alten Theorie in der neuen Theorie weiter verwendet werden, aber mit mehr oder weniger veränderter Bedeutung. Ein plastisches Beispiel stellt der Begriff des Zuckergehalts in der medizinischen Diagnostik des Diabetes mellitus dar, der in einem Lehrbuch von 1865 nichts anderes bedeutet, als dass die chemische Probe nach Trommer (Trommer’sche Probe) positiv ist.31 Im Unterschied zu dieser semi-quantitativen Bestimmung (vorhanden oder nicht) verlangen aber andere Autoren genauere quantitative Bestimmungen eines Zuckergehalts in Gramm pro Maßeinheit oder Prozent.32 Nicht mehr die pure Existenz von Zucker im Harn definiert den Begriff des Zuckergehalts, sondern seine Angabe in z.B. Gramm pro Deziliter. Wie Übergangsphasen von einem Konzept zum anderen verlaufen, kann die Frameanalyse nachweisen, indem sich mit ihrer Hilfe die Zuordnungen zwischen Attributen und Werten in ihrer zeitlichen Veränderung dezidiert aufzeigen lassen. Dabei stellt sich die Frage, welche Bedeutung derartige Begriffsverschiebungen für die Entwicklung eines bestimmten Konzeptes haben. Retrospektiv lässt sich entscheiden, ob sie den Erkenntnisgewinn blockierten (durch die 31 | Ziegler (1865), Bei der Trommer’schen Probe bildet sich bei Zusatz von Kalilauge und Kupfersulfatlösung ein gelbroter Niederschlag, wenn ein Harn, der Zucker enthält, erwärmt wird. 32 | Becquerel (1842); Strümpell (1892).

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sprachliche Inkompatibilität), förderten (etwa durch epistemologisch schärfere Begrifflichkeiten)33 oder sogar neue Wege der Wissenschaft ermöglichten. Insbesondere die Wissenschaftshistoriker und -philosophen Andersen, Barker und Chen haben aufgezeigt, wie fruchtbar Frames zur Analyse von Denkstilverschiebungen auf Konzeptniveau eingesetzt werden können. Sie haben dabei auf Hierarchiebrüche in Frames durch Einführung neuer Attribute, Werte oder Constraints (s.u.) hingewiesen, die eine konzeptuelle Neuorientierung erzwingen.34 Ein besonderes Gewicht liegt dabei auf der inneren Struktur der Frames, auf den Verbindungen zwischen ihren Attributen und Werten, deren Veränderungen letztendlich einen Konzeptwandel oder in Flecks Terminologie eine Denkstilveränderung charakterisieren.

Abbildung 2: Diagnose-Frame, in dem Constraints die Diagnosen »Diabetes mellitus« und »Normaler Urin« durch Verknüpfung von Attribut-WertKonstellationen determinieren.35

Für unterschiedliche Denkstile lassen sich je spezifische Frames erstellen. Die structural invariants, die dem Frame übergeordneten Konzepte, determinieren dabei den jeweiligen Denkstil. Sie bestimmen auf kognitiver Ebene die hierarchischen Regeln, nach denen innerhalb eines Frames festgelegt ist, welche Attribute mit welchen Werten in Beziehung stehen können und welche Attribut-Wert-Konstellationen 33 | Zur wichtigen Rolle »unscharfer Begriffe« bei der Konstruktion von Wissen sowie der Verbreitung von Innovationen vgl. Löwy (1993). 34 | Chen (2003); Andersen/Barker/Chen (2006). 35 | Auch in den im neurowissenschaftlichen Abschnitt in Abbildung 1 gezeigten Hornträger-Frames sind es Constraints, die eine Unterscheidung von Schafen und Rindern erlauben.

42 | H EINER FANGERAU , M ICHAEL M ARTIN , R OBERT L INDENBERG innerhalb des gleichen Frames unmöglich sind. Solche Regeln werden als constraints (»Beschränkungen«, »Gesetzmäßigkeiten«) bezeichnet. Während attribute constraints generelle Regeln darstellen, die Attributen/Werten allgemein zugeordnet sind, repräsentieren value constraints spezifische Regeln. Mit den Constraints lassen sich so Korrelationen verschiedener Attribute bzw. Werte erfassen und in Frames visualisieren. Auf diese Weise werden zum Beispiel in medizinischen Diagnose-Frames mögliche Symptom-Konstellationen voneinander abgegrenzt (Abbildung 2). Werden durch neue Befunde oder neue Konzepte einmal festgelegte Constraints hierarchisch unmöglich, muss eine konzeptuelle Neuorientierung, eine Umgestaltung des Frames erfolgen. In Anlehnung an Kuhn zeigen Andersen, Chen und Baker36 hier drei Prinzipien auf, denen die Konsistenz von Konzept-Frames und die in ihnen angelegten Constraints folgen und deren Bruch ein neues Konzept im Frame generiert: 1. Das Prinzip des no-overlap, das besagt, dass die Aufteilung von Attributen zu einem subordinierten Konzept exklusiv sein muss, sich kontrastierende Attribut-Wert-Konstellationen also nicht überschneiden dürfen. So ist in dem simplifizierten Beispiel-Frame zur Urin-Diagnose (Abbildung 2) ein Harn mit blasser Farbe, aber normaler Menge nicht vorgesehen, weil Diabetes mit einer vermehrten Menge Harn einhergeht und der normale Urin gelb ist. Das heißt, dass so ein Harn entweder nicht existiert oder das Konzept dem empirischen Befund seiner Existenz angepasst werden muss. 2. Das Exhaustion Principle, nach dem die Aufteilung eines übergeordneten Konzeptes keine Restgrößen übrig lässt. Das bedeutet, dass alle Attribute und Werte in zumindest einem untergeordneten Konzept angewandt werden. Zum Beispiel lassen sich in einem Frame zur Urin-Diagnose alle genannten Attribute in die untergeordneten Konzepte Diabetes mellitus und normaler Urin auflösen, es bleiben keine ungenutzen Restgrößen im Frame bestehen. 3. Das Inclusion Principle, nach dem alle Attribute und Werte eines untergeordneten Konzeptes auch Teil des übergeordneten Konzeptes sein müssen. Ein untergeordnetes Konzept darf keine Instanzen beinhalten, die nicht Teil des übergeordneten Konzeptes sein können. 4. Verletzungen der Hierarchieprinzipien, wie sie zum Beispiel durch die Einführung neuer Attribute auftreten können, werden inner36 | Andersen/Barker/Chen (2006), S. 67ff.

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halb eines Konzeptes als Anomalien begriffen, die einer Intergation bedürfen. Dieser Vorgang führt dann zum »konzeptuellen Shift.« Als Strategien hierfür haben Anderson, Chen und Baker bereits die Änderung von Werte-Constraints und die Ergänzung neuer subordinate concepts detektiert.

Abbildung 3: Frame zum Konzept der Urindiagnostik. Einführung eines neuen Konzeptes. In Diagnoseframes refl ektieren die Attribute stets auch die jeweilig angewandte diagnostische Technik, wobei ihre Werte zum Beispiel qualitativen oder quantitativen Charakter haben können.

Einen besonderen Gegenstandsbereich, der außerordentlich formalisierte Wissenskonzepte hervorbringt, stellt die medizinische Diagnostik dar. In Diagnoseframes werden durch Constraints mögliche Symptomkonstellationen, die zu einer Diagnose führen, von unmöglichen Konstellationen abgegrenzt. Konzeptuelle Verschiebungen offenbaren sich hier in diachroner Perspektive zum Beispiel dadurch, dass neue untergeordnete Konzepte, d.h. neue Diagnosen für Symptomkonstellationen eingeführt werden müssen, die empirisch vorliegen, aber nach den herrschenden Diagnostikvorstellungen nicht vorliegen dürften. Ein Beispiel stellt die Einführung der Diagnose »Diabetes insipidus« an der Grenze vom 18. zum 19. Jahrhundert dar.37 Während die Vorstellung eines »Diabetes mellitus«, einer Erkrankung, die mit vermehrtem Fluss von Harn mit blasser Farbe und honigsüßem Geschmack bereits lange existierte, so musste zur diagnostischen Erfassung eines Harns, dessen Menge vermehrt ist und der ein blasses Aussehen hat, jedoch nicht süß schmeckt, als weiteres untergeordnetes Konzept der Diabetes insipidus (insipidus = ohne Geschmack) dem diagnostischen Spek37 | Eine Kurzübersicht findet sich in Lindholm (2004).

44 | H EINER FANGERAU , M ICHAEL M ARTIN , R OBERT L INDENBERG trum hinzugefügt werden. Auf einen Frame dieses diagnostischen Wissens übertragen heißt dies, dass sich konzeptuelle Änderungen auf der Attribut-Wert-Ebene (Hinzufügung des Wertes »ohne Geschmack«) und auf der Ebene der untergeordneten Konzepte (Hinzufügung einer neuen diagnostischen Kategorie) ergaben (siehe Abbildung 3). Kognitionswissenschaftliche Frames helfen in dieser Weise, Denkstilverschiebungen auf konzeptueller Ebene nachzuzeichnen, und eröffnen die Möglichkeit einer Visualisierung vernetzten Wissenswandels.

Schluss Durch die Anwendung der kognitionswissenschaftlichen Frame-Theorie auf neurowissenschaftliche Befunde ließ sich in Bezug auf semantisches Wissen die Annahme einer amodalen Instanz bei der Integration verschiedener Sinnesmodalitäten in dieses Wissen aufzeigen. Hierdurch konnte ein Konzeptwandel in einem aktuellen neurowissenschaftlichen Forschungsbereich visualisiert werden, durch den bisher notwendige Einzelframes zur Beschreibung eines semantischen Wissensbestandes in einem Frame zusammengeführt werden konnten. Die Anwendung des Frame-Modells auf wissenschaftshistorische Theorien zur Erklärung von Wissenswandel konnte darüber hinaus verdeutlichen, wie sich Konzeptwandel im Prozess des Entstehens rekonstruieren lässt. Dabei wurde ein besonderes Gewicht auf die Vernetzung von Attributen und Werten in Frames und ihre Verschaltung zu einem Konzept durch die vom Denkkollektiv vorgegebenen Constraints gelegt. Gerade für die Medizingeschichte sind in diesem Zusammenhang auch die neurowissenschaftlichen Überlegungen von besonderem Interesse, da die medizinische Diagnostik sich seit frühesten Zeiten auf die fünf Sinne des Arztes stützt. Frames selbst sind zwar als Repräsentationsformat von Wissen unabhängig von Sinnesmodalitäten, so dass die historische Analyse von Konzeptwandeln den geschilderten neurowissenschaftlichen Ansatz nicht zwingend braucht. Die Anlehnung an das neurowissenschaftliche Modell und die Annahme eines amodalen Vermittlers zwischen Sinnesmodalitäten aber ermöglicht weitergehende Reflexionen über den kognitiven Vorgang der Diagnoseerstellung, der über operationalisierte Entscheidungsbäume oder das intuitive Wahrnehmen bedingter Wahrscheinlichkeiten hinauszugehen scheint. Am Beispiel der Urindiagnostik wurde vor dem kognitions- und neurowissenschaftlichen Hintergrund auf konzeptueller Ebene mit Hilfe von Frames gezeigt, wie neue Attribute und Werte modalitätsübergreifend in ein bestehendes Wissen integriert werden. An einem

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bestimmten Punkt der Integration kommt es zwangsläufi g zu derart massiven Widersprüchen, dass ein konzeptioneller Wandel (»Shift«) notwendig wird, wie er sich in der Ergänzung des Diabetes-Konzeptes (mellitus/insipidus) manifestiert hat. Wie nah die beschriebenen, sich in Konzept-Frames offenbarenden Lösungen von Anomalien an Flecks Überlegungen zu Denkstilverschiebungen anschließen, wird dadurch offenbar, dass nach Fleck eine wissenschaftliche Tatsache »durch kein isoliertes Experiment zu beweisen ist, sondern nur durch eine ausgebreitete Erfahrung, einen besonderen Denkstil, der aus früherem Wissen […] und – was erkenntnistheoretisch am wichtigsten [ist] – mehreren Begriffsanpassungen und Umwandlungen sich aufbaut.«38 Im intrakollektiven Prozess der Generierung einer »Tatsache« kommt es zu Verschiebungen und Neubewertungen, die sich im Abbildungsformat der Frames als Attribut-Werte-Korrelationen oder Änderung der Constraints abbilden lassen. Darüber hinaus beschränken sich »Wissensnetze« nie auf ein einzelnes Denkkollektiv (ähnlich den Frames, die nie isoliert sind), da Wissenschaftler immer mehreren Kollektiven angehören bzw. die Forschung anderer rezipieren. So kommt es zuletzt zu einer »Wanderung« der Begriffe zwischen den Kollektiven, die verbunden ist mit einer »Umgestaltung« des jeweiligen Begriffs bis hin zu einer »harmonischen Veränderung des gesamten Denkstils« des neuen Kollektivs, »das durch Verknotung mit dessen Begriffen entsteht. Diese Denkstilveränderung […] gibt neue Entdeckungsmöglichkeiten und schafft neue Tatsachen. Dies ist die wichtigste erkenntnistheoretische Bedeutung des interkollektiven Denkverkehrs«.39 So sieht Fleck auf dieser Basis die sich wandelnden Ideen im Denkkollektiv als ein »Netzwerk in fortwährender Fluktuation«. Dieses komplexe System lässt sich auf der Ebene der Frames (Konzeptframes, Begriffsframes) – Fleck selbst spricht bereits von der »geschichtlich einmalig möglichen Verknotung von Ideengängen«40 – als Frame in Fluktuation untersuchen.

38 | Fleck (1980), S. 128 (Hervorhebung im Original). 39 | Fleck (1980), S. 144. 40 | Fleck (1980), S. 105.

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Summar y In this essay the authors propose a method to analyse the development of knowledge as a network process. They focus on conceptual knowledge at the level of ideas. An attempt is made to describe diachronic changes of knowledge as the dissolution and reorganisation of intellectual links and constraints that hierarchically categorise a concept. The Frame theory, which was developed in the realm of cognitive psychology to describe the network-like character of semantic knowledge, is introduced as a basis for this interdisciplinary approach. It is applied to neuroscientific findings regarding the representation of semantic knowledge in the human brain to illustrate different accounts in favour of a recent neuroscientific theory. In a next step, it is discussed how historians of science might make use of the Frame theory and its neuroscientific implications. It is argued that the adoption of the Frame theory might be of help for historians of science to describe evolutionary changes of knowledge stepwise at the conceptual level.

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Netzwerkmodelle in der Historischen Sprachwissenschaf t Jens Fleischhauer

Einleitung 1 Seit dem 19. Jahrhundert werden in der Sprachwissenschaft die genealogischen Beziehungen zwischen Sprachen in Stammbäumen dargestellt. Hinter der Verwendung dieses Ansatzes steht die Annahme, dass sich sprachliche Entwicklungs- und Verwandtschaftsverhältnisse in Form sich verzweigender Äste beschreiben lassen. Seit einiger Zeit werden diese Stammbäume durch Netzwerkmodelle ersetzt, die die sprachliche Phylogenese nicht als einen Prozess sich baumartig fortpflanzender Verzweigungen auffassen, sondern als ein miteinander verflochtenes Netz, in dem – anders als in Bäumen – Zusammenführungen von Ästen erlaubt sind. In diesem Beitrag soll zunächst kurz auf die Einführung der Stammbaummetapher in der Sprachwissenschaft eingegangen werden, bevor darauf auf bauend die Komparative Methode der Linguistik beschrieben wird, die in der Betrachtung sprachlicher Verwandtschaftsverhältnisse Verwendung findet. Auf dieser Grundlage soll in einem dritten Abschnitt eine sprachwissenschaftliche Kritik der Verwendung von Stammbäumen zur Beschreibung sprachlicher Abstammungsverhältnisse erfolgen, um aus ihr heraus die Motivation für die Behandlung der aus der Biologie stammenden Netzwerkansätze im Rahmen sprachwissenschaftlicher Analysen zu erklären. Im 1 | Für hilfreiche Kommentare möchte ich Hans Geisler, Stefanie Schulze, Hakan Beseoglu und den Herausgebern danken.

50 | J ENS F LEISCHHAUER vierten Abschnitt wird dann ein solcher Netzwerkansatz exemplarisch vorgestellt, wobei im Vordergrund eine konkrete Analyse sprachlicher Daten steht. Abschließend sollen offene Fragen, die für eine weitere Beschäftigung mit phylogenetischen Netzwerken zukünftig geklärt werden müssen, sowie Probleme im Bezug auf die Verwendung von Netzwerken angesprochen werden.

Biologische und sprachwissenschaf tliche Stammbäume Zwischen den Objekten der Sprachwissenschaft und der Biologie wurden schon recht früh Bezüge hergestellt. August Schleicher schrieb bereits im Jahr 1863 über die »Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft«2 und sah biologische Arten und Sprachen als einander ähnlich an. Den Evolutionsansatz übertrug er von biologischen Arten auf Sprachen und führte zur Darstellung der evolutionären Abstammungsverhältnisse Stammbäume in die Sprachwissenschaft ein, um die Verwandtschaftsverhältnisse der untersuchten Sprachen und die genealogische Abfolge der Sprachentwicklung beschreiben zu können. Schleichers Ansatz war durch die Feststellung von Sir William Jones motiviert, dass sich die Ähnlichkeiten, die man beispielsweise zwischen dem Altgriechischen, dem Lateinischen und dem Sanskrit sehen kann, nicht anders erklären lassen als über die Existenz eines gemeinsamen Vorfahren, von dem ausgehend sich die drei Sprachen herausgebildet haben. In Tabelle (1) sind Beispiele für Worte angeführt, die in den genannten Sprachen dieselbe Bedeutung tragen und im Bezug auf die Lautstruktur sehr ähnlich sind. Sanskrit pod pitar

Latein ped pater

Altgriechisch pad pater

Tabelle 1: Beispiele für Ähnlichkeiten zwischen den drei Sprachen Sanskrit, Latein und Altgriechisch

Schleichers Sichtweise auf Sprachen als evolvierende Entitäten, die den biologischen Arten ähnlich sind, wurde in der Folgezeit durch andere Sprachauffassungen in den Hintergrund gesetzt. Eine weitere 2 | Dies ist zugleich der Titel eines offenen Sendschreibens Schleichers an den deutschen Biologen Ernst Haeckel (siehe: Schleicher 1863).

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Anbindung der Sprachwissenschaft an die Biologie unterblieb. Dennoch, so zeigen Platnick und Cameron3, haben sich analoge Modelle zur Klassifi kation in Biologie und Sprachwissenschaft entwickelt. Die Komparative Methode in der Sprachwissenschaft und die Kladistik in der Biologie klassifizieren die Entitäten in ihren jeweiligen Objektbereichen auf dieselbe Weise. Biologische Arten und Sprachen werden in eine genealogische Abfolge gebracht und somit phylogenetisch klassifiziert. Stammbäume werden zur Darstellung der phylogenetischen Verhältnisse verwendet. In der gegenwärtigen Linguistik findet man immer wieder Arbeiten, die explizit Bezug auf den kladistischen Ansatz in der Historischen Sprachwissenschaft nehmen. 4 Eine Reflexion dieser Verbindungen ist in beiden Disziplinen vorgenommen worden.5 Dies äußert sich nicht nur darin, dass die Bezeichnung kladistisch für Arbeiten im Rahmen der sogenannten Komparativen Methode der Linguistik gewählt wird, sondern auch darin, dass Sprachwissenschaftler wie Roger Lass ein explizit aus der Kladistik übernommenes Vokabular zur Beschreibung der Komparativen Methode verwenden.6 Im folgenden Abschnitt soll eine kurze Darstellung dieser Methode mit einigen ihrer Bezüge zur Kladistik erfolgen.

Die Komparative Methode – ein kladistischer Ansat z in der Historischen Sprachwissenschaf t Ein Ziel in der Verwendung der Komparativen Methode besteht darin, Ähnlichkeiten zwischen Sprachen historisch zu erklären. Mittels der Komparativen Methode werden nicht-zufällige Entsprechungen zwischen Sprachen gesucht, die sich als Folge regelhafter Prozesse beschreiben lassen. Bestimmte Arten von Ähnlichkeiten scheiden daher als Gegenstand der Untersuchung aus, nämlich alle, die nicht aus der Einwirkung eines regelhaften Prozesses heraus erklärt werden können. Ein Beispiel dafür wäre das Wort mama, das zur Bezeichnung der Mutter sowohl im Chinesischen als auch im Englischen oder Deutschen verwendet wird. Nicht-zufällige Ähnlichkeiten zwischen zwei Sprachen 3 | Platnick & Cameron (1977). 4 | Es lässt sich als ein Beispiel der Titel eines Aufsatzes von Rexova et al. (2006) anführen, in dem dieser Bezug deutlich ausgedrückt wird: »Cladistic analysis of Bantu languages«. 5 | Siehe hierzu etwa den Artikel von Atkinson & Gray (2005). 6 | Lass (1997).

52 | J ENS F LEISCHHAUER werden als Folge eines Prozesses angesehen, der durch die divergierende Weiterentwicklung der Sprachen ausgehend von einem gemeinsamen Vorfahren gekennzeichnet ist. Für das Wort mama lässt sich kein solcher Prozess angeben, da es zwischen Deutsch und Englisch auf der einen Seite und Chinesisch auf der anderen Seite keine weiteren Übereinstimmungen gibt, die man auf eine gemeinsame Abstammung dieser Sprachen zurückführen kann. Die Komparative Methode befasst sich mit semantischen und lautlichen Formen von Sprachen und erklärt deren Unterschiede durch die Anwendung eines Lautwandelprozesses wie in Tabelle (2) illustriert. Solche Formen werden in der Sprachwissenschaft als Kognaten bezeichnet. Diese sind definiert als Wörter, die in zwei oder mehr Sprachen auf eine entsprechende Form des gemeinsamen sprachlichen Vorfahren zurückgehen. Eine weitere zentrale Annahme ist, dass diese Kognaten nicht isoliert, sondern in einer größeren Anzahl auftreten, so dass zufällige Ähnlichkeiten, wie beispielsweise das Wort mama, ausgeschlossen werden können. Eine Klassifikation von Sprachen erfolgt auf Grund ihrer phylogenetischen Beziehungen, die sich im Vorhandensein von Kognaten sichtbar machen. Denn für die Existenz von Kognaten, so die Annahme, ist eine gemeinsame Abstammungsgeschichte der Sprachen notwendige Voraussetzung. Eine Sprache, die sich über die Zeit hinweg verändert aber dabei eine kontinuierliche Fortsetzung einer anderen Sprache ist, wird als deren Tochtersprache bezeichnet. Auf diese Weise werden genealogische Abfolgen konstruiert. Als Kriterium, ab wann eine Veränderung in einer Sprache zum Entstehen einer neuen Sprache führt, werden Aufspaltungen von Sprachen herangezogen. Eine Aufspaltung liegt dann vor, wenn sich aus einer gemeinsamen Sprache voneinander unabhängig weiterentwickelnde Formen mindestens zweier Sprechergemeinschaften herausgebildet haben. Eine Ursache für eine solche Aufspaltung kann die geografische Isolation zweier Sprecherpopulationen sein, die ursprünglich einer gemeinsamen Sprachgemeinschaft angehörten. Für die Komparative Methode zentraler ist jedoch, dass man die unabhängige Weiterentwicklung von Sprachen daran erkennen kann, dass reguläre Veränderungen, wie oben beschrieben, in der Sprache einer der Sprechergruppen auftreten, die es in der Sprache der anderen Sprechergruppe nicht gibt. Auf Grund solcher sprachlichen Manifestationen unabhängiger Sprachentwickelung werden Aufspaltungen in Stammbäumen gerechtfertigt. Abbildung (1) zeigt einen Stammbaum der westgermanischen Sprachen und illustriert die Aufspaltungen aus dem als Westgermanisch bezeichneten gemeinsamen Vorfahren der Gruppe dieser Sprachen.

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Abbildung 1: Stammbaum der Wetgermanischen Sprachen nach Lass (1997: 156)

Der Stammbaum verdeutlicht, dass Hochdeutsch und Niederländisch sich einen direkten gemeinsamen Vorfahren teilen. Sie weisen Gemeinsamkeiten auf, die man weder im Englischen noch im Friesischen findet. Unterschiede, die die Aufspaltung der beiden Sprachen aus dem kontinental Westgermanischen anzeigen, wurden durch die Zweite Germanische Lautverschiebung ausgelöst, die unter anderem den Wandel des Lautes /p/ in die Lautfolge /pf/ im Anlaut des Deutschen, wie in Tabelle (2) gezeigt, mit sich brachte: Wandel von /p/ nach /pf/

Deutsch Pfund Apfel

Niederländisch Pond appel

Tabelle 2: Beispiele der Zweiten Germanischen Lautverschiebung

Dass der Wandel eine bestimmte Richtung hatte, nämlich von /p/ nach /pf/, kann empirisch dadurch belegt werden, dass man in den anderen germanischen Sprachen ein /p/ statt eines /pf/ findet. Dies zeigt sich etwa im Englischen apple. Es muss somit nur ein Wandel im Deutschen postuliert werden und nicht, dass alle anderen germanischen Sprachen sich im Bezug auf dieses Merkmal verändert haben. Für die Feststellung einer genealogischen Abfolge einer bestimmten Sprachfamilie, wie zum Beispiel die der germanischen Sprachen, wird die Existenz gemeinsam geteilter Merkmale dieser Sprachen herangezogen. Alle germanischen Sprachen zeigen die Reflexe eines Veränderungsprozesses, der als Erste Germanische Lautverschiebung bezeichnet wird. In Tabelle (3) sind Beispiele für diesen Lautwandel dargestellt, die aufzeigen, dass es im Germanischen (z.B. Deutsch und Englisch) einen Wandel von /p/ zu /f/ gab, während in den anderen, nicht-germanischen Sprachen (z.B. Altgriechisch, Latein und Sanskrit)

54 | J ENS F LEISCHHAUER dieser Wandel nicht vollzogen wurde. Ansonsten sind die Formen einander lautlich sehr ähnlich und stimmen in ihrer Bedeutung überein. Wandel von /p/ zu /f/

Altgriechisch

Latein

Sanskrit

Deutsch

Englisch

pod

ped

pad

Fuß

foot

pitar

pater

pater

Vater

father

Tabelle 3: Beispiele für die Erste Germanische Lautverschiebung

Der Wandel von /p/ zu /f/ vollzog sich im gemeinsamen Vorfahren aller germanischen Sprachen und stellt daher eine geteilte Innovation dar, die in der Kladistik als Synapomorphie bezeichnet wird. Auch bei dem Sprachwissenschaftler Roger Lass findet sich dieser kladistische Begriff in der Beschreibung des Kriteriums, anhand dessen im Rahmen der Komparativen Methode die Zusammengehörigkeit von Sprachen in Gruppen (Familien, Taxa) festgestellt wird. Über den Besitz gemeinsam geteilter Merkmale, die im Laufe der Entwicklung eines gemeinsamen Vorfahren entstanden, lassen sich zwei Sprachen als miteinander verwandt rechtfertigen. Eine solche Behauptung geht auf die Aussage von Sir William Jones zurück, dass Ähnlichkeiten nicht anders als über gemeinsame Verwandtschaft erklärt werden können. In gleicher Weise werden phylogenetische Abstammungsverhältnisse in der biologischen Kladistik gerechtfertigt. Ein zentrales Charakteristikum der Kladistik und der Komparativen Methode ist die Annahme, dass jede Sprache oder biologische Art nur über genau einen Vorfahren verfügt. In der Kladistik wird diese Annahme als Monophyliehypothese7 bezeichnet, die explizit als Kriterium für gültige kladistische Klassifikationen vom Begründer der Kladistik – Willi Hennig – formuliert wurde.8 In der Historischen Linguistik bleibt diese Annahme meistens unausgesprochen, schlägt sich aber in der Form nieder, in der Sprachstammbäume dargestellt werden. Wie Abbildung (1) illustriert, ist jede Sprache nur mit einem einzelnen direkten Vorfahren verbunden. Zusammenführungen von 7 | Ridley (1986) unterscheidet zwei Versionen der Monophyliehypothese. So wie sie in diesem Aufsatz verstanden wird, ist es nur eine schwache Version der Hypothese und nicht ganz mit der von Hennig formulierten Fassung identisch. 8 | Willi Hennig (1950, 1984).

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Ästen sind in Stammbäumen nicht vorgesehen. Die Forderung, dass Sprachen nur einen Vorfahren aufweisen, wird von manchen Sprachwissenschaftlern explizit formuliert. Thomason und Kaufman schreiben beispielsweise, dass Sprachen dann nicht genealogisch klassifizierbar sind, wenn sie mehr als einen direkten Vorfahren haben.9 Des Weiteren zeichnet sich die Komparative Methode dadurch aus, dass bestimmte sprachliche Daten von der Analyse ausgeschlossen werden. Es wird nur das so genannte Erbgut10 für die genealogische Klassifikation von Sprachen herangezogen, d.h. die sprachlichen Elemente, die von einem direkten sprachlichen Vorfahren stammen. Das Lehngut, etwa Lehnworte, werden aus einer solchen Analyse ausgeschlossen, da nur die genetischen, also vererbten, Verbindungen als relevant und für eine Klassifi kation aussagekräftig angesehen werden. Mit dem Begriff Lehngut werden aber gerade die sprachlichen Elemente bezeichnet, die eine Sprache nicht von einem Vorfahren übernommen hat. Somit finden nur genetische Beziehungen zwischen Sprachen ihren Ausdruck in den Stammbäumen. Damit sind die grundlegenden Gedanken der Komparativen Methode, sofern die Klassifikation von Sprachen betroffen ist, erfasst.11 Im nächsten Abschnitt sollen einige Probleme, die sich für das skizzierte Modell ergeben, angesprochen werden. Darauf auf bauend soll dann argumentiert werden, dass durch die Verwendung von Netzwerkansätzen diese Probleme teilweise umgangen werden können.

Probleme mit Stammbäumen Einwände gegen ein Modell, das Sprachen in linearen Abstammungsverhältnissen klassifiziert und nur genetische Verbindungen berücksichtigt, wurden in der Sprachwissenschaft seit den ersten Verwendungen von Stammbäumen formuliert. So hat Schmidt betont, dass sich seiner Ansicht nach die Entwicklung von Sprachen nicht mit der von Arten vergleichen lässt, da die sprachlichen Wandelprozesse immer nur regionale Wirkung haben und nie die Sprache als Ganzes 9 | Thomason & Kaufman (1988). 10 | Der Begriff Erbgut ist nicht identisch mit dem Begriff der Kognate, da ersterer nur die Herkunft des Wortschatzes einer Sprache beschreibt, letzterer ein theoretischer Begriff der Komparativen Methode ist und auf Regularitätskriterien (wie beschrieben) auf baut. 11 | Vgl. Lass (1999), der eine umfassendere Darstellung der Komparativen Methode vornimmt.

56 | J ENS F LEISCHHAUER betreffen.12 Im Deutschen ist dies etwa am Präteritumsschwund, der Ersetzung von Präteritum- durch Perfektformen, zu erkennen: Dieser Prozess hat sich regional, von Süden nach Norden hin steigend/fallend, unterschiedlich stark ausgeprägt.13 Andere Kritiker richteten sich gegen die Annahme, dass es nur einen zentralen Entwicklungsstrang innerhalb von Sprachen gäbe, den man zur Klassifi kation herausgreifen könnte. Von dieser Seite aus wird betont, dass eben nicht nur die vertikale Verbindung zwischen Sprachen, also das Erbgut, sondern auch die horizontalen Verbindungen berücksichtigt werden müssten. Über Kontakt zwischen Sprechergruppen beeinflussen sich Sprachen gegenseitig, was sich unter anderem in der Existenz von Lehnwörtern niederschlagen kann. Ein extremes Beispiel für horizontale Beziehungen zwischen Sprachen ist die afrikanische Sprache Ma’a.14 In dieser Sprache sind der Wortschatz (das Lexikon) und die Grammatik jeweils unterschiedlichen Ursprungs. Das Lexikon des Ma’a entstammt der Gruppe der kuschitischen Sprachen, während die Grammatik den Bantusprachen entnommen ist. Die kuschitischen und die Bantusprachen gehören unterschiedlichen afrikanischen Sprachfamilien an und lassen sich anhand zahlreicher Charakteristika sehr deutlich voneinander abgrenzen. Das Ma’a stellt eine Mischung aus Elementen beider Familien dar, ein eindeutiger Vorfahre kann nicht angegeben werden. Dieses Phänomen, das in der Sprachwissenschaft als Mischsprache bezeichnet wird, spricht allerdings nicht grundsätzlich gegen eine Vergleichbarkeit von Sprachen und Arten, denn auch in der Biologie ist eine solche Vermischung unter dem Begriff der Hybridisierung bekannt. In der biologischen Kladistik wird angenommen, dass Arten normalerweise von genau einem Vorfahren abstammen. Entgegen kladistischer Annahmen ist jedoch Hybridisierung kein singulär auftretendes Phänomen in der Biologie. 15 Judd et al. führen beispielsweise an, dass es alleine 700 natürlich vorkommende Pflanzenhybriden gibt.16 Eine Monophylieannahme ist folglich auch für biologische Arten nicht unkontrovers. Eine Folge von Hybridisierung ist, dass es Arten gibt, die nicht durch Aufspaltung ihrer Stammart entstanden sind, sondern durch die Zusammenführung phylogenetischer Abstammungslinien. 12 | Schmidt (1872). 13 | Hennig (2000). 14 | Vgl. u.a. Goodman (1971), Mous (2003). 15 | Für eine Übersicht über die Verbreitung der Hybridisierung in der Biologie und ihren Stellenwert siehe Arnold (1997). 16 | Judd et al. (2002).

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Abstammungsverhältnisse lassen sich für den Fall der Hybridisierung bzw. der Sprachmischung nicht mehr monophyletisch beschreiben, da die Arten bzw. Sprachen dann mehr als einen direkten Vorfahren haben. Nach Thomason und Kaufman wären solche Sprachen, wie etwa das Ma’a, nicht genealogisch klassifizierbar. Neben eindeutigen Fällen, die gegen die Monophylieannahme verstoßen, wie z.B. dem Ma’a, gibt es auch Sprachen, die nicht als Mischsprachen bezeichnet werden, aber dennoch unter Einfluss von Sprachkontakt maßgeblich verändert wurden.17 Eines dieser Beispiele ist das Englische, das als eine germanische Sprache klassifiziert wird, deren Lexikon zu einem großen Teil jedoch romanischen Ursprungs ist. Baugh und Cable18 sind beispielsweise der Meinung, dass auf Grund des im Vergleich großen Anteils französischer Wörter am heutigen englischen Lexikon das Englische in Bezug auf sein Vokabular durchaus als eine romanische Sprache angesehen werden könnte. Für eine Sprachklassifi kation hätte dies die Konsequenz, dass das Englische somit entweder einer anderen Familie als bisher zugeordnet oder als romanisch-germanisch bezeichnet werden müsste. Ob dies eine Relevanz hat, die über die reine Nomenklatur hinausgeht, hängt vor allem davon ab, als was man eine Klassifi kation von Sprachen interpretiert. Dient sie nur einer Ordnung von Entitäten oder sollen darüber hinausgehend weitere Informationen, etwa phylogenetische, aus einer solchen Klassifi kation ableitbar sein? Auf diese Frage wird noch im letzten Abschnitt dieses Beitrags eingegangen werden. Es gibt einige Fälle, bei denen nicht klar ist, ob Ähnlichkeiten zwischen Sprachen auf Grund einer gemeinsamen Abstammung bestehen oder ob diese durch Sprachkontakt bedingt sind. So führt Dench an, dass es für die Pilbara-Gruppe der australischen Sprachen nicht möglich sei zu entscheiden, ob gemeinsam geteilte Innovationen dieser Sprachen durch genetische Abstammung von einem gemeinsamen Vorfahren oder Sprachkontakt verursacht sind.19 Das bedeutet, dass nicht in jedem Fall entschieden werden kann, ob ein bestimmtes Merkmal, das eine Abstammungslinie auszeichnet, von einem gemeinsamen Vorfahren dieser Sprachen stammt und ob das Merkmal von verschiedenen Sprachen geteilt wird, weil sie alle Nachkommen desselben gemeinsamen Vorfahren sind. Oder es ist unklar, ob das entsprechende Merkmal in einer der Sprachen entstand, sich dann horizontal in die anderen Sprachen ausbreitete und es somit kein Indika17 | Zum Überblick über Mischsprachen: Matras (2003). 18 | Baugh & Cable (2002), S. 108. 19 | Dench (2001), S. 105.

58 | J ENS F LEISCHHAUER tor für eine gemeinsame Abstammung wäre. Wie Dench verdeutlicht auch Aikhenvald anhand der Arawak-Sprachen des nördlichen Amazonas, dass areale und genetische Merkmale nur schwer voneinander zu unterscheiden sind.20 Mit arealen Merkmalen sind sprachliche Charakteristika gemeint, die in einer bestimmten Region von mehr oder weniger allen Sprachen, unabhängig ihrer genetischen Abstammung, geteilt werden. Diese Merkmale teilen die Sprachen nicht auf Grund von Vererbung, sondern sie werden horizontal zwischen den Sprachen entlehnt. Emenau spricht davon, dass solche Merkmale über genetische Grenzen hinweg diff undieren.21 Es wird von Chappell hervorgehoben, dass für die Komparative Methode Probleme entstehen, wenn zwischen genetischen und nicht genetischen Merkmalen nicht unterschieden werden kann.22 Wenn Sprachen genetische Merkmale mit einer Gruppe von Sprachen teilen und areale Merkmale mit einer anderen Gruppe, dann gibt es keine Möglichkeit einen eindeutigen Stammbaum zu erstellen. Wie im Falle der Arawak-Sprachen lässt sich nur schwer unterscheiden, mit welcher der Gruppen eine Sprache genetisch verwandt ist und mit welcher nicht. Man käme somit zu mindestens zwei plausiblen, aber einander widersprechenden Stammbäumen für eine Sprache. Zudem würde selbst dann, wenn man einen eindeutigen Stammbaum erstellen könnte, ein zentraler Aspekt der Entwicklungsgeschichte einer Sprache in einem solchen Modell nicht erfasst werden können, da die arealen Merkmale, die Charakteristika einer Sprache ausmachen, nicht integriert wären. Problematisch für die Monophylieannahme ist somit, dass die horizontalen Beziehungen zwischen Sprachen einen starken Einfluss auf diese haben und genetische Verbindungen von ihnen überlagert werden können. Sprachkontakt, areale Merkmale und Sprachmischung werden im Rahmen der Komparativen Methode unberücksichtigt gelassen, da in ihrer Anwendung der Fokus lediglich auf den genetischen Verbindungen zwischen Sprachen liegt. Auf die Entwicklung einer Sprache haben diese Prozesse aber einen relevanten Einfluss. Wird dieser ignoriert, so führt dies zu einer Idealisierung der Phylogenese einer Sprache. Unter der Zielsetzung, eine phylogenetische Klassifikation von Sprachen vorzunehmen, darf keine Idealisierung erfolgen, die die entstehenden Abstammungsverhältnisse auf Grund einer Vorauswahl der Daten (nur solche, die genetische Verbindungen reflektieren) in 20 | Aikhenvald (2001). 21 | Emenau (1956), S. 3. 22 | Chappell (2001).

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eine Baumstruktur drängen. Die Baumstruktur der Abstammungsverhältnisse geht sonst als eine Annahme in die Untersuchung ein, die von den Daten unabhängig ist und nicht weiter reflektiert wird. Diese Annahme wird jedoch zumindest den in diesem Abschnitt aufgeführten problematischen Fällen nicht gerecht und führt zu einer Klassifi kation, die nicht mehr adäquat an der Phylogenese der Sprachen ausgerichtet ist. Wie dargestellt kann man in der Sprachwissenschaft und der Biologie ähnliche Argumente gegen die Monophyliehypothese und das Stammbaumdenken anführen. Eine als Antwort auf diese Einwände einsetzende methodische Entwicklung in der Biologie war der Versuch, Modelle zu erstellen, die sowohl vertikale Beziehungen berücksichtigen als auch in der Lage sind, horizontale Verbindungen zu integrieren. Im folgenden Abschnitt soll auf die Übernahme solcher biologischer Modelle für die Analyse sprachlicher Daten eingegangen werden.

Biologische Net z werkmodelle in der Historischen Linguistik Phylogenetische Netzwerke haben sich unter anderem aus der Kritik an den klassischen evolutionären Stammbäumen in der Biologie entwickelt. So sollen mit Netzwerken andere Arten von Daten gehandhabt werden, etwa solche, die sich nicht in Baumstrukturen abbilden lassen. Diese Daten sind oft die Folge bestimmter Prozesse, wie der Hybridisierung, die als Phänomen somit in die Datenanalyse einbezogen werden können. Dies erlauben Stammbaummodelle, wie bisher beschrieben, nicht. Ein Stammbaum stellt eine besondere Form eines Netzes dar und lässt sich graphentheoretisch als ein gerichteter azyklischer Graph beschreiben. In einem zyklischen Graphen ist es möglich, von einem bestimmten Ausgangspunkt einen Pfad durch den Graphen zu beschreiben, der wieder zu diesem Ausgangspunkt zurückführt. Dies ist in einem Stammbaum, der keine wieder zusammenführenden Äste aufweist, nicht möglich, weshalb ein solcher Graph formal als »azyklisch« beschrieben werden kann. In einem Netz hingegen sind Zusammenführungen von Ästen möglich. Horizontale Netz-Verbindungen beschreiben Zyklen, weshalb ihre Aufnahme in phylogenetische Analysen den Übergang von Bäumen zu Netzen bedeutet. Formal kann man die Monophyliehypothese als eine Einschränkung über Graphen interpretieren, die nur azyklische Graphen zur Beschreibung phylogeneti-

60 | J ENS F LEISCHHAUER scher Beziehungen zulässt. Betrachtet man Evolution nicht als einen baum-(treelike), sondern als einen netzartigen (reticulate) Prozess, muss man in der formalen Beschreibung dieses Prozesses von Bäumen zu Netzen übergehen. Methodisch bedeutet dies, dass die Monophyliehypothese fallen gelassen wird und korrekte Klassifikationen nicht mehr monophyletisch sein müssen. Im Folgenden soll auf die Grundidee hinter den Netzwerkansätzen und ihrer Nutzbarmachung für die historische Sprachwissenschaft eingegangen werden, ohne dabei einen spezifischen mathematischen Algorithmus darzustellen.23 Ein Ausgangspunkt einiger Netzwerkansätze ist die Analyse von Distanzdaten. In der einfachsten Form sind sprachliche Distanzdaten eine Zählung der Worte zweier Sprachen, in denen sich diese unterscheiden. Ein solcher Unterschied kann etwa darin bestehen, dass keine lautlichen Ähnlichkeiten zwischen den verglichenen Wörtern zweier Sprachen bestehen. Die Problematik der Datenauswahl und deren Bewertung kann in diesem Aufsatz nicht weiter behandelt werden, obwohl sie für die Thematik von größter Bedeutung ist. Die einzelnen Objekte, die in die Analyse integriert sind, werden Taxa genannt. Die Algorithmen der Netzwerkansätze24 berechnen auf Grundlage der Distanzanalyse Splits dieser Taxa. Ein Split ist eine Aufteilung der Objekte der Analyse in zwei nicht leere Mengen. Alle möglichen Splits der Taxa, also jede mögliche Gruppierung der Objekte, werden berechnet. Jedem einzelnen Split wird ein Wert zugewiesen, der angibt, wie separiert zwei Taxa von dem restlichen Sample sind. Je höher dieser Wert ist, desto stärker ist der Split dieser beiden Taxa gegenüber den restlichen Objekten des Samples gestützt. Nur diejenigen Splits, die einen positiven Wert haben, werden berücksichtigt. Ein positiver Wert bedeutet, dass die gemeinsame Gruppierung der beiden Objekte gegenüber den restlichen Objekten zu einem bestimmten Grad gestützt wird, bei einem negativen Wert gibt es keine Stützung einer solchen Gruppierung. Alle positiv bewerteten Splits können miteinander kompatibel oder inkompatibel sein. Wenn sie kompatibel sind, dann ergibt sich eine eindeutige Gruppierung aller Taxa und somit ein Stammbaum. Sind die Splits miteinander nicht kompatibel, dann gibt es mehrere mögliche Aufteilungen der Objekte, die Taxa lassen sich also in verschiedenen Anordnungen gruppieren.

23 | Eine Übersicht über phylogenetische Netzwerkansätze in der Biologie findet sich in Huson & Bryant (2006). 24 | Die Beschreibung der Netzwerkanalyse ist allgemein gehalten, orientiert sich jedoch an der Neighbor-Net Methode.

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In der graphischen Repräsentation werden die Splits als Äste eines Graphen dargestellt. Wenn diese Splits miteinander inkompatibel sind, entsteht eine Box. Eine solche Box verdeutlicht, dass Äste sich verbinden. Über die Gewichtung, die durch die Länge von Ästen repräsentiert wird, lassen sich Angaben über den Grad der Separierung der jeweils verbundenen Taxa machen. Je länger die Äste, desto separierter sind die Objekte, es findet sich somit eine größere Distanz in den Daten. Konflikte in den Daten, die dazu führen, dass die Taxa in keiner strikten Baumstruktur dargestellt werden, können auf horizontale Verbindungen zwischen Sprachen zurückgehen. Der Grund kann aber auch darin liegen, dass keine eindeutige evolutionäre Abstammung bestimmt werden kann, was nicht zwingend eine Folge von Vermischung sein muss. Dialektkontinua sind Fälle, die keine Vermischung darstellen, aber zu sich widersprechenden Daten führen. In solchen Kontinuen gibt es Übergänge zwischen Dialekten benachbarter Sprachen, die keine klare Grenzziehung zwischen diesen Sprachen erlauben. Sprachkontakt ist nicht der einzige Mechanismus, der solche Kontinuen verursachen könnte; plausibler ist es anzunehmen, dass keine vollständige Separierung von Sprechergruppen stattfand und in den Randbereichen die Sprachen sich nie gänzlich auseinander entwickelten.25 Dies ist ein Beispiel für die Behauptung, dass Wandelprozesse nur eine regionale Wirkung aufweisen. Um zu verdeutlichen, wie sich phylogenetische Netze von phylogenetischen Stammbäumen unterscheiden und dass erstere angemessener im Hinblick auf die Erfassung der Sprachentwicklung sind, soll auf eine Neighbor-Net Analyse der germanischen Sprachen eingegangen werden, wie sie von Bryant et al. durchgeführt wurde.26 Abbildung (2) zeigt ein mit Neighbor-Net berechnetes phylogenetisches Netz einiger germanischer Sprachen. Im Unterschied zu dem Stammbaum aus Abbildung (1) gibt es keine Wurzel, so dass keine Entwicklungsrichtung abgelesen werden kann. Weiterhin kann man erkennen, dass in (2) horizontale Verbindungen eingebunden sind, die eine zyklische Netzstruktur charakterisieren. An einigen Stellen führen mehrere Äste zusammen, wie dies etwa beim Englischen zu sehen ist. Für das 25 | Holden & Gray (2006) beschreiben eine Neighbor-Net Analyse für das Dialektkontinuum der Bantusprachen; Hamed (2005) und Hamed & Wang (2006) führen eine solche Analyse für die sinitischen Sprachen durch. Bei Neighbor-Net handelt es sich um einen Computer-Algorithmus zur phylogenetischen Analyse genetischer Daten. 26 | Bryant et al. (2005).

62 | J ENS F LEISCHHAUER Englische gibt es einerseits eine Verbindung zu den skandinavischen Sprachen (Schwedisch, Riksmal und Färöisch), anderseits besteht eine Verbindung zu den westgermanischen Sprachen (Deutsch, Niederländisch usw.). Die westgermanischen Sprachen liegen separiert von den skandinavischen Sprachen und das Englische ist zwischen diesen beiden Gruppen angeordnet. Dies ist dadurch erklärbar, dass nach der klassischen Stammbaumanalyse das Englische, als eine westgermanische Sprache, mit den anderen westgermanischen Sprachen einen gemeinsamen Vorfahren teilt, den die skandinavischen Sprachen nicht mehr teilen (dieser Vorfahre wäre die Sprache Westgermanisch in Abbildung (1)). Nach der Abspaltung der westgermanischen von den skandinavischen Sprachen gab es einen sprachlichen Einfluss durch die Wikinger auf das Englische. Van Gelderen nennt Schätzungen, nach denen es rund eintausend skandinavische Lehnwörter sind, die als Folge dieses Kontakts im Englischen noch heute zu fi nden sind.27 Dazu gehören Beispiele wie call, get, give oder auch sister und sky, die auf skandinavische Ursprünge zurückgehen. Dies bedeutet, dass die englischen Formen denen der skandinavischen Sprachen ähnlicher sind als denen der anderen westgermanischen Sprachen, wie in Tabelle (4) aufgezeigt. Englisch

Schwedisch

Niederländisch

Deutsch

call sky give

kalla sky giva

roepen hemel geven

rufen Himmel geben

Tabelle 4: Vergleich von Formen im Englischen, Schwedischen, Niederländischen und Deutschen

Weiterhin soll die Sprache Sranan in Abbildung (2) betrachtet werden. Diese ist eine so genannte Kreolsprache, eine Sprache, die aus einer Sprachkontaktsituation heraus entstand. Viele Kreolsprachen entstammen dem Kontext der Sklaverei. Hier wurden Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen zusammengeführt. Das Sranan entwickelte sich in Surinam aus einer solchen Situation heraus, wobei sich in Bezug auf das Vokabular das Englische dominant auswirkte, da die Kolonialherren Englisch sprachen. In Surinam gab und gibt es zudem starke niederländische Einflüsse, die ebenfalls auf das Sranan einwirkten. In Abbildung (2) wird somit einerseits die Nähe des 27 | Van Gelderen (2006), S. 97.

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Sranan zum Englischen dadurch repräsentiert, dass beide zueinander nahe gruppiert sind, andererseits wird durch die Box angezeigt, dass es Ähnlichkeiten zu anderen Sprachen, in diesem Fall dem Niederländischen, gibt.

Abbildung 2: Neighbor-Net Analyse der germanischen Sprachen nach Bryant et al. (2005), S. 78

Im Rahmen der Komparativen Methode gelten Kreolsprachen als nicht klassifizierbar, da sie eine Vermischung verschiedener Sprachen darstellen und sie somit nicht monophyletischen Ursprungs sind. In den Neighbor-Net Ansatz können Kreolsprachen jedoch integriert werden, weil gerade die unterschiedlichen Einflüsse, die in solchen Sprachen vorhanden sind, berücksichtigt werden können. Sranan stellt sich eigentlich komplexer dar, als es für die Analyse, die der Abbildung (2) zugrunde liegt, berücksichtigt wurde. So fehlt etwa der Einfluss der afrikanischen Sprachen, die die Sklaven als Muttersprachen hatten, der sich ebenfalls im Sranan finden lässt. Dies ist aber nur eine Folge der verwendeten Datenauswahl und stellt keine generelle Einschränkung des Ansatzes dar. Mit einer Neighbor-Net Analyse erfolgt keine genaue Auswertung der phylogenetischen Beziehungen zwischen Sprachen per se. Konflikte in den Daten werden aufgezeigt, die eine Auskunft darüber geben, wie ›baumhaft‹ die Beziehungen zwischen den untersuchten Sprachen sind. Darüber hinaus kann sie kenntlich machen, wie zentral horizontale gegenüber vertikalen Beziehungen in der Phylogenese

64 | J ENS F LEISCHHAUER einer Sprache waren. Somit findet eine grobe Quantifizierung horizontaler und vertikaler Einflüsse auf eine Sprache statt. Wie diese Beziehungen aber genau aussehen, lässt sich auf diese Weise noch nicht ermitteln. Nur der Grad an Eindeutigkeit im Hinblick auf evolutionäre Abstammungen wird wiedergegeben, beginnend bei strikten Bäumen, die eine vollkommene Eindeutigkeit ausdrücken, bis zu hochgradig komplexen Netzwerken. Insgesamt scheint es, als ließen sich die historischen Beziehungen zwischen den Sprachen, sofern sie in der Datenauswahl berücksichtigt sind, mit der Neighbor-Net Methode besser erfassen als im Rahmen der Komparativen Methode. Horizontale Verbindungen, wie zwischen dem Englischen und den skandinavischen Sprachen, treten in einer solchen Analyse hervor, während sie in den Stammbäumen keine Berücksichtigung finden. Ein komplexeres Bild der horizontalen Verbindungen ergibt sich dann, wenn weitere Sprachen in die Analyse einbezogen werden.

Ausblick auf of fene Fragen Im vorigen Abschnitt wurden phylogenetische Netzwerke behandelt, die aus der Biologie in die Sprachwissenschaft übertragen wurden. Diese Netzwerke erlauben es nicht nur die genetischen Beziehungen zwischen Sprachen zu visualisieren und die Monophylieannahme fallen zu lassen, sondern auch Sprachvermischungen in Verwandtschaftsanalysen mit einzubeziehen. Will man Netzwerke jedoch als Gegenmodell zu Stammbäumen einführen, dann müssen einige offene Fragen thematisiert werden. Eine erste Frage ist, ob durch die Netzwerke ein neuer Aspekt in die sprachwissenschaftliche Analyse eingeführt wird. Kann man mittels der Netzwerke etwas zeigen, was über bisherige Analysen hinausgeht? Dass es horizontale Beziehungen zwischen Sprachen gibt, wird auch von den Vertretern der Stammbaumtheorie nicht bestritten. Für eine phylogenetische Klassifikation von Sprachen halten sie diese Beziehungen aber für vernachlässigbar. Es ist daher zu fragen, ob mit den Netzwerken ein qualitativ neuer Beitrag in der Linguistik geleistet wird, oder ob nur eine Quantifizierung der Daten eines Samples im Hinblick darauf vorgenommen wird, ob diese genetische oder nichtgenetische Verbindungen stützen. Eine andere Frage, auf die bereits hingewiesen wurde, betriff t die Klassifi kation von Sprachen. Dient die Klassifi kation nur dazu, Daten, in diesem Fall Sprachen, zu handhaben, oder sollen aus der Klassifikation weitere Informationen über die klassifizierten Objekte abgelei-

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tet werden können? Diese Frage weist einerseits auf die Ungewissheit darüber, was mit einem Netzwerkmodell erreicht werden kann, und andererseits auf das Problem hin, welche Informationen aus einem phylogenetischen Netzwerk gezogen werden können. Vor allem sind die Prozesse zu untersuchen, die für sprachliche Veränderungen verantwortlich sind. In der Komparativen Methode sind es diese Prozesse, auf die zurück geschlossen wird und die zur Rechtfertigung bestimmter Stammbaumstrukturen verwendet werden. Das Ziel der Methode ist es gerade, die historischen Prozesse, die zu den Veränderungen zwischen den Sprachen führten, zu beschreiben (z.B. Zweite germanische Lautverschiebung). Ob Netzwerke dies ebenfalls leisten können, ist unklar. Es bleibt zu klären, welche Entwicklungen in den Netzen überhaupt abgebildet werden. Eine weitere offene Frage lautet, ob sich hierarchische Strukturen, wie sie in Abbildung (1) zu sehen sind, auch in Netzwerken wiederfinden lassen. Mittels der Komparativen Methode wird versucht den sprachlichen Vorfahren verwandter Sprachen zu rekonstruieren, um auf diese Weise die Verwandtschaftsannahme zu rechtfertigen. Dies führt zu den hierarchischen Strukturen, die in den Netzen nur implizit enthalten sind. So findet man die Gruppen der west- und der nordgermanischen Sprachen implizit in Abbildung (2) und kann sie aus der Separierung der westgermanischen und der skandinavischen Sprachen erschließen. Eine Gleichwertigkeit im Bezug auf eine hierarchische Klassifi kation scheint nicht gegeben und die Möglichkeit der Rekonstruktion von sprachlichen Vorfahren, die aus den Formen ihrer Nachfahren erschlossen werden, fehlt ebenso. Vor allem ist es aber der Verwandtschaftsbegriff, der im Zusammenhang mit phylogenetischen Netzwerken überdacht werden muss. Bedeutet sprachliche Verwandtschaft in Stammbäumen und Netzen dasselbe oder erhält man durch die Netze den Begriff einer relativen statt einer absoluten Verwandtschaft? Die angeführten offenen Punkte stehen miteinander in Verbindung und können im Rahmen dieses Aufsatzes nicht beantwortet werden. Ein Grundproblem stellt die Unklarheit dar, wie die Netzwerke, beziehungsweise Begriffe wie Klassifikation und Verwandtschaft, zu interpretieren sind. Aber zugleich ist zu klären, ob das Netzwerkmodell genauso leistungsfähig wie das Stammbaummodell ist. Dazu muss genau geprüft werden, was die beiden Modelle zu leisten vermögen und vor allem welchen Zwecken sie entsprechen sollen. Dies setzt jedoch eine eingehendere kritische Auseinandersetzung mit Netzwerkansätzen in der Sprachwissenschaft voraus. Eine solche Beschäftigung sollte im Rahmen dieses Aufsatzes motiviert werden, in-

66 | J ENS F LEISCHHAUER dem skizziert wurde, dass und wie sich die Phylogenese von Sprachen als ein netzartiger evolutionärer Prozess auffassen lässt. Auch wenn die methodologische Auseinandersetzung mit den Netzwerkansätzen noch nicht abgeschlossen ist, können diese als eine sehr interessante Entwicklung angesehen werden, deren Bedeutung und Relevanz für die Sprachwissenschaft zu prüfen ist.

Summar y In this paper it is argued that family trees cannot be used for representing the phylogenetics of a language. The reason is that there is as a serious amount of horizontal transfer between languages, which cannot be captured in trees. Phylogenetic networks cover both horizontal and vertical connections between languages. This makes them the more adequate account on language phylogenies. It was shown that language contact between different Germanic languages can be grasped in networks, while they are disregarded in family trees. But there are some serious objections against the use of networks in historical linguistics. It is not clear how to interpret them and if their capacity is equal to the one of family trees. This paper is just a first attempt in the theoretical discussion of networks in historical linguistics and aims at showing the rationality and the problems of this account.

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Vernetzte Räume

Zeppeline oder Flugzeuge? Wir tschaf tliche Verkehrsnetzwerke als Modell zur Erklärung eines Scheiterns Helmut Braun

1. Einleitung In der Technik- und Innovationsgeschichte stellt sich vielfach die Frage, warum bestimmte Innovationen, die ihren Ausgangs- oder Konkurrenzprodukten technisch oder beispielsweise ökologisch überlegen sind, sich dennoch nicht am Markt durchsetzen können. Eine entscheidende Rolle scheinen dabei ökonomische und gesellschaftliche Netzwerke einzunehmen. Im Folgenden sollen die Einführung und Ausbreitung der Netzwerkmetapher in der modernen ökonomischen Theorie und in der Technik- bzw. Innovationsgeschichte dargestellt werden. In der anschließenden Fallstudie wird gezeigt, wie mit Hilfe dieser Netzwerkansätze in der ökonomischen Theorie das Scheitern einer Technik, nämlich der Luftschiff fahrt, durch den Erfolg einer anderen Technik, nämlich des Flugzeuges, erklärbar wird, wobei neben dem Fehlschlagen der Bildung eines physischen Netzwerkes für einen zivilen Zeppelinverkehr und der erfolgreichen Errichtung eines physischen Netzes von Flughäfen und Flugrouten auch auf die »Promotoren« der Luftschiff fahrt ebenso eingegangen wird wie auf deren »Rejektoren«. Letztere waren zugleich die »Promotoren« der Flugzeugtechnik. Abschließend werden die Grenzen der Netzwerkmetapher zur Erklärung von technischen Innovationsprozessen angedeutet.

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2. Die Net z werk-Idee in der modernen Ökonomie und in der Technik- bz w. Innovationsgeschichte 2.1 Zur Bedeutung physischer Net z werke bei der Durchset zung technischer Neuheiten auf dem Mark t Mit seinem 1985 publizierten Aufsatz »Clio and the Economics of QWERTY« in der in Ökonomenkreisen mit höchster Reputation versehenen Zeitschrift »American Economic Review« eröffnete Paul David 1 ein neuartiges ökonomisches Forschungsfeld, welches schnell und breit in die ökonomische Theorie der Ausbreitung von Technologien, hier insbesondere in die sich neu definierende Industrieökonomie2 ausstrahlte, aber auch Implikationen für die Wirtschafts- und Technikgeschichte hatte. Die Macht physischer Netzwerke erklärt, so David (1985), das Verharren in der Tastaturbelegung von Computertastaturen, obwohl diese keinesfalls mehr den mechanischen Problemen der Anordnung der Buchstaben nach dem QWERTY-Schema zur Vermeidung des Verhakelns der Typenhebel unterliegen. Die nach der oberen linken Buchstabenfolge aufgebaute QWERTY (im Deutschen »QWERTZ«)-Tastatur ist dabei anderen Buchstabenanordnungen ergonomisch deutlich unterlegen; doch die ergonomisch besseren Tastaturen konnten sich nicht durchsetzen, weil QWERTY im Laufe weniger Jahrzehnte zum De-facto-Standard geworden war, sich also ein dominantes physisches Netzwerk für alle Schreibmaschinennutzer herausgebildet hatte. Die ökonomischen Grundlagen der Wirksamkeit physischer Netzwerke, beispielsweise bei der Ausbreitung einer neuen Transporttechnik im Verkehrswesen, wurden bald unter dem Begriff der »sunk costs« diskutiert, d.h. das Erreichen einer »critical mass«3 durch vom 1 | Vgl. David (1985). 2 | Einen immer noch hervorragenden Einblick liefert Shy (2001). Die jeweils aktuellen Forschungsergebnisse zur ökonomischen Theorie der Netzwerke werden auf der seit 2003 alle zwei Jahre stattfindenden, von Josef Windsperger und anderen organisierten internationalen Tagung EMNet (Economics and Management of Networks) präsentiert. Die besten Beiträge werden in den von Josef Windsperger et al. herausgegebenen Tagungsbänden im Physika/Springer Verlag publiziert. Für Details www. univie.ac.at/EMNET/portal/left.htm (Abruf 15.03.2008). 3 | Als sozialwissenschaftliches, hier ökonomisch-theoretisches Konstrukt ist die »kritische Masse« als Metapher für das Überschreiten einer

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Netzwerk ausgehenden externen Effekten, den »network externalities« und der »path dependency«. 4 Als entscheidend für die Durchsetzung einer neuen Technologie wurde die schnelle Überwindung einer kritischen Masse von Nutzern angesehen, die dann die bisher verlorenen Kosten der Investition in eine Infrastruktur bald profitabel werden lassen. Wenn sich dann eine bestimmte Technologie im realen Zeitablauf schneller ausbreitet als eine andere, die möglicherweise als technisches Artefakt sogar ökonomisch überlegen ist, kann es sogar zu einem rational begründbaren Verharren in der eigentlich unterlegenen Technik kommen, zu einem »lock-in«.5 Der Zeitpunkt des Starts und der Ausbreitung einer neuartigen Technologie ist, was ihre zukünftige Profitabilität angeht, daher zentral davon abhängig, welche Entwicklungspfade der bisherigen Technologie sich bisher verfestigt haben und auf deren »sunk costs« nun weitere zukünftige Gewinne erzielt werden können. Die technischen Entwicklungspfade von Netzwerkgütern können dabei durch scheinbar kleine, sich eventuell sogar zufällig ereignende »historical events« massiv beeinflusst werden.6 Diese Analysen befruchteten schnell die sich zu dieser Zeit herausbildende Theorierichtung der evolutorischen Ökonomik als wissenschaftliche Alternative zur vorherrschenden Ökonomie der ahistorischen Neoklassik. 7 Eine zentrale Schlussfolgerung aus diesen Analysen bestand darin, dass eine technisch unterlegene Problemlösung am Markt bestehen bleiben kann, wenn eine »neue«, technisch überlegene Problemlösung keinen höheren, so genannten »Netzwerknutzen« erzeugen kann und damit die kritische Masse der Anwender zu gering bleibt – et vice versa.8 Immerhin brachten diese Analysen die Bedeutung der realen Zeit in die vorher gleichsam zeitlose ökonomische Analyse zurück. Nun galt auch in der ökonomischen Theorie wieder: »history matters«!9 Doch diese ökonomischen Analysen beschäftigten sich nur mit den quasi Art Sprungstelle, nach der sich die Bedingungen für die weitere Entwicklung schlagartig ändern, nicht genau in Zahlen zu quantifizieren. Gleiches gilt für den Umfang der »versunkenen Kosten«. 4 | Arthur (1988); (1989). 5 | Arthur (1988); (1989). 6 | Arthur (1988); (1989). 7 | Nelson (1987); Witt (1987); Dosi (1988); Hall (1994). 8 | Braun: Koreferat (2007). Zur ökonomischen Analyse physischer Netzwerke im Luftverkehr, insbesondere zu code-sharing-agreements zwischen Luftverkehrsgesellschaften Shy (2001), Kapitel 9. 9 | Drukker (2006), Kapitel 6 und 7.

74 | H ELMUT B RAUN objektiven Kriterien und Mechanismen für die Durchsetzung eines physischen Netzwerkes am Markt. Anders gelagert war die Frage, ob es möglich sei, gezielt und damit ökonomisch rational handelnd die Durchsetzung einer neuen, von der Existenz eines physischen Netzwerkes abhängigen Technik auch durch die Einwirkung von Personen mit ökonomischen Interessen und mit Möglichkeiten zu deren Durchsetzung aktiv zu gestalten – oder zu verhindern: Sofern kein nachhaltiger »lock-in« vorliegt, also kein rational begründbares Verharren in einem technisch unterlegenen Netzwerk bzw. Standard, weil der historisch gewachsene Nutzen aus dem Netzwerk den Nutzen eines technischen Artefaktes als solches unüberbietbar dominiert, bedeutet jeder Versuch der Errichtung eines neuen physischen Netzwerkes den drohenden Untergang vorhandener, mit hohen »sunk costs« errichteter physischer Netzwerke – und damit ökonomische Verluste bis hin zum Verschwinden von deren Betreibern von dem zuvor lukrativen Markt.10 Als Beispiel sei hier genannt, dass ein ultramodernes cell phone mit Bildübertragungsmöglichkeiten (MMS) keinerlei zusätzlichen Nutzen für den Anwender bringt, wenn kein anderer Anwender die versendeten Bildnachrichten empfangen kann, weil das dafür notwenige technische Übertragungsnetz noch nicht vorhanden ist und/oder es noch keinen weiteren Anwender dieser cell-phone Technik gibt. Erst wenn ein entsprechend leistungsfähiges cell phone-Netz mit einem einheitlichen Übertragungsstandard existiert und hinreichend viele Nutzer ein ebenso modernes cell-phone haben, dann stiftet der Austausch von MMS-Bildern Nutzen. Entscheidend sind also nicht die technischen Möglichkeiten des einzelnen cell-phones, sondern die Existenz eines physischen Netzes zum Austausch. Es gibt also die Möglichkeit, durch bewusste Maßnahmen den Entwicklungspfad einer Technik zu Lasten einer konkurrierenden Technik zu beeinflussen. Diese Maßnahmen werden dann von strategisch handelnden Akteuren entwickelt und ergriffen.11

10 | Ein Beispiel hierfür, auch für die Rezeption des Netzwerk-Ansatzes durch die moderne Betriebswirtschaftslehre, liefern Obermaier/ Müller/Braun (2007). 11 | Hauschildt/Gemünden (1999).

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2.2 Ak teur s-Net z werke und Pfadkreationsnet z werke als Vorausset zung für eine er folgreiche Implementierung physischer Net z werke auf einem Mark t Jeder Versuch zur Errichtung eines neuen physischen Netzwerkes auf der Grundlage einer neuen Technik kann nur dann erfolgreich sein, wenn sich die Befürworter der neuen Technik, die »Promotoren«, ökonomische Erfolge, eventuell sogar ein lukratives Monopol, versprechen.12 Dazu müssen diese »Promotoren« der neuen Technik sozusagen Türen öff nen (oder präziser: Entwicklungspfade konstituieren),13 um zukünftige Nutzer einzuladen, die neue Technik in hohem Maße zu nutzen, damit schnell eine kritische Masse (»critical mass«) an Nutzern überschritten wird und die Technik über den dann wirkenden Nutzen des physischen Netzwerkes so zum »Selbstläufer« wird. Die »Promotoren« haben also die Aufgabe, über so genannte »Pfadkreationsnetzwerke« die Nutzer auf das physische Netzwerk der gewünschten Technik zu leiten und damit zugleich konkurrierende physische Netzwerkentwicklungspfade zu schwächen. Dem gegenüber stehen die Pfadkreationsnetzwerke der »Rejektoren«, die eine konkrete Neuheit ablehnen, also der potentiellen wirtschaftlichen Verlierer, deren bisherige Existenz auf dem Entwicklungspfad des bisher bestehenden physischen Netzwerks beruht. Diese rational begründbaren wirtschaftlichen Interessen der beiden Akteursgruppen »Rejektoren« und »Promotoren« an einer auf einem physischen Netzwerk beruhenden technischen Entwicklung bilden also wiederum eigene, nun aber personale Netzwerke zur Förderung oder Verhinderung von physischen Netzwerken: »Ausgangspunkt ist hier, dass Akteure aktiv an der Entstehung eines Pfades nicht nur mitwirken, vielmehr sind sie die treibende Kraft in der Entstehung eines Pfades, ohne diese jedoch vollständig kontrollieren zu können.«14 In der folgenden Fallstudie wird gezeigt, wie mit Hilfe der eben skizzierten Netzwerkansätze in der ökonomischen Theorie das Scheitern der Luftschiff fahrt erklärbar wird.

12 | Zum Konzept der »Promotoren« und dann der »Rejektoren« technischer Entwicklungen vgl. Witte (1999); Weyer (1993); Weyer et al. (1997). 13 | Schubert/Windeler (2007), S. 117-123; Garud/Karnøe (2001). 14 | Schubert/Windeler (2007), S. 119.

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3. Physische und Ak teurs-Net z werke als eine Erklärung für das Scheitern der Luf tschif f fahr t mit Zeppelinen 3.1 Der er ste Ver such einer Net z werkbildung im Zeppelinverkehr (1909-1914) Nach dem ersten erfolgreichen Aufstieg eines Zeppelin-Starrluftschiffes im Jahr 1900 in Friedrichshafen am Bodensee folgten der Bau weiterer, technisch verbesserter Zeppeline und weitere erfolgreiche, aber auch misslungene Fahrten. Grundsätzlich wurde aber erkannt, dass diese neue Luftverkehrstechnik funktionsfähig war. Neben der erst ab den Jahren 1906/1907 möglich gewordenen Vermarktung von Zeppelinen an das deutsche Militär beschloss der nun zu einem Großkonzern herangewachsene »Luftschiff bau Zeppelin« (LZ) eine Ausweitung des Geschäftsfeldes auf den zivilen Bereich. Zu diesem Zweck wurde am 16. November 1909 in Frankfurt a.M. eine Luftschiff reederei gegründet, die »Deutsche Luftschiffahrts-Aktiengesellschaft« (DELAG). Neben dem LZ als Luftschiff werft waren Privatpersonen sowie einige wenige deutsche Städte an der DELAG beteiligt. Der Geschäftszweck der DELAG lag im Auf bau und im kommerziellen Betrieb eines regelmäßigen zivilen Personentransports mit Zeppelinen. Neben den DELAG-Standorten in Friedrichshafen und Frankfurt sollten die an der DELAG beteiligten Städte Düsseldorf, Gotha, Hamburg, Dresden, Leipzig, Baden-Oos und der Flughafen Berlin-Johannisthal15 zu einem Linienverkehrsnetz zusammengekoppelt werden. Neben dem LZ traten insbesondere die Oberbürgermeister der genannten Städte als »Promotoren« einer Linienluftschiff fahrt auf, die geringe Anzahl der an der DELAG beteiligten Städte zeigt jedoch, dass das Interesse an einer Teilnahme an der zivilen Luftschiff fahrt im Deutschen Reich eher schwach ausgeprägt war.16 Warum aber wiesen eine unbekannte Anzahl größerer deutscher Städte eine Teilnahme als »Akteur« an 15 | Anlässlich der Internationalen Luftschiffahrt Ausstellung (ILA) 1909 entstand in Frankfurt a.M. eine Luftschiff basis, der im gleichen Jahr die Errichtung einer Luftschiff basis und eines Flughafens in Berlin-Johannisthal folgte. Die neu errichtete Anlage in Berlin-Johannisthal bot neben gemeinsam nutzbaren Einrichtungen wie Tribünen und Treibstoffvorräten somit für beide Technologien die jeweils spezifisch benötigte Infrastruktur: Denn Flugzeuge benötigten Rollbahnen, Luftschiffe hingegen Bergungshallen und später auch Ankermasten sowie Traggaslager. 16 | Braun: Aufstieg (2007), S. 302-307.

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der DELAG, die hier funktional als ein »Pfadkreationsnetzwerk« von »Promotoren« zu interpretieren ist, zurück? Offenbar trugen die hohen Kosten für den Bau eines Luftschifflandeplatzes bei vielen Kommunen zur Entscheidung bei »Rejektoren« zu sein: Denn die Errichtung einer Luftschiff basis benötigte viel Kapital zur Sicherstellung der Wartung der Zeppeline, zur Versorgung mit dem Traggas Wasserstoff, zur Bereitstellung von Personal für den Landevorgang und, wegen der Gefährdung der großen, aber fragil gebauten Luftschiffe am Boden, zum Bau riesiger Bergungshallen.17 Auch die Ausweitung des Akteurs-Netzwerkes durch eine Zusammenarbeit mit der Hamburger Großreederei »Hamburg-Amerikanische Packet-Actiengesellschaft« (Hapag) brachte der DELAG keinen bezüglich der Pfadkreation entscheidenden Vorteil: Zwar vermittelte die Hapag über ihr dichtes Netz an Buchungsstellen die Passagetickets für die DELAG-Zeppeline und machte auch Werbung dafür. Zu einer Kapitalbeteiligung der Hapag an der DELAG kam es jedoch nicht, da die Hapag die finanziellen Risiken scheute. Ein von der DELAG hier nicht erkanntes, für die Zukunft aber relevantes Problem lag bei dieser Zusammenarbeit darin, dass sich die finanziell damals mächtige Hapag über alle Entwicklungspläne der DELAG informieren und sie, falls die Planungen den Interessen der Hapag entgegenstanden, intervenieren konnte.18 Das physische Netz aus mit Zeppelinen anfahrbaren Knotenpunkten war letztlich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht flächendeckend und weit davon entfernt, eine kritische Masse an Netzknoten und Routen zu überschreiten. Technische Probleme bis hin zu verunglückten Zeppelinen (ohne Todesopfer) ließen zudem einen regelmäßigen zivilen Luftschiff verkehr schnell zu einer Illusion werden, was die Ausweitung des Akteurs-Netzwerkes im Zeitablauf weiter behinderte. Obwohl von 1909 bis zur Einstellung des Zivilverkehrs auf 1.588 Fahrten 10.997 zahlende Passagiere befördert worden waren, wiesen die Bilanzen der DELAG immer größere Verluste auf. Gleichsam als finanzielle »Notbremsung« wurden Mitte 1914 alle zivilen DELAG-Schiffe an das deutsche Militär verkauft. Damit war der erste Versuch der Etablierung eines Luftschiff verkehrsnetzes gescheitert.19

17 | Braun: Lighter-than-air (2007); Braun (2004), S. 264. Die Flugzeuge hingegen kamen mit der mit wenig Kosten verbundenen Anlage von ebenen Rollfeldern aus. 18 | Braun: Aufstieg (2007), S. 305-306. 19 | Braun: Aufstieg (2007), S. 309-312.

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3.2 Der z weite Ver such einer Net z werkbildung im Zeppelinverkehr unter veränder ten Rahmenbedingungen (1918/19-1920) Aus der Warte der Netzwerk-Analyse veränderten sich während des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach die Rahmenbedingungen für einen zivilen Nachkriegs-Zeppelinverkehr gravierend: Während des Krieges wurden etwa 60 Zeppeline und etwa ein Dutzend andere große Kriegsluftschiffe gebaut. Diese Luftschiffe wurden immer größer und technisch leistungsfähiger, aber damit auch extrem teuer im Bau und Unterhalt.20 Die zu Kriegsbeginn als strategische Superwaffe eingestuften Luftschiffe erwiesen sich bald als untauglich, insbesondere gegenüber der sich sehr schnell ausbreitenden Flugzeugtechnik. Die wendigen Aufklärungs-, Jagd- und Schlachtflugzeuge waren im Vergleich zu den auf den Schlachtfeldern unbrauchbaren Luftschiffen überdies eine sehr billige Waffe: Im Laufe des Krieges wurden in immer schnelleren technischen Entwicklungsstufen tausende von Flugzeugen produziert und in den letzten Kriegsjahren sogar einige wenige weit reichende und relativ große Lasten transportierende Groß- und Riesenflugzeuge.21 Die schnell vom Flugzeug überzeugten Militärs wurden nun zu »Promotoren« der Fliegerei, ohne aber die Luftschiffe »abzuschaffen«. Die rasante Umsetzung technischer Fortschritte im Flugzeugbau sorgte dafür, dass die sich technisch eher langsam fortentwickelnden Luftschiffe bald in fast allen Leistungsmerkmalen von den Flugzeugen überholt wurden. Eben dieser quantitativ und qualitativ rasante Entwicklungspfad beim Flugzeug hatte eine für einen späteren zivilen Luftschiff verkehr fatale Konsequenz: Verteilt über das gesamte Deutsche Reich entstanden Tausende von einfachsten Flugfeldern und Hunderte von Flugplätzen, die mit einer für die Flugzeugtechnik spezifischen Infrastruktur, z.B. zu Wartungsmöglichkeiten, ausgestattet waren. Im Gegensatz dazu entstanden aber nur einige wenige Luftschiff basen, die eine ganz andere und mit den großen Bergungshallen auch sehr kapitalintensive Infrastruktur benötigten. Diese aus militärischen Überlegungen gesteuerten physischen Entwicklungspfade bei der Bildung von Netzknoten, unzähligen Flughäfen und Flugfeldern einerseits und sehr wenigen Luftschiff basen andererseits, zeigten nach Kriegsende schnell eine divergierende Entwicklung beim zivilen Betrieb von Verkehrsluftschiffen und zivilen Verkehrsflugzeugen: Die unzählig vorhandenen Lande- und Start20 | Eckener (1925), 357-358. 21 | Haddow/Grosz (1969).

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möglichkeiten nutzend, schossen nach Kriegsende von ehemaligen Kampfpiloten mit gebrauchten Militärflugzeugen gegründete, zivile Verkehrsfluglinien aus dem Boden und überzogen Deutschland mit einem anfangs dünnen, aber bald dichter werdenden Netz von Flugrouten. Mit der Junkers F13 folgte bereits 1919 die Präsentation eines rein für den zivilen Verkehr konstruierten Flugzeuges in moderner Ganzmetallbauweise, welches den Beinamen »Luftlimousine« erhielt.22 Neben dieser Bedeutung der physischen Netzwerke fand zudem eine massive ideelle und materielle Unterstützung des Flugverkehrs durch die neue demokratische Regierung und durch viele Kommunen statt: Insbesondere die Kommunen hatten, im Gegensatz zum zivilen Zeppelin-Verkehr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, nun auch aufgrund der geringen Kosten für ein Rollfeld ein heftiges Interesse daran, in das neu entstehende zivile Flugnetz integriert zu werden und waren damit entscheidende »Promotoren« zur Verdichtung der Routenverbindungen.23 Verglichen mit dieser dynamischen Entwicklung im Flugzeugverkehr befand sich der Zeppelin-Konzern zunächst in einer Art Paralyse, obwohl mit Dr. Hugo Eckener, nach dem Tode des Grafen Ferdinand von Zeppelin im Jahre 1917, ein durchsetzungsfähiger Luftschiffenthusiast an der Spitze der DELAG stand. Zwar war der ZeppelinKonzern während der Kriegszeit massiv im Bau von Flugbooten und Riesenflugzeugen engagiert und führte dieses Geschäftsfeld auch danach weiter, aber für Eckener stand die Luftschiff fahrt absolut im Mittelpunkt. Bereits früh erkannte Eckener, wie auch schon Graf Zeppelin, dass die Zukunft eines kommerziell erfolgreichen zivilen Luftschiff verkehrs nur in der Bedienung von Langstrecken, vor allem durch eine den Atlantik überquerende Route zwischen Europa und Amerika, insbesondere nach den USA, liegen könne. Ein zur Realisierung dieser großen Vision notwendiger Kriegs-Zeppelin war zudem noch vorhanden, aber die allgemeine politische Lage sowie die finanziell angeschlagene DELAG erlaubten keine Demonstration der technischen Leistungsfähigkeit der deutschen Zeppeline in Form einer Atlantiküberquerung. Indirekt24 fand der Beweis der Leistungsfähigkeit der Zeppeline aber trotzdem statt, als das englische Luftschiff R 34 im Juli 1919 erfolgreich den Atlantik überquerte und in den USA landete. Denn das Luftschiff R 34 war der Nachbau eines 1917 in Frankreich

22 | Munson (1974), S. 161-163; Wüst (1927), S. 5. 23 | Ausführlich dazu Fischer (2003). 24 | Braun: Aufstieg (2007), S. 342-345.

80 | H ELMUT B RAUN unbeschädigt notgelandeten deutschen Marine-Zeppelins.25 Den Zeppelinern um Eckener blieb also nur eine kleine Vision, nämlich der Neubau eines kleinen zivilen Zeppelins, der nur innerhalb Deutschlands eingesetzt werden könnte. Diese allein realistische kleine Vision führte zum Neubau des Zeppelins »LZ 120 Bodensee«, der 1919 und 1920 einen zivilen Personen- sowie Post- und Zeitungstransport zwischen Friedrichshafen, Berlin und dem Sitz des Reichstages in Weimar durchführte und gelegentlich auch München ansteuerte; die Nutzung der wenigen ehemaligen Luftschiff hallen der Marine kam wegen deren kommerziell uninteressanten Standorten nicht in Betracht. Im Jahr 1920 nahm mit »LZ 121 Nordstern« die DELAG einen weiteren, im Vergleich zu den vorherigen Kriegsluftschiffen ebenfalls kleinen Zeppelin in Betrieb, mit dem sie eine zivile Personenlinie nach Schweden eröffnen wollte. Doch das Inkrafttreten des Versailler Vertrages machte diese bescheidenen Bemühungen der Zeppeliner zunichte: LZ 120 und LZ 121 wurden beschlagnahmt und, wie auch die noch verbliebenen Kriegszeppeline, den alliierten Siegermächten übergeben. Zudem wurde der Bau und Betrieb von Zeppelinen durch den Versailler Vertrag komplett verboten, der Bau und Betrieb von Flugzeugen hingegen wurde »nur« massiv beschränkt. Wegen der im Vergleich zum Luftschiff einfachen Bauweise von Flugzeugen konnte bei deren Produktion zudem auf andere, kooperativere Staaten ausgewichen werden.26 Die Beschlagnahmung bedeutete ein erneutes Ende des Versuchs, ein physisches Luftschiff verkehrsnetz über Deutschland, später dann unter Einbindung Schwedens, zu errichten. Aber die Luftschiffl inie Friedrichshafen – Berlin – Weimar, selbst bei einer Ausweitung nach Schweden, war ohnehin nur eine wenige Knotenpunkte verbindende Insellösung und weit davon entfernt, ein Verkehrsnetz jenseits einer kritischen Masse von Routenverbindungen darzustellen. Zudem traten die Reichsregierung und sehr viele Kommunen nun, auch durch Subventionsvergaben, als aktive »Promotoren« des Flugzeugverkehrs auf. Das noch vor dem Ersten Weltkrieg entstandene, aber schwach ausgeprägte Akteurs-Netzwerk der Zeppeliner hingegen war mit Kriegsende zerbrochen. Innerhalb des neuen Deutschen Reichs waren die Zeppeliner von den über den Luftverkehr entscheidenden Akteuren in eine Art Einzelkämpferdasein gedrängt worden.

25 | Abbott (1973); zum Verlauf der Fahrt von R 34: Maitland (1920). 26 | Ausführlich dazu Kleinheins (1994).

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3.3 Die Errichtung eines den Atlantik über windenden Verkehr snet z werkes als drit ter Ver such (1926-1932) Was 1919 bei den Zeppelinern in verschiedenen Varianten als große Vision diskutiert und wegen der damaligen Umstände nicht realisierbar gewesen war, nämlich die Errichtung eines zivilen Linienverkehrs mit Zeppelinen über den Atlantik, erschien Mitte der 1920er Jahre im Gefolge einer politischen Normalisierung des Umgangs der Alliierten mit dem nun demokratischen Deutschen Reich Wirklichkeit werden zu können: Als im Jahr 1926 das im Versailler Vertrag verhängte Bauund Betriebsverbot für Luftschiffe aufgehoben wurde und die Zeppeliner im Gefolge des als Reparationsleistung erlaubten Baues des LZ 126, des späteren »ZR III Los Angeles« für die US-Marine, wirtschaftliche bis freundschaftliche Beziehungen zur US-Marine, zur US-Firma Goodyear und sogar zur US-Regierung knüpfen konnten, schien endlich die Zeit der Umsetzung des Atlantikverkehrs gekommen zu sein. 27 Diese atlantische Orientierung der zivilen Zeppelinluftschiff fahrt entsprang aber, aus heutiger analytischer Warte, im Wesentlichen einer Notwendigkeit aus der Logik der Netzwerktheorie: Bereits Mitte der 1920er Jahre war, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Deutschland aufgrund der Lage in der Mitte Europas, ein dichtes physisches Netzwerk von Flugzeugrouten errichtet und ausgebaut worden. Mit der massiv vom deutschen Staat vorangetriebenen Gründung einer dominierenden nationalen Luftverkehrsgesellschaft, in damaliger Schreibweise der »Luft Hansa«, war nun die Regierung, wie auch in vielen anderen europäischen Staaten zu dieser Zeit, zum »Makro-Akteur« geworden. Durch Subventionen und staatlich verordnete organisatorische Maßnahmen, denen inoffiziell auch ein rüstungspolitischer Impetus zugrunde lag, war der Staat zum alles lenkenden »Promotor« des gesamten Flugwesens geworden. Zusammen, aber auch im Wettbewerb mit anderen Staaten, war so binnen weniger Jahre ein die nationalen Luftverkehrsnetze verbindendes europäisches Netzwerk entstanden, welches über einen quantitativ kaum erfassbaren Zubringerluftverkehr fast alle bedeutenden europäischen Städte verband und bereits begann, über Europa hinauszugreifen.

27 | Braun (2004).

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Abbildung 1: Netz der Routen und Flughäfen der Deutschen Luft Hansa 1926 Quelle: Archiv Deutsche Luft Hansa, Ordner Flugpläne 1926-1933, Köln.

Aus europäischer Warte blieb damit nur eine, aber wirtschaftlich extrem wichtige Verkehrsverbindung (noch) nicht mit Flugzeugen realisierbar, nämlich der transatlantische Verkehr. Hier sahen die deutschen Zeppeliner ihre Chance: Unter anderem mit Spendengeldern der deutschen Bevölkerung, aber mit nicht nennenswerter finanzieller Unterstützung durch die Reichsregierung, wurde das später berühmte Luftschiff »LZ 127 Graf Zeppelin« erbaut und im Sommer 1928 als Langstreckenluftschiff mit Passagierkabinen in Betrieb genommen. Zunächst aber wurde eine ausgiebige Reihe von spektakulären Demonstrationsfahrten durchgeführt, über die insbesondere in der deutschen und US-amerikanischen Presse enthusiastisch berichtet wurde. Dazu wurden zum Beispiel illustre Meinungsmultiplikatoren, zum Beispiel Reporter der damals in den USA weit verbreiteten Zeitungen aus dem Verlagshaus Hearst, zu den Fahrten eingeladen, die exklusiv darüber berichteten und damit als »Promotoren« für den transatlantischen Zeppelinverkehr auftraten.28 Doch diese öffentlich wirksamen Aktivitäten der »Promotoren« stießen auf in der Öffentlichkeit unbekannten und auch von den Zeppelinern nicht erkannten oder nicht verstandenen Widerstand durch finanzstarke und damit mächtige »Rejektoren«. Es war alles andere 28 | Ausführlich geschildert bei Schiller (1966), S. 144-160.

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als im Interesse der deutschen Hochseeschiff fahrts-Reedereien, die bereits ab 1921 mit massiven Subventionen durch die Reichsregierung wieder aufgebaut wurden und ab 1928 bzw. dann 1930 mit den weltweit modernsten und schnellsten Luxuslinern ausgerüstet waren, dass mit dem neuartigen »LZ 127 Graf Zeppelin« eine quantitativ zwar marginale Konkurrenz erwachsen konnte, die aber auf das in der Luxusklasse der neuen Linienschnelldampfer die höchsten Preise bezahlende Passagierklientel abzielte. Diese potentielle neue Konkurrenz durch den Zeppelin war insofern für die Großreedereien mehr als ärgerlich, weil die 1928 und 1930 auf der Nordatlantikroute zwischen Deutschland und den USA in Betrieb genommenen neuen Linienschnelldampfer aufgrund der im Herbst 1929 ausgebrochenen und sich immer weiter verschlimmernden Weltwirtschaftskrise massive Nachfrageeinbußen nach Passagen hatten. Über die Planungen der Zeppeliner waren dabei die beiden deutschen Großreedereien, die Hapag und der Norddeutsche Lloyd (NdL), bestens informiert: Der Präsident des Aufsichtsrates des NdL und ein Direktor der Hapag waren im Aufsichtsrat der DELAG vertreten. Um insbesondere während der Weltwirtschaftskrise Konflikte zwischen der DELAG und den, auch von der Reichsregierung unterstützten, Reedereien zu vermeiden, musste, neben den noch keine wirtschaftliche Konkurrenz darstellenden Demonstrationsfahrten des neuen Luftschiffes, eine für beide Akteure erträgliche Lösung gefunden werden. Diese bestand darin, dass das neue Luftschiff nicht die Nordatlantiklinie bediente, sondern ab 1930 regelmäßig die nur durch langsame Postdampfer bediente Südatlantiklinie zwischen Europa und Brasilien befahren durfte. 29 Durch dieses effektive Wirken der mächtigen, aber nach außen nicht erkennbaren »Rejektoren« in der Form der deutschen Großreedereien, die zudem vom Reich unterstützt wurden, im AkteursNetzwerk des Aufsichtsrates der DELAG entstand eine folgenreiche Situation: Aufgrund der Existenz eines einzigen Luftschiffes, des »LZ 127 Graf Zeppelin«, war nur ein als Punkt-zu-Punkt konstruierbares physisches Verkehrs-»Netz« möglich. Doch sogar dieses wurde aufgrund von Interventionen mächtiger Akteure quasi verbannt auf eine unbedeutende Linienverbindung, die wenig Profitabilität versprach. Das Überschreiten einer kritischen Masse an Verkehrsverbindungen im Atlantikverkehr war damit unmöglich geworden.

29 | Braun (1997), S. 66-70.

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3.4 Der Aufbau eines internationalen Net z werks an Luf tschif f verbindungen durch eine Kooperation z wischen Luf tschif f verkehr sgesellschaf ten aus mehreren Staaten als eine (kontrafak tisch) let z te Chance Im Gefolge der weltweit beachteten Pionierfahrten des »LZ 127 Graf Zeppelin« erwachte Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre, neben hier nicht näher zu diskutierenden Aktivitäten im Bau und Betrieb militärischer Luftschiffe,30 trotz der Weltwirtschaftkrise in vielen technisch hoch entwickelten Staaten ein gesteigertes Interesse an einem zivilen, interkontinentalen Luftschiff verkehr auf der Grundlage der in ihren Dimensionen riesigen Starrluftschiffe Zeppelin’scher Bauart. In den USA experimentierte die Firma Goodyear während der 1920er Jahre mehrmals mit einem Personentransport unter Verwendung kleiner Prallluftschiffe. Doch dieses inneramerikanische Verkehrsnetz war bezüglich der Weite der USA nur ein bescheidener Torso geblieben und von den wirtschaftlichen Verwerfungen während der Weltwirtschaftskrise ebenso vom Markt hinweggefegt worden wie von der »flugzeugfreundlichen« Haltung der US-Regierung.31 Was aber bis zum Verlust des letzten modernen Starrluftschiffes der US-Marine im Februar 1935 und auch noch danach bestehen blieb, waren zwei hochmodern ausgestattete Luftschiff basen der US-Marine in New Jersey und in Kalifornien. Damit bestanden für ein potentielles internationales Luftschiff verkehrsnetz zwei voll ausgebaute Luftschiff basen als zentral gelegene Knotenpunkte, die nun ungenutzt blieben.32 Auch in England hegte die Regierung ambitionierte Pläne: Mit großen Starrluftschiffen sollten im schnellen Kurierdienst die wichtigsten Gebiete des Empire verbunden werden, insbesondere Kanada, über Ägypten auch Britisch-Indien und über je eine Ost- und eine Westafrikanische Route Südafrika. Dazu wurden, neben der englischen Luftschiff basis in Cardington, Luftschiff-Ankermasten in Ismailia in Ägypten, nahe der kanadischen Stadt Montreal und bei der Stadt Karatschi in Britisch-Indien errichtet. Das erste zu diesem Zweck erbaute Luftschiff erreichte im Juli 1930 problemlos Montreal, aber das zweite für dieses Verkehrsnetz erbaute Luftschiff verbrannte bereits bei der Jungfernfahrt mit Ziel Karatschi in Frankreich. Bei dieser Ka30 | Details bei Braun: Aufstieg (2007), Kapitel 4. 31 | Genaue Daten finden sich bei Allen (1932). 32 | Braun (2004), S. 276.

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tastrophe kamen alle Luftschiffinsassen zu Tode, darunter die wichtigsten »Promotoren« der englischen Luftschiff fahrt. Sofort nach der Katastrophe stellte die englische Regierung das gesamte Projekt ein.33 Damit war ein theoretisch möglicher physischer »backbone« eines weltumspannenden Netzes von Langstreckenluftschiff verbindungen von einem Tag auf den anderen verschwunden, auch wenn die vorhandenen Ankermasten erst nach Jahren demontiert wurden. Mitte der 1930er Jahre soll es von einem privaten englischen Syndikat zwar Pläne einer Reaktivierung und eines Ausbaues der Netzinfrastruktur mit Routen nach Mittelamerika, nach Australien und Fernost gegeben haben, die aber allenfalls Diskussionscharakter hatten.34 Einen ähnlich vagen Charakter hatten Anfang der 1930er Jahre auch niederländische Überlegungen, einen Luftschiffdienst zwischen Amsterdam und Batavia einzurichten.35 Vor diesen kühnen, nie verwirklichten oder gescheiterten Plänen gewinnt die Situation der deutschen Zeppeliner zu Beginn der 1930er Jahre trotz der weltweiten Wirtschaftsdepression aus der theoretischen Warte des Netzwerkansatzes eine neue, aber nur theoretisch-kontrafaktische Qualität: Aufgrund der Existenz von voll ausgebauten Luftschiff basen in den deutschen Städten Friedrichshafen und Frankfurt a.M. sowie einer Luftschiff basis mitsamt einer gewaltigen Bergungshalle im brasilianischen Recife und einem Ankermast in Spanien wäre ein weltweit relativ dichtes physisches Netzwerk aus Knotenpunkten, also Luftschiff basen, denkbar gewesen, wobei hier hypothetisch sogar das Überschreiten der kritischen Masse angenommen werden kann. Immerhin wären bei einer Realisierung aller genannten, aber vagen Pläne im Langstreckenverkehr alle Kontinente miteinander »verlinkt« gewesen: Der bis dahin erreichte Stand der Flugzeugtechnik hätte hier (noch!) keine Konkurrenz dargestellt – und die Hochseeschifffahrt wäre niemals hinsichtlich der Schnelligkeit eine Konkurrenz zu den Luftschiffen gewesen.36 Aber diese Überlegungen haben einen zentralen faktischen Mangel: Die Betrachtung dieses physisch in weiten Bereichen bereits existenten Netzes mit seinen Knoten beruht auf einer allein technokratischen Grundlage. »Hinter« dem physischen Netz wirkten unterschiedliche Akteurs-Netzwerke in verschiedenen Ländern, die sich, bis auf die Ausnahmen der Zusammenarbeit der deutschen Zeppeliner mit US-amerikanischen und brasilianischen 33 | Higham (1960); Higham (1961). 34 | Quellenmaterial zitiert bei Braun: Aufstieg (2007), S. 366-369. 35 | Kaefer (1999), S. 17-18. 36 | Braun (1997), S. 70-74.

86 | H ELMUT B RAUN Stellen, kaum auf eine faire internationale Zusammenarbeit zwischen allen hier genannten Staaten während der unruhigen politischen Entwicklungen in den 1930er Jahren eingelassen hätten.

4. Der deutsche Zeppelinverkehr nach der Machtergreifung: Neue Ak teure, neue Ziele In Deutschland veränderte sich nach der Machtergreifung Hitlers 1933 das Akteurs-Netzwerk bezüglich eines zivilen Zeppelinverkehrs erheblich: Da der DELAG die erforderlichen Geldmittel zum Bau eines neuen Luftschiffes fehlten, die neuen nationalsozialistischen Machthaber Mittel aber nur bei einer ihnen genehmen Neuordnung der zivilen Luftschiff fahrt beisteuern wollten, musste die DELAG liquidiert werden und wich 1935 der neuen Gesellschaft »Deutsche Zeppelin Reederei Gesellschaft mit beschr. Haftung« (DZR) mit Sitz in Berlin. Das Stammkapital der DZR war mit 9,55 Millionen Reichsmark nun um ein Vielfaches höher als bei der liquidierten DELAG mit 120.000 Reichsmark Grundkapital, aber der Luftschiff bau Zeppelin (LZ) hatte nun nur noch einen Kapitalanteil von 60 %. Die restlichen 40 % hielt die mittlerweile umbenannte »Deutsche Lufthansa A.-G.«, die mehrheitlich aber wiederum dem Reich gehörte und letztlich Hermann Göring unterstellt war. Die Lufthansa setzte zum Beispiel durch, dass die lukrative Postbeförderung nach Südamerika mit dem »LZ 127 Graf Zeppelin« zu einem großen Teil auf die neue Methode des KatapultFlugverkehrs verlagert wurde. Dennoch glaubten die Zeppeliner nun an den Durchbruch ihrer Idee, als das neue Luftschiff »LZ 129 Hindenburg« 1936 im für die Nationalsozialisten wegen der Deviseneinnahmen wichtigen Nordamerikadienst eingesetzt wurde.37 Flankiert wurde dieser Glaube durch den baldigen Baubeginn des LZ 130, eines neuen Zeppelins der »Hindenburg-Klasse«, und der Projektierung des dann später tatsächlich in geringem Umfang begonnenen LZ 131. Doch diese Hoffnung zerstob, als am 6. Mai 1937 der mit Wasserstoffgas befüllte Zeppelin »LZ 129 Hindenburg« unter letztlich nie geklärten Umständen vor den Augen der Weltöffentlichkeit explodierte. Da die Nationalsozialisten sofort ein kommerzielles Betriebsverbot für »LZ 127 Graf Zeppelin« und für den mittlerweile neuen LZ 130 verhängten, war zumindest die zivile Nutzung der großen Starrluftschiffe am Ende. LZ 130 führte zwar einige militärische und propa37 | Duggan (2002); Braun: Aufstieg (2007), S. 408-418.

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gandistische Fahrten durch, aber es kam zu keinerlei kommerzieller Nutzung mehr, da die Nationalsozialisten einen Betrieb zur Personenbeförderung mit Wasserstoff als Traggas verboten hatten und die USA als damals weltweit einziger Heliumproduzent wegen der Machtposition des amerikanischen Innenministers Harold Ickes eine Lieferung amerikanischen Heliums, eines militärstrategischen Gases, an NaziDeutschland verweigerten.38

5. Kritische Gesamtbetrachtung Aus der Warte der Ansätze der Netzwerktheorie war die zivile Luftschiff fahrt mit Zeppelinen von Anfang an eine Totgeburt:39 Aufgrund wenig stabiler und zu wenig machtvoller Akteurs-Netzwerke auf Seiten der »Promotoren« gelang es nie, ein physisches Netzwerk aus regelmäßig und zuverlässig befahrenen Routen mit hinreichend vielen Knoten, also teuren Luftschiff basen, zu errichten. Die für eine Durchsetzung der zivilen Luftschiff fahrt am Beförderungsmarkt notwendige »kritische Masse« an Routen wurde nie auch nur entfernt erreicht. Dies lässt sich dadurch erklären, dass sich weitgehend unbemerkt mächtige Akteurs-Netzwerke gegenüber dem Zeppelin als »Rejektoren« mit ihren Interessen durchsetzen konnten: Neben den Großreedern entpuppte sich der Staat als der mächtigste Akteur in diesem Akteurs-Netzwerk, der direkt oder indirekt spätestens seit dem Ersten Weltkrieg als zudem finanzkräftiger »Promotor« des Flugzeuges auftrat. Den Luftschiffen gestattete der Makro-Akteur »Staat« allenfalls ein Vegetieren in einer kleinen Marktnische oder, deutlich dann unter den Nationalsozialisten, als ein staatlich geduldetes Vehikel zur Erfüllung spezifischer staatlicher Ziele wie der Devisenbeschaff ung, der Propaganda – oder der »Beschaff ung« des begehrten Heliums: Als durch den kleinen »historical event« der Weigerung eines amerikanischen Ministers die Beschaff ung von Helium als Traggas nach der »Hindenburg-Katastrophe« für Nazi-Deutschland unmöglich gewor38 | Zur Heliumproblematik Braun (2005) und ausführlich Braun: Aufstieg (2007), Kapitel 6. 39 | Aus abstrakter Warte ergibt sich eine frappierende Ähnlichkeit zum »Schicksal« der Magnetschwebebahn Transrapid, die ebenfalls nie über eine verkehrstechnische »Insellösung« hinauskam: Die Errichtung eines physischen Netzwerks scheiterte auch hier an exorbitanten Kosten, der Inkompatibilität mit den vorhandenen Eisenbahnnetzen und nur schwachen »Promotoren«.

88 | H ELMUT B RAUN den war, beerdigten die Nationalsozialisten das von Anfang an tote Konzept des großen Starrluftschiffes. Mit diesem Beispiel kann gezeigt werden, welche Wirkmächtigkeit verschiedene Formen von Netzwerken bei der Durchsetzung oder beim Scheitern von technischen Neuerungen aufweisen: Aus ökonomischer Warte ist auf den ersten Blick die Errichtung eines physischen (Verkehrs-)Netzwerkes eine wichtige Voraussetzung für das Scheitern oder den Erfolg einer technischen Neuheit. Dieser Ansatz greift aber zu kurz. Denn hinter den Entscheidungen zur Errichtung oder Blockade eines physischen Netzwerkes stehen Netzwerke aus Personen mit unterschiedlichen (wirtschaftlichen) Interessenlagen.

Summar y In the mid 1980ies the term »net« has been introduced in economic theory. Soon, the network-framework inspired the new and expanding theory on »evolutionary economics«, dealing with innovation processes and patterns of technological change. Analytically, the economic effects of physical networks and their externalities, the conditions for the survival of competing technologies are research subjects as well as »promoting« or »rejecting« interventions which tried to »manage« the paths of spread out of competing technologies by personal »actor-networks«. Additionally, economists identified that historical events (by accident or by man-made interventions) were able to direct the path of the diff usion of technical progress: now, history does matter in economic analysis. The ability to create new insights using economic network theory can be shown by the competition between the »airship« and »airplanes« from ca. 1909 up to World War II. The network-based analysis created an unexpected result: from the early beginning, the airship technology did not have any possibility to establish itself on the civil market of air transportation. Powerful actor-networks rejected the airship by promoting the airplane all the time and blocked any possibility to build a physical network surpassing a critical mass due to airship-lines.

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Räumliche Konstruktion und soziale Normen in Handelsnetzwerken des 18. Jahrhunder ts Margit Schulte Beerbühl, Jörg Vögele

1. Einleitung Netzwerkanalysen haben inzwischen in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen eine hohe Konjunktur gefunden. In der wirtschaftshistorischen Forschung zur frühen Neuzeit wird das Instrument der Netzwerkanalyse seit geraumer Zeit dazu eingesetzt, die Entstehung eines nahezu weltweiten Handels in der Frühen Neuzeit zu erklären.1 Die herkömmlichen Erklärungsmodelle, die klassische Marktökonomie ebenso wie die Institutionen und Neue Institutionen Ökonomie (NIÖ), vermögen die tiefgreifenden Veränderungen des 17. und 18. Jahrhunderts nicht zufrieden stellend zu beantworten. Gegenüber der klassischen Markt- und Institutionenökonomie hat die NIÖ bereits auf ›weiche Faktoren‹ innerhalb von modernen Unternehmen hingewiesen, auf Vertrauen sowie auf informelle Austauschbeziehungen, die innerhalb eines Unternehmens preiswerter sein können als die Transaktionskosten des Marktes.2 Der NIÖ-Ansatz legt jedoch sein Augenmerk auf die intra-institutionellen Beziehungen, während informelle, außerhalb von Institutionen bestehende Beziehungen außen vor bleiben. 1 | Schulte Beerbühl/Vögele (2004). 2 | Zur Transaktionskostentheorie vgl. Williamson (1975 und 1985); Ansätze der Transaktionskostentheorie wurden bereits von R. Coase (1937, S. 386-405) entwickelt.

94 | M ARGIT S CHULTE B EERBÜHL , J ÖRG VÖGELE Im Vergleich zur Moderne war der frühneuzeitliche Fernhandel jedoch wenig formalisiert oder institutionalisiert. Institutionen wie Zünfte und Handelskompanien – wie zum Beispiel Merchant Adventurers in England oder die Hanse – verloren mit der Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen ihren Einfluss zugunsten von informellen Konsortien von Fernhändlern. Die Struktur dieser informellen Gruppen – bestehend aus Individuen oder Geschäftspartnerschaften – zeichnete sich durch eine hohe Unsicherheit, Volatilität und Verwundbarkeit aus. Von daher vermag die NIÖ das Entstehen der modernen Welt nicht hinreichend zu erklären.3 Das Netzwerkkonzept ist dagegen ein geeignetes Modell, um zentrale Aspekte der Expansion des Fernhandels in der Frühen Neuzeit und die Veränderungen in dieser Zeit zu analysieren. Netzwerke stellen spezifische Formen der Koordination von Transaktionen und Beziehungen dar. 4 Im Zentrum des Konzepts stehen die Akteure bzw. das relationale Geflecht ihrer Beziehungen. Es kann soziale Beziehungen zwischen den Akteuren sowohl auf der individuellen und informellen als auch auf der organisatorischen Ebene erklären. Netzwerke sind vielschichtige Phänomene, die sich in vielen Bereichen konstituieren, im sozialen Bereich innerhalb und zwischen Familien, Freunden oder religiösen Gemeinschaften und im ökonomischen Bereich zwischen und innerhalb von Unternehmen. Hier implizieren sie informelle Beziehungen, deren Ziel es ist »to coordinate and safeguard exchanges that are socially, not legally binding«.5 Einer der Schlüsselansätze, um die Natur solcher Beziehungen zu erklären, ist die Frage nach dem Vertrauen. Luhmann zufolge ist Vertrauen ein elementarer Bestand des sozialen Lebens, ohne den zwischenmenschliche Beziehungen und komplexe Gesellschaften nicht existieren können.6 Francis Fukuyama stellt ergänzend fest, dass die Wettbewerbsfähigkeit und der Wohlstand einer Nation wesentlich vom Grad des Vertrauens innerhalb einer Gesellschaft beeinflusst werden. Er verweist dabei auf die Fähigkeit zur Konsensfindung über grundlegende Normen und zu vertrauensvoller Kooperation in einer Gesellschaft.7 Gerade im frühneuzeitlichen Fernhandel war Vertrauen in den fernen Geschäftspartner angesichts der Langsamkeit der Kom-

3 | Vgl. hierzu Plumpe (2004), bes. S. 32, 56. 4 | Wassermann/Faust (1994); Thompson (2003). 5 | Jones/Hesterly/Borgatti (1996), S. 911-945. 6 | Luhmann (2000), S. 1. 7 | Fukuyama (1996), S. 7.

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munikations- und Transportwege eine elementare Voraussetzung für das Funktionieren des Warenhandels überhaupt. Netzwerke haben nicht allein eine soziale, politische oder ökonomische Dimension, sondern sind auch zutiefst raum-zeitliche Phänomene. Allerdings beleuchtet die bisherige Netzwerkforschung die raum-zeitliche Dimension – zum Beispiel, wie Zeit- und Raumverhältnisse den Charakter einer Beziehung formen – nur unzureichend.8 Die räumliche Dimension umfasst Mobilität innerhalb eines geographischen Gebietes. Durch räumliche Mobilität, wie zum Beispiel Reisen oder Aus- bzw. Einwanderung, werden soziale Sphären geformt, erweitert und verändert.9 Unter der Prämisse, dass im 18. Jahrhundert die räumliche Expansion des Handels im Mittelpunkt stand, stellen sich dem Historiker, der diese Expansion mittels eines Netzwerkverständnisses untersuchen will, folgende Fragen: Wie beeinflussten die sich verändernden Raumverhältnisse die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb des expandierenden Netzwerks? Und wie kann dauerhaftes Vertrauen über große Entfernungen und relativ große Zeiträume hinweg geschaffen und generiert werden? Zur Illustration und zum besseren Verständnis der aufgeworfenen Fragen wird im Beitrag zunächst der geographische Wirkungsbereich eines Handelsnetzwerks untersucht, den ein deutscher Kaufmann im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert von London aus auf baute. Dieses Beispiel eines – wie sich zeigen wird – Immigrantennetzwerkes wurde vor allem aus zwei Gründen ausgewählt: 1. Die Ausweitung des Handels in der Frühen Neuzeit wurde entscheidend von Geschäftsleuten geprägt, die sich in entfernt gelegenen Ortschaften niederließen, um den Zugang zu neuen Märkten zu erlangen. 2. Ausländische Geschäftsleute konnten sich nicht auf alteingesessene vertraute Handelsrouten und -beziehungen stützen. Sie waren gezwungen, neue Beziehungen aufzubauen und dabei ihre Reputation, Seriosität und Vertrauenswürdigkeit unter Beweis zu stellen. Hierauf auf bauend wird im anschließenden Abschnitt der Frage nachgegangen, wie Vertrauensbildung in einer fremden Umgebung stattfand, und wie schwache Verbindungen ausgebaut und überwacht werden konnten. Es wird dabei aufgezeigt, dass Vertrauen keineswegs eine unproblematische Kategorie ist, sondern mit einer Reihe von moralischen bzw. ethischen wie rationalen Verpflichtungen und Prinzipien verwoben ist.

8 | Zur raum-zeitlichen Dimension vgl. Kesselring (2006). 9 | Urry (2003).

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2. Die räumliche Dimension einer in London ansässigen deutschen Kaufmannsgesellschaf t im 18. Jahrhunder t Angesichts der politischen Struktur des Alten Deutschen Reichs – zersplittert in eine Vielzahl kleiner Staaten mit zahlreichen Zollstationen – ließen sich deutsche Unternehmer, die einen direkten Zugang zu den profitablen neuen Kolonialmärkten sowie wichtigen Rohstoffmärkten suchten, in den führenden Warenumschlaghäfen wie in London, Bordeaux, Cadiz, St. Petersburg oder Livorno nieder. Von allen wirtschaftlich führenden Städten Europas übernahm die britische Hauptstadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Führungsposition. London stieg zur bedeutendsten Handels- und Finanzmetropole auf. Hier entstanden auch die ersten Versicherungsgesellschaften, die mögliche Risiken eines mehr oder weniger globalen Handels verringern sollten. Einer Niederlassung in London wurde von der gesamten europäischen Wirtschaftselite besondere Bedeutung beigemessen.10

Abbildung 1: Handelsbeziehungen von Raymond de Smeth 1690-1727 (eigene Erhebung)

Zu den zahlreichen deutschen Immigranten, die sich in London niederließen, zählte Raymond de Smeth aus Hamburg. Die de Smeths waren holländischer Herkunft. Während ein Zweig der Familie im

10 | Dazu und zu den folgenden Ausführungen ausführlich Schulte Beerbühl (2007).

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17. Jahrhundert in Hamburg sesshaft wurde, blieb der andere in Amsterdam. Um 1690 herum verließen zwei junge Familienmitglieder Hamburg, der Eine (Raymond) ging nach London und der Andere (Nicolo) nach Livorno. Raymond de Smeth, der dauerhaft nach London immigrierte, baute ein ausgedehntes Handelsnetzwerk auf, das sich im Osten bis nach Russland und Kleinasien und im Westen via Spanien bis in die Neue Welt erstreckte (Abbildung 1). Es ist hervorzuheben, dass es sich hier nicht um ein zentralisiertes Handelsnetz, mit Raymond als zentralem Knotenpunkt, sondern um ein heterarchisches Handelsnetz handelte. Es bestand aus mehreren Knotenpunkten, an denen verschiedene Familienmitglieder saßen, denen spezielle Funktionen zugewiesen waren. Die niederländischen Familienangehörigen betätigten sich vor allem als Bankiers, denn bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, d.h. bis zum großen Börsenzusammenbruch von 1763, war Amsterdam noch vor London der führende Finanzplatz der Welt. Hier wurden die großen Wechselgeschäfte getätigt, die den Fernhandel fi nanzierten. Livorno war ein zentraler Warenumschlagplatz für den gesamten Mittelmeerraum. Hier wurden die Waren, die aus dem nordatlantischen Raum kamen, umgeschlagen. Es handelt sich um ein Netzwerk mit funktional-regionalen Knotenpunkten, an denen sich Mechanismen zur Initiierung, Restrukturierung, Steuerung und Überwachung der Handelsbeziehungen konstituierten. Über die regionalen Niederlassungen verschaff ten sich die De Smeth einen direkten Zugang zu den Kolonial- und Regionalmärkten der führenden europäischen Kolonialreiche. Durch ihre expansive Niederlassungsstrategie, der Eröff nung von Handelshäusern durch Familienmitglieder an wichtigen europäischen Handelszentren, überwanden sie zugleich merkantilistische sowie monopolistische Handelsbarrieren. Der britische Levantehandel wurde beispielsweise durch die Londoner Levant Company monopolisiert, die von einer Clique von nicht mehr als ca. 30 bis 40 Mitgliedern beherrscht wurde, zu der selbst die Mehrheit der gebürtigen Briten keinen Zugang erhielt. Dieses Monopol vermochte der Londoner Raymond de Smeth durch seine Verwandten in den Niederlanden und Italien zu umgehen, indem er Waren zunächst in die Niederlande oder nach Livorno schickte, die dann umgeladen und neutralisiert wurden, bevor sie die Levante erreichten. In ähnlicher Weise wird er auch das Monopol der Londoner Russia Company umgangen haben. Diese war eine ähnlich mächtige Handelskompanie wie die berühmte East India Company und zwang jeden, auch wenn er nur als Faktor für ein mit Russland handelndes

98 | M ARGIT S CHULTE B EERBÜHL , J ÖRG VÖGELE Mitglied arbeitete, zur Mitgliedschaft. Raymond de Smeth allerdings gehörte ihr dieser Regel zuwider nicht an.11 Obwohl die einzelnen Familienunternehmen der De Smeths in Hamburg, London, Amsterdam und Livorno wirtschaftlich eng miteinander kooperierten und über die Blutsverwandtschaft miteinander verflochten waren, handelte es sich um formell selbständige Häuser mit wiederum eigenständigen regionalen Netzen.

3. Soziale Konstruk tion von Net z werken und Normen In der Forschung zum frühneuzeitlichen Handel wird die Rolle von Familienmitgliedern und Verwandten sowie von religiösen oder ethnischen Gemeinschaften betont. Diese Gruppen schufen ›Netzwerke des Vertrauens‹, die es ihnen ermöglichten, über große Distanzen hinweg wirtschaftlich zu kooperieren. Durch Generierung von Vertrauen in Netzwerken können Mark Casson zufolge Transaktionskosten reduziert werden, da Kontrolle auf informeller Basis durch gemeinsame Werte, Haltungen und Ziele die Unsicherheiten und Gefahren ökonomischer Aktivitäten verringert.12 Gerade in Zeiten kaum einklagbarer Verträge und unzureichender oder fehlender Möglichkeiten der Strafverfolgung ebenso wie unvorhersehbarer Veränderungen der Rahmenbedingungen spielten reziproke Vertrauensbeziehungen eine zentrale Rolle. Familien- und Verwandtschaft verfügen durch die Blutverwandtschaft zwar über einen großen Vertrauensvorschuss, doch ging mit ihr auch eine hohe moralische Verpflichtung zur Erfüllung der Vertrauenserwartungen einher. Familienmitglieder hatten zwar im vorliegenden Beispiel eine wichtige Funktion innerhalb des gesamten Netzes, Familie und Verwandtschaft machten jedoch in weitreichenden Fernhandelsbeziehungen bestenfalls einen kleinen Teil der Geschäftspartner aus. Auch stand nicht in allen Fällen eine ausreichende Zahl von geeigneten Familienmitgliedern zur Verfügung, um weitreichende internationale Handelsbeziehungen aufzubauen. Es stellt sich daher die Frage, welche Mechanismen es gab und welche Strategien die Kaufleute verfolgten, um Vertrauen zu »Fremden«, d.h. nicht-blutsverwandten Personen aufzubauen und aufrecht zu erhalten. 11 | Zur britischen Russland und Levante Kompanie vgl. Schulte Beerbühl (2007), S. 218-250. 12 | Casson/Rose (1998), S. 3f.

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Im Geschäftsleben eines Kaufmanns können zwei Lebensabschnitte unterschieden werden: ein erster am Beginn seiner kaufmännischen Lauf bahn, der im Wesentlichen dem Auf bau eines Vertrauensnetzes galt, und ein zweiter, der der Aufrechterhaltung und der Erweiterung von Vertrauensbeziehungen in der späteren Karrierephase als etablierter Kaufmann. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass ein Kaufmann sich in einem vielschichtigen Netzwerk von unterschiedlichen übereinander and nebeneinander lagernden Netzen bewegte, auf das weiter unten noch näher eingegangen werden soll. Am Beginn seiner Karriere hatte ein junger Kaufmann im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, um zu Ansehen und Vertrauen zu gelangen. Kaufleute starteten ihre Karriere als Lehrling oder in der Fremde oft als Angestellter – zum Beispiel als Buchhalter oder Juniorpartner – in den Häusern von wohl etablierten und angesehenen Handelsherren. Während dieser Phase waren ihre kaufmännischen Aktivitäten in die Reputation des Dienstherrn oder Seniorchefs eingebettet. Gerade in London war das Ansehen des Dienstherrn für die zukünftige Karriere eines Jungkaufmanns von entscheidender Bedeutung.13 Er führte ihn in die Geschäftswelt ein und unter dessen Schutz und Anweisungen konnte der junge Kaufmann nach und nach eine eigene Reputation erwerben. Die Prüfung der noch frischen, unsicheren Reputation kam mit dem Schritt in die Selbständigkeit. Ein weiterer Vertrauens- und Reputationsträger am Anfang einer kaufmännischen Karriere war die Familie. Kam ein Akteur aus einer wohlhabenden und angesehenen Kaufmannsfamilie, war sein eigener Ruf noch in die Reputation der Eltern eingebettet. Ein solcher Vertrauensvorschuss konnte natürlich leicht verspielt werden, wenn der Kaufmann die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllte. Vertrauen ist zwar ein wesentlicher Garant für stabile Geschäftsbeziehungen, allerdings lassen die vorliegenden geschäftlichen Korrespondenzen erkennen, dass Vertrauen nie bedingungslos gewährt wurde, sondern fortwährend überwacht wurde und neu bestätigt werden musste. Unbestätigtes oder blindes Vertrauen sowie unzuverlässige Informationen konnten für die Geschäfte eines Fernhandelskaufmannes leicht existenzbedrohlich werden.14 Vertrauen wurde nie 13 | Gauci (2001), S. 73; Grassby (1995), S. 45f. 14 | Als Beispiel sei hier auf das Schicksal von Peter Hasenclever aus Remscheid hingewiesen. Er hatte es versäumt, die Vertrauenswürdigkeit seiner Geschäftspartner Seaton und Croft zu überprüfen. Sie veruntreuten Geschäftsvermögen, so dass das Haus in London Konkurs anmelden musste (Eichelkraut-Neumann/Ünlüdag: (1996), S. 41-119). In einem an-

100 | M ARGIT S CHULTE B EERBÜHL , J ÖRG VÖGELE als selbstverständlich hingenommen. Es war im Allgemeinen kein blindes oder leichtsinniges. Vertrauen in Geschäftsbeziehungen war ein strategischer Vorgang bzw. ein »verkapseltes Interesse des Vertrauens«, wie Russel Hardin es bezeichnete. Hierbei handelt es sich um eine instrumentelle Art des Vertrauens und ein Produkt der Interaktion, bei dem der Vertrauenswürdige ein Interesse an der Erfüllung des in ihn gesetzten Vertrauens besitzt, weil er die Geschäftsbeziehungen mit demselben Partner fortsetzen möchte.15 Andererseits war Vertrauen zwischen frühneuzeitlichen Kaufleuten üblicherweise in ein Bündel wechselseitiger Verpflichtungen und sozialer Kontrollmechanismen eingebettet, die das gewährte Vertrauen und die Kreditwürdigkeit fortwährend überprüften. Eine schematische Übersicht zeigt Abbildung 2.

Religion

Handel

Nationalität Kaufmann

Familie

Ethnizität Vereine

Abbildung 2: ›Cluster‹ von Verpflichtungen

In diesem Zusammenhang unterscheidet die Netzwerkforschung zwischen starken und schwachen Beziehungen. Als starke Verbindungen werden die zwischen Familienmitgliedern, Verwandten etc. bezeichnet. Sie sind jedoch manchmal die schwächeren, wenn sie nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen. Granovetter hat hier auf die Stärke der eigentlich schwachen Verbindungen in Geschäftsbeziehungen hingewiesen. Dementsprechend sind schwache Verbindungen mit wederen Fall stellte das Hamburger Handelshaus Ruland das Geschäft mit dem Londoner Haus von Maresco & David ein, nachdem es festgestellt hatte, dass diese ihm Informationen vorenthalten hatten (Roseveare (1987), S. 330; Schulte Beerbühl (2007), S. 95f.). 15 | Hardin (2001), S. 3-39.

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nig Zeitaufwand, d.h. zwischen Akteuren mit lockeren oder nur indirekten Kontakten, die nicht unbedingt auf persönlichen Begegnungen basieren, von großer Bedeutung für den Verkehr von Informationen, Ideen und Einflüssen in Netzwerken.16 Solche schwachen Verbindungen sind nicht nur wertvoll für die Verbreitung von Informationen, sondern können sich auch zu starken Verbindungen entwickeln. Wie oben erwähnt, bewegen sich Kaufleute in einem vielschichtigen Netzwerk. Sie sind eingebettet in ein Geflecht von sich überlagernden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, konfessionellen, ethnischen und familiären Netzwerken. Jedes dieser Netzwerke erzeugt qualitativ verschiedenartige Verpfl ichtungen. Solche Netzwerke überschneiden sich, sind aber nicht deckungsgleich. Ein familiäres Netzwerk zwischen Blutsverwandten oder durch Heirat und Sippenzugehörigkeit verstärkt, erzeugt andere Verpflichtungen und Verhaltensnormen als ein konfessionelles Netzwerk. Die Zugehörigkeit zur selben Religionsgemeinschaft verpflichtete in der Vergangenheit die Mitglieder zu einem Verhaltenskodex, der alle Bereiche des täglichen Lebens einschließlich des Geschäftslebens durchdrang. Darüber hinaus implizieren religiöse Bindungen und Verhaltensnormen eine höhere Moral, eine nicht weltliche heilige Verpflichtung Gott gegenüber. Der Geschäftspartner war nicht den Menschen, sondern Gott gegenüber für sein Verhalten verantwortlich. Folglich konnte eine rein wirtschaftliche Beziehung vor allem in der Vergangenheit durch die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft verstärkt werden (Abbildung 3). Quäker oder Juden, wie die Cadburys oder Rothschilds, sind wohlbekannte Beispiele für eine enge Verflechtung von Religion und Geschäft. Sowohl die Mitgliedschaft in Vereinen oder Gesellschaften, wie die der Freimaurer, als auch die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, z.B die Diaspora der Hugenotten oder anderer Flüchtlinge, sowie eine gemeinsame Sprache oder Nationalität können und konnten die geschäftlichen Beziehungen ebenfalls stärken. Gerade diese Aspekte spielten beim Auf bau der Geschäfte in der Fremde eine wichtige Rolle. Ausländische Kaufleute in England, auch deutsche, zogen es vor, ihre Karrieren bei Landsleuten zu beginnen und bevorzugten auch bei der Gründung von Handelshäusern Geschäftspartner der gleichen Nationalität.

16 | Granovetter (1973).

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Abbildung 3: Stärkung schwacher Verbindungen

Es war nicht primär ein Misstrauen gegenüber den Einheimischen, das die Immigranten in einer fremden Umgebung aneinander band, sondern die Unsicherheit ihrer Situation. Für die Neueinwanderer in einem fremden Land waren eigene Landsleute die besseren Berater. Diese waren nicht nur in der Lage, bei Sprachproblemen auszuhelfen, auch waren ihnen die rechtlichen, sozialen und kulturellen Unterschiede der jeweiligen Länder besser bekannt. Dagegen waren sich einheimische Kaufleute dieser Unterschiede nicht unbedingt bewusst. Die Kenntnis unterschiedlicher Sozial-, Wirtschafts- und Rechtsgewohnheiten konnte aber entscheidend zum Erfolg oder Misserfolg einer Geschäftsverhandlung beitragen.17 Es war leichter mit Partnern gleicher Herkunft oder Sprache im Ausland zu verhandeln als mit Fremden. Bedingt durch die Zugehörigkeit zur gleichen Sprache finden sich deshalb in England häufiger Geschäftspartnerschaften mit Schweizern oder Niederländern als mit Briten im 18. Jahrhundert. Ähnlich setzte sich Raymond de Smeths’ weitreichendes Handelsnetz aus einer beachtlichen Anzahl von nicht mit ihm verwandten Kaufleuten deutscher und holländischer Herkunft zusammen.18 In London war er zudem Mitglied der holländischen Kirche von St. Austin Friars, einer Kirchengemeinde, der sehr viele reformierte deutsche Kaufleute angehörten.19 17 | Schulte Beerbühl (2007), S. 94-96. 18 | The National Archive, Kew, Probatory Records, Prob 31/52. 19 | William John Charles Moens, The Marriage, Baptismal, and Burial Registers 1571-1874… of the Dutch Reformed Church, Austin Friars, Lymington, 1884, Burial Register, 157; TNA, Prob. 31/52 3. Nov 1727.

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Netzwerke besitzen sowohl ein exklusives als auch ein inklusives Element. Die Entscheidung über Ein- oder Ausschluss bedeutete jedoch nicht, dass sie geschlossene Einheiten darstellten. Handelsnetze mussten zum einen zwangsläufig eine gewisse Offenheit besitzen, um den Risiken der Geschäftswelt entgegenwirken zu können – wie im Falle des Ablebens von Geschäftspartnern, oder wenn diese sich als Abtrünnige oder Betrüger herausstellten. Zum anderen zwangen Marktfluktuationen oder neue Marktchancen die Kaufleute immer wieder neue Geschäftsbeziehungen aufzunehmen. Es stellt sich deshalb die Frage nach den Strategien, die ihnen zur Verfügung standen, um neue solide und zuverlässige Partner zu finden.

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Abbildung 4: Knüpfen neuer Verbindungen

Das oben erwähnte ›cluster‹ von mit einander verbundenen geschäftlichen, religiösen, verwandtschaftlichen und ethnischen Netzwerken stand Kaufleuten auch für die Suche nach neuen Geschäftsbeziehungen zur Verfügung. Diese Netzwerke hatten gemeinsame Schnittmengen. Eine gemeinsame Schnittmenge bot zum einen einen »Pool«, aus dem neue Partner gewonnen werden konnten, zum anderen besaßen die Akteure in den gemeinsamen Schnittmengen Brückenfunktionen in andere Netze bzw. in die nichtkongruenten Teile eines zweiten Netzwerks. Über solche Brückenglieder konnten Fremde gewonnen werden.20 Denn jedes einzelne Mitglied eines Netzwerkes besaß ein eigenes individuelles Netzwerk, welches sich über die Grenzen des 20 | R.S. Burt spricht in diesem Zusammenhang von »structural holes«, durch die ein Akteur zwei miteinander unbekannte Akteure verbindet. Der Begriff des strukturellen Lochs erscheint uns jedoch recht missverständlich, da davon auszugehen ist, dass der verbindungschaff en-

104 | M ARGIT S CHULTE B EERBÜHL , J ÖRG VÖGELE gemeinsamen Pools zu anderen unabhängigen Netzen in Beziehung erstrecken konnte. Jeder einzelne Akteur agierte demnach als eine Art brückenbildendes Glied für andere Partner. Solche gemeinsame Schnittstellen in übereinander lappenden Netzwerken sowie insbesondere Brückenglieder waren in wirtschaftlichen und kriegsbedingten Krisenzeiten von großer Bedeutung für die Fortführung von Geschäften, zum Beispiel, um kriegsbedingte Handelsunterbrechungen zu überwinden. Jüdische Handelsnetze gelten beispielweise bedingt durch die Regionszugehörigkeit als weitgehend geschlossene Netzwerke. Während der napoleonischen Kriege suchten jüdische Kaufleute deutscher Herkunft in England aber zunehmend Wirtschaftskontakte zu anderen religiösen Minderheiten der gleichen nationalen bzw. sprachlichen Herkunft (Abbildung 4).21 Wie bauten Kaufleute ihre Geschäftsbeziehungen zu unbekannten Geschäftsleuten über größere Entfernungen hinweg aus? Empfehlungsschreiben waren ein wichtiges Mittel und Geschäftsreisen waren ein anderer nicht minder wichtiger Weg. Kaufleute waren eine hoch mobile Gruppe, und einige von ihnen verbrachten erhebliche Zeit auf Reisen. Solche Geschäftsreisen erfüllten eine wichtige Funktion im Auf bau von verlässlichen Beziehungen. Physische Nähe/Begegnung ermöglichte einen persönlichen Eindruck von einem alten, neuen oder potentiellen Geschäftspartner. Eine persönliche Begegnung erlaubte es dem Kaufmann die Körpersprache des Anderen zu beobachten und Informationen aus erster Hand zu erhalten. Gleichzeitig schien der persönliche Blick eine Erkennung von List und Unaufrichtigkeit zu erleichtern. Persönliche Treffen halfen dabei, Vertrauen und Engagement aufzubauen und zu stabilisieren.22 Zusätzlich konnte Wissen über die Infrastruktur eines Geschäftsortes erworben werden, zum Beispiel über Transportbedingungen, lokale rechtliche und politische Verhältnisse, soziale Zusammensetzung oder finanzielle Möglichkeiten der örtlichen Kaufmannschaft usw. – Informationen, die grundlegend für die Entwicklung von Handelsbeziehungen waren. Obwohl es eine reichhaltige Literatur über das Reisen in der frühen Neuzeit gibt, wurde der funktionale Aspekt der Vertrauensbildung de Akteur durchaus in einem Beziehungszusammenhang zu den beiden anderen steht, vgl. Burt (1992 und 2004]). 21 | Nathan Mayer Rothschild begann während der Napoleonischen Kriege mit Lutheranern, Reformierten und Mennoniten zu handeln (Rothschild Archiv London XI/112/01). 22 | Zur Bedeutung des persönlichen Kontaktes durch Reisen vgl. Urry (2003), S. 155-175.

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durch Geschäftsreisen bislang kaum untersucht.23 Die Wichtigkeit des persönlichen Kontaktes ist unter anderem daran zu ermessen, dass ein junger aufstrebender Kaufmann – der gerade ein neues Haus eröffnet hatte – als erstes eine Geschäftsreise zu potentiellen Kunden unternahm, um sie von seiner Vertrauens- und Kreditwürdigkeit zu überzeugen. So reiste beispielsweise der Bremer Jungkaufmann Johann Abraham Retberg, als die Übernahme des väterlichen Geschäfts anstand, durch England, um alte Kontakte seines Vaters aufzufrischen sowie neue zu knüpfen. Er besuchte während seiner Reise die wichtigsten Hafen- und Handelsstädte und sammelte die neuesten Informationen über Größe und Art des Handels der Geschäftshäuser, die er besuchte, sowie über ihre Warensortimente, ihre Lieferbedingungen etc. Er notierte sich auch ganz persönliche Eindrücke über die Händler, die er besucht hatte. Den einen bezeichnete er als störrisch, den anderen als eitel, wiederum einen anderen als freundlich. Die Zahl der Sternchen, die er in seinen Notizen hinter den Namen der Besuchten notierte, zeigt, dass er die besuchten Häuser kategorisierte.24 Wie wichtig ein persönlicher Besuch bei potentiellen Geschäftspartnern war, beweist auch das Beispiel des aus Leer stammenden Hermann Jakob Garrels. Er reiste unmittelbar nach seiner Geschäftseröffnung in London nach Ostfriesland, um seine Geschäftsbedingungen sowie die neuesten Londoner Warenpreise persönlich zu überreichen und gleichzeitig Aufträge einzuwerben.25 Angesichts der geographischen Abgelegenheit mancher Handelsplätze und der damaligen Transportsysteme waren direkte physische Begegnungen vor Einführung von Eisenbahnen und Dampfschiffen nicht immer möglich. Das war häufig der Fall, wenn europäische Kaufleute mit der Neuen Welt oder China Handel trieben. Mund-zu-MundPropaganda und Empfehlungsschreiben an unbekannte Händler von guter Reputation waren weitere Mittel zur Ausdehnung des Geschäftsbereichs. Hier stand dem frühneuzeitlichen Händler bereits ein ausgefeiltes Informationssystem zur Verfügung. Damalige Briefe sind voller Informationen über örtliche Preise, Liefermöglichkeiten, gute Kapitäne und andere allgemeine sowohl ökonomische als auch politische Nachrichten. In größeren Handelshäusern reisten Faktoren oder Juniorpartner in entlegene Regionen, um die Geschäftspartner und -bedingun23 | Angesichts der reichhaltigen Literatur über Reiseberichte sei nur verwiesen auf Grassert (2001), Rees/Siebers/Tilgner (2002) und Maurer (1992). 24 | »Book of Correspondence« (Staatsarchiv Bremen 7, 42). 25 | Esselborn (1938), S. 130f.

106 | M ARGIT S CHULTE B EERBÜHL , J ÖRG VÖGELE gen vor Ort zu prüfen und darüber zu berichten. Dies war eine wichtige Maßnahme, um Vertrauen und Ansehen zu kontrollieren.26 Der etablierte Geschäftsinhaber sah sich aber auch selbst immer wieder gezwungen auf Reisen zu gehen – insbesondere in Krisenzeiten, zum Beispiel, um ausstehende Gelder einzutreiben, um sich der Kreditwürdigkeit seiner Geschäftspartner zu versichern, um säumige und unwillige Partner zur Zahlung zu bewegen, oder wenn ein Haus in Zahlungsschwierigkeiten geriet. Je größer die räumliche Distanz zwischen Geschäftspartnern war, desto schwieriger war es Forderungen einzutreiben. Die Zahl der uneinbringlichen Forderungen nahm mit der geographischen Entfernung zu.27 Obwohl den Kaufleuten durch das Geflecht konfessioneller, familiärer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Netzwerke eine Vielzahl von starken moralischen Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stand, waren letztere informell bzw. nicht rechtsbindend. Die Zahl der Abtrünnigen oder Betrüger sollte nicht unterschätzt werden, welche gesellschaftliche oder moralische Verpflichtungen wie Vertrauen, Aufrichtigkeit und Zuverlässigkeit um des Profits willen missachteten. Deshalb griffen Kaufleute zunehmend zu vertraglich geregelten Geschäftsbeziehungen. Die Zahl der abgeschlossenen Gesellschaftsverträge und anderer handelsrechtlicher Kontrakte nahm im 18. Jahrhundert deutlich zu. Das zeigt sich auch an der Zahl der Fälle vor den Handelsgerichten.28 Die Tatsache, dass Handelsherren schließlich auf gerichtliche Verfahren zurückgreifen konnten, erleichterte die Auswahl von Fremden als mögliche Angestellte und Teilhaber, zumal vertragliche Verpflichtungen bei nicht verwandten Geschäftspartnern leichter gerichtlich eingefordert werden konnten als bei Mitgliedern der Familie oder Sippe. Loyalität und moralische Verpflichtungen gegenüber der Familie konnten es schwierig oder gar unmöglich machen, Schulden einzutreiben.

26 | Vgl. hierzu auch Liedtke (2006); die Rothschilds verdankten ihren Aufstieg nicht unwesentlich ihrem ausgedehnten Informations- und Kontrollsystem. 27 | Schulte Beerbühl (2007), S. 348. 28 | Für das Deutsche Reich vgl. z.B. North (2004).

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4. Diskussion Zur Überwindung der Unsicherheiten und Risiken des frühneuzeitlichen Handels schufen die Fernkaufleute ›Netzwerke des Vertrauens‹. Hierbei stand ihnen eine Reihe von nicht-ökonomischen Instrumenten zur Verfügung. Familien- und Verwandtschaft verfügen durch die Blutverwandtschaft nicht nur über einen großen Vertrauensvorschuss, sondern auch über eine hohe moralische Verpflichtung zur Erfüllung der Vertrauenserwartungen. Deutsche Kaufleute in England gründeten im 18. Jahrhundert internationale Handelsunternehmen durch Migration und Niederlassung von engen Familienmitgliedern an den führenden Handelsplätzen Europas, von denen aus sie einen direkten Zugang zu den neuen Kolonial- und Rohstoffmärkten gewannen. Durch ihre Niederlassungsstrategie überwanden sie gleichzeitig merkantilistische Handelsschranken, die die Kolonialmächte eingerichtet hatten, und legten somit die Grundlagen für die Europäisierung der Wirtschaft. Die Struktur dieser internationalen Handelshäuser setzte sich aus einem Geflecht von Netzwerken mit unterschiedlichen Funktionen zusammen. Familienmitglieder bildeten dabei im frühneuzeitlichen internationalen Handel Kernnetzwerke mit regionalen GovernanceFunktionen. Denn an den Niederlassungen der Familienmitglieder liefen wichtige Kontroll-, Informations- und Organisationsfunktionen für die Region zusammen. Familie und Verwandtschaft machten jedoch nur einen geringen Teil der Geschäftspartner aus. Die weiteren Netze setzten sich aus nicht-verwandten Kaufleuten zusammen. Die schwachen ökonomischen Bindungen zu diesen wurden durch ein Regelwerk von vertrauenschaffenden Mechanismen verstärkt, die sich aus den vielschichtigen sozialen, religiösen und ethnischen Netzwerken ergaben. Wenn die historische Forschung die Bedeutung des Vertrauens in frühneuzeitlichen Handelsbeziehungen hervorhebt, sollte seine Eingebundenheit in ein Netzwerk von reziproken Verbindlichkeiten und Kontrollen, die in keiner Geschäftsbeziehung fehlte, betont werden. Vertrauen konnte leicht aus Eigeninteresse und Profitstreben missbraucht werden. Vertrauen war immer ein strategisches Instrument zur Absicherung der Risiken des Handels.

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Summar y In recent historical research network analyses have increasingly been used for explaining the emergence of an almost worldwide trade in the early modern period. Compared with modern times, early modern long-distance trade was little formalized or institutionalized. Moreover, many trade companies like the Merchant Adventures that had monopolized trade to certain geographic regions were declining in the eighteenth century and gave way to more informal or loose associations of overseas merchants. The structure of these informal groups of individuals or partnerships was characterized by a high uncertainty and vulnerability. The network concept seems to be a model highly appropriate for analysing the expansion of long-distance trade in the early modern times and the changes that took place in that period. It focuses on relationships between actors and one of the key approaches to explain the nature of relations is the concept of trust. The spatial dimension involves mobility within a geographical area. Through spatial mobility, for example migration or travels, social spheres are shaped, extended and changed. Spatial extension was at the heart of trade in the eighteenth-century. How did space affect social and economic relationships within an expanding network? This article discusses a trade network of a German merchant who lived in London in the late 17 th and early 18th centuries. The author selected an immigrant network, because the expansion of trade in the early modern period was crucially influenced by migrant tradesmen who settled in distant places to gain access to new markets. Immigrant merchants could not rely on old-established trusted trade routes and relations. They had to establish new ones and thereby generate norms of reputation, reliability, and trust.

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Geographische Entwicklungsmuster von Netzwerken der Ver- und Entsorgung Ulrich Koppitz

1. Einleitung Dieser Beitrag soll sich nicht mit metaphorischen, sondern durchaus materiellen durch Tief bauarbeiten geschaffenen Netzwerken befassen. Schwerpunkt ist die Entwicklung der siedlungswasserwirtschaftlichen Infrastruktur im ausgehenden 19. Jahrhundert, wobei der ebenfalls interessante Ansatz der Innovationsdiff usionsforschung, wie durch Networking bzw. Öffentlichkeitsarbeit öffentliche Arbeiten induziert werden oder Wasserverbände spezifische Definitionsmacht erlangen konnten,1 hier bewusst weitgehend ausgeklammert wird. Denn die Fokussierung auf die sogenannte sanitäre Infrastruktur reduziert gleichsam die Freiheitsgrade solcher Netzwerke, indem beispielsweise a) die Fließrichtungen von Abwasserkanälen durch topographische Bedingungen vorgegeben und b) die Trennung von Ver- und Entsorgung systemimmanent festgelegt werden. Solche Voraussetzungen ermöglichen es, Unregelmäßigkeiten festzustellen und zu interpretieren. Zunächst wird die Versorgung kontrastierend zu anderen Kommunikationsnetzwerken thematisiert, bevor anhand der Entsorgung ein spezifisches Untersuchungsdesign vorgestellt werden soll. Abschließend wird die Einbettung der zunächst recht geschlossen erscheinenden

1 | Hietala (1987); Barles (1999); Hardy (2005); Frioux (2007); kritisch Schramm (1991).

112 | U LRICH K OPPIT Z Systeme siedlungswasserwirtschaftlicher Leitungsnetze in die Umwelt bzw. Kulturlandschaft diskutiert.

2. Versorgungsinfrastruk tur Infrastrukturnetze der Versorgung erscheinen solchen der Kommunikation vergleichbar, aber sie unterscheiden sich durch ihre Unidirektionalität. Die Kommunikationsinfrastruktur und ihr Wachstum sind in der historischen Geographie häufiger Untersuchungsgegenstand, beispielsweise das Straßennetz des römischen Reiches oder Eisenbahnlinien im 19. Jahrhundert. So wird etwa im Rahmen einer »Infra-Struktur-Geschichte« am Beispiel Afrikas der auf Export der Ressourcen zielende Charakter kolonialer Verkehrsanlagen anhand ihrer historisch-geographischen Ausbreitung herausgearbeitet.2 In der Sozialgeographie wurden die maßgeblichen Zentralitätsstudien von Walter Christaller schon in den 1930er Jahren am Indikator der Telefonanschlussdichte in Süddeutschland entwickelt. Diese Versorgungsdichte zeigte deutliche Quantensprünge, wobei eine Hierarchie der Kristallisationspunkte gegenüber der flächenhaften Unterversorgung hervortrat. Zentralität ergibt sich nach Christaller aber auch aus der Reichweite einer Versorgungsart, die sich umgekehrt proportional zur Periodizität des Bedarfs verhält, so dass Orte der alltäglichen Bedarfsdeckung über ein grundsätzlich geringes Maß an Zentralität verfügen.3 Demgegenüber erscheint eine flächendeckende alltägliche Bedarfsdeckung aus zentralen Quellen im Sinne einer Versorgungsinfrastruktur als Kriterium für Urbanität. Ähnliche Indikatorenansätze wie bei Kommunikationsnetzwerken kommen bei der wirtschaftshistorischen Analyse der Entstehung und Ausbreitung von Versorgungsnetzen zum Tragen, d.h. der Infrastruktur von Gas-, Wasser- oder insbesondere Elektrizitätswerken. 4 Darüber hinaus sind Analysen zur Wasserversorgung bzw. zur sogenannten sanitären Infrastruktur häufi g dezidiert sozialkritisch, eine mangelhafte oder fehlende Infrastruktur wird mit Gesundheitsrisiken gleichgesetzt, und die entsprechenden regionalen oder globalen Areale werden in der Perspektive der environmental justice ebenso wie Gebiete schwerer Umweltbelastungen skandalisiert. Besonders 2 | Van Laak (2001); Grewe (2002). 3 | Vgl. u.v.a. Güßefeldt (2005). 4 | Schott (1999); Schott (2006); Wisotzky (1997); Büschenfeld

(2000).

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dringlich erscheint dieses Problem aufgrund des Städtewachstums in Entwicklungs- oder Schwellenländern, mit dem die privatwirtschaftliche Infrastruktur nicht mithalten kann oder will.5 Während bei allen Versorgungsnetzen die Versorgungssicherheit hinsichtlich der Quantität zentral erscheint – wie in (Post-)Industrieländern des 21. Jahrhunderts anhand regionaler Stromausfälle deutlich wurde – und Versorgungsverbünde mit vielfältigen Einspeisungsmöglichkeiten eine bedeutende, nicht immer zweckmäßige Rolle spielen, betriff t die Sicherheitsproblematik bei Gas und Strom zudem die Lebensgefahr bei beschädigten Leitungen. Daher sind in voluminösen Abwasserkanälen, etwa von Paris, zwar Wasseroder Rohrpostleitungen integriert, nicht aber Starkstrom- oder Gasleitungen.6 Demgegenüber sind Wasserleitungen, soweit sie seit Anfang des 20. Jahrhunderts als Trinkwasserleitungen aufgefasst werden,7 mit besonderen Sicherheits- bzw. Qualitätsanforderungen hinsichtlich ihres Inhaltes verknüpft. Solche scheinbaren Selbstverständlichkeiten mit ihrer typischen regionalen Monopolstellung und ihren Expertennetzwerken, die an die »hydraulischen Gesellschaften« bzw. »orientalischen Despotien« im Sinne des Soziologen Wittfogel erinnern, kritisch zu hinterfragen, ist das Verdienst vor allem einer umweltbewussten Perspektive im ausgehenden 20. Jahrhundert.8 Aber auch in der Gründerzeit war die aufwändige Einrichtung der Ver- und Entsorgungsnetzwerke im Stadtgespräch. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich ein lebhafter Diskurs zur Assanierung der Städte (frz. assainissement des villes; engl. sanitary movement) über Europa und Nordamerika. Zurückzuführen auf Berichte insbesondere des britischen Reformers Edwin Chadwick, aber auch auf die Initiativen britischer Ingenieure, um die moderne Technik der Siedlungswasserwirtschaft zu verbreiten, wurden dampf betriebene Wasserwerke und umfassende Kanalisationssysteme als elementare

5 | Frank (2006), S. 169-228, 265-366; Bakker (2007). 6 | Barles (1999). 7 | In Deutschland nach Gelsenkirchener Typhusepidemie durch Gerichtsurteil 1904, vgl. Weyer-von Schoultz (1994), auch wenn ein epidemiologischer Einfluss nur im Seuchenfall messbar erscheint, vgl. Vögele/ Koppitz (2006). 8 | Hervorzuheben ist das Schwarzbuch von Kluge/Schramm (1986) zur Entstehung der Wasserwirtschaft und ihrer Expertenkreise; vgl. Wittfogel (1977).

114 | U LRICH K OPPIT Z Bestandteile der sogenannten sanitären Infrastruktur angesehen.9 Bezeichnenderweise war die einschlägige Fachzeitschrift »Der Gesundheitsingenieur« in ihren ersten beiden Jahrgängen 1878-79 noch schlicht als »Der Rohrleger« betitelt. In den 1870-80er Jahren führten die meisten größeren Städte in Deutschland eine zentrale Wasserversorgung und meist erst mit deutlichem zeitlichem Abstand in den 1880-90er Jahren eine moderne Kanalisationsanlage ein. Allerdings enthalten die um die Jahrhundertwende herausgegebenen, festschriftartig ausgestatteten Bücher, durch welche diese neuen Leistungen gebührend dokumentiert werden sollten, weitgehend konfliktbereinigte Erstbeschreibungen der Infrastrukturgenese.10 Dabei waren die Einrichtung und das stetige Anwachsen der Rohrnetze und Versorgungskapazitäten von heftigen politischen Debatten begleitet, die dazu führten, dass sich das englische11 Modell vorwiegend privater Wasserwerke auf dem Kontinent nicht durchsetzen konnte. Charakteristisch waren die viel beachteten Entwicklungen in Berlin.12 In der preußischen Residenzstadt hatte der Polizeipräsident Ende 1852 ohne Rücksicht auf den Stadtrat ein englisches Unternehmen mit der Errichtung eines Wasserwerks beauftragt und einen Monopolbetrieb auf 25 Jahre konzessioniert. Ähnlich wie im Rheinischen Industriegebiet sollte das Leitungswasser gegenüber dem mineralhaltigen »harten« Brunnenwasser für Dampfmaschinen und Waschprozesse möglichst »weich« sein und zunächst zur Rinnsteinspülung reichlich zur Verfügung stehen, für Feuerlösch- oder Trinkzwecke dagegen eher im Notfall; dabei wurden die Tarife erst nach und nach verbrauchsabhängig gestaltet.13 Wegen Mängeln sowohl bei der Wasserqualität als auch insbesondere hinsichtlich des Rohrnetzausbaus, der hinter dem rapiden Stadt9 | Zur Innovationsdiff usion vgl. Hietala (1987); Tarr (1988); Melosi (2000); zur Technikgeschichte vgl. von Simson (1983) sowie Vereinigung für Abwasser, Abfall und Gewässerschutz (1999). 10 | Vgl. u.v.a. z.B. Architekten- u. Ingenieurverein Düsseldorf (1904); Weyl (1908). 11 | Hassan (1998). 12 | Mohajeri (2005) mit weiterführender Literatur; zur Wasserwerksgründung S. 49ff., zur Kommunalisierung S. 94ff. 13 | Ähnlich wie noch heute bei der Kanalisation wurde anfänglich der Tarif nach Größe und Ausstattung der Immobilie pauschal berechnet, weil Zähler erst allmählich preiswerter und damit rentabel wurden. Anonymus (1866); Mohajeri (2005).

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wachstum zunehmend hinterherhinkte, um nicht durch Investitionstätigkeiten die Dividenden zu schmälern, wurde der Monopolvertrag nicht verlängert, und das erste Berliner Wasserwerk Stralau wurde 1873 städtisch. Die Monographie von Shahrooz Mohajeri widmet sich ausführlich der Ausbreitung der Leitungsnetze und Wasserwerkskapazitäten, wobei nicht nur wohlhabende Stadtteile in der Regel einen höheren Anschlussgrad an Wasserleitungen und insbesondere WCs verzeichneten, sondern auch in der Netztopographie zentral gelegene Areale häufig gleich mitangeschlossen wurden. Während die Verteilungsmuster in den 1870er Jahren nicht immer deutliche Korrelationen zwischen Ökonomie und Anschlussgrad zeigten – so wurde im Anschlussfall häufig das Hinterhaus gleich mitversorgt – blieben ökonomisch benachteiligte Außenbezirke allgemein unterversorgt.14 Über soziale und eigenwirtschaftliche Motive hinaus war es hauptsächliches Anliegen der entstehenden städtischen Leistungsverwaltung, die zentralen städtebaulichen Steuerungsinstrumente in der Hand zu behalten, insbesondere die Leitungsnetze.15 Mit erheblichen Investitionen in einen zweiten Wasserwerksstandort in Tegel sowie in das Leitungsnetz erzielte die Stadt die gewünschten Kapazitätserweiterungen mit Tendenz zur flächendeckenden Versorgung. Im Jahr 1890 war in allen Stadtteilen ein Anschlussgrad über 85 Prozent erreicht.16 Im Gegensatz zu den meisten freilich kleineren Städten, die durch häufige Erweiterungen an ihren ursprünglichen Wasserwerksstandorten mit dem Verbrauchsanstieg Schritt hielten ohne das Leitungsnetz grundlegend ändern zu müssen, 17 waren die Berliner Verhältnisse von zahlreichen gleichsam konkurrierenden Versorgungsnetzen gekennzeichnet, vor allem seit der Errichtung des dritten besonders groß angelegten Werks Müggelsee. Denn in diesen Wachstumsjahren entstanden auch in den Außengemeinden eigene Anlagen, allen voran die Charlottenburger Wasserwerke, so dass nicht erst mit der 14 | Mohajeri (2005), Karte 3. Allerdings ist die lineare Zunahme des Anschlussgrades mit der Etagenzahl kein Gegenargument, dass in der Belle Etage auf Wasserkomfort verzichtet worden wäre, vgl. Mohajeri (2005), S. 70, sondern höhere bzw. neuere bzw. größere Häuser lohnten eher einen Anschluss. 15 | Vgl. u.a. Wessel (1995); Anonymus (1866). 16 | Mohajeri (2005), S. 142f. Die im zeitgenössischen Qualitätsbewusstsein im neuen Werk eingeführte Grundwasserförderung wurde allerdings wegen Algenproblemen und Eisengehalt schon bald rückgängig gemacht. 17 | Vgl. z.B. Filter (1960); Weyl (1908).

116 | U LRICH K OPPIT Z Eingemeindungswelle zur Schaff ung von »Groß-Berlin« 1920 ein wie sonst eher in polyzentrischen Industriegebieten – insbesondere im Ruhrgebiet – typisches Versorgungsnetz mit zahlreichen Einspeisungsquellen entstanden war.18 Allokation und Auslegung der Wasserentnahmestelle(n) lassen Rückschlüsse auf Intentionen und Paradigmen der jeweiligen Bauherren zu, etwa hinsichtlich der gewünschten Qualität und Quantität. Weniger leicht zu interpretieren ist das historische Wachstum der Versorgungsinfrastruktur, denn in den vergleichsweise flexiblen Druckleitungsnetzen sind z.B. Fließrichtungen umkehrbar. Wesentlich weniger Freiheitsgrade weisen demgegenüber Gefällsleitungen auf, so dass klassische Aquädukte wie in Lissabon oder überwölbte Reinwasserbachläufe wie in Mailand sich trotz vergleichbarer Versorgungsmengen nicht gegen Druckwasserleitungen durchsetzen konnten.19 Weitgehend auf Gefällsleitungen basieren indes Netzwerke der Kanalisation, so dass an einem solchen Objekt sozialräumliche Disparitäten in einer Regionalstudie näher untersucht werden können.

3. Entsorgungsinfrastruk tur Eine laufende Regionalstudie zum Wachstum der Kanalisation in Düsseldorf 1874-1909 nutzt die auch in dieser Stadt häufig anzutreffenden Diskrepanzen im Röhrensystem zu historisch-sozialgeographischen Interpretationen.20 Schon die Literaturlage zu gut dokumentierten Straßenzügen zeigt, dass die renommierte Königsallee mehr als 25 Jahre früher angeschlossen wurde als die Citadellstraße 1902,21 obwohl Letztere zum Hauptauslass räumlich näher gelegen ist. Für eine solche Untersuchung erscheinen Druckleitungsnetze wie die Wasserversorgung weniger geeignet als das Kanalisationssystem, dessen Teilstrecken hinsichtlich ihres Gefälles bzw. ihres Durchmessers 18 | Mohajeri (2005), S. 181-187, Karte 4; zum Ruhrgebiet, wo das Leitungsgewirr im Strafprozess um die Gelsenkirchener Typhusepidemie 1904 undurchdringlich schien, vgl. Olmer (1998). 19 | Zu Mailand vgl. Neri Serneri (2005). 20 | Die Kanalnetzanalyse umfasst die Zeit vom Baubeginn 1874 bis zur Eingemeindungswelle 1909; laufende Arbeiten im Rahmen der geplanten Dissertation von Ulrich Koppitz zu Umweltaufgaben bei der Entwicklung moderner Wasserwirtschaft in der Region Düsseldorf, 1801-1914; vgl. einstweilen Vögele/Koppitz (2008). 21 | Zebisch (1968); Dross (1996).

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und ihrer Fließrichtung stärker fi xiert sind. Die Gefällsleitungen der Abwasserentsorgung, bei deren Anlage im 19. Jahrhundert Hebewerke nur zur Not eingeplant wurden,22 unterliegen zahlreichen technischen Sachzwängen wie Gefällsverhältnissen, Gewässertopographie, Trassenführung bzw. Wegenetz. Die Funktion besteht vorrangig im Transport von Abwasser, d.h. in der rein räumlichen Verlagerung eines hygienischen Risikos, welches ggf. durch eine Klärvorrichtung abgemindert werden kann; allerdings wird schon durch das Aufgraben grundwasserstauender Schichten ein wesentlicher Drainage-Effekt erzielt. Die verschiedenen Typen von Kanalisationsanlagen – nach Abwasserqualität sind Regenwasser-, Schmutzwasser-, Misch- oder Schwemmkanalisation, nach ihrer Netzstruktur Ring- oder Radialsysteme zu unterscheiden – weisen sämtlich ein baumähnliches Wachstum auf, von der Mündung ausgehend in die weniger voluminösen Verästelungen hinein (vgl. Abb. 1). Idealerweise müsste ein solches Kanalisationssystem vom Hauptauslass her vollkommen gleichmäßig in alle vorgesehenen Richtungen baumartig wachsend errichtet werden. Abweichungen vom zugrundeliegenden (neudeutsch: Master-)Plan sowie ungleichmäßige Ausführung verschiedener Haupt- und Nebenstränge weisen dabei auf Diskrepanzen hin, die meist nicht technisch zu erklären sind. Diese Diskrepanzen gegenüber regelmäßiger Planerfüllung können in Jahren, beispielsweise 25 im Falle der Düsseldorfer B1/C1-Strecken Königsallee und Citadellstraße, bzw. Streckenmetern in klar definierten Fehlergrenzen beziffert werden; anschließend erfolgen Korrelationen mit sozialstatistischen und demographischen Daten auf Stadtteilebene.23 Im Falle eines Hinterherhinkens, d.h. einer zeitlichen Verzögerung zeitweiser Unterversorgung und damit negativer Planerfüllungsquotienten könnten zwar kollaterale, z.B. (verkehrs-)technische Probleme vorgelegen haben oder eine mangelnde Kooperationsbereitschaft bzw. 22 | Das Berliner Radialsystem, das vor Einmündung in die Spree einen Pumpvorgang auf großflächige Rieselfelder vorsah, war eine kostenintensive hauptstädtische Besonderheit, vgl. Mohajeri (2005), 146-167. 23 | Vgl. Rademacher (1994). Da die Daten der knapp 1.000 Kanalstrecken derzeit erst für die erste Hälfte erfasst worden sind, kann leider noch keine Auswertung erfolgen, denn die Diskrepanzen wachsen mit fortschreitendem Erfassungszeitraum unproportional an. Die Fehlergrenzen des jahresweise zusammengefassten Streckenwachstums liegen bei plus/minus einem Baujahr und den für dieses Jahr durchschnittlich ausgebauten Streckenmetern; darüber hinaus gehende Diskrepanzen sind wie dargelegt interpretationsbedürftig bzw. -fähig.

118 | U LRICH K OPPIT Z Zahlungsfähigkeit der Anlieger. Positive vorzeitige Planerfüllung und zeitweise Überversorgung könnte dagegen mit technischen und organisatorischen Vorteilen der Erschließung neuer Straßenzüge sowie der effektiven Nachfrage gehobener Wohn- und Gewerbefunktionen einhergehen. Auch bei dieser Infrastruktur ist eine ausgesprochene Neigung zu kapitalkräftigen Arealen wenig verwunderlich; so konnten vergleichende Untersuchungen zur finanziellen Basis sanitärer Reformen in verschiedenen Städten Korrelationen zwischen wirtschaftlicher Stärke und Innovationsfreudigkeit nachweisen.24

Abbildung 1: Skizze zum baumartigen Normalwachstum eines Abwassernetzwerks

Allerdings sind am historischen Beispiel der rheinischen Großstadt Düsseldorf weitere Gründe für ein phasenhaftes und vielfältig gebremstes Wachstum dieses Netzwerks auszumachen. Obwohl nach der bis in die 1880er Jahre vorherrschenden Grundwasser-BodenTheorie des ersten deutschen Hygiene-Professors Max Pettenkofer zur Seuchenprophylaxe vor allem eine Drainage gefordert wurde, führten zunächst nur wenige Städte ein Kanalisationssystem ein, z.B. Frankfurt a.M.25 Die Mehrheit der Städte investierte dagegen zunächst in Wasserversorgungsanlagen, nicht zuletzt aus Rentabilitätsgründen.26 24 | Brown (2000). 25 | Zu Pettenkofer vgl. Weyer-von Schoultz (2006), zu Frankfurt vgl. Bauer (1998). 26 | Vögele (2001).

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Aus dem flächenhaften Wachstum der Stadt nach dem Schleifen der Festungsanlagen Anfang des 19. Jahrhunderts in das tiefer gelegene Gelände des ehemaligen Glacis hinein ergaben sich auch in Düsseldorf Schwierigkeiten mit der Vorflut für Neubauviertel und Straßen, zudem führten Probleme mit industriellen Abwässern zur Planung eines systematischen Kanalisationsnetzes. Hierzu wandte sich der amtierende Bürgermeister Ludwig Hammers an das renommierte Ingenieurbureau von William Lindley in Frankfurt, das bereits für die Ausführung des Wasserleitungsnetzes zuständig war. 1872 wurde der bis heute nachwirkende Entwurf vorgelegt, in dem das Kanalsystem, vor allem aus Gründen des Hochwasserschutzes in parallele Terrassen untergliedert, sämtliche Düsseldorfer Abwässer nach Norden leiten sollte, wo vor dem Hauptauslass in den Rhein Rieselfelder als Klärvorrichtung eingerichtet werden sollten. Zunächst aber schreckte die Stadtverwaltung vor dem gewaltigen Projekt zurück und begnügte sich damit, eine erste erweiterungsfähige Anlage parallel zu den innerstädtischen Bachläufen, insbesondere zum Schutz stehender Gewässer im Zuge von Hofgarten und Königsallee, 1874 bis 1876 errichten zu lassen. Dabei arbeitete die britische Ingenieur-Dynastie Lindley auch hier eng mit dem Frankfurter Bauunternehmer Philipp Holzmann zusammen.27 Besondere Stichkanäle wurden angelegt, um einige Färbereien anzuschließen und so die Gewässergüte der Düsselarme zu verbessern. Zu Hausanschlüssen an dieses ungeklärt in den Rhein mündende Kanalnetz kam es jedoch kaum, da die Bezirksregierung wie in den meisten preußischen Landesteilen 1877 unter dem Eindruck der heftig debattierten Flussverunreinigungsfrage den Anschluss von Aborten verboten hatte und die Stadt sich die Hausanschlüsse relativ teuer bezahlen lassen wollte. Daher kam die weitere Ausführung zunächst nur sehr schleppend voran, in den Jahren 1877-1882 wurden lediglich 600 m Kanalstrecke und kaum 60 Hausanschlüsse fertiggestellt, Letztere zählten noch zehn Jahre nach Baubeginn 1886 erst 160. Bei den Kommunalwahlen 1882 wäre die Kanalisation beinahe Wahlkampfthema geworden, hätten sich nicht alle Kandidaten unter dem Druck von Haus- und Grundbesitzern sowie Landwirten in der Tagespresse gegen das Projekt ausgesprochen.28 Auch bei der Beratung 1883 konnte der Oberbürgermeister, Friedrich Wilhelm Becker, das millionenschwere Kanalisationsvorhaben, das für das gesamte damalige Stadtgebiet bereits im Detail vor-

27 | Vgl. Hardy (2005). 28 | Ladd (1986), S. 165f.; Ladd (1988).

120 | U LRICH K OPPIT Z lag,29 nur durchsetzen, indem die Ausführung von Hausanschlüssen freiwillig blieb. Alle in die Kanalisation eingeleiteten Abwässer sollten so beschaffen sein, dass das Material der Kanäle keinen Schaden nehmen sollte, dennoch verschwanden die zahlreichen fabrikeigenen Kleinkläranlagen allmählich. Ansonsten machten seit 1877 die preußischen Aufsichtsbehörden der Stadt zur Auflage, ihre Abwässer vor einer Einleitung in den Rhein hinreichend zu klären.30 Zur Ausführung der von Lindley geplanten Rieselfelder oder anderer Kläranlagen konnte sich die Stadt jedoch fast zwei Jahrzehnte lang nicht entschließen, und ein Anschlusszwang galt zunächst nur für Neubauten, so dass 1889 die Tausendermarke überschritten wurde. Erst 1894 wurde die Einleitung aller Regen- und Hausabwässer von bebauten Grundstücken obligatorisch, und die Anschlusszahlen stiegen von 3.500 in jenem Jahr rapide an, um 1902 die Zehntausendermarke und damit eine flächendeckende Entsorgung zu erreichen. Um die Jahrhundertwende nahm die Stadt Planung und Bau einer Kläranlage in Angriff, welche zwar den Ansprüchen der Aufsichtsbehörden genügen, aber auch das Recht auf anteilige Gewässerverschmutzung wahren sollte,31 damit die auf die Kanalisationsgebühren umzulegenden Kosten möglichst gering bleiben konnten. Auch andernorts blieb die Einleitung menschlicher Fäkalien jahrzehntelang untersagt, weil zahlreiche Städte sich weigerten, hinreichende Kläranlagen einzurichten und die Aufsichtsbehörden zumindest diese Art von Flussverunreinigung unterbinden wollten.32 Andere Funktionen des Kanalisationssystems wie die Trockenlegung von Verkehrsflächen und Erschließung von Baugrundstücken waren gewährleistet und anscheinend wichtiger.33 Dabei ging es den Stadtvätern vor allem um die Steuerung des geradezu wuchernden Industrialisierungsprozesses, so dass nicht zuletzt durch Wasserver- und Entsorgungssysteme die Produktionsanlagen und die Lebensverhältnisse der Produzierenden gezielt gefördert und dabei die negativen Folgen in vielen ihrer Symptome wirksam be-

29 | Kanalisationsplan als Beilage zu: Architekten- und Ingenieursverein (1904). 30 | Vgl. Eulenberg (1883); von Simson (1978); zu Bayern Münch (1993). 31 | Architektenverein (1904). 32 | Vgl. allgemein u.a. Büschenfeld (1997); Gilhaus (1995); Olmer (1998). 33 | Vgl. Koppitz (2005).

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kämpft werden konnten. Auch bei zahlreichen Eingemeindungsplänen überzeugte das Argument einer guten Infrastruktur.34 Eine positive Korrelation zwischen Infrastrukturausbau und Sterblichkeitsrückgang, wie sie gelegentlich durch einfache Zeitreihen für einzelne Städte veröffentlicht worden sind, lässt sich historisch-statistisch allerdings kaum nachweisen, da der säkulare Sterblichkeitsrückgang überall zu beobachten war. Beispielsweise kam eine Regressionsanalyse der zwanzig größten deutschen Städte zu dem Ergebnis, dass die statistischen Zusammenhänge zwischen den sanitären Indikatoren wie privater Wasserkonsum, Filteranlagen und Kanalanschlüsse auf der einen Seite und Kindersterblichkeit, Sterblichkeit an Typhus oder gastro-intestinalen Krankheiten auf der anderen Seite mit höchstens drei Prozent verschwindend gering erscheinen.35 Ähnlich schwach ausgeprägte Korrelationen ergaben Städtevergleiche auch für Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten.36 Eine detaillierte Analyse von Stadtvierteln wurde im Falle Berlins bereits im Jahr 1893 von Theodor Weyl publiziert, der später auch als Herausgeber der Reihe »Assanierung der Städte in Einzeldarstellungen« bekannt wurde. Er verglich Sterberaten verschiedener Standesamtsbezirke, die er mit den sukzessive in Betrieb genommenen Radialbezirken des Berliner Kanalisationssystems soweit möglich in Deckung brachte.37 Das Ergebnis muss allerdings wenig signifi kant erscheinen, und Weyls voreingenommene Schlussfolgerungen riefen schon seinerzeit kontroverse Diskussionen hervor.38 Weyls Befund, dass die früher kanalisierten Stadtteile günstigere Sterblichkeitsdaten aufwiesen als die später kanalisierten Arbeiterviertel, wurde dann in den 1980er Jahren als Beweis für die schichtspezifische Benachteiligung herangezogen.39 Häufig waren es gerade die in hygienischer Hinsicht z.T. »katastrophalen« älteren Stadtviertel, deren Anschluss an die Kanalisation trotz mannigfacher Proteste auffallend spät realisiert wurde, wie z.B. in Frankfurt a.M. 40 Auch in dieser Forschungsperspektive erscheinen intensive kleinräumige Analysen vielversprechend, insbesondere des Wachstums von Abwassersystemen auf der Ebene von Straßen und 34 | Zur Trägerschaft dieses Gedankengutes und ihren Idealen vgl. Ladd (1988). 35 | Vögele (1998), S. 150-180; Vögele (2001), S. 494-495. 36 | Beemer (2005). 37 | Weyl (1893). 38 | Vögele/Koppitz (2006). 39 | Von Simson (1983); Spree (1981). 40 | Bauer (1998).

122 | U LRICH K OPPIT Z Stadtvierteln, um Korrelationen mit sozialstatistischen Indikatoren und Sterblichkeitsdaten zu finden. 41 Klassische Forschungsliteratur zu Entsorgungsnetzen veröffentlichen seit den 1970er Jahren die Arbeitsgruppen des nordamerikanischen Technikhistorikers Joel A. Tarr. Zunächst im Rahmen einer Auftragsarbeit zur »retrospektiven Technikfolgenabschätzung« geht es darum, wie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts »auf der Suche nach der ultimativen Senke« Idee und Umsetzung der Schwemmkanalisation durchsetzen konnten. Die Schwemmkanalisation unterscheidet sich von Trennsystemen dadurch, dass sie sämtliche Abwässer gemeinsam entsorgen soll und sowohl wegen der Niederschlagswasser aufwendig dimensioniert als auch wegen unspezifischer Reinigungsanlagen insgesamt mit hohen Kosten verbunden ist. Daher wurden aus finanziellen Gründen in Klein- und Mittelstädten insbesondere der USA Trennsysteme bevorzugt, die im Laufe des 20. Jahrhunderts dann tendenziell als rückständig galten und verdrängt wurden. 42 Aus der Perspektive einer »environmental justice« erscheint bei der Entsorgungsinfrastruktur aber nicht nur ein Nicht-angeschlossen-sein im Sinne einer Unterversorgung problematisch, sondern, weil es sich bei der Schwemmkanalisation prinzipiell um einen Vektor von Risiken handelt, vor allem die Allokation des Hauptauslasses, der gerne an die Stadtgrenze verlegt wird. 43

41 | Beemer u.a. (2005), insbes. S. 47-48. 42 | Vgl. u.v.a. Tarr (1988); Tarr (2002); Rose (2004) sowie zu Europa von Simson (1983) m. weiterf. Lit. 43 | Dies sicherlich nicht nur aus topographisch-technischen Gründen, weil Gefälleleitungen zu einem möglichst tief gelegenen Punkt streben. Im Bereich der Versorgung wäre dies teilweise mit einer Benachteiligung der Wassergewinnungsregionen zugunsten städtischer Ansprüche durch übermäßigen Wasserentzug vergleichbar, wie es vor allem in semi-ariden Gebieten häufig der Fall ist, etwa in Kalifornien oder Spanien; im humiden Mitteleuropa wurden die Auswirkungen der Frankfurter Wasserleitung auf die Region Vogelsberg kritisiert, vgl. Kluge/Schramm (1986).

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4. Außenwirkung der Net z werke: »Sanitäre« Infrastruk tur und Umwelt Spannend bzw. konfliktträchtig ist die Einbettung der siedlungswasserwirtschaftlichen Leitungsnetze in die Umwelt bzw. die Kulturlandschaft. Das Entsorgungsprinzip des NIMBY (not-in-my-backyard) wird durch kollektive Infrastruktur verlagert, wodurch grundsätzlich andere Kollektive beeinträchtigt werden; bei der Einleitung in Fließgewässer sind dies die sogenannten Unterlieger. Daher führte etwa die Einführung der Schwemmkanalisation in Frankfurt oder München zu erheblichen Protesten unterhalb am Fluss liegender Gemeinden. 44 Hier soll im Prinzip eine technische Lösung im Sinne einer end-ofpipe technique anstelle unkontrollierbarer Einleitungsverbote über die Schädlichkeit der Abwässer und damit den Charakter des entsprechenden Entsorgungsnetzwerks entscheiden, wobei noch so aufwendige Kläranlagen hinsichtlich ihrer Störanfälligkeit und Klärschlammentsorgung hinterfragt werden müssen. 45 Zudem wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass die vorgeblich unidirektionalen geschlossenen Leitungssysteme zahlreiche Querverbindungen aufweisen, so dass diese Netzwerke gerade an ihren Grenzen und darüber hinaus wirksam werden. Das angeblich strenge Abwassersystem wird in der Praxis gleichsam aufgeweicht, sowohl punktuell durch systemimmanente Notauslässe für Starkregenereignisse sowie am System vorbei durch Direkteinleitungsgenehmigungen als auch ubiquitär durch informelle Fehlanschlüsse und Undichtigkeiten zum evtl. kontaminierten Grundwasser, so dass meist von einem Sanierungsbedarf im Umfang von ca. 20 Prozent ausgegangen wird, verursacht durch Schwerverkehr, Baumaßnahmen, Bombenkrieg, aggressive Abwässer und den bezüglich der Abschreibung auf 100 Betriebsjahre angelegten Verschleiß. 46 Dennoch sollte die Norm eines geschlossenen Systems juristisch und heuristisch zum Aufspüren von Abweichungen nutzbar gemacht werden. In diesem Zusammenhang entwickelte sich ein weiteres mittlerweile klassisches Forschungsfeld in der Analyse langfristiger Entwicklungen des Stoff haushalts von Zivilisationen und insbesondere der Entsorgung städtischer Ballungsräume, etwa zu Schwermetallemissionen skandinavischer Städte47 oder vor allem der Arbeitsgrup44 | Bauer (1998), S. 267-364; Münch (1993), S. 207-225. 45 | Vgl. z.B. zu Klärschlammproblemen Rügemer (1995). 46 | Rügemer (1995). 47 | Mårald (2002).

124 | U LRICH K OPPIT Z pe um André Guillerme zum langfristigen Metabolismus, d.h. Wasser- bzw. Stickstoff haushalt, von Paris bzw. der Seine. 48 Dort hatte die Schwemmkanalisation nach englischem Vorbild die umfangreiche Poudrettefabrikation verdrängt. Letztere ging auf eine ausgefeilte Recyclingstrategie des für Landwirtschaft und chemische, nicht zuletzt auch Rüstungsindustrie bedeutsamen Stickstoffs zurück, wie sie von französischen Chemikern seit dem Ancien régime propagiert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts implementiert und statistisch akribisch dokumentiert worden war. 49 Ob und inwiefern allerdings der Metabolismus einer Zivilisation pathologisch erscheinen mag, bleibt bei räumlich beschränkten deskriptiven Analysen auch in langfristiger Perspektive problematisch.50 Immerhin können Infrastruktureinrichtungen erhebliche Persistenz entwickeln, so dass Teilstrecken der antiken Cloaca maxima, die auf ein sukzessiv überwölbtes Fließgewässer zurückgehen, für das römische Abwassersystem heute noch unverzichtbar sind, wobei künstliche und natürliche Wasserläufe gleichsam ineinander fließen. Zur Organisation siedlungswasserwirtschaftlicher Infrastruktur und Einbettung in das mehr oder weniger natürliche Fließgewässernetz wird seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert weltweit die Gliederung nach Einzugsgebieten, d.h. dem Watershed-Prinzip, propagiert. Hochgeschätzt werden etwa die Errungenschaften im Bereich der Wasserqualität und Fließgewässerökologie, die nicht erst im Zuge der Deindustrialisierung auf Druck der Internationalen Arbeitsgemeinschaft der Wasserwerke im Rheineinzugsgebiet (IAWR) erzielt worden sind.51 Demgegenüber kritisch betrachtet werden Wirkungsweise und Definitionsmacht der älteren Wasserverbände wie des Ruhrverbandes, vor allem aber die Abwasserverbände an Wupper, Niers und Emscher. Mehr noch als bei wirtschaftlichen Monopolen im Infrastrukturbereich handelt es sich bei diesen Wasserverbänden, analog zu den Deichverbänden,52 um eine Manifestation der Volonté générale mit umfassenden Befugnissen, die bezeichnenderweise im Ruhrgebiet einen der dichtestbesiedelten Flüsse, die Ruhr, nach Möglichkeit saniert haben auf Kosten eines anderen, der Emscher, die schlichtweg zum Abwasserkanal ausgebaut worden ist. 48 | Barles (2007); Barles (2005). 49 | Barles (2005); Guillerme (2005) m. weiterf. Lit. auch zum Projekt »Sisyphe«. 50 | Schramm (2006); Dinckal (2004). 51 | Cioc (2002); Arbeitsgemeinschaft (2007). 52 | Der Ruhrverband wurde im preußischen Staatsrecht analog zu Deichverbänden konstruiert, vgl. Gilhaus (1995).

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Die in diesem Beitrag vorgestellten Ansätze sozialräumlicher Netzwerkanalysen sollen Möglichkeiten aufzeigen, sowohl den Zeitfaktor als auch die herauszuarbeitenden (Un-)Regelmäßigkeiten und Normabweichungen interpretatorisch zu nutzen. Darüberhinaus dürfte deutlich geworden sein, dass eine Netzwerkanalyse je nach Quellenlage bei allem Interesse an intimen Funktionsweisen nicht die Außenperspektive vernachlässigen sollte, denn wie schon Bundeskanzler Kohl zitiert wurde, »entscheidend ist, was [.] rauskommt«.53

Summar y This paper does not focus on people networking but on comparatively simple and solid networks of urban infrastructure. The development of networks of supply and disposal in time and in space may reveal many insights into purpose and characteristics of these works. The central waterworks in Berlin on the one hand, the sewerage systems in Berlin and Düsseldorf on the other serve as examples. In a case study, technical constraints, which are rather stringent in case of sewerage systems, allow for an interpretation of historical network growth in comparison to an expected normal growth of these structures. Finally this paper demonstrates that every evaluation of a network, not only a concrete set of sanitary infrastructure, cannot confine itself to immanent functions but must take into account its effects on the environment.

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Kommunikation und soziale Beziehungen

Das Internet als Netzwerk des Wissens. Zur Dynamik und Qualität von spontanen Wissensordnungen im Web 2.0 Hans-Jürgen Bucher

1. Net z werke des Wissens »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben wissen, wissen wir durch die Massenmedien«. Dieser erste, scheinbar banale Satz in Luhmanns berühmter Abhandlung über die »Realität der Massenmedien«1 beinhaltet bei genauerer Betrachtung ein umfangreiches Forschungsprogramm, das gleichermaßen wissenssoziologisch und medienwissenschaftlich ist. Ohne dass es immer explizit thematisiert wurde, sind die Medien- und Kommunikationswissenschaften beispielsweise in der Nachrichtenforschung, der Analyse der Wissenschaftsberichterstattung und in der Rezeptionsforschung diesem Forschungsprogramm auch nachgekommen. Die Rolle, die das neueste Medium, nämlich das Internet, in der Wissensökonomie einer Gesellschaft spielt, ist bislang allerdings unterbelichtet geblieben2. Ein Grund dafür liegt in der neuartigen Kommunikationsstruktur dieses Mediums, das sich grundsätzlich von den traditionellen Distributionsmedien unterscheidet. Während Hörfunk, Fernsehen und Zeitungen als Push-Medien Information an ein disparates Publikum verteilen, ist das Internet ein Many-to-Many-Pull-Medium, in dem sich die Nutzer 1 | Luhmann (1996), S. 9. 2 | Vgl. Beaudoin (2008).

134 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER der von unbegrenzten Quellen angebotenen Informationen bedienen und ihrerseits selbst Informationen beisteuern. Der sogenannte usergenerated-content tritt als gleichberechtigtes Wissensangebot neben die Angebote der klassischen Wissensanbieter wie Massenmedien, Buchverlage, Nachrichtenagenturen, Verbänden und Organisationen. In der »Google-Gesellschaft« ist das Internet zum »globalen Gedächtnis«3 geworden, das von allen gespeist und genutzt werden kann. Dieser Übergang von der »analogen zur digitalen Wissensgesellschaft« bedeutet, dass »aktuell benötigtes Wissen nicht mehr von zentralen Institutionen generiert, sondern aus einem techno-sozialen Netz mannigfaltiger Informationsanbieter zusammengestellt wird«4. Der Strukturwandel der öffentlichen Kommunikation besteht demzufolge darin, dass die hierarchischen und vertikalen Strukturen der Wissensdistribution um ein horizontal strukturiertes Netzwerk des Wissens erweitert wurden. Die bislang von Experten vorgenommene Selektion und Qualitätskontrolle wird abgelöst durch eine dezentrale, selbstorganisierte Wissensordnung. Das wissenssoziologische Forschungsprogramm, wie es in der eingangs zitierten Luhmann-Passage formuliert ist, lässt sich ohne die Analyse dieses neuartigen Netzwerks des Wissens nicht mehr einlösen. Die Idee, dass Wissensproduktion in kommunikativen Netzwerken kollaborativ erfolgt, ist allerdings älter als das Internet und in der großen Studie von Randall Collins »The Sociology of Philosophies«5 bis auf die intellektuellen Netzwerke des antiken Griechenlands oder des klassischen Chinas zurückverfolgt worden. Collins’ zentrale Einsicht aus der Untersuchung dieser unterschiedlichen Wissenskulturen besteht darin, dass Wissen nicht individuell erzeugt wird, sondern: »[knowledge] consists in making coalitions in the mind, internalized from social networks«6. Seine Schlussfolgerung lautet: »Truth arises in social networks; it could not possibly arise anywhere else«7. Für eine kollektive Generierung von Wissen stellt das Internet eine idealtypische Struktur bereit: dezentral, leicht zugänglich, mit globaler Reichweite und formatneutral, so dass Texte, Abbildungen, Tabellen, Video- und Audiosequenzen, Datenbanken oder Programmierungen gleichermaßen austauschbar werden. Im Unterschied zu den wissenschaftlichen Expertennetzwerken sind am globalen Wissensspeicher

3 | Lehmann/Schetsche (2005), S. 17. 4 | Ebd., S. 19. 5 | Collins (1998). 6 | Collins (1998), S. 7. 7 | Collins (1998), S. 877.

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Internet allerdings auch Laien beteiligt, was die grundsätzliche Frage nach der Qualität des vernetzten Wissens aufwirft. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass viele (Laien-)Köche den Brei verderben, sieht James Surowiecki gerade in der Mischung aus Laien und Experten einen Garanten für die Qualität kollektiven Wissens und damit eine konstitutive Voraussetzung für die »Weisheit der Vielen«8. Kollektive Entscheidungen werden demnach umso besser, je individueller die einzelnen Entscheidungsträger entscheiden, und je weniger sie sich an anderen oder sogenannten Gurus orientieren. Die kollektive Summe der individuellen Intelligenz ist umso größer, je höher die Intelligenz einer jeden einzelnen Entscheidung ist – also je unabhängiger sie ist. Das gilt für Börsenkurse und das internationale Finanzgeschäft ebenso wie für öffentliche Wissensangebote. Die Qualität kollektiver Entscheidungen wird bestimmt durch die Individualität der Einzelentscheidung. Erst die Mischung aus Laien und Experten, nachdenklichen und spontanen Entscheidungen, garantiert für die Qualität der Kollektiventscheidung. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Abhängigkeit von Experten Entscheidungsqualitäten reduziert, wie beispielsweise der Irak-Krieg aber auch die globale Finanzkrise des Jahres 2008 belegen. Eine Einschränkung der Perspektiven hätte demnach die Tendenz, zu schlechten Entscheidungen zu führen. Die Sozialphilosophin Hanna Arendt hat unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten mit ganz ähnlichen Argumenten für Perspektivenvielfalt und Partizipation in einer Gesellschaft plädiert. So heißt es in ihrem Buch »Vita Aktiva oder vom tätigen Leben«: »Die Wirklichkeit des öffentlichen Raums erwächst aus der gleichzeitigen Anwesenheit zahlloser Aspekte und Perspektiven, in denen ein Gemeinsames sich präsentiert und für die es keinen gemeinsamen Maßstab und keinen Generalnenner je geben kann. … Nur wo Dinge […] von vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden […] kann weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten. […] Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt der Perspektiven.«9

Günstige Voraussetzungen für den Abgleich von Perspektiven und die Entstehung kollektiven Wissens bietet eine netzwerkartige Kommunikationsstruktur, die den Austausch von allen zu allen gewährleistet. Das Internet stellt – im Unterschied zu den klassischen Medien – für 8 | Surowiecki (2007). 9 | Arendt (1999), S. 71-73.

136 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER eine Kollektivierung des Wissens eine optimale Infrastruktur bereit. Die wissenssoziologische Forschung zu diesem neuen Medium hat sich bislang allerdings auf zwei Aspekte beschränkt: erstens auf das Archivieren, Suchen und Finden von Information und den Einfluss von Suchmaschinen auf die Wissensverbreitung;10 zweitens auf die Netzwerkanalyse der Hypertext- und Serverstrukturen.11 Dagegen waren die kollektiven Prozesse der Wissensgenerierung im kommunikativen Netzwerk, die Netzwerkkommunikation und die Netzwerkdynamik bislang kaum Gegenstand der Forschung. Kenntnisse der Strukturen dieser Netzwerk-Prozesse, der Bedingungen, unter denen sie sich abspielen, sind allerdings Voraussetzung sowohl für die Beurteilung ihrer Kommunikationsqualität als auch für die Würdigung des kollaborativ erzeugten Wissens. Im folgenden Beitrag werden dazu eine Bestandsaufnahme der internetbasierten Netzwerkkommunikation sowie erste Forschungsbefunde aus einem DFG-Projekt vorgestellt.12

2. Das Internet als spontanes Net z werk Obwohl der Begriff des Netzes in der Bezeichnung Internet enthalten ist, hat es relativ lange gedauert, bis dieses neue Medium unter einem Netzwerkgesichtspunkt erforscht wurde. Zwar wurden Visualisierungen des Internets schon frühzeitig als Netzwerk-Darstellung umgesetzt, um so beispielsweise seine regional unterschiedliche Dichte, seine zentralen Knoten oder seine Entwicklungsdynamik sichtbar zu machen.13 Aber die Sichtweise auf dieses neue Kommunikationsuniversum blieb lange Zeit geprägt von den Metaphern des Information Highways und des Cyberspace.14 Eine erste frühe und prominente Anwendung des Netzwerkbegriffs erfolgte durch Manuel Castells in seiner umfassenden Monografie »The Rise of the Network-Society« aus dem Jahre 1996. Er diagnostiziert, dass eine »Vernetzungslogik« die traditionellen hierarchischen und vertikalen Organisationsformen der Über- und Unterordnung abgelöst hat. »Networks constitute the new social morphology of our societies, and the diff usion of networking

10 | Erlhofer (2007); Machill/Welp (2003). 11 | Barabási (2003); Barabási/Bonabeau (2004); Park (2003). 12 | DFG-Projekt »Netzwerkkommunikation im Internet«, vgl. www. netzwerke-im-internet.de/home/index.html. 13 | Vgl. Cheswick (1998); Huberman (2001). 14 | Vgl. Bucher (2004).

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logic substantially modifies the operation and outcomes of processes of production, experience, power and culture«.15 Einen regelrechten Karrieresprung machte der Begriff des Netzwerkes im Kielwasser des Web 2.0-Booms und der Verbreitung der entsprechenden Internet-Anwendungen. Tim O’Reilly, dem die Erfindung des Ausdrucks Web 2.0 nachgesagt wird, definiert das Phänomen folgendermaßen: »Web 2.0 ist ein Name, den wir einem tief sitzenden, langfristigen Trend anhängen: Alles wird miteinander verknüpft. Das Internet wird zu einem Kleber, der alles verbindet, was wir anfassen.«16 Als Prototypen für Web 2.0-Phänomene und das sogenannte Mitmach-Internet gelten die Weblogs, die bereits eigene Teilöffentlichkeiten konstituieren – Blogosphere genannt –, die Wikis als kollektive Enzyklopädien, kollaborative Klassifi kations- und Verschlagwortungssysteme wie beispielsweise »deli.cio.us«, die man als öffentliche und kommentierte Bookmarksammlungen sehen kann, Networking-Plattformen wie StudiVZ oder MySpace, aber auch Tausch- und Auktionsplattformen wie eBay, Flickr oder YouTube, auf denen Konsumgüter, Fotos, Audiobeiträge (Podcast) oder Videos getauscht werden. Die »Macht über die Massen«, wie es für die klassische 1.0-Mediengesellschaft üblich ist, wird im Web 2.0 zur »Macht der Massen«, die sogar eine »heimliche Medienrevolution« 17 auslösen soll und jeden Konsumenten prinzipiell auch zum Produzenten macht. Als Infrastruktur soll das Internet die Entfaltung der »Weisheit der Vielen« bzw. die Entstehung von »Schwarmintelligenz« garantieren. Ein Nachweis für diese strukturelle Qualität von Netzwerkkommunikationen ist bislang allerdings kaum versucht worden, sieht man einmal ab vom Vergleich zwischen Wikipedia einerseits und der Enzyclopaedia Britannica oder dem Brockhaus andererseits, oder von einigen journalistischen Analysen der Weblogkommunikation18 . Die von anderer Seite geäußerte Befürchtung, dass Open-Source-Kommunikationen, in denen die klassischen Rollenverteilungen von Profis und Laien, Gatekeepern 19 und Konsumenten, Sendern und Empfängern aufgehoben ist, auch zum »kollektiven Wahnsinn« führen könne, ist jedenfalls nicht widerlegt. Theoretisch interessant ist aber nicht sosehr die Frage, 15 | Castells (1996-1998), S. 496. 16 | spiegel-online-Interview, 30.11.06 www.spiegel.de/netzwelt/web/ 0,1518,451248,00.html. 17 | Möller (2005). 18 | Bucher/Büffel (2005); (2006); Neuberger (2006). 19 | Personen, die aufgrund ihrer Position Informationsflüsse kanalisieren können.

138 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER ob einzelne Beispiele der genannten Kommunikationsnetzwerke eine bessere Qualität als vergleichbare Angebote aus linearen Kommunikationsformen aufweisen. Theoretisch relevant ist die Frage eines strukturell bedingten Qualitätsvorsprungs der Netzwerkkommunikation gegenüber sequentiell organisierten Kommunikationsformen. Noch grundsätzlicher stellt sich bei einigen der genannten Phänomene die Frage, ob wir es überhaupt mit Netzwerkkommunikation zu tun haben, oder nicht eher mit einem »Tsunami der Selbstdarstellungen« wie die New York Times die diversen Plattformen mit »user-generated content« bezeichnet.20 Die in der Überschrift des New York Times-Beitrags aufgeworfene Frage »Online, everybody’s a star. But who among them really shines?« lautet in die Sprache der Netzerkanalyse übersetzt: Wer wird zu einem Knoten im Netz, der so viele Verbindungen auf sich vereint, dass er online sichtbar wird? Sowohl die Frage nach der Kommunikationsqualität onlinebasierter Netzwerke als auch die Frage ihrer Identifizierbarkeit setzt logischerweise voraus, dass der Begriff des Netzwerkes und der Begriff der Netzwerkkommunikation geklärt sind, was der folgende Abschnitt leisten soll.

3. Begrif fliche Klärungen: Net z werk und Net z werkkommunikation 3.1. Aspek te der Net z werkanalyse: Struk tur und Kommunikation Wird der Begriff des Netzwerkes im Zusammenhang mit dem Internet verwendet, so geschieht das oft nicht terminologisch sondern in metaphorischer Weise. Das Netzwerk wird als Bild für die Komplexität des Gegenstandes genommen, wie sie durch seine kommunikative Vielschichtigkeit, die massenhafte Beteiligung und seine globale Reichweite bedingt ist. Netzwerktheorien und Ansätze der sozialen Netzwerkanalyse, die in verschiedenen Fachdisziplinen bereits seit längerem diskutiert werden21, haben in die Internetforschung bislang erst ansatzweise Eingang gefunden22. Dementsprechend vielfältig und widersprüchlich wird der Netz20 | New York Times International Weekly (18.12.2006), S. 1. 21 | Zusammenfassend: Holzer (2006); Scott (2000); Wasserman/ Faust (2005). 22 | Barabási (2003); Barabási/Bonabeau (2004); Bellomi/Bonato (2005); Gruhl/Guha/Liben-Nowell/Tomkins (2004); Korfiatis/Poulos/Bokos (2006); Stegbauer (2008); Stegbauer/Rausch (2006).

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werbegriff verwendet. Grundsätzlich lassen sich in der Internetforschung vier verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs unterscheiden: (i)

eine technische Verwendungsweise, der zufolge Netzwerke IT-basierte Strukturen sind, deren Zusammenhang über Surfer- und Rechnerverbindungen, über Software – z.B. Wiki- und Weblogsoftware –, über Benachrichtigungssysteme wie RSS-Feeds oder über Metatechnologien wie Suchmaschinen hergestellt wird. (ii) eine morphologische Verwendungsweise, der zufolge das Internet als spontane Ordnung verstanden wird, die aus Knoten – Websites, Webpages, Domains oder Akteuren – und ihren Verbindungen – Hyperlinks – besteht. Diese Sichtweise liegt beispielsweise der Idee Barabásis zugrunde, das Internet als skalenfreies und offenes Netzwerk zu modellieren (s.u.). Sie findet sich auch in der Idee von Broder et al., das Internet auf der Basis der Verlinkungsstrukturen in Zentren und Peripherien aufzuteilen23. Die datentechnische Verfügbarkeit und die Organisation über Hyperlinks hat das Internet schon früh zu einem idealtypischen Untersuchungsfeld der morphologischen Netzwerkanalyse gemacht24. (iii) eine hypertextuelle Verwendungsweise, der zufolge das Internet als Netzwerk von Einzeldokumenten gesehen wird. Auf die Vorgängigkeit dieser Ebene bei der Beschreibung von Internetstrukturen weisen Rafaeli/Sudweek hin: »The most ›real‹ part of the social phenomenon of communication is the text exchanged – more real even than the groups, people, and emotions involved«25 . Ganz im Sinne dieser Sichtweise von Texten verstehen Gibson u.a. das Internet als »hypertext corpus of enormous complexity« (1998), aus dessen Verlinkungen mittels Netzwerkanalysen Gemeinschaften – »hyperlinked communities« – ableitbar sind. Der hierauf auf bauende Ansatz der sogenannten Hyperlink-Network-Analysis argumentiert: »patterns of hyperlinks reflect the communicative choices, agendas, or ends of the owners. Thus, the structural pattern of hyperlinks in their website serves a particular social or communicative function«26 . Damit ist bereits eine vierte Verwendungsweise des Netzwerkbegriffs angesprochen: (iv) eine interaktional-soziale Verwendungsweise, bei der das Internet unter dem Gesichtspunkt einer kommunikativen Ordnung, als 23 | Broder/Kumar/Maghoul/u.a. (2000). 24 | Gibson/Kleinberg/Raghavan (1998); Jackson (1997). 25 | Rafaeli/Sudweeks (1997). 26 | Park (2003), S. 53.

140 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER Gemeinschaft, Teilgemeinschaften oder Teilöffentlichkeiten betrachtet wird, die sich aus den kommunikativen Handlungen der Online-Akteure – Nutzer und Kommunikatoren – konstituiert. »The hyperlinks are reflections of social interactions«27, die sich in der »Web sphere«28, den »Web communities«29 oder der Blogoshere abspielen und diese zugleich konstituieren. Die handlungstheoretisch ausgerichtete Interaktivitäts-Forschung hat diesen Netzwerkbegriff zugrunde gelegt30, der auch an die ethnographischen Ansätze der Internetforschung anknüpft, in denen das Internet einerseits als durch Technik hervorgebrachte Kultur, andererseits als kulturell hervorgebrachte Technik gesehen wird.31 Es ist leicht zu sehen, dass jede Perspektive ihre Berechtigung hat und zu produktiven Fragestellungen führen kann. Der in diesem Beitrag verwendete Begriff der Netzwerkkommunikation soll deutlich machen, dass die dynamischen Aspekte des Internets im Vordergrund stehen und online-basierte Netzwerke als Kommunikationszusammenhänge verstanden werden. Deshalb soll im Folgenden der Schwerpunkt auf den Verwendungsweisen (ii) bis (iv) sowie ihren Zusammenhängen liegen. Die technische Ebene wird dabei im Sinne eines Handlungsrahmens als sozio-technischer Kontext32 verstanden: in der computerbasierten Kommunikation ermöglicht die Hard- und Software-Technik bestimmte Handlungsweisen und ist auch Voraussetzung für deren kommunikative Weiterentwicklung, wie es beispielsweise an den RSSFeeds oder den Tags zu sehen ist. Sie determiniert aber die Handlungen nicht, da die Entscheidung über ihre Nutzung bei den Akteuren liegt. Wie bereits die Ausdiffernzierung der Verwendungsweisen zeigt, liegt die Attraktivität des Netzwerkbegriffs in seinem Integrationspotential, das bereits den Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere motivierte33: Der Begriff des Netzwerkes wurde in die Soziologie eingeführt, um bei der Erklärung sozialer Ordnungen dem Dilemma zwischen makrosoziologischem Strukturfunktionalismus und mikrosoziologischen Handlungstheorien zu entgehen: »Netzwerkanalyse 27 | Reid (2004). 28 | Schneider/Foot (2004). 29 | Reid (2004). 30 | Zusammenfassend: Bucher (2004). 31 | Vgl. Hine (2000), insb. S. 38ff. 32 | Efimova/de Moor (2005). 33 | Holzer (2006); Rogers/Kincaid (1981), S. 95; Wasserman/Faust

(2005).

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kann (…) ein Instrument sein zur Verbindung von Akteur- und Handlungstheorien mit Theorien über Institutionen, Strukturen und Systeme. Sie dient der Integration von Mikro- und Makroansätzen in den Sozialwissenschaften«34. Netzwerke, so könnte man vor dem Hintergrund dieser integrativen Auffassung formulieren, sind Phänomene der Dritten Art, wie sie der Wirtschaftswissenschaftler v. Hayek benannt und beschrieben hat: »Spontane Ordnungen«, die das Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlicher Planung sind35. In Anlehnung an von Hayek stellt Huberman für das Internet fest: »The connections between the actions of individuals and the global pattern one observes is not always an obvious one, the reason being that the system behaviour cannot be explained by simply adding up all actions and intentions of its individual parts. (…) Following a single individual in her surfing behaviour on the web will not predict much about surfing in general, or how congestions take place on the internet, or the success of given businesses«36. Für dieses non-lineare System, das er auch als Ökosystem« bezeichnet37 schlägt er dementsprechend einen »aggregierten Blick« vor, der den Zusammenhang zwischen den Teilen und dem Ganzen herstellt und die »versteckten Regelhaftigkeiten« des Internets erkennen kann. Unter diesem »aggregierten Blick« wird die Doppelstruktur von Netzwerken mit individuellen Handlungen einerseits und überindividuellen Strukturen andererseits erkennbar, was Anthony Giddens als charakteristisch für soziale Ordnungen überhaupt betrachtet: Struktur bedeutet immer gleichzeitig statische Strukturvorgabe und dynamische Strukturierung 38 . Dieser Doppel-Logik sozialer Ordnungen zufolge sind für die Analyse von Netzwerken zwei Perspektiven zu unterscheiden, denen auch zwei verschiedene Netzwerkbegriffe zugrunde liegen: eine Außenperspektive, bei der die Morphologie – also die Strukturen – im Zentrum steht, und eine Innenperspektive, bei der einzelne Knoten bzw. Akteure und die sie verbindenden Interaktionen untersucht werden. Dem Aspekt der Interaktion, also der sozialen Dimension von Netzwerken, ist gegenüber dem morphologischen bislang bedeutend weniger Aufmerksamkeit zu Teil geworden39. Ein Großteil der Begriffsverwirrungen in Bezug auf Netzwerke beruht darauf, dass nicht klar zwischen diesen beiden grund34 | Jansen (2003), S. 11; vgl. auch Holzer (2006), S. 74-79. 35 | Hayek (1969), zitiert nach Keller (1990), S. 54. 36 | Huberman (2001), S. 21, 23. 37 | Huberman (2001), S. 16. 38 | Giddens (1995), S. 67-81; vgl. auch Bucher (2000). 39 | Vgl. Schenk (1984), S. 63.

142 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER sätzlich verschiedenen Perspektiven unterschieden, bzw. eine der beiden Perspektiven verabsolutiert wird. Blendet man die Innenperspektive aus, so scheint es plötzlich soziale Netzwerke ohne Akteure geben zu können oder man muss auch biologische Netzwerke – wie einen Zellverband oder eine Vogelflugformation – mit demselben Werkzeug analysieren. Ohne die Außenperspektive dagegen geht der relationale Charakter von Akteuren und Handlungen verloren. Man übersieht den Sachverhalt, dass Akteure auch Netzwerkknoten sind, mit unterschiedlich starken Verbindungen, und dass als Folge die analysierten Handlungsweisen ein Netzwerk als soziale Ordnung konstituieren.

3.2 For schungsansät ze zur Analyse von Net z werkkommunikationen im Internet Die Überlegungen zum Netzwerkbegriff zeigen, dass der Begriff mehr ist als eine Metapher für das Internet, sondern eine theoretische Perspektive bietet, in der eine integrierte Behandlung von Mikro- und Makrostrukturen, von Texten und Hypertexten einerseits, von Handlungen, Interaktionen und Gruppenbildungen andererseits, möglich wird. Die Analyse des Internets als Netzwerkkommunikation erfordert den bisherigen Differenzierungen zu Folge drei unterschiedliche theoretisch-methodische Zugänge: 1. Die Analyse der online-spezifischen Diskursstrukturen und Kommunikationsdynamik, wie sie in der Computer Mediated Discourse Analysis40, in der Diskurstheorie41 oder der medienwissenschaftlichen Kommunikationsanalyse42 angelegt sind. 2. Die Analyse der Verlinkungsstrukturen als Rekonstruktion der Interaktionsbeziehungen zwischen den Akteuren, wie sie in der Hyperlink Network Analysis angelegt ist. 43 3. Die morphologische Netzwerkanalyse, die die Makrostrukturen von Online-Kommunikationen zum Gegenstand hat und die an die soziale Netzwerkanalyse anknüpft 44. 40 | Herring/Scheidt/Bonus/Wright (2004). 41 | Keller (2005); Kohl/Liebert (2004); Liebert (2004). 42 | Bucher (1998); (2005). 43 | Park (2003); Park/Thelwall (2003); Thelwall (2004); Thelwall/ Ruschenburg (2006). 44 | Barabási (2003); Holzer (2006); Huberman (2001); Jansen (2003); Stegbauer/Rausch (2006).

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Der unter Punkt 1 genannte Zugang nimmt konsequent die Innenperspektive ein und rekonstruiert den Sinn und die Bedeutung der Netzwerkaktivitäten aus der Perspektive der Akteure. Die morphologische Analyse ist dagegen nur aus einer Außenperspektive möglich. Für die Beschreibung der Netzwerkmorphologie und ihrer Entwicklungsdynamik bietet die soziale Netzwerkanalyse (Social Network Analysis) eine ganze Reihe von begrifflichen Werkzeugen 45. Mit der Basisunterscheidung von Knoten und Kanten bzw. Verbindungen sind die Grundelemente gegeben, die das Netzwerk konstituieren. Die soziale Position in einem Netzwerk kann bestimmt werden durch die Ermittlung der Zentralität eines Knotens, wie sie durch seine entsprechenden Verbindungen konstituiert wird. Die sogenannte DegreeZentralität drückt die Anzahl der Verbindungen aus, die ein Knoten auf sich vereinigen kann. Dabei ist es für das Internet entscheidend, zwischen ein- und ausgehenden Verbindungen zu differenzieren: eine hohe Anzahl von eingehenden Verbindungen kann beispielsweise auf die hohe Prominenz des entsprechenden Akteurs hinweisen, wie es auch die Häufigkeit der Zitierungen eines bestimmten Autors in der Scientific Community tut. 46 Eine hohe Anzahl von ausgehenden Knoten macht einen Akteur und seine Website möglicherweise zu einem interessanten Ausgangspunkt (»Hub«), ohne dass diese Relevanz automatisch mit einer entsprechenden Autorität oder entsprechendem Einfluss verbunden ist: wenn niemand dieses Angebot findet, kann es seine Verlinkungsfunktion auch nicht erfüllen 47. Neben der DegreeZentralität, werden noch zwei andere Formen der Zentralität unterschieden: die Closeness-Zentralität, die die durchschnittliche Pfaddistanz zu anderen Knoten ausdrückt, bestimmt die Erreichbarkeit eines Knotens, was beispielsweise bei der Unterscheidung in Zentrum und Peripherie von Online-Netzwerken eine Rolle spielt 48. Die dritte Form der Zentralität, die Betweenness-Zentralität, drückt die Vermittlungsleistung eines Knotens aus und wird danach bestimmt, wie viele Netzwerkverbindungen über den entsprechenden Knoten verlaufen. Entlang der drei Formen der Zentralität lässt sich das Sozialkapital eines Netzwerk-Akteurs – sein Prestige und sein Einfluss – bestimmen als der Grad seiner Einbindung, seiner Erreichbarkeit und seiner Vermittlungsleistungen. 45 | Vgl. zum Folgenden: Holzer (2006); Jansen (2003); Scott (2000); Wasserman/Faust (2005). 46 | Siehe auch die Beiträge von Fangerau in diesem Band. 47 | Vgl. Reid (2004), S. 60. 48 | Broder/Kumar/Maghoul/u.a. (2000).

144 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER Von diesen knoten- oder akteursbezogenen Analysen von Netzwerken lassen sich struktur- oder relationsbezogene Analysen unterscheiden, bei denen Fragen nach der Dichte eines Netzwerkes, seiner inneren Differenzierung in Teilgruppen oder die Art der Beziehungen (starke versus schwache Verbindungen) im Vordergrund stehen. In diese makrostrukturelle und mathematisch-statistisch ausgerichtete Forschungstradition gehört die Small-World-Forschung, die der Frage nachgeht, wie viele Links erforderlich sind, um in einem Netzwerk einen beliebigen Knoten zu erreichen. Gerade aus dieser Makroperspektive heraus hat sich gezeigt, dass das Internet morphologisch ein Netzwerk spezifischer Art ist: die quantitative Verteilung der Knoten ihrer Größe nach erfolgt im Internet nicht, wie in sozialen Netzwerken üblich, nach einer Normalverteilung mit vielen mittleren Knoten und wenigen großen und kleinen Knoten, sondern nach einem Power-Law. Es gibt sehr viele Knoten mit ganz wenigen Verbindungen und nur wenige Knoten mit sehr vielen Verbindungen. Aufgrund des Prinzips des präferierten Anschlusses (»preferential attachment«) werden OnlineAngebote bevorzugt auf solche Angebote verlinkt, die als Knoten schon viele Verlinkungen aufweisen, um so indirekt die Zentralität des eigenen Angebotes zu erhöhen. Barabási, der diese Entwicklungstendenzen auch empirisch nachgewiesen hat, bezeichnet das Internet deshalb als skalenfreies und offenes Netzwerk 49, dessen Entwicklung von der Tendenz bestimmt wird, dass einflussreiche Knoten immer einflussreicher werden (Matthäus-Prinzip: »Wer hat, dem wird gegeben«). Die Hyperlink-Network-Analysis verbindet die morphologische Außenperspektive mit der interaktionalen Innenperspektive, da sie sowohl den einzelnen Knoten als spezifischen Akteur berücksichtigt als auch dessen Funktion im Auf bau des Netzwerkes. Insofern spiegelt sich in der Definition des »Links« als Verbindung der Netzwerkknoten die Mehrdimensionalität des Netzwerkbegriffs. »Hyperlinks on the web are considered not simply as a technological tool but as newly emerging social or communicational channel. The website is regarded as an actor and the hyperlink among sites represents a relational connection or link«50. Da Hyperlinks Manifestationen der Vernetzungsaktivitäten darstellen, enthüllt ihre Analyse auch die Doppelstruktur von Online-Netzwerken: »Hyperlink analysis not only reveals the social structure of the Internet, but also can be used to examine the communication among actors«51. Erst ein mehrdimensionaler Netzwerk49 | Barabási/Bonabeau (2004); Barabási (2003). 50 | Park (2003), S. 50. 51 | Park (2003), S. 58.

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begriff, wie er hier entwickelt wurde, ermöglicht dementsprechend die Integration der genannten theoretisch-methodischen Ansätze und Perspektiven52. Am Beispiel von zwei prototypischen Erscheinungsformen der Netzwerkkommunikation, den Weblogs und den Wikis, soll die Anwendbarkeit dieser multiperspektivischen, kommunikativen Netzwerkanalyse illustriert werden. Es wird sich zeigen, dass Wikis und Weblogs aufgrund ihrer strukturellen Unterschiede auch zwei produktive Vergleichsobjekte darstellen, um die Bandbreite der Netzwerkkommunikationen im Internet zu typisieren.

4. Wissenskommunikation als Netzwerkkommunikation: Weblogs und Wikis Der Begriff des Wissens besitzt bei analytischer Betrachtung eine dynamische und eine statische Dimension: Wissen wird als Produkt abgelegt, archiviert und gespeichert, und es wird in einem dynamischen Prozess erarbeitet, erworben, generiert, modifiziert und verbreitet. Der Begriff des Wissensraumes, in dem Wissensbestände auf bewahrt werden, bezieht sich nur auf die statische Dimension. Betrachtet man Wissen allerdings unter dem Aspekt des Netzwerkes, so lassen sich beide Dimensionen – die statische und die dynamische – zusammenbringen: »Damit öffnet sich das Bild der Vernetzung in die Darstellung einer Dynamik, in der die Ordnungen des Wissens als Resultat eines Prozesses, die gefundene Ordnung als Kondensat einer Entwicklung und die Bestimmung der Wissensordnung als temporär beschrieben werden. Es entsteht so etwas wie das Bild eines sich im Fluss konstituierenden Ordnungsgefüges«53. Man kann diese Beschreibung einer »neuen Wissensordnung« – so der Titel von Breidbachs Buch – als exakte Charakterisierung der Wissensgenerierung im Web 2.0 lesen, wie sie in besonderer Weise in Weblogs und Wikis zu finden ist. In beiden Fällen handelt es sich um soziale Phänomene mit einer Doppelstruktur, die sich aus statischen und dynamischen Elementen zusammensetzt: Wikis und Weblogs sind als archivierte Hypertexte betrachtet »networks of documents« und als dynamische Kommunikationsereignisse »networks of people« und damit »soziale Hypertexte«54. Beide Kommunikationsformate erfüllen die Funktion einer 52 | Ausführlich dazu: Bucher/Erlhofer/Kallass/Liebert (2008). 53 | Breidbach (2008), S. 168. 54 | Chin/Chignell (2006), S. 11.

146 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER kollektiven Wissensgenerierung: Weblogs in ihren unterschiedlichen Ausprägungen liefern das Fakten- und Einordnungswissen für die aktuelle Chronik der Ereignisse, Wikis als Stadtwikis, als Firmenwikis oder als Online-Enzyklopädien fungieren als beständige Wissensreservoirs, die permanent umgearbeitet und ergänzt werden können. Allerdings unterscheiden sich Wikis als Enzyklopädien »in progress« von Weblogs als aktuellen Journalen hinsichtlich einer ganzen Reihe von Gesichtspunkten: • • • • • •

der kommunikativen Grundfunktion der einzelnen Netzwerkbeiträge, der jeweiligen Kommunikationsdynamik, der Typologie der Links und der Verlinkungsmuster, der Art der Interaktionszusammenhänge zwischen den Akteuren, der Makrostruktur des Kommunikationsnetzwerkes, der typischen Kommunikationsmittel, mit denen die Netzwerkkommunikation realisiert wird.

In den folgenden beiden Abschnitten werden Wikis und Weblogs hinsichtlich ihrer wissensgenerierenden Leistung analysiert, wobei die genannten Unterschiede aufgegriffen und exemplifiziert werden.

4.1 Weblogs: konver sationelle Hyper tex te Weblogs sind – so die konsentierte formale Beschreibung – »regelmäßig aktualisierte Internetseiten, in der die Beiträge in chronologischer Abfolge erscheinen und auf der die jeweils neuesten Beiträge an oberster Stelle stehen«55. Durch die Möglichkeit, die Beiträge zu kommentieren und auf andere Online-Angebote zu verweisen, entstehen einerseits Netzwerke von Dokumenten und andererseits Netzwerke von Akteuren56 . Gerade ihr Netzwerk-Charakter (Blogosphere) gilt als konstitutiv für Weblogs und ist dementsprechend auch als Ausgangspunkt für verschiedene Analysen der neuen Kommunikationsform verwendet worden. Weblogs werden gesehen als »completely connected conversations covering every imaginable topic«57, die sich von anderen Online-Angeboten durch ihren hochgradig sozialen Charakter unterscheiden. Die Links sind, so Marlow, »the social currency of this

55 | Schönberger (2006), S. 233; vgl. auch Picot/Fischer (2006). 56 | Vgl. Schmidt (2006), S. 13; Bucher/Büffel (2006). 57 | Marlow (2004), S. 1.

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interaction«58. Funktional betrachtet sind für Weblogs allerdings verschiedene Linktypen zu berücksichtigen, die auch ganz unterschiedliche Netzwerkstrukturen konstituieren. Je nach ihrer Funktion tragen Links in Weblogs dazu bei, dass ein Beitrag in seine Kommunikationsgeschichte, in den jeweils aktuellen Dialogzusammenhang oder in seinen sozialen Kontext eingebettet wird. (i)

Die Beitrags- oder Content-Links, die in einen Blogeintrag (Posting) integriert sind, und mit denen auf eine Bezugsquelle oder ein Posting entweder im eigenen oder in einem anderen Blog verwiesen wird. Die kommunikativen Funktionen dieses Linkstyps sind vielfältig: sie umfassen Quellenangaben zitierter Passagen, Verweise auf kommentierte Beiträge in anderen Blogs oder OnlineMedien oder auf thematisch verwandte Beiträge. Dieser Linktyp macht die Vorgeschichte eines Beitrags rekonstruierbar. Durch sogenannte Permalinks ist gewährleistet, dass jeder einzelne Blogbeitrag durch eine spezifische URL auch auf Dauer indizierbar bleibt. (ii) Die Kommentarlinks, die auf die Kommentare zu einem bestimmten Beitrag verweisen. Kommentare zu einem Beitrag sind im Kommentarraum in der Regel chronologisch nach Aktualität geordnet. Kommentare umfassen eine breite Palette kommunikativer Handlungen: Anerkennungsäußerungen, explizite Ablehnung oder Zustimmung, Ergänzungen zu einem Beitrag, Gegenargumentationen, oder Hinweise auf Verstehensprobleme. Der Kommentarlink am Fuß eines Beitrags zeigt auch an, wie viele Kommentare bereits eingegangen sind, und indiziert damit auch die Wertigkeit des entsprechenden Beitrags. (iii) Die Trackbacks, die gewissermaßen in die Nachgeschichte eines Beitrags verweisen. Sie eröffnen dem Leser den Zugang zu den Beiträgen, in denen auf den entsprechenden Blogbeitrag reagiert wurde, die also zu seiner Rezeptionsgeschichte gehören. Entscheidend ist, dass das vom jeweils aktuell gelesenen Beitrag aus möglich ist, da Trackbacks sich in der Regel ebenfalls am Fuß eines Beitrags befinden. (iv) Die Blogroll, mit der Weblogautoren auf andere Blogs verlinken, die sie entweder lesen, als thematisch verwandt auffassen oder empfehlen wollen.

58 | Marlow (2004), S. 3.

148 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER Während die Linktypen (i) bis (iii) fast ausschließlich auf Einzelbeiträge verweisen und so einen thematisch zusammenhängenden Hypertext konstituieren, verweisen die Links der Blogroll auf ganze Homepages. Da sie in der Regel auch kaum geändert werden, konstituieren sie dementsprechend keinen singulären Kommunikationszusammenhang, sondern eine relativ stabile virtuelle soziale Beziehung. Es ist leicht erkennbar, dass das Ergebnis einer linkbasierten Netzwerkanalyse entscheidend davon abhängt, welche Linktypen als Erfassungsbasis herangezogen werden. Wird beispielsweise die Blogroll zur Rekonstruktion eines Netzwerks genutzt, wie in der Studie von Herring et al. 2005, so werden damit aktuelle, ereignis- oder themenbezogene Netzwerkbildungen aus der Betrachtung tendenziell ausgeschlossen. Wie unterschiedlich Blogroll-basierte Netzwerke und beitragsbezogene hypertextuelle Netzwerke sein können, soll im Folgenden an Daten aus dem DFG-Projekt »Netzwerkkommunikation im Internet« gezeigt werden59. Vernetzungsbefunde für die sogenannte Blogosphere fallen auf der morphologischen Ebene meistens skeptisch aus. Herring et al. stellen mit einer statistisch-quantitativen Verlinkungsanalyse an einem künstlich erstellen Blog-Sample fest, dass Kommunikation zwischen Blogs eher ein Randphänomen ist: »The blogosphere is partially interconnected and sporadically conversational«60. Nur ein Viertel der rund 5 500 untersuchten Blogs weist ausgehende Links zu anderen Blogs auf, rund 42 Prozent der Blogs haben weder ein- noch ausgehende Links. Die schwach oder gar nicht vernetzten Blogs machen demzufolge den Hauptteil der Blogosphere aus61. Der Befund mangelnder Vernetzung ist allerdings in verschiedener Hinsicht zu differenzieren. So zeigt die Studie von Herring et al. auch, dass die Blogosphere in Teilnetzwerke aufgeteilt ist, in denen jeweils spezifische Kommunikationsbeziehungen bestehen. Eine Gruppe sogenannter A-List-Blogs, die aus quantitativen Linkanalysen verschiedener Blogsuchmaschinen als prominente Akteure der Blogosphere ermittelt wurde, zeigt deutlich andere Netzwerkeigenschaften: A-List-Blogs sind untereinander stärker – auch reziprok – verlinkt als andere Blogs, und es wird deutlich häufiger auf sie auch aus der übrigen Blogosphere verlinkt. Ihre Zentralität und Erreichbarkeit im Netzwerk ist also bedeutend stärker ausgeprägt. Auch die Blogosphere wäre dementsprechend ein skalenfreies Netzwerk, dessen Morphologie durch das bereits erwähn59 | Vgl. auch Marlow (2004). 60 | Herring u.a. (2005), S. 1, 10. 61 | Vgl. auch Chin/Chignell (2006).

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te Power-Law – »Wer hat, dem wird gegeben« – bestimmt ist. Vom Sozialkapital her gesehen scheint es in der Blogosphere eine Zweiklassen-Gesellschaft zu geben, mit einer kleinen Gruppe von Autoritäten mit großem Einfluss und einer großen Gruppe kaum vernetzter Nobodies mit wenig Resonanz und Einfluss. Die Einbindung eines Blogs in das Netzwerk ist auch abhängig von seinem Genre: so weisen Filterblogs und Kommentarblogs bedeutend mehr ausgehende Links auf als Tagebuchblogs, da für erstere die ausgehenden Links zu den entsprechenden Ziel- und Quelldokumenten konstitutiv sind. Tagebuchblogs können ihre kommunikative Funktion auch ohne Verweise erfüllen62. Die These der mangelnden Vernetzung wird auch durch Befunde aus dem o.g. Projekt bestätigt, in dem u.a. eine exemplarische Analyse der Netzwerkkommunikation in der Blogosphere zum Thema »Tsunami« vorgenommen wurde. Trotz der thematischen Geschlossenheit des ausgewählten Blog-Korpus weist dieses nur in ausgewählten Teilbereichen eine höhere kommunikative Kohärenz auf. Mit der Tsunami-Katastrophe in den Küstenregionen des Indischen Ozeans zum Jahreswechsel 2004/05 nahm die Anzahl der Blogs, die das Thema »Tsunami« aufgriffen, rapide zu: von den rund 10 Millionen Blogs, die Blogpulse63 zählt, befassten sich rund 3,7 Prozent – also rund 37.000.000 Blogs – mit diesem Thema und schufen in kürzester Zeit ein Wissenspool, der dem der klassischen Medien in verschiedener Hinsicht überlegen war. »Unlimited by geography and powered by easy blog-publishing tools, bloggers quickly sprang into action to provide information that was otherwise impossible or extremely difficult to find or disseminate«64. In der New York Times heißt es: »For vivid reporting from the enormous zone of tsunami desaster, it was hard to beat the blogs«65. Und der Spiegel diagnostiziert angesichts der Weblog-Aktivitäten anlässlich der Tsunami-Katastrophe eine neue Kommunikationsdynamik, der zufolge die Internet-Nutzer »das weltumspannende Netzwerk nicht mehr nur als Entertainment- und Inforaum wahr[nehmen], sondern als Kommunikationsraum auch für die

62 | Vgl. Herring u.a. (2004). 63 | Blogpulse (www.blogpulse.com) ist eine Suchmaschine für Weblogs. Sie kann auch zur diachronen Trendanalyse nach bestimmten Stichwörtern über einen Zeitraum bis zu sechs Monaten eingesetzt werden. 64 | http://tsunami.blogpulse.com [17.05.2005 17:58:38]. 65 | Schwartz (2004).

150 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER Verbreitung nicht, ›professioneller‹ medialer Information«66. Es waren nicht nur textliche Vor-Ort-Berichte, die in Weblogs präsentiert wurden, sondern auch Fotos, Video- und Audio-Beiträge67. Die Quantität der Tsunami-Beiträge in diversen Weblogs hat allerdings keine entsprechende Netzwerkqualität zur Folge, was sich deutlich an der Verteilung der eingehenden Links ablesen lässt. Während das erstplatzierte Weblog mehr als 2200 eingehende Links aufweist, sind es bei dem Weblog auf der Position 11 des Rankings von Blogpulse nur noch 200 Links. Ab Position 22 sind es bereits weniger als 100 eingehende Links. Auch hier folgt die Kommunikationsdichte dem Power Law, demzufolge bevorzugt auf nur wenige Blogs mit bereits erkennbarer Reputation verlinkt wird, die weitaus größte Zahl – der »long Tail« – aber nur wenige eingehende Links aufweist68. Dieselbe skalenfreie Netzwerkstruktur zeigt sich im Falle der deutschsprachigen Weblogs, die das Thema »Tsunami« behandeln, obwohl man hier von einer noch höheren Homogenität ausgehen könnte. Über ein mehrstufiges Verfahren, das eine lexikalische Analyse von rund sieben Millionen Blogpostings einschloss, wurden rund 700 deutschsprachige Blogs identifiziert, die sich zwischen 2003 und 2006 mit dem Thema »Tsunami« befassten. Immerhin 42 Prozent dieser Blogs weisen keinen einzigen ausgehenden Verweis in ihren Blogpostings auf. Von denjenigen Postings, die mindestens eine Link anbieten, verweisen nur 36 Prozent auf andere Blogs. Von einer stark vernetzten Blogosphere oder gar von »completely connected conversations«69 kann folglich nicht einmal in einem thematisch homogenen Diskurskontext gesprochen werden. Außerdem sorgt das Potenzgesetz dafür, dass die wenigen zentralen Blogs dies in totaler Weise sind: sie dominieren in allen Zentralitätsmaßen (Degree, Betweenness, Closeness). Reputation und Einfluss in der Blogosphere bedeutet deshalb nicht nur, dass fast alle auf die entsprechenden Blogs verweisen, sondern auch, dass kaum ein Wissenspfad an diesen A-List-Blogs vorbeiführt. Stärker als intern ist die Blogosphere mit anderen Wissensangeboten verknüpft: Häufigstes Linkziel von Weblogs sind vor allem klassische Massenmedien, Suchmaschinen, soziale Networking-Plattformen oder E-Commerce-Seiten wie eBay oder Amazon. Immerhin 66 | www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/0,1518,335466,00.html [05.01.2005]. 67 | Vgl. Srinivas (2005). 68 | Vgl. Weisensee (2005), S. 40-42. 69 | Marlow (2004), S. 1.

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vier Prozent aller verlinkenden Postings enthalten mindestens einen Verweis auf einen Wikipedia-Artikel. Die qualitative Analyse zeigt, dass ein Link zu Wikipedia in der Regel als Quelle zur thematischen Vertiefung oder zur Klärung eines Begriffes, Ereignisses oder Phänomens genutzt wird. Es lässt sich demnach festhalten, dass, wenn überhaupt Verlinkungen in Weblogs stattfinden, diese auf bereits etablierte Webseiten oder Blogs mit hoher Reputation führen. Eine Erschließung spezieller und thematisch innovativer Wissensbereiche des Internets durch die Weblogs findet entgegen manchen Erwartungen gerade nicht statt. Betrachtet man die Dynamik des Tsunami-Netzwerkes im Zeitverlauf, so bildet sich seine Struktur weitgehend in der ereignisbezogenen Phase während der Katastrophe zum Jahreswechsel 2004/05 heraus. Danach entstehen hauptsächlich nicht-eingebundene periphere Weblogs sowie einige wenige Anlagerungen an bestehende Netzwerkcluster. Kommunikationsdynamisch kann man deshalb nicht vom Wachstum eines diskursiven Netzwerkes sprechen. Vielmehr werden in einen Themenkomplex insulare Diskurspartikel eingefügt. Das Netzwerk hat offensichtlich seinen Zweck als Wissensplattform in der Phase des hohen Informationsbedarfs erfüllt. Eine kommunikative Notwendigkeit der Netzwerkpflege besteht in der Zeit danach nicht mehr. Je nach Positionierung eines Weblogs im Netzwerk variieren auch der Gebrauch von Verweisen sowie das Verhältnis von eingehenden und ausgehenden Links. So verlinken zentrale Weblogs stärker innerhalb der Blogosphere, während in peripheren Weblogs die wenigen ausgehenden Links meistens quellenorientiert sind und auf Angebote außerhalb der Blogosphere, zumeist auf die aktuelle Medienberichterstattung verlinken. Die peripheren Bereiche der Blogosphere sind dementsprechend eher ein Epiphänomen der Medienöffentlichkeit als eine eigenständige Gegenöffentlichkeit. Die Netzwerkdarstellungen der Abbildungen 1 bis 4 visualisieren die quantitativen Befunde: Was auf den ersten Blick wie ein dichtes Netzwerk von Wissensangeboten aussieht, entpuppt sich bei genauerer Analyse als lose Ansammlung einiger weniger Wissenscluster und als kommunikative Zweiklassengesellschaft. Abbildung 3 zeigt, am linken Rand, die hohe Anzahl von Weblogs, die keinen Verweis auf andere Internet-Angebote aufweisen, aber auch die hohe Zahl der schwach verlinkten Weblogs. In Abbildung 4 ist das Ego-Netzwerk eines der zentralen Knoten, des Weblogs »blogbar.de«, dargestellt. Er zeichnet sich durch viele ausgehende und nur wenige eingehende Links aus, was typisch ist für Blogs, die als Verweisstation im Wissensnetzwerk fungieren.

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Abbildung 1: Alle Online-Angebote zum Stichwort Tsunami

Abbildung 2: Alle deutschsprachigen Blogs zum Thema Tsunami

Auf der Mikroebene zeigt eine Analyse der Verlinkungshandlungen, mit welchen interaktionalen Verfahren Wissensnetzwerke aufgebaut werden. Blogbar weist ein Posting explizit als Metabeitrag mit der Funktion aus, die »vernetzte Informationsinfrastruktur neben den normalen Medien und Organisationen« aufzuzeigen und navigierbar zu machen. Dabei werden vier Handlungsmuster eingesetzt, die als typische Formen des Netzwerkens betrachtet werden können: erstens Verweishandlungen zum Beispiel auf Blogs unter Angabe ihrer Funktionen, wie z.B. Erweiterungen des Informationsangebotes klassischer Medien; auf die Koordination von Hilfsmaßnahmen oder

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auf die Präsentation von Online-Recherchemöglichkeiten. Mit diesen systematisierten Verweisen wird zweitens das verfügbare Wissensnetzwerk thematisch und funktional strukturiert. Drittens wird mit Vernetzungshandlungen, die sich bevorzugt in Kommentaren finden, die Evaluierung von Knoten hinsichtlich ihrer Vernetzungsleistungen vorgenommen. So heißt es in einem Kommentar von blogbar: »Auf www.blogbar findet sich ein guter Einstiegspunkt um die Blogwelt nach derartigen Einträgen zu durchsuchen«. Neben der Knotenevaluierung finden sich als vierter Typus von Vernetzungshandlungen auch Netzwerkevaluierungen, wenn es heißt, dass »die Resonanz auf den Tsunami in der Blogosphäre ungleich größer ist als noch bei Ivan«. Die genannten Verweishandlungen konstituieren einen Hypertext, in dem das Wissen zum Thema Tsunami enthalten ist. Dabei sind die Strukturierungs- und Evaluierungshandlungen zugleich rekursive Hilfestellungen zur Erschließung dieses Hypertextes.

Abbildung 3: Alle deutsch-sprachigen Tsunami-Blogs gruppiert nach Degree-Zentralität

Während die Rekonstruktion der Verlinkungen die Morphologie des Wissensnetzwerkes zum Thema »Tsunami« erkennbar macht, liefert eine Interaktionsanalyse der Verlinkungshandlungen die Erklärung,

154 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER wie dieses Netzwerk überhaupt zustande kommt. Eine Netzwerkanalyse im vollen Umfang des Begriffs setzt dementsprechend die Außenund die Innenperspektive, die morphologische und die interaktionale Analyse voraus.

Abbildung 4: Alle Weblogs, die über ein- und -ausgehende Links mit Knoten 366 in Verbindung stehen (Ego-Netzwerk)

Generell kommen Interaktionsanalysen der Weblog-Kommunikation zu weniger skeptischen Vernetzungsbefunden, was allerdings daran liegt, dass sie in der Regel auf ein Korpus oder auf Korpusteile zurückgreifen, die bereits eine höhere kommunikative Kohärenz aufweisen. Ganz allgemein kann die interaktionale Basisaufgabe der Weblog-Kommunikation darin gesehen werden, einen persönlich-privaten Kommunikationsraum mit einem öffentlichen Kommunikationsraum zu verbinden: »to weave personal narratives and discussions with others to a whole«70. Auch wenn man aufgrund dieser interaktionalen Befunde Bloggen als soziale Aktivität einordnen kann, so spiegelt sich in den Absichten der Bloggenden ein eher schwach ausgeprägtes Netzwerkbewusstsein. Aus einer Befragung von 23 Bloggern ziehen Nardi et al. den Schluss: »Bloggers wanted readers but they did not necessa-

70 | Efimova/de Moor (2005), S. 5.

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rily want to hear a lot from those readers«71 und ordnen Weblogs dementsprechend als »broadcast medium«, vergleichbar dem Hörfunk ein. Der Befund von Herring et al., dass Kommentare zu Blogbeiträgen nur in Ausnahmefällen beantwortet werden, unterstützt diese Einschätzung. Eine Umfrage unter mehr als 3000 deutschsprachigen Bloggern nach deren Motiven bestätigt die Diagnose eines schwachen Netzwerkbewusstseins: es dominieren die individualistischen Motiven des Bloggens wie »um eigene Gedanken festzuhalten«, »aus Spaß« deutlich die sozialen Motive wie »um mein Wissen anderen zugänglich zu machen« oder »um mit Freunden und Bekannten in Kontakt zu bleiben«72. Die These von der Divergenz zwischen hypertextuellen Netzwerken der Blogeinträge und Blogroll-Netzwerken konnte in dem genannten DFG-Projekt durch eine Blogroll-Umfrage unter 900 Webloggern im deutschen Sprachraum bestätigt werden. Die Verlinkung über die Blogroll leistet die soziale Vernetzung eines Weblogs, deren Netzwerkstruktur sich deutlich von der hyptertextuellen Vernetzung der Weglogbeiträge unterscheidet. Dass die Blogroll das Sympathisantennetz des Autors abbildet, lässt sich an verschiedenen Parametern ablesen: 88 Prozent der Befragten geben an, dass sie »alle« oder »viele« der durch die Blogroll verlinkten Websites regelmäßig lesen; immerhin 55 Prozent der Befragten haben »viele« oder »alle« angegebenen Websites auch in ihrem RSS-Reader 73 abonniert; immerhin rund 47 Prozent der Blogs sind rezipork verlinkt, d.h. ihre Blogrolls verweisen auf Weblogs, die ihrerseits via Blogroll zurückverweisen. In 46 Prozent der via Blogroll verlinkten Blogs kennen sich die Akteure auch persönlich. Das Blogroll-basierte soziale Netzwerk ist dementsprechend bedeutend dichter als das hypertextuelle Netzwerk der Beiträge und auch stabiler, da die Blogroll von zwei Dritteln der Befragten deutlich länger als ein Monat unverändert bleibt. Aus einer wissenssoziologischen Perspektive haben wir es mit zwei unterschiedlichen Wissensordnungen zu tun: Blogrolls konstituieren ein zeitlich überdauerndes Wissensnetzwerk mit bereits abgelegten Dokumenten, vergleichbar einem Zeitungsabonnement oder einer Bibliothek. Dagegen bildet der Hypertext der Blogeinträge ein dynamisches Wissensnetzwerk, vergleichbar 71 | Nardi/Schiano/Micelle (2004). 72 | Schmidt (2006), S. 160. 73 | RSS-oder Feed-Reader sind kleine Computerprogramme, die aktuelle Beiträge in abbonierten Online-Angeboten anzeigen. Sie werden in der Regel in einen Web-Browser integriert und liefern dem Nutzer eine aktuelle Informationssammlung nach gewählten Kriterien.

156 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER einer Presseschau, die aus den Zeitungsabonnements erstellt wurde, oder einer Exzerptsammlung aus den Büchern einer Bibliothek. Das erste Netzwerk hält das Hintergrundswissen bereit, das zweite Netzwerk das Laufwissen zum Verständnis aktueller Ereignisse.

4.2 Wikis – Kollaborative Wissensordnungen Wikis sind Online-Enzyklopädien, an denen jeder mitarbeiten kann, sei es durch eigene Beiträge oder durch Bearbeitung der Beiträge anderer. »Open-Content-Projekte« 74 dieser Art existieren inzwischen ebenso als Stadtwikis, in denen Bürger ihre Stadt nach Schlagworten geordnet porträtieren, wie auch als Wissenschafts- und Lernwikis, in denen Forschungs- und Wissensgebiete auf bereitet werden oder als umfassende Nachschlagewerke, wie Wikipedia, die inzwischen in rund 260 Sprachen erscheint 75. Unter einer Netzwerk-Perspektive weist die Wiki-Kommunikation ganz andere Strukturen auf als die Weblog-Kommunikation. Zwar lassen sich ebenfalls hypertextuelle Strukturen, personale Netzwerke, Dialogstrukturen, Makrostrukturen sowie eine »sozio-technische« Umgebung unterscheiden, allerdings in anderer Zusammensetzung als in der Weblog-Kommunikation. Es sind zwei Unterschiede zwischen Weblogs und Wikis, die zu verschiedenen Netzwerkstrukturen führen: Erstens: Während in Weblogs die Subjektivität der Einträge gefragt ist, wird in Wikipedia-Einträgen der sogenannte neutrale Standpunkt (»Neutral Point of View« oder NPOV) gefordert. Ein Großteil der Divergenzen über einzelne Einträge und die daraus resultierenden Debatten und »Editier-Kriege« haben ihren Ausgangspunkt in diesem Neutralitätsprinzip, dessen Einhaltung dann als strittig gilt. Zweitens: Die Erstellung von Beiträgen erfolgt in Weblogs durch Einzelautoren, in Wikis dagegen durch ein spontanes Kollektiv. Dementsprechend sind Beiträge in Weblogs in der Regel unveränderbar und konstituieren ein fortlaufendes Kommunikationsnetz aus abgeschlossenen Kommunikationsbeiträgen. Das Kommunikationsnetzwerk der Wikis dagegen gliedert sich grob gesprochen in zwei Teile mit jeweils unterschiedlichen Strukturen, Handlungsmöglichkeiten und Kommunikationsabläufen: in das Artikel-Netzwerk und das Autoren-Netzwerk 76. Das Artikelnetzwerk, in dem die Autoren anonymisiert sind, ist beschreibbar als Hypertext, in dem durch Verlinkung im Prinzip die komplette Enzyklopädie mit all ihren Artikeln 74 | Kohl/Liebert (2004). 75 | Zusammenfassend: Möller (2005), Kap. 4. 76 | Korfiatis/Poulos/Bokos (2006), S. 8.

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enthalten ist. Das Artikelnetzwerk bildet den Wissensraum von Wikipedia. Im Autoren-Netzwerk findet die Metakommunikation zum Wissensraum statt. Es ist entsprechend der Wiki-Software in sogenannte Namensräume gegliedert, die je unterschiedliche Funktionen haben: Im Diskussionsraum finden Klärungen zwischen den Autoren zum jeweiligen Artikel statt, der Versionsvergleich dokumentiert die Entstehungsgeschichte eines Artikels von Version zu Version einschließlich der Begründungen für Textänderungen; auf den Autorenseiten können sich die Verfasser selbst vorstellen. Eine Reihe weiterer Namensräume dient der Metakommunikation des Gesamtprojektes Wikipedia. In ihnen werden beispielsweise allgemeine Regelungen, Sperrungen von Artikeln für weitere Veränderungen oder Aussperrungen von Autoren diskutiert. Aus einer Netzwerkperspektive ist der Prozess der kollaborativen Wissensproduktion unter zwei Fragestellungen zu analysieren: 1. Die Frage der Artikelgenese: Welche funktionalen, thematischen, lexikalischen und metaphorischen Muster lassen sich in der Entstehungsgeschichte des Artikels unterscheiden? 2. Die Frage der Interaktionsdynamik zwischen den Autoren: Welche Zusammenhänge lassen sich zwischen dem interaktionalen Autorennetzwerk und dem Artikelnetzwerk rekonstruieren? Für die Frage der Artikelgenese liefert die exemplarische Analyse des Tsunami-Artikels in Wikipedia einerseits funktionale Befunde zum kollaborativen Schreibprozess und andererseits zur thematischen Entwicklung des Artikels selbst. Die erste, definitorisch ausgerichtete Version des Tsunami-Artikels stammt vom Oktober 2002. Eine konsequente Artikelstruktur nach den Kapiteln »Entstehung«, »Eigenschaften«, »Folgen« etc. wurde erst nach über einem Jahr im Dezember 2003 angelegt und bis zur Tsunami-Katastrophe im Pazifi k zum Jahreswechsel 2004/2005 unverändert beibehalten. Mit dem aktuellen Ereignis dynamisiert sich die Artikelgenese auf verschiedenen Ebenen: So steigt die Anzahl der Artikelüberarbeitungen rapide an (siehe Abbildung 5). Nicht erkennbar ist in der Darstellung allerdings, was jeweils an dem Beitragstext geändert wurde und auf welcher Interaktionsdynamik dies basiert. Betrachtet man die Artikelgenese insgesamt, so fällt der koordinative Charakter dieses emergenten Phänomens ins Auge, der nicht mehr unter Rückgriff auf Intentionen von Einzelakteuren erklärbar ist. Eine Erklärung der kollaborativen Wissensproduktion

158 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER wird erst dadurch möglich, dass sie als Netzwerkeffekt beschrieben wird. Während die bisherige Analyse der Artikelgenese das aus einer morphologischen Außenperspektive leistet, sollen im Folgenden die strukturbildenden Effekte der Editierhandlungen beschrieben werden. Der kollaborative Schreibprozess des Tsunami-Artikels wird dabei gewissermaßen aus der Innenperspektive des Netzwerkes selbst beleuchtet.

Abbildung 5: Anzahl der Überarbeitungen im Wikipedia-Artikel »Tsunami« von Oktober 2002 bis Februar 2007. Die hellere Linie zeigt die Anzahl der kleinen Überarbeitungen (»minor edits«). Die Knoten markieren den Zeitpunkt der Datenerfassung in Wikipedia. Der hohe Ausschlag markiert den Zeitraum der Tsunamikatastrophe 2004/05.

Charakteristisch für kollaborative Schreibprozesse in Online-Medien ist eine Ausgangslage, bei der unter den Autoren – im Unterschied zum kollaborativen Schreiben in Offline-Kontexten – noch kein Konsens über das fertige Produkt vorliegt. Die Debatten, die um den Beitrag im Diskussionsraum von Wikipedia geführt werden, haben hier ihren Ursprung. Sie dienen unter anderem auch dem Abgleich der jeweiligen Zielvorstellungen der Autoren und damit dem Selbststeuerungsprozess des kollaborativen Schreibens. Die wenigsten Textänderungen werden allerdings auf der Diskussionsseite diskutiert. Während der Ausarbeitung des Tsunami-Artikels, der auf mehr als 2000 Editiervorgängen beruht, beteiligen sich 105 Autoren mit 175 Beiträgen an der entsprechenden Diskussion. Bei den am heftigsten umstrittenen Beiträgen wie zum Stichwort »Adolf Hitler« sind es zum Vergleich 972 Autoren oder im Falle des Beitrags »Homöopathie« 619 Autoren. In der Regel werden Textänderungen allerdings unkommentiert vorgenommen, was ein gewisses Konfl iktpotential bietet. Mit dem Eintrag in den Artikeltext werden bereits Fakten geschaffen, deren Beseitigung nur noch in der Konfrontation möglich ist. Hier zeigt sich ein

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struktureller Unterscheid zwischen der Wissenskollaboration on- und offline: In der gemeinsamen Face-to-Face-Situation würde für Änderungen am gemeinsamen Text eine Begründungspflicht bestehen, die im virtuellen Raum offensichtlich ohne soziale Sanktionen unterlaufen werden kann. Allerdings verläuft die Kollaboration zur Erstellung des Tsunami-Artikels relativ konfliktfrei: Von rund 2300 Überarbeitungsschritten gibt es nur etwa 80 Eingriffe auf der inhaltlichen Ebene, wie Ergänzungen oder Streichungen, während der größte Teil aus kleineren Korrekturen, Umstrukturierungen und Umstellungen besteht (»minor edits«). Auch auf der Diskussionsseite lassen sich nur wenige Kontroversen ausmachen, die über kurze Dispute zur Richtigkeit von Faktenangaben hinausgehen.

Abbidlung 6: History-Flow der Überarbeitungsschritte des Wikipedia-Artikels »Tsunami«. Die Grauabstufungen stehen für die verschiedenen Textpassagen der am linken Rand aufgelisteten Autoren.

Insgesamt kann man folgende Überarbeitungshandlungen unterscheiden: inhaltliche Änderungen, strukturelle Änderungen, revertierende Änderungen (Änderungen rückgängig machen) das Einfügen von Verweisen, und Löschungen als vandalistische Eingriffe. Die quantitative

160 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER Verteilung der Editierhandlungen zeigt für den Tsumani-Artikel eine weitgehend konstruktive Schreib-Kollaboration. Ein Drittel der Überarbeitungshandlungen sind inhaltliche Änderungen, knapp 17 Prozent der Handlungen machen Überarbeitungen rückgängig, rund 10 Prozent sind strukturelle Änderungen, 18 Prozent der Editierungen fügen Verlinkungen ein und immerhin knapp 20 Prozent sind vandalistische Eingriffe, darunter immerhin neun Komplettlöschungen. Vandalismus kommt besonders dann gehäuft vor – im Tsunami-Artikel zum Jahreswechsel 2004/05 –, wenn ein Artikelthema aktuell und damit die öffentliche Aufmerksamkeit hoch ist. Daraus lässt sich schließen, dass Vandalismus auch im virtuellen Kontext ein Publikumsphänomen ist, das der Selbstdarstellung dient. Das vorhandene soziale Netzwerk der Wikipedia-Gemeinschaft aus Autoren und Lesern wird dafür gewissermaßen als Bühne vorausgesetzt und genutzt. Aufgrund der kollaborativen Grundstruktur eines Wikis entscheiden die Interaktionen im Autorennetzwerk über die Qualität der Beiträge in der Enzyklopädie. Beitragsqualitäten wie Glaubwürdigkeit oder Validität sind aufgrund des kollaborativen Produktionsprozesses Netzwerkeffekte und können somit nicht mehr vom einzelnen Autor garantiert werden. Insbesondere im Falle ideologisch umstrittener Themen wie Evolution, Gentechnik, oder umstrittener Personen der Zeitgeschichte wird der direkte Zusammenhang zwischen Autoreninteraktionen und der Artikelqualität erkennbar, was in verschiedenen interaktionsorientierten Studien im Hinblick auf die Sicherung des neutralen Standpunktes und die Quellentransparenz77 sowie auf die Steuerung der kollaborativen Texterstellung durch übergeordnete Wikipedia-Prinzipien78 nachgewiesen werden konnte. Einen Schritt weiter in Richtung einer netzwerkorientierten Erklärung der Beitragsqualität gehen Korfiatis/Bokos (2006), die diese aus der Zentralität der Autoren im Autorennetzwerk ableiten: je mehr Autoren mit zentraler Position, d.h. hoher Reputation, an einem Beitrag mitarbeiten, desto höher ist dessen Glaubwürdigkeit. Bei der Bestimmung der Netzwerkzentralität eines Autors zeigt sich ein grundlegender Unterschied zur Weblog-Kommunikation: Während dort die Autorität eines Knotens aus den eingehenden Links resultiert, sind es in der Wiki-Kommunikation die ausgehenden Links. Die Versionsgeschichte eines Wiki-Eintrages zeigt, dass eingehende Links für einen Autor Kritik und Modifi kation des von ihm erstellten Textes bedeuten, 77 | Kohl/Liebert (2004). 78 | Pentzold (2007); Pentzold/Seidenglanz (2006); Pentzold/Seidenglanz/Fraas/Ohler (2007).

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also gerade nicht Autorität indizieren. Dagegen markieren ausgehende Links die Anzahl seiner Beiträge zu einem Lexikonartikel und damit seine Produktivität am kollaborativen Produkt. Entscheidend für die Reputation eines Autors sind die erfolgreich platzierten Beiträge, also die Textteile, die er in der Schreibercommunity »durchbringt« und die dann im Lexikonbeitrag stehen bleiben. Wendet man diese Netzwerkanalyse auf einen ganzen Enzyklopädie-Bereich an, so lassen sich auf der Grundlage der Mehrfachautorenschaft für themenverwandte Beiträge die Spezialisten für einen Themenbereich ermitteln. Die Qualität eines Beitrags ist dann umso höher, je mehr »Spezialisten« des entsprechenden Themenbereichs an ihm beteiligt waren. Durch eine solche Übersetzung des kollaborativen Produktionsprozesses in eine Netzwerkanalyse lässt sich überprüfen, ob in Wikipedia bereits informelle Redaktionsteams entstanden sind und welche Konsequenzen dies für die Qualität der Einträge jeweils hat 79. Die Frage nach dem Zusammenhang von Autorennetzwerk und Beitragsnetzwerk lässt sich auch in Bezug auf die Struktur der Gesamtenzyklopädie stellen: Hat der kollaborative Produktionsprozess Auswirkungen auf die vorkommenden Begriffe, Stichworte, Verlinkungen und damit auf die Hypertextstrukturen der gesamten Enzyklopädie? Obwohl die Wiki-Software jedem die Freiheit eröff net, eine unbegrenzte Zahl von Beiträgen zu erstellen und beliebig viele Verlinkungen herzustellen, zeigt die Gesamt-Enzyklopädie eine Power-Law-Struktur mit vielen schwach verlinkten Knoten und wenigen stark verlinkten80. Auch der kollaborative Produktionsprozess von Wikipedia folgt offensichtlich dem Prinzip des bevorzugten Anschlusses (»preferential attachment«) an bereits »mächtige«, also dicht verlinkte Einträge. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass eine quantitative Netzwerkanalyse der englischsprachigen Wikipedia eine starke Tendenz zur westlichen Kultur und Geschichte nachweist81, wobei sich Raum und Zeit als zentrale Ordnungskategorien der Enzyklopädie erweisen, westliche Staaten, allen voran die USA, die zentralen Knoten darstellen, eine hohe Anzahl von zentralen Knoten zum Themenfeld »Religion« gehören und unter den am meisten verlinkten Personeneinträgen keine Frau vertreten ist82. Eine Erklärung dieser Befunde aus der Netzwerkkommunikation von Wikipedia müsste die beiden vorher genannten Analyseebenen einschließen: die Interaktionsanalyse für 79 | Vgl. Stegbauer (2008). 80 | Capocci/Servedio/Colaiori u.a. (2006). 81 | Bellomi/Bonato (2005). 82 | Bellomi/Bonato (2005).

162 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER die Wiki-spezifischen Kommunikationsräume und die Analyse des kollaborativen Produktionsprozesses für einzelne Beiträge und thematische Beitragscluster.

5. Neue Wissensordnungen im Internet? Die exemplarische Analyse der Onlinekommunikation in Wikis und Weblogs hat gezeigt, dass im Internet derzeit alternative Formen einer Wissensordnung entstehen, die Netzwerkstrukturen aufweisen und nicht mehr top-down organisiert sind wie die klassischen Wissenskulturen, sondern bottum-up mit dominanter Laien-Beteiligung und oft ereignisbezogen sind. Versteht man Netzwerke als Phänomene der dritten Art, als »spontane Ordnungen«, die das Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlicher Planung sind, so lassen sich für solche Wissensnetzwerke deutlich zwei komplementäre Analyseebenen und Perspektiven unterscheiden: die Analyse der sozialen Interaktionen des »Netzwerkens« aus der Innenperspektive eines entsprechenden Kommunikationszusammenhangs und die Analyse der Netzwerkmorphologie und ihrer Veränderung aus der Außenperspektive. Netzwerkkommunikationen im Internet zeichnen sich dadurch aus, dass sie in einen sozio-technischen Kontext eingebettet sind, der die Kommunikationsdynamik mitbestimmt. Netzwerkkommunikationen im Internet sind demzufolge zugleich informationstechnologische, morphologische, interaktional-soziale und hypertextuelle Phänomene. Wie die diskutierten Befunde von Netzwerkanalysen gezeigt haben, hängt eine Antwort auf die Frage nach der Qualität dieser Kommunikationsform auch davon ab, auf welcher Ebene sie beantwortet wird. Eine strukturell bedingte Verbesserung der Kommunikationsqualität durch Netzwerkbildung, in der die »Intelligenz der Masse« zum Ausdruck kommt, lässt sich aufgrund der skeptischen Einzelbefunde jedenfalls nicht feststellen. Ebenso wenig angebracht sind aber die Kassandra-Rufe, die in den kollaborativen Formen nur den kollektiven Wahnsinn walten sehen. Die bisher vorliegenden Befunde machen deutlich, dass Kommunikations- und Wissensqualitäten, wie Zuverlässigkeit der Informationen, in Lexikoneinträgen oder laien-publizistischen Angeboten entscheidend von den Themen, den Akteuren, den Kontrollmechanismen, den verschiedenen Online-Genres und den Teil-Netzwerken abhängen83. Eine Besonderheit der neuen Wissensordnungen ist ihre hohe Dynamik, was sowohl die Analyse der Weblog-Kommunikation als 83 | Herring u.a. (2004); Emigh/Herring (2005).

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auch der Wiki-Kommunikation gezeigt hat. Liegt ein entsprechender Auslöser vor, so beginnt in kürzester Zeit eine Form der Wissensproduktion, wie sie von ihrer Dynamik her weder in den klassischen Massenmedien noch in den klassischen Publikationsmärkten möglich ist. Mit dem Prinzip von der Stärke schwacher Verbindungen84 liefert die Netzwerktheorie eine Erklärung für diese neue Form spontaner Wissensordnungen.85 Starke Verbindungen zeichnen sich durch hohe Verbindlichkeit, Kommunikationsdichte und Stabilität aus, schwache Verbindungen sind wenig verbindlich, diskontinuierlich und können leicht abgebrochen oder unterbrochen werden. Netzwerke mit starken Verbindungen sind stabil und schwer zugänglich und weisen hohe Übereinstimmung in den Wissensbeständen und Meinungen auf, Netzwerke mit schwachen Verbindungen sind dagegen flexibel, wandelbar, haben dissonante Wissensbestände und sind für Außenstehende leicht zugänglich. Die Stärke der schwachen Verbindungen liegt netzwerkanalytisch gesehen darin, dass sie Brücken zu neuen Netzwerken eröffnen und damit die Begrenztheit und die Redundanz des Wissens innerhalb geschlossener Netzwerke überwinden können. Vereinfacht könnte man sagen: Schwache Verbindungen eröffnen die Möglichkeit zur Innovation und tragen im Unterschied zu starken Verbindungen eher zur Makrointegration bei. Expertennetzwerke weisen in der Regel starke Verbindungen auf. Online-Verlinkungen sind in der Regel Musterfälle für schwache Verbindungen, die mit wenig Aufwand herzustellen sind – und zwar sowohl für denjenigen, der einem Link folgt, als auch für denjenigen, der einen Link setzt. Offl ine-Medien weisen sowohl auf der Seite der Kommunikatoren als auch auf der Seite der Rezipienten eher starke Verbindungen auf. Die Tradierungswege für Informationen sind institutionalisiert – beispielsweise zwischen Korrespondenten, Agenturen und Redaktionen, oder zwischen Wissenschaftlern, Buchverlagen und Buchvertrieb – und somit zwar stabil, aber auch störanfällig und schwerfällig. Damit ein Autor sein Wissen in der klassischen Wissensordnung in Umlauf bringen kann, braucht er lange vorbereitete, stabile Beziehungen und produktionsbedingte Vorlaufzeiten. Auch die Verbindung zwischen den Rezipienten und den Offline-Informationsmedien kann man als starke Verbindung betrachten: Zeitungsabonnements werden nicht ständig gewechselt, da der Aufwand relativ hoch ist, Bücher werden nicht für jeden Informationsanlass gekauft und für die Nachrichtenangebote des Fernsehens und des Hörfunks bestehen 84 | Granovetter (1973); (1983). 85 | Siehe auch den Beitrag von Beerbühl in diesem Band.

164 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER stark habitualisierte Nutzungsformen. Im Unterschied dazu sind die Verbindungen zwischen den Nutzern und den Online-Angeboten relativ schwach ausgebildet: Der Aufwand, zwischen Online-Angeboten zu wechseln, ist relativ gering, und über die Suchmaschinen, die selbst für Online-Angebote klassischer Medien zu den häufigsten Zugangsinstanzen gehören, ist eine konstante Medienbindung aufgelöst. Auch für die neuen Autoren gilt eine neue Flexibilität. Dass unter den 100 am meisten verlinkten Tsunami-Blogs drei Newcomer-Blogs die ersten drei Plätze einnehmen, wird dadurch erklärbar, dass zwischen Angebot, Distribution und Nutzern im Internet nur schwache und damit flexible Verbindungen bestehen. Weil habitualisierte Nutzungsweisen reduziert sind, haben auch diejenigen eine Chance, Aufmerksamkeit zu akkumulieren und zu Meinungsführern zu werden, die keine etablierten Marken darstellen. Die Popularitätsentwicklung der drei genannten Tsunami-Blogs zeigt deutlich, dass es jeweils spezifische und exklusive Beiträge sind, die die Verlinkungsdynamik auf diese Blogs beeinflusst haben.86 Man kann den Erfolg dieses Internet-basierten Ad-hoc-Journalismus auch damit erklären, dass für die Tsunami-Katastrophe eine funktionale Insuffizienz des klassischen Journalismus vorlag: Entfernte, schwer erreichbare Ereignisorte, eine enorme Ausdehnung des betroffenen Katastrophengebietes, reduziertes redaktionelles Personal aufgrund der Weihnachtsfeiertage sowie eine globale Nachfrage nach Informationen, da Touristen aus vielen europäischen Ländern sowie den USA von der Flutkatastrophe betroffen waren. Große Informationsnachfrage bei knapper Informationslage und eine funktionale Insuffizienz des Lexikon-basierten Wissensmarktes kann auch den Erfolg von Wikipedia erklären: die Publikationszyklen klassischer Lexika sind der Geschwindigkeit, in der sich Wissensbestände wandeln, nicht mehr gewachsen. Die schwache ad hoc aktivierbare Online-Verbindung einer Suchabfrage ist unter diesen Bedingungen der starken Bindung an den – möglicherweise mehrjährigen – Bezug eines mehrbändigen gedruckten Lexikons bei Weitem überlegen. Zusammenfassend lässt sich für online-basierte Wissenskommunikation festhalten: Selbstorganisierte Open-Source-Kommunikation führt nicht zum Informationschaos, sondern kann aufgrund ihres Netzwerkcharakters sehr wohl strukturierte Wissensordnungen konstituieren. Das Prinzip des präferierten Anschlusses und das PowerLaw, wie sie für offene Netzwerke typisch sind, haben die paradoxe Konsequenz, dass die Selbstorganisation der Online-Kommunikation 86 | Vgl. Weisensee (2005), S. 78-83.

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nicht unbedingt zu demokratischen, enthierarchisierten Kommunikationsstrukturen führen muss, sondern Meinungsführerschaft entsteht, wie sie auch im Falle der klassischen Massenmedien vorliegt. Virtuelle Neztwerk-Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass sie aus einer Verbindung des One-to-Many-Broadcast-Modells und des Many-to-Many-Netzwerkmodells konstituiert wird. Die demokratische Stärke der schwachen Verbindungen liegt gerade darin, dass die Akteure im Netzwerk dieses zwar leicht konstituieren, es aber ebenso leicht wieder auflösen können. Die Netzwerk-Perspektive ist für die Beschreibung von Kommunikationsformen im Internet deshalb geeignet, weil sie die Gleichzeitigkeit von Stabilität (= Struktur) und Labilität (= Kommunikationsdynamik)87 von starken und schwachen Verbindungen erfassen kann.

Anmerkung Die verwendeten empirischen Daten zur Tsumani-Kommunikation in Weblogs und Wikis stammen aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt: »Netzwerkkommunikation im Internet. Diskurslinguistische und medienwissenschaftliche Analyse selbstorganisierter Formen der Wissensproduktion und -distribution in Weblogs und Wikis«. Leitung: Hans-Jürgen Bucher; Andreas Liebert. Mitarbeiter: Sebastian Erlhofer; Kerstin Kallass

Summar y In a certain sense all societies have been information and knowledge societies as human evolution has always been shaped by these resources. But oral societies, print societies and digital societies differ fundamentally in the ways and the scope of the distribution of knowledge and information. With the internet and especially with the so called Web 2.0 the classical distribution of knowledge via mass media like books, television, radio, newspaper and journals was transformed from a one-to-many-model into a many-to-many-model, which could be charaterized by three relevant features: First the new model is interactive and enables the addressee not only to consume but also to produce information; second: As a consequence the distinction between professionals and laypersons becomes permeable. And third: The structure of knowledge communication is no longer hierarchical 87 | Monge/Contractor (2003), S. 11.

166 | H ANS -J ÜRGEN B UCHER but network-oriented. This article reveals typical patterns of this new knowledge and communication order. As a showcase two typical forms of communication of the Web 2.0 – wikis and weblogs –are analyzed on the background of a fundamental transformation of knowledge management in a digital society. The empirical data come from a research project »Network communication in the Internet« which is funded by the Deutsche Forschungsgemeinschaft.

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Soziale Beziehungen: gesellschaf tliche Determinanten und gesundheitliche Konsequenzen Simone Weyers

1. Einleitung Das systematische Studium dyadischer Sozialbeziehungen geht auf die Pionierarbeiten des Soziologen Georg Simmel um die Jahrhundertwende zurück. Während die allgemeine Soziologie ihr Augenmerk auf die großen Systeme und überindividuellen Organisationen wie Herrschaft und Staat, Wirtschaft und Schichtung richtete, stellte Simmel die primären Wechselwirkungsprozesse zwischen Individuen, durch die Vergesellschaftung erst entsteht, in den Vordergrund.1 Zu einer ähnlichen Zeit beschäftigte sich ein anderer Begründer der Soziologie, Emile Durkheim, mit der sozialen Variation von Selbstmordraten und folgerte, dass diese ein gesellschaftliches Phänomen ist und u.a. vom Ausmaß der Integration abhängt.2 Damit stellte Durkheim als einer der ersten Soziologen explizit die Frage nach den sozialen Determinanten von Krankheit im Allgemeinen und der Rolle sozialer Beziehungen im Besonderen. Seit jener Zeit hat die Erforschung zwischenmenschlicher Beziehungen ein geradezu inflationäres Interesse erfahren. Hierzu sind verschiedene Konzepte bemüht worden wie soziales Netzwerk/soziale Integration oder soziale Unterstützung/sozialer Rückhalt und es ist eine unüberschaubare Menge von Publikationen 1 | Simmel (1968). 2 | Durkheim (1997).

174 | S IMONE W E YERS erschienen, welche sich mit Formen und Folgen von Sozialbeziehungen beschäftigen. Eine Folge der Qualität sozialer Beziehungen ist der Gesundheitsstatus. »Social Isolation Kills« lautet das Zitat eines medizinsoziologischen Forschers.3 Dies bestätigt nicht nur die landläufige Vorstellung, dass es wichtig ist, umsorgt, geliebt, geachtet und geschätzt zu werden. In der Forschung wird seit den 1980er Jahren empirisch nachgewiesen, dass soziale Isolation und mangelhafter sozialer Rückhalt ein erhöhtes Krankheitsrisiko mit sich bringen. Soziale Vereinsamung und Ausgrenzung führen dazu, dass Menschen eher sterben, nach einem Herzinfarkt geringere Überlebenschancen haben, häufiger unter Depressionen leiden und seltener einen gesundheitsförderlichen Lebensstil ausüben. Der vorliegende Aufsatz soll einen Überblick über den Forschungsstand geben. Es werden zunächst die beiden wichtigsten medizinsoziologischen Konzepte im Zusammenhang mit sozialen Beziehungen vorgestellt: soziales Netzwerk und soziale Unterstützung. Dann wird dargestellt, dass diese von soziodemographischen und sozioökonomischen Determinanten abhängig sind, d.h. Alter, Geschlecht und sozialem Status. Danach wird anhand empirischer Befunde und theoretischer Erklärungsansätze demonstriert, dass Struktur und Qualität sozialer Beziehungen einen Einfluss auf den Gesundheitsstatus derjenigen Personen haben, die sie unterhalten. Im Fazit wird auf die (gesundheits-)politische Bedeutung dieser Erkenntnisse verwiesen, und es wird die Frage aufgeworfen, wie sich der soziale Wandel auf die künftige Ausgestaltung sozialer Beziehungen, d.h. Verlust oder Liberalisierung, auswirken könnte.

2. Konzepte sozialer Beziehungen in der medizinischen Soziologie Struk tur von Beziehungen: soziales Net z werk Das Gesamtgeflecht der Beziehungen eines Individuums wird als soziales Netzwerk bezeichnet. Ein soziales Netzwerk ist ein spezifisches Set von Verbindungen zwischen einer definierten Anzahl von Personen, 4 wobei – in Analogie zu einem locker geknoteten Fischernetz – die Menschen als Knoten gesehen werden und die zwischen ihnen

3 | House (2001). 4 | Mitchel (1969).

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bestehenden spezifischen Sozialbeziehungen als Verbindungslinien unterschiedlicher Größe.5 Das eigentliche Konzept des sozialen Netzwerkes geht zurück auf die Arbeiten britischer Sozialanthropologen, welche Mitte des 20. Jahrhunderts den Mangel an Integration mikro- und makrosoziologischer Theorien kritisierten: Während mikrosoziologische Theorien sich bemühten, individuelles Handeln scheinbar untersozialisierter Individuen zu erklären6 und makrosoziale Theorien suchten, gesamtgesellschaftliche Systeme und deren Veränderungsprozesse zu analysieren,7 fehlte es an Theorien, welche Akteur und Struktur integrierten. In einer Zeit rapiden sozialen Wandels drängten die Individuen aus den tradierten Normen- und Rollensystemen heraus und suchten nach neuen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Menschen wurden nicht mehr als Individuen gesehen, die sich Gruppen und institutionellen Komplexen passiv unterwerfen, sondern, wie es beispielsweise der Sozialanthropologe Boissevain8 formulierte, als Unternehmer, welche Normen und Beziehungen zum eigenen sozialen und psychischen Vorteil zu beeinflussen versuchten. Es entstand eine Reihe von Netzwerktheorien, welche nicht das Individuum in den Vordergrund stellten, sondern seine Beziehung zu anderen und sein »Eingebettetsein« in soziale Strukturen,9 wobei dem Individuum mehr oder weniger Entscheidungs- und Handlungsfreiheit im Rahmen der gesellschaftlichen Strukturen zugebilligt wurde. Die Stärke des Netzwerkkonzeptes liegt insgesamt in der testbaren Annahme begründet, dass die Struktur des Sozialen individuelle Verhaltensweisen und Einstellungen determiniert, indem es die für Chancen und Beschränkungen wichtigen Ressourcen bereitstellt.10 Soziale Netzwerke beeinflussen Handlungsmöglichkeiten und Normen der in sie eingebetteten Individuen oder Gruppen, sie kanalisieren den Zugang zu Ressourcen und prägen das Verhalten der Akteure. »Every individual maintains and depends upon a personal network – a set of persons with whom one is knowingly involved and cross linked through a web of direct and indirect relationships. This personal network constitutes the effective interpersonal environment, the resources from which are 5 | Hine (1977). 6 | Blumer (1969); Mead (1998). 7 | Merton (1949); Parsons (1951). 8 | Boissevain (1974). 9 | Burt (1982); Granovetter (1985); Wellman/Berkowitz (1988). 10 | Berkman/Glass (2000).

176 | S IMONE W E YERS derived the necessities and amenities of elementary social life […] One’s network, then, represents a ›personal economy‹ of relationships to be managed more or less effectively.«11

Funk tionen von Beziehungen: soziale Unter stüt zung Das Konzept der sozialen Unterstützung geht vor allem zurück auf die Arbeiten der britischen Epidemiologen Cassel und Cobb. Bei der Entstehung von Krankheit betonte Cassel die soziale Umwelt im Allgemeinen und die Präsenz anderer Individuen derselben Spezies im Besonderen als Faktoren, die vor schädlichen Umwelteinflüssen schützen können. Eine Reihe von tier- und humanmedizinischen Forschungsarbeiten hatte gezeigt, dass soziale Unterstützung Stresssituationen abmildert.12 Cobb replizierte nicht nur die Befunde der Stressmilderung, sondern bemühte sich auch um eine definitorische Verfeinerung des Konzeptes. Hiernach ist soziale Unterstützung eine Information, die dem Individuum das Gefühl vermittelt, (1) umsorgt zu werden, (2) geliebt, wertgeschätzt und geachtet zu werden und (3) zu einem reziproken Netzwerk zu gehören.13 Zur gleichen Zeit zeigten psychologische Studien, dass gemeindebasierte, professionelle Hilfeleistungen ein durchaus erfolgreiches Mittel waren, Bewältigungsverhalten und Gesundheit derjenigen zu stabilisieren, die nicht in ein natürliches Unterstützungsnetzwerk integriert waren und einen Mangel an sozialen Ressourcen aufwiesen. Die Idee, dass auch Institutionen soziale Unterstützung leisten können, war attraktiv und verstärkte das Forschungsinteresse.14 Schließlich waren die entwicklungspsychologischen Arbeiten des Arztes und Psychoanalytikers Bowlby von großer Bedeutung, welche zeigten, dass der Auf bau einer stabilen Beziehung des Kindes zu einer zentralen Bindungsperson für die Gesundheit konstitutiv ist.15 Diese wenigen Punkte verdeutlichen bereits, dass soziale Unterstützung durch unterschiedliche Personen und Institutionen erfolgen kann und verschiedene Interaktionstypen umfasst, angefangen bei der bloßen Anwesenheit von signifi kanten Anderen, über emotionale Anteilnahme bis hin zu konkreten Dienstleistungen in Notsituationen. Das Konzept der sozialen Unterstützung findet insgesamt eine brei11 | McCall (1988), S. 482. 12 | Cassel (1976). 13 | Cobb (1976). 14 | Sarason/Sarason et al. (1990). 15 | Bowlby (1982).

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te Anwendung in unterschiedlichen Forschungsrichtungen, ist jedoch methodisch noch uneinheitlich entwickelt.16 Vereinfacht kann zwischen emotionalen und instrumentellen Unterstützungsleistungen unterschieden werden. Emotionale Unterstützung besteht darin, in Krisensituationen Anteil zu nehmen und im kommunikativen Austausch Rat und Hinweise bereitzustellen, die zur Problemlösung beitragen.17 Instrumentelle Unterstützung subsumiert alle praktischen Dienstleistungen und Hilfestellungen bei der Bewältigung täglicher Anforderungen oder Krisensituationen. Hierunter fallen personenbezogene Dienstleistungen wie Betreuung oder Pflege sowie güterbezogene Leistungen wie Besorgungen, Hausarbeiten oder Reparaturen. Zu instrumentellen Unterstützungen gehören auch sachbezogene Informationen im Sinne von praktischem Wissen oder Auskünften, wie Informationen über Jobs und Mietwohnungen, Hinweise beim Umgang mit Rechtsstreitigkeiten oder Auskünfte über medizinische Behandlungen. Schließlich meint instrumentelle Unterstützung auch das Bereitstellen von Sachleistungen, wie einzelner Gegenstände bis hin zur Wohnung, oder von monetären Leistungen, wie das Bezahlen von Rechnungen und Haushaltskosten.18 Beide Konzepte sind in der folgenden Abbildung mit ihren Bestandteilen verdeutlicht: Soziales Netzwerk Partnerschaft persönliche Beziehungen zu Verwandten, Freunden und Bekannten formale Beziehungen in Vereinen und Organisationen

Soziale Unterstützung emotionaler Rückhalt Rückhalt durch Anerkennung Rückhalt durch Informationen instrumenteller Rückhalt

Abbildung 1: Konzepte sozialer Beziehungen und ihre Bestandteile (eigener Entwurf)

Die Variablen zur Operationalisierung oben genannter Konstrukte werden in Studien im Rahmen von persönlichen oder schriftlichen Interviews und mit Hilfe psychometrisch validierter Instrumente erhoben. Je nach Ausprägung werden ihnen spezifische Punktwerte zugeordnet, die dann – einzeln oder zu einem Index aggregiert – mit anderen Variablen oder Konstrukten korreliert werden können. 16 | Hollstein (2001). 17 | Stansfeld (2005). 18 | Diewald (1991).

178 | S IMONE W E YERS Im nun folgenden Abschnitt wird dargestellt, in wie fern sozialstrukturelle Merkmale – Alter, Geschlecht und insbesondere sozialer Status – soziale Beziehungen beeinflussen.

3. Determinanten sozialer Beziehungen Alter Das Unterhalten sozialer Beziehungen und Einfordern spezifischer Leistungen sind Fähigkeiten und Bestrebungen, die dem Individuum von Lebensbeginn an eigen sind. Von Anfang an ist der Säugling, mittels den seinem Entwicklungsstand entsprechenden Kommunikationstechniken, in der Lage, mit signifikanten Personen wie beispielsweise seinen Pflegepersonen in Austausch zu treten und Nähe herzustellen. Diese vom Säugling ausgehende Aktivität wird als positive Bindung bezeichnet.19 Qualität und Quantität der ersten kindlichen, meist in der Herkunftsfamilie erfahrenen, Bindungen beeinflussen dann in starkem Maße Persönlichkeit und Bindungsfähigkeit des Individuums im weiteren Lebenslauf. Während die Pflegeperson als sichere Basis im Hintergrund fungiert, kann das Kind die außerfamiliäre Umwelt erforschen, Aufgaben bewältigen und Kontakte zu anderen herstellen. Positiv gebundene Kinder erfahren sich selbst als effektive Akteure in ihrer Umwelt, so dass sich Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit und ein positives Selbstkonzept entwickeln können.20 Basierend auf den Erfahrungen mit der Pflegeperson entwickeln Kleinkinder außerdem eine Art Arbeitsmodell von Beziehungen, ein Set von Erwartungen an das Verhalten anderer Personen und Verhaltensmustern, welches in künftige Beziehungen getragen wird.21 Dieses mit der ersten Vertrauensperson entwickelte Arbeitsmodell ist jedoch veränderlich und kann in weiteren Beziehungen modifiziert werden. Es ist plausibel, dass Selbstkonzept und Erwartungen an andere die sozialen Kompetenzen beeinflussen. Bindungssichere Kinder zeigen häufiger positive Gefühle, prosoziale Verhaltensweisen und Reziprozität im Umgang mit anderen, auch ihnen unbekannten Personen als unsicher gebundene Kinder; sie sind dadurch auch beliebter.22 Beziehungen zu Gleichaltrigen in Kindheit und Jugend ermög19 | Bowlby (1982). 20 | Park/Waters (1988). 21 | Bowlby (1982). 22 | Park/Waters (1988).

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lichen dem Individuum weitere Lernerfahrungen. In diesen freiwilligen Beziehungen entwickelt es die Fähigkeiten, Freundschaften zu beginnen, zu erhalten oder zu beenden. Es lernt, dass Freundschaften verhandelbar sind, es lernt Kooperation und gegenseitigen Respekt, Teilen und Großzügigkeit. Mit Hilfe der primären und sekundären Sozialisationspartner erwirbt das Individuum Wissen über Normen und Rolleninhalte. Es lernt zwischen verschiedenen Sozialbeziehungen zu unterscheiden und angemessenes Rollenverhalten auszuüben. Mit fortschreitendem Alter vergrößert sich also das Netzwerk sozialer Kontakte, und die Beziehungspersonen variieren. Während in der Kindheit familiäre Bindungen überwiegen, stellen Jugendliche und junge Erwachsene freundschaftliche Beziehungen im außerfamiliären Umfeld her zum Zwecke der emotionalen Nähe in Kameradschaft und Partnerschaft. Im Erwachsenenalter haben geschlechtsspezifische biologische und sozialstrukturelle Faktoren unterschiedliche Implikationen der Statuspassagen wie Partnerschaft, beruflicher Werdegang, Mutterschaft und Familienbildung – und somit unterschiedliche Möglichkeiten für den Auf bau sozialer Beziehungen und Unterstützungspotentiale. Es ist zwar sinnvoll, den Alterseinfluss in Abhängigkeit des Geschlechts zu betrachten, dennoch gibt es einige übergreifende Lebenslaufeffekte, die im Folgenden erläutert werden. Das zwischen Jugend und Alter gelegene mittlere Lebensalter von ungefähr 40 bis 60 Jahren ist eine Lebensphase, in welcher sich im Normalfall eher stille Übergänge abspielen: Das Auftreten erster körperlicher Alterungsprozesse signalisiert das Ende der jugendnahen Erwachsenenphase, biographische Festlegungen beruflicher oder privater Art manifestieren sich, möglicherweise sterben die eigenen Eltern, kurz: Die Zugehörigkeit zur älteren Generation wird allmählich sichtbar.23 Während vorher Herstellung und Pflege der außerfamiliären Beziehungen durch elterliche Verpflichtungen eingeschränkt waren, ermöglicht der Auszug der Kinder aus dem Elternhaus (empty nest), Freundschaften und Bekanntschaften herzustellen oder zu vertiefen.24 Eine wichtige Veränderung in Bezug auf familiäre soziale Beziehungen stellt die Verschiebung im Generationengefüge dar. Zu Beginn des mittleren Lebensalters stehen Personen oftmals in Verantwortung sowohl für die jüngere Generation (Kinder oder Enkelkinder) als auch für die ältere Generation (Eltern, Schwiegereltern) – eine Konstellation, die anschaulich mit dem Terminus Sandwich-Generation umschrieben wird. 23 | Perrig-Chiello/Höpflinger (2001). 24 | Bönner (1995).

180 | S IMONE W E YERS Im höheren Lebensalter ab 60 Jahren verändern sich soziale Beziehungen wiederum in Folge typischer Statuspassagen wie Berentung, Großelternschaft, Tod des Partners und anderer nahe stehender Personen oder einfach auf Grund der Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit.25 Viele Veränderungen sorgen einerseits dafür, dass Vergesellschaftungsleistungen nicht mehr vorhanden sind, andere hingegen eröffnen neue Gestaltungsmöglichkeiten. Ist die Zeit nicht mehr mit beruflichen oder haushaltsbezogenen Tätigkeiten ausgefüllt, ergeben sich auch Chancen zur Teilnahme in neuen Vereinen oder Organisationen, für das Engagement im Freundeskreis oder die Ausübung von Ehrenämtern. In diesem Zusammenhang ist der Strukturwandel des Alters als soziale Kategorie zu nennen. Der Ruhestand ist, insbesondere durch längere Lebenserwartung und größere fi nanzielle Ressourcen, immer weniger gekennzeichnet durch Passivität und Isolation – vielmehr stellt sich die Generation der Senioren als eine aktive und konsumfreudige Population dar, dies belegt eine Vielzahl von Marktforschungsanalysen.26 Insgesamt jedoch, dies ist eine Grunderkenntnis der Alternsforschung,27 verringert sich im höheren Lebensalter die soziale Aktivität und verkleinern sich entsprechend soziale Netzwerke. Der Aktivitätsansatz besagt, dass o.g. alters- und strukturbedingte Statuspassagen zu Rollenverlust und Passivität führen. Sind dann keine Kompensationsmöglichkeiten vorhanden, hat dies Krise, Destabilisierung und Rückzug des Individuums zur Folge.28 Die Disengagementtheorie29 hingegen versteht den Rückgang der gesellschaftlichen Teilnahme als selbst gewählte Vorbereitung des Individuums zur Auseinandersetzung mit dem und Vorbereitung auf den Tod.

Geschlecht Eine weitere grundlegende Variable, welche das Muster von sozialer Integration und Unterstützungsleistungen beeinflusst und dabei eng mit dem Alter zusammenhängt, ist das Geschlecht. Ob Männer oder Frauen im Allgemeinen größere Netzwerke haben, konnte bisher nicht konsistent dargestellt werden. Die Zusammensetzung des sozialen Netzwerkes unterscheidet sich jedoch scheinbar dahingehend, dass 25 | Künemund/Hollstein (2000). 26 | Gruner und Jahr (2000). 27 | Palmore (1981); Rook (2000). 28 | Hollstein (2001). 29 | Cumming/Henry (1961).

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die Netzwerke von Frauen häufiger aus Familienkontakten,30 Freundschaftsbeziehungen31 und nachbarschaftlichen Kontakten32 bestehen. Im Gegensatz dazu umfassen die sozialen Netzwerke von Männern eher berufsbezogene Kontakte.33 Geschlechtliche Arbeitsteilung im mittleren Erwachsenenalter beeinflusst in starkem Maße die Struktur der Netzwerke. Nach der Untersuchung von Moore34 verwischen die oben genannten Effekte jedoch teilweise, wenn man den Beruf in Rechnung stellt: Berufstätigkeit von Frauen beispielsweise vermehrt die außerfamiliären Kontakte zu Kollegen oder freiwilligen Vereinen und Organisationen und reduziert die verwandtschaftlichen Kontakte. Es gibt auch geschlechtsspezifische Unterschiede bei Vergabe und Erhalt sozialer Unterstützung. Es zeigt sich, dass Männer und Frauen ähnlich häufig berichten, praktische Hilfe zu erhalten, dass emotionale Unterstützung jedoch tendenziell häufiger von Frauen gegeben und auch eingefordert wird. Die Quellen der Unterstützung sind ferner unterschiedlich: Männer benennen meist die Ehepartnerin, Frauen vergleichsweise häufiger Freunde und Nachbarn.35 Wie lassen sich die gefundenen Geschlechtsunterschiede bei den quantitativen und qualitativen Merkmalen sozialer Beziehungen erklären? Evolutionstheorien lassen vermuten, dass sie sich im Laufe der auf dem genetischen Geschlecht (Sex) basierenden Arbeitsteilung entwickelt haben, in der Männer mit der Jagd nach Nahrung beschäftigt waren und enge Gruppenbindungen zu ihren Geschlechtsgenossen herstellten, während Frauen die häuslichen Arbeiten verrichteten und auf Kooperation und heimische Beziehungsnetzwerke angewiesen waren.36 Rollentheorien stellen jedoch eine kulturspezifische Ausgestaltung von Geschlecht in Rechnung mit kulturellen Normen, Geschlechtsstereotypen und Geschlechtsrollenerwartungen. Kultur, als »kollektive Programmierung des Geistes, welcher Mitglieder von Gruppen oder Kategorien unterscheidet«,37 beeinflusst das kulturelle Geschlecht (Gender) und erzeugt unterschiedliche Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit – und entsprechend Normen, wer wann Hilfe sucht bzw. erhält. Die traditionelle männliche Sozialisation betont Autonomie und 30 | Fischer/Oliker (1983); Wellman (1985); Moore (1990). 31 | Hulbert/Acock (1990). 32 | Wellman (1985). 33 | Fischer/Oliker (1983); Moore (1990). 34 | Fischer/Oliker (1983); Moore (1990). 35 | Hobfoll/Stokes (1988); Reevy/Maslach (2001). 36 | Malach Pines/Zaidman (2003). 37 | Hofstede (1991), S. 5.

182 | S IMONE W E YERS Unabhängigkeit, so dass ein in seiner Geschlechtsrollenorientierung traditionell ausgerichteter Mann eher abgeneigt ist, Schwierigkeiten zuzugeben und Hilfe einzufordern. Die traditionelle weibliche Rolle hingegen betont Wärme, Unterstützungsbereitschaft und Intimität, so dass in ihrer Geschlechtsrollenorientierung traditionell ausgerichtete Frauen kein Problem haben, bei Schwierigkeiten Unterstützungsleistungen zu mobilisieren.38 Das Gender-Konzept vom kulturell geprägten Geschlecht impliziert jedoch, dass die Unterschiede zwischen Mann und Frau sich immer weniger mit den disjunkten Kategorien des genetischen Geschlechts decken, sondern im Verlaufe sozialer Wandlungsprozesse männliche und weibliche Eigenschaften in einer Person integriert werden. Diese zunehmende Androgynie von Männern und Frauen könnte dazu führen, dass sich geschlechtsspezifische Effekte bei der Ausgestaltung sozialer Beziehungen immer mehr verwischen.

Sozialer Status Auf welche Weise ist der soziale Status mit den Beziehungen einer Person verbunden? Einerseits ist eine positive Assoziation denkbar: Armut führt zu sozialer Ausgrenzung. Schon Bourdieu hat postuliert, dass sich die verschiedenen Kapitalsorten (ökonomisches, soziales, kulturelles Kapital) ineinander umwandeln lassen. Personen mit niedrigem sozialen Status sind schlicht dadurch benachteiligt, dass soziale Teilhabe – als Voraussetzung für die Bildung von Netzwerken und Unterstützungsstrukturen – immer einen gewissen finanziellen Spielraum erfordert, etwa um mit Unternehmungen verbundene Kosten zu decken, Mitgliedsbeiträge zu zahlen oder Geschenke zu machen. Es ist ein Dilemma, dass Personen, die sich durch Merkmale wie Krankheit oder Armut auszeichnen – Merkmale, die in niedrigen Sozialschichten häufiger anzutreffen sind – als Beziehungspartner eher unattraktiv sind und ihnen somit gerade bei erhöhtem Hilfebedarf eine strukturelle Voraussetzung für soziale Unterstützungsleistungen fehlt. Außerdem sind Personen aus niedrigeren Sozialschichten einem Mehr an materiellen und psychosozialen Belastungen ausgesetzt als Angehörige höherer Sozialschichten. Da unter Beziehungspartnern tendenziell Ähnlichkeit besteht, erhalten Angehörige niedriger sozialer Schichten dann in der Regel Unterstützungsleistungen von Personen, die selber in erhöhtem Maße hilfebedürftig sind. Dies mag wenig effektiv sein.39 In Form einer Wechselwirkung ist auch da38 | Hobfoll/Stokes (1988). 39 | Krause/Borawski-Clark (1995).

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von auszugehen, dass soziale Ausgrenzung und Isolation der Armut vorausgeht: Wird Personen auf Grund von Alter, Geschlecht, Ethnie, Behinderung oder anderen Merkmalen sozialer Benachteiligung die Teilhabe am Bildungs- oder Arbeitsmarkt verwehrt, führt dies in der Konsequenz zu sozioökonomischer Benachteiligung. Umgekehrt ist aber auch eine inverse Assoziation denkbar. Angehörige höherer Sozialschichten könnten in Bezug auf ihre sozialen Kontakte benachteiligt sein, da die oftmals mit einer berufl ichen Karriere verbundene geographische Mobilität (Studium, Auslandsaufenthalte) Schaff ung oder Erhalt von dauerhaften und erreichbaren Beziehungsstrukturen erschwert, wodurch prinzipiell auch weniger Optionen für Rückhalt in Notlagen vorhanden sind. In den wenigen systematischen Studien finden sich empirische Belege für beide Argumente. Einerseits konnten in höheren Sozialschichten mehr enge Bezugspersonen 40, häufigere Kontakte mit Bezugspersonen 41 und mehr Zufriedenheit mit sozialem Rückhalt 42 nachgewiesen werden. Andere Studien hingegen zeigen, dass in niedrigeren Sozialschichten mehr familiäre Kontakte 43 bestehen und in stärkerem Maße instrumentelle Hilfe gewährt wird. 44 Der derzeitige Forschungsstand zum Zusammenhang von sozialem Status und sozialen Beziehungen ist also inkonsistent. Diese Inkonsistenz könnte folgendermaßen begründet sein: Die Statusindikatoren Bildung, Beruf und Einkommen sind mit Sozialbeziehungen möglicherweise auf unterschiedliche oder gar entgegengesetzte Weise verbunden (s.o.). Ferner stellt sich die Frage, welche spezifischen Aspekte der Sozialbeziehungen vom sozioökonomischen Status einer Person abhängen. Auch hier gilt wieder: Soziales Netzwerk und soziale Unterstützung sind facettenreiche Konstrukte mit einer Reihe von Aspekten, die in Studien selten umfassend erhoben werden. Um den Zusammenhang von sozialem Status und Beziehung systematisch zu beleuchten, wurden in einer eigenen Untersuchung die drei Schichtindikatoren Bildung, Beruf und Einkommen mit verschiedenen Beziehungsindikatoren systematisch korreliert. Die Analyse beruht auf der Basiserhebung der Heinz Nixdorf Recall Studie, einer prospektiven, epidemiologischen Herz-Kreislaufstudie, die zwischen 2001 und 2008 im Ruhrgebiet durchgeführt wurde und klinisch-bio40 | Diewald (1991). 41 | Andreß/Lipsmeier et al. (1995). 42 | Krause/Borawski-Clark (1995); Andreß/Lipsmeier et al. (1995). 43 | Knesebeck (2005). 44 | Kubzansky/Berkman et al. (1998).

184 | S IMONE W E YERS medizinische, verhaltensbezogene und psychosoziale koronare Risikofaktoren an Bürgern im mittleren und höheren Erwachsenenalter untersuchte. 45 Basierend auf Daten dieser Studie (vgl. Abb. 2) zeigt sich im Prinzip ein positiver Zusammenhang. Je niedriger das Einkommen, umso häufiger berichteten Probanden keinen festen Partner, keine Vertrauensperson, keine Teilnahme an Vereinen oder Organisationen, desto häufiger waren sie sozial isoliert 46 und hatten mangelhaften instrumentellen und emotionalen Rückhalt. 47 Ähnliche Effekte finden sich für den Schichtindikator Bildung; für den Schichtindikator berufl iche Stellung findet sich allerdings ein weniger konsistenter Zusammenhang, nur Vertrauensperson und Teilnahme an Vereinen sind hier deutlich sozial ungleich ausgeprägt (in Abbildung 2 nicht enthalten). 5 /IMR4EVXRIV

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Abbildung 2: Sozialer Status und soziale Beziehungen

Während bis hierher soziale Beziehungen in Abhängigkeit verschiedener Faktoren erläutert worden sind, werden im folgenden Abschnitt

45 | Schmermund/Möhlenkamp et al. (2002); Stang/Moebus et al.

(2005). 46 | Soziale Isolation als ungünstigste Kategorie des Social Integration Index, vgl. Berkman/Melchior et al. (2004). 47 | Vgl. Abb. 2; Odds Ratios mit 95 % Konfidenzintervall; höchstes Einkommensquantil als Referenzkategorie: Weyers (2007).

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ihre gesundheitlichen Konsequenzen empirisch dargestellt und theoretisch begründet.

4. Soziale Beziehungen und Gesundheit Soziale Net z werke und Gesundheit: empirische Befunde und theoretische Ansät ze In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass der Grad an sozialer Integration mit verschiedenen Indikatoren der Gesundheit und des Wohlbefindens assoziiert ist. Insbesondere scheinen umfangreiche, stabile und dichte soziale Netzwerke einen günstigen Einfluss auf die Überlebenszeit bei verschiedenen chronischen Erkrankungen (z.B. Herzinfarkt) und auf die altersbedingte Sterblichkeit auszuüben. Am Beispiel der prospektiven Australian Longitudinal Study of Aging (ALSA), einer Studie zur Untersuchung sozialer, biomedizinischer, verhaltensbezogener, wirtschaftlicher und umweltbezogener Gesundheitsdeterminanten bei Hochbetagten, soll dies exemplarisch verdeutlicht werden. Als Indikatoren sozialer Integration wurden Größe und Dichte sozialer Netzwerke erfasst. Die Stichprobe wurde anschließend über 10 Jahre verfolgt. Dabei zeigte sich, dass Personen, die zu Studienbeginn kleine Freundschaftsnetzwerke berichteten, ein höheres Risiko hatten, innerhalb des Untersuchungszeitraums zu versterben.48

Abbildung 3: Stärke des sozialen Netzwerks und 10-Jahres-Mortalität

48 | Vgl. Abb. 3; Relatives Risiko; größte Netzwerke als Referenzkategorie: Giles/Glonek et al. (2005).

186 | S IMONE W E YERS Warum haben soziale Netzwerke einen Einfluss auf Gesundheit bzw. Wohlbefinden? Die kausalen Zusammenhänge zwischen diesen beiden Größen sind bislang noch nicht hinreichend erforscht. Als mögliche Mechanismen wurden u.a. vorgeschlagen: Soziale Netzwerke können als Indikatoren sozialen Engagements und sozialer Aktivität betrachtet werden: Je mehr ein Mensch sich in sozialen Aktivitäten engagiert (Vereinen, kirchlichen Gruppen, Nachbarschaftshilfe), desto größer wird auch sein soziales Netzwerk sein. Aus der Forschung weiß man, dass die Teilhabe an Sozialaktivitäten mit verbesserter Gesundheit und erhöhtem Wohlbefinden einhergeht. 49 Die bestehenden Sozialkontakte könnten das Gesundheits- und Krankheitsverhalten von Menschen beeinflussen. So breitet sich z.B. Hilfesuchen im Krankheitsfall häufig entlang sozialer Netzwerke aus. Soziale Netzwerke bieten, wie beschrieben, die Voraussetzung für die Entwicklung sozialer Kohäsion und die Erfahrung sozialer Unterstützung, die ihrerseits einen günstigen Einfluss auf die Gesundheit ausüben könnten (s.u.). Welche der beschriebenen Mechanismen letztendlich in welchem Umfang dazu geeignet sind, die beobachtete Assoziation zwischen den Merkmalen sozialer Netzwerke und Gesundheit bzw. Wohlbefinden zu erklären, ist nach dem jetzigen wissenschaftlichen Kenntnisstand noch offen.

Soziale Unter stüt zung und Gesundheit: empirische Befunde und theoretische Ansät ze Die medizinsoziologische Forschung hat eine Fülle von Ergebnissen zutage gefördert, welche die Annahmen über einen Zusammenhang zwischen sozialer Unterstützung und der Gesundheit von Menschen bestätigen. Dies wird am Beispiel der prospektiven Epidemiologic Study of the Elderly (EPESE) deutlich, welche in den 1980er und 1990er Jahren in den USA durchgeführt wurde. Zu Beginn wurde u.a. das Ausmaß emotionalen Rückhalts erfasst. Im Anschluss wurde geprüft, wie viele der im Nachverfolgungszeitraum an nichttödlichem Herzinfarkt erkrankten Studienteilnehmer innerhalb eines Jahres erneut ein kardiovaskuläres Ereignis erlitten. Das Risiko war für diejenigen Patienten, die zur Eingangserhebung angegeben hatten, niemanden zu haben, der sie im Bedarfsfall gefühlsmäßig unterstützen kann, deutlich erhöht, wie die nachstehende Abbildung 4 zeigt.50 49 | Bath/Deeg (2005); Wahrendorf/Knesebeck et al. (2006). 50 | Relatives Risiko; verfügbarer Rückhalt als Referenzkategorie. Berkman/Leo-Summers et al. (1992).

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Abbildung 4: Emotionaler Rückhalt und Überleben nach Herzinfarkt









Warum sind Menschen, die über guten sozialen Rückhalt verfügen, seltener von Krankheit betroffen? Sozialer Rückhalt kann zumindest in zweierlei Hinsicht als Protektivfaktor wirken: Praktische Hilfe kann die Bewältigung von alltäglichen Belastungen (z.B. Pflege und Betreuung von Kindern oder Angehörigen) erleichtern und zur Reduktion der durch diese Umstände hervorgerufenen Stressbelastung beitragen. Auch gefühlsmäßiger Rückhalt kann positive motivationale, kognitive und emotionale Energien einer Person verstärken. Dies erleichtert die Bewältigung belastender Lebenssituationen, die krankheitswertige Stressreaktionen hervorrufen, wie z.B. Arbeitsplatzverlust oder Scheidung. In beiden Fällen spricht man von der Pufferhypothese. Zugleich wird auch angenommen, dass sozialer Rückhalt einen direkten, d.h. unabhängig vom Auftreten belastender Lebensumstände auftretenden Effekt auf die Gesundheit besitzt, oder anders ausgedrückt: dass fehlender sozialer Rückhalt selbst als eine belastende Situation zu werten ist.

5. Fazit In Bezug auf die Vergesellschaftung von Individuen wurden in diesem Beitrag lediglich die Nutzeneffekte wie Integration und Unterstützungsleistungen dargestellt. Einschränkend muss jedoch erwähnt werden, dass Vergesellschaftung auch Kosten für das Individuum bereithält. Zu diesen gehören Gewalterfahrungen, Überforderung – beispielsweise durch die Berufsrolle –, soziale Benachteiligung und

188 | S IMONE W E YERS gesellschaftliche Ausgrenzung.51 Alle diese Aspekte können sozioemotionalen Distress hervorrufen und haben ggfs. stressvermittelte Erkrankungen zur Folge.52 Basierend auf den hier dargestellten positiven und gesundheitsförderlichen Aspekten sozialer Beziehungen lassen sich dennoch einige Schlussfolgerungen ziehen: Beziehungsparameter sollten in der gesundheitlichen Versorgung eine Rolle spielen. Im Rahmen der Akutversorgung ist es sinnvoll, sozialanamnestische Fragen nach Partnerschaft, sozialen Kontakten, Gefühl der Integration oder Erhalt von Unterstützungsleistungen zu stellen. Im Rahmen von Gesundheitsförderung und Prävention lohnt es sich zu berücksichtigen, dass Gesundheit und Gesundheitsverhalten nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern Akteur und Umwelt eine Funktionseinheit bilden. Gruppendynamische Prozesse werden seit vielen Jahren im Rahmen von Selbsthilfe- und anderen Gruppen Gleichgesinnter oder Betroffener ausgenutzt, wie z.B. bei den Anonymen Alkoholikern, Weight Watchers, Herzsportgruppen etc. Neuerdings helfen Buddies zukünftigen Exrauchern in Tabakentwöhnungsprogrammen.53 Angesichts der Häufigkeit chronischer Erkrankungen in modernen Gesellschaften, die durch Verhaltensweisen wie ungünstige Ernährung, Bewegungsmangel und Rauchen begünstigt werden, birgt dies ein für die Gesundheit negatives Potential. Die Förderung sozialer Beziehungen sollte ferner politisches Ziel sein, wobei alters- und geschlechtssensible Ansätze konzipiert und die Problematik sozialer Ungleichheit berücksichtigt werden müssen. Die in diesem Kapitel dargestellten Ergebnisse zum Zusammenhang von sozialem Status und Beziehungen unterstreichen die Befunde der Studie »Gesellschaft im Reformprozess«.54 Hierbei wurde einer von neun politischen Typen identifiziert, der durch sozialen Ausschluss und Abstiegserfahrungen geprägt ist, das sogenannte abgehängte Prekariat. Dieser Gruppe gehören 8 % der befragten Personen an. Förderung sozialer Beziehungen kann auf individueller Ebene bedeuten, Rollenverlust in spezifischen Alters- und Geschlechtsgruppen, z.B. durch Berentung, Arbeitslosigkeit oder Einelternschaft, zu kompensieren. Auf struktureller Ebene kann die Förderung sozialer Integration bedeuten, öffentliche Räume zu schaffen, indem zwi51 | Siegrist (1995). 52 | Berkman/Kawachi (2000); Marmot/Wilkinson (2005); Siegrist/ Marmot (2006). 53 | Carlson/Goodey et al. (2002). 54 | Friedrich-Ebert-Stiftung (2006).

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schenmenschliche Begegnungen ermöglicht werden, etwa in Form von Freizeitangeboten oder in Form von baulichen Erneuerungsmaßnahmen in Wohnbezirken. Derartige Maßnahmen werden derzeit von der Europäischen Kommission flankiert, die sich im Rahmen der »Lissabon Agenda« bemüht, die Beseitigung der Armut bis zum Jahr 2010 entscheidend voranzubringen und ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum zu erreichen. Die Stärkung der sozialen Integration, insbesondere der von Krankheit oder Arbeitslosigkeit Betroffenen, wird hierbei als ein zentraler Faktor angesehen.55 Welchen Einfluss der soziale Wandel auf die Ausgestaltung sozialer Beziehungen hat, ist eine Frage, die gewissermaßen als Ausblick aufgeworfen, jedoch nicht beantwortet wird.56 Die Verlustthese postuliert, dass sich tradierte Lebens- und Beziehungsformen durch die Ausbildung moderner Industriegesellschaften und Faktoren wie weibliche Erwerbstätigkeit und Unabhängigkeit, erhöhte Scheidungsund sinkende Heiratsraten, berufliche und soziale Mobilität, moderne Großstadtstrukturen etc. zersetzen, ohne dass sich adäquate neue Beziehungsmuster bilden. In Folge herrschen soziale Distanz und Anonymität vor, im Extremfall aggressives und feindliches Verhalten.57 Hingegen geht die Liberalisierungsthese davon aus, dass stabile und funktionierende soziale Netzwerke fortbestehen, nur eine andere Qualität aufweisen und andere Funktionen erfüllen. Netzwerke sind weniger räumlich, sondern mehr inhaltlich organisiert58 und bedienen sich außerdem neuer Medien wie Telefon und Internet. Sie sind frei gewählt und unterliegen weniger der sozialen Kontrolle, wie es z.B. bei eheähnlichen Lebensgemeinschaften, Vereinen, Selbsthilfegruppen und ehrenamtlichen Tätigkeiten der Fall ist. Auf die eine oder andere Art wird jedoch immer gelten, was Simmel zu Beginn des letzten Jahrhunderts formulierte: »Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken, und daß sie aufeinander eifersüchtig sind; daß sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen; daß sie sich […] sympathisch oder antipathisch berühren; daß die Dankbarkeit der altruistischen Leistung eine unzerreißbar bindende Weiterwirkung bietet; dass einer den andern nach dem Wege fragt und dass sie sich füreinander anziehn und schmücken […] – all die tausend von Person zu Person spielenden, momentanen oder dauernden, 55 | Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2005). 56 | Diewald (1991). 57 | Hartfield/Hillmann (1982). 58 | Berkman/Clark (2003).

190 | S IMONE W E YERS bewussten oder unbewussten, vorüberfliegenden und folgenreichen Beziehungen […] knüpfen uns unauf hörlich zusammen«.59

Summar y Social relations are associated with health, this has been shown in social epidemiological research. The present chapter introduces two relevant medical sociological concepts which capture structural and functional aspects of social relations: social networks and social support. It is shown in how far they are influenced by demographical and socioeconomical factors such as age, sex and social status. Subsequently it is demonstrated in how far structure and quality of social relations influence the health status of those persons who maintain them. Theoretical explanations and empirical results are given. Finally the political implications are discussed and the question is raised in how far social change might affect social relations in the future.

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Vernetzte Wissenschaf t

Ein verborgenes internationales Netzwerk: Der synthetische Dar winismus Thomas Junker

1. Einleitung Netzwerke unterscheiden sich von festeren Zusammenschlüssen wie Parteien, Armeen, Staaten, Vereinen, wissenschaftlichen Schulen und Gesellschaften durch ihren geringeren Organisationsgrad. Kooperation und gemeinsame Ziele werden nicht kodifiziert und strukturell verankert, ebenso wie Hierarchien und Arbeitsteilung sind sie situationsbedingt kontinuierlichen Veränderungen ausgesetzt. Unter bestimmten Bedingungen kann dies von Vorteil sein, da sie zwar leichter zerfallen, sich aber fast ebenso schnell wieder neu formieren können. Weniger angreif bar macht sie die Tatsache, dass sie nach außen hin weitgehend unsichtbar, zumindest unauff ällig bleiben können. Für Wissenschaftshistoriker bedeutet dies, dass wissenschaftliche Netzwerke schwerer zu identifizieren sind, dass ihre Grenzen verschwommen bleiben und dass sie einem starken Wandel in der Zeit ausgesetzt sein können. Um ein solches, wegen der äußeren Bedingungen verborgenes Netzwerk wird es im Folgenden gehen. Wissenschaft ist international. Für die Wahrheit einer Erkenntnis ist ihr geographischer Ursprung ebenso unerheblich wie ihr weltanschaulicher Kontext. Auch wenn diese Norm, bei der es sich eigentlich um eine Erfahrung handelt, oft bestritten wurde und wird, haben die meisten Wissenschaftler sie doch ihren Forschungen zugrunde gelegt. Ideen wie die Klassen- oder ›Rassen‹-Gebundenheit (›deutsche‹ Wissenschaft) von Erkenntnis, der soziale Konstruktivismus und ähn-

200 | THOMAS J UNKER liche Konzepte haben allen Lippenbekenntnissen zum Trotz bei den meisten Wissenschaftlern nur oberflächliche Spuren hinterlassen. Auf der anderen Seite leben Forscher in unterschiedlichen sozialen, nationalen und historischen Kontexten. Sie gehören verschiedenen Denkkollektiven mit vielfältigen Interessen, Normen und Überzeugungen an, die sich überlappen, aber auch widersprechen können.1 So haben religiöse Wissenschaftler bekanntermaßen große Mühe darauf verwandt, die jeweils absoluten Wahrheitsansprüche von Wissenschaft und Religion mehr schlecht als recht in Einklang zu bringen. Ein anderer Widerspruch entsteht aus der Internationalität von Wissenschaft auf der einen und der nationalen Herkunft der Forscher auf der anderen Seite. Dieser Konflikt gewinnt vor allem in Zeiten politischer, ökonomischer und militärischer Auseinandersetzungen zwischen Staaten an Schärfe. Wie Wissenschaftler sich in einer solchen Situation verhalten, ob sie der Wissenschaft oder eher dem Staat ihre Loyalität gewähren oder verweigern, welche Kompromissbildungen und Lösungsstrategien zu beobachten sind, wird je nach historischer Situation, Kräfteverhältnis und Charakter der Personen stark variieren. Im Folgenden werde ich einen solchen Konfliktfall am Beispiel der Entstehung der modernen Evolutionstheorie in den 1930er und 40er Jahren diskutieren, die auch als Synthetische Evolutionstheorie bzw. als Synthetischer Darwinismus bezeichnet wird. Während dieser Jahre vor und während des Zweiten Weltkriegs, d.h. in Zeiten erbitterter ideologischer und militärischer Kämpfe, existierte ein relativ enges wissenschaftliches und persönliches Netzwerk von Forschern aus den verfeindeten Staaten USA, England, Deutschland und der Sowjetunion. Gemeinsames Ziel war es, Charles Darwins Theorien über die Evolution der Organismen anhand neuer Erkenntnisse aus Genetik, Populationsgenetik, Systematik und Paläontologie zu reformieren. Es handelte sich in erster Linie um eine Theorie der Evolutionsmechanismen und nicht um die historische Rekonstruktion der Stammesgeschichte. Als wichtigster Evolutionsfaktor galt die Selektion. Bis heute bildet dieser modernisierte Darwinismus den theoretischen Kern der wissenschaftlichen Evolutionsbiologie. Durch die weltanschaulichen und politischen Kämpfe der Zeit um den Zweiten Weltkrieg wurde die enge Zusammenarbeit der beteiligten Wissenschaftler verschiedener Länder behindert, aber nicht zerstört. Die Existenz eines Krisen überdauernden wissenschaftlichen Netzwerks war den daran beteiligten Wissenschaftlern zwar nicht völlig unbewusst – auf Nachfragen hät1 | Fleck ([1935] 1980), S. 61.

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ten sie diese sicher bestätigt und haben es indirekt auch getan. Die historischen Bedingungen seiner Entstehung führten aber später dazu, dass es relativ rasch vergessen wurde und die Annahme einer Vernetzung der internationalen Evolutionsbiologen bis heute auf starke Widerstände stößt und nur zögernd Anerkennung findet.

2. Die geographische Entstehung des Synthetischen Dar winismus Zur Frage, wer die Protagonisten des modernisierten Darwinismus waren, was ihre geographische (nationale) Herkunft war und wo sich ihr Lebensschwerpunkt befand, gibt es drei konkurrierende Modelle: 1) Das Out-of-America-, 2) das Multiregionale und 3) das Internationale Netzwerk-Modell. Wichtig ist, dass sich die Modelle auf die ursprüngliche Entstehung der Theorie in den Jahren vor 1950 beziehen und nicht auf die Rezeption, Durchsetzung und Weiterentwicklung in späteren Jahrzehnten.

2.1 Das Out-of-America-Modell Das Out-of-America-Modell war bis vor wenigen Jahren die akzeptierte Lehrmeinung. Es besagt, dass der Synthetische Darwinismus in den USA (und England) entstand, von wo aus er seinen Siegeszug antrat. Zwischen den als ›Architekten‹ bezeichneten, in den USA und England lebenden Biologen – Theodosius Dobzhansky (1900-1975), Julian Huxley (1887-1975), Ernst Mayr (1904-2005), George Gaylord Simpson (1902-1984) und G. Ledyard Stebbins (1906-2000) – bestanden vielfältige Verbindungen, sie bildeten ein wissenschaftliches Netzwerk. Internationalen Charakter erhielt es ausschließlich durch die Herkunft seiner Protagonisten aus der Sowjetunion, Deutschland, England und den USA. Dies ist die Internationalität, von der das entsprechende Standardwerk – The Evolutionary Synthesis: Perspectives on the Unification of Biology2 – überwiegend berichtet: Evolutionsbiologen unterschiedlicher nationaler und disziplinärer Herkunft etablierten in den USA ein Netzwerk zur Durchsetzung des modernisierten Darwinismus, von wo aus er sich verbreitete. Eine parallele oder gemeinsame Entwicklung mit den Arbeiten von Biologen aus anderen Ländern wird nicht angenommen. In der überwiegenden Zahl der wissenschaftshistorischen Publikatio2 | Mayr/Provine (1980).

202 | THOMAS J UNKER nen zur Geschichte der Evolutionstheorie des 20. Jahrhunderts wurde die internationale Dimension in diesem Sinne als Hinführung zu den Arbeiten der amerikanischen (bzw. englischen) Architekten gesehen oder völlig ausgeblendet. Dies gilt sowohl für englisch- als auch für deutschsprachige Publikationen.3 Charakteristisch ist folgendes Zitat: »The sense of easy progress and optimism that characterized postwar American culture was not mirrored by the war-torn continent. This accounts for the view that the evolutionary synthesis was primarily an American (to some extent, an Anglo-American) phenomenon«. 4 Die Entwicklung des wissenschaftlichen Darwinismus in Deutschland (und in anderen Ländern außerhalb der USA und England) spielt bei dieser Interpretation keine Rolle.

Abbildung 1: Das internationale Netzwerk des synthetischen Darwinismus

2.2 Das Multiregionale Modell Einer der wenigen Autoren, die dem Out-of-America-Modell schon in den 1980er Jahren widersprachen, war Ernst Mayr. Er hat immer wieder beharrlich darauf hingewiesen, mehr noch im persönlichen Gespräch als in seinen Publikationen, dass die Evolutionsbiologie in Deutschland während der Zeit des Dritten Reiches wissenschaftlich 3 | Vgl. hierzu Junker (2004), S. 16-17. 4 | Smocovitis (1992), S. 40 Fn.

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ernst zu nehmen war. Aufgrund seiner persönlichen Erinnerungen und seiner Bekanntschaft mit wichtigen Biologen auf beiden Seiten des Atlantiks wusste er, dass das Zerrbild einer sich in politischen Ideologien erschöpfenden Pseudowissenschaft nicht die ganze Wahrheit war und dass hier eine empfindliche Lücke in unserem Bild der Geschichte besteht. Aus diesem Grunde hat Mayr ein Multiregionales Modell vertreten und postuliert, dass eine ähnliche, aber unabhängige Entwicklung in Deutschland erfolgte: »Owing to Timofeeff [-Ressovsky]’s influence, an evolutionary synthesis took place in the 1930s in Germany, largely independent of the synthesis in the English-speaking countries. The visible manifestation of this German synthesis was a volume, Die Evolution der Organismen, edited by G[erhard]. Heberer (1943)«.5

Mayr zeichnete also das Bild voneinander weitgehend unabhängiger Netzwerke. Auf bauend auf dieser Vorstellung wurde das Multiregionale Modell dann Mitte der 1990er Jahre von einigen Historikern für Deutschland übernommen. Dabei hat sich folgendes Bild herauskristallisiert: Es gab eine Gruppe von Forschern, deren wissenschaftliche Methoden, Theorien und Ergebnisse mit denen der amerikanischen und englischen ›Architekten‹ weitestgehend übereinstimmten. Die wichtigsten Repräsentanten waren Erwin Baur (1875-1933), Nikolai W. TimoféeffRessovsky (1900-1981), Walter Zimmermann (1892-1980) und Bernhard Rensch (1900-1990). Sie haben die zentralen Grundsätze des selektionistischen Modells aktiv vertreten und darüber hinaus originelle empirische und theoretische Beiträge geliefert.

2.3 Das Internationale Net z werk-Modell Die These, dass es auch während der Jahre des Dritten Reichs einen wissenschaftlich ernst zu nehmenden Darwinismus in Deutschland gab, wird auch im dritten, dem Internationalen Netzwerk-Modell vertreten. Der Synthetische Darwinismus soll seinen Ursprung also nicht nur in den USA (und England) gehabt haben. Im Unterschied zum Multiregionalen Modell werden aber die Gemeinsamkeiten und die Zusammenarbeit mit den amerikanischen und englischen Architekten hervorgehoben. Es soll keine mehrfache, unabhängige Entstehung gegeben haben, sondern ein übergreifendes, internationales Projekt. Entsprechende beiläufige Äußerungen gab es vereinzelt schon früher, 5 | Mayr (1988), S. 549; Heberer (1943).

204 | THOMAS J UNKER vor allem in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. So schrieb Simpson 1949: »The synthetic theory has no Darwin, being in its nature the work of many different hands. To mention any of these is to be culpable of important omissions, but if only to indicate the breadth of the synthesis it may be noted that among the many contributors have been: in England, Fisher, Haldane, Huxley, Darlington, Waddington, and Ford; in the United States, Wright, Muller, Dobzhansky, Mayr, Dice, and Stebbins; in Germany, Timoféeff-Ressovsky and Rensch; in the Soviet Union, Chetverykov and Dubinin; in France, Teissier; in Italy, Buzzati-Traverso.«6

Ich selbst bin ursprünglich vom Multiregionalen Modell ausgegangen, wie es Mayr postuliert hatte. Als ich dann in meiner Habilitationsarbeit die Entstehung des Synthetischen Darwinismus in Deutschland zu rekonstruieren begann, stellte sich heraus, wie künstlich eine Einteilung in nationale Segmente ist.7 Wenn man die Publikationen, Ausbildung und persönlichen Beziehungen der Darwinisten auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede ansieht, so entsteht gerade keine nationale Unterteilung. Wechselseitiges Zitieren, übereinstimmende Quellen, gemeinsame Lehrer und Ausbildung, die Zusammenarbeit in Museen bzw. Labors sowie persönliche Bekanntschaften und Briefwechsel dokumentieren vielmehr einen engen Zusammenhalt über die nationalen Grenzen hinaus. Das Internationale Netzwerk-Modell nimmt also an, dass die Konflikte zwischen den Nationen die internationale Kooperation zwischen den Darwinisten behindert, aber nicht unterbunden haben.

3. Diskussion der Modelle Seine Überzeugungskraft bezieht das Out-of-America-Modell zum großen Teil aus der politischen Entwicklung, d.h. aus der Machtergreifung der Nationalsozialisten (und analog der Stalinisten in der Sowjetunion). Man geht davon aus, dass dadurch die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Evolutionsbiologie verhindert wurde, es also zu einer Gleichschaltung im Sinne der nationalsozialistischen Staatsideologie (bzw. des Lyssenkoismus in der Sowjetunion) kam. Dies ist eine auf den ersten Blick nicht unplausible Vermutung, für die es auch 6 | Simpson (1949), S. 277-78. 7 | Vgl. Junker (2004).

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einige Belege gibt. Ich will nur ein Beispiel nennen: Die evolutionstheoretische Kontroverse um die Vererbung erworbener Eigenschaften wurde insofern politisiert, als auf die kommunistische bzw. jüdische Vorliebe für lamarckistische Theorien verwiesen wurde. Ein nicht zu unterschätzender Faktor war auch der Wunsch der amerikanischen Darwinisten, sich nach 1945 von den rassistischen Thesen der Nationalsozialisten abzusetzen. Dies sollte zumindest teilweise dadurch erreicht werden, dass man generell von der Biologie in Deutschland abrückte. Wie stark man das Problem der Gleichsetzung der Evolutionstheorie mit NS-Verbrechen empfand, sei an folgendem Zitat dokumentiert. Als Ernst Mayr im Mai 1954 erstmals nach dem Krieg Europa besuchte, notierte er in seinem Tagebuch: »In Germany – now a clerical state – the anti-evol[utionary] movement is particularly strong […]. Just like McCarthy synonymizes liberalism and communism, thus after the war evolution was synonymized with the most typological selectionism, and biology with Nazi racism«.8 Dieses Motiv ist in den letzten Jahrzehnten fast noch stärker geworden. Der Darwinismus gilt oft als politisch ›rechts‹ und wird im Extrem in die Nähe der NS-Ideologie gerückt. »The ghost of Hitler«, bemerkte der Mitentdecker der DNA-Struktur James Watson, »still haunts […] geneticists all over the world«.9 Dies gilt natürlich im Speziellen für Deutschland und nicht nur für die Genetik, sondern mindestens ebenso sehr für die Evolutionstheorie. Der Darwinismus mag vielleicht richtig sein, aber er ist gefährlich; Auschwitz wird zum »Mahnmal angewandter Biologie« erklärt, und die Objektivität soll »den Wissenschaftlern die Tür zu jeder Barbarei« geöff net haben.10 Auch wenn die Vermutung, dass der Darwinismus im Dritten Reich überwiegend gleichgeschaltet war, eine gewisse Plausibilität besitzt, so kann dies die genaue historische Analyse nicht ersetzen. Dass es erst in den letzten Jahren dazu kam, hat wohl einen anderen, allgemeineren Grund. Wie die Geschichtsschreibung im Allgemeinen steht die Wissenschaftsgeschichte vor der Schwierigkeit, dass das Verständnis einer historischen Situation vom gegenwärtigen Stand des Wissens und von aktuellen politischen Konstellationen angeregt, aber auch verfremdet wird. Es ist nun genau diese Projektion der gegenwärtigen Situation in die Geschichte, die dem Out-of-America-Modell seine Überzeugungskraft gibt. Es ist eine zutreffende Rekonstruktion, allerdings einer an8 | Zit. nach Junker (2004), S. 496. 9 | Watson (2000), S. 217. 10 | Herbig/Hohlfeld (1990), S. 71; Müller-Hill 1984, S. 88.

206 | THOMAS J UNKER deren Zeit (und vor allem der Gegenwart!). Der Synthetische Darwinismus war ja nur in den westlichen Siegerstaaten des Zweiten Weltkriegs, USA und Großbritannien, wirklich erfolgreich. Ab den 1950er Jahren kam es hier zu einem enormen Aufblühen und zur Weiterentwicklung. In Deutschland wurde die darwinistische Evolutionsbiologie dagegen zunehmend an den Rand gedrängt und konnte später fast ausschließlich als geistiger Reimport einen gewissen Stellenwert behaupten. Das heißt, das Out-of-America-Modell beschreibt die Rezeptionsphase des Synthetischen Darwinismus seit den 1950er Jahren. Diese Situation wurde dann später auf die Entstehungsphase projiziert. Eine Konsequenz des Erfolges des Synthetischen Darwinismus in den USA bzw. England und der Schwäche in Deutschland war zudem, dass auch das wissenschaftsgeschichtliche Interesse sehr unterschiedlich ausfiel. Das heißt, die Geschichtsschreibung wurde von amerikanischen Wissenschaftshistorikern dominiert, und deutschsprachige Autoren übernahmen dann deren Vorauswahl als quasi selbstverständlich. Eine Folge war, dass man die relevanten Publikationen aus Deutschland (und solche aus anderen Ländern) nicht kannte und deshalb auch nicht beachtete. Dies änderte sich erst in den 1990er Jahren und führte zunächst zum Multiregionalen Modell. Sowohl das Multiregionale als auch das Internationale Netzwerk-Modell gehen davon aus, dass die biologische Forschung im Dritten Reich in wichtigen Bereichen nicht oder nur teilweise gleichgeschaltet war. Triff t es zu, dass das NS-Regime die wissenschaftliche Forschung in der Biologie nicht vollständig in seinem Sinne prägen konnte oder wollte? Wenn ja, welche Faktoren verhinderten, dass es zu einer weitgehenden Gleichschaltung kam? Wichtig war sicher, dass der Zeitraum der NSHerrschaft mit zwölf Jahren relativ kurz war. Die eigentliche wissenschaftliche Isolation, d.h. die Nichtverfügbarkeit von Publikationen und die Unterbrechung des Briefwechsels, bestand sogar nur während der Jahre 1942 bis 1946. Die Dauer der NS-Herrschaft ist insofern wichtig, als Wissenschaftler in der Regel ab einem gewissen Alter ihre Ansichten nicht mehr grundlegend ändern. Es ist also zu erwarten, dass die Ausbildung im Kaiserreich bzw. in der Weimarer Republik für ein beträchtliches Trägheitsmoment sorgte. Sie haben vielleicht ihre Rhetorik angepasst, aber dies wird in vielen Fällen oberflächlicher Natur gewesen sein. In der Wissenschaftsgeschichte sind entsprechende Effekte als Plancks Prinzip bekannt: »Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation

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von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist«.11 Einige Biologen werden deshalb Entwicklungen früherer Epochen fortgeführt haben, obwohl diese nun politisch nicht mehr opportun waren. Selbst wenn einige Autoren bereits vor 1933 mit Ideen sympathisierten, die dann in die NS-Ideologie einflossen, was anzunehmen ist, so betriff t dies keineswegs alle Biologen. Und schließlich muss die sprachliche Nähe zwischen biologischen Theorien und politischen Schlagworten noch keine inhaltliche Übereinstimmung bedeuten. Die politische Bedeutung von biologischen bzw. pseudo-biologischen Begriffen wie ›Rasse‹, ›Deutsches Blut‹ oder ›Blut und Boden‹ hatte ja nur eine äußerst lose Verbindung zum naturwissenschaftlichen Verständnis. Viel näher sind hier religiöse Vorstellungen sowie vielfältige mythologische und literarische Bezüge. Neben, in Verbindung oder in Konfrontation mit diesen kulturellen Bezügen existierten wissenschaftliche Interpretationen der jeweiligen Phänomene. Nachdem beispielsweise der Gegenstand ›Blut‹ naturwissenschaftlich definiert war, ließ er sich nur mehr oberflächlich mit den jeweiligen religiösen, psychologischen oder ideologischen Bedeutungen verbinden. Ein weiterer Grund für die (reduzierte) Fortexistenz der wissenschaftlichen Biologie mag gewesen sein, dass mit der Vorbereitung auf den Krieg die Ideologisierung der Wissenschaft zugunsten ihrer Funktionalität in den Hintergrund trat. Dies wurde für die Physik beschrieben, und eine parallele Entwicklung gab es auch in der biologischen Forschung.12 Und schließlich haben wohl selbst Autoren, die bestrebt waren, sich an das NS-Regime anzupassen, noch einen Rest von Interesse für ihre Wissenschaft bewahrt und zum Ausdruck gebracht. Diese Überlegungen zeigen, dass es nicht unplausibel ist anzunehmen, dass neben der Staatsideologie des Dritten Reiches, die sich in zentralen Punkten mit Versatzstücken biologischer Theorien schmückte, eine wissenschaftliche Forschung in der Biologie existieren konnte. Letztlich ist dies aber eine empirische Frage. Was also spricht für das spezifische Multiregionale Modell, die Hypothese, dass die Entwicklung in Deutschland (und anderen Ländern) unabhängig von derjenigen in den USA war? Die Idee einer eigenständigen deutschen Entwicklung entstand ursprünglich Ende der 1940er Jahre und wurde mit der mangelnden Kommunikation während der Jahre des Dritten Reichs begründet. Die Beantwortung der Frage, ob es Isolation oder ein übergreifendes Netzwerk gab, hängt 11 | Planck (1948), S. 22. 12 | Vgl. Beyerchen (1977), S. 176-88.

208 | THOMAS J UNKER entscheidend von der Auswahl der Autoren ab, die man dem Synthetischen Darwinismus zuordnet. Sieht man beispielsweise die in der Evolution der Organismen von 1943 vertretenen Autoren als typische Repräsentanten, so spricht tatsächlich viel für das Multiregionale Modell. Eine genauere Analyse der Publikationen in der Evolution der Organismen macht aber deutlich, dass die Autoren in ihrer Mehrzahl nur oberflächliche Affinität zum modernen Darwinismus hatten. Sie bildeten ein eigenes Netzwerk mit der Zentralfigur Gerhard Heberer (1901-1973), das sich teilweise mit dem Netzwerk des Synthetischen Darwinismus überschnitt, aber nicht mit ihm identisch war. Was spricht nun für das Internationale Netzwerk-Modell? Zunächst entspricht es dem, was Wissenschaft ihren eigenen Normen zufolge eigentlich sein sollte. So ist die Wissenschaft im Idealfall, vielfach aber auch in der Realität, international ausgerichtet. Wenn man die Geschichte des Synthetischen Darwinismus unter diesem Blickwinkel ansieht, so zeigt sich eine erstaunliche Vielfalt und Intensität der Kooperation. Deutlich wird der Netzwerkcharakter beispielsweise, wenn man die wechselseitigen Zitationen betrachtet. So ist Timoféeff-Ressovsky einer der am häufigsten zitierten Autoren in Dobzhanskys Genetics and the Origin of Species. Eine Analyse der nationalen Herkunft der Autoren in Timoféeff-Ressovskys Publikationen wiederum zeigt folgendes Bild. Im Literaturverzeichnis von »Genetik und Evolution« von 1939 finden sich 25 Einträge von deutschen Autoren, 128 von russischen und 90 von Autoren aus den USA, Frankreich, England und anderen Staaten.13 Mayrs Bibliographie in Systematics and the Origin of Species (1942) wiederum enthält zu mehr als einem Drittel deutsche Publikationen. Bei ihm ist Rensch der Autor mit den meisten Einträgen im Literaturverzeichnis (nach Mayr selbst). Es gab auch vielfältige und enge persönliche Kontakte, beispielsweise zwischen Hermann J. Muller (1890-1967) und Timoféeff-Ressovsky. Bereits 1922 hatte Muller, ein Mitarbeiter Thomas Hunt Morgans (18661945), das Institut für experimentelle Biologie in Moskau besucht, an dem Timoféeff-Ressovsky beschäftigt war, und als Gastgeschenk einige Kulturen mit Drosophila-Mutanten überbracht. 1932 ging Muller dann als Guggenheim Fellow an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch, wo er mit Timoféeff-Ressovsky zusammenarbeitete. Timoféeff-Ressovsky wiederum hatte engen Kontakt zu Rensch und vielen anderen evolutionstheoretisch interessierten Biologen in Ber13 | Gezählt wurden jeweils die Erstautoren; Dobzhansky und Timoféeff-Ressovsky wurden der russischen, Richard Goldschmidt der deutschen Literatur zugerechnet.

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lin. So hat Rensch in den Jahren 1931-33 am Kaiser Wilhelm-Institut in Berlin-Buch Experimente mit Drosophila durchgeführt, um seine lamarckistischen Ideen zu testen. Rensch wiederum hielt einen intensiven wissenschaftlichen und persönlichen Briefwechsel mit seinem ehemaligen Kollegen und Freund Mayr aufrecht. Dass die entsprechenden Kontakte auch nach 1933 weiter geführt wurden, dokumentiert beispielsweise die Publikation einer Übersetzung von Timoféeff-Ressovskys zentralem Artikel »Genetik und Evolution« (1939) als »Mutations and Geographical Variation« in Huxleys The New Systematics (1940). Das Multiregionale Modell hat den Eindruck erweckt, als ließen sich verschiedene nationale Varianten des Synthetischen Darwinismus unterscheiden. Die durch die politischen Ereignisse erzwungene Nationalisierung der Wissenschaft wurde von seinen wichtigsten Vertretern in Deutschland aber abgelehnt und sie haben ihr – so weit wie möglich – entgegengearbeitet. Baur, Zimmermann, Timoféeff-Ressovsky und Rensch wussten sehr genau über die Entwicklungen in England und den USA Bescheid und umgekehrt. Sie haben ihre Forschungen auch nicht als ›deutsch‹ verstanden. Sie arbeiteten in Deutschland und publizierten überwiegend auf Deutsch, aber sie produzierten keine deutsche Version des Synthetischen Darwinismus. Analoges gilt für die sowjetischen, amerikanischen und englischen ›Architekten‹.

4. Warum Wiederentdeckung? Falls meine Rekonstruktion des internationalen darwinistischen Netzwerkes der 1930er und 40er Jahre zutreffend ist, stellt sich die Frage, warum es überhaupt seiner Wiederentdeckung bedurfte. Sieht man sich die zeitgenössischen Publikationen an, forscht man nur ein wenig den persönlichen Kontakten und Briefwechseln nach, so ist seine Existenz ganz offensichtlich und kaum zu bestreiten. Warum aber wurde dieses Netzwerk verdrängt, warum wird es heute so hartnäckig geleugnet? Ein Grund ist, dass sowohl das Out-of-America- als auch das Multiregionale Modell sinnvolle Rekonstruktionen für bestimmte historische Phänomene darstellen (die Jahre nach 1950 bzw. das Heberer-Netzwerk). Es kommt ihnen also ein gewisser Wahrheitsgehalt zu, aber für andere Perioden bzw. Personen. Damit lässt sich ein Teil des Widerstandes, nicht aber die für ein wissenschaftliches Thema unangebrachte Emotionalität mancher Reaktionen erklären.14 14 | So unterstellte mir Sander Gliboff ›whitewashing Nazism‹, weil ich gezeigt hatte, dass das NS-Regime aus den genannten Gründen die

210 | THOMAS J UNKER Es fällt vielen Wissenschaftshistorikern offensichtlich schwer, sich von holzschnittartigem Schwarz-Weiß-Denken freizumachen, demzufolge alles, was in Deutschland während der NS-Zeit stattfand, auch NS-Politik oder -Ideologie gewesen sein muss. Wie unsinnig ein solcher Determinismus ist, erhellt sich schon daraus, dass es im Wesentlichen berufliche Zufälle waren, die Mayr und Dobzhansky in die USA, Rensch und Timoféeff-Ressovsky nach Berlin führten, und es gibt keinen Hinweis darauf, dass dadurch ihre allgemeine politische und weltanschauliche Einstellung oder ihr wissenschaftliches Werk grundlegend bestimmt wurden. Eine Ursache für die Irritation, die speziell von der Idee eines internationalen darwinistischen Netzwerkes ausgeht, besteht zudem darin, dass es in vielerlei Hinsicht unserer von den politischen Ereignissen dominierten Sichtweise widerspricht. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war in der Tat von erbitterten politischen, ideologischen und militärischen Auseinandersetzungen geprägt. Das daraus abgeleitete Geschichtsraster ist so eingeschliffen, dass ihm widersprechende Beispiele nur schwer wahrgenommen werden. D.h., die allgemeine politische Geschichte wird quasi selbstverständlich auf die Wissenschaftsgeschichte übertragen. Sowohl das Out-of-America- als auch das Multiregionale Modell entsprechen diesem Raster und erscheinen deshalb zunächst plausibler. Fremdartig mag auch die dokumentierte Internationalität in Gestalt gleichberechtigter Kommunikation wirken, die sich, obwohl phänomenologisch auf den ersten Blick ähnlich, doch sehr grundlegend von der heutigen Globalisierung unterscheidet. Und schließlich fällt es offensichtlich schwer, der Wissenschaft eine gewisse Autonomie dem politischen Zeitgeist gegenüber zuzuerkennen. Wissenschaftsfreiheit allgemein gilt im besten Falle als obsolet, anachronistisch und naiv. Entsprechend wenig traut man früheren Forschern in dieser Hinsicht zu, man sieht in ihnen kaum mehr als »ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können«, wie Bert Brecht so prägnant im Leben des Galilei formuliert hat.15 Wenn meine Rekonstruktion des darwinistischen Netzwerks zutriff t, dann ist dieses negative Bild, das – nebenbei bemerkt – kein besonders schmeichelhaftes Licht auf unsere eigene Zeit wirft, vielleicht nur die halbe Wahrheit, und die Wissenschaftsgeschichte hat in dieser Hinsicht auch hoffnungsvolle Aspekte zu bieten.

wissenschaftliche Evolutionsbiologie nicht völlig zerstören konnte oder wollte, vgl. Gliboff (2004). 15 | Brecht ([1938/39] 1998), S. 126.

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Für die Wissenschaftsgeschichte erweist sich die Netzwerkanalyse als ein unverzichtbares Hilfsmittel. Viele wichtige Interaktionen von Wissenschaftlern finden gerade nicht in den offiziellen Institutionen und Publikationsmedien statt, sondern an ihrem Rande oder in anderen, beispielsweise privaten Kontexten. Einige ihrer Spuren wird man in publizierten Danksagungen, in den dokumentierten Erinnerungen oder Briefwechseln finden; viele andere Begegnungen wie persönliche Gespräche oder flüchtige Treffen hinterlassen aber kaum Spuren und sind den Akteuren oft nicht bewusst, können aber gleichzeitig der Schlüssel zum Verständnis einer Situation sein. Dies wird vor allem dann von großer Bedeutung sein, wenn die Interaktionen dem offi ziellen Selbstverständnis einer Wissenschaftsdisziplin oder politischen Vorgaben widersprechen. Dann dürfen sie gerade nicht bekannt werden und es treten Phänomene auf, die dem individuellen Verdrängen von Gedanken analog sind. Die Verbindungen werden in der bewussten Erinnerung gelöscht, was zur Folge hat, dass die verschiedenen Teile eines gedanklichen oder sozialen Netzwerks als unverbundene, isolierte Erscheinungen sichtbar werden. Eine Netzwerkanalyse, die auch auf vermeintlich nebensächlichen Hinweisen beruht, kann in einer solchen Situation für das Verständnis der Wissenschaft und ihrer Geschichte etwas Ähnliches leisten wie eine gelungene Psychoanalyse für das Individuum – sie kann die unterbrochenen und verdrängten Verbindungen zwischen den isolierten Arealen wiederherstellen und ihnen so neuen Sinn verleihen.

Summar y Under the debris left over by the Third Reich German scientific evolutionary biology was hidden to a large extent. As a consequence it was assumed that the modern (synthetic) theory of evolution had its origin in the United States and England. This, however, was not the case, but it originated as part of a broad international network, in which scientists from the Soviet Union and Germany played a central role. The ideological, political and military conflicts of the time impeded their close cooperation, but did not destroy it. This »International network model« is compared with two alternative hypotheses about the geographic origin of the modern theory of evolution in the 1930s and 1940s (»Out-of-America-« and »Multiregional model«). In conclusion, I discuss various reasons which explain the opposition to the idea of an international Darwinian network.

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Der Austausch von Wissen und die rekonstruktive Visualisierung formeller und informeller Denkkollektive Heiner Fangerau

1. Wissenschaf tliche Austauschprozesse Wissenschaftliche Austauschprozesse zwischen Forschern oder Forschergruppen, die Verwirklichung und Umsetzung gemeinsamer Forschungsansätze sowie der damit verbundene Methoden-, Kultur-, Technologie- und Wissenstransfer zwischen unterschiedlichen Personengruppen, Disziplinen oder Nationen sind wesentlicher Gegenstand wissenschaftshistorischer Forschung. Im Mittelpunkt stehen die Fragen, auf welche Weise der Transport von Wissen erfolgte, welche Wissenseinflüsse einzelne Wissenschaftler in ihren Forschungszielen sowie -methoden beeinflussten und wie transferiertes und am Zielort des Transfers existierendes Wissen unter dem Einfluss kultureller Vorgaben interagierten, so dass in der Folge ein neues, transformiertes Wissen und Handeln entstehen konnte.1 1 | Prägnante Übersichtsarbeiten zur Thematik wurden unter anderem von Paulmann (1998), Kocka (2003) und Ash (2006) vorgelegt. Reich an Fallstudien ist insbesondere der interkulturelle Wissenschaftstransfer zwischen Deutschland und Frankreich (Kleinert (1988); Kanz (1997), sowie der transatlantische Wissenstransfer in den Lebenswissenschaften (Fangerau and Müller 2007). Vielfach ist vor allem der Wissenstransfer durch die Träger von Wissen fokussiert worden, der im günstigen Fall auf Reisen erfolgte (Rees/Siebers et al. (2002); Müller (2004)), oftmals aber

216 | H EINER FANGERAU Kontakt und Kommunikation stellen dabei die essentiellen Elemente möglichen Transfers dar, woraus folgt, dass die Analyse von Kommunikationsprozessen einer der Schlüssel zur Erforschung von Wissenstransfer und Wissensentwicklung ist. Dies gilt insbesondere auch für die Untersuchung von Austausch- und Adaptationsvorgängen, die zwischen einzelnen Wissenschaftler(gruppe)n auftreten, wenn es darum geht, möglichst umfassend die intellektuelle Grundlage von Forschungsansätzen zu erfassen. »Communication is the problem to the answer« titelte einst treffend die Popband »10cc«: Es gilt zu erfassen, wie, wer, wann und möglichst auch warum Personen in Kontakt miteinander traten und was der Gegenstand ihrer Kommunikation war.2 In den Wissenschaften gehören der Austausch von Ideen und wissenschaftliche Kommunikation spätestens seit dem 17. Jahrhundert zu den zentralen Elementen wissenschaftlicher Betätigung.3 Die Interaktion zwischen Forschern kann dabei auf mehrere Arten erfolgen. Neben dem persönlichen Austausch über Briefe oder persönliche Besuche und Gespräche stehen Publikationen und zuletzt das gegenseitige Halten von Vorträgen auf Konferenzen. Jeder Forscher hat dabei andere Präferenzen, die ihrerseits wiederum vom vermittelten Gegenstand abhängen. Während zum Beispiel Laborfertigkeiten eher durch persönliche Vermittlung weitergegeben werden, stehen im allgemeinen wissenschaftlichen Betrieb Publikationen und Vorträge im Vordergrund, wobei in der Regel die Kombination wissenschaftlicher Kommunikationsformen am durchschlagkräftigsten erscheinen muss. Der deutsch-amerikanische Physiologe Jacques Loeb betonte beispielsweise am Beginn des 19. Jahrhunderts in einem Brief an seinen Mentor, den Physiologen Nathan Zuntz, pointiert seine Wertschätzung für den wissenschaftlichen Austausch unter Forschern im Rahmen persönlicher Kommunikation und wissenschaftlicher Publikationen. Über eine Konferenz, die Zuntz verpasst hatte, schrieb er ihm: »Scientifically you missed nothing, since the meetings were not very well attended, and there were too many of them going on simultaneously to give anybody enough mental composure to think thoroughly about anything. auch erzwungener Maßen durch Flucht oder Vertreibung ausgelöst wurde (Ash [1995]). 2 | Unter anderem untersuchte Robert Whitley schon sehr früh »Communication Nets in ([1969] Science Whitley)«. Siehe auch Whitley (1984). 3 | Eine kurze Übersicht findet sich bei Siegelman (1998).

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I think, after all literature is the field by which matters must be adjusted, and secondly perhaps private discussion among the workers themselves. The meetings, I am afraid, help the cause of science very little; they have only the one good thing that they give us a chance to see our friends.«4

Wissenschaftshistoriker, -philosophen und -soziologen wie Thomas S. Kuhn, Robert Merton, Robert Whitley oder Bruno Latour haben schon vor und seit vielen Jahren darauf hingewiesen, dass wissenschaftliche Aktivität und die Verbreitung von Forschungsergebnissen das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung darstellen.5 Loeb könnte daher in seiner Stellungnahme den Wert von Tagungen, Konferenzen und Vorträgen für die Herstellung einer direkten Verbindung von persönlichen Beziehungen und wissenschaftlicher Literatur unterschätzt haben. Die Vernetzung von sozialen Beziehungen und Literaturbeziehungen, wie sie sich in Zitationen spiegeln, erscheint im Hinblick auf die Verbreitung von Wissen eine besonders viel versprechende Strategie zu sein.6 Dies bedeutet, dass auch aus historischer Perspektive genau diese grenzüberschreitende Verknüpfung von Kommunikationsebenen von besonderem Interesse ist. Wenn man den Versuch unternimmt, beide Kommunikationsebenen in Form der persönlichen Kontakte eines Wissenschaftlers und in Form der von ihm herangezogenen Autoren wissenschaftlicher Literatur zu rekonstruieren, so konstituiert die daraus resultierende Topographie von Personen im metaphorischen Sinne ein Netzwerk, dessen Informationsgehalt weit über die Einzelbetrachtung der entsprechenden Akteure hinausreicht: Zum einen sind die Mitglieder des persönlichen Netzwerkes und des Autorennetzwerkes, das die literaturgebundene intellektuelle Basis eines Forschers darstellt, nicht nur direkt miteinander verbunden, sondern zusätzlich auch über weitere einflussreiche Autoritäten. Zum anderen repräsentiert jeder Akteur des Gesamtnetzes wiederum eine eigene Wissenschaftleridentität mit wieder jeweils eigener intellektueller und persönlicher Basis, die wiederum in der Form eines Netzwerkes ausgestaltet ist. Gruppen oder Cluster von Personen repräsentieren im Resultat als Träger von Wissen Disziplinen oder im übertragenen Sinne 4 | Loeb an Zuntz 27.01.1913, Sammlung Darmstädter, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. 5 | Exzellente Einführungen und Übersichten bieten zum Beispiel allgemein Weingart (2003) und auf naturwissenschaftliches Wissen bezogen Golinski (2005). 6 | Siehe z.B. Marion/Garfield et al. (2003); White/Wellman et al. (2004).

218 | H EINER FANGERAU disziplinäres Wissen. Lange vor Kuhn oder Merton hat der polnische Bakteriologe und Wissenschaftsphilosoph Ludwik Fleck für solche vernetzten Gruppen die Bezeichnung »Denkkollektiv« geprägt.7 Im Folgenden wird versucht zu erklären, warum und in welcher Weise ein Historiker, der sich für Fragen der Wissensentwicklung und des Wissenstransfers – auch des interdisziplinären8 – interessiert, diese Kollektive und ihre netzwerkartigen Strukturen konstruieren kann. Dabei wird ein Modell vorgeschlagen, das formelle und informelle Denkkollektive unterscheidet und Methoden aus den Sozial- und Informationswissenschaften für historische Zwecke adaptiert, die geeignet sind, klassische Transferanalysen und Wissensentwicklungsstudien zu unterstützen. Zum Abschluss werden die Möglichkeiten, Probleme und Grenzen dieses Ansatzes für die vorgeschlagenen Arbeitsfelder diskutiert.

2. Formelle und informelle Denkkollek tive Wird ein Teil des Wissenschaftsbetriebes als reputatives Kommunikationssystem begriffen, innerhalb dessen Forschungsmethoden und -ergebnisse im »Kollegenkreis« diskutiert werden, so können wissen7 | Flecks berühmte Untersuchung zur »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« erschien auf Deutsch bereits 1935. Stark verkürzt entstehen nach Flecks Erklärungsmodell Ideen immer in Wechselwirkung mit einer Forschergemeinschaft, die über einen bestimmten Denk- und Wahrnehmungsstil, ein spezifisches gedankliches und sachliches Verarbeiten des Wahrgenommenen verfügt. Damit kommen unvermeidlich Faktoren ins Spiel, die nicht primär im Denken eines einzelnen Wissenschaftlers allein verankert sind. Für diese »Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen«, hat Fleck den Begriff des »Denkkollektivs«, das sich durch einen eigenen »Denkstil« auszeichnet, geprägt (Fleck (1980), S. 54). Dieser kulturgebundene und vom Kollektiv kultivierte Denkstil, der sich auf publikatorischer Ebene vor allem in den jeweiligen Lehr- und Handbüchern manifestiert, wird geformt durch gemeinsame Probleme, die ein Denkkollektiv interessieren, durch Urteile, die eine Gruppe von Wissenschaftlern als evident betrachtet, und schließlich durch die Methoden, die eine Forschergruppe als Erkenntnismittel anwendet. 8 | Ein Beispiel für die Anwendung quantitativer Methoden zur Analyse interdisziplinären Transfers, die auf dem im Folgenden präsentierten Netzwerkgedanken basieren, liefern Rinia/van Leeuwen et al. (2002).

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schaftliche Publikationen neben anderen Überlieferungsformaten wie Briefen, Manuskripten, Laborbüchern, Gesprächsaufzeichnungen, Konferenzberichten etc. als das physische Substrat dieser Auseinandersetzungen angesehen werden.9 Über Zitationen erfolgende Textvernetzungen in wissenschaftlichen Publikationen können in diesem Sinne sowohl in erster Linie als ein intellektuelles Netzwerk als auch in zweiter Linie als Repräsentationsform eines sozialen Netzwerkes gedeutet werden, das von Forschern mitunter auch strategisch aufgebaut und eingesetzt wird, um bestimmte Ziele zu erreichen.10 Die Analyse von Textvernetzungen mit Hilfe von Zitationsanalysen bietet eine Möglichkeit wissenschaftliche (soziale) Netzwerke auf intellektueller Ebene zu erfassen. Solche Untersuchungen gehen über die persönlichen sozialen Interaktionen zwischen Forschern hinaus und erweitern sie um die Ebene des gemeinsam Gedachten. Sie sind geeignet, »Denkkollektive« im Sinne Ludwik Flecks zu ermitteln, die Personen kennzeichnen, die einem gemeinsamen Denkstil verhaftet sind. Sie verdeutlichen dabei die intellektuellen Bezüge a) zwischen Autoren, die sich persönlich kennen können, b) zwischen Autoren, die sich persönlich nicht bekannt sind, aber an gleichen Forschungsfragen arbeiten und c) zwischen Autoren und ihren vielleicht schon verstorbenen wissenschaftlichen Autoritäten. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass das Zitieren einer Arbeit und eines Autors mehrere Gründe haben kann. Ein Autor versucht mit Zitationen die unterschiedlichsten Ziele zu erreichen, die 9 | Seit mehr als 100 Jahren wird systematisch der Versuch unternommen, dieses physische Substrat zu messen, zu quantifizieren und auf diese Weise zu bewerten. Darüber hinaus wird im Rahmen der so genannten »Szientometrie« versucht, dieses Substrat als Teil der wissenschaftlichen Aktivität von Forschern zu deuten und zum Teil die Bezahlung ihrer Arbeit an diese Aktivität zu koppeln. Szientometrie ist ein 1969 von Vassily, Nalimov und Mulchenko geprägter Begriff (»Naukometriya«). Zur Geschichte dieses Forschungszweiges vergleiche Schmidmaier (1984); Hertzel (1985); Hood/Wilson (2001). Einer der ersten Versuche, Zitationsanalysen für die Geschichtsschreibung nutzbar zu machen, stammt aus dem Jahr 1917 und behandelt die Geschichte der vergleichenden Anatomie im Zitationsspiegel (Cole/Eales (1917). Vgl. hierzu auch die Vorschläge zu einer qualitativen Erweiterung von Zitationen von J. Rauter in diesem Band. 10 | Für die Praxis und Funktion von Verweisen und Zitaten in den Wissenschaften siehe vor allem die Arbeit von Eva-Maria Jakobs mit umfassender Bibliographie (Jakobs (1999).

220 | H EINER FANGERAU von der Identifi kation und Dissemination von Informationen bis hin zur sozialen Komponente wissenschaftlicher Kommunikation innerhalb des Reputationssystems reichen können.11 Unter diesem Blickwinkel stellen die Zitationsraten im gegenüber der Zitationsanalyse kritischen Sinne Wolfgang Stocks ein Maß dafür dar, wie wissenschaftliche Autoren Veranlassung hatten, »sich überhaupt – ohne Berücksichtigung der Stellung des Zitierten in der zitierenden Arbeit und ohne Berücksichtigung von Themen – mit den Wissenschaftlern, Druckwerken usw. … zu befassen und dieses auch … kund[zu]tun«.12 Dies schließt auch negative Zitationen in die Betrachtung ein, die auch zum Denkkollektiv gehören, denn auch negativ zitierte Autoren scheinen immerhin noch so weit in den Denkstil eines Autors hineinzupassen, dass ihre Ansichten noch in die Denkzwänge eines Autors einzugliedern sind. Sonst würde er sie nicht zitieren. Wissenschaftliche Literatur wird in der Regel in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert, die bestimmte, der jeweiligen disziplinären Tradition folgende wissenschaftliche Normen einhalten. Diese Kommunikationsform unter Wissenschaftlern kann als das »formelle Kommunikationssystem« der Wissenschaft bezeichnet werden. Aus diesem Grund schlage ich vor, Denkkollektive, die mittels Zitationsanalysen auf der Basis eines aus wissenschaftlichen Publikationen gebildeten Korpus rekonstruiert werden, als »formelles Denkkollektiv« zu bezeichnen. Die Untersuchung dieser Kollektive ist von unschätzbarem Wert, wenn zum Beispiel interdisziplinäre (Forschungsebene) oder internationale (Förderungsebene) Transferprozesse oder das Fortschreiten von Forschungsfronten analysiert werden sollen. Die sich bewegende Forschungsfront wird durch die Gruppe von Arbeiten charakterisiert, die zum jeweiligen Betrachtungszeitpunkt zum aktiven Literaturcorpus gehören und ähnliche Arbeiten zitieren. Die innerhalb dieses Corpus zitierten Arbeiten wiederum können als intellektuelle Grundlage (»intellectual base«) eines Forschungsfeldes angesehen werden. Die zitierenden Arbeiten bilden die Forschungsfront und die zitierten Autoren mit ihren Forschungsinhalten repräsentieren dessen intellektuelle Grundlage.13 Die Analyse der formellen Denkkollektive verliert aber drastisch an Erklärungskraft in Studien, die darauf abzielen, Netzwerke von Personen zu rekonstruieren, die nicht an der formellen Kommuni11 | Cronin (1981); Cozzens (1989). Zur »Psychologie« des Zitierens vgl. Bavelas (1978). 12 | Stock (1985), S. 314. 13 | Persson (1994), S. 31.

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kation im Wissenschaftssystem über Publikationen teilhaben. Ein Beispiel für eine solche Situation findet sich in einer wissenschaftlichen Disziplin wie der Medizin, die sich als angewandte Wissenschaft zwischen den Polen der Forschung und der praktischen Anwendung bewegt. Wenn beispielsweise in der Medizingeschichte der Übergang biomedizinischer Ansätze und Methoden in den Bereich der erweiterten klinischen Praxis untersucht werden soll, so müsste diese Untersuchung unbedingt die Rezeption biomedizinischen Wissens durch klinisch tätige Ärzte umfassen. Gerade dieser Bereich aber wird nicht in Darstellungen formeller Denkkollektive abgebildet, da sich diese praktisch tätigen Ärzte nicht in jedem Fall am Publikationsbetrieb der Wissenschaft beteiligen und somit auch nicht in diesem Forum ihre Erfahrungen der Aneignung neuer Methoden nach disziplinären Kommunikationsnormen diskutieren. Ludwik Fleck hat hier von eher exoterischen Kreisen gesprochen und sie vom inneren Kern einer Wissenschaft, dem esoterischen Kreis abgegrenzt.14 Darüber hinaus bietet der informelle Austausch einige Vorteile, die Herbert Menzel bereits 1973 in sechs Funktionen interpersoneller Wissenschaftskommunikation zusammengefasst hat. Er nennt als Vorteile: 1. Unverzüglichkeit von Informationsinhalten, 2. die gefi lterte oder selektive Vermittlung von Informationen, 3. Vorauswahl, Evaluation und Synthese von Informationen, 4. Extraktion von Informationen mit Handlungsfolgen, 5. Vermittlung schwer darstellbarer Inhalte, 6. sofortiges Feedback.15 Zur Untersuchung von informellen Austauschszenarien, die diese Vorteile nutzen, scheinen soziale Netzwerkanalysen, die sich auf die direkten Kontakte zwischen Akteuren konzentrieren, von Vorteil zu sein.16 Sie helfen, nicht nur formelle wissenschaftliche Beziehungen, sondern auch Verbindungen und persönliche Beziehungen auf einer informellen Ebene historisch zu rekonstruieren. Mit ihrer Hilfe können für Transferprozesse relevante Kontakte ermittelt werden, die eher die Vermittlung von Fertigkeiten oder stillschweigendem Wissen repräsentieren. Gerade diese Wissensformen spiegeln sich weni14 | Für eine Übersicht, die auch die unterschiedliche Textsorten der jeweiligen Kreise diskutiert, siehe Martin/Fangerau (2006). 15 | Menzel (1973). 16 | Im weiteren Sinne wurden auch Austauschprozesse außerhalb von Zitationen schon als formelle Kommunikation in der Wissenschaft bezeichnet und als Netzwerk untersucht, wenn sie soziale Vorgänge im Wissenschaftsbetrieb umfassten, siehe Todorov/Atanassov (1986). Hier und im Folgenden bezieht sich der formelle Austausch allein auf Textvernetzungen durch Zitationen in wissenschaftlichen Arbeiten.

222 | H EINER FANGERAU ger im formellen wissenschaftlichen Denkkollektiv, da sie in dessen normierten Kommunikationssystemen, in denen es um Experimentalauf bauten, Theorien und deren Diskussion geht, keinen Platz haben. Selbstverständlich verlangt dabei auch die Rekonstruktion informeller Netzwerke eine an den Inhalten von Kontakten orientierte Interpretation. Die Analyse der Verbindungen innerhalb eines informellen Kommunikationsnetzes bedeutet für den Wissenschaftshistoriker natürlich etwas anderes als für den Soziologen. Anders als der Soziologe kann er sich nicht auf die systematische Befragung der untersuchten Protagonisten stützen, sondern muss andere Quellen heranziehen, um überhaupt die Existenz, die Qualität und den Inhalt sozialer Verbindungen und Kontakte bestimmen zu können. Mögliche Quellen können in Form von Publikationen, Autobiographien, institutionellen Verbindungen, familiären Kontakten und in besonderer Weise auch von Korrespondenzen vorliegen. Wie die Arbeit mit den anderen genannten Quellen auch stellt die qualitative Korrespondenzanalyse ein beinahe schon traditionelles historisches Werkzeug dar. Zahlreiche Matrizen wurden entwickelt, um Inhalte, Kontexte und sich in Korrespondenzen abspielende wissenschaftliche Transfer- und Adaptationsprozesse systematisch zu analysieren. In exemplarischer Weise hat schon vor vielen Jahren Joachim Thiele eine solche Matrix schematisiert. In einer ausführlichen Einleitung zu einer Sammlung der wissenschaftlichen Korrespondenz Ernst Machs, die Thiele publizierte, schlägt er, um ein Beispiel für »wissenschaftliche Kommunikation« und deren Untersuchung zu geben, vor, neben den reinen Gegenständen der Korrespondenz insbesondere Normenanalysen im Methodenbereich, in der wissenschaftlichen Kommunikation und im Individualbereich der beteiligten Wissenschaftler anzustellen.17 Zusätzlich zu solchen qualitativen Analysen kann es für bestimmte Fragestellungen auch von Wert sein, das Korrespondenznetzwerk eines Protagonisten zu untersuchen und dieses noch um die in der Korrespondenz erwähnten Personen zu erweitern. Unter der Annahme, dass das Auftreten von Namen in der Korrespondenz ähnlich wie das Zitieren in der formellen wissenschaftlichen Kommunikation anzeigt, ob und in wie fern sich Briefschreiber oder -empfänger mit einer Persönlichkeit überhaupt beschäftigten, nehmen auf diese Weise entstehende Personennetzwerke einen Doppelcharakter ein: Auf der einen Seite spiegeln sie direkte und indirekte soziale Kontakte wider, auf der anderen Seite können sie – ebenso wie Zitationen – als intel17 | Thiele (1978), S. 9-27.

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lektuelle Grundlage oder intellektueller Kontext gedacht werden. In Korrespondenzen genannte Personen können so im Wesentlichen vier Charakterzüge tragen, die unterschiedliche Beziehungen zum Briefautor auf verschiedenen Ebenen kennzeichnen. Diese Ebenen wiederum können sich überschneiden. Erstens werden Personen genannt, zu denen Briefsender und/oder -empfänger informelle persönliche Kontakte unterhalten, ohne dass sie sich persönlich begegnet sein oder in einem engeren Verhältnis stehen müssen. Zweitens können genannte Personen in direktem sozialen Kontakten zu den Korrespondenten stehen. Drittens werden Personen aufgeführt, mit denen sich einer der Korrespondenzpartner oder beide intellektuell so weit auseinandergesetzt hat bzw. haben, dass sie Eingang in einen persönlichen, kommunikativen Austausch finden. Viertens tauchen Namen der Zeitgeschichte auf, die in keiner direkten Beziehung zu den Korrespondenten stehen müssen, aber deren Leben in soweit beeinflussen, dass sie Kommunikationsgegenstand sind (z.B. Politiker). Personen aller Kategorien (die der vierten mit Abstrichen) konstituieren das, was ich in Anlehnung an die Terminologie Ludwik Flecks und Ergänzung zum formellen Denkkollektiv eines Wissenschaftlers, wie es sich in seinen Zitationen widerspiegelt, als das »informelle Denkkollektiv« bezeichnen möchte. Dieses informelle Kollektiv steht zum Formellen in einem ähnlichen Verhältnis, wie der formelle und der informelle wissenschaftliche Austausch auf der Ebene der Wissenschaftskommunikation zueinander stehen. Es lässt sich also soweit festhalten, dass es möglich erscheint, wissenschaftliche Netzwerke, die die »Infrastruktur« für Austausch und Wissenstransfer abbilden, auf zwei Repräsentationsstufen darzustellen. Während formelle Zitationsnetzwerke (»formelle Denkkollektive«) mit der intellektuellen Grundlage eines Forschungsgebietes oder mit einer »mind map« eines Forschers verglichen werden können, so stehen informelle, soziale Korrespondenznetzwerke (»informelle Denkkollektive«) für sowohl persönliche Kontakte als auch intellektuelle Kontakte. Sie repräsentieren über ihre Infrastruktur vermittelten Wissenstransfer durch Kontakt. Schon früher wurden zur historischen Untersuchung solcher Netzwerke Methoden aus den Informationswissenschaften oder aus der sozialen Netzwerkanalyse erfolgreich in die Geschichtswissenschaften überführt. Beispiele stellen die Arbeiten von Eugene Garfield dar, der schon 1973 den Wert von Historiogra-

224 | H EINER FANGERAU phen (Visualisierungsformate für diachrone Zitationsbeziehungen) für wissenschaftshistorische Fragestellungen demonstrierte.18 In einzelnen Zweigen der historischen Forschung, wie der eben erwähnten Medizingeschichte mit ihrem Gegenstandsbereich, der sich zwischen Forschung und Praxis bewegt, scheinen solche Ansätze allerdings bisher unterrepräsentiert zu sein. Dabei bieten sie gerade in Gebieten, in denen auch dem informellen Kontakt große Bedeutung zukommt, etliche Möglichkeiten, neben formellen Beziehungen auch informelle Kontakte darzustellen. Im Folgenden wird eine Methode mit einem illustrierenden Beispiel vorgestellt, die es ermöglicht, mittels einer Adaptation von Methoden der Informationswissenschaft und der sozialen Netzwerkanalyse gerade informelle Denkkollektive zu rekonstruieren und kartographisch darzustellen.

3. Der vernet zte Forscher und die Visualisierung von Information Ein Fallbeispiel, das es erlaubt, möglichst viele Dimensionen des durch Kommunikation getragenen Wissenstransfers in Denkkollektiven zu erfassen, sollte Wissenschaftler ins Zentrum der Betrachtung rücken, die sowohl klassische Disziplinengrenzen als auch geographisch-nationale Grenzen überschreiten. Aus diesem Grund wird hier exemplarisch ein Teil des Ego-zentrierten Netzwerks des Physiologen Jacques Loeb (1859-1924) zur Illustration herangezogen, das sich auch deshalb hervorragend eignet, weil die wissenschaftliche Karriere des Physiologen Loeb sich in zweierlei Hinsicht bedeutend wandelte: Zum einen verschob er zwischen 1884 und 1904 seine Forschungsgebiete von der Neurophysiologie zur Entwicklungsbiologie. Zum anderen wanderte er 1891 von Deutschland in die USA aus und durchlief hier zwischen 1891 und 1904 die Stätten Bryn Mawr, die University of Chicago (1892) und die University of California (1902). Loeb hatte seine wissenschaftliche Lauf bahn bei den deutschen Physiologen Friedrich Goltz, Nathan Zuntz und Adolf Fick begonnen und sich vornehmlich mit der Hirnphysiologie beschäftigt, ehe er sich vor allem während Forschungsreisen nach Kiel und an die Zoologische Station Neapel der Untersuchung von Tropismen, Regenerationsvorgängen und zuletzt der Entwicklungsbiologie zuwandte. Seine forschungsleitenden Prinzipien waren die Überzeugung, alle Lebens18 | Garfield (1973). Zu sozialen Netzwerkanalysen als Methoden in der Geschichtswissenschaft siehe unter anderem Erickson (1997).

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vorgänge auf physikalische und chemische Prozesse zurückführen zu können, und der Versuch, diese vor allem auch technisch beherrschbar zu machen. Da er vor allem in den USA eine Perspektive für seine Ansätze sah, wanderte er 1891 dorthin aus und entwickelte sich hier zu einem der bedeutendsten Forscher seiner Zeit.19 Loeb formulierte seine Theorien, Themen und Ergebnisse jedoch nicht isoliert, sondern eingebettet in einen Kontext von Kooperationsbeziehungen und Denkvoraussetzungen, die andere Forscher geschaffen hatten. Er war Teil von Denkkollektiven, innerhalb derer es ihm möglich war interdisziplinär Wissen zu transferieren, um auf diese Weise die »Allgemeine Physiologie« neu zu definieren. Unter seiner Mitwirkung wurden zum Beispiel besonders die chemischen Bezugspunkte einer Allgemeinen und Vergleichenden Physiologie gestärkt. Darüber hinaus halfen ihm seine Denkkollektive auch sein Wissen von Europa in die USA und in gewandelter Form zurück zu transportieren.20 Ausschnitte der von ihm fokussierten formellen und informellen Denkkollektive sollen für den Untersuchungszeitraum zwischen 1884 und 1904 schrittweise rekonstruiert und visualisiert werden. Dabei soll sowohl eine Methode zur Visualisierung von Forschernetzwerken vorgestellt werden als auch ihre Nutzbarmachung zur analytischen Rekonstruktion des Einflusses von Personennetzwerken auf bzw. ihre Veränderung durch die Wechsel von Loebs Forschungsthemen illustriert werden. Grundsätzlich ermöglicht die Transformation von Informationen über persönliche und intellektuelle Kontakte innerhalb von Denkkollektiven in visuelle Repräsentationen (z.B. in kartographischer Form) dem Betrachter zunächst die synoptische und schnelle Aufnahme der zentralen Beziehungsgeflechte innerhalb eines Kollektivs und die Erfassung der wichtigsten am Beziehungsgeflecht beteiligten Personen. Das Erkennen von Kanälen potentiellen Wissenstransfers wird gegenüber der reinen Deskription (z.B. Zusammenfassung in Tabellenform) erleichtert,21 indem sich die Visualisierung von Information den Gedanken zu Nutze macht, dass jedem Akt der visuellen Aufnahme das Wissen darüber implizit ist, was an Inhalten und Informationen hin19 | Vgl. unter anderem Pauly (1987). 20 | Fangerau (2007). 21 | Siehe für einen schnellen Überblick über mögliche Vorteile vor allem Rip (1988), S. 262-264; Chen (2003b); Marion/Garfield et al. (2003). Zur grundsätzlichen Vorgehensweise bei der Visualisierung sozialer Netzwerke siehe auch die Übersichten von Freeman (2000); Pfeffer (2008). Die folgende Darstellung der Methodik folgt vor allem Chen (2003a).

226 | H EINER FANGERAU ter dem gesehenen Bild liegt, was mit dem Gesehenen transportiert wird und dass Sinne und Erinnerungen sich zum vollständigen Bild verbinden. Komplexe und abstrakte Informationen sollen zugänglich gemacht werden, indem ihre Verbildlichung die sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten des Betrachters zusammenführt. Indem in der Visualisierung Elemente der Information sowohl verstärkt als auch reduziert werden, »stellt sie ein Mittel dar, beim Betrachter Muster- und Beziehungserkennungen auf verschiedenen Ebenen auszulösen, was ihm wiederum hilft, Prioritäten für das weitere Suchen und Denken zu setzen«.22 In diesem Sinne schaff t die Visualisierung von Informationen ein Abbild des Teils der Welt, auf den sich der Betrachter konzentrieren soll. Für das Fallbeispiel Loeb bedeutet das, dass unter anderem an die Stelle einer langen Liste all seiner Korrespondenzpartner ein topographisch angeordnetes Bild seiner Brief beziehungen in alle Welt treten könnte oder dass seine Bezugspersonen grafisch als Netzwerk angedeutet werden. An die Stelle einer Liste der Namen seines oben skizzierten Werdegangs, die unterschiedliche intellektuelle Einflüsse auf Loeb repräsentieren, wie z.B. Goltz (Neurophysiologie), Zuntz (quantifizierender Tierphysiologie) und Fick (mechanistischer Physiologie), tritt eine Topographie eines weit umfassenderen Kontaktgeflechts. Dieses Kontaktgeflecht kennzeichnet in seiner Gesamtheit einen Ausschnitt aus der intellektuellen Grundlage eines Forschers. Eine solche Abbildung zeigt normalerweise mit dem Sehsinn erfassbare Muster, um wie ein Dokument »Fakten« zu präsentieren. Dabei ist es als Abbild aus verschiedenen Zeichen (Personennamen) aufgebaut, die als kulturelle Marker (für Wissensfelder oder andere Inhalte) fungieren, wobei jedes Zeichen eine Konnotation impliziert, deren gemeinsamer Sinn aus der Komposition verstanden werden muss, so wie in der Sprache die Grammatik eine bestimmte Bedeutung von Wortreihen vorgibt. Damit ein Abbild verstanden werden kann, müssen seine spezifischen Codes dechiffriert werden, die nicht in jedem Fall selbsterklärend sind. Zahlen, Strukturen, Farben usw. müssen in eine Interpretation überführt werden, die mit der Weltanschauung und der Kognition des Betrachters kompatibel sind. Wäh22 | Der Informationswissenschaftler Chaomei Chen definiert wörtlich das Ziel »visualisation of information aims to reveal insights into complex and abstract information by drawing upon a wide range of perceptual and cognitive abilities of humans«. Sie hat das Ziel to »provide a means of recognizing patterns and relationships at various levels, which in turn can greatly help us to prioritize where we should search further« (Chen (2003a), S. 16).

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rend dieses Prozesses findet wiederum ein hermeneutischer Prozess statt, der dann im Idealfall das Weiterdenken des Betrachters auf Basis einer visualisierten Information erlaubt.23 Zusammenfassend hat die bildliche Darstellung von Informationen gegenüber sprachlichen Mitteln den Vorteil, dass sie mittels besonderer Ausdrucksmittel simultan verdichtete Informationen liefert, die geeignet sind, auf der Basis der Betrachtererfahrungen Affekte und Kognitionen anzusprechen. Eine sehr effektive Form der Informationsvisualisierung stellen (Land-)Karten dar. (Land-)Karten sind in der Regel bildliche Repräsentationen eines Gebietes oder Raumes, einer kulturellen, geographischen oder physikalischen Umgebung. Sie sind Abbildungen, in denen Beziehungen zwischen Elementen hervorgehoben werden, die einen räumlichen Charakter aufweisen, so wie Objekte, Regionen, Konzepte oder fast jede Art von Netzwerk. Karten, die aus einer Hintergrundkarte und einer thematischen Zusatzinformation im Vordergrund bestehen, die zum Beispiel Verteilungsmuster bestimmter Phänomene quantitativ oder qualitativ bildlich darstellen, werden als »thematische Karten« bezeichnet. Zu diesen gehören zum Beispiel Straßenkarten, Bevölkerungskartogramme oder Postleitzahlenkarten. Klassische Kartendarstellungen sind u.a. Weltkarten, Himmelskarten oder biologische Karten. Auch Netzwerkphänomene wie die Kontakte oder Zitationen eines Forschers lassen sich als Karten formulieren und abbilden.24 Netzwerke wie soziale Beziehungen oder Zitationsnetze bestehen aus so genannten Knoten (nodes), die die Mitglieder des Netzwerkes repräsentieren, und aus Verbindungslinien (links oder so genannte Kanten), die verschiedene Formen des Kontakts, der Zusammengehörigkeit oder andere Verbindungen verdeutlichen. Das ganze System aus Knoten und Kanten wird als Graph bezeichnet. Kanten zwischen den Mitgliedern (Knoten) eines Netzwerkes können unterschiedliche Stärken haben und einzelne Akteure können über den Umweg über andere Knoten eng miteinander in Beziehung stehen, ohne direkt miteinander durch eine Verbindungslinie verknüpft zu sein. Eine topographische Aufzeichnung eines sich aus der Analyse von Netzwerken ergebenden Graphen, in dem Kanten und Beziehungen der Knoten 23 | Vgl. u.a. Mitchell (1986). Ich danke Julia Schäfer und Robert Lindenberg für die Diskussionen und Erklärungen dieses Komplexes aus kunsthistorischer und neurowissenschaftlicher Sicht. Komprimierte Übersichten, soweit sie für die Visualisierung von Netzwerken relevant sind, finden sich bei Chen (2003a),S. 12-38). 24 | Chen (2003a), S. 39-65; Chen (2004a), S. 8-26.

228 | H EINER FANGERAU zueinander gewichtet werden, kann als Karte bezeichnet und gedeutet werden. Topographisch auf einer Matrix angeordnete Netzwerke sind skalierbar (d.h. in der Lage neue und weitere Netzwerkinformationen ohne größeren Aufwand zu integrieren) und gruppieren verschiedene Teilnehmer des Netzwerkes je nach ihrer Nähe zueinander, so dass sie synoptisch als Gruppe erfasst werden können. Wissenstopographien lassen sich hieraus als Essenz eines Denkkollektives ableiten, wenn die qualitativen Inhalte, die in einem Netzwerk transportiert werden, in die Überlegungen mit einbezogen werden. Zuletzt ist es möglich mit Hilfe solcher Karten auch Transferleistungen oder in diachroner Betrachtungsweise Wissensverschiebungen oder Paradigmenwechsel nachzuzeichnen. Für das Fallbeispiel des Forschers Loeb heißt das, dass er und seine wie auch immer gearteten Kontakte als Knoten dargestellt werden und die jeweiligen Verbindungen zwischen den Mitgliedern seines Denkkollektives als Kanten. Die Stärke der jeweiligen Beziehungen wiederum, die sich unter anderem in der Häufigkeit der gemeinsamen Nennungen widerspiegeln kann, wird durch gewichtete (d.h. unterschiedlich starke) Kanten verdeutlicht.

4. Topographien von Denkkollek tiven Um nun formelle und informelle Kollektive in Form topographischer Netzwerke zu kartieren, ist es zunächst notwendig, die zentralen Elemente der resultierenden Graphen – die Knoten und Kanten – aus vorliegendem Quellenmaterial zu extrahieren. Bei Zitationsanalysen, die sich dem formellen Denkkollektiv widmen, sind dies Zitate und Kozitationen von Autoren, Zeitschriften oder Arbeiten. In einer Untersuchung eines informellen Netzwerkes anhand von Korrespondenzen kommt es darauf an, die jeweiligen Korrespondenten und die in den Briefen genannten Personen zu erfassen und das jeweilige Nenn- oder Zitiermuster zu ermitteln. Dabei können natürlich wie oben bereits für Zitationen angesprochen die Nennquoten im kritischen Sinne nur ein Indikator dafür sein, in wie weit ein Korrespondent sich mit den Personen, die er in seiner Korrespondenz nennt oder genannt bekommt, gedanklich oder persönlich auseinandergesetzt hat. Ständig wiederkehrende Namen deuten auf eine höhere Relevanz der jeweiligen genannten Akteure innerhalb eines Korrespondenznetzes hin als selten erwähnte Personen. In keinem Fall kann aus der Nennung eines Namens allein auf Inhalte geschlossen werden oder über die Position der genannten Person zu bestimmten Fragen spekuliert werden. Da-

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her spielt es für erste topographische Analysen allerdings auch keine Rolle, wie der jeweilige Korrespondent zu der erwähnten Person stand. Die Nennung bzw. das Zitat per se zeigt nur an, dass in Korrespondenzen oder Artikeln Zitierende und Zitierte eventuell auch nur entfernt doch Teil ein und desselben Denkkollektives sein können. Je nach vorhandenem Quellenmaterial stehen im Grundsatz zwei Möglichkeiten zur Kartographierung von Denkkollektiven im Raum, die unterschiedliche Schwerpunktsetzungen beinhalten. Zunächst können so genannte Ego-zentrierte Netzwerke rekonstruiert werden, was bedeutet, dass die spezifischen Zitationsmuster oder sozialen und intellektuellen Personenbezüge nur eines bestimmten Protagonisten von Interesse – zum Beispiel Loeb – analysiert werden. Das Muster seiner Re-Zitationen (hier und im Folgenden sowohl von Zitaten in wissenschaftlicher Literatur als auch von Personennennungen in informeller Kommunikation) ergibt ein individuelles Bild für jeden Autor, das der Informationswissenschaftler Howard D. White als »Citation Identity« bezeichnet und mit der Einzigartigkeit eines Fingerabdrucks verglichen hat.25 White definiert die »Citation Identity« einfach als »set of authors that an author cites«.26 Während ein Autor dieses »Set« in einer einzelnen Arbeit bewusst und absichtlich zusammenstellt, ergibt sich aus der diachronen Betrachtung aller seiner Arbeiten ein Bild, das vom Autor nur bedingt geplant werden kann. Die wiederholte Nennung von Autoren und ihren Arbeiten reflektiert dabei die Relevanz, die ein Autor anderen Personen zumisst. Die »Citation Identity« ist zu unterscheiden vom »Citation Image« eines Autors, das durch eine Eingruppierung seiner Arbeiten oder seiner Person in – über Fremdzitate ermittelte – Netzwerke erstellt werden kann. Während die »Citation Identity« Auskunft über die von einem Autor zitierten Arbeiten bzw. Personen gibt, informiert das »Citation Image« darüber, in welchen Zusammenhängen die Arbeiten des fraglichen Autors oder er selbst stehen. Das »Citation Image« sagt also mehr über die Position eines Wissenschaftlers innerhalb eines Netzwerkes aus, berücksichtigt aber weniger das vom Autoren selbst herangezogene intellektuelle Netzwerk, welches sich dagegen in der »Citation Identity« repräsentiert. Das »Citation Image« kann sinnvoll nur über die zweite Möglichkeit der Kartographierung von Denkkollektiven erstellt werden. Hier kommt es darauf an, ein gesamtes Wissensgebiet oder Kollektiv zu kartieren und dann nach der Stellung des in Frage stehenden Protagonisten innerhalb des entstehenden Graphen zu fragen. Dies ver25 | White (2000); White (2001). 26 | White (2001), S. 88.

230 | H EINER FANGERAU langt für formelle Denkkollektive die Heranziehung umfangreicher Bibliographien und Zitationsindizes, die möglichst Arbeiten vieler Autoren verschiedenster Wissensgebiete umfassen27, oder für informelle Denkkollektive zum Beispiel die Auswertung von Briefwechseln zahlreicher Persönlichkeiten des Wissensgebietes oder der Disziplin von Interesse. Es reicht hier nicht, egozentriert die Kontakte einer Person zu rekonstruieren, vielmehr muss ein gesamtes Feld von Kommunikationskontakten erfasst und untersucht werden, um zu annähernd objektiven Ergebnissen zu gelangen. Für Studien zu Wissenstransfer oder Wissensentwicklungen ist ein solches zugegebenermaßen aufwändiges Vorgehen ein erstrebenswerter Ansatz, der bisher noch wenig Berücksichtigung fand. Einer der effektivsten Wege, die Beziehungen zwischen den Mitgliedern eines Denkkollektivs nachzuvollziehen, ist die systematische Überprüfung von verfügbaren Quellen wie zum Beispiel Publikationen, Korrespondenzen, Verwaltungsakten etc. nach dem gemeinsamen Auftreten von Namen. Bei diesem Ansatz geht man davon aus, dass die Ko-Nennung von Akteuren durch eine intellektuelle Verbundenheit bedingt ist, die der Nennende zwischen den Namen zieht. Das Ziel bei der Erfassung solchen gemeinsamen Auftretens ist es nicht, ein photographisches Abbild der Beziehungen zwischen den einzelnen Teilnehmern eines Netzwerkes anzufertigen, sondern ihre direkten oder indirekten Kontakte mit Hilfe einer Netzwerkstruktur zu symbolisieren. Häufig zusammen genannte Personen werden hier dann als näher miteinander assoziiert angesehen, als es der Fall wäre, 27 | Der oben zitierte Eugene Garfield (*1925) ist einer der Pioniere auf dem Gebiet derartiger Studien. Er gründete 1960 das Institute for Scientific Information, das seit 1963 den Science Citation Index herausgibt, eine Bibliographie, die neben bibliographischen Angaben zu thematisch verschlagworteten Aufsätzen auch die Vernetzung der Artikel über Zitationen verzeichnet. Die elektronische Zugänglichkeit dieser und ähnlicher Bibliographien über das Internet und die Entwicklung von Analyseprogrammen hat umfängliche bibliometrische Studien ermöglicht, die aber leider für die Geschichtswissenschaft über den Rahmen der Zeitgeschichte hinaus kaum nutzbar gemacht werden können, da die Indizes derzeit nicht weiter als bis 1945 zurückreichen. Für eine Übersicht über die aktuellen Möglichkeiten der Zitationsanalyse siehe die Beiträge der momentan führenden Bibliometriker in der Festschrift für Garfield (Cronin and Atkins (2000). Ein Beispiel für eine historische Anwendung im Hinblick auf den prozessualen Charakter wissenschaftlicher Entdeckungen bietet Lindahl/Elzinga et al. (1998).

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wenn sie nur selten oder nie miteinander im gleichen Dokument erwähnt werden. Im Fallbeispiel Loebs würde dies bedeuten, dass eine tabellarische Zusammenstellung der in seinen Briefen gemeinsam genannten Personen oder in Aufsätzen gemeinsam zitierten Autoren als Matrix schon Auskunft über die Wichtigkeit von Personen für ihn und seine Arbeit vermitteln kann, dass aber ihre grafische Darstellung diese Informationen leichter zugänglich macht und zusätzliche Hinweise auf sein Denkkollektiv zu geben im Stande ist. Da die Methode für Zitationsanalysen von wissenschaftlichen Publikationen eine längere Tradition hat, gut begründet und dokumentiert ist,28 wird hier als neuerer Ansatz die Methode exemplarisch auf Korrespondenzen und deren Analyse angewandt. In einem zufälligen Sample von 99 Briefen, die Loeb zwischen 1886 und 1904 schrieb oder erhielt, werden inklusive der Korrespondenzpartner (Bethe, Albrecht; Bresslau, Harry; Carus, Paul; Davenport, Charles B.; Driesch, Hans; Engelmann, Theodor Wilhelm; Godlewski, Emil jr.; Herter, Christian; Mach, Ernst; Mall, Franklin P.; Ostwald, Wilhelm; Pauli, Wolfgang (Josef) sr.; Pearl, Raymond; Popper-Lynkeus, Josef; Roux, Wilhelm; Vries, Hugo de; Wheeler, Benjamin Ide; Zuntz, Nathan) 170 verschiedene Personen genannt, deren Ko-Nennung dann eine Matrix ergibt, wenn angenommen wird, dass ihr gemeinsames Auftreten auf eine Nähe zwischen den Personen schließen lässt. Am häufigsten werden Ernst Mach (33 mal), Wilhelm Ostwald (23), Wolfgang Ostwald (14), Josef Popper-Lynkeus (12), Benjamin Wheeler (11) und Paul Carus (10) erwähnt, was darauf schließen lässt, dass diese Personen für Loeb von einer besonderen Wichtigkeit waren. Um diese jetzt näher bestimmen zu können, ist natürlich eine qualitative Analyse der Korrespondenz unumgänglich. Aber auch eine Vernetzungsanalyse verspricht weitere Einsichten. So würde zum Beispiel die zeitliche Einordnung von Nennhäufigkeiten Aufklärung darüber bieten, in welchen Phasen seines Lebens und Arbeitens die genannten Personen für Loeb eine Rolle spielten, und eine Prüfung des gemeinsamen Auftretens und der Verbindungen von Personen hilft, die Kanäle und Verflechtungen, in denen Loebs Denkkollektiv operierte, richtiger einzuordnen. Darüber hinaus dient sie dazu, die »Zentralität« von Personen, die sich in der sozialen Netzwerkanalyse mit den Begriffen »Closeness« und »Betweeness« beschreiben lässt,29 28 | Siehe Fußnoten 170, 188. 29 | Maße für die indirekte Erreichbarkeit oder Unabhängigkeit eines Knotens (Closeness) und die Vermittlungs- oder Kontrollchancen

232 | H EINER FANGERAU und damit ihre Rolle als Vermittler zwischen Disziplinen in Transferprozessen zu verdeutlichen. Alle drei Zusatzinformationen können als Ausgangspunkt für weitere qualitative Ansätze dienen. Zur Erstellung einer topographischen Karte werden Individuen, die gemeinsam in einem Dokument genannt werden, miteinander über eine Verbindungslinie (Kante) verbunden, deren Länge oder Dicke die Rate der Ko-Nennungen bzw. Ko-Zitationen symbolisieren kann.30 Verschiedene Computerprogramme sind in der Lage, Tabellen oder Matrizes, in denen Ko-Nennungen bzw. Ko-Zitationen und deren Häufigkeit aufgeführt sind, in Graphen umzurechnen und abzubilden (u.a. UCINET, Pajek, Network Workbench).31 In einem zusätzlichen Schritt können die meisten dieser Programme Knoten und Kanten im Graph so gruppieren und anordnen, dass Knoten umso näher beieinander liegen, je mehr gemeinsame Verbindungen (Kanten) sie miteinander teilen. Eine sinnvolle Strategie gemeinsames Auftreten kartographisch darzustellen, ist dabei das »Multi-Dimensional Scaling« (MDS), ein Set statistischer Techniken, das Rohdaten von gezählten Ko-nennungen als Matrix benutzt, um Ähnlichkeiten (similarities) zwischen den Elementen (Knoten) eines Netzwerkes zu berechnen. Das MDS wird auch als Ähnlichkeitsstrukturanalyse bezeichnet. Auf Basis der berechneten Ähnlichkeiten bestimmt der MDS-Algorithmus eine Position jeden Knotens in einem zwei- oder mehrdimensionalen Raum. Die Zentralität einer Person in einem formellen oder informellen Denkkollektiv sowie Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen am Netzwerk beteiligten Personen lassen sich so in der resultierenden Grafik erkennen. Große Netzwerke sind aber leider recht unübersichtlich, da sich etliche Kanten wie Knäuel überschneiden. Abhilfe bietet hier eine Reduktion der Kanten mit Hilfe des Pathfinder Network Scalings. Der Pathfinder Network Algorithmus betrachtet die Rohzählungen von Ko-Zitationen als Gewichtungen auf Verbindungslinien, die zwischen zwei Autoren grafisch dargestellt werden können. Wenn alle möglichen eines Knotens. Die so genannte »Betweeness centrality« kennzeichnet Punkte, die auf vielen kürzesten Verbindungsrouten zwischen anderen Punkten eines Netzwerkes gefunden werden. In anderen Worten misst die Betweeness centrality den Prozentsatz der Anzahl der kürzesten Wege im Netzwerk, zu denen der fragliche Knoten gehört. Eine verständliche Erklärung liefert Holzer (2006), S. 38-48. 30 | In diesem Fall spricht man von gewichteten Graphen. 31 | Huisman/van Duijn (2005). NWB Team. (2006). Network Workbench Tool. Indiana University, Northeastern University, and University of Michigan, http://nwb.slis.indiana.edu.

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Verbindungslinien zwischen Autoren aufgezeichnet werden, variieren diese Gewichtungen. Mittels des Pathfinder Algorithmus werden diese Linien auf die hervorstechendsten, wichtigsten reduziert und komplexe Netzwerke damit reduziert, ohne dabei Autoren »aufzugeben«. Die Reduktion erfolgt unter der Vorstellung der Dreiecksungleichung, die besagt, dass eine Seite in einem Dreieck höchstens so lang sein kann wie die Summe der beiden anderen Seiten. Übertragen auf Netzwerke heißt das, dass die Distanz zwischen zwei Punkten kleiner oder gleich der Distanz ist, die eine Verbindung dieser Punkte über einen dritten Punkt aufweisen würde. Der Pathfinder Algorithmus wendet auf alle möglichen Kanten zwischen den Knoten eines Netzwerkes diese Ungleichung an und berechnet die kürzesten Routen zwischen den Punkten. So wie ein Handlungsreisender möglichst viele Städte mit dem kürzesten möglichen Weg verbinden will, ohne eine Stadt zweimal besuchen zu müssen, so reduziert das Pathfinder Network Scaling die Verbindungsdichte eines darzustellenden Netzwerkes (Abbildung 1).

Abbildung 1: »Pathfinder«. Durch Anwendung der Dreiecksungleichung sind die neuen Kanten nicht länger als die durch sie ersetzten Kanten.

Zwei Parameter bestimmen dabei die Topographie des Pathfinder Netzwerkes. Der q-Parameter bestimmt, über wie viele Netzwerkknoten die Dreiecksungleichung beachtet werden soll, von einem Minimum von zwei Knoten bis zu einem Maximum von n-1, wobei n die Anzahl der Knoten im Netzwerk ist. Der r-Parameter bestimmt die Minkowski-Metrik, die bei der Berechnung der Wegdistanzen einbezogen werden soll. Bei r=1 ist die Gewichtung der Wegstrecke gleich der Summe aller Verbindungspunkte entlang der Wegstrecke, bei r=2 wird die Gewichtung als euklidische Distanz berechnet, und bei r=∞ ist die Weggewichtung gleich der maximalen Gewichtung jeder Ver32 bindung entlang der Wegstrecke. 32 | Schvaneveldt/Durso et al. (1989), S. 254-262; Chen (2003a),

234 | H EINER FANGERAU Um die Knoten jetzt noch topographisch in einer Abbildung sinnvoll zu platzieren, so wie es im Multi Dimensional Scaling der Fall ist, müssen auch Pathfinder Netzwerke grafisch optimiert werden. Hierfür benutzen die meisten Programme einen Spring Embedder (nach Kamada und Kawai)33, ein kräftebasiertes Verfahren, das mechanische Prozesse simuliert. Knoten wirken wie sich abstoßende Objekte, die Kanten wirken wie die Knoten zusammenhaltende Federn (engl. »spring«). Von einer zufälligen Anordnung ausgehend strebt der Embedder ein möglichst energiearmes Arrangement an. Knoten mit enger Beziehung stehen nahe beieinander, bzw. zusammenhängende Autoren werden nahe beieinander gruppiert. Auf diese Weise entsteht eine topographische Darstellung. Einer der größten Vorteile von Pathfinder Netzwerken ist der Umstand, dass sie leicht zu erfassen und zu interpretieren sind. In Pathfinder Netzwerken haben Knoten mit vielen und/oder starken Verbindungslinien zu anderen Knoten eine zentrale Position. Akteure mit vielen Verbindungen zu anderen Forschern erscheinen in der Visualisierung wie ausstrahlende Sterne und repräsentieren unter der Annahme, dass sie auch für bestimmte Inhalte stellvertretend stehen können, so etwas wie eine Spezialität im visualisierten Arbeitsgebiet. Kanten zwischen mehreren solcher dominanten Personen verbinden Spezialitäten zu einem Wissensgebiet. Chen unterscheidet dem Aussehen der die Individuen repräsentierenden Knoten im Netzwerk nach 1. »landmark nodes« (Landmarken), 2. »hub-nodes« (Mittelpunkte) und 3. »pivot-nodes« (Angelpunkte). Landmarken stehen für viel zitierte Personen, die nicht notwendigerweise viele Verbindungen zu anderen Knoten aufweisen, aber über einen großen Radius verfügen. Mittelpunkte weisen viele Verbindungen zu anderen Knoten auf und scheinen für signifikante Felder definierende Beiträge zu stehen. Angelpunkte fungieren als Gelenke S. 104-107. Feste Regeln für einzusetzende q- und r-Werte bei Pathfi nder Analysen gibt es nicht. Auch wenn die meisten Autoren so genannte »Minimal Cost« Netzwerke mit den wenigsten und direktesten Verbindungen erstellen, bei denen sie q=n-1 und r=∞ setzen, so wird für Autor-Ko-Zitationsanalysen diskutiert, andere q- und r-Werte je nach Datenlage einzusetzen, um die Informativität der darzustellenden Netzwerke dem jeweiligen Ziel der Darstellung anzupassen (Buzydlowski (2002), S. 102-103). 33 | Kamada/Kawai 1989.

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Abbildung 1: Landmarken, Mittelpunkte und Angelpunkte (nach Chen)

zwischen Netzwerk-Clustern, die ihrerseits durch Landmarken und Mittelpunkte gebildet werden (Abbildung 2). Angelpunkte kennzeichnen überdies in diachrone Daten erfassenden Abbildungen Wendepunkte in der intellektuellen Grundlage bzw. im Denkkollektiv eines Autors.34 Um einen ähnlichen Informationsgehalt zu erreichen, müssen in klassischen Ko-Nennungs- und Ko-Zitationsanalysen mehrere Berechnungsschritte z.B. zur Normalisierung der Daten durchgeführt und Grafi kprogramme bemüht werden. Für Pathfi nder Netzwerkanalysen sollte das Vorliegen der Ko-ZitationsRohdaten ausreichen.35 Im Falle der historischen Anwendung einer derartigen Analyse- und Visualisierungsmethode erscheint es zuletzt notwendig, die Analysefenster in Untersuchungszeiträume einteilen zu können, um so unterschiedliches Zitierverhalten eines Autoren zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfassen und damit diachrone Abläufe und Entwicklungen verdeutlichen zu können. Eine Software, die diese Anforderungen an Netzwerkvisualisierungen von formellen Denkkol-

34 | Chen (2004b), S. 3. Diese Punkte zeichnen sich graphentheoretisch durch eine hohe »Betweeness centrality« aus. Siehe Fußnote 29. Knoten mit hoher Betweeness centrality werden gehäuft auf Strecken gefunden, die Cluster miteinander verbinden. 35 | Eine ausgezeichnete Übersicht über die Vorteile von Pathfinder Netzwerken in Autor-Ko-Zitationsanalysen liefert White (2003).

236 | H EINER FANGERAU lektiven erfüllt, ist das von Chaomei Chen entwickelte Programm »CiteSpace«.36

4.1. Anwendung auf das Fallbeispiel der Wissenschaf tlerkorrespondenz Auf das Sample von Loebs Briefen angewandt, erstellt CiteSpace die Abbildung 3. Zur Reduktion der Knoten und Kanten zur besseren Übersicht wurden in zwei Jahresschritten für jede Zeitperiode die 50 % meistgenannten Personen in die Kalkulation miteinbezogen. Auf dieser Basis errechnete das Programm aus der Ko-Nennungsmatrix die in Tabelle 1 aufgelistete Netzwerkkonfiguration. 2-JahresSchritte

Kriterien

Raum

Knoten

Verbindungen

1886-1887

top 50.0%

22

11

40

1888-1889

top 50.0%

8

4

6

1890-1891

top 50.0%

28

14

34

1892-1893

top 50.0%

13

6

14

1894-1895

top 50.0%

30

15

38

1896-1897

top 50.0%

28

14

36

1898-1899

top 50.0%

20

10

21

1900-1901

top 50.0%

15

7

3

1902-1903

top 50.0%

107

53

191

1904-1904

top 50.0%

72

36

84

Tabelle 1: Netzwerkkonfiguration

In der mit diesen Daten erstellten Abbildung zeigt der Umfang der die genannten Wissenschaftler repräsentierenden Knoten die Häufi gkeit der Kozitationen an, wobei die »Jahresringe« farblich die in den untersuchten Zeiträumen kumulierten Zitierungen verdeutlichen. Die Autoren mit der höchsten »Betweeness-Centrality« sind durch einen fett gedruckten Ring gekennzeichnet. Die Verbindungslinien zwischen den Namen kennzeichnen Ko-Nennungen. Die Farben der 36 | Chen (2004b); Chen (2004a), S. 283-296; Synnestvedt/Chen et al. (2005); Chen (2006).

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Linien symbolisieren das Jahr der ersten gemeinsamen Nennung zweier Personen.

Abbildung 3:37 Netzwerkgrafik eines Teils des informellen Denkkollektivs von Jacques Loeb 1886-1904

Die Grafik erlaubt Aufschlüsse über die Entwicklung von Loebs hier in seiner Korrespondenz repräsentierten Denkkollektives sowie die Interpretation einiger seiner Kanäle des Wissenstransfers. Wie oben geschildert sind besonders Personen mit hohen Zentralitätswerten als Dreh- und Angelpunkte im Netzwerk für die Frage der Verbindung verschiedener intellektueller Strömungen oder die etwaiger einschneidender Umbrüche relevant. In den ersten Betrachtungsjahren weisen die Neurophysiologen Eduard Hitzig und Friedrich Goltz die höchsten Zentralitätswerte auf, wobei sich über Goltz eine Bezugslinie zum für Loebs intellektuelle Entwicklung schon rein quantitativ höchst wichtigen Ernst Mach ergibt. Nathan Zuntz wiederum verbindet die früh wichtigen Personen mit dem später – nach 1902 – zentralen Cluster um Wilhelm und Wolfgang Ostwald. In den Jahren um und nach Lo37 | Erstellt mit CiteSpace (Version 2.1.R13). Einzelne Knoten wurden minimal zur besseren Sichtbarkeit per Hand justiert. Knoten mit weniger als zwei Nennungen wurden nicht mit Namen versehen.

238 | H EINER FANGERAU ebs Auswanderung in die USA im Jahr 1891 sind der Embryologe Hans Driesch, der Pharmakologe Christian Herter und der Philosoph Joseph Popper-Lynkeus von einiger Wichtigkeit, auch der Philosoph Paul Carus tritt in der Korrespondenz gehäuft auf, ohne jedoch besonders hohe Zentralitätswerte zu erreichen. Das kleine Cluster der Neurophysiologen tritt nach der Auswanderung gar nicht mehr in Erscheinung. Besonders 1902, dem Jahr seiner Berufung nach Berkeley, wird der Präsident der University of California Benjamin Wheeler für Loeb zur zentralen Person. Es zeigt sich allein schon bei dieser auch chronologische Entwicklungen berücksichtigenden Darstellung der Mehrwert gegenüber einer einfachen Namensauszählung. Während Ernst Mach den gesamten Betrachtungszeitraum über eine wichtige Rolle in Loebs Denkkollektiv spielt, werden die ebenfalls häufig auftretenden Wolfgang und Wilhelm Ostwald erst nach 1902 relevant. Der ebenfalls oft gezählte Paul Carus erreicht keine hohen Zentralitätswerte. Eine inhaltliche Interpretation eines solchen Denkkollektives und seiner Entwicklung wird erst durch eine qualitative Analyse möglich. Diese allerdings kann sich an der erstellten Netzwerktopographie orientieren. Für Loeb beispielsweise spielt am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere Hitzig eine nicht unbedeutende Rolle, da Loeb mit diesem stark lokalistisch arbeitenden Neurophysiologen aneinandergeriet und sich in der Folge von lokalistischen Vorstellungen abzugrenzen versuchte. Insbesondere bei Nathan Zuntz wandte er sich daher der Tierphysiologie zu und entwickelte unter dem Einfluss der Lektüre von Machs »Analyse der Empfindungen« eine Theorie des Tropismus, der chemisch induzierten Hinwendung von Organismen zu Zielobjekten, den er vor allem an Insekten und Meerestieren experimentell prüfte. Auf dieser Basis wollte er neben der Irritabilität auch andere Lebensprozesse auf ihre chemischen Grundlagen zurückführen. Dabei entwickelte er insbesondere nach seiner Auswanderung in die USA unter dem Einfluss der Gedanken des Ingenieurs und Philosophen Josef Popper-Lynkeus die Idee, chemisch-technisch in Lebensund Entwicklungsvorgänge einzugreifen, um sie auf diese Weise zu kontrollieren und damit zu verstehen.38 Auf Lynkeus wiederum war Loeb unter anderem durch Mach aufmerksam gemacht worden. Insbesondere mit dem ebenfalls einen hohen Zentralitätswert aufweisendem New Yorker Pharmakologen Christian Herter diskutierte Loeb schon früh die Einsatzmöglichkeiten seines biotechnischen Zugangs für die Medizin. Aus diesem Grunde bemühte sich Herter, der eine Funktion im Board des 1901 gegründeten Rockefeller Institutes for Medical 38 | Fangerau/Müller (2005).

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Research innehatte, darum, Loeb an das Rockefeller Institute for Medical Research zu binden, ein Plan, der jedoch bis 1910 an den anderen Mitgliedern des Boards scheiterte. Als Loeb stattdessen 1902 von Benjamin Wheeler an die University of California geholt wurde, lud er zur Eröffnung seines physiologischen Labors sein wissenschaftliches Vorbild, den Chemiker Wilhelm Ostwald, nach Kalifornien ein. Dieser hatte (neben Svante Arrhenius und anderen) als Forschungsthema die physikalische Chemie etabliert, die sich dem Grenzbereich zwischen Physik und Chemie widmete und Loeb damit als methodischer Zugang bei seiner Suche nach den physikalischen und chemischen Mechanismen der Lebensprozesse geeignet schien. Wilhelm Ostwalds Sohn Wolfgang zuletzt strebte ebenfalls eine biologische Forscherkarriere an und kam 1904 als Loebs Assistent nach Kalifornien, nachdem er bereits vorher mit ihm über seine eigenen Studien zu Tropismen korrespondiert hatte.39 Diese kurze inhaltliche Skizze als Erklärung zur Grafi k verdeutlicht bereits, wie die Topographie eines Denkkollektivs visuell eine qualitative Analyse unterstützen oder auch weiterführende Untersuchungen anregen kann. Forschungslandschaften, die Entwicklung dieser Landschaften und die Netzwerkzusammenhänge zwischen Forschern in Denkkollektiven werden sichtbar gemacht.

5. Stärken, Schwächen und Perspek tiven der Methode Die hier vorgeschlagene Methode formelle und informelle Denkkollektive darzustellen, hat verschiedene Stärken, die für Analysen zum Transfer von Wissen zwischen Disziplinen, wissenschaftlichen Themen und Feldern, Kulturen oder einfach nur Personen genutzt werden können. Bisher wurde in der Geschichte von ihr wenig Gebrauch gemacht, doch weist sie gerade für die Wissenschaftsgeschichte einige Möglichkeiten auf, die hier kurz und exemplarisch am Beispiel des Physiologen Loeb vorgestellt wurden. Bevor auf diese Stärken eingegangen wird, muss aber auch ihre Hauptschwäche erwähnt werden, die darin liegt, dass die mit den vorgeschlagenen Ansätzen zu erzielenden grafischen Darstellungen von Wissenschaftlernetzen keine Abbildungen der Wirklichkeit sind, sondern interpretationsbedürftige schematisierte Graphen. Nicht-Experten, denen das jeweilige beschriebene Netzwerk oder seine Themen grundsätzlich unbekannt sind, können die Stärke der synoptischen Übersichten nicht genießen, 39 | Zu diesen Ausführungen siehe ausführlich Fangerau (2009).

240 | H EINER FANGERAU da sie die Bedeutung der Abbildungen nicht unbedingt auf den ersten Blick verstehen können. Für sie sind sie eventuell bedeutungslos oder trivial. Gerade dieser Umstand verdeutlicht die Notwendigkeit, die auf quantitativen Auswertungen beruhenden Netzwerkkarten durch qualitative Analysen der Inhalte (transportiert in Publikationen oder z.B. Korrespondenzen) zu erweitern. Diese Schwäche bedeutet jedoch gleichzeitig eine Stärke der Methode. Grafische Netzwerkdarstellungen zum Beispiel als Pathfinder Netze reduzieren die Komplexität von Beziehungsgeflechten und machen sie damit einfacher lesbar und synoptisch erfassbar. Darüber hinaus können sie als heuristisches Werkzeug genutzt werden, weil sie Strukturen darstellen, die nach Erklärungen verlangen. Dies führt wiederum zu weiteren Fragen, die in qualitativen Untersuchungen an die zur Verfügung stehenden Quellen gestellt werden können. Durch die Reduktion und graphische Repräsentation können folglich wesentliche Problemstellungen detektiert werden, die sich ansonsten erst im Laufe einer qualitativen Analyse allmählich stellen würden. Im Vergleich zu klassischen Analysen bieten die vorgeschlagenen Verfahren zur Visualisierung ganzer Denkkollektive – neben dem bereits erwähnten Vorteil der synoptischen Darstellung größerer Personengruppen bei gleichzeitiger Aussage über die Funktion und Position von Individuen im Netzwerk – den Mehrwert, dass auch Personen und Autoren erfasst und dargestellt werden, die sonst als zu marginal durch das Analyseraster fallen. Über das Registrieren dieser Kollektivanteile werden Bereiche von wissenschaftlichen Netzwerken dargestellt, die ansonsten unter Konzentration auf klassische Methoden einer »Gipfelsammlermyopie« zum Opfer fallen würden.40 Nicht nur schon bekannte, besonders interessante oder als vorab zentral charakterisierte Kollektivanteile werden in die Darstellung eingeschlossen, sondern auch unscheinbare, aber wichtige, weil häufig im »Hintergrund« mitlaufende Personen werden erfasst. Artefakte der retrospektiven Bestandsaufnahme, die sich durch den Fehlschluss der Konzentration auf »crucial experiments« oder »crucial figures« ergeben, werden mittels der quantitativen, visualisierenden Methode der Zitations- oder Korrespondenznetzwerkanalyse minimiert.41 40 | Ein Bergsteiger, der Berge nur besteigt, um möglichst viele Bergspitzen erstiegen zu haben, dabei aber die Szenerie um sich herum ignoriert, leidet unter einer »Gipfelsammlermyopie«. 41 | Gegen die Gipfelsammlermyopie und gegen die Konzentration auf zentrale Momente in der Wissenschaftsgeschichte sowie für den Versuch, das »Chaos« um diese Gipfel herum als Szenerie mittels verschiedenster Methoden zu erfassen, argumentiert zum Beispiel exemplarisch

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In letzter Konsequenz eröffnet sich durch die Rekonstruktion von Denkkollektiven in diachroner Betrachtung eine Analysemöglichkeit, über die Veränderung von Zitier- und Nennhäufigkeiten Rückschlüsse auf sich wandelnde Wissensinhalte und Netzwerke sowie die damit verbundenen Ausdifferenzierungen innerhalb der Wissenschaften zu ziehen. 42 Liebgewonnene Narrative über konkrete innerwissenschaftliche oder interkulturelle Transferprozesse in den Wissenschaften lassen sich so überprüfen, herausfordern und gegebenenfalls modifizieren. Die Rolle einzelner Protagonisten in Netzwerken und Denkkollektiven kann dabei ebenfalls neu gedacht und beschrieben werden.

Summar y Historians, philosophers and sociologists of science like Thomas Kuhn, Robert Merton or Bruno Latour have shown since many years that scientific activity and the dissemination of knowledge can be described as collective action. If one tries to reconstruct on the one hand scientists’ personal contacts and on the other hand intellectual contacts of scientific authors the resulting topography of people constitutes – metaphorically spoken – a network that goes far beyond simple personal relationships: at first, members in both networks are not only linked to each other directly, but also indirectly through other highly influential members; at second, each individual within the network represents an own research identity, which in itself again can be understood as a scientific web. In the end clusters of people represent scientific disciplines or disciplinary knowledge. The text tries to explain why and how an historian interested in the transfer of knowledge should want to reconstruct these collectives and their network-like structure. In doing so the author proposes a model differentiating formal and informal thought collectives and argues for their applicability in examining knowledge transfer and subsequent analysis procedures. A method of visualising scientific networks in the history of science is proposed and illustrated using the exemplary case of the German-American physiologist Jacques Loeb and his scientific network. Finally, problems, limits and possibilities of applying the method of visualising scientific networks for historical analyses are discussed. im Rahmen einer Übersichtsartikel-Analyse zur Regenerationsforschung 1885-1901 Churchill (1991), S. 115, 123ff. 42 | van Raan (2000); Chen (2006).

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Text vernetzungen und Zitationsnetzwerke Jürgen Rauter

1. Einleitung Die Bedeutung von Netzwerken in den Wissenschaften im InternetZeitalter führen Meta-Suchmaschinen wie kartoo.com 1 plastisch vor Augen: Mithilfe der Weblinks werden Verbindungen zwischen Personen, Institutionen, Themen etc. als Cluster aufgearbeitet und grafisch vor Augen geführt.2 Vorläufer derartiger Methoden ist die von Garfield entwickelte Zitationsanalyse.3 Bibliographische Angaben werden gesammelt, gruppiert, kumuliert und im ISI-Web of Science oder Web of Knowledge auf unterschiedliche Art und Weise zugänglich gemacht. Dieser Aspekt verdeutlicht, dass viele der heutigen Suchmaschinen prinzipiell nach dem Muster der Zitationsanalyse arbeiten, beispielsweise wenn die Website mit der höchsten Verlinkung auf Platz 1 geführt wird, während (fast) isolierte Phänomene irgendwo ab Seite 200 zu finden sind. Allerdings sind derartige Ergebnisse mit Unsicherheiten verbunden, die man prinzipiell auf zwei Fragen reduzieren kann: a) Ist alles da? Habe ich tatsächlich alles gefunden? b) Ist das, was ich gefunden habe, auch gut?

1 | www.kartoo.comn 2 | Zur Usability und Qualität von kartoo.com vgl. E.V.I. Heine (2003), S. 412f.n 3 | Garfield (1979).n

248 | J ÜRGEN R AUTER Entsprechende theoretische Prämissen werden in Kapitel 2 vorgeführt, während Kapitel 3 detaillierter auf Garfields Zitationsanalyse eingehen wird. Dem folgt Kapitel 4 mit der Bündelung von authorities und hubs in van Rijsbergens Effektivitätsmaß, ehe Kapitel 5 sich Forschernetzwerken am Fallbeispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann widmen wird. Anhand der Ergebnisse aus besagter Fallstudie werden in Kapitel 6 und 7 Verbesserungsmöglichkeiten der Zitationsanalyse mittels qualitativer Kriterien und neuer Indexe vorgestellt, ehe im 8. Kapitel ein Fazit zur Zitationsanalyse und zum Fallbeispiel aus Kapitel 5 gezogen wird.

2. Theoretische Prämissen: Recall, Precision, Ef fek tivitätsmaß Die Antworten auf die in der Einleitung gestellten Fragen werden in der Informationswissenschaft als Recall (Ist alles da) und Precision 4 (Ist das, was da ist, auch gut) bezeichnet und wie folgt definiert: (1) Der Recall ist um die (relative) Vollständigkeit der Dokumente bemüht und lässt sich auf die folgende Formel bringen: Ist a die Summe der gefundenen, relevanten Treffer, c die Summe jener Elemente, die zwar relevant wären, aber nicht gefunden wurden, dann berechnet sich der Recall wie folgt:

R =

a a+b

Ist c = 0, a > 0, dann ergibt sich der optimale Wert 1; in diesem Fall wurde tatsächlich alles gefunden, was vorhanden ist. Allerdings erscheint im Zusammenhang mit Suchmaschinen die Bestimmung von c als problematisch, weil der User auf Grund mangelnder Kenntnisse (oder von Indexierungsfehlern) nicht weiß, was noch dagewesen wäre. In derartigen Fällen wird meist mit der modifizierten Variable c’ gearbeitet, d.h., dieselbe Anfrage wird bei mehreren Suchmaschinen eingegeben, die Menge aller gefundenen Seiten aller Suchmaschinen mit c’ gleichgesetzt und in obige Formel eingesetzt. (2) Anders verhält sich die Precision, die einem qualitativen Kriterium zu entsprechen scheint, welches sich wie folgt definieren lässt: Ist a die Summe der gefundenen relevanten Treffer, b die Summe der 4 | Salton/McGill (1987), S. 174ff.p

TEXTVERNETZUNGEN

UND

Z ITATIONSNETZWERKE | 249

gefundenen, allerdings nicht relevanten Treffer, dann berechnet sich die Precision wie folgt:

P=

a a+b

Das Optimum ist dann erreicht, wenn b = 0 und a > 0 ist, d.h. wenn Ballast vermieden wird; in diesem Fall ist jeder gefundene Treffer nutzbar. Stocks Ausführungen verdeutlichen, dass hinsichtlich Recall und Precision von zwei unterschiedlichen Konstellationen auszugehen ist: dem konkreten (CIN = concrete information need) und dem problemorientierten Informationsbedarf (POIN = problem oriented information need).5 Stelle ich einem System die Frage, ob im Universitätsklinikum Düsseldorf Herzoperationen durchgeführt werden, kann die Antwort nur JA oder NEIN lauten. In diesem Fall handelt es sich um einen konkreten Informationsbedarf mit einer eindeutigen Antwort. Anders hingegen, wenn ich die Frage stelle, welches Präparat mir gegen eine Erkältung hilft. Ohne eine entsprechende ärztliche Diagnose stehen zunächst eine Vielzahl von Produkten zur Auswahl, zwischen denen sich »Otto Normalverbraucher« nicht so ohne Weiteres entscheiden kann; derartige Aspekte sind paradigmatisch für den problemorientierten Informationsbedarf. Das gewählte Beispiel verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Recall und Precision: Einerseits lässt die Frage nach der Vollständigkeit die Genauigkeit schrumpfen, denn mehrere hundert Präparate sind zwar möglichst viele, allerdings kaum noch überschaubar. Andererseits lässt ein gezieltes Vorgehen zwar die Precision steigen, den Recall allerdings schrumpfen, denn wenn ich ausschließlich nach einem bestimmten Präparat verlange, kann die Vollständigkeit insofern darunter leiden, als ein besseres Medikament auf dem Markt wäre, nach dem jedoch mangels fundierter Kenntnisse des Laien nicht gefragt bzw. gesucht wird. Die Schlussfolgerung lautet, dass sich im problemorientieren Informationsbedarf (POIN) Recall und Precision entgegengesetzt verhalten: Je höher der Recall, umso kleiner die Precision und umgekehrt. An diesem Punkt stellt sich die Frage, welche Konstellation erstrebenswerter ist und wie man diese gegeneinander abwägen kann.

5 | Vgl. Stock (2000), S. 120; Stock (2007), S. 51f.p

250 | J ÜRGEN R AUTER Van Rijsbergen hat sich mit diesem Problem beschäftigt und eine mathematische Lösung in Form des Effektivitätsmaßes6 präsentiert:

1

E = 1α

1 P

+ (1 - α )

1 R

Die praktische Vorgehensweise besteht nun darin, mehrere problemorientierte Retrievals durchzuführen und die jeweiligen Ergebnisse für Recall und Precision in obige Formel einzusetzen. Jener Suchlauf, der den niedrigsten Wert liefert, ist letztlich derjenige mit dem besten Effektivitätsmaß, d.h. hier stehen Recall und Precision im (verhältnismäßig) besten Einklang.7 Im nächsten Schritt geht es nun darum, diese theoretischen Ausführungen auf die Zitationsanalyse zu übertragen.

3. Zitationsanalysen In einem Interview mit Stock konstatierte Garfield8, dass Zitationsanalysen nicht nur Textbezüge, sondern auch soziale Netzwerke erfassen. 6 | Van Rijsbergen 2(1979), S. 134.p Hinweis: Nachfolgend wird Ơ = 0,5

angenommen. Der optimale Wert gemäß van Risjbergen ergibt sich, wenn das Effektivitätsmaß = 0 ist. Dieser Fall kann im problemorientierten Information Retrieval (POIN) allerdings nicht vorkommen, denn für E = 0 müssten gemäß van Rijsbergens Formel Recall und Precision = 1 sein; das setzt allerdings CIN voraus. 7 | Ein allgemeines Beispiel verdeutlicht die Nützlichkeit der etwas kompliziert wirkenden Formel: Eine Recherche (I) im Internet liefert 20 relevante Treffer sowie Ballast = 10; 20 Dokumente wurden nicht gefunden; eine weitere Recherche (II) 12 relevante Treffer, Ballast = 10; 8 Dokumente wurden nicht gefunden. Für I ergibt sich a=20, b=10, c=20 und damit ein Recall von 0,5 und eine Precision von 0,67. Für II hingegen findet sich a=12, b=10, c=8, d.h. ein Recall von 0,6, eine Precision von 0,55. Aber welche der beiden Recherchen war letztlich effektiver? Hier bietet sich das Effektivitätsmaß als Vergleichskriterium an. Setze ich obige Werte (bei Ơ=0,5) in van Rijsbergens Formel ein, so ergibt sich für I = 0,429, für II = 0,429. Die Suchanfragen sind in etwa identisch. 8 | Stock (2002), S. 22-25, hier vor allem S. 24.n

TEXTVERNETZUNGEN

UND

Z ITATIONSNETZWERKE | 251

Für die wissenschaftliche Praxis bedeutet dies, dass Bekanntes und Bekannte häufiger zitiert werden, während Unbekanntes kaum zitiert werden kann. Unter Berücksichtigung der bisherigen Fragen nach Vollständigkeit und Genauigkeit stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Qualität des eigenen Information Retrievals in Form eines modifizierten Effektivitätsmaßes. Werden die Parameter Recall und Precision auf die Zitationsanalyse übertragen, so entspricht der Recall der Gesamtmenge an Dokumenten, die zu einem Themenkomplex geschrieben wurden, während sich hinter der Precision die Frage nach der Vermeidung von Ballast verbirgt. Kleinberg spricht in diesem Zusammenhang von authorities und hubs:9 Als authorities gelten jene Autoren, die häufig zitiert werden, weil sie offenbar einen entsprechend bekannten Beitrag (oder deren mehrere) zur Forschung geleistet haben, während hubs für die Verteilerfunktion einer wissenschaftlichen Arbeit in Form des Zitats anderer Texte stehen. Anders gesagt: Jenes Werk, das die meisten anderen Texte zitiert, liefert bereits einen guten Einblick in den Forschungscluster bzw. über die Forschungsliteratur, die zu besagtem Cluster vorliegt. Dies führt unter anderem dazu, dass die Effektivität insofern gesteigert wird, als mit wenig Aufwand ein schneller Überblick zur Forschungslage erreicht wird. Die zuvor skizzierten Formeln bedürfen nur einer kleinen Modifi kation, ehe sie auch hier zum Einsatz gelangen: (1) hub (R 2S; zuvor Recall)

R 2S =

a a+c

(2) authority (K A; zuvor Precision)

KA=

a a+b

Diese beiden Formeln bedürfen jedoch einer weiteren Präzisierung: Da die Zitationsanalyse nur Bibliographien auswertet, ergibt sich ein Problem hinsichtlich der Literaturliste: Vergleicht man die ermittelten Werte aus einer Bibliographie (Z) mit den effektiven Nennungen im Text, dann werden einzelne Arbeiten (a) häufiger, andere nur einmal zitiert. Im Zuge der Ausarbeitung von Zitationsanalyse und Intertex9 | Kleinberg (1999), S. 611.p

252 | J ÜRGEN R AUTER tualität 10 wurde der Vorschlag unterbreitet, die Summe der verteilten Referenzen als Gewichtungskomponente (n) hinzuzufügen und zwar dergestalt, dass nicht mehr Bibliographien, sondern die Fußnoten ausgewertet werden. Die ursprüngliche Variable a des Recalls steht somit nicht mehr für die gefundenen, relevanten Dokumente, sondern die Titel der Bibliographie werden mit der Anzahl an Nennungen innerhalb der Fußnoten multipliziert, was zu einer wesentlich aussagekräftigeren Basis führt. Wie kann nun ein entsprechender Verteiler ermittelt werden? Zählt man sämtliche Fußnoten zu einem Themenbereich aus, ergibt dies eine Gesamtmenge an Zitaten (Z), an der jeder einzelne Text (a) hinsichtlich der Gesamtsumme an Referenzen (n) messbar wird. Jener Text, der die meisten Zitate der Datenbank abdeckt, entspricht somit dem hub (R 2S); er liefert den effizientesten Überblick zur gesamten Forschungslage in Form eines einzigen Dokuments. Aus diesen Überlegungen lässt sich die ursprüngliche Formel für die Berechnung des hubs wie folgt modifizieren:

R 2S=

Z - na Z - na

Auf Grund dieser Veränderungen ist ein Verteiler, der gegen 0 tendiert, optimal, weil er einen möglichst umfangreichen Überblick zur Forschungslage liefert. Ein weiterer Aspekt betriff t die zitierte Literatur: Ist ein genannter Aufsatz mit einem Buchprodukt vergleichbar? Hier empfiehlt es sich, Bücher (Z) in Kapitel (K W ) zu unterteilen, was einen sinnvollen Vergleich von Texten (A) überhaupt erst ermöglicht: Ein Buch umfasst demnach so viele Aufsätze, wie es Kapitel, verstanden als Großunterteilungen, aufweist. Die zuvor aufgeführte Formel für die authority (K A) wird auf Grund dieser Überlegungen wie folgt modifiziert:

KA =

ZA KWA

Überträgt man die genannten Formeln, die letztlich den Parametern von Recall und Precision entsprechen, in van Rijsbergens Effektivitäts10 | Rauter (2006), S. 107ff.p

TEXTVERNETZUNGEN

UND

Z ITATIONSNETZWERKE | 253

maß11, so ergibt sich unter Berücksichtigung sämtlicher gewichteter Fußnoten (ZpK) innerhalb der Datenbank (T):

1

E ZpK = 1 -

α

1 KA

* T ZpK +

(1 - α )

1 (1 - R 2 S )

Diese theoretischen Ausführungen werden im Folgenden an einem aktuellen Beispiel aus der Germanistik exemplifiziert, welches den Nutzen und die Nachteile zitatenanalytischer Verfahren am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann verdeutlicht.

4. Authorit y, hub, Ef fek tivitätsmaß am Beispiel von E.T.A. Hof fmann: Der Sandmann 12 In einem ersten Arbeitsgang wurden 28 wissenschaftliche Texte ausgewählt, die sich mit E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann 13 befassen. Das Hauptkriterium für diesen ersten Schritt bestand darin, möglichst viele, allerdings auch zeitlich divergierende Aufsätze bzw. Buchkapitel auszuwählen, die eine hohe Anzahl von Fußnoten aufzuweisen hatten. Im Zuge dieser Bearbeitung entstand eine Datenbank bestehend aus 52 Kapiteln und 1.759 Fußnoten, welche die Grundlage der folgenden Ausarbeitungen bildet.

11 | Bezüglich der Frage, ob dies zulässig ist, vergleiche Rauter: Bün-

delung (2006), S. 415-421.p 12 | Für die entsprechende Auszählung der Datengrundlage bedanke ich mich bei den Studierenden: Becic, Alem/Beljo, Zoran/Bühnemann, Melanie/Egbuonu, Nreka/Fiebich, Sabrina/Gutzmer, Annabell/Haustein, Stefanie/Hübler, Dominik/Ihde, Josephine/Jacoby, Sarah-Maria/Kalita, Anna/Krauße, Nina/Lamik, Marc/Lange, Laura/Meziu, Shkurta/Nagajek, Grazyna Marzena/Paukstat, Katrin/Peters, Isabella/Pfahl, Tanya/Pigou, Daniel/Pilger, Michael/Plawetzki, Robert/Przybyl, Alexandra/Samonte, Vera/Sanikidze, Nino/Schleife, Jens/Schramm, Dennis/Schulz, Stephanie/Siebenlist, Tobias/Switala, Dorota/Tozluk, Sevinc/Üffi ng, Guido/Weber, Sonja/Xing, Yue.n 13 | E.T.A. Hoff mann (1816), S. 11-49.n

254 | J ÜRGEN R AUTER

4.1 Meist zitierende Tex te (Hub) Bei der Eruierung der hubs geht es, wie zuvor ausgeführt, darum, jenen Text ausfindig zu machen, welcher den relativ größten Überblick zur Forschungsliteratur liefert. Berücksichtigt man die Unterteilung in Kapitel, dann bildet D. Lohrs Text Kausalität 14 (a) 206 (n) der insgesamt 1759 Fußnoten (Z) ab. Setzt man diese Werte in die zuvor vermittelte Formel ein, so ergibt sich für Lohrs Kausalität ein hub-Wert von 0,790.

R2 SK a u s a li tä t =

Z - n K a u s a litä t Z + n K a u s a litä t

=

1759 - 206

1553 =

1759 + 206 1965

= 0 ,7 9 0

Platz zwei dieses Rankings nimmt Lohrs Kapitel Raum 15 ein (0,800), gefolgt von U. Hohoffs Wahnsinn und Person 16 (0,839). Unter dem Aspekt der obiger Formel zugrundeliegenden Aussagekraft, nämlich dass Werte, die gegen 0 tendieren, optimal wären, zeigt sich bezüglich der Forschungslage zum Sandmann ein sehr weit gestreutes Spektrum. Praktisch ist dies damit zu begründen, dass einige der Sandmann-Interpretationen letztlich inkompatibel sind, womit meist entweder die eine oder die andere Seite befürwortet wird, während in eher seltenen Fällen beide Konstellationen aufgeführt werden.17

4.2 Meist zitier te Autoren und deren Gewichtung (authorit y) Im Zuge der Ausarbeitung hat sich herausgestellt, dass S. Freud mit 115 Referenzen, die er von anderen Wissenschaftlern erhält, der meistzitierte Autor zum Sandmann ist, gefolgt von U. Hohoff mit 95. Rang drei nimmt R. Drux mit 55 Referenzen ein. Anders präsentiert sich die Sachlage, wenn die Aufsätze, die Freud zitieren oder sich auf ihn berufen, für eine Gewichtung herangezogen werden: Freuds 115 Referenzen teilen sich auf 42 Kapitel auf, Hohoffs hingegen auf deren 11 und jene von Drux auf 16. 14 | Lohr (2000).n 15 | Lohr (2000).n 16 | Hohoff (1988).n 17 | Vgl. diesbezüglich den Ende 2008 erscheinenden Band Tepe/ Rauter (2008).n

TEXTVERNETZUNGEN

UND

Z ITATIONSNETZWERKE | 255

Exemplarisch werden die authority-Werte für Freud berechnet:

K

F reu d

=

Z

Freud

Kw

115

=

=

42

Freud

115

= 2,738

42

Gemäß der obigen Formeln kommt Freud auf einen gewichteten authority-Wert von 2,738, während bezüglich Hohoff 95/11 = 8,636 bzw. hinsichtlich Drux 55/16 = 3,475 zu Buche schlagen. Daraus lässt sich der Schluss ableiten, dass zwar viele Arbeiten auf Freud zurückgreifen (er ist der meistzitierte Autor), allerdings ohne ihn innerhalb der Arbeiten häufiger zu zitieren. Etwas provokativ könnte an dieser Stelle die These aufgestellt werden, dass Freud in Zusammenhang mit E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann teilweise als eine Art Ghost-Autor fungiert: Wird er auch häufig genannt, so gehen die Wissenschaftler offenbar selten detaillierter auf seine Arbeiten ein. Aus ideologiekritischer Perspektive zeigt sich demnach die Tendenz, die eigenen Theorien durch den Rückgriff auf Freud (teilweise auch dogmatisch) abzusichern, aus informationswissenschaftlicher Sicht erscheint dies hingegen als Referenz an den als Pionier des Forschungsbereichs wahrgenommenen Wissenschaftler. Anders hingegen bei Hohoff, der in 11 Kapiteln durchschnittlich 8,636 Referenzen erhält, was zu einer wesentlich höheren Gewichtung führt.

4.3 Ef fek tivitätsmaß (E ZpK) Werden die zuvor ermittelten Werte für authority (Hohoff = 8,636) und hub (Lohr = 0,790) in das gewichtete Effektivitätsmaß eingesetzt, dann ergibt sich unter Berücksichtigung von TZpK (1.759/52 = 33,827):

E Z pK = 1 -

1 1 0,5 * 33,827 + (1- 0,5) 8,636

0,770

1 0,21

Das gewichtete Effektivitätsmaß von 0,770 verdeutlicht erneut, dass sich die Sandmann-Forschung sehr uneinheitlich und insofern sehr weit gestreut präsentiert. Der Einblick, den die Kombination aus Hohoff und Lohr bietet, erfasst nur einen kleinen Bereich des Geschehens, ist innerhalb der Datenbank jedoch als beste Kombination nicht zu überbieten.

256 | J ÜRGEN R AUTER

5. Aussagefähigkeit der Daten: Forschernet z werke Im Folgenden wird eine Verbindung zum Thema Netzwerke geknüpft: Eine allgemeine Theorie oder die Anwendung einer Universalmetapher in den Wissenschaften wird deutlicher, wenn man obige Ergebnisse aus den Textwissenschaften den jeweiligen Interpretationsstrategien zuordnet. Freud ist als Vater der Psychoanalyse allgemein bekannt, der mit Das Unheimliche 18 seine Theorie an E.T.A. Hoff manns Der Sandmann exemplifiziert hat. Es stellt sich nun die Frage, inwieweit Freud die Sandmann-Forschung beeinflusst hat. Um dies zu verdeutlichen, wird ein zusätzlicher Indikator eingefügt: Der Autor-Archetypus (Arch A). Unter Arch A wird jener Autor verstanden, der in den meisten unterschiedlichen Texten mindestens einmal genannt wird. Auf diese Weise lässt sich eine entsprechende Breitenwirkung erkennen und abschätzen, etwa für Freud, der, wie zuvor ausgeführt, in 42 Kapiteln 115 Referenzen erhält. Steht A für die einmalige Nennung eines Autors A1 in mehreren Texten (etwa die Nennung Freuds in 42 Kapiteln bei 115 Zitationen ergibt A=42), Z für die entsprechende Anzahl an Zitationen (Z=115), die besagten Autor A zitieren, dann berechnet sich der Autor-Archetypus (Arch) A1 gemäß der Formel:

Arch A1 =

A A1 +

A A1 * log 10 ( Z A1) 100

Das Ergebnis der Berechnung liefert für Freud den Wert 42,865, während Hohoff nur auf 11,218 kommt. Dieselben Auswertungen lassen sich auch für Texte durchführen, wobei die für den Autor definierten Parameter auf die Texte (T), ihre Nennung in Kapiteln (T1) und die Gesamtsumme der Zitate, die auf einen Text entfallen (Z), übertragbar sind. Die Formel für die TextArchetypen gestaltet sich wie folgt:

Arch T1 =

T T1

+

18 | Freud (1919), S. 297-324.a

T T1 * log 10 ( Z T1 ) 100

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Aus dem hohen Autor-Archetypus-Wert, den Freud erhält, kann der Schluss gezogen werden, dass er in fast allen untersuchten Fällen mindestens einmal zitiert wurde. Im Umkehrschluss kann deshalb die These aufgestellt werden, dass diejenigen, die sich auf Freud beziehen, den Sandmann psychologisch oder psychoanalytisch (im klassischen oder im poststrukturalistischen Sinne) deuten, was den hohen Arch A Wert von 42,865, den der Vater der Psychoanalyse auf sich vereint, erklärt. Demnach wäre die Sandmann-Forschung stark psychologisch-psychoanalytisch angehaucht und die jeweiligen Texte über Freud untereinander verwoben. Eine Bestätigung für diese These scheint die Meta-Suchmaschine kartoo.com zu liefern: Die Suchterme »Hoff mann«, »Der Sandmann«, »Text« und »Interpretation« liefern folgenden Cluster, der die Nähe von Freud und Literatur(wissenschaft) zum Sandmann verdeutlicht:

Abbildung 1: www.kartoo.com Je heller ein Cluster-Bereich in Abbildung 1 markiert ist, als umso relevanter wird er in Bezug auf das Retrieval (»Hoffmann«, »Der Sandmann«, »Text«, »Interpretation«) eingestuft, etwa literature, german. Die Nähe der Suchterme drückt indes die Nähe der Suchbegriffe aus (literature, freud), d.h., dass im Zusammenhang mit »Der Sandmann« häufig auch nach Freud gesucht wird. Das ist allerdings nur ein, teilweise zudem reduktionistischer Aspekt der interpretatorischen Landschaft, denn genauso wie es Befürworter von Freuds textwissenschaftlicher Arbeit gibt, genauso gibt es

258 | J ÜRGEN R AUTER auch Gegner, die seine Interpretation des Sandmann ablehnen. Nichtsdestoweniger erweist man ihm auch auf diese Weise genauso eine Referenz, allerdings im negativen Sinne: So nicht! An dieser Stelle ist das zentrale Problem der Zitationsanalyse erreicht: Da Zustimmung von Ablehnung nicht unterscheidbar ist, kann allgemein konstatiert werden, dass Freud in der Literaturwissenschaft ebenfalls eine enorme Breitenwirkung erreicht hat, allerdings nicht, ob ihm zugestimmt oder ob sein Aufsatz Das Unheimliche abgelehnt wird. In Verbindung mit der hohen Zitationsrate – 115 Referenzen – liegt allerdings der Schluss näher, dass die Wissenschaft (bisher) dazu tendierte, Freud zuzustimmen: Wären seine Arbeiten kategorisch abgelehnt worden, müssten die Referenzen auf Freud irgendwann erloschen sein. Welche weiteren, allerdings nur allgemeinen Schlüsse können an dieser Stelle gezogen werden? Wird der Aussage, die hohe Anzahl an Referenzen drücke eine Nähe der Sandmann-Forschung zu Freud aus, zugestimmt, dann scheint der wissenschaftliche Apparat zu E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann stark psychologie- bzw. psychoanalyselastig zu sein (vgl. Abb. 1): In diesem Fall gibt es einen großen Block, welcher von diesen beiden Interpretationsstrategien – Psychologie und Psychoanalyse – gespeist wird, während andere Konstellationen nicht in Erwägung gezogen werden. Hier findet sich letztlich auch die Erklärung für den äußerst schlechten hub-Wert, der in 4.1 bemängelt wurde. Als Fazit dieses Fallbeispiels kann festgehalten werden, dass es offenbar tatsächlich so ist, als habe Freud die Sandmann-Forschung entscheidend beeinflusst und die Entstehung entsprechender psychologisch-psychoanalytischer Forschungsnetzwerke begünstigt, was sich in der hohen Zitationsrate und im hohen Arch A-Wert spiegelt. Problematisch erscheint allerdings, dass Zustimmungen und Ablehnungen nicht eruierbar sind. Völlig ausgeklammert davon ist jedoch die Frage, ob Freuds Textanalyse des Sandmann – nicht die Exemplifizierung seiner Theorie – einer kritischen Überprüfung überhaupt standhält. Erstaunlicherweise vermag Das Unheimliche diesbezüglich nicht zu überzeugen.19

19 | Tepe/Rauter/Semlow (2009). Ergänzung 9.1 befasst sich ausführlich mit Freuds Das Unheimliche.n

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6. Qualitative Verbesserungsmöglichkeiten der Zitationsanalyse Während studentische Arbeiten von Dozenten bewertet werden, fehlen derartige Indikatoren im Rahmen der Zitationsanalyse. Das Beispiel Freud verdeutlicht, dass die hohe Zitationsrate den Autoren- und Forschungsnetzwerken zuzuschreiben ist, letztlich jedoch keine qualitative Aussage hinsichtlich Freuds Aufsatz zu fällen vermag, weil sein interpretatorischer Ansatz in mehreren Werken abgelehnt wird. Eine Möglichkeit, derartige Konstellationen zu eruieren, wäre eine simple Kennzeichnung der Fußnoten: Stimmt der Autor einem zitierten Text wohlwollend zu, setzt er hinter die Fußnote ein p (positive Bewertung), lehnt er den Text ab bzw. schreibt gegen ihn, dann setzt er dahinter ein a (Ablehnung). Geht es hingegen um andere Fälle, etwa Referenz an den Pionier eines Forschungsgebietes, das Zitieren einer Textpassage aus ästhetischen Gründen oder um allgemeingültige Thesen, dann kann der Buchstabe n (neutral) verwendet werden. Auf diese Weise wäre es erstmals möglich, empirisch fundierte qualitative Aussagen hinsichtlich der textdeskriptiven Bezüge zu erfassen und zu analysieren, etwas, was bis dato kaum möglich ist. Derartige Kennzeichnungen würden vor allem Anfängern wie Studierenden der ersten Semester oder an grober Orientierung Interessierten wie z.B. Journalisten den Einstieg in unterschiedliche Thematiken wesentlich erleichtern, weil allgemeingültige Thesen von stark kritisierten Aspekten leicht unterscheidbar wären. Eine entsprechend gestaltete Arbeit ersetzt zwar nicht den kritischen Sachverstand, erlaubt jedoch eine erste Sortierung in »nützlich« und »gefährlich, weil abgelehnt«. Eine nach diesem Muster erstellte Datenbank hätte zudem einen wesentlich aussagekräftigeren Gehalt als beispielsweise die Daten des Institute for Scientific Information (ISI) und könnte gleichzeitig als Basis für weitere Indikatoren und Indexe fungieren, die im Folgenden kurz20 dargestellt werden:

20 | Hinsichtlich einer ausführlichen Beschreibung vgl. Rauter (2006), S. 253ff.n

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7. Zusät zliche Indikatoren und Indexe 7.1 Tex tuell-bibliographischer Index (TBI) Unter Berücksichtigung der Kapiteleinteilung erlaubt dieser Index Aufschluss darüber, welche Texte einem vorliegenden Aufsatz zugrunde liegen. Er entspricht somit der Bibliographie, multipliziert mit der Anzahl der Fußnoten.

7.2 Deskriptiv-inter tex tueller bibliographische Index (DIBI) Der deskriptiv-intertextuell bibliographische Index gestattet es, zitierte Texte über den Rand des vorliegenden Aufsatzes hinaus zu verfolgen. Die zentrale Fragestellung lautet somit, welchen anderen Aufsätzen die im vorliegenden Werk zitierten Texte mit welcher Häufigkeit und Gewichtung zugrunde liegen. Daraus können Rückschlüsse hinsichtlich der Breitenwirkung von Autoren- und Forschernetzwerken abgeleitet werden.

7.3 Deskriptiv-inter tex tueller Index (DI 2) Der deskriptiv-intertextuelle Index geht von der Fragestellung aus, in welchen chronologisch folgenden Werken der vorliegende Text zitiert wird. Auf diese Weise können Rückschlüsse gezogen werden, ob ein Text einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat oder ob er keine Breitenwirkung entfalten konnte.

7.4 Univer sal deskriptiv-inter tex tueller Index (UDI 2) Der universal deskriptiv-intertextuelle Index entspricht einer tabellarischen Übersicht bezüglich meistzitierter und meistzitierender Texte und Autoren, beinhaltet das zuvor skizzierte Effektivitätsmaß (EZpK) und listet die Text- und Autorarchetypen auf.

8. Fazit Fasst man die bisherigen Ausführungen zusammen, so ergeben sich die folgenden Konsequenzen: Von der Zitationsanalyse, die als paradigmatisch für die Darstellung von Forschernetzwerken in Form von Textbezügen angesehen wird

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und die bereits jetzt als Kriterium für die Besetzung wissenschaftlicher Stellen herangezogen wird, sind weitere Differenzierungen zu fordern, wie beispielsweise die Auswertung von Fußnoten, nicht von Bibliographien. Die Reduktion auf Zeitschriften ist vor allem dann fehlerhaft, wenn eine fundierte Grundausbildung angehender Wissenschaftler berücksichtigt wird, die nach wie vor über Buchwissen verläuft. Dem Argument, man wolle nur die aktuellsten Entwicklungen erfassen, darf unter diesem Aspekt nicht mehr Allgemeingültigkeitsstatus zugebilligt werden. Auch die Auswertung der Fußnoten erscheint problematisch, solange Zustimmungen und Ablehnungen nicht unterscheidbar sind. Hier wäre eine Initiative von Zeitschriften, Verlagen oder eine einheitliche Regelung der Zitierweisen erstrebenswert. Zusätzliche Parameter wie authority und hub oder die in Kapitel 7 beschriebenen Indexe würden eine Darstellung von Autoren- und Forschungsnetzwerken qualitativ verbessern und die Voraussetzungen für korrekte Rückschlüsse bedeutend erhöhen, vor allem dann, wenn zukünftig auch die Herausgebertätigkeit berücksichtigt wird, die – im Unterschied zu den Verlagen – zur Zeit bedeutungslos erscheint, obwohl sie äußerst wichtig für den wissenschaftlichen Fortgang ist. Mittels dieser Erweiterungen der Zitationsanalyse könnte die Vollständigkeit wesentlich erhöht, die Präzision geschärft und das gesamte System mit aussagekräftigeren Daten gefüllt werden, denn genauso wie eine stark verlinkte Seite letztlich wenig konstruktives Material beinhalten kann, genauso verhält es sich auch mit der zitierten Literatur, was das Beispiel E.T.A. Hoff mann Der Sandmann dokumentiert: Aus informationswissenschaftlicher Sicht muss der Literaturinterpret wissen, dass Freud einen Aufsatz zu Hoff manns Text geschrieben hat. Eine derartige Empfehlung, die ausschließlich auf den aktuellen Mechanismen der Zitationsanalyse beruht und die zuvor skizzierten Modifi kationen ignoriert, liefert jedoch dem Textwissenschaftler keine Garantie dafür, ob Freuds Aufsatz vom Fachkollegium als gut beurteilt wird oder nicht. Hier besteht Handlungsbedarf!

Summar y Beginning with Salton/McGills Parameters Recall and Precision, bundled by van Rijsbergens effectiveness-measure, the article characterizes general criterions for the evaluation of the proper Information Retrieval, followed by the presentation of an improved method that allows the combination of Kleinbergs authorities and hubs by the same way.

262 | J ÜRGEN R AUTER This is followed by a short summary of Garfields Citation Indexing, showing vantages and problems of this system and offering new solutions by using new indexes (TBI, DIBI, DI2, UDI2) or the parameters of text- and author-archetypes. Last but not least there one will find further reflections on how to create a new form of qualitative citation-database, for example by using the letters a (rejection), p (positive agreement), n (neutral citation).

Literatur Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Imago 5 (1917), 297-324. Garfield, Eugene: Citation Indexing. Its Theory and Application in Science Technology, and Humanities. New York et al. 1979. Heine, E.V.I: Usability von Navigationssystemen im E-Commerce und bei informativen Websites – des Nutzers Odyssee. In: Information Wissenschaft & Praxis (iwp) 54 (2003), 405-414. Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann. In: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Segebrecht, Wolfgang/Steinecke, Hartmut. Bd. 3: Nachtstücke, Klein Zaches, Prinzessin Brambilla, Werke 1816-1820. Frankfurt a.M. 1985, S. 11-49. Hohoff, Ulrich: Wahnsinn und Person. IN: DERS.: E.T.A. Hoffmann. Der Sandmann. Textkritik, Edition, Kommentar. Berlin/New York 1988. Kleinberg, Jon M.: Authoritative Sources in a Hyperlinked Environment. In: Journal of the ACM 46, 5 (1999), 604-632. Lohr, Dieter: Kausalität. Ders.: Raum. In: Ders.: Stilanalyse als Interpretation. Kausalität, Raum und Zeit in E.T.A. Hoff manns Erzählung Der Sandmann. Osnabrück 2000. Rauter, Jürgen: Die Bündelung von Kleinbergs authorities und hubs in van Rijsbergens Effektivitätsmaß. In: Information Wissenschaft & Praxis (iwp) 57 (2006), 415-421. Rauter, Jürgen: Zitationsanalyse und Intertextualität. Intertextuelle Zitationsanalyse und zitatenanalytische Intertextualität. Diss. phil. Hamburg 2006. Rijsbergen, C.J. van: Evaluation. In: Ders.: Information Retrieval. 2. Aufl., London 1979. Salton, Gerard/McGill, Michael J.: Die Bewertung von Retrievalsystemen. In: Dies.: Information Retrieval – Grundlegends für Informationswissenschaftler. Hamburg/New York 1987.

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Stock, Wolfgang G.: Grundbegriffe des Information Retrieval. In: Ders.: Information Retrieval. Informationen suchen und finden. München 2007. Stock, Wolfgang G.: Retrieval von elektronischen Informationen. Techniken und Strategien. In: Ders.: Informationswirtschaft. München 2000. Stock, Wolfgang G.: Citation Consciousness. The Origins of Citation Indexing in Science. Interview with Eugene Garfield, Chairman emeritus of ISI, Philadelphia. In: Password 6 (2002), 22-25. Tepe, Peter/Rauter, Jürgen/Semlow, Tanja: Interpretationskonflikte am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann. Würzburg 2009.

Statt eines Schlusswor tes

Netzwerke – Eine allgemeine Theorie oder die Anwendung einer Universalmetapher in den Wissenschaf ten? Thorsten Halling und Heiner Fangerau

1. Net z werke als interdisziplinäres Forschungsparadigma – eine Annäherung Das Netzwerkkonzept ist eines von mehreren neuen attraktiven Paradigmen, ähnlich dem »cultural«, »visual« oder »topographical« bzw. »spatial turn«, die in vielen wissenschaftlichen Disziplinen an Popularität gewonnen haben.1 Auch die vorangegangen Beiträge in diesem interdisziplinären Band vereint der Versuch, die Entwicklung und Verbreitung von wissenschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Ideen und materiellen Gütern in vernetzten Strukturen zu denken und nachzuvollziehen. Jeder Beitrag steht dabei zunächst für sich und leistet einen Beitrag zur Forschung aus der Perspektive der eigenen Disziplin. Untersuchungsgegenstände und -methoden der einzelnen Aufsätze unterscheiden sich dabei in vielerlei Hinsicht, so dass sich die kritische Frage an die Herausgeber stellt, ob wir es bei dem einenden Element mit einem theoretisch-methodisch konsistenten Paradigma zu tun haben, oder ob der Begriff des Netzwerks ältere Konzepte wie beispielsweise die epistemischen Denkkollektive (Fleck) sprachlich-modernistisch überformt oder aber sich der verbreiteten metapho-

1 | Vgl. u.a. Barkhoff/Böhme/Riou (2004); Broch (2007); Hollstein/ Strauss (2006).

268 | THORSTEN H ALLING , H EINER FANGERAU rischen Vorstellungen von vermeintlich eindeutigen oder gar geheimnisvoll verborgenen »Vernetzungen« bedient. In diesem abschließenden Beitrag soll in Antwort auf diese Kritik für eine weiterhin methodisch offene Verwendung des Netzwerkbegriffs plädiert werden, die diesem eine Reichweite über die Sozialwissenschaften hinaus eröffnet. Dafür sollen einerseits notwendige typologische und terminologische Gemeinsamkeiten für die wissenschaftliche Netzwerkforschung herausgearbeitet werden und andererseits auf Grundlage der hier versammelten Beispiele die fachspezifischen Begründungszusammenhänge skizziert und kritisch hinterfragt werden, in denen der Netzwerkbegriff Anwendung findet. Das erste Problem jeder Netzwerkanalyse beginnt bereits mit der Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands. Theoretisch sind, zunächst ausgehend von sozialen Netzwerken, die meisten Netzwerke nahezu unendlich, da sie räumlich einen zyklischen und in diachroner Perspektive einen sich ständig wandelnden Charakter aufweisen. Aus diesem Grund müssen sie zunächst von Erkenntnisinteressen geleitet und nach nachvollziehbaren Kriterien ein- und abgegrenzt werden. Dabei ist es nicht unerheblich, ob formale bzw. bewusst geknüpfte und gepflegte Netzwerkverbindungen untersucht werden oder ob im Hinblick auf eine bestimmte Fragestellung soziale Gruppen, wissenschaftliche Forschungsfelder, räumliche Ausdehnungen oder etwa ökonomische Akteure als Netzwerk rekonstruiert werden. Beide Fälle aber erfordern die Analyse von Prozessen einer immer wieder neuen Restrukturierung in Abhängigkeit vom jeweiligen Forschungsfortschritt. Verschiedene Netzwerke bedingen unterschiedliche Elemente, die miteinander in jeweils spezifischen Arten von Relationen/Beziehungen verbunden sind. Es besteht die Gefahr, dass strukturelle und ontologische Unterschiede zwischen diesen durch die Verwendung des Netzwerkbegriffs zu wenig reflektiert werden. So sollte spezifiziert werden, welche Art(en) von Netzwerken untersucht und beschrieben werden. Unschärfen bestehen hierbei nicht nur über Disziplinengrenzen hinweg, sondern auch innerhalb eines Faches. In den Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftsgeschichte werden beispielsweise Netzwerke als intermediäre Instanzen zwischen Firmen und Märkten, als Organisationsform von Konzernen mit halbautonomen Tochtergesellschaften (etwa Holdings), als informeller Zusammenschluss von maßgeblichen Akteuren aus Politik, Bankern und Unternehmern in lokalen Wirtschaftsräumen (»local business network«) oder aber als infrastrukturelle Einrichtungen und Dienstleistungen, wie Transportwege und Transportwesen oder Wasser- und Energieversorgung

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(›network industry‹) betrachtet.2 Der Vorteil des Netzwerkkonzepts, seine nahezu unbegrenzte Anwendbarkeit, muss also notwendigerweise zu einer Identifizierung von konstitutiven Elementen von Netzwerken führen, die keine eindeutige Typisierung, aber doch eine universale und in Grenzen vergleichbare Verwendung ermöglicht.

2. Terminologie und Methodik Die Entwicklung einer spezifischen Fachsprache ist kennzeichnend für die Etablierung neuer wissenschaftlicher Disziplinen und Arbeitsmethoden. Eine solche eigene Terminologie erarbeitete sich beispielsweise die Soziale Netzwerkanalyse (SNA) seit den 1950er Jahren.3 Im Mittelpunkt stehen die Relationen, d.h. die Beziehungen zwischen bestimmten Handlungsträgern. Differenziert wird hierbei u.a. nach Netzwerkeinheiten, z.B. Dyaden (zwei Akteure), Triaden (drei Akteure), Gesamtnetzwerk, und nach »Relationsinhalten«. Gerade diese Einheiten sind es, die durch das Netzwerkkonzept zum einen nivelliert werden, zum anderen aber oft gerade erst durch ihre Unterordnung und Abstrahierung im »Netz« in ihrer Wirkweise behandelbar werden. Beispiele sind:4 • •

• • • •

Transaktionen, d.h. Austausch begrenzter Ressourcen (z.B. Kauf, Geschenk) Grenzüberschreitende Relationen (z.B. Verbindung von Unternehmen, durch die Mitgliedschaft einer Person in den jeweiligen Aufsichtsräten) Instrumentelle Beziehungen (d.h. zielgerichteter Kontakt, um relevante Güter, Dienstleistungen oder Informationen zu erhalten) Gefühls- und Emotionsbeziehungen (d.h. u.a. Bewertung von anderen hinsichtlich Freundschaft, Respekt, Vertrauen) Machtbeziehungen (u.a. formale Über- und Unterordnung, Kontrolle) Verwandtschaftsbeziehungen

2 | Vgl. Thompson (2003). Vgl. auch den Beitrag zu geographischen Entwicklungsmustern von Netzwerken der Ver- und Entsorgung von U. Koppitz in diesem Band. 3 | Vgl. zur Genese der Netzwerkanalyse u.a. Scott (1991), S. 7f. 4 | Aufstellung nach Jansen (2006).

270 | THORSTEN H ALLING , H EINER FANGERAU Die eigentliche Besonderheit der SNA liegt jedoch in der formalen Auswertung. Sie basiert auf den Methoden der mathematischen Graphentheorie. Die Beziehungen werden in Form von Graphen abgebildet, wobei Akteure so genannte Knoten (engl. Nodes) bilden und durch so genannte Kanten (engl. Edges) miteinander verbunden sind. Über die Identifi kation binärer Relationen hinaus kann über ordinale Rangskalen die Intensität der Relationen wiedergegeben werden. In erster Linie interessiert allerdings die Bedeutung eines Knotens innerhalb des Netzwerks. Die Zahl der Verbindungen pro Knoten wird als Grad (engl. Degree) ausgedrückt. Verschiedene Zentralitätsmaße sollen nun die relative Verbundenheit mit den anderen Konten des Netzwerks ausdrücken. Die englischsprachige Forschungstradition führt dabei zu gewissen Sprachverrenkungen in der deutschen Forschung. So berechnet die »Degree-Zentralität« die direkten Kontakte, die »Closeness-Zentralität« die indirekte Erreichbarkeit (d.h., wie viele Konten benötigt werden, um möglichst viele Akteure des Gesamtnetzwerks zu erreichen) und die »Betweeness-Zentralität« die Vermittlungsleistung (insbesondere zwischen ansonsten unverbundenen Teilen des Gesamtnetzwerks).5 Innerhalb dieser Vermittlungsfunktion wird je nach Ausrichtung u.a. zwischen Gatekeepern, Koordinatoren, Kosmopoliten und Repräsentanten unterschieden.6 Assoziationen aus der Sphäre der Politik oder der Wirtschaft, etwa »Graue Eminenzen«, »Wortführer«, »Multiplikatoren« oder »Broker« sind hierbei unvermeidbar. In den Beiträgen in diesem Band finden sich nur wenige der hier genannten Beispiele aus der Terminologie der SNA. Lediglich drei Studien bedienen sich explizit einer mathematischen Auswertung ihrer Netzwerke in Anlehnung und fachspezifischer Modifi kation der SNA.7 Die Netzwerkanalyse im weiteren Sinne zeichnet sich durch ein breiteres Spektrum von Anwendungsmöglichkeiten aus. Voraussetzung ist zunächst lediglich die Unterscheidbarkeit zwischen Knoten und Relationen. Methodologisch kann dabei in den Wissenschaften von einem dreigliedrigen, allerdings keineswegs trennscharfen Netzwerkbegriff ausgegangen werden: erstens Methode, zweitens Konzept, drittens Metapher. Der skizzierte methodische Zugriff ist über die Sozialwissenschaften hinaus auf viele Disziplinen und durchaus auch auf historische Fragestellungen übertragbar. Kennzeichen sind vergleichbare Begriff5 | Vgl. den prägnanten Überblick bei Holzer (2006), S. 34-53. 6 | Vgl. Gould/Fernandez (1989), S. 93. 7 | Vgl. die Beiträge von H.-J. Bucher, H. Fangerau und J. Rauter in diesem Band.

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lichkeiten, klar definierte Entitäten und eine Repräsentativität der erhobenen Daten. Das konzeptuelle Verfahren identifiziert unter einer bestimmten Fragestellung ein Netzwerk und seine Akteure und beschreibt die quantitativen und qualitativen Beziehungen. Dabei sind terminologische Varianten ebenso charakteristisch wie die Vielfalt der untersuchten »Akteure« bzw. Knoten. Nicht mehr nur soziale Beziehungen, sondern auch Dinge, Begriffe, Verknüpfungen von Texten (Zitationsnetzwerke), intellektuelle, »natürliche«, infrastrukturelle oder institutionelle Verbindungen können mit dem Konzept des Netzwerkes analysiert werden. Je ungenauer die Knoten und Verbindungen dabei identifiziert werden können, desto mehr wird der Netzwerkbegriff zur Metapher mit all ihrem Wert und ihren Eigenheiten, in der Handlungsstrukturen und Verflechtungen angedeutet werden sollen, ohne die Mechanismen dieser Vernetzungen erklären zu wollen. Wenn also weder eine einheitliche Terminologie noch enge methodischen Vorgaben, wie die der Sozialen Netzwerkanalyse bzw. der Zitationsanalyse, als allgemeingültig für das Netzwerksverständnis in den Wissenschaften angenommen werden dürfen, so können dennoch inhaltliche, konzeptuelle und methodische Kernbestandteile identifiziert werden: Einheiten bilden oder stehen in beziehungshaften Verbindungen, die sich einer (Re-)Konstruktion durch fachspezifisch adaptierte Methoden der mathematischen Graphentheorie nicht grundsätzlich widersetzen.

3. Soziale Beziehungen Eine wissenschaftliche Analyse sozialer Netzwerke setzt zunächst eine Differenzierung sozialer Beziehungen voraus.8 Im Grad der Interaktion unterscheiden sich beispielsweise »Bekannte« von »Freunden«. Persönliche Netzwerke können instrumentelle Bedeutung entfalten, d.h., sie erweitern durch materielle und immaterielle Unterstützungsleistungen die eigenen Handlungsspielräume. Im wissenschaftlichen Kontext z.B. sind es einerseits der Wissenstransfer, der zu einem intellektuellen Erkenntnisgewinn beiträgt, und andererseits Fürsprache und Informationen, die Karrierechancen erhöhen können. Solche »nützlichen« Netzwerke werden als Teil des Sozialkapitals verstan8 | Vgl. zur SNA aus der Vielzahl methodisch-theoretischer Überblicksdarstellungen und Handbücher: Knoke/Yang (2008), Stegbauer (2008); Wassermann/Faust (1994).

272 | THORSTEN H ALLING , H EINER FANGERAU den.9 Werden bestimmte Grenzen der Vorteilsnahme und Transparenz missachtet, verschwimmen die Grenzen zu »Vetternwirtschaft«, »Seilschaften« und Korruption.10 Universelle Fragestellungen der sozialen Netzwerkanalyse umfassen u.a. die Mitglieder eines Netzwerks, das übergeordnete Interesse der Akteure, die Einzelinteressen der Akteure, die formale Beziehung zwischen den Akteuren und das Bewusstsein, zu einem Netzwerk zu gehören. Darüber hinaus gilt es, die genaue Funktionsweise sozialer Netzwerke zu bestimmen. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt und welche materiellen oder immateriellen Güter müssen investiert werden, um ein Netzwerk zu begründen bzw. Teil eines solchen zu werden und vor allem zu bleiben?11 Diese Investitionen in Netzwerke umfassen insbesondere die Faktoren Zeit, Wissen, materielle Ressourcen, Reputation und Vertrauen. Während Zeit, Wissen und materielle Ressourcen zunächst einmal durch jeden Akteur autonom zur Verfügung gestellt werden können, sind Anerkennung oder Reputation sowie Vertrauen erworbene, reziproke und damit zeitlich dimensionierte Elemente der Netzwerkkommunikation. Eine wichtige Rolle innerhalb sozialer Netzwerke spielte – in historischer Perspektive – lange Zeit neben der Reziprozität, der sich vor allem der soziologische und ein wirtschaftshistorischer Aufsatz in diesem Band zuwenden,12 auch die räumliche Dimension. Die geographische Distanz der Akteure eines Netzwerks beeinflusste die Kommunikationsdichte und bestimmte die Interaktionsmöglichkeiten auch in zeitlicher Hinsicht maßgeblich. Erst moderne Kommunikationsmittel, wie Telegraphen-, Telefon- und E-Mail-Verbindungen – selbst wiederum netzwerkartig strukturiert – haben diese Bedeutung relativiert. Im übertragenen Sinne räumlich wird auch die soziale Distanz verstanden, dazu zählen neben sozioökonomischen vor allem auch kulturelle und sprachliche Barrieren.13 Aus diesen Investitionen in zeitlicher und räumlicher Perspektive ergibt sich ein weiteres generelles Analysekriterium der Netzwerkforschung, die Stabilität von Beziehungen. Innerhalb sozialer Netzwerke ist sie abhängig von der Art der Relation, dem Grad des Vertrauens 9 | Vgl. u.a. Lin (2001), Lüdicke (2007). 10 | Vgl. u.a. Höffl ing (2002). 11 | Latour (2007). 12 | Vgl. die Beiträge von S. Weyers und M. Schulte-Beerbühl/J. Vögele in diesem Band. 13 | Vgl. Pappi (1998), S. 585-589.

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und den gegenseitigen Verpflichtungen. Im Gegensatz dazu weisen physische Netzwerke, etwa natürliche Netze wie Fluss- oder Pflanzenssysteme bzw. materielle Vernetzungen wie Infrastrukturen (Straßen, Bahngleise, Strom- und Wasserversorgung), relativ stabile Strukturen auf, auch wenn die räumliche Dimension, ähnlich der sozialen Beziehungen mit technischen Innovationen, tendenziell an Bedeutung verliert. Beispiele sind etwa dreidimensionale Netzwerke wie satellitengesteuerte Navigationssysteme oder drahtlose Datenübertragung.

Interdependenz von physischen und sozialen Net z werken Eine systemische Interdependenz von intellektuellen Denk- und materiell bestimmten Arbeitsprozessen, wie sie in der wissenschaftstheoretischen Forschung vor allem mit den so genannten Laborstudien für die Herstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse nachgewiesen wurde,14 gilt ebenso für physische und soziale Netzwerke. Soziale Netzwerke sind notwendig, um die Funktionen physischer Netzwerke und die strategischen Investitionen in diese zu koordinieren. In gleicher Weise benötigen soziale Netzwerke Unterstützung durch physische Netzwerke, etwa die bereits erwähnten Kommunikationsstrukturen. In der Praxis wird dieser Zusammenhang häufig nur unzureichend berücksichtigt.

4. Repräsentationsformen von Net z werken Ein besonderes Charakteristikum von Netzwerken, das zugleich ein einendes Element ihrer Anwendung auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche darstellt, ist das ihrer visuellen Repräsentation in Matrizes oder Graphen. Zum einen können sie als Matrix dargestellt werden, in der die miteinander verbundenen Einheiten jeweils identisch als Zeilen- und Spaltenbeschriftung eingetragen werden und ihre Verbindungen durch Zahlenwerte angegeben werden. Die Stärke von Verbindungslinien, die dann das Netz konstituieren, lässt sich durch die Höhe der Zahl ausdrücken. In einer solchen Matrix können dann z.B. sowohl Handelsstraßen (z.B. durch die Häufigkeit ihrer Nutzung) als auch Personenkontakte (z.B. durch Zählung ihrer Telefonate) gewichtet, bewertet und dargestellt werden. Zum anderen werden Netzwerke in viel plastischerer Weise grafisch 14 | Vgl. u.a. Rheinberger (2001).

274 | THORSTEN H ALLING , H EINER FANGERAU dargestellt. Gerade diese Repräsentationsform zeichnet das, was als Netzwerk begriffen werden kann, visuell erfassbar aus und eröff net methodische wie metaphorische Anknüpfungspunkte für die unterschiedlichsten Untersuchungsfelder: Natürliche Flussnetzwerke, UBahnliniennetze, Straßennetze, elektrische Netze, Soziogramme oder Sprachverbindungen erscheinen in der grafischen Darstellung eben genau dadurch ähnlich, dass sie eine graphentheoretisch beschreibbare Netzstruktur gemeinsam haben.15 Die miteinander verbundenen Elemente werden etwa als Punkte, Kreise oder andere Form abgebildet und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen werden durch Linien angedeutet. Technisch stellen die auf diese Weise entstehenden Strukturen Graphen (G=(V,E)) dar, die aus einer bestimmten Menge Knoten (V) und einer bestimmten Menge Kanten (E) bestehen. Die Räume, die sich zwischen den Kanten bilden, werden als Maschen bezeichnet. Die Graphen können gerichtet sein, d.h., die Kanten können, was immer sie repräsentieren, nur in eine Richtung passierbar sein. Mit Farbkodierungen können verschiedene Graphen übereinander abgebildet werden (z.B. Flugnetze und alte Handelsrouten); Form, Größe und Darstellung der Knoten können variiert werden, um auf diese Weise unterschiedliche Charakteristika der Knoten mit zu kodieren. Darüber hinaus kann sich die Lokalisation der Knoten an topographischen Gegebenheiten oder inhaltlicher Nähe und Entfernung ebenso orientieren wie an Nähe und Entfernung, die durch die Kanten bedingt wird. In gleicher Weise können die Kanten durch Zahl-, Farboder Größenkodierungen (Dicke der Linien) gewichtet werden und dabei gegebenenfalls jene Gewichtungen, die eine Matrix enthielt, übernehmen. Methodisch von zentraler Bedeutung ist der Umstand, dass auf diese Weise dargestellte Netzwerke graphentheoretische Berechnungen zulassen, die weiteren Aufschluss über die Struktur eines Netzwerkes oder die Bedeutung einzelner Knoten erlauben. Die Komplexität und die Konnektivität eines Netzwerkes sind nicht direkt visuell erfassbar und werden daher über Indizes dargestellt. Gerade die plastische Erfassbarkeit von Netzwerkgrafi ken hat viel zur breiten Akzeptanz der Netzwerkidee beigetragen und auch in diesem Band wird in einigen Aufsätzen Wert auf die über eine Beschreibung hinausgehende visuelle Repräsentation gelegt. In einigen Fällen stellt diese sogar 15 | Die folgende Darstellung beruft sich vor allem auf Wassermann/Faust (1994); für eine kurze einführende Übersicht siehe Freeman (2000).

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die Haupttriebfeder für die Adaptation des Netzwerkgedankens überhaupt dar.16

5. Chancen und Grenzen des Net z werkkonzepts in den Wissenschaf ten In der vorliegenden Aufsatzsammlung haben Vertreter verschiedener Wissenschaftszweige an konkreten Beispielen die Chancen und Grenzen des Netzwerkkonzepts zu demonstrieren versucht. Deutlich wurden dabei nicht nur höchst unterschiedliche methodische Zugangsweisen und damit ein divergierendes Verständnis von Netzwerken, sondern auch ein jeweils eigenes Erkenntnisinteresse verbunden mit einem bestimmten dem eigenen Konzept zuerkannten Erkenntnispotential. Die Anzahl der Netzwerkstudien in den verschiedenen Wissenschaften ist inzwischen zu zahlreich, als dass an dieser Stelle ein auch nur annähernd adäquater Forschungsüberblick gegeben werden könnte. Wir beschränken uns daher wiederum auf exemplarische Überlegungen zu ausgewählten Disziplinen und einige wenige weiterführende Literaturhinweise. Im Mittelpunkt stehen vor allem die Anwendungsmöglichkeiten in reflektierender, historischer Perspektive.

Biologie, Neurowissenschaf ten und Sprachgeschichte Auf die Interdependenz von sozialen und physischen Netzwerken wurde bereits hingewiesen, so dass die Frage, inwieweit Netzwerke als »natürliches« universales Ordnungsprinzip oder als moderne Kulturtechnik zu gelten haben, kein wirklicher Widerspruch zu sein scheint. In den Naturwissenschaften, aber auch in der historischen Linguistik lösen sich diese Gegensätze allerdings erst in jüngster Zeit langsam auf. Insbesondere die Erkenntnisse der Neurowissenschaften und Molekularbiologie tragen dazu bei, traditionelle Vorstellungen streng horizontaler Hierarchien zu erweitern. Interessant ist dabei, dass netzartige Modelle von der Natur bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert für eine kurze Periode eine Konjunktur erlebten. Etwa bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts beherrschte die »Stufenleiter der Naturdinge« das Naturbild der Aufklärung. Alle Dinge des Universums standen demnach in einem kettenartigen Zusammenhang, gegliedert in Stufen u.a. in Arten, 16 | Vgl. den Beitrag von H. Fangerau in diesem Band.

276 | THORSTEN H ALLING , H EINER FANGERAU Gattungen, Ordnungen und Klassen. Fortschreitende Naturbeobachtungen ließen sich dann allerdings nicht mehr mit diesem linearen Modell einer göttlichen Ordnung der Natur in Einklang bringen. Erste netzartige Pflanzensysteme brachen radikal mit dem Unilinearitätsprinzip. Mit den Netzsystemen in Botanik und Zoologie begann sich zugleich eine Naturästhetik des Netzes, beispielsweise in der gartenkünstlerischen Raumgestaltung, zu etablieren.17 Trotz dieser frühen Beispiele für die Sichtweise des Netzwerks als Natursystem und als ästhetische Pathosformel der Moderne dominierte in Folge des Siegeszugs des Darwinismus zunächst die Stammbaumidee die biologischen Naturmodelle und die vorherrschende visuelle Vorstellung von Zusammenhängen in der Natur.18 In der historischen Linguistik werden mittels der Komparativen Methode Sprachen ähnlich biologischer Arten in eine genealogische Abfolge gebracht und somit phylogenetisch klassifiziert.19 Zur Darstellung der phylogenetischen Verhältnisse werden traditionell Stammbäume verwendet. Ziel ist es, Ähnlichkeiten zwischen Sprachen historisch zu erklären. Hierzu werden nicht-zufällige Entsprechungen zwischen Sprachen identifiziert, die sich als Abfolge regelhafter Prozesse beschreiben lassen. Damit scheiden allerdings jene Ähnlichkeiten als Untersuchungsobjekte aus, die eben nicht durch die Einwirkung eines regelhaften Prozesses erklärt werden können. Verschiedene Fallstudien belegten den Einfluss von horizontalen Beziehungen zwischen Sprachen, so dass Modelle gesucht wurden, die es ermöglichen, sowohl vertikale als auch horizontale Verbindungen zu integrieren. Interessant ist hierbei der Übertragungsprozess eines ebenfalls biologischen Modells, die Übernahme der Idee von phylogenetischen Netzwerken in die Sprachwissenschaft. Mit ihrer Hilfe können vertikale und horizontale »genetische« Beziehungen zwischen Arten und eben auch Sprachen visualisiert werden, wobei insbesondere Sprachvermischungen in einer Weise darstellbar werden, die vorher undenkbar war. Inwiefern Netzwerke als Ergänzungsmodell zu Stammbäumen eingeführt werden können, ob sie tatsächlich einen Erkenntnisgewinn gegenüber bisherige Analysen versprechen, ist, so resümiert Jens Fleischhauer abschließend, offen. Im Hinblick auf die untersuchten sprachlichen Verwandtschaftsbeziehungen erscheint es fraglich, ob sich die für 17 | Vgl. zum Folgenden den Beitrag zur Natursystematik von I. Polianski in diesem Band. 18 | Vgl. Pörksen (1997), S. 112-122. 19 | Vgl. zum Folgenden den Beitrag zur Historischen Linguistik von J. Fleischhauer in diesem Band.

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eine Sprachgenese erforderlichen hierarchischen Strukturen auch in Netzwerken abbilden lassen. Diesem sprachgeschichtlichen Forschungsansatz nicht unähnlich versteht auch die Wissenschaftstheorie semantisches bzw. konzeptuelles Wissen als eine systematisch vernetzte Struktur, wobei auch hier der hierarchischen Ordnung der Merkmale, die einen bestimmten Begriff kennzeichnen, indem sie in horizontale und vertikale Strukturen integriert werden, eine besondere Bedeutung zukommt. Die Kognitionswissenschaft versucht traditionell mit Hilfe von Wortlisten (engl. feature lists) der Fähigkeit der Kategorisierung im sprachlichen Umgang mit konkreten Dingen und abstrakten Begriffen nachzuspüren. Ein bestimmter Begriff wird anhand charakteristischer Attribute definiert. Dieses häufig als eindimensional und unflexibel kritisierte Konzept kann, so die These, durch so genannte Frames als ein »allgemeingültige[s] Format verschiedener Wissensformen und Wissensfelder« überwunden werden.20 Als Einheiten sind sie mit dem vergleichbar, was in Linguistik und Kognitionswissenschaft als »Konzept« definiert wird. Wissen wird durch Verknüpfung der in den Frames enthaltenen Informationseinheiten (Werte, Attribute) modellhaft repräsentiert. Dem allgemeinen Verständnis von Netzwerken folgend, können Frames für einfache Alltagszusammenhänge ebenso wie für komplexe Systeme wie Paradigmen oder Diskurse erstellt werden. Daraus ergeben sich erkenntnistheoretisch sehr interessante Anknüpfungspunkte an vertraute wissenschaftstheoretische Konzepte einerseits sowie neurowissenschaftliche Erkenntnismuster andererseits. Frames als Darstellungsformat können beispielweise, so führt der Beitrag von Fangerau/Lindenberg/Martin aus, bestimmte Denkstile von Denkkollektiven und den Konzeptwandel in wissenschaftlichen Diskursen – im Sinne von Ludwik Fleck – visualisieren. Die skizzierten Möglichkeiten von bereits etablierten linguistischen FrameModellen zur kategorialen Struktur semantischer Inhalte bieten sich ebenfalls zur Evaluierung eines neurowissenschaftlichen Modells des semantischen Wissens an. Ein solcher Methodentransfer führt zurück zur Ausgangsfrage, inwieweit Netzwerke als »natürliches« oder vielmehr kulturelles Ordnungsprinzip aufzufassen sind. Die Idee einer Netzwerkstruktur des menschlichen Gehirns geht auf konnektionistische Theorien des späten 19. Jahrhunderts zurück.21 Am Ende des 20. 20 | Vgl. zum Folgenden den Beitrag zu kognitiven Frames und neuronalen Netzen von H. Fangerau, M. Martin und R. Lindenberg in diesem Band. 21 | Vgl. Gerdes (2008).

278 | THORSTEN H ALLING , H EINER FANGERAU Jahrhunderts ermöglichte es die Magnetresonanztomographie, Faserverbindungen des Gehirns zu visualisieren. Daran schlossen sich nun Untersuchungen zur zeitlich-räumlichen Kopplung örtlich entfernter Hirnbereiche an, die rein lokalisationistische Theorien, in denen die Repräsentation verschiedener Funktionen in einzelnen zerebralen Arealen gesucht wurde, entscheidend erweiterten. In Hinblick auf neurowissenschaftliche Erklärungsmuster zur Herstellung und Verarbeitung semantischen Wissens wurden beispielsweise semantische Störungen als Diskonnektionssyndrome beschrieben. Auch wenn die Korrelation von Hirnarealen und linguistischen Modellen zur Erklärung der Genese semantischen Wissens vorerst mehr als Denkfigur zu verstehen ist, ist es die zeitlich-räumliche Dimension, die sie beispielsweise mit Netzwerken in den Wirtschaftswissenschaften bzw. der Wirtschaftsgeschichte verbindet.

Wir tschaf tswissenschaf ten und Wir tschaf tsgeschichte In ökonomischen Zusammenhängen von jeher augenfällig sind, wie schon in der Einleitung angedeutet, Unternehmer- und infrastrukturelle Netzwerke. Beide Phänomene werden zumeist allerdings mit einem konzeptuellen und weniger methodischen Netzwerkbegriff untersucht.22 Insgesamt konnte sich die Netzwerk-Idee auch in der modernen Ökonomie und in der Wirtschaftsgeschichte immer dort durchsetzen, wo herkömmliche Methoden bestimmte Fragestellungen nicht oder nur unzureichend zu erklären vermochten. In diesem Band demonstrieren zwei Beispiele zur Innovationsgeschichte und zum Welthandel in der Frühen Neuzeit die methodischen Möglichkeiten der Netzwerkanalyse im engeren Sinne. In der Innovations- bzw. Technikgeschichte etablierte sich das Netzwerkkonzept vor allem deshalb, weil mit seiner Hilfe Vorgänge des Erfolgs und des Scheiterns von Innovationsprozessen analysiert werden konnten. Physische, aber auch sozioökonomische Netzwerke haben großen Einfluss darauf, dass es bestimmten Innovationen, trotz technischer Überlegenheit gegenüber Vorläufer- oder Konkurrenzprodukten, nicht gelingt, sich am Markt durchzusetzen.23 Die Bedeutung physischer Netzwerke bei der Etablierung technischer Neuerungen am Markt beruht vor allem auf den Investitionskosten. Entscheidend für den Erfolg einer neuen Technik ist, dass möglichst schnell eine 22 | Vgl. u.a. Berghoff (2007). 23 | Vgl. zum Folgenden den Beitrag zu wirtschaftlichen Verkehrsnetzwerken von H. Braun in diesem Band.

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so genannte »kritische Masse« an Nutzern oder Kunden erreicht wird und damit die Produktions- und Vermarktungskosten sinken. Breitet sich eine Technik also schneller aus als eine möglicherweise technisch überlegene Konkurrenzentwicklung, so beruht der Markterfolg auf einer früher einsetzenden Profitabilität. Während diese ökonomischen Analysen zunächst nur die vermeintlich objektiven Kriterien und Mechanismen zur Durchsetzung eines physischen Netzwerkes am Markt untersuchten, gerieten im Sinne der erwähnten Interdependenz von physischen und sozialen Netzwerken so genannte Akteurs-Netzwerke und Pfadkreationsnetzwerke als Voraussetzung für eine erfolgreiche Implementierung physischer Netzwerke auf einem Markt in den Mittelpunkt des Interesses. Promotoren versuchen Entwicklungspfade zu konstituieren, um schnell eine kritische Masse an Nutzern erreichen zu können. Rejektoren wiederum, deren Existenz auf dem bisher existierenden physischen Netzwerk basiert, versuchen den Auf bau neuer Entwicklungspfade und entsprechender Pfadkreationsnetzwerke zu verhindern. Etwa an Helmut Brauns Beispiel der Konkurrenz zwischen Zeppelinen und Flugzeugen beim Auf bau der ersten Luftfahrtnetze wird deutlich, dass die Prozesse zur Errichtung oder Verhinderung eines physischen Netzwerkes unmittelbar durch soziale Netzwerke mit divergierenden ökonomischen Interessen bestimmt werden. Die Mechanismen innerhalb dieser sozialen Netzwerke, insbesondere auch so genannte »weiche Faktoren« wie gegenseitiges Vertrauen, sind – und dies ist ebenso plausibel wie schwer fassbar – eine ganz zentrale Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit von Handelsbeziehungen. Etwa in der »Neuen Institutionen Ökonomie« haben diese Aspekte durchaus an Bedeutung gewonnen. Im Mittelpunkt stehen hier allerdings die Beziehungen zwischen Institutionen, wie sie für moderne Ökonomien, aber ebenso auch schon für spätmittelalterliche Wirtschaftsverbünde (u.a. Zünfte, Hanse) kennzeichnend waren. Nur unzureichend erklärbar ist damit der nur gering formalisierte bzw. institutionalisierte frühneuzeitliche Fernhandel.24 Diese informellen Beziehungen von Geschäftspartnerschaften zeichneten sich durch Flexibilität und ein hohes Gefährdungspotential aus. Der Wunsch nach stabilen Beziehungen und die gleichzeitige Notwendigkeit, auch neue, also zunächst schwächere Verbindungen einzugehen, lassen sich in Netzwerkstrukturen sinnvoll darstellen. Besondere Bedeutung 24 | Vgl. zum Folgenden den Beitrag zu räumlichen Konstruktionen und sozialen Normen in Handelsnetzwerken von M. Schulte Beerbühl und J. Vögele in diesem Band.

280 | THORSTEN H ALLING , H EINER FANGERAU hat in diesem Beispiel die bereits erwähnte räumlich-zeitliche Dimension von Netzwerken.25 Wie also beeinflussten notwendige räumliche Mobilität (u.a. Reisen, Migration) und die räumliche und damit auch zeitliche Distanz die Beziehungen? Wie gelang es beispielweise, Vertrauen über große Entfernungen und relativ große Zeiträume hinweg zu stabilisieren? Ein Aspekt, der die Antwort auf diese Fragen erleichtert, ist der stark verbreitete Rückgriff auf verwandtschaftliche, also tendenziell stabile Relationen. Die zuletzt vorgestellte Fallstudie verdeutlicht den großen Mehrwert, den methodisch eng an die Soziale Netzwerkanalyse angelehnte Studien auch für historische Untersuchungszeiträume generieren können.

Informations-, Medienwissenschaf ten und Wissenschaf tsgeschichte Sowohl im allgegenwärtig »vernetzten« 21. Jahrhundert als auch in historischer Perspektive vereint die sozialen Netzwerkbeziehungen, dass ihre Relationen immer auch in einen kommunikativen Prozess eingebunden sind oder vielmehr dieser sogar ihr zentrales Charakteristikum darstellt. Darüber hinaus zeigt Weyers in diesem Band sogar, dass diese Beziehungen gesundheitsrelevant sind.26 Soziale, kommunikative Beziehungen weisen also eine Komponente auf, die es für Menschen essentiell erscheinen lässt, Kanäle der Kommunikation auszuweiten und zu expandieren. In diesem Sinne müssen Computernetzwerke, insbesondere das Internet, schon allein begrifflich, vor allem aber durch ihre kommunikative Vielschichtigkeit, die unüberschaubare Anzahl der Nutzer und ihre globale Reichweite, als eines der prägnantesten Beispiele für die These von Netzwerken als Leitmetapher der Moderne verstanden werden. In die medienwissenschaftliche Forschung zum Internet hat der methodische Netzwerkansatz bisher allerdings erst ansatzweise Eingang gefunden.27 Prinzipiell kann dabei zwischen vier unterschiedlichen Verwendungstypen des Netzwerksbegriffs differenziert werden. Erstens beschreibt er ein technisches, also physisches Netz, zweitens ein in seiner Struktur spontanes, skalenfreies und offenes Netzwerk (morphologische Netzwerkanalyse), drittens ein Netzwerk von Einzeldokumenten (Hyperlink-Network-Analysis) und viertens eine in-

25 | Vgl. Kesselring (2006), S. 333-358. 26 | Vgl. den Beitrag von S. Weyers in diesem Band. 27 | Vgl. u.a. Stegbauer/Rausch (2006).

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teraktional-soziale, kommunikative Ordnung (u.a. Computer Mediated Discourse Analysis).28 Daraus ergibt sich ein multiperspektivisches Konzept, das die technische Ebene als sozio-technischen Handlungsrahmen versteht, das also – im Sinne der Interaktion von physischen und sozialen Netzwerken – zwischen einer Innen- und einer Außenperspektive unterscheidet. Innenperspektive meint vor allem die online-spezifischen Diskursstrukturen. Bucher spricht hier sogar von einem »Strukturwandel der Öffentlichkeit in der Netzwerk-Kommunikation«.29 Außenperspektive meint die Makrostrukturen von Online-Kommunikation und ist terminologisch sowie methodisch an die soziale Netzwerkanalyse angelehnt. Die Hyperlink-Network-Analysis koppelt, da sie sowohl den Akteur als auch dessen Funktion im Auf bau des Netzwerkes berücksichtigt, die interaktionale Innenperspektive mit der morphologischen Außenperspektive. Am Beispiel zweier prototypischer Erscheinungsformen der Netzwerkkommunikation, den Weblogs und den Wikis, kann mit dieser multiperspektivischen, kommunikativen Netzwerkanalyse einerseits die Struktur einer neuen Wissensordnung demonstriert werden, die nicht mehr ausschließlich »top-down« sondern auch »bottom-up« organisiert ist, andererseits weder das befürchtete Informationschaos einer nutzerorganisierten Open-Source-Kommunikation noch eine strukturell bedingte Verbesserung der Kommunikationsqualität (»Intelligenz der Masse«) festgestellt werden. Die hier für das Internet skizzierte relativ neue Analyse von Netzwerken des Wissens integriert also Elemente der Diskurs- und Kommunikationsanalyse, von Textvernetzungen und Zitationsanalyse sowie der sozialen Netzwerkanalyse. Um diese Integration verschiedener netzwerkanalytischer Ansätze zur Untersuchung von kollektiven Prozessen der Wissensgenerierung in einem kommunikativen Netzwerk bemüht sich seit längerem auch die wissenschaftshistorische Forschung. Im Mittelpunkt stehen dabei die Austauschprozesse zwischen Wissenschaftlern, die Entstehung und Durchsetzung gemeinsamer Forschungsideen sowie der damit einhergehende Methoden-, Kultur-, Technologie- und Wissenstransfer. Kontakt und Kommunikation sind die zentralen Voraussetzungen dieses Transfers und die Analyse der

28 | Vgl. zum Folgenden den Beitrag zum Internet als Netzwerk des Wissens von H.-J. Bucher in diesem Band. 29 | Bucher (2005), S. 187-218.

282 | THORSTEN H ALLING , H EINER FANGERAU jeweiligen Kommunikationsprozesse somit ganz entscheidend zum Verständnis von Wissenstransfer und Wissensentwicklung.30 Die Interaktion zwischen Forschern erfolgt neben dem persönlichen Austausch über Briefe, Gespräche oder Vorträge vor allem durch Publikationen. Wissenschaftliche Aktivität und die Verbreitung von Forschungsergebnissen sind also das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung.31 Die Vernetzung von sozialen Beziehungen und Literaturbeziehungen spiegeln sich u.a. in Zitationen.32 Die Rekonstruktion beider Kommunikationsebenen, die persönlichen Kontakte eines Wissenschaftlers einerseits und die von ihm herangezogenen Autoren wissenschaftlicher Literatur andererseits, ergibt ein Netzwerk, dessen Informationsgehalt weit über die Einzelbetrachtung der entsprechenden Akteure hinausreicht. Die Mitglieder des persönlichen Netzwerkes und des Autorennetzwerkes, das die intellektuelle Grundlage eines Forschers darstellt, sind nicht nur direkt, sondern zusätzlich auch über weitere einflussreiche Autoritäten miteinander verbunden. Darüber hinaus repräsentieren solche vernetzte Gruppen (Cluster) von Wissenschaftlern disziplinäres Wissen. Der polnische Bakteriologe und Wissenschaftsphilosoph Ludwik Fleck prägte für solche vernetzten Gruppen die Bezeichnung »Denkkollektiv«.33 Die Visualisierung in Netzwerkdarstellungen solcher formeller und informeller Denkkollektive (u.a. Pathfinder Netze) reduziert die Komplexität von Beziehungsgeflechten und erleichtert die »Lesbarkeit«, d.h. die synoptische Erfassbarkeit. Zugleich können wesentliche Problemstellungen herausgestellt werden, die sich im Laufe einer qualitativen Analyse eventuell erst sehr spät ergeben würden, und Personen und Autoren erfasst und dargestellt werden, die sonst als zu marginal durch das Analyseraster fallen.

30 | Vgl. zum Folgenden den Beitrag zum Austausch von Wissen und die rekonstruktive Visualisierung formeller und informeller Denkkollektive von H. Fangerau in diesem Band. 31 | Vgl. u.a. Golinski (2005). 32 | Zur Weiterentwicklung der Zitationsanalyse vgl. den Beitrag von J. Rauter in diesem Band. 33 | Vgl. das Beispiel des internationalen Netzwerkes des synthetischen Darwinismus im Beitrag von. T. Junker in diesem Band.

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Schluss: Theorie und Praxis der Net z werk for schung Sind wir nun einer allgemeinen Netzwerktheorie in den Wissenschaften näher gekommen oder haben wir uns in einem bunten Mosaik angewandter Netzwerkforschung »verheddert«? »Die Unterschiedlichkeit der Ansätze zu einer soziologischen Theorie sozialer Netzwerke macht es zumindest zum jetzigen Zeitpunkt schwer von der [Hervorhebung i. Orig., Anm. d. Verf.] Netzwerktheorie zu sprechen.«34 Der nüchternden Analyse Boris Holzers folgend, kann dieser Band abschließend nur auf das lohnende Ziel verweisen, die Methoden, Möglichkeiten und die theoretischen Begründungszusammenhänge, die das Netzwerkkonzept für alle Wissenschaften bietet, weiter zu verfolgen. Unstrittig ist, dass der Netzwerktopos in vielen Fällen entweder älteren Konzepten und Methoden übergestülpt wird oder zu Unrecht etwa mit umfassenderen Theorie wie der Systemtheorie gleichgesetzt wird. Der Einblick in eine Reihe unterschiedlicher Forschungsansätze dokumentiert allerdings, so unsere Überzeugung, die Berechtigung einer methodisch und theoretisch unscharfen Forschungspraxis, die Netzwerke heuristisch einsetzt und dabei nicht als alleiniges Dogma überhöht.

Summar y The network paradigm is a very attractive methodological and metaphorical approach in a great variety of scientific disciplines. The articles of this interdisciplinary volume try to make use of the network concept across disciplinary borders. The examined topics, entities and questions differ widely, however, all the authors try to come to grips with their material by adopting and adapting the network concept according to their needs. This closing paper gives a short summary of the different paths followed in history of science, history of economics, sociology, neuroscience and linguistics and asks whether the network paradigm is a metaphor, a methodological clue or a tool to organise knowledge, objects or actors. The authors come to the conclusion that all of these characteristics are true and valid for the adaptation of the concept in different disciplines and they argue for a free and open use of the concept, unrestricted by disciplinary constraints or defi nitional predeterminations. 34 | Holzer (2006), S. 104.

284 | THORSTEN H ALLING , H EINER FANGERAU

Literatur Barkhoff, Jürgen; Böhme, Hartmut; Riou, Jeanne (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln 2004. Berghoff, Hartmut (Hg.): Unternehmerische Netzwerke. Stuttgart 2007. Broch, Jan (Hg.): Netzwerke der Moderne. Würzburg 2007. Bucher, Hans-Jürgen: Macht das Internet uns zu Weltbürgern? Globale Online-Diskurse: Sturkturwandel der Öffentlichkeit in der Netzwerk-Kommunikation. In: Claudia Fraas, Michael Klemm (Hg.): Mediendiskurse. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Frankfurt a.M. u.a. 2005, 187-218. Freeman, Linton C.: Visualizing Social Networks, Journal of Social Structure 1 (1) 2000. Gerdes, Adele: Spracherwerb und neuronale Netze. Die konnektionistische Wende. Marburg 2008. Golinski, Jan: Making natural knowledge. Constructivism and the history of science. Chicago 2005. Gould, Roger V.; Fernandez, Roberto M.: Structures of Mediation. A Formal Approach to Brokerage in Transaction Networks. In: Sociological Methodology 19 (1989), 89-126. Höffling, Christian: Korruption als soziale Beziehung. Opladen 2002. Hollstein, Bettina; Strauss, Florian (Hg.): Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methode, Anwendungen. Wiesbaden 2006. Holzer, Boris: Netzwerke. Bielefeld 2006. Jansen, Dorothea: Einführung in die Netzwerkanalyse. 3. Aufl. Wiesbaden 2006. Kesselring, Sven: Topographien mobiler Möglichkeitsräume. Zur sozio-materiellen Netzwerkanalyse von Mobilitätspionieren. In: Hollstein, Bettina; Strauss, Florian (Hg.): Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methode, Anwendungen. Wiesbaden 2006, 333-358. Knoke, David; Yang, Song: Social network analysis. 2. Aufl. Los Angeles u.a. 2008. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a.M. 2007. Lin, Nan: Social Capital. A Theory of Social Structure and Action. Cambridge 2001. Lüdicke, Jörg (Hg.): Soziale Netzwerke und soziale Ungleichheit. Zur Rolle von Sozialkapital in modernen Gesellschaften. Wiesbaden 2007.

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Pappi, Franz Urban: Soziale Netzwerke. In: Schäfers, Bernhard; Zapf, Wolfgang: Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Opladen 1998, 584-596. Pörksen, Uwe: Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Bilder, Stuttgart 1997, 112-122. Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2001. Scott, John: Social Network Analysis. A Handbook. London 1991. Stegbauer, Christian (Hg.): Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Wiesbaden 2008. Stegbauer, Christian; Rausch, Alexander: Strukturalistische Internetforschung. Netzwerkanalysen internetbasierter Kommunikationsräume. Wiesbaden 2006. Thompson, Grahame F.: Between Hierarchies and Markets. The Logic and Limits of Network Firms. Oxford 2003. Wassermann, Stanley; Faust, Katherine: Social Network Analysis. Methods and Applications. Cambridge 1994.

Zu den Autoren

Helmut Braun geb. 1960; Studium der Betriebswirtschaftslehre (Dipl.-Kaufmann 1985), der Volkswirtschaftslehre (Dipl.-Volkswirt 1987) sowie der Politischen Wissenschaften und der Soziologie an der Universität Regensburg; Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Eisen, Seminar für Wirtschafts- und Sozialpolitik, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main; Promotion zur Ausbreitung medizin-technischer Innovationen; Assistent und dann Oberassistent bei Prof. Gömmel, Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte, Universität Regensburg; Habilitation über den Aufstieg und Niedergang der Luftschiff fahrt; seit 2008 Lehrer an einer Privatschule und Gast-Professor an der Universität Sarajevo, Bosnien und Herzegowina. Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts-, Sozial-, Technik-, Innovations- und Umweltgeschichte; Analyse der historischen Wurzeln aktueller Probleme in Transformationsstaaten. Hans-Jürgen Bucher geb. 1953; Studium der Germanistik und Sportwissenschaft an der Universität Tübingen, 1979-1980 Referendariat für das höhere Lehramt an Gymnasien, 1980-1991 Wissenschaftlicher Angestellter und Hochschulassistent am Deutschen Seminar der Universität Tübingen, 1985 Promotion mit einer Dissertation zum Thema „Pressekommunikation. Grundstrukturen einer öffentlichen Form der Kommunikation aus linguistischer Sicht“. 1992-1993 wissenschaftlich-journalistischer Dozent am Deutschen Institut für publizistische Bildungsarbeit, Journalisten-Zentrum Haus Busch in Hagen, 1993-1994 Volontariat beim Schwäbischen Tagblatt/ Südwest Presse, 1994-1995 Journalist beim Südwestfunk, 1995-1997 Wissenschaftlicher Angestellter und Studien-

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A UTOREN

rat im Hochschuldienst an der Universität Augsburg, 1996 Vertretung der Professur „Allgemeine und Spezielle Journalistik“ am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig, seit 1997 Universitätsprofessor für Medienwissenschaft an der Universität Trier sowie Direktor des Compentence Centers E-Business (CEB). 2001 Gastprofessur an der Hamline University in St. Paul / Minnesota für „International Journalism“ Forschungsschwerpunkte: Online-Forschung, Rezeptionsforschung, Zeitungsforschung, Medien und Politik, Mediensprache und Multimodalität. Heiner Fangerau geb. 1972; Studium der Humanmedizin, Theaterwissenschaft, Anglistik, Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum; 3. Staatsexamen Humanmedizin 1999; Approbation 2001; Promotion 2000 zur Geschichte der Rassenhygiene in Deutschland; AiP Neurologie und Psychiatrie in Bremen und Bonn; Stipendiat des DFG Graduiertenkollegs GRK 246 „Pathogenese von Krankheiten des Nervensystems“ Bonn 2000-2002; 2002 bis 2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen, Administrative Officer des von der Europäischen Union geförderten Projektes EURETHNET; 2003-2008 Wissenschaftlicher Assistent und stellvertretender Direktor am Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Habilitiert im Fach „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ seit Dezember 2007. Seit Januar 2009 Lehrstuhlinhaber für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Ulm. Forschungsschwerpunkte: Biomedizin im 19. und 20. Jahrhundert, Denkkollektive und Wissenschaftlernetzwerke in der Biomedizin um 1900. Jens Fleischhauer geb. 1981, Studium der Allgemeinen Sprachwissenschaft und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprache und Information, Abteilung für Allgemeine Sprachwissenschaft an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Klassifikation und Evolution von Sprachen, Metaphern, Verbsemantik.

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Thorsten Halling geb. 1971; Studium der Geschichte und Medienwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Magister 1999; 2001-2002 Fortbildung zum Systemspezialisten Online-Publishing; seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, u.a. als Bearbeiter des Forschungs- und Publikationsprojekts „100 Jahre Hochschulmedizin in Düsseldorf 1907-2007“ und der DFG-Projekte „Wert des Menschen“ in den Bevölkerungswissenschaften (ca. 1870-1933), „Darstellung als Problem und Promotor medizinischer Diagnostik“. Seit 2009 Wissenschaftlicher Projektkoordinator des Projektes „Klassifi kation und Evolution in Wissenschaftsgeschichte, Biologie und Sprachwissenschaften“ am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm. Forschungsschwerpunkte: Kommunikations- und Mediengeschichte, Medizin und Gesellschaft, Wissenschaftsgeschichte (19./20. Jahrhundert). Thomas Junker geb. 1957; Studium der Pharmazie in Freiburg; Studium der Wissenschaftsgeschichte und Promotion (1989) an der Universität Marburg; 1992-1995 Mitarbeiter im Darwin Correspondence Project in Cambridge, England, und Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander-vonHumboldt-Stiftung an der Harvard University in Cambridge, Mass; 1996 bis 2002 Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Ethik in den Biowissenschaften an der Universität Tübingen; 2001 Habilitation für Geschichte der Naturwissenschaften; 2002-2003 und 2006 Heyne-Haus-Gastprofessur am Institut für Wissenschaftsgeschichte der Universität Göttingen; lehrt seit 2006 als apl. Professor an der Fakultät für Biologie der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Biologie, der Evolutionstheorie und der Anthropologie. Ulrich Koppitz geb. 1965; Studium der Geschichte, Geographie, Anglistik, Historischen Hilfs- und Erziehungswissenschaften in Düsseldorf und Münster, 1. Staatsexamen SII/I 1992; seit 1996 Sachbearbeiter im Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, seit 2005 im Medizinhistorischen Fachapparat; Gründungsmitglied und seit 2001 Kassenwart der European Society for Environmental History e.V. Forschungsschwerpunkte: Umweltgeschichte, Sozialgeschichte des Gesundheitswesens.

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Robert Lindenberg geb. 1974; Studium der Medizin und Philosophie in Bonn und Wien, Praktisches Jahr in Bonn, Lausanne und New York City; Promotion (Dr. med.) an der Universität Bonn; 2003-2008 Assistenzarzt an der Neurologischen Klinik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; seit 2008 als Wissenschaftler am Beth Israel Deaconess Medical Center, Harvard Medical School, in Boston, Mass. Forschungsschwerpunkte: Hirnstimulation beim Schlaganfall, strukturelle und funktionelle Veränderungen beim Schlaganfall, cerebrale Korrelate von Kommunikationsprozessen. Michael Martin geb. 1960; Studium der Geschichte, Wirtschafts- und Technikgeschichte, Pädagogik; Dr. phil., M.A.; bis 2004 wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum sowie bei der Stiftung Museum Schloss Moyland; seit Oktober 2005 wiss. Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, im DFG-Projekt „Die Frames und Funktionalbegriffe der Harndiagnostik in ihrer Entwicklung seit der frühen Neuzeit“ sowie im DFG-Projekt „Darstellung als Problem und Promotor medizinischer Diagnostik“; seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Arbeitsmedizin, Wissenschaftsgeschichte, mittelalterliche Pflanzenheilkunde, Geschichte der Medizintechnik. Igor J. Polianski geb. 1969; Studium der Biologie, Slawistik, Kunst- und Wissenschaftsgeschichte an der Staatlichen Universität von St. Petersburg, an der Freien Universität Berlin und an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; 2003 Promotion in Kunstgeschichte mit einer interdisziplinär zwischen Kunst- und Wissenschaftsgeschichte gelagerten Studie; 19982003 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sonderforschungsbereichs „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ an der Universität Jena und im Seminar für Kunstgeschichte und Kustodie der Friedrich-Schiller-Universität sowie Lehrbeauftragter am Institut für Slawistik der HU Berlin; 2004-2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; seit 2009 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm; seit 1995 Herausgeber der Berliner Zeitschrift für Kultur & Politik „Zerkalo Zagadok“.

NETZWERKE – EINE ALLGEMEINE THEORIE ODER UNIVERSALMETAPHER? | 291

Forschungsschwerpunkte: Deutsche und osteuropäische Kultur- und Sozialgeschichte, Wissens- und Bildungsgeschichte, Historische Museologie und Gedächtnisforschung, Kulturgeschichte und historische Semantik der Natur, Biopolitik und Popularisierungsformen der Naturwissenschaften, Säkularisierungs- und Atheismusgeschichte. Jürgen Rauter geb. 1971; 1991-1993 Betriebsbuchhalter; 1993-1998 Innerbetrieblicher Informationsdienst/EDV-Manager; 1998-2000 Software-Educator; 2000/2001 IT-Manager; Leiter des Marketings; 2001/2002 Beginn des Magisterstudiums der älteren und neueren Germanistik sowie der Informationswissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Abschluss 05/2004; Promotion in Informationswissenschaft „Zitationsanalyse und Intertextualität. Intertextuelle Zitationsanalyse und zitatenanalytische Intertextualität“; Abschluss 12/2005; seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abt. für deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters. Forschungsschwerpunkte: Zitationsanalysen, Literaturwissenschaft, hohes und spätes Mittelalter. Margrit Schulte Beerbühl geb. 1950; Studium der Geschichte, Anglistik, und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Stipendiatin der FriedrichEbert Stiftung 1977/78, Staatsexamen für das Lehramt am Gymnasium 1980, Stipendiatin des Deutschen Historischen Instituts London 1983, Promotion 1986 über „Vom Gesellenverein zur Gewerkschaft: Londoner Gesellenorganisationen 1555-1825“, Lehrauftrag an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf seit 1992, Wiedereinstiegsstipendium des Landes NRW Dortmund, 1994-96; Habilitationstipendium des Deutschen Historischen Instituts London 1998/7; Habilitation 2006: Deutsche Kaufleute in London: Welthandel und Einbürgerung 1660-1818 (Oldenbourg Verlag München 2007) Habilitationspreis der Heinrich Heine Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Migrationsgeschichte, Deutsch-britische Beziehungen, Handelsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Konsumgeschichte Jörg Vögele geb. 1956; Studium an den Universitäten Konstanz und Bristol, M.A., Dr. phil. 1987 (Konstanz), Habilitation 1999 (Düsseldorf); wiss. Tätigkeiten an den Universitäten Konstanz und Liverpool; Feodor-Lynen Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung; Assistant Director

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A UTOREN

des Institute for European Population Studies, Liverpool; Gastprofessur an der Karls-Universität Prag im Sommersemester 2001; seit 2002 geschäftsführender Institutsdirektor und 2002-2008 Lehrstuhlvertreter für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Zweitmitglied der Philosophischen Fakultät; Fellow der Universität Liverpool (1994-2000); Leiter des Arbeitskreises Historische Demographie der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte der Medizin; Historische Demographie und Epidemiologie; Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens; Sozial-, Wirtschafts- u. Kulturgeschichte von Urbanisierung und Globalisierung; Quantitative Methoden. Simone Weyers geb. 1973; Studium der Soziologie, Psychologie und Neueren Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und der University of California at Davis, USA; 2002 Magister Artium; 2006 Promotion zu sozialen Beziehungen und Gesundheitsverhalten; seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medizinische Soziologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; seit 2004 Referentin bei der Bundeszentrale für Gesundheitliche Auf klärung, BZgA. Forschungsschwerpunkte: Soziale Determinanten von Gesundheit und Krankheit, gesundheitliche Ungleichheiten.

Science Studies Nicholas Eschenbruch, Viola Balz, Ulrike Klöppel, Marion Hulverscheidt (Hg.) Arzneimittel des 20. Jahrhunderts Historische Skizzen von Lebertran bis Contergan September 2009, ca. 276 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1125-0

Sandro Gaycken, Constanze Kurz (Hg.) 1984.exe Gesellschaftliche, politische und juristische Aspekte moderner Überwachungstechnologien (2. unveränderte Auflage 2009) 2008, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-766-0

Bernd Hüppauf, Peter Weingart (Hg.) Frosch und Frankenstein Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft Januar 2009, 462 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-892-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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3) ANZ980.p 215047724430

Science Studies Gesine Krüger, Ruth Mayer, Marianne Sommer (Hg.) »Ich Tarzan.« Affenmenschen und Menschenaffen zwischen Science und Fiction 2008, 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-882-7

Marion Mangelsdorf, Maren Krähling, Carmen Gransee Technoscience Eine kritische Einführung in Theorien der Wissenschafts- und Körperpraktiken Dezember 2009, ca. 150 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN 978-3-89942-708-0

Philippe Weber Der Trieb zum Erzählen Sexualpathologie und Homosexualität, 1852-1914 2008, 382 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1019-2

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Science Studies Ralf Adelmann, Jan Frercks, Martina Hessler, Jochen Hennig Datenbilder Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften Juni 2009, 224 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1041-3

Kai Buchholz Professionalisierung der wissenschaftlichen Politikberatung? Interaktions- und professionssoziologische Perspektiven 2008, 240 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-936-7

Michael Eggers, Matthias Rothe (Hg.) Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften Mai 2009, 274 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1184-7

Gabriele Gramelsberger Computerexperimente Zum Wandel der Wissenschaft im Zeitalter des Computers Oktober 2009, ca. 296 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-89942-986-2

Wilfried Heinzelmann Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft Die deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde 1897-1933. Eine Geschichte in sieben Profilen August 2009, ca. 384 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1144-1

Jochen Hennig Bildpraxis Visuelle Strategien in der frühen Nanotechnologie November 2009, ca. 338 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1083-3

Renate Mayntz, Friedhelm Neidhardt, Peter Weingart, Ulrich Wengenroth (Hg.) Wissensproduktion und Wissenstransfer Wissen im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit 2008, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-834-6

Katja Patzwaldt Die sanfte Macht Die Rolle der wissenschaftlichen Politikberatung bei den rot-grünen Arbeitsmarktreformen 2008, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-935-0

Gerlind Rüve Scheintod Zur kulturellen Bedeutung der Schwelle zwischen Leben und Tod um 1800 2008, 338 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-856-8

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