Grenzen in den Wissenschaften [1 ed.] 9783205208099, 9783205207726

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Grenzen in den Wissenschaften [1 ed.]
 9783205208099, 9783205207726

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Wissenschaft Bildung Politik Herausgegeben von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft

Band 20

Grenzen in den Wissenschaften

Wissenschaft Bildung Politik

Herausgegeben von der

Österreichischen Forschungsgemeinschaft Band 20

Grenzen in den Wissenschaften

Herausgegeben von

Reinhard Neck Heinrich Schmidinger Christiane Spiel

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung durch:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. © 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Redaktion: Markus Vago, Wien Umschlaggestaltung: Miriam Weigel, Wien Satz und Layout: Ulrike Dietmayer, Wien Reproduktionen: Pixelstorm, Wien Druck und Bindung: Prime Rate kft., Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20772-6

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Begriffsgeschichte des europäischen Redens über Grenzen (bzw. Diskontinuitäten in Raum und Zeit) Thomas Lindner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Räume und Grenzen – Dynamiken und Relationen Historische und systematische Betrachtungen Susanne Rau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sine fine. Künstlerisches Handeln an den „Grenzen des Denkens“ Wolfgang Gratzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schwarze Löcher, Gravitationswellen, Dunkle Energie – Stoßen wir an Grenzen in der Physik? Sabine Schindler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grenzen einer rein naturwissenschaftlichen Forschung Ein Plädoyer für transdisziplinäre Zugänge Matthias Beck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis Karl Acham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Normative Grenzen der Wissenschaftsfreiheit Magdalena Pöschl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die jüngsten Migrationsbewegungen und die aufgrund dieser Ereignisse als krisenhaft empfundenen Entwicklungen in Europa, aber auch in anderen Teilen der Welt haben die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wieder für die Frage nach der Wünschbarkeit von „offenen Grenzen“ oder vom „Schutz der Grenzen“ (des eigenen Landes) sensibilisiert. Während es in den letzten Jahrzehnten schien, dass durch die Globalisierung und die europäische Integra­ tion Landesgrenzen zunehmend unwichtig geworden seien, stehen diese Fragen jetzt im Mittelpunkt des politischen Interesses, bestimmen Wahlausgänge entscheidend mit und lassen die Gefahren einer Spaltung der Gesellschaften der Einwanderungsländer und Bedrohungen der Demokratie, der freiheit­ lichen Grundordnung und der Menschenrechte als reale Zukunftsszenarien erscheinen. Während die Österreichische Forschungsgemeinschaft bereits in einem früheren Sammelband die Probleme der Migration und ihrer Ursachen behandelt hat, stand auf dem Wissenschaftstag 2016 das damit vordergründig eng verbundene Konzept der Grenze im Mittelpunkt der Beratungen. Das Tagungsthema wurde von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern aus den Perspektiven verschiedener Disziplinen in Vorträgen aufbereitet und diverse Aspekte von „Grenzen“ abseits tagespolitischer (und oft populistischer) Aufgeregtheit diskutiert. Die Beiträge weisen eine große Vielfalt auf, die weit über das auf den ersten Blick scheinbar so triviale Konzept einer Grenze hinausgingen und damit Breiten und Tiefen von „Grenze(n)“ ausloteten. Die überarbeiteten Referate des Wissenschaftstages liegen in diesem Band gesammelt vor. In den Referaten wurden folgende Themen behandelt: Die sprachgeschichtliche Analyse (Lindner) zeigt die vielfältigen begrifflichen Zusammenhänge zwischen dem scheinbar so einfachen Begriff der Grenze und zentralen Lebensbereichen sowie deren Wandel in der geschichtlichen Entwicklung. Die historische Betrachtung (Rau) führt zu der Einsicht in die jeweils gesellschaftliche Bedingtheit von Grenzen in Raum und Zeit. Neben den Wissenschaften sind Grenzen und deren Überwindung auch ein wichtiges Thema für die Künste, wobei sich interessante Parallelen und Gegensätze zwischen beiden Erkenntnis- und Erlebnisweisen zeigen (Gratzer). Grenzen sind nicht nur ein Thema der Wissenschaften, sondern die Grenzen der Wissenschaften werden

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Vorwort

von diesen ebenfalls intensiv reflektiert, wie am Beispiel der Physik gezeigt wird (Schindler). Dabei kann aus theologischer Sicht (Beck) die Begrenztheit der Wissenschaften im Vergleich mit der Metaphysik betont werden, während eine philosophische Analyse aus metaphysikkritischerer Sicht (Acham) eine umfassende Einschätzung der Begrenztheit, aber auch der Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis liefert. Dabei spielen Fragen der Wissenschafts­ ethik eine zentrale Frage: Was können, was dürfen Wissenschafter tun, wenn sie Wissenschaft betreiben, insbesondere wenn sie anwendbare Erkenntnisse anstreben? Die Möglichkeiten und Grenzen des Rechtssystems bei der Aus­ lotung der normativen Grenzen wissenschaftlicher Aktivitäten (Pöschl) werden im abschließenden Beitrag erörtert. Mit dem Wissenschaftstag und dem daraus resultierenden, hier vorliegen­ den Buch wurde nicht eine inhaltliche Erschöpfung der Themen angestrebt, sondern es sollen vielmehr Anregungen zu weiterem Nachdenken über Grenzen (und über die Begrenztheit und Variabilität von Grenzen) gegeben werden. In mehreren Beiträgen kommt zum Ausdruck, dass eine wissenschaftliche Reflexion über dieses Konzept durchaus auch praktisch-politische Konsequenzen haben kann. In diesem Sinn hoffen wir, dass die Beiträge der verschiedenen Wissenschaften zum Nach-Denken und vielleicht auch zum Um-Denken führen und damit im Sinn der abendländischen Tradition der Aufklärung ratio­nalere Einstellungen und Entscheidungen initiieren. Wir danken den Referentinnen und Referenten für ihre mündlichen und schriftlichen Beiträge und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Österreichischen Forschungsgemeinschaft für die engagierte und umsichtige Betreuung des Wissenschaftstags und des Buchprojekts. Reinhard Neck Heinrich Schmidinger Christiane Spiel

Begriffsgeschichte des europäischen Redens über Grenzen (bzw. Diskontinuitäten in Raum und Zeit)1 Thomas Lindner

1. „Grenzen der Sprache“, „Grenzen der Sprachwissenschaft“ Das Generalthema des Österreichischen Wissenschaftstags 2016, „­­Gren­zen in den Wissenschaften“, kann man in sprachwissenschaftlicher Hinsicht aus vielerlei Perspektiven aufrollen: Die Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie etwa würde Erkenntnisgrenzen, „Grenzen der Sprache“ wie auch „Grenzen der Sprachwissenschaft“ betrachten;2 die Terminologie würde über Definitionen, also ,Abgrenzungen‘, aber auch über Unschärfe, Durchlässigkeit und ­Polysemie, vielleicht sogar über manche Missgriffe der linguistischen Nomenklatur sprechen („Grenzen der Metasprache“);3 die Grammatiktheorie würde Grenzen und Grenzüberschreitungen innerhalb der sprachlichen Ebenen eines Sprachsystems behandeln; die Varietätenlinguistik und Dialektologie würden die Spracharchitektur, die Diasysteme, sowie konkrete Sprach- und Dialektgrenzen erörtern und dabei die schwierige Grenzziehung zwischen Sprache, Dialekt und Mundart thematisieren („Grenzen in der Sprache“); die diachrone Linguistik wiederum würde sich über Periodengrenzen Gedanken machen („Grenzen in der Sprachgeschichte“);4 die Soziolinguistik, Sprachpragmatik und Diskursanalyse würden sich der Sprachschichten und Register, der Beund Ausgrenzung durch konkrete Sprachverwendung, der Sprachbarrieren sowie der Problematik von Mehrsprachigkeit und multilingualer Gesell1 Abkürzungs-, Symbol- und Literaturverzeichnis (Abschnitte 6 und 7) stehen am ­Ende des Beitrags; die bibliographischen Siglen sind in das nach dem Autor-Jahr-System („Harvard style“) gestaltete Literaturverzeichnis integriert. 2 (a) „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (Wittgenstein, Tractatus 5.6 [1921: 246ff., 1922: 148ff.]); vgl. Neumer 2000. – Grundlegend Mauth­ner 1901–1902. – Vgl. auch Asmuth, Glauner, Mojsisch 1998; Referenzwerk zur Sprachphilo­ sophie: Dascal et al. 1992–1996. – (b) Zur Linguistik aus inter- und transdisziplinärer Sicht („beyond linguistics“) vgl. Broschart 2007. 3 Vgl. Vermeer 1971. 4 Vgl. Hammarström 1966 (v. a. S. 7ff., 95ff.); Rössler 2012: 153ff.

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Thomas Lindner

schaften annehmen („Grenzen durch die Sprache und deren Folgen“);5 und die his­torisch-vergleichende Sprachwissenschaft, der der Autor dieses Beitrags von seiner Ausbildung und Berufsausübung angehört, könnte sich wiederum über die Grenzen der sprachlichen Rekonstruktion und damit über die nebulose und über die enge Fachwissenschaft hinaus vieldiskutierte und vor allem popu­lärwissenschaftlich faszinierende Frage der Ursprache(n) und Glotto­ gonie verbreitern („Grenzen in der Sprachwissenschaft oder die sich zumindest die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft auferlegt / auferlegen sollte“).6

2. Grenze(n) / ,Grenze(n)‘: Etymologie und Wortgeschichte Man bemerkt die bisherige Verwendung des Konjunktivs: Das alles sind lin­ gu­­­­is­tische Fragestellungen, um die es in dem vorliegenden Beitrag nicht geht. Dessen „Grenz“-Thema entfernt sich freilich von philosophischen und erkenntnistheoretischen Intentionen und begibt sich in die materialbezogene philologische Werkstatt des Sprachhistorikers und Etymologen, vor allem in der Absicht, der Generalthematik ihr sprachliches Fundament vor Augen zu führen. Aus einer metasprachlichen Perspektive soll der objektsprachliche Bereich Grenze(n) beleuchtet und mithin das gesamte Wortfeld ,Grenze(n)‘, also Diskontinuitäten in Raum und Zeit, mit seinen zentralen und peripheren Positionen in linguistischer Hinsicht analysiert werden. Das lexikalische Korpus, das dabei ins Auge gefasst wird, kann aus naheliegenden Gründen nur eine Auswahl aus wichtigen, vorrangig lebenden europäischen Kultursprachen sein, Deutsch, Englisch, Französisch und die Romania, damit aber auch deren Basis Latein sowie Altgriechisch als Repräsentanten der Alten Sprachen. In dieser wortgeschichtlichen und etymologischen Tour d’horizon wird die Begriffsgeschichte des Generalthemas Grenzen 7 vor allem im Raum und in der deutschen Sprache nachgezeichnet und eine über- und voreinzel­ sprachliche Basis des zentralen Begriffs mit der umschreibenden Semantik ,natürliche  /materielle oder künstliche /gedachte Linie (Diskontinuität), die zwei Bereiche (konkret etwa: Grundstücke, Äcker, Besitztümer, Länder oder Staa5 Umfassend zu Soziolinguistik und verwandten Themen Ammon et al. 2004 –2005. 6 Vgl. Lindner 2016: 12, v. a. 17f. 7 Zur allgemeinen Problematik vgl. Nail 2016.

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ten) voneinander trennt; Linie(n), die ein Gebiet stiftet/stiften‘, rekonstruiert werden. Bevor medios in fines gegangen wird, ist es jedoch zweckmäßig, noch die zur Anwendung kommenden methodischen Verfahren – Wortgeschichte und Etymologie – kurz zu definieren. Unter Etymologie (gr. , lat. etymologia bzw. vēriloquium) als der sprachlichen Herkunft hatte man ja seit der Antike bis in die Frühe Neuzeit die ursprüngliche Bedeutung und da­mit gleichsam den genuinen Gehalt eines Ausdrucks verstanden, um damit in sprachphilosophischer Hinsicht von der konkreten Sprache, also den Wörtern, auf das abstrakte und wahre Sein der Dinge schließen zu können. Erst durch das Einsetzen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert kam ein zweiter Aspekt in Betracht, nämlich die lautgesetzlich fundierte ursprüngliche Form eines Wortes. Diese auf regelmäßigen sprachgeschichtlichen Entwicklungen basierende Vergleichung ermöglichte in der weiteren Folge eine methodisch gesicherte ety­mologische Forschung; aufgrund von systematischen Über­ein­stimmungen wird dabei der formale sowie in­halt­liche Ursprung rekonstruiert. Die wissenschaftliche Etymologie baut demnach auf der am Material diachron bis zu den Früh- und Erstbelegen zurückzuver­fol­genden Geschichte der betreffenden Wörter auf und kann dadurch eine möglichst lücken­lose, (a) auf den internen und externen Daten fußende und (b) durch Rekonstruktion ergänzte Rückführung auf ein Etymon, d.h. auf eine Vor- bzw. Grundform, erstellen. Dabei spielen auch die außersprachlichen Faktoren – die sogenannten Realien – eine gewichtige Rolle; man kann diesen Aspekt unter dem Schlagwort „Wörter und Sachen“ zusammenfassen. Den Weg von der internen Wortgeschichte (in der französischen Schule als histoire des mots bekannt) über den intern-externen Wort­ vergleich (die genetischen Beziehungen eines Wortes, étymologie-rapport) zum Wortursprung (Etymon, Ursprungs-, Wurzeletymologie, étymologie-origine) nennt man etymologische Her­ leitung oder „Ableitung“.8 Üblicherweise schreibt man die Ursprungsformen wie andere objekt­sprachliche Ausdrücke in der linguistischen Tradition kursiv und, wenn nicht belegt, mit Asterisk: die rekonstruierten, also methodisch erschlossenen „Sternchen“-Formen, meistens grundsprachliche, indogermanistisch begründete Wurzeln (z.B. idg. *kwelh1- ,sich drehen‘).9 Nur obiter sei angemerkt, dass dieses schöne, voraussetzungsreiche und wohl deshalb wissenschaftspolitisch leider immer mehr 8 Weiterführendes in Lindner 1995: 49ff.; 2016: 13ff., 54ff. 9 Vgl. dazu Lindner 2016: 1, 8f., 14, 56ff.

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Thomas Lindner

ins Hintertreffen geratende Fach Indogermanistik im Jahr der Tagung seinen runden und immerhin schon 200. Geburtstag feierte.10 Ein Caveat noch vorweg: Bei einem allgemeinen Lesepublikum punkten wird weniger die reichhaltige und sicherlich auch schwierige Kasuistik als vielmehr die Erkenntnis, dass der Etymologie kaum Grenzen gesetzt sind, weder sprachlicher, formaler noch inhaltlicher Art – wenn sie denn im Rahmen der aktuellen linguistischen und indogermanistischen Erkenntnisse verbleibt. Mitunter mag sich denjenigen, die nicht das eigentliche sprachhistorische Handwerk erlernt haben, der Eindruck aufdrängen, die Etymologie sei ein beliebiges Jonglieren mit Wortanklängen, bei dem die Konsonanten wenig und die Vokale nichts gelten. Ein solches vernichtendes Urteil wurde nicht zu Unrecht über die vorwissenschaftliche Praxis noch bis weit in das 19. Jahrhundert gefällt,11 doch sind sämtliche Zusammenstellungen, die in der Folge 10 Im Mai des Jahres 1816 erschien Franz Bopps Abhandlung Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache. Dieses Buch mit seinem zeittypisch umständlichen Titel gilt als „Gründungsurkunde“ der Indogermanistik und als erster Meilenstein der wissenschaft­ lichen Sprachvergleichung. Darin werden nicht nur Wörter zusammengestellt, um durch oberflächliche Lautanklänge Affinitäten aufzuzeigen, sondern grammatische Formen. Bopp analysierte die Verbalmorphologie der damals geläufigen indogermanischen Sprachen und bezog zum ersten Mal das in Europa noch nicht lange bekannte Sanskrit mit ein. Auf dieser Basis gelang ihm etwas, was man intuitiv zwar schon längst vermutet, aber noch nicht methodisch bewiesen hatte: die definitive Verwandtschaft der weitverbreiteten indogermanischen Sprachfamilie. Zum „16. Mai 1816“ und zum „ersten Indogermanologen“ vgl. Lindner 2016 passim, v. a. 49, 56. 11 Dazu Lindner 2016: 13. – Vgl. den locus classicus bei Förstemann 1852: 1ff.: „Das eigentliche Endziel der Etymologie ist meines Bedünkens darzutun, dass die Wörter nicht das willkürliche und zufällige, sondern das notwendige und vernünftige Gewand der Begriffe sind. Die Etymologie steigt deshalb mit Hilfe der Lautlehre zur ursprüng­lichen Form der Wörter auf und sucht den Zusammenhang dieser Form mit dem Begriffe nachzuweisen. […] Die neuere Sprachwissenschaft hat unsere Kräfte unendlich gestärkt, und deshalb ist es an der Zeit, dass die Geringschätzung von der Etymologie, der Wissenschaft selbst, abgewälzt und höchstens auf die Mehrzahl der früheren und auf einige der neueren Etymologen beschränkt werde. Als Hauptmittel dazu schlage ich eine ,Geschichte der Etymologie‘ vor, durch welche die auf unserem Gebiete gemachten Fortschritte am klarsten könnten dargelegt werden. Drei Richtungen etymologischer Tätigkeit […] müssten in [einem] solchen Werke unter­schieden werden, die volkstümliche, die gelehrte und die wissenschaftliche Etymologie; die erste [scil. Volksetymologie, Anm. Th. L.] ist die älteste und niedrigste, die dritte die neueste und höchste Stufe. […] Auf zwei festen Grundlagen,

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präsentiert werden, auch lautgesetzlich und wortbildungstechnisch aus indogermanistischer Sicht wohlbegründet.12

3. Das Wortfeld ‚Grenze‘ im Deutschen: Zentrum und Peripherie Am ausführlichsten soll dieses Wortfeld in der Folge naturgemäß im Deutschen behandelt werden.13 Hier kommen wir gleich am Anfang zu einer überraschenden Erkenntnis, wenn wir unseren zentralen Begriff des Wortfelds, das Archilexem Grenze (1), auf sein Etymon hin betrachten: Es handelt sich nämlich um eine Entlehnung aus dem Slawischen. Das Wort stammt aus dem Altpolnischen, kommt erst im Mittelhochdeutschen seit dem 12. und 13. Jahrhundert, zunächst im Gebiet der polnisch-deutschen Sprachgrenze und des Deutschordensstaats, in recht vielfältiger Lautgestalt auf und hält sich bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Umlautschreibung (Gränze). Es ist bezeichnend, dass sich die zahlreichen mittelhochdeutschen Formen zunächst insbesondere in einschlägigen Urkunden finden; dort taucht das Lehnwort auch in latinisierter Gestalt auf (mlat. granicia). Ab dem 14./15. Jahrhundert dringt es aus dem Obersächsischen nach und nach in den gesamten niederund hochdeutschen, zuletzt in den oberdeutschen Sprachraum vor und etabliert sich erst im 17. Jahrhundert in gesamtdeutscher Ausdehnung, indem es vor allem durch den häufigen Gebrauch bei Luther von da an bis heute uneingeschränkte akrolektale und literatursprachliche Geltung erlangte und ältere einheimische Bezeichnungen marginalisierte. So wurden etwa die Wörter der Erkenntnis der Lautgesetze und der Erforschung der Sprachenverwandtschaft in ihren verschiedenen Graden, hat sich nun endlich das Gebäude der heutigen [scil. wissenschaftlichen, Anm. Th. L.] Etymologie aufzubauen angefangen.“ (Orthographie von mir modernisiert). 12 Literatur zur indogermanischen Laut- und Formenlehre (Phonologie und Morphologie) sowie zu Wortschatz (Lexikon) und Etymologie findet sich zusammengestellt bei Lindner 2016: 12f., 14f. 13 Zum Wortfeld ,Grenze‘ in literarischem Zusammenhang vgl. auch Bianchi 1993: 17ff., v. a. 21f., und Nutt-Kofoth 2005: 1496f. – Ein Wortfeld (Sinnbezirk, e. lexical field) vernetzt sich aus Hyperonymen /Hyponymen bzw. Holonymen /Meronymen, Synonymen, Quasi-Synonymen (Plesionymen) und auch Antonymen; dazu kommen noch die semantischen Relationen der Metonymie und Metapher. Zur Wortfeldtheorie s. die Beiträge in HSK 21.1, Kap. XIX („Die Architektur des Wortschatzes III: Wortfelder“; Cruse et al. 2002: 713ff.) sowie Schippan 2002: 218ff.

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Thomas Lindner

Hag / Gehege, Mark / Gemerk, Scheide / Gescheide, Rain, Ende, Gegend, Umkreis, Ort oder Saum / Sam in den dialektal-mundartlichen, v. a. oberdeutschen, Bereich abgedrängt oder semantisch, also in ihrer Bedeutung, verändert, oder aber sie sterben völlig aus. Da sie alle eine erbwörtliche Vorgeschichte hatten und zumeist einen konkreten Inhalt aufwiesen (,Grenzzeichen‘, ,Grenzraum‘, ,umgrenzter Bereich‘), entsprachen sie nicht mehr der moderneren, linearen Grenzkonzeption (,konkrete → abstrakte Linie‘); das slawische Fremdwort hingegen war in dieser Hinsicht gewissermaßen unbelastet und neutral. In der Folge sollen ausgewählte Beispiele noch eingehend behandelt werden. Bleiben wir aber zunächst noch bei Grenze bzw. dessen Etymon, slaw. granica. Dabei handelt es sich nämlich um eine Ableitung, also um eine mit dem gängigen slawischen Zugehörigkeitssuffix ‑ica erweiterte altslaw. Basis *granĭ   mit der Bedeutung ,Ecke, Kante, Abschnitt; Markstein, Grenze‘, die in russ. gran’, čech. hrana, poln. gran mit ebenderselben Semantik fortlebt. Begibt man sich nun in den Bereich der étymologie-rapport und étymologieorigine dieser den bisher behandelten Wörtern zugrundeliegenden Basis (urslaw.*granĭ  ), so vergleicht sie sich zunächst mit der deutschen Wortsippe um bereits eher archaisches und mundartliches Granne ‚Spitze an Ähren und Gräsern‘ (hierbei handelt es sich natürlich nicht um Lehnbeziehungen, sondern um echte Wortverwandtschaft, also um genetische Beziehungen); in den älteren Sprachstufen des Deutschen und seiner germanischen Verwandten ist dieser etymologische Verband noch üppiger bezeugt: ahd. grana ‚Bart­ haar‘, mhd. gran(e) ‚Haarspitze, Ährenborste, Gräte‘, ae. granu ‚Schnurrbart‘, an. grǫn ‚Barthaar‘, auch: ‚Nadelbaum, Tanne oder Fichte‘. In letzter Instanz führt uns dessen Grundsemantik ‚Spitze‘ zu einer mit einem n-Suffix abgeleiteten indogermanischen Wurzel des Sinnbezirks ‚hervorstechen, wachsen, sprießen‘ (von Borsten, Stacheln und anderen Pflanzentrieben, aber auch von Erderhebungen und Kanten gesagt), zu der sich mit den jeweiligen Wortbildungsmitteln die Sippen um d. Grat, Gräte, Gras und grün, e. to grow ‚wachsen‘ und lat. grāmen ‚Gras‘ gesellen. Aus der sich vielfältig ver­ zweigenden botanischen und topographischen Grundsemantik hatte sich in den slawischen Sprachen letztere im geographischen Sinn vererbt und auf ‚Grenze‘ (zunächst ‚Grenzmarke‘, sodann ‚Grenzlinie‘) eingeengt und damit die moderne „Grenz“-Semantik gestiftet, die dem Lehnwort im Deutschen eine zentrale Stellung im Wortfeld zuwies. Zur Lehnwortbasis Grenze kamen schließlich vom 15. Jahrhundert an das Verbum grenzen (mit den jeweiligen Präverbbildungen, so angrenzen, begrenzen usw.), das N. ag. Grenzer (vor allem als ‚Grenzwächter‘, nur spärlich in der näherliegenden Bedeutung

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als ‚Grenznachbar‘ belegt) sowie die seit dem Frühneuhochdeutschen unzähligen Komposita mit Grenz(e) im Vorder- und Hinterglied hinzu, was zeigt, welche produktive deutsche Wortfamilie das slawische Etymon her­ vor­gebracht hat. (1) Grenze: nhd. Gränze (so bis ins frühe 19. Jh.), Grenze, mhd. fnhd. ­gra­­­niz(z)a, graniz(z)e, graeniza, greni(t)z(e), grenytz, grenycz; mlat. granicia ← apoln. ­­­gran(i)­ca ,Grenzzeichen, Grenzlinie‘ (vgl. čech. hranice, russ. graníca, rum. graniţă); urslaw. *granь f. ,Ecke, Kante, Abschnitt; Markstein; Grenze‘ (+ Suff. ‑ica, vgl. Miklosich 1875: 293ff., v. a. 295) (aksl. granĭ, russ. gran’, čech. hrana, poln. gran) [DWb IX.124ff.; Kluge, Mitzka 1963: 269; Kluge, Seebold 1989: 277, 1999: 337, v. a. 2011: 374; Pfeifer 1993: 474f.; RussEW I. 304] || nhd. Grenzer (fnhd. grän(i)zer) ,Grenzsoldat‘, selten: ,Grenznachbar‘ [DWb IX.158f.] || nhd. Granne, ahd. grana ,Barthaar‘, mhd. gran(e) ,Haar­spitze, Ährenborste, Gräte‘, ae. granu ,Schnurr­­bart‘, an. grǫn ,Barthaar, (auch:) Nadelbaum, Tanne /Fichte‘ (g. *granō f. ,Haarspitze‘) [Kluge, Mitzka 1963: 267; Kluge, Seebold 1989: 275, 1999: 334, v. a. 2011: 371; Pfeifer 1993: 469; EWAhd IV.584f.] || idg. *ghreh1,wachsen, sprießen‘ [IEW 454; LIV   2, Addenda et Corrigenda]. Wir schreiten zu weiteren, immer noch recht zentralen Positionen unseres Wortfelds. Es ist allgemein bekannt, dass d. Zaun (ahd. mhd. zûn), as. tūn ,Zaun‘ mit e. town (ae. tūn) ,Stadt‘ etymologisch zusammengeht (2). Die Grundbedeutung dieses nur im Gotischen nicht belegten gemeingermanischen Wortes, die im Deutschen bis heute erhalten blieb, ist konkret-instrumental: ,Zaun‘, also ,Mittel zur Einfriedung‘, sodann lokal: ,umzäunter Platz‘, schließlich auch abstrakt-aktional: ,Einzäunung, Abgrenzung‘. Im Bereich des Englischen macht sich schon in angelsächsischer Zeit, also bereits im Altenglischen, eine Bedeutungserweiterung bemerkbar, indem tūn ,eingehegter Platz‘ sich zu ,Garten; Wohnplatz, Wohnhaus, Hof; Ansiedlung‘ entwickelte und letztlich zum Wort für ,Dorf   ‘ und ,Stadt‘ avancierte; eine analoge Entwicklung kann man im Altnordischen beobachten, einen ähnlichen Bedeutungswandel haben auch Garten und Hag durchgemacht. Es gibt auch außergermanische Anknüpfungen im keltischen Element ‑dūnum (air. dún, akymr. dín ,Burg‘), das also ,befestigter Wohnplatz, ­Ansiedlung‘ be­deutete und im alten Festlandkeltischen in zahlreichen Topo­nymen (Ortsnamen) großteils bis heute – freilich in meist stark entstellter, durch die verschie­ denen Sprachübernahmen weiterentwickelter Form – erhalten geblieben ist, so z. B. in Lug(u)dunum  / Lyon, Virodunum  /  Verdun oder Cambodunum /  Kempten.

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Thomas Lindner

(2) Zaun: mhd. zûn, zoun, ahd. zūn, as. ae. tūn (ne. town ,Stadt‘), an. tún (g. *tūna- m. ,Zaun‘); gallolat. ‑dūnum (Lug(u)dunum, Virodunum, Cambo­dunum u. a.), air. dún, akymr. dín ,Burg‘ [weitere Herkunft unklar; Kluge, Mitzka 1963: 878; Kluge, Seebold 1989: 806, 1999: 904, v. a. 2011: 1003; Pfeifer 1993: 1593f.; AltceltSpr I.1375ff.]. Wenn bei germanisch tūn von ,eingehegter Platz‘ die Rede ist, so gehört auch die Grundlage dieser Bedeutungsangabe, nämlich Gehege, und damit wiederum dessen Basis Hag zu unserem Wortfeld (3). Hag selbst, im jüngeren Neuhochdeutschen und Gegenwartsdeutschen ein bereits archaisch anmutendes poetisches Wort für ,Buschwerk, kleiner Wald‘, hat, als ahd. hag, mhd. hac, mnd. hach, noch ein breiteres inhaltliches Spektrum: Von ,Schanze, Buschwerk‘ über ,Einhegung der Felder; Weideplatz, der an Einzelgehöfte und Wohnorte angrenzt‘ erreicht das Wort sogar die Extension ,Stadt‘ (als Bedeutungswandel analog zu e. town). Im Verlauf des Mittelhochdeutschen wie auch des Mittelniederdeutschen engt sich das Bedeutungsspektrum auf ,umfriedeter Ort, umgrenztes Waldstück‘ ein, wobei letztere Bedeutung sich insbesondere in der mit einem n-Suffix (auf -ana) abgeleiteten Bildung ahd. hagan, mhd. hagen, in spätmittelhochdeutscher Kontraktion hain ,kleiner Wald‘ durchsetzt. In Luthers Sprachgebrauch findet Hain eine gewisse Verbreitung, wird aber nicht vor dem 18. Jahrhundert, hier vor allem durch Klopstock, als poetischer Ausdruck gängig. Nicht von ungefähr nennt sich ein Freundeskreis junger Dichter, die im Umfeld und Gefolge des großen Vorklassikers anzusiedeln sind, Göttinger Hain bzw. Hainbund; Johann Heinrich Voß ist hier zu nennen. Auch Hecke, Gehege sowie das Verbum hegen und Hege gehören zu dieser Wortsippe, wobei die Kollektivbildung Gehege (vom Typus her mit Umlaut wie Gebirge zu Berg) und die Präverbationen ein- und umhegen noch die alten Grundbedeutungen ,eingrenzen‘/,Eingrenzung‘ und deren Örtlichkeit gut bewahrt haben. Gehege ist in einer mittellateinischen Form gahagium, die noch keinen Primärumlaut aufweist, in langobardischen Urkunden als mittelalterlicher Rechtsterminus aus dem 7. Jahrhundert besonders früh belegt, zu einer Zeit, da es noch keine genuine althochdeutsche Überlieferung gab. Es bezeichnete von Anfang an ein für die Jagd bestimmtes, begrenztes Revier (etwa das gahagium regis), wovon noch idiomatisierte Wendungen zeugen: jemandem ins Gehege kommen, älter ins Gehege fallen (dialektal: ins Gehai, G(h)ai/Khai). Auch das denominale Verbum hegen taucht zunächst im Althochdeutschen mit entsprechenden Präverbien auf (umbibiheggan, untarheggan) und bedeutete ganz konkret ,mit einem Hag umgeben, einzäunen‘; über diverse

Begriffsgeschichte des europäischen Redens über Grenzen (bzw. Diskontinuitäten …)

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Zwischenschritte (‚zum Schutz umzäunen‘, ,die unter freiem Himmel gelegene Gerichtsstätte abschließen‘) wird die allgemeine Semantik ,bewahren, aufziehen, pflegen‘ erreicht. Die Basis Hag und Hagen wiederum kommt auch, es sei der Vollständigkeit und Kuriosität halber erwähnt, im ersten Bestandteil der alten Komposita Hagebutte, Hagedorn, Hagestolz, Hainbuche, hanebüchen und sogar in ahd. hagazussa, dem mehrsilbigen Vorläufer von nhd. Hexe, vor. Hag und Hagen sind, wie schon angedeutet, in der Alltagssprache ver­ schwun­den und haben archaisch-poetische Konnotation. Allerdings hat sich die Basis, wie wir noch öfters sehen werden, in der Toponymie gut erhalten und begegnet vor allem in Ortsnamenkomposita auf ‑hag und -hagen (wie übrigens auch in Den Haag). Auch das altertümliche, aus dem Nibelungenlied bekannte Anthroponym Hagen als Kurzform von altdeutschen Personennamenkomposita mit Hagan- als Bestimmungsglied gehört zu jener Basis wie auch die niederdeutsch-friesischen Kurzformen Hai, Haie und Haio (Hajo, Hayo). Die Ursprungsetymologie dieser Wortsippe verbucht Verwandte einerseits im Keltischen (woher auch, und zwar über das Altfranzösisch-Normannische und Niederländische, das spätere Lehnwort d. Kai ,Flussdamm, befestigter Uferweg‘ rührt), andererseits im Lateinischen (caulae ,Schranken, Schafhürden‘); sie weist letztlich auf eine indogermanische Wurzel unsicherer Lautgestalt, deren Grundsemantik aber als ,(ein-), (um-)fassen‘ klar bestimmbar ist. (3) Hag / Gehege: ahd. hag, mhd. hac m.n., mnd. hach; (n-Abltg.:) ahd. as. hagan (PN Hagan-), mhd. hagen, fnhd. hagen, hain (g. *haga- m.; sem. Ent­wicklung: ,Schanze, Buschwerk; Einhegung‘ → ,Umzäunung der Felder; Weide­platz, der an Ein­zelgehöfte und Wohnorte angrenzt‘ → ,Dorf, Stadt‘) [DWb X.137ff., 149ff., 172ff.; Kluge, Mitzka 1963: 280; Kluge, Seebold 1989: 286, 1999: 348, v.a. 2011: 385; Pfeifer 1993: 493f.; EWAhd IV.732ff., 736f.; zu den Namen (PN- und ON-Bildungen) vgl. Förstemann 1900: 715ff.; Förstemann, Jellinghaus 1913: 1149ff.] || Koll. Gehege [DWb V.2336ff., 2338f.; Kluge, Mitzka 1963: 241; Kluge, Seebold 1989: 252, 1999: 306, v. a. 2011: 340; Pfeifer 1993: 411; EWAhd IV.271; HELSON I.60]; mlat. lang. gahagium, gagium, gajum; vgl. it. tosk. cafaggio (auch ON) [DuC.1 III.460, DuC.2 IV.11; MLLM 1 459f., MLLM 2 602; DEI I.659; Pellegrini 1990: 274] || denom. Verb: hegen (ahd. umbibi­heg­gan, untarheggan; mhd. hegen) [DWb X.777ff.; Kluge, Mitzka 1963: 296; Kluge, Seebold 1989: 299, 1999: 363, v.  a. 2011: 402; Pfeifer 1993: 521; EWAhd IV.741ff., v.a. 884f.] || verdunkeltes Komp.: Hexe (ahd. mhd. hagazussa, hagzusse u.ä.) [DWb X.1299ff.; Kluge, Mitzka 1963: 307; Kluge, Seebold 1989: 308, 1999: 373, v.a. 2011: 414f.; Pfeifer 1993:539; EWAhd IV.738] ||

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etym. Verband: kelt. *cag‑io‑, gall. *caio‑n (caio) ,Umwallung‘: air. cae, mir. cái ,Haus‘, abret. caiou Pl. ,Schutzwall‘, kymr. cae ,Zaun, Gehege‘ (→ frz. quai, wovon d. Kai [ke:] ,Uferdamm‘) [AltceltSpr I.684; DWb XI.35; Kluge, M ­ itzka 1963: 338; Kluge, Seebold 1989: 347, 1999: 417, v. a. 2011: 463; Pfeifer 1993: 608; REW 1480; FEW II.46f.; EWFS 735]; lat. caul(l)a(e) (< *kaχ‑elā) ,Schranken, Schafhürden‘ [LEW I.187f.; DELL 107; de Vaan 2008: 99f.] || idg. *kV(a/o)gh- (?*kh2eg h-, ?*keg h-) ,(ein-/um-)fas­sen‘ [IEW 518; LIV 2 342]. Wir kommen nunmehr zu einer Wortsippe, die in germanischer und altdeutscher Zeit das eigentliche Basislexem unseres Wortfeldes darstellte, aber in der sprachgeschichtlichen Folge durch das slawische Lehnwort Grenze in die Peripherie verdrängt wurde, namentlich Mark, Marke und das schon anhand von Gehege formal erklärte Kollektivum Gemerk(e) (4). Die Basis g. *markō, im Ahd. marka f. ,Grenzzeichen, Grenze, Grenzland‘, entwickelt sich im Mhd. (marke, mark) zu ,Bezirk, Gesamteigentum einer Gemeinde an Grund und Boden‘ und hat, als nhd. Mark f., in ihren zahlreichen germanischen Verwandten die jeweiligen semantischen Parallelen: got. marka, as. marka, mnd. mnl. marke, nl. mark, ae. merc/mearc, ne. mark; man beachte besonders an. mǫrk mit seiner auffälligen Semantik ,Wald‘; Wälder waren in alter Zeit häufig die natürlichen Grenzen zwischen Völkerschaften. Der Sprachvergleich erweitert diesen Befund um lat. margō ,Rand, Grenze‘, um keltische wie auch iranische Entsprechungen mit der Bedeutung ,Land(strich), Bezirk‘ und stellt mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit auch ein nur im Westgermanischen bezeugtes Bruch ,(mit Bäumen und Sträuchern bewachsenes) Sumpfland‘ hierher (etwa in Ortsnamen wie d. Bruchsal und nl. Brüssel), welches mit dem Verbum brechen etymologisch selbstverständlich nichts zu tun hat. Jedenfalls kann man daraus eine grundsprachliche Semantik ,Rand, Grenze‘ destillieren, die sich einerseits über ,Grenzland‘ (so z.B. in Steiermark) zu ,Bezirk, klar abgegrenztes Gebiet, Distrikt‘ und andererseits über ,Grenzzeichen‘ zu ,Kennzeichen, Merkmal‘ weiterentwickelt hat – jeweils durch Bedeutungserweiterung bzw. -entleerung, einen in der historischen Semantik allenthalben zu beobachtenden Vorgang. Auch Mark f. als ‚halbes Pfund Silber oder Gold‘, später: ,Geld(-münze)‘ ist hierher zu stellen und hob zunächst auf den an einem Edelmetallbarren angebrachten Prägestempel zur Kennzeichnung eines bestimmten Gewichts ab, wurde dann auf den Barren selbst übertragen und letztendlich zur Bezeichnung eines Geldstücks mit seinem entsprechenden Gewicht und Wertzeichens mit seinem Nominale.

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Zu unserer Wortsippe gehört erwartungsgemäß auch das Wort Marke f., allerdings sind hier die Zusammenhänge recht verwickelt. Es gab im Germanischen neben dem eben besprochenen Femininum *markō, wovon die Mark als ,Grenzgebiet‘ herstammt, auch ein Neutrum *marka- in der Bedeutung ,Grenzzeichen‘; dieses Neutrum lebt im Deutschen als das Mark weiter – freilich nicht gleichzusetzen mit dem inneren Gewebe eines Organs, das nur zufällig homonym ist und etymologisch mit unserer Sippe nichts zu tun hat14 –; hochsprachlich bis ins 18. Jahrhundert verfolgbar, ist Mark n. im Bairischen bis heute als das Mǫri ,Grenzmarke‘ vorhanden. Sein altnordisches Pendant merki (aus *markja- mit Umlaut, wozu auch d. Gemerk(e) ) ,Grenzzeichen, Grenzland; Zeichen‘ gelangte im Mittelalter über das Normannische ins Französische als merque /merc ‚Grenzstein‘, bald allgemein: ‚Kennzeichen‘, wovon das Verbum afrz. merquier / merchier abgeleitet wurde. Im 15. Jahrhundert jedoch ersetzte spätmittel- und nfrz. marquer, nunmehr entlehnt aus dem it. Verbum marcare ‚kennzeichnen‘, das ursprüngliche afrz. Verb mit -e- und brachte ein postverbales Substantiv la marque ,Spur, Kennzeichen‘ hervor, welches wiederum afrz. merque/merc verdrängte. Im 17. Jahrhundert wurde dann daraus im Deutschen Marke rückentlehnt und in der im Französischen erweiterten Semantik ‚Kennzeichen, Zeichen‘ (auch: ,Handelszeichen, Ware, Sorte‘, dann auch ‚Briefmarke‘) verwendet; diese Rückentlehnung die ­Marke verdrängte nun ihrerseits sukzessive das genuine alte Analogon das Mark. Zu unserer Sippe gehören zudem die alten Kollektiva Gemerk(e) und Gemarkung, sodann die deutschen Verben ahd. markôn, fnhd. marken, das nicht fortgesetzt wurde, und ahd. merkan, nhd. merken mit seiner etymologischen Bedeutung ,mit einer Marke versehen‘ und einer recht weitreichenden semantischen Entwicklung (die konkrete Bedeutung ,kennzeichnen‘ wird über ,das Gekennzeichnete bemerken, sinnlich wahrnehmen‘ schließlich zu ,abstrakt wahrnehmen, mit dem Verstand auffassen und im Gedächtnis behalten‘ sublimiert), weiters z.B. die Grund- bzw. Bestimmungswörter der Zusammensetzungen Landmark, Grenzmark, Markgraf, Markstein, Markkreuz und Markscheide / Markscheider ,Grenze eines Grubenfelds‘/,Vermesser‘. Wie zuvor schon ausgeführt, dringt die reichhaltige germanische Wortfamilie im Mittelalter auch in die romanischen Sprachen vor: Sowohl die Mark in der alten Semantik ,Grenzdistrikt, Grenze‘ und als Münzbezeichnung als 14 Während Mark f. (,Grenzland‘ und ,Geld‘) ein Lehrbuchbeispiel für – sich aus einer zugrundeliegenden, etymologischen Bedeutung herleitenden (in unserem Fall: ,Kennzeichen‘) – Polysemie darstellt, ist Mark n. (,Grenzzeichen‘ :: ,inneres Gewebe‘) ein klarer Fall von – zufälliger, etymologisch disparater – Homonymie.

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auch das Mark in der schon früh entleerten Semantik ,Kennzeichen‘ werden entlehnt (und teilweise wieder rückentlehnt): Aus afrk. *marka kommen zum einen afrz. marche, nfrz. marche, it. marca ,Grenze, Grenzland‘ (vgl. le Marche, bis heute das Choronym einer italienischen Region), zum anderen mlat. galloromanisch marca f.Sg. → n.Pl. (ab dem 9. Jh.) als Goldgewicht; aus diesem Kollektivum wurde ein neuer Singular *marcum rückgebildet, wovon afrz. marc, die erörterte Gewichts- und Währungsbezeichnung. An. merki stiftet hingegen afrz. merque / merc ,Kennzeichen‘ und sein denominales Verbum mercher /merquier, das durch jüngeres marquer substituiert wird und seinerseits ein retrogrades la marque zeitigt; beide werden im 17. und 18. Jahrhundert rück­entlehnt, als Substantiv d. Marke und als Verb d. markieren mit seinem partizipialen Adjektiv markant. Hierher hat man auch marschieren und Marsch aus frz. marcher als ,zu einem Ziel, bis zu einer Grenze gehen‘, ,die Grenze abschreiten‘ oder ,Spuren hinterlassen‘ gestellt, wofür es allerdings auch eine alternative und wohl doch plausiblere Deutung gibt.15 Auch an dieser Stelle sei noch der Kuriosität halber erwähnt, dass eine besonders komplexe und reizvolle Wortgeschichte das Lehnwort Markise ,Sonnendach, -segel‘ aufweist, welches letztlich mit Markgräfin identisch ist. (4) Mark: (a) g. *markō f. ,Grenze, Grenz­zeichen, Grenzland‘: got. ahd. as. marka, mhd. mnd. mnl. marke, nl. mark, ae. merc/mearc, ne. mark, an. mǫrk (,Wald‘); davon auch ,Edelmetallgewicht, Geld‘; (b) g. *marka- n. ,Grenzzeichen; Zei­chen, Merkmal‘: ahd. mhd. marc n. ,das Mark‘, bair. das Mǫri; *markja- n. (an. merki ,Zeichen‘); vgl. run. alja-markiR ,Ausländer‘ [DWb XII.1633ff., 1636f., V.3276ff.; Kluge, Mitzka 1963: 461f.; Kluge, Seebold 1989: 462, 1999: 540f., v.a. 2011: 602; Pfeifer 1993: 839f.] || Verben: ahd. markōn, fnhd. marken (e. to mark); ahd. merkan, nhd. merken (Semantik: ,mit einer Marke versehen‘, ,kenn­zeichnen‘ → ,das Gekennzeichnete bemerken, wahrnehmen‘ → ,mit dem Verstand auffassen, im Gedächtnis behalten‘ [DWb XII.1637, 2093ff.; Kluge, Mitzka 1963: 474; Kluge, Seebold 1989: 474, 1999: 554, v.a. 2011: 616; Pfeifer 1993: 863] || Entlehnungen: afrk. *marka f. → afrz. nfrz. marche, it. marca ‘Grenze, Grenzland’ (le Marche); mlat. gallorom. marca (f.Sg. → n.Pl.) → (rückgebildet:) marcum n.Sg. → afrz. nfrz. marc ,Gold­ gewicht, Geld‘; an. merki n. → afrz. merque/merc ,Merkmal‘, davon merchier/ merquier; it. marcare (marco /-a) → nfrz. marquer, (davon retrograd:) marque 15 Zu gallorom. *marcare ,hämmern‘, in der Soldatensprache: ,den Takt markieren‘, ,sich rhythmisch fortbewegen‘; s. LRW 632 (Nr. 5941ff.), EWFS 598.

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f. → (rückentlehnt:) d. Marke f., markieren/markant [DuC.1 IV.271ff., 278ff., DuC.2 V.259ff., 265ff.; MLLM1 651ff., MLLM2 850ff.; REW 5364f.; FEW XVI.522ff., 524ff., 550ff.; EWFS 598, 603; DEI III.2360ff., DELI III.718ff.]; sorb. mroka; finn. -markku in ON || etym. Verband: lat. margō ,Rand‘ (vgl. d. Bruch m.n., e. brook usw.; ON Bruchsal, Brüssel; arm. npers. marz, jav. marəza) [IEW 738; LEW II.39f.; DELL 387, 822; de Vaan 2008: 365; DWb II.410; Kluge, Mitzka 1963: 103; Kluge, Seebold 1989: 108, 1999: 138, v.a. 2011: 154; Pfeifer 1993: 174; EWAhd II.394ff.; Huyse 2002: 210]. Ein weiteres altes Wort, das durch Grenze ins Abseits gedrängt und anderweitig spezialisiert wurde, ist Scheide (5). Wahrscheinlich als Verbalabstraktum zu erklären, und zwar zum Verbum scheiden ,trennen‘ (wozu auch Scheit, Scheitel und Schädel gehören), hatte schon ahd. skeida ein vielfältiges Bedeutungsspektrum, das sich aus der präsumtiven Grundsemantik ,Scheidung‘ herleiten lässt: ,Trennung; Trennlinie, Grenze, Abschied, Tod; Unterscheidung‘. Die ebenfalls schon in frühester Beleglage konkrete Bedeutung ,Schwert- bzw. Messerhülle‘ stellte auf die beiden Holzplatten zum Schutz der Klinge im Sinne von ,Absonderung, Verhüllung, Hülle‘ ab; in dieser Hinsicht begegnet das Wort im Altnordischen bezeichnenderweise im Plural (skeiðar) und legt den bereits vollzogenen Übergang zum Konkretum nahe. Die alte Bedeutung ,Grenze‘ zeigt sich noch in einer abgekommenen Kollektivbildung mhd. gescheide, die aber in der Onomastik (als Flurname Geschaid, ma. gschǫad, und davon abgeleiteter Familienname Gschaider) noch vorhanden ist; sie zeigt sich in Komposita wie dem orographischen Terminus Wasserscheide, aber auch den tautologischen Grenzscheide und Markscheide (s.o.), des weiteren sind z.B. Wegscheide, Haarscheide und Völkerscheide und zahlreiche einschlägige Ortsnamen (auf ‑scheid(t)) seit dem Frühneuhochdeutschen geprägt worden. Die Erstglieder der Komposita Scheidemünze 16 und Scheidekunst 17 sind allerdings direkt auf das Verbum scheiden ,trennen‘ zu beziehen. Die Verwendung schließlich des Wortes Scheide für das weibliche Geschlechtsorgan kommt erst im 16./17. Jahrhundert auf.18 Es ist 16 Die Bezeichnung rührt vom Scheiden von Käufer und Verkäufer auf Heller und Pfennig beim Kaufvorgang her; ,geringfügiges Wechselgeld, mit dem feinere Unterschiede gemacht werden können‘ (vgl. Kluge, Mitzka 1963: 641; Kluge, Seebold 2011: 798). 17 Der alte eingedeutschte Ausdruck für ,Chemie‘ bzw. ,Alchimie‘. 18 Es handelt sich dabei um eine Lehnübersetzung von lat. vāgīna, das, in ähnlicher Weise zunächst ein Wort für ,Hülle‘, ,Schwertscheide‘ und ,Ährenhülse‘, erst in übertragener Hinsicht die ,weibliche Scham‘ bezeichnete (vgl. LEW II.725f., DELL 711, de Vaan 2008: 650). Erwähnenswert dürfte an dieser Stelle der etymologische Zusammenhang von Vagin­a und

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meines Erachtens zudem nicht völlig ausgeschlossen, dass, wenn wirklich, wie die altnordische Pluralform offenbar nahelegt, die konkrete Bedeutung ,Hülle‘ am Anfang steht, Scheide doch eher mit Schote und sohin mit einer Wurzel für ,verhüllen‘ etymologisch zusammenzubringen ist und sich der Bezug zum Verbum scheiden erst sekundär, also in paretymologischer Hinsicht, ergeben hat. (5) Scheide: ahd. skeida f., mhd. scheide f. ,Schwert-/Messerhülle‘; ,Trennlinie, Grenze, Abschied, Tod; Unterscheidung‘; (16.  Jh.) ‚Vagina‘; an. skeiðar Pl. ,Schwertscheide‘ (g. *skaiþ(j)ō f.) [DWb XIV.2396ff.; Kluge, Mitzka 1963: 640f.; Kluge, Seebold 1989: 627f., 1999: 715, v.a. 2011: 798f.; Pfeifer 1993: 1188f.] || mhd. gescheide n. ,Grenze‘ (Koll.), dial. gschǫad (ON Gschaid, PN Gschaider) [DWb V.3849f.; EWAhd IV.396; HELSON I.44f.]. Wir setzen fort mit dem Archaismus Rain (6). Im Althochdeutschen nur als Kompositionsvorderglied rein-, im Mittelhochdeutschen dann auch als Simplex rein belegt, bedeutete das Wort zunächst ,Grenze, Grenzstreifen‘ und bezog sich auf unbebaute Grasstreifen oder Bodenerhebungen als Ackergrenzen. Es begegnet auch im Niederdeutschen, Niederländischen und Nordgermanischen und gehört zu einer Wurzel mit der Bedeutung ‚schneiden, trennen‘, die sich in der Indogermania gut nachweisen lässt und zu der auch d. reif, Reihe und Riege und lat. rīma ,Ritze, Furche‘ zu stellen sind. Während die Basis selbst schon einen archaischen und poetischen Anstrich hat, ist es in der Ableitung Anrainer ,Nachbar, Anwohner‘ und im Familiennamen Rainer als Wohnstättenname vor allem im Süddeutschen noch lebendig. Im Spätmittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen gab es eben auch ein denominales Verbum rainen (mundartlich rǫanen) mit diversen Präverbien (anrainen, berainen) für ,angrenzen, benachbart sein‘. Die Feld- und Flurbereinigung würden heute wohl die meisten auf bereinigen beziehen, jedoch gehört das Grundwort zu berainen ,abgrenzen‘ und meint die ,Festsetzung der Ackergrenzen und Parzellierung der Fluren‘; wenn man in der aktuellen Orthographie schon das etymologische Prinzip hochhält, müsste man eigentlich Flurberain(ig)ung mit ‹ai› schreiben. Im Schweizerischen etwa ist noch Berain vorhanden und meint ein ,Verzeichnis der Grundstücke mit Grenzbeschreibung‘. Vanille sein, indem nämlich ein vlat.-rom. Deminutiv *vaginella ,kleine S­ chote‘ (immerhin schon als mlat. vaginella ,Bohne‘ belegt) in seiner span. Kontinuante vainilla über frz. vanille als Bezeichnung für die als Gewürz verwendete getrocknete Schote der tropischen Orchidee Ende des 17. Jahrhunderts ins Deutsche entlehnt wurde (Pfeifer 1993: 1495).

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(6) Rain: ahd. rein-, mhd. rein m.; an. rein(a) f.; rainen, Anrainer; PN Rainer (~ air. ráen, róen ,Weg, Durch­bruch‘, lat. rīma ,Ritze, Spalt‘) [DWb XIV.72f.; Kluge, Mitzka 1963: 579; Kluge, Seebold 1989: 579, 1999: 665, v.a. 2011: 743; Pfeifer 1993: 1077; LEW II.435f.; DELL 574; skeptisch de Vaan 2008: 523f.]. Wir kommen zur weiteren Peripherie unseres Wortfelds. Wörter wie Ende, Schluss, Eck(e), Rand, Kante, Seite, Winkel, Bord, Ziel, Saum, Trumm, Gegend, Umkreis, Anwand 19 und Gewann19 weisen in älterer Zeit und teilweise bis heute jeweils noch eine raumrelationale, örtliche Grenzsemantik auf, gewissermaßen wo die eine Lokalität aufhört und eine andere beginnt. Allerdings haben sie sich zumeist bedeutungsmäßig verändert und sind von der lokalen in die temporale oder metaphorische Schiene gedriftet: So ist etwa Schluss im topographischen Sinn nur mehr in Talschluss gebräuchlich; und Trumm, in der Hochsprache heute nur mehr im Plural Trümmer mit einem ganz anderen Sinn üblich, bezeichnet in der Toponymie die beiden Enden eines Sees (so in Obertrum und Niedertrum)20; alle diese Lexeme gehören daher im Gegenwartsdeutschen in die Peripherie unseres Wortfeldes. Zwei weitere Beispiele greife ich aus diesem Ensemble heraus, Eck(e) und Saum. Bei Eck denkt man heute doch eher an die Ecke eines Zimmers oder Tisches als an eine landschaftliche Grenze im Sinne eines Jochs oder Übergangs, meist als Ausläufer eines Berges oder Hügels;21 in Ortsnamen ist diese ältere Semantik aber noch gut ersichtlich, z.B. in Thalgauegg, einem bergigen Übergang, wo das Salzburgische Thalgau an die Gemeinden Hof und Fuschl grenzt. Saum wiederum bedeutete im Mittelhochdeutschen neben dem heute noch üblichen ,Naht, Stoffrand, unterer Rand des Gewandes‘ auch ,Landschaftsgrenze‘, es begegnet in unserer Toponymie in der mundartlichen Form Sam recht häufig als Flur- und Ortsname.22

19 Ahd. anawanta, anawentī f. ,das Wenden des Pfluges‘, mhd. an(e)wande, an(e)want, nhd. Anwand f., Anwende f., zudem Angewende n. ,Pflugwende; Stelle, wo der Pflug gewendet wird; Grenzacker, Grenze‘, ahd. giwant(a) f., mhd. gewande, nhd. Gewann(e) f., Gewende n. ,Ackergrenze; Feldmaß; Teil der Gemarkung‘ (vgl. DWb I. 513f., VI. 5319ff.; Kluge, Mitzka 1963: 255; Kluge, Seebold 1989: 30, 265, 1999: 39, 322, v.  a. 2011: 45, 356f.; EWAhd I. 238, IV. 438f.). 20 Ahd. mhd. drum ,End-, Teilstück‘ (nhd. Trümmer; ON Obertrum, Niedertrum; vgl. EWAhd II. 818ff.; HELSON I.92). 21 Vgl. EWAhd II. 955ff.; HELSON I. 20f. 22 Ahd. mhd. soum; ON Sam, vgl. Kluge, Seebold 2011: 789; HELSON I. 110.

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Wie ja überhaupt die sog. „natürlichen“ Grenzen, also durch landschaftliche Barrieren wie etwa Berge /Gebirge, Gewässer (v. a. Meere oder Flüsse) und Wälder gestiftete Diskontinuitäten23 in alter Zeit sowohl Orientierungshilfen als auch ausgeprägte Völker- und Sprachscheiden waren, sodass natürlich auch die einschlägige Begrifflichkeit in periphere Sektoren unseres Wortfeldes gehört, im hydrographischen Bereich z.B. Küste, Ufer, Gestade und Strand (dieses ist übrigens etymologisch verwandt mit Rand   24), im orographischen Bereich z.B. Joch, Kamm, Flanke oder Spitz(e). Weiters sind in der Wortfeldperipherie anzusiedeln z.B. archaische landwirtschaftliche Ausdrücke wie Hufe (Hube) ,Landmaß‘25 und Beunde (Point)26 oder auch etwa mundartliches Zagel ,Schwanz, Ende; hinterster Teil‘27. Eine periphere Zugehörigkeit zu unserem Wortfeld haben des Weiteren alle nur denkbaren Bruchlinien und Hindernisse wie auch künstliche, vom Menschen gezogene und geschaffene Grenzen, die etwa durch die Sinnbezirke ,(ein-/um-)fassen‘, ,schließen‘, ,sperren‘, ,(ver-)hüllen‘ u. Ä. und durch Wörter wie Wand, Mauer, Wall, Wehr, Sperre, Schott, Rahmen, Hülle, Schwelle, Käfig, Garten, Park, Schranke, Hürde, Barriere, Barrikade u.v. a. zum Ausdruck kommen. Bislang haben wir bei den meisten Fallbeispielen eine lokal-instrumentale Primärbedeutung ,örtlicher Rand, Grenze; eingegrenzter Bereich; Zaun‘ konstatiert und davon abgeleitete Diskontinuitäten kennengelernt, etwa temporaler oder metaphorischer Art; diese semantische Drift ist der unmarkierte Fall, scheint ein sprachliches Universale zu sein und sich aus kognitiven Erfahrungstatsachen herzuleiten; z.B. ist lat. fīnis und entsprechend d. Ende zunächst das ,räumliche Ende‘, dann erst das ,zeitliche Ende‘ und zuletzt das ,übertragene Ende‘, etwa im Sinne von ,Ziel, Zweck‘ (man denke etwa an Schillers Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte). Eine umgekehrte, markierte Entwicklung stellen wir hingegen bei Friede(n) fest (7). Von An23 Diskontinuitäten scil. im Raum, um die es hier vorrangig geht. 24 Vgl. Kluge, Seebold 1989: 706, 1999: 800, v. a. 2011: 889. 25 Ahd. huob(a), huobi, mhd. huobe; mlat. hoba (huba) u. a.; vgl. MLLM 1 490, MLLM  2 640f.; Kluge, Mitzka 1963: 318; Kluge, Seebold 1989: 319, 1999: 386, v.  a. 2011: 428; Pfeifer 1993: 560; EWAhd IV.1248ff.; zum frequenten Vorkommen in ON (Hub, -hub; davon PN Huber, Hueber, Hübner usw.) vgl. HELSON I.30, 57. 26 ,(Umzäuntes) Stück Land, Weideplatz‘, vgl. Kluge, Mitzka 1963: 71; Kluge, Seebold 1989: 81, 1999: 105, v.  a. 2011: 117; EWAhd I.451ff., v. a. II. 135ff.; häufig in Flur- und Hofnamen, s. HELSON I.XI, XVI, 4, 7, 22, 54, 61, 83, 98, 148. 27 Vgl. Kluge, Mitzka 1963: 874; Kluge, Seebold 1989: 804, 1999: 902, v. a. 2011: 1001; Pfeifer 1993: 1588; nicht selten in der Mikrotoponymie, vgl. HELSON I. 130.

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fang an in der uns bis heute geläufigen Verwendung belegt und als lat. ,pax‘ oder ,otium‘ zu glossieren, entwickelt sich aus dieser recht abstrakten Grundsemantik (,Zustand heiler Rechtsordnung, Waffenruhe; Ruhe, Schirm, Schutz‘) auch ein konkret-örtliches ,Park‘, ,Zaun‘, woraus sich die Verben einfried(ig)en, umfried(ig)en in ihrer ausschließlich lokalen Bedeutung ,umzäunen‘ ­erklären. Hauptsächlich im Süddeutschen (Bairisch-Österreichischen) ist der ­Fri(e)d im Sinne von ,Zaun, Garten‘ gut nachweisbar. Zudem oszillieren auch die alten Komposita Burgfried und paretymologisches Bergfried (auch Belfried), in umgekehrter Reihenfolge in Ortsnamen (Friedburg, Friedberg), zwischen abstrakter und konkreter Interpretation. In Hinblick auf die zuvor postulierte universale Bedeutungsentwicklung wird im Deutschen Wörterbuch von Grimm wohl nicht zu Unrecht die Frage aufgeworfen, ob letztendlich nicht doch die abstrakte „vorstellung friede aus der sinnlichen des zauns und geheges abgezogen wurde“ (DWb IV.187); allerdings sprechen Etymologie, Beleglage und Wortgeschichte dagegen, die Bedeutungsentwicklung läuft über die Zwischenstufe des Schutzes (,schützen‘ → ,umzäunen‘). Auch Freithof (ahd. frīthof, mhd. vrîthof m.) als der ,umfriedete Platz‘ gehört etymologisch hierher. Dieser wurde aber in semantischer Hinsicht auf Friede ,pax‘ bezogen und damit zum Friedhof ,Hof/Ort des Friedens‘ umgestaltet. Wir haben hier ein Beispiel einer partiellen, nämlich nur semantischen Volksetymologie, denn auf einer höheren Ebene gehen Friede und Freit- etymologisch sehr wohl zusammen. Für die historische Linguistik gilt es nun, sprachliche Fakten und Befunde wertneutral zu beschreiben und zu erklären; wenn jemand aus dem eben Besprochenen ableiten wollte, ohne Grenzen gäbe es keinen Frieden, so ist dies jedenfalls keine legitime sprachwissenschaftliche Schlussfolgerung. (7) Friede(n): ahd. fridu, mhd. vride, as. friðu (g. *friþu- m.) ,pāx, Zustand heiler­ Rechtsordnung, Waffen­ruhe; Ruhe, ōtium; Schirm, Schutz‘; auch: ,Umzäu­nung, Zaun; Garten, Park‘ (v. a. bair. der Fri(e)d), vgl. einfried(ig)en, ­­umfrie­d(ig)en [DWb IV.181ff.; Kluge, Mitzka 1963: 158, 218f.; Kluge, Seebold 1989: 232, 1999: 286, v. a. 2011: 235, 318; Pfeifer 1993: 375f.; EWAhd III. 559ff.]; Burgfried, ON Friedberg, Friedburg [DONB 186f.]; Bergfried (frz. beffroi, afrz. berfroi, mlat. berfredus, belfredus u.a., wohl vetym. Adaption von gr. byz. (*)πύργος φορητός) [DuC.1 I.639f., DuC.2 I.619f.; MLLM 1 97, MLLM 2 128; REW 1041; FEW XV/1. 94f.; LEI Germ. I. 720ff.; EWFS 98; Kluge, Mitzka 1963: 66f.; Kluge, Seebold 1989: 76, 1999: 99, v. a. 2011: 111; EWAhd I. 556ff.] || Freithof/Friedhof: ahd. frīthof, mhd. vrīthof, as. frīdhof, (f )nhd. Freithof,

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(vetym.) Friedhof m. [DWb IV.123; Kluge, Mitzka 1963: 219; Kluge, Seebold 1989: 232, 1999: 286, v.  a. 2011: 318; Pfeifer 1993: 376; EWAhd III. 578ff.]. Je weiter man in die Peripherie eines Wortfelds vordringt, desto umfangreicher, verzweigter und spezialisierter wird es, desto ufer- und grenzenloser könnte man sich darüber verbreitern. Ich schließe daher das Kapitel der deutschen Grenzbezeichnungen, nicht ohne jedoch noch ein Highlight jeder Einführung in den Bedeutungswandel zu präsentieren. Es ist ein Allerweltswort, das heutzutage eine völlig erweiterte, entleerte lokale Semantik ,Stelle, Platz, Gegend‘ aufweist, zunächst allerdings sehr spezialisiert die ,Spitze‘, den ,Endpunkt‘, die ,äußerste Grenze‘ bezeichnete, nämlich Ort (8). Wenn etwa Hildebrand und Hadubrand ort widar orte kämpften, so bedeutete dies ,Schwertspitze gegen Schwertspitze‘; wenn sich die Bergleute vor Ort befanden, so waren sie zunächst an der Spitze des Stollenvortriebs bzw. am Ende des Grubengangs; wenn heute Journalisten vor Ort sind, dann meint das natürlich nur mehr den jeweiligen Ort eines aktuellen Geschehens. Und wiederum in der Toponymie hat sich auch Ort in seiner alten Semantik gut erhalten. Vielleicht hat sich die geneigte Leserschaft schon einmal über die nicht wenigen Orte gewundert, die sich scheinbar wahllos in der Landschaft befinden und einfach den Namen Ort tragen. So gibt es z.B. am Mondsee einen Weilernamen Ort; es handelt sich dabei aber nicht um einen beliebigen Ort, denn wenn man genauer hinsieht und die Realprobe macht, so bemerkt man, dass dieser Ort genau am gegenüberliegenden Ende von Mondsee, der großen Ansiedlung am einen Ende des Mondsees liegt, und damit Ort aus der Sicht der Primärsiedlung Mondsee das andere Ende, also die äußerste Grenze des Mondsees bezeichnet. (8) Ort: ahd. ort widar orte ,(Waffen-)Spitze gegen Spitze‘ (Hildebrandsl. 38); ON Ort ,äußerstes Ende‘; ahd. mhd. ort, ae. ord, as. ord, ort, an. oddr < g. *uzda- ,Spitze‘ [DWb XIII. 1350ff.; Kluge, Mitzka 1963: 524f.; Kluge, Seebold 1989: 520, 1999: 604, v.a. 2011: 674; Pfeifer 1993: 957].

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4. Das Wortfeld ,Grenze‘ im europäisch-indogermanischen Kontext Mit besonders komplizierten Verhältnissen sind wir bei d. Bord ,Wandbrett‘ bzw. ,Schiffsrand‘ konfrontiert, mit dem wir zugleich zum Englischen hinüberwechseln (9); denn damit vergleicht sich etymologisch immerhin eines der „Grenz“-Archilexeme des Englischen, border. Dessen germanische Sippe wurde früh auch ins Romanische entlehnt und reüssierte insbesondere im Französischen. Die Forschung ist sich bis heute nicht einig, ob die eine Bedeutung ,Wandbrett‘ (mit welchem Ausdruck Brett durch Ablaut Bord auch stammverwandt ist) mit der anderen Bedeutung ,Schiffsrand‘ verbunden werden kann oder ob es sich um etymologisch voneinander zu trennende Homonyme handelt. Die Bedeutung ,Rand‘ jedenfalls manifestiert sich zudem in archaischem und bis heute schweizerischem Bord n. ,Uferböschung‘, in Bordstein, in d. Borte sowie im französischen Lehnwort Bordüre (wie übrigens die Bedeutung ,Brett‘ wiederum im französisch-italienischen Lehnwort Bordell in Erscheinung tritt, ursprünglich ein ,Bretterverschlag‘ und als Deminutiv wohl mit euphemistischer Motivation). E. border schließlich wurde in mittelenglischer Zeit aus anglonormannisch-altfranzösisch bordure ,Einfassung, Grenze‘ übernommen. (9) Bord: g. *burda-, got. -baúrd (in fotu-baúrd ,Fußbank‘), an. borð, ae. bord, ne. board, as. bord, (nieder-)d. Bord: (a) ,Wandbrett‘ (::) (b) ,(Schiffs-)Rand‘ [DWb II.238f.; Kluge, Mitzka 1963: 92; Kluge, Seebold 1989: 98, 1999: 126, v. a. 2011: 141f.; Pfeifer 1993: 159f.; EWAhd II. 249ff.]; e. border ← (a)frz. bordure, älter: bordeüre, mlat. bordatura [DuC.1 I.728ff., DuC.2 I.704ff.; MLLM1 101, MLLM 2 135; REW 1215f.; FEW XV/1.180ff., 187ff.; EWFS 127; Onions­1966:108]. Das andere Archilexem für ,Grenze‘ im Englischen, bound, wovon boundary (10), kommt ebenfalls aus dem Altfranzösischen ins Mittelenglische. Auch hier sind die etymologischen Verhältnisse nicht wirklich evident; die Formenvielfalt, die das Lexem im Altfranzösischen und Mittellateinischen aufweist – davon übrig bleibt nfrz. borne –, deutet am ehesten auf ein keltisches Etymon hin. Ferner sind damit auch die Fremdwörter d. borniert und abonnieren verwandt. (10) E. bound, boundary ← afrz. bonde, bon(n)e, bodne, botne, bozne, borne, mlat. bodina, butina, boina, bonda, bunda, bonna, bodula u.a., nfrz. borne ( ,wird (lautgesetzlich) zu‘ (lautliche Entwicklung); < ,ist (lautgesetzlich) entstanden aus‘; → ,wird bedeutungsmäßig zu‘ (semantische Entwicklung), ,wird entlehnt‘; ← ,entstand bedeutungsmäßig aus‘, ,kommt aus‘; *Lemma: rekonstruierte (d.h. methodisch erschlossene) Form, ? *Lemma: unsichere Rekonstruktion; √ ,(Wort-)Wurzel‘; :: ,in Opposition zu‘.30

30 Im Übrigen s. Lindner 2016: 1f.

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Räume und Grenzen – Dynamiken und Relationen Historische und systematische Betrachtungen

Susanne Rau

Abb. 1: Deutschland, Niederlande, Belgien und Schweiz: National-, Sprach-, Dialect-Verschiedenheit (1848), aus: Heinrich Berghaus, Physikalischer Atlas, Bd. 2, Gotha 1845–  48 (Forschungsbibliothek Gotha SPB 2° 1010.00088)

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Von der Sprachgeographie lässt sich unter anderem lernen, dass sogenannte Sprach- oder Dialektgrenzen in der Regel unsichtbare Grenzen sind, ähnlich wie die sogenannten Kulturgrenzen. Dennoch gab es ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts Bestrebungen seitens der Kartographen, auch Sprachräume zu kartieren. Dazu wurden Sprachgrenzen als Linien in eine Kupferplatte geritzt und die betreffenden Gebiete (nachträglich) farblich markiert.1 (Abb. 1) Dies lässt sich verstehen als ein Vorgang der Repräsentation, wenn nicht Materialisierung von (in der Natur nicht sichtbaren) Grenzen. Auf die Kartierung politischer Grenzen werde ich hier noch zu sprechen kommen. Das Thema dieses Beitrags sind Formen, Funktionen sowie die Geschichte der Grenzen, mit welcher auf ihr – zivilisationsgeschichtlich betrachtet – relativ junges Alter sowie ihre Veränderlichkeit hingewiesen werden soll. Diese sowohl systematischen als auch historischen Betrachtungen sollen nicht zuletzt dazu dienen, die gegenwärtige Situation zu bespiegeln, das heißt zu analysieren und besser zu verstehen.

1 Hans Goebl, Der Kartograph und Geograph Heinrich Berghaus (1797–1884). Ein früher Zeuge für die „Unità Ladina“, in: Ladinia XIII (1989), 165–183, Karte 1, 170 bzw. hier: Abb. 1.

Räume und Grenzen – Dynamiken und Relationen

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Zur Aktualität des Themas Grenzen sollten historisch und systematisch betrachtet werden. Dies erscheint nicht zuletzt deshalb notwendig, weil der Begriff der Grenze nicht nur die Bedeutung einer territorialen und sozialräumlichen Markierung trägt, sondern weil es auch einen metaphorischen Gebrauch gibt. Jürgen Osterhammel schrieb bereits 1995, dass es sich bei dem Grenz-Begriff um eines der schillerndsten Metaphern-Konzepte der Sozial- und Kulturwissenschaften handle.2 Dies macht die Sache schwierig, weil die Ebenen oft vermischt werden. Andererseits gibt es auch Übergänge zwischen realen (materialisierten) und metaphorischen (unsichtbaren oder imaginierten) Grenzen. Diese sind auch in einem Kernsatz der Simmelschen Theorie der Grenze enthalten: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“3 Das Verhältnis zwischen Sozialem und Räumlichem ist nach Simmel also nicht einfach relational, sondern, wenn man diesen Satz ernst nimmt, als Nacheinander zu sehen. Zuerst formiert sich eine Gruppe – ggf. auch eine große Gruppe wie ein Staat –, dann verräumlicht sich diese Gruppe oder auch ein sozialer Prozess. Es mag im realen Leben immer Gegenbeispiele geben, wichtig ist hier eher die dahinter stehende theoretische Aussage, welche besagt, dass eine Grenze nicht als räumliche Tatsache quasi natürlich vorgegeben ist, sondern selbst etwas gesellschaftlich Geschaffenes ist. Angesichts des Themas ist es auch für eine an sich den vormodernen Zeiten huldigenden Historikerin unmöglich, nicht auf die politische Realität einzugehen. Eine Weile dachten wir, es gebe keine Grenzen mehr, wie wir sie noch über lange Strecken des 20. Jahrhunderts erlebt hatten. Die aktuelle Flüchtlingskrise hat uns nicht nur gezeigt, wie durchlässig staatliche Grenzen sind, sondern auch, dass Mauern und Zäune ganz schnell wieder hochgezogen werden können. Selbst die EU-Staaten haben die Binnengrenzkontrollen mit der Begründung wieder verschärft, dass die europäischen Außengrenzen angesichts des Zustroms von Geflüchteten und Migranten nicht funktionierten. Insofern ist die Geschichte der Grenze mit dem Fall der Mauer und dem Schengen-Abkommen, das im Kern den Abbau von Personenkontrollen vorsah, längst nicht 2 Jürgen Osterhammel, Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, in: Saeculum 46 (1995), 101–138, hier 108. 3 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], in: Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11, Frankfurt/Main 1992, 697.

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passé.4 Noch bis zum Frühjahr 2015 war der EU-Diskurs über Grenzen von deren Verschwinden und positiven Erfahrungen damit verbunden. Die Entwicklungen seitdem – insbesondere der nicht immer und nicht von allen für gut befundene Umgang mit der Öffnung der Grenzen – haben auch den Diskurs und die Einstellung gegenüber Grenzen verändert. In Deutschland gibt es schon seit einer Weile eine nicht kleine Gruppe von Menschen, die sich Pegida5 nennt und die sich nicht fürchtet, öffentlich zu rufen „Festung Europa. Macht die Grenzen dicht!“, während sie an der deutsch-tschechischen Grenze stehen.6 Solche Rufe sind freilich nicht auf Europa (gegen seinen vermeintlichen Gegner, den Islam) beschränkt, sondern finden sich auch andernorts. Vielleicht haben die Pegidisten den Spruch ja von Donald Trump übernommen, der schon im Juni 2015, im Zusammenhang mit der Ankündigung seiner Präsidentschaftskandidatur meinte: „I will build a great wall, and nobody builds walls better than me, believe me, and I’ll build them very expensively. I will build a great, great wall on our southern border. And I will have Mexico pay for that wall.“7 Mauern sind in bestimmten Kreisen also wieder salonfähig geworden. Doch die Rede von diesen Mauern steht vor allem für ein bestimmtes Weltbild – für eines, das auf Inklusion über sichtbare Abgrenzung setzt. Allgemeiner gesprochen wird hier sogar von einem bestimmten Konzept von Grenze als dem scheinbar einzigen ausgegangen: die zwischenstaatliche Trennung in Form einer schier unüberwindlichen Grenze. Wer glaubt, dies sei die einzige Möglichkeit, dem kann damit nicht nur mangelnde historische, sondern sogar mangelnde Allgemeinbildung bescheinigt werden.

4 Kernbestandteil des Schengen-Abkommens war der Abbau der Personenkontrollen an den Binnengrenzen der Vertragsparteien, aber auch Ausgleichsmaßnahmen (z. B. verstärkte Zusammenarbeit in Asylfragen, Drogenkriminalität, Polizeiarbeit etc.; Vereinheitlichung der Einreisevorschriften). Ein Pass muss weiterhin mitgeführt werden. – Die Landesgrenzen des Schengen Raums sind 7.700 km lang, die Seegrenzen 42.700 km. Laut EU-Kommission beträgt die Anzahl der grenzüberschreitenden Reisen jährlich 1,25 Milliarden. Quelle: Auswärtiges Amt und eu-info.de. Schrittweise Verträge und Durchführungsübereinkommen (DÜ): 1985, 1990, 1993 Inkrafttreten, 1999 Abkommen in EU einbezogen. 5 Pegida steht für: „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. 6 Sächsische Zeitung vom 9.  4.  2016, URL: http://www.sz-online.de/sachsen/pegidablockiert-grenze-3368010.html [15.10.2016]. 7 Miriam Valverde, How Trump plans to build, and pay for, a wall along U.S.-Mexico border, in: Politifact, 26. Juli 2016, URL: http://www.politifact.com/truth-o-meter/article/2016/ jul/26/how-trump-plans-build-wall-along-us-mexico-border/ [4.3.2017].

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Die politisch-territoriale und durch Zäune oder Mauern materialisierte Grenze ist, so viel sei vorweg gesagt, historisch betrachtet, eine relativ junge Erscheinung. Die Geschichte der Grenze und die Vielfalt der Grenzen kann dies noch näher vor Augen führen. Doch es geht um mehr, es geht um das Konzept bzw. darum, was es mit den Subjekten diesseits und jenseits der Grenzen macht. Vielleicht ist es dies, was Giorgio Agamben gemeint hat, als er schrieb: „The refugee should be considered for what he is, that is, nothing less than a border concept that radically calls into question the principles of the nation-state and, at the same time, helps clear the field for a no-longerdelayable renewal of categories.“8 Zu glauben, der Nationalstaat, zu dem auch ein komplexes Sozialversicherungssystem gehört, lasse sich so einfach abschaffen, wäre freilich eine Naivität. Aber es wäre umgekehrt ein Trugschluss zu glauben, dass diese (zu einem Staat) verräumlichte soziale Konstellation so sein müsste, wie sie ist, oder gar naturhaft gegeben und verfassungsmäßig unumstößlich sei.9 Gerade weil es sich um eine historisch kontingente Erscheinung handelt, muss man wenigstens die Möglichkeit der Auflösung des Modells Nationalstaat denken dürfen. Im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise sollte man sich schließlich fragen, weshalb all die Menschen zu uns nach Europa kommen. In jüngster Zeit taucht auch in politischer Rede und im Handeln die Einsicht auf, dass wir die gesamte Situation doch mit verschuldet haben. Nicht nur durch Kriege und Einmischung in die innerstaatlichen Angelegenheiten anderer Länder, sondern auch durch Kolonialpolitik, die über hundert Jahre zurückliegt. Die deutsche Bundeskanzlerin formulierte kürzlich in einem Interview mit der ZEIT eine interessante Einsicht: „Ich sehe es als unsere Aufgabe, Menschen ein Leben in ihrer Heimat zu ermöglichen.“ – „Die ganze westliche Welt hat Afrika in früheren Epochen Entwicklungschancen geraubt, und zwar über Jahrhunderte. Wenn Sie sich Grenzziehungen in Afrika anschauen, müssen Sie zugeben, dass das in vielen Fällen zumindest eine schwere Last für die heutige Entwicklung ist. Grenzen wurden nach den Interessen der Europäer oder aufgrund von Rohstoffvorkommen gezogen und nicht nach dem Kriterium, ob Völker und Stämme zusammenleben und ob sich darauf homogene Staaten entwickeln können. Natürlich erwächst daraus eine Verantwortung 8 Giorgio Agamben, We Refugees, in: Symposium 49, 2 (1995), Summer, 114–119, englische Übersetzung von Michael Rocke, URL: http://disturbingyourexistence.blogspot. de/2016/02/giorgio-agamben-we-refugees.html [12.3.2017]. 9 Vgl. Christian Jansen, Henning Borggräfe, Nation – Nationalität – Nationalismus, Frankfurt/Main 2007.

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für uns.“10 Wie wir diese Verantwortung übernehmen – durch das Öffnen der Schleusen oder indem wir den Menschen in ihrer Heimat helfen –, ist damit freilich noch nicht bestimmt. Weiterhin in der Gegenwart verbleibend, können wir uns fragen, wo wir neuerdings mit Grenzen konfrontiert werden, die uns hinderlich oder ungewöhnlich erscheinen. Mich selbst beispielsweise stört es, dass ich neuerdings in europäischen Flughäfen wieder durch Passkontrollen muss, was oft lange Wartezeiten in der Schlange vor dem Schalter verursacht. In Lyon etwa bin ich rund 12 Jahre lang einfach durch die Zollkontrolle gegangen und konnte dann direkt mein nächstes Ziel ansteuern, was jetzt so nicht mehr geht.11 Weiterhin werden wir freilich an den europäischen Außengrenzen sowie an nicht-europäischen Landesgrenzen kontrolliert. Auch dies kann lange dauern. Zuletzt wartete ich vor der Indian Immigration in New Delhi nahezu zwei Stunden. Ein Kollege, der viel für Nichtregierungsorganisationen unterwegs ist, kann andere Grenzgeschichten erzählen: Als er vor kurzem in Nagaland, der östlichsten Provinz Indiens, war, wurde er mit indischen Binnen- und Außengrenzen konfrontiert. Interessanterweise war die Binnengrenze zwischen Assam und Nagaland (Abb. 2) strenger kontrolliert als die zwischen Nagaland und Myanmar (Abb. 3, 4), wo teilweise nur Grenzzäunchen in der Natur anzutreffen waren, die sich leicht überspringen lassen. 10 „Mitleid ist nicht mein Motiv“. Interview von Bernd Ulrich und Tina Hildebrandt mit Angela Merkel, in: Die ZEIT, Nr. 42, 6. Oktober 2016. 11 Dies mag in Frankreich auch mit dem „plan vigipirate“, einer politischen Sicherheitsmaßnahme in Frankreich zum Schutz gegen den Terrorismus, zusammenhängen.

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Von links nach rechts: Abb. 2: Innerstaatliche Grenze in Indien: zwischen Assam und Nagaland (Foto: Martin Frank) Abb. 3: Grenzzaun zwischen Nagaland und Myanmar (Foto: Martin Frank) Abb. 4: Grenze zwischen Nagaland und Myanmar: ein Grenzbeamter im Grenzund Bürgermeisterhaus (Foto: Martin Frank)

Indische Binnengrenzen sind in der Regel eher Zollgrenzen, doch auf einem Schild wurde auch angedroht, wer sich nicht ausweisen könne, müsse mit bis zu einem Jahr Gefängnis rechnen. Grenzen sind jedoch nicht nur politisch, sondern überall im Alltag zu finden. Kürzlich hörte ich einen Kollegen der Universitätsverwaltung zu einem anderen sagen: „Bis hier hin und nicht weiter.“ Damit zog er gewissermaßen symbolisch eine Grenzlinie zwischen sich und seinem Kollegen, um damit anzudeuten, dass der andere nicht in seine Kompetenz- oder Zuständigkeitsfelder eingreifen solle. Und wer hörte nicht schon die Nachbarn über Kindergeschrei oder zu laute Musik klagen? Bei der akustischen Raumnahme kommt hinzu, dass sich Töne (also Schall­ ereignisse) nun einmal nicht so leicht begrenzen lassen. Und trotzdem geht der Nachbar in der Regel davon aus, dass sich eine Grenze ziehen lassen müsse. Schließlich habe ich mit Grenzen in theoretischen Debatten zu tun: mit der Grenze als Raumfigur; mit Prozessen der Begrenzung und der Entgrenzung.12 Die Grenze, so habe ich dort geschrieben, stellt eine wichtige Raumfigur dar, insofern sie zur Unterscheidung von Gruppen dient, die sich damit ihre eigenen Räume zuweisen. Grenzen müssen nicht immer materiell sein, sie können auch symbolisch vollzogen werden oder nur in den Köpfen der Menschen existieren. Wie bei jeder Raumanalyse sollten zuerst einmal phänomenologisch verschiedene Typen unterschieden werden: lineare Grenzen von Grenzräumen (oder -zonen), politische Grenzen (wie die imperiale Grenze, die vorrückende Erschließungsgrenze oder die Landesgrenze) von Zoll12 Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt/Main 2013, 151 u. ö.

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grenzen, ferner Zeitgrenzen (das zeitliche Ende), Kulturgrenzen, Sprachgrenzen, sogenannte natürliche Grenzen, die dann vorliegen, wenn Bergkämme, Waldsäume oder Flüsse die Funktion der politischen Grenze annehmen wie z. B. der Rhein im 16. Jahrhundert, von Lucien Febvre untersucht13; schließlich gibt es personifizierte Grenzen, wenn sie einzig und allein durch einen Grenzbeamten repräsentiert werden. Diese verschiedenen Grenzen haben teils unterschiedliche Funktionen und sehen auch unterschiedlich aus, d. h. sind in unterschiedlicher Weise materialisiert oder symbolisiert. Da Grenzen auf verschiedene Weise sichtbar oder unsichtbar sind, sollten auch verschiedene „Aggregatzustände“ der Grenze unterschieden werden. Grenzen sind materiell, mental, symbolisch oder performativ (z. B. durch feierliche Akte der Grenzsetzung), graphisch (z. B. auf Karten eingezeichnet) oder Resultate diskursiver Praktiken. Bisweilen sind sie auch unsichtbar (z. B. rein mentale oder soziale Grenzen). Diese verschiedenen Zustände können sich durch Überlagerung verstärken, ergänzen oder ablösen. Funktional betrachtet trennen und verbinden Grenzen Menschengruppen und Räume, die sich diesseits und jenseits der Grenze befinden. Die Grenzen schaffen Räume wie die Grenze selbst auch erschaffen wird, also ein gesellschaftliches Produkt ist. Insofern liegt hier häufig ein relationales Verhältnis vor. Ohne Grenzen gibt es auch kein Miteinander, so paradox dies auf den ersten Blick klingen mag. Doch reale wie symbolische Grenzen stiften nach innen oft erst Kohärenz. Betrachtet man Grenzen nur als etwas Trennendes, führt dies schnell zu dem Urteil, sie seien etwas Abschreckendes oder Überflüssiges.

Vom Nutzen der Grenze Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann hat in seinem Buch Lob der Grenze auf eine wichtige Funktion des Grenzen-Ziehens aufmerksam gemacht, nämlich die, zu unterscheiden. Grenzen ziehen heißt also auch unterscheiden. „Aller Anfang setzt eine Grenze. Und wer etwas beginnt, zieht eine Grenze“14 als eine wirkliche oder gedachte Linie zwischen zwei Dingen. Dabei 13 Lucien Febvre, Le Rhin. Histoire, mythes et réalités, Paris 1997 [1931]. Vgl. auch die Aus­stellung: Der Rhein. Eine europäische Flussbiographie, Bundeskunsthalle Bonn 9. 9. 2016  –22.1.2017. 14 Konrad Paul Liessmann, Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft, Wien 2012, 29.

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bezieht sich Liessmann u. a. auf Spinoza, der 1674 an einen Freund schrieb: Wir können eine Figur oder Gestalt nur dann begreifen, wenn wir die Art und Weise, wie sie begrenzt ist, begreifen. – Grenze definiert sich also über dessen Nicht-Sein, als Negation. Wer immer etwas begreift, begreift vorerst einmal, was dieses Etwas nicht ist.15 Auf nützliche Funktionen der Grenze verweist auch der Volkskundler Hermann Bausinger, wenn er zum einen auf symbolische Grenzen im Alltag, zum anderen auf kulturelle Grenzen verweist.16 (1) „Kinder brauchen Grenzen“ ist eine Redewendung, der vermutlich die meisten Erwachsenen mit Kindern zustimmen werden. Es handelt sich hier um eine weiche, d. h. symbolische Grenze, aber man geht in der Regel davon aus, dass sie festlegbar ist. (2) Vorhandene soziale Tatsachen, die sich in „Kulturräumen“, auch jenseits des Politischen, niederschlagen, haben ebenfalls eine strukturelle Valenz. Dabei handelt es sich z. B. um Regionen, in denen entweder vornehmlich Teigwaren oder eher Kartoffeln gegessen werden und die sich mehr oder weniger geographisch eingrenzen lassen. Ein weiterer solcher Fall ist die sogenannte „Weißwurstgrenze“ zwischen Nord- und Süddeutschland, die gewöhnlich mit dem Main gleichgesetzt wird. Zu fragen aber wäre dann noch, worin die funktionale Valenz eines kulturellen Tatbestands liegt, der eine Kulturregion von einer anderen unterscheidet. Welchen Nutzen ziehen die Bewohner daraus? Lassen sich darüber Zughörigkeitsgefühle beschreiben? Kulturgrenzen sind jedenfalls weiche Grenzen, lassen sich nicht präzise und linear ziehen. Dies lässt sich jenseits von „Stacheldrähten“ freilich auch auf die politische Grenze übertragen, bei der wir es, historisch betrachtet, immer wieder mit Überlappungsphänomenen, Verschiebungen oder individuellen Grenzpraktiken zu tun haben.17

15 Vgl. dazu die Begrüßungsrede von Heinrich Schmidinger, in welcher er auf Anaximander verwies. 16 Hermann Bausinger, Die Valenz von Kulturgrenzen, in: Utz Jeggle, Freddy Raphaël (Hg.), D’une rive à l’autre. Rencontres ethnologiques franco-allemandes, Paris 1997, 135–149, bes. 135f. 17 Vgl. dazu die Fallstudien in Wolfgang Kaiser, Claudius Sieber-Lehmann, Christian Windler (Hg.), ‚Eidgenössische Grenzfälle‘: Mülhausen und Genf / En marge de la Confédération: Mulhouse et Genève, Basel 2001.

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Zur Geschichtlichkeit der Grenze Bevor ich auf zwei konkretere Grenzgeschichten – der Herausbildung und der Auflösung einer Grenze – eingehe, die sowohl mit Persistenzen als auch mit räumlichen Transformationen einhergehen, soll ein kurzer historischer Abriss sowie ein Einblick in die Begriffsgeschichte gegeben werden. Auf die Geschichte der Grenze einzugehen, heißt immer auch, sich mit der Dynamik dieser Raumfigur zu beschäftigten bzw. diese als Grundmerkmal anzuerkennen. Eine radikale Historisierung der Grenze bedeutet nicht zuletzt auch, dass Grenzen historische Produkte sind und deren Funktionen entsprechende gesellschaftsgeschichtliche Hintergründe haben. Sie sind niemals einfach nur „natürlich“, sondern von Menschen gesetzt oder bestimmt – und damit allenfalls mit Bedeutungen versehene Markierungen in der Natur (Gebirgszüge, Flussläufe etc.). Typisch für die Vormoderne scheint zu sein, dass verschiedene Grenzen keineswegs deckungsgleich sein mussten und dass sich insofern die durch sie eingegrenzten (politischen, diözesanen, rechtlichen, sprachlichen etc.) Räume verschachtelten oder überlagerten. Schon eine kursorische Geschichte der Grenze zeigt die latente Instabilität dieser Raumfigur auf, die sich in Prekarität, Vagheit, Durchlässigkeit, Unterwanderungsmöglichkeit (z.  B. bei Flucht oder wirtschaftlichem Tausch), temporären Öffnungen oder Perennität nach offizieller Abschaffung zeigt. Eine solche Geschichte der Grenze läuft schließlich auf die Formulierung zweier Paradoxien hinaus: 1. Eine Grenze funktioniert oft nur, solange sie nicht infrage gestellt wird. 2. Ohne Grenzen gibt es kein Miteinander (also keine sozialen Gruppen). Grenzen sind demnach ebenso notwendig wie prekär. Diese Hypothesen zu diskutieren ist wichtig, um Perspektiven für eine zukünftige interdisziplinäre Grenzforschung zu formulieren. Schon ein kurzer Blick in die Begriffsgeschichte kann zeigen,18 dass der deutsche Begriff Grenze sehr viel stärker mit Starrheit, Linearität oder Präzision konnotiert wird als etwa die englischen border, boundary und frontier oder die französischen Ausdrücke confin oder frontière. Begriffsgeschichtlich lässt sich verfolgen, wie sich das semantisch weite Bedeutungsfeld der Grenze (lokal und temporal; Bedeutungen wie Linie, Gebiet und Zone umfassend) seit dem Spätmittelalter in den indogermanischen Sprachen verengt und wie sich insbesondere im Deutschen die Vorstellung von der Linearität der Grenze (das von 18 Vgl. auch den Beitrag von Thomas Lindner in diesem Band (S. 9–34).

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slaw. granica als etwas, das herausragt, kommt) durchsetzt.19 Verstanden als Linie ist die Grenze das Produkt eines neuzeitlichen Ordnungsdiskurses und einer philosophisch inspirierten Praxis, die Dinge der Welt einer begrifflichen Trennung und Kategorisierung zu unterziehen. Diese kulturell erzeugten Ordnungsdiskurse haben sich auch in bestimmten Grenzpraktiken niedergeschlagen bzw. wurden zu Grenzordnungen verstetigt. Solche Ordnungen wurden dann häufig auch spatialisiert, indem Grenzen – die eben nie einfach gegeben sind – gesetzt wurden, um den Raum zu markieren und damit neue geographische Objekte hervorzubringen. Als Raumfigur wird die Grenze dann auch zu einer Figur gesellschaftlicher Öffnung und Schließung.

Ein kurzer historischer Rückblick (1) Die ältesten materiellen, zivilisatorischen Grenzen waren Stadtmauern. Sie dienten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur dem Schutz vor Feinden, sondern auch dem Schutz vor Naturgewalten wie etwa dem Hochwasser.20 Dies konnte für den Fall der Mauern von Jericho gezeigt werden. Denn bei starkem Regen verwandelten sich die benachbarten Wadis schnell in reißende Ströme. Religiös-kultische Elemente an einem Turm der Stadtbefestigung von Jericho, die als eine der ältesten Städte der Welt gilt, weisen zudem darauf hin, dass der Turm neben einer möglichen fortifikatorischen auch eine kultische ­Funktion hatte. Ahnenkult und dazugehörige Riten konnten auch dazu dienen, einschneidende Ereignisse – sei es ein Hochwasser oder ein Angriff von außen – zu bewältigen bzw. zu transzendieren. Wir befinden uns hier im jüngeren vorkeramischen Neolithikum, in der Zeit zwischen etwa 8.600 und 6.200 v. Chr.

19 Stefan Böckler, ‚Grenze‘ und frontier. Zur Begriffs- und Sozialgeschichte zweier Schließungsparadigmen der Moderne, in: Petra Deger, Robert Hettlage (Hg.), Der europäische Raum. Die Konstruktion europäischer Grenzen, Wiesbaden 2007, 25–48; vgl. auch Susanne Rau, Benjamin Steiner, Europäische Grenzordnungen in der Welt Ein Beitrag zur Historischen Epistemologie der Globalgeschichtsschreibung, in: Themenportal Europäische Geschichte, 01.01.2013, URL: www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3734 [14.3.2017]. 20 Hermann Parzinger, Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift, München 2015, 118–128, bes. 122–124.

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(2) Für das europäische Mittelalter hat Reinhard Stauber ferner darauf hingewiesen, dass die Vorstellung von Grenze eng mit dem Gedanken des Eigentums zusammenhängt, und zwar zunächst nur in einem privatrechtlichen Sinne: Wer Grund und Boden oder Haus besaß, durfte dieses – zu seinem Schutz – abgrenzen.21 Bislang gibt es allerdings keine Belege für die zunächst naheliegend erscheinende These, Grenze habe in diesem Sinne zuerst die Scheidelinie zwischen privaten Besitztümern bezeichnet, die dann auf politische Gebilde übertragen worden sei. (3) Erste herrschaftliche Grenzbeschreibungen lassen sich in Europa schon im 9. und 10. Jahrhundert nachweisen. Solche Grenzbeschriebe finden sich etwa innerhalb von Königsurkunden. Als Grenzen wurden Gewässerverläufe und Wege genannt, also Dinge, die in der Natur vorkamen. Im Spätmittelalter tauchen vermehrt Grenzpfähle aus Holz und Grenzsteine auf. (4) Erst in der Frühen Neuzeit, insbesondere im Zeitalter des Absolutismus, haben wir es mit der Einführung von Territorialgrenzen zu tun. König Heinrich IV. von Frankreich etwa hat Grenzverläufe aufnehmen und kartieren lassen. So entstand um 1600 auch eine erste Kartenfolge, auf der die Picardie in Form einer gepunkteten Linie eingezeichnet war.22 Unter Ludwig XIV. hat der Festungsbaumeister Vauban die französische Außengrenze angelegt und mit Bastionen versehen. Grenzumritte und -befragungen lassen sich Mitte des 17. Jahrhunderts auch im Herzogtum Gotha nachweisen, wo Veit Ludwig von Seckendorf als eine Art Regierungsrat tätig war.23 Typisch für die Vormoderne ist ferner, dass es verschiedene „eingegrenzte Flächen“ (z. B. Herrschaften oder Diözesen) gab, die aber keineswegs immer deckungsgleich waren, sondern sich oft nur teilweise überlappten. Zur Nicht-Deckungsgleichheit kirchlicher, politischer, bisweilen auch noch juristischer Realitäten kamen Praktiken wie der Handel oder Transhumanz hinzu, die sich an etwaigen Grenzlinien wenig störten. Alle diese sich überlappenden Realitäten (wie die weitere Existenz von Adelsherrschaften) zeigen, wenn nicht die ‚Grenzen‘ des Nationalstaats, dann wenigstens eine Alternative zu ihm auf.

21 Reinhard Stauber, Kinji Akashi, Grenze, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit Online, URL: http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_a1509000 [15. 3. 2017]. 22 Ebd. 23 Reiner Prass, Die Etablierung der Linie: Grenzbestimmungen und Definition eines Territoriums. Sachsen-Gotha 1640  –1665, in: Historical Social Research, 38, 3 (2013), 129 –149.

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(5) Nicht zu vergessen ist, dass Europäer auch Grenzen außerhalb Europas setzten und nach wie vor setzen. Dies war vielfach in den Kolonien der Fall, die mit den von den europäischen Kolonialmächten gezogenen Grenzlinien oft gar nicht umgehen konnten oder aber ihre eigenen kreativen Umgangsweisen entwickelten.24 Viele daraus entstehende „Missverständnisse“ zeigen, dass verschiedene Kulturen unterschiedliche Grenzkonzepte und Grenzpraktiken entwickelt haben. Auch heute noch hat Europa außerhalb Europas Grenzen. Die Frage, „wo“ Europa liegt bzw. wo dessen Außengrenzen verlaufen, stellt sich beispielsweise bei den französischen Übersee-Departements, was sich an der erst 2011 hinzugekommenen Insel Mayotte illustrieren lässt. Hier liegt eine europäische Außengrenze auf dem Wasser, zwischen Mayotte und den Komoren, wodurch sich die europäische Flüchtlingsfrage noch einmal ganz anders stellt.

Mayotte – europäische Grenzen im Indischen Ozean Grenzen in Meeren und Ozeanen können verschiedene Bedeutungen tra­gen: beispielsweise als Staatsgrenzen auf See oder als natürliche Barrieren, die den Schiffen das Überfahren verunmöglichen. Dagegen können Staatsgrenzen theoretisch wie oft auch praktisch überfahren werden. Sie sind in der Regel auf Karten eingezeichnet, im Wasser allenfalls durch Bojen und hin- und herfahrende Zollschiffe erkennbar. Passkontrollen, die über die Einreise entscheiden, finden meistens erst an Land statt, also an einem symbolischen Grenzort. Grenzen aber sind auch im maritimen Kontext gewiss nicht nur Symbole, sondern sie entscheiden über Fragen der Integration (temporär oder dauerhaft) und Exklusion. Grenzen sind sowohl Ordnungsmacht als auch Raumgestalter.25 Mayotte ist ein Übersee-Departement und eine Region Frankreichs. Die ehemalige Kolonie (1841 ff.) wurde 1976 Gebietskörperschaft der Französi24 Vgl. dazu die Fallgeschichten zu verschiedenen Kontinenten (Afrika, Asien, Australien) des online-Themenhefts Europäische Grenzordnungen in der Welt. Ein Beitrag zur Historischen Epistemologie der Globalgeschichtsschreibung, in: Themenportal Europäische Geschichte, 01.01.2013, Fußnote 1, URL: www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3734 [14.3.2017]. 25 Zu diesem Ausdruck vgl. Achim Landwehr, Raumgestalter. Die Konstitution politischer Räume in Venedig um 1600, in: Jürgen Martschukat, Steffen Patzold (Hg.), Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln u. a. 2003, 161–183.

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schen Republik (Collectivité territoriale de la République française, seit 2001 unter der Bezeichnung Collectivité départementale). Am 31. März 2011 erhielt Mayotte den Status des 101. französischen Departements. Es wurde am 1. Januar 2014 als sogenanntes Gebiet in äußerster Randlage (frz. RUP = Région ultrapériphérique; engl. OMR = Outermost Region) Teil der Europäischen Union und hat denselben Status wie etwa Französisch-Guyana. Mayotte liegt circa 8.000 Kilometer von Paris entfernt am nördlichen Rand der Straße von Mosambik im Indischen Ozean zwischen der Nordspitze Madagaskars und dem Norden Mosambiks. Die Insel gehört zum Archipel der Komoren. Mit einer Inselfläche von 374 km² besitzt Mayotte eine Lagune von 1.100 km² und ein noch viel größeres Seegebiet. Die Integration in das französische Staatsgebiet kreiert aber auch Probleme, da Mayotte die einzige Insel der Komoren ist, die sich Frankreich anschließen konnte, was die anderen Komoren-Inseln bis dato offiziell nicht akzeptiert haben. Als französisches Departement ist Mayotte also auch Teil Europas, dessen Außengrenzen damit auch im Indischen Ozean, in der Straße von Mosambik, liegen.  Was aber bedeutet es konkret, dass Europa im Indischen Ozean liegt? Zunächst heißt dies, dass sich „Europa“ (als Europäische Union) nicht allein geographisch, bezogen auf den Kontinent, beschreiben lässt. Ferner kreiert die Tatsache, dass Mayotte seit 2011 französisches Departement und seit 2014 RUP bzw. OMR ist, eine eigene Flüchtlingsproblematik, da auf Anjouan, Mohéli und der Grande Comore, also den benachbarten Komoreninseln, eine viel größere Armut herrscht. Von den heute rund 210.000 Einwohnern Mayottes (2002 waren es noch 160.000) sind etwa ein Drittel illegale Einwanderer. Bezeichnend ist auch die steigende Geburtenrate der Geburtsklinik von Mayotte: circa 10.000 Geburten pro Jahr, ein Großteil der Neugeborenen stammt von (meist illegalen) Einwanderern. Denn wer als Kind einer Immigrantin auf Mayotte geboren wird, erhält dort automatisch eine lebenslange Aufenthaltsgenehmigung und hat das Recht, sich ab dem zehnten Lebensjahr für die französische Staatsbürgerschaft zu entscheiden. Die Nachbarinsel Anjouan liegt etwa 70 Kilometer nördlich von Mayotte in Sichtweite, von dort sind es lediglich drei bis vier Stunden, auch auf kleinen Booten. Vor der Integration Mayottes in den französischen Staat bzw. die EU brauchte man als Komorer noch kein Visum. Wenn die Komorer jetzt allerdings keines haben, müssen sie die Insel sehr rasch wieder verlassen. Insbesondere Erwachsene werden (häufig mehrfach) zurückgeschickt bzw. zurücktransportiert. Kinder unter 18 Jahren, die nicht abgeschoben werden dürfen, bleiben oft allein auf Mayotte zurück, leben entsprechend verwahrlost in Bidonvilles (Wellblechbehausungen) und

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organisieren sich in Kinder- und Jugendgangs. Wenn sie keinen Anschluss an Bekannte oder Verwandte haben, müssen sie stehlen, kommen ins Gefängnis – und so beginnt der ganze Circulus vitiosus der Kriminalisierung. Dies alles zeigt auch: Integration kreiert auch Trennung (von anderen) und Ungleichheit. Und was bedeutet Mayotte für die Komorer? Ist es für sie Europa? Vermutlich haben die meisten von „Europa“ keine Vorstellung. Sie verbinden damit eher Wohlstand, Ordnung und Reichtum, sehr wahrscheinlich auch Hoffnung. Dies ist eine gute Sache, aber umso schlechter, wenn sie enttäuscht wird. Was also wäre zu tun? Neben Entwicklungshilfe wäre Aufklärung eine Möglichkeit, allerdings auf beiden Seiten. Denn wenn wir ehrlich sind, wissen wir ebenso wenig über Mayotte und die Komoren wie die Mahorais über uns. Sich mit der jeweiligen Geschichte, Sprache, Kultur und Religion zu beschäftigen, wäre auch ein erster Akt der Grenzüberwindung.26

Eine Phänomenologie vormoderner Grenzziehung Grenzen können, wie bereits angedeutet, in verschiedenen Modalitäten erscheinen. Die Raumfigur Grenze hat also nicht nur eine materielle Erscheinungsform. Selbst bei dem vormodernen Prozess der Grenzziehung, der also in einer festen staatlichen Grenze endete, lassen sich diese verschiedenen Modalitäten erkennen. Für die Untersuchung des frühneuzeitlichen Prozesses der Territorialisierung hat der Historiker Andreas Rutz ein Analysemodell entwickelt. Mit dem Ansatz des „doing territory“ versteht er den Territorialisierungsprozess nicht nur als Prozess der Akkumulation von Herrschaftsrechten, sondern auch die aktive Herstellung des räumlichen Gebildes z. B. durch Grenzziehungen bzw. das Setzen von Grenzsteinen, durch Vermessungen und Landesbeschreibun26 Für die Langversion vgl. Susanne Rau, Meere und Ozeane als Grenze – wie kommt es, dass Europa auch im Indischen Ozean liegt? URL: https://www.ich-mag-meine-uni.de/item/453advent-22-2016.html [15. 3. 2017]. Weiterführende Informationen zur Flüchtlingssituation auf Mayotte finden sich in dem Dossier Immigration. Expulseurs /expulsés, qui sont-ils? In: Mayotte Hebdo Nr. 751 (2016), 11–19. Zu frühen „Entdeckungen“ durch die und Kontakt mit den Europäern: Saïd Saïd Hachim, Introduction à la géographie des Arabes dans le canal du Mozambique, in: Taãrifa. Revue des Archives départementales de Mayotte 4 (2014), 91–95; Arlette Fruet, Escales mahoraises, d’après quelques récits de voyage aux XVI e et XVII e siècles, in: Taãrifa. Revue des Archives départementales de Mayotte 3 (2012), 29  –36.

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gen. Erst am Ende dieses Prozesses, an dem die Akteure mitgewirkt haben, steht der „Flächenstaat“, der sich mit seiner Bedeutung von Territorium und Grenze vom „Personenverbandsstaat“ des Mittelalters abgrenzt. Rutz’ Vorschlag einer Phänomenologie vormoderner Verfahren zur Beschreibung und Markierung von Grenzen gliedert sich in folgende Elemente, die freilich nicht immer alle erfüllt sein müssen: 1. verbale Beschreibung, 2. materielle Markierung im Feld (mit natürlichen oder künstlichen Objekten wie Grenzpfählen oder Verteidigungssystemen), 3. symbolische Markierung (Grenzumgänge, Herrschaftsinszenierung an der Grenze), 4. Vermessung und Kartierung.27 Teil dieser Phänomenologie ist auch die regelmäßige Reproduktion, gegebenenfalls das neue Ausverhandeln wie auch das Unterlaufen der Grenze, also deren Überschreitung, beispielsweise durch das Schmuggeln von Ware oder durch die Verletzung symbolischer Grenzen. Schon Bausinger hat darauf verwiesen: die ständige Provokation ihrer Überschreitung gehört zum Phänomen der Grenze – was kein Widerspruch ist, sondern eher die Ausnahme, die die Regel bestätigt.28 Die folgenden Beispiele widmen sich exemplarisch dem Phänomen der Grenzverschiebung und dem der Ernährungsgrenze.

Fallbeispiel Lyon: zur Verschiebung einer Reichsgrenze Dass die Stadt Lyon früher einmal nicht zu Frankreich gehörte, erscheint heute kaum glaubhaft. Allerdings gab es noch im 16. und 17. Jahrhundert – teilweise sogar noch heute bekannt – eine Redeweise in der Stadt, die an den älteren Grenzverlauf erinnerte. Sprach man damals von „part du Royaume“ – „part de l’Empire“ („Teil des Königreichs“ – „Teil des Reichs“), verwies dies auf die zwei einst durch die Saône geteilten Viertel der Stadt. Die Verwendung dieser Ausdrücke zu einer Zeit, als es sich schon längst nicht mehr um eine politische Realität handelte, zeigt, dass sich diese städtische Besonderheit tief in das Gedächtnis und in die Handlungsweisen der Bewohner eingeprägt hat. Die mental noch lange in den Köpfen der Menschen vorhandene Grenze war 27 Andreas Rutz, Doing territory. Politische Räume als Herausforderung für die Landesgeschichte nach dem ‚spatial turn‘, in: Sigrid Hirbodian, Christian Jörg, Sabine Klapp (Hg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte, Ostfildern 2015, 96–110, hier 106f. 28 Hermann Bausinger, Die Valenz von Kulturgrenzen, in: Utz Jeggle, Freddy Raphaël (Hg.), D’une rive à l’autre. Rencontres ethnologiques franco-allemandes, Paris 1997, 135–149, 135f.

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allerdings selbst das Resultat einer längeren Geschichte, die sowohl die Konstitution wie auch die etappenweise Verschiebung der Grenze beinhaltete.29 Etappen der Grenzverschiebung: • 843 karolingische Teilung • 1032 Lyon als Teil des Heiligen Römischen Reichs • 1157 Friedrich Barbarossa • um 1300 erheben Kapetinger Ansprüche auf Lyon • 1307 „lettres Philippines“ • 1312 Erzbischof übergibt Gerichtsbarkeit an den König • bis 1320 Integration Lyons ins Königreich • 1601 Traité de Lyon (Integration der Bresse)

Abb. 5: Lyon in der Mitte des 12. Jahrhunderts (aus: Lyon, entre Empire et Royaume (843  –1601). Textes et documents, Paris 2015, Abb. 11 (Karte: Karyn Mercier)

29 Introduction. „Part de l‘Empire“ – „Part du Royaume“. Appartenances, ruptures et confins, in: Alexis Charansonnet u. a. (Hg.), Lyon, entre Empire et Royaume (843–1601). Textes et documents, Paris 2015, 7–22, bes. 21f.

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Nach mehrfachem Wechsel der herrschaftlichen Zugehörigkeit der Stadt seit der Teilung des Fränkischen Reichs im Jahr 843 war Lyon – bis zur Annexion durch den Kapetinger Philipp den Schönen – rund 300 Jahre lang Teil des Heiligen Römischen Reichs (Abb. 5). In einem Forschungsprojekt mit französischen Kollegen haben wir die langsame Integration der Stadt Lyon in das Königreich Frankreich sowie die Verschiebung der Grenze bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts analysiert und dokumentiert. Über die Jahrhunderte ließ sich aber nicht nur die Wanderung einer Grenze, die zunächst kaum materialisiert war, von Ost nach West beobachten, sondern auch verschiedene Grenzkonzepte, die bisweilen gleichzeitig, je nach Standpunkt oder Nutzer, existierten. Rhône und Saône konnten Grenzen darstellen, in den Augen anderer sollte gerade dies nicht der Fall sein: Die Grenzen des Königreichs sollten sich durch die Nationen und die Territorien, die sie bewohnen, ergeben.30 Um 1300 markierte schon die Präsenz der wachsenden Zahl königlicher Beamter in der Stadt die Zugehörigkeit zum Königreich. Die städtische und die Landesgrenze bildete fortan die Rhône; eine Befestigung unterstrich dies.31 Der Zugang zur Stadt von der östlichen Seite her war nur über eine steinerne Brücke möglich.

Fallbeispiel Bologna: zur Transformation einer politischen in eine Kulturgrenze Ein ähnliches Beispiel, aber invers gelagert, ist die Transformation einer ehemals politischen Grenze in eine kulturelle bzw. kulinarische, wie sie sich zwischen dem lombardischen und byzantinischen Italien (diesseits und jenseits von Bologna) zeigt: Im Norden trinkt man Rotwein, im Süden Weißwein, im Norden isst man Schweinefleisch, im Süden Hammelfleisch. Darauf hat der italienische Historiker Vito Fumagalli hingewiesen.32 Zurück geht diese kulturelle Teilung auf das 6. Jahrhundert, als die Langobarden im damals weit30 Ebd., 16. Zur Rhône als Grenze vgl. Jacques Rossiaud, Le Rhône aux frontières de la ville. Sur l’ histoire du quartier de La Guillotière, in: ders., Lyon 1250–1550. Réalités et imaginaires d’une métropole, Seyssel 2012, 299–309. 31 François Dallemagne, Les défenses de Lyon. Enceintes et fortifications, 2. Aufl., Lyon 2010. 32 Vito Fumagalli, „Langobardia“ e „Romania“. L’occupazione del suolo nella Pentapoli altomedievale, in: A. Vasina (Hg.), Ricerche e studi sul „Breviarium Ecclesiae Ravennatis“ (Codice Bavaro), Rom 1985, 95–107. Ich danke Jean-Louis Gaulin (Lyon) für diesen Hinweis.

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gehend byzantinischen Italien angekommen sind. Sie kamen von Nordosten, also dem heutigen Friaul, eroberten rasch Norditalien, drangen aber nur bis Ravenna vor, das weiterhin unter römischer, d. h. byzantinischer Herrschaft blieb. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen etablierte sich die Grenze zwischen Langobardia und Romania. Karl der Große bereitete dem Langobarden-Königtum zwar bald ein Ende, aber die kirchliche Geographie und der Heiligenkult sowie die Sprache (Persistenz des Griechischen im Süden – Einfluss des Langobardischen und Fränkischen im Norden) trugen dazu bei, die begonnene Regionsbildung aufrechtzuerhalten. Die Schaffung der Region Emilia-Romagna und die Standardisierung der Ernährungspraktiken haben diese innere Grenze nicht verschwinden lassen.33

Versuch eines Fazits: A. theoretisch – B. gesellschaftlich A. 1. Grenzen sind dynamisch, veränderlich, kulturell konstruiert (d. h. von jeweiligen politischen, sozialen u. a. Umständen abhängig). 2. Angesichts der Polysemie tut man gut daran, Grenzarten zu unterscheiden und deren Vielfalt zu erkennen. Die Grenze ist jedenfalls nicht auf die politische Grenze beschränkt. Und selbst diese „harte“ Grenze wurde im Lauf der Geschichte auf verschiedene Art und Weise materialisiert. 3. Verschiedene Grenzen (und die dadurch konstruierten Bereiche oder Territorien) können sich überlagern, sind aber selten deckungsgleich. Dass politisches Territorium, Nation, Sprache und möglichst auch noch Religion koinzidieren müssen, ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Eine gründliche geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Grenzen kann uns für das heutige Europa mit seiner spezifischen Grenzproblematik vieles sagen. Vergangene Grenzkonstellationen sind gewiss nicht dazu da, um wiederholt zu werden. Da die Geschichte jedoch zeigt, was zu fremder Zeit oder an anderem Ort denkbar und möglich war, kann sie eben auch den Reichtum möglicher Grenzkonfigurationen aufzeigen. Meines Erachtens ist 33 Zum Phänomen der Ernährungsgrenzen vgl. ferner Massimo Montanari, Jean-Robert Pitte (Hg.), Les frontières alimentaires, Paris 2009.

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die Diskussion um europäische Binnen- und Außengrenzen – mit all ihren Rückwirkungen auf die Frage danach, was Europa ist und wer die „Anderen“ sind – längst nicht zu Ende geführt. Es gibt, wie der Blick in die Geschichte vermuten lässt, immer noch Alternativen. B. Aktuelle Probleme können nicht mit der Geschichte bzw. historischen Beispielen gelöst werden. Dennoch eröffnet der Blick in die Geschichte einen Möglichkeitshorizont, der uns Alternativen dazu aufzeigt, dass die Situation nicht so sein müsste, wie sie heute ist. Mit anderen Worten: die Geschichte zeigt, dass Grenzen und ihre Erscheinungsformen kontingent sind. Dies zumindest sollte auch Hoffnung geben, dass wir auch die aktuelle Situation noch ändern können. Was lässt sich daraus nun ableiten? 1. Die Notwendigkeit, die Geschichte der Grenzen umfassend zu erforschen; 2. Grenzformen und -modalitäten besser zu unterscheiden lernen, sich vor allem nicht nur auf politische und materialisierte Grenzen zu beschränken; 3. die Notwendigkeit, die historischsystematischen Erkenntnisse auch an die Öffentlichkeit sowie an die Politikberatung der Regierungen und des EU-Parlaments zu vermitteln. Damit könnte öffentlich finanzierte Forschung ihrem Auftrag entsprechend auch etwas zurückgeben an die Gesellschaft. Doch dazu werden freilich Vermittler benötigt. (Allein wissenschaftliche Aufsätze in wissenschaftlichen Organen zu publizieren, führt hier nicht weiter.) Eine Möglichkeit dazu böte das European Cultural Heritage Year (ECHY) 2018, also das europäisches Kulturerbejahr, das sich u. a. dem Thema der Grenze, wenn auch vornehmlich aus Denkmalschutzperspektive, widmen wird. Vielleicht könnte sich auch die Österreichische Forschungsgemeinschaft ein interdisziplinäres Projekt zu border studies vorstellen? Schließlich könnte die Academia Europeana einen geeigneten Kontext dazu bieten. Mit diesen – für einen geschichtswissenschaftlichen Beitrag eher ungewöhnlich erscheinenden – gegenwarts- und zukunftsbezogenen Überlegungen kommt auch dieser Beitrag zu seinem Ende. Doch gerade bei diesem Thema zeigt sich auch die Relevanz einer kulturwissenschaftlich gewendeten historischen Raum- und Grenzforschung.

Sine fine. Künstlerisches Handeln an den „Grenzen des Denkens“ Wolfgang Gratzer

Vier Vorbemerkungen: (1) Ich gehe von folgenden drei Fragestellungen aus: • Wie und mit welchen Folgen findet künstlerisches Handeln an den „Grenzen des Denkens“ statt? • Lassen sich argumentativ historische Einflüsse und Entwicklungen benennen? • Welche Verhaltensmodi seitens der Akteurinnen und Akteure bzw. des Publikums werden durch die im Folgenden angesprochenen Bei­ spiele angeregt? (2) Der Gedankengang gliedert sich in vier Abschnitte: Abschnitt 1 leitet ein mit einer Momentaufnahme zweier in etwa zeitgleich initiierter, aktueller Bei­ spiele künstlerischen Handelns, die auf nicht alltägliche Weise „Grenzen des Denkens“ erfahrbar machen. In Abschnitt 2 werden vermeintliche Wechselwirkungen zwischen außerkünst­ lerischen Diskursen und künstlerischen Projekten zu Möglichkeiten und For­ men sogenannter Unendlichkeit aufgerufen. Damit sollte ein Kontext für Abschnitt 3 hergestellt sein, worin eine Kompo­ sition fokussiert wird, die m.E. in signifikanter Weise dazu geeignet ist, die Ideengeschichte des Unendlichen um eine bedeutsame Facette zu erweitern: jene der Bewusstwerdung und Steigerung von Aufmerksamkeit bzw. von Fo­ kussierung. Abschnitt 4 schließlich bietet ein Fazit und gibt eine kleine Übung mit auf den Weg.

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(3) Zur Terminologie: Ich verwende ‚unendlich‘ an dieser Stelle im übertrage­ nen, umgangssprachlichen Sinn als Synonym für ‚unbegreiflich‘‚ ‚unvorstell­ bar‘ bzw. ‚unsagbar‘, und zwar v.  a. im Blick auf jene zunächst unrealisierbar erscheinenden, höchst kunstfertigen Handlungen bzw. Handlungsergebnisse, die aus diesen oder jenen Gründen als in hohem Maß staunenswert einge­ schätzt werden (können). Ich meine demnach bestenfalls in Ausnahmefällen ‚unendlich‘ im naturwissenschaftlichen Sinn. (4) Die im Titel zitierte Rede von „Grenzen des Denkens“ ist dem 2015 erschie­ nenen Buch von Friedrich Achleitner entlehnt; der schmale literarische Band namens Wortgesindel beginnt mit einem Kurztext, der zwei Personen beim höchst kuriosen Räsonieren über „Grenzen des Denkens“ kennen lernen lässt.1

Diotima hätte sich ein Leben ohne ewige Wahrheiten niemals vorzustellen vermocht, aber nun bemerkte sie zu ihrer Verwunderung, daß es jede ewige Wahrheit doppelt und mehrfach gibt. Darum hat der vernünftige Mensch, und das war in diesem Fall Sektionschef Tuzzi, der dadurch sogar eine gewisse Ehrenrettung erfuhr, ein tief eingewurzeltes Mißtrauen gegen ewige Wahrheiten; er wird zwar niemals bestreiten, daß sie unentbehrlich seien, aber er ist überzeugt, daß Menschen, die sie wörtlich nehmen, verrückt sind.2

1. Vorstellungen von Unvorstellbarem 1.1 Roden Crater Kein Gebäude wie viele andere: Über dieses Kunstprojekt substantiell Aus­ kunft zu geben, ist nur in bescheidenem Maß möglich: Dies deshalb, weil Roden Crater von James Turrell (*1943) noch kaum zugänglich war, was wiederum damit zu tun hat, dass der Licht- und Land-Art-Künstler sein 1974 begonnenes Werk u.a. aufgrund budgetärer Engpässe bis heute nicht fertig stellen konnte. Worum geht es? Als sich Turrell 31-jährig aufmachte, um auf Flugwegen nach einem idealen Ort zu suchen, war seine Beschäf­ tigung mit Wahrnehmungs- und Nichtwahrnehmungs-Experimenten be­ 1 Friedrich Achleitner, grenzen des denkens. In: ders. wortgesindel, Wien 2015, 7. 2 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, (Robert Musil. Gesamtausgabe 1), hg. von Walter Fanta, Salzburg-Wien 2016, 366.

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reits weit gediehen. Bekannt wurde Turrell u.a. durch die zusammen mit Robert Irwin und Edward Wortz realisierte, damalige Konventionen des Galeriebetriebs sprengende Aktion The Invisible Project (1969), von der – au­ ßer dem Transkript eines resümierenden Gesprächs 3 – absichtsvoll wenig an die Öffentlichkeit drang. Es ging dabei um Experimente zu den Schwel­ len zwischen mentalen Repräsentationen mit und ohne korrespondierende sinnliche Wahrnehmung (etwa in einem sogenannten schalltoten Raum).4 Auf der Suche nach einem geeigneten Gelände wurde Turrell wie erwähnt 1974 fündig, und zwar rund 80 km südlich der Grand Canyons im östlichen Teil eines Vulkanfeldes der San Francisco Peaks (Arizona). Bereits der Ankauf des vor ca. 400 000 Jahren erloschenen Vulkankegels erwies sich als voraus­ setzungsreich. Hätte es zu diesem Zeitpunkt eine Machbarkeitsstudie heutiger Standards gegeben, so wären die Durchführungschancen wohl recht gering bewertet worden. Indes schaffte Turrell letztlich 1977 5 die Finanzierung und machte sich daran, mithilfe eines kleinen Planungsteams den Vulkankegel nach und nach baulich zu adaptieren. Aktuell sind weite Teile dieses Sky Space bereits fertiggestellt, die Eröffnung sollte demnächst stattfinden können. Sollte dies gelingen, so würde dies jedenfalls eine kürzere Bauzeit bedeuten als jene der nicht selten etliche Generationen überdauernden Kathedralen.6 ‚Sky Space‘ meint im Falle Turrells eine kunstspartenübergreifende Gat­ tung mit mittlerweile weit mehr als 80 Einzelwerken. All diese sind mit ge­ lände- bzw. bauwerkarchitektonischen Konstruktionen und lichtinstallativen Elementen ausgestattet und sind gleich einer Einladung angeordnet, den Blick nach oben, gegen den Himmel zu richten. So spricht der Künstler denn auch

3 James Turrell, Robert Irwin, Edward Wortz, The Invisible Project. In: Douglas Davis (Hg.), Art and the Future. A history-prophecy of the collaboration between science, technology and art, New York – London 1973, S. 161–166; dt. in: Vom Experiment zur Idee. Die Kunst des 20. Jahrhunderts im Zeichen von Wissenschaft und Technologie. Analysen, Dokumente, Zukunftsperspektiven, Köln 1975, 161–166. 4 Vgl. Markus Brüderlin, Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. James Turrell und die Grenzen zwischen sinnlicher und geistiger Erfahrung. In: Kunstmuseum Wolfsburg (Hg.), James Turrell. The Wolfsburg Project, Ostfildern 2009, 122–149. 5 Diese Information findet sich auf der Turrells Roden Crater-Homepage http://rodencrater. com/about/ (Download 3. 9. 2016). Mittlerweile wurde von Turrell zur Non-profit-Finan­ zierung und Fertigstellung des Roden Crater die Sky Foundation ins Leben gerufene. 6 Zu deren ‚Nachfahren‘ gehören u.a. jene großformatigen Kunst- bzw. Landart-Projekte jüngeren Datums, die von Éléa Baucheron und Diane Routex als „XXL. Kunst, die den Rahmen sprengt“ tituliert werden. Vgl. deren gleichnamige Publikation, München 2014.

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von „spaces perform[ing] a ‘music of the spheres’ in light“7 („Räume für eine Sphärenmusik in Form von Licht“). Der begehbare Raum ist geeignet, sich ändernde Himmels- und Lichtverhältnisse unter besonderen Bedingungen zu studieren. Ein Vergleichsfall: Beim 2006 neben dem Museum der Moderne am Salzburger Mönchsberg errichteten Sky Space, von der für Kunst im öffentli­ chen Raum engagierten Salzburg Foundation initiiert und seit 2013 im Besitz der Würth Gruppe, handelt es sich um einen Bau, der aus vor Ort gewon­ nenem Konglomerat errichtet wurde und die Maße 9,20 m x 7,20 m x 8,36 m hat. Darin zu verweilen, verspricht auf ungewohnte Weise die e­ igene, unter­ schiedsbasierte Wahrnehmung von Nuancen und die Erinnerung an ­diese zu schulen. Der Erlebniswert hängt meiner Beobachtung nach nicht unwesent­ lich mit dem zur Verfügung stehenden Konzentrationsvermögen zusammen. Nun, die Rhetorik der vorliegenden, raren Reiseberichte über den Roden Crater – wie jene von Peter Weber und von Peter Iden8 – sind auffällig von dem Ringen nach Worten und dabei v.a. vom Ringen nach Superlativen be­ stimmt. Soweit ich sehen kann, rührt die offenkundig überwältigende Wir­ kung von mindestens drei Faktoren her: (1) von den architektonischen Di­ mensionen dieser – nur nach beschwerlicher Anreise auf langen Sandstraßen – erreichbaren Anlage, (2) den spektakulären Lichtskulpturen und nicht zu­ letzt (3) Turrells erstaunlich konsequentem Festhalten an seinen Plänen allen Hindernissen zum Trotz. Schlussendlich soll der Roden Crater auf einer Fläche von mehr als ca. 4,8 km2 aus sechs begehbaren Tunneln und 21 Aussichtsplät­ zen bestehen. Deren Ausrichtung und Gestaltung ist maßgeblich von Turrells Langzeitstudien über Himmels- und Lichtphänomene bestimmt. Eben diesen Studien zu sich allmählich verändernden Wahrnehmungsver­ hältnissen verdankt sich weiters Turrells Entscheidung, dass der Roden Crater nur gehend zu erkunden sein wird. Die alles andere als ökonomische Entscheidung, die tägliche Besucherzahl auf 8 bis 16 Personen zu beschränken und ohne musea­ le Gestaltungskonventionen wie Beschriftungen oder Erklärungen durch Guides auszukommen, erklärt der 2016 73-jährige kurz und bündig: „Ich möchte keine Geselligkeiten hier. Ich möchte, dass jeder hier den Raum entdecken kann.“9 7 James Turrell, zit. nach http://rodencrater.com/celestial-events/. 8 Vgl. u.a. Peter Iden, Rede für James Turrell (2006), online: http://salzburgfoundation.at/ kunstprojekt-salzburg/james-turrell-2006/rede-fuer-james-turrell-salzburg-3-dezem­ ber-2006 /, oder Peter Weber, Sky People. Ein Reisebericht (2009). In: Kunstmuseum Wolfsburg (Anm. 3), 18–51. Vgl. zudem die Fernsehdokumentation Ralf Breier, Claudia Kuhland, Himmelsräume / Magicien de la lumière, WDR-ARTE 2001. 9 Ebd.

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Assoziationen zu archaischen Kultstätten wie den Pyramiden werden von Turrell nicht beargwöhnt, interessieren und faszinieren ihn doch einge­ standener Maßen „dimensions beyond us“ („Dimensionen, die über uns hinausgehen“). Doch wird auf eine veränderte Sicht auf diese unend­ lichen Dimensionen wert gelegt: „[…] but it is vital for me to take them away from the vocabulary of religion“ („Das Entscheidende für mich ist jedoch, sie dem Bereich des religiösen Vokabulars zu entreißen“)10. So nimmt es nicht Wunder, dass beim Agnostiker Turrell am ehesten Sym­ pathien für Kontemplationsszenarien des Zen zu erkennen sind. Institu­ tionalisierte Heilslehren stoßen bei ihm auf Skepsis bzw. Desinteresse.11 Die u.a. in den Sky Spaces geschaffenen Wahrnehmungssituationen wer­ den von ihm denn auch mit den Sentenzen eines Koans verglichen. Eine entsprechende Eigenleistung in Form von Fokussierung und Offenheit gegenüber Mehrdeutigkeit vorausgesetzt, lassen sich auf erhabene W ­ eise differente Realitätsformen in Form teilweise konkurrierender Lesar­ ten bzw. Sichtweisen erfahren.12 Vor eben diesem Hintergrund erarbeitet Turrell auch seine in Ausstellungen zu beobachtenden bzw. zu begehen­ den Lichtinstallationen, mit kunstvoll variierten, hochgradig irritieren­ den und die visuelle Vorstellungskraft aktivierenden Ganzfeld-Effekten13. Turrells Licht- und Fokussierungsstudien stehen in einem geschichtlichen Kontext mit z.B. Andy Warhols Langzeit-Filmen, darunter dem mehr als achtstündigen – genau: 8 Stunden, 6 Minuten und 11 Sekunden dauernden – Film Empire (USA 1964), in dem mit nur einer (unveränderten) Kamera­ einstellung derselbe obere Teil des bis 1972 höchsten Gebäudes der Welt, des in der New Yorker Fifth Avenue gebauten Empire State Buildings (1930/31), 10 James Turrell in conversation with Oliver Wick, in: James Turrell. Long Green, Zürich 1990, 123. 11 Vgl. Brüderlin, Anm. 3, 145. 12 James Turrell: „In meiner Arbeit wird deutlich, dass der Akt der Beobachtung Farben und Raum erzeugen kann. Aber es ist nie ‚nur‘ ein Eindruck, den man erhält, die Augen er­ leben das Licht tatsächlich in seiner körperlichen Präsenz, und es ist auch präsent.“ Ich verdanke die Kenntnis dieses Zitats Nina Zschoke, Der irritierte Blick: Kunstrezeption und Aufmerksamkeit, Paderborn-München 2006, 153. Vgl. in diesem Zusammenhang Frances Richard, James Turrell und das unmittelbar Erhabene. In: Tracey Bashkoff (Hg.), Über das Erhabene. Mark Rothko, Yves Klein, James Turrell, Berlin 2001, 85–105. 13 Die in den 1930er Jahren von Wolfgang Metzer entdeckten halluzinatorischen Wirkun­ gen von monochromen, konturarmen Farbflächen werden u.a. thematisiert bei John Gei­ ger, The Third Man Factor. Toronto 2009.

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zu sehen ist, und zwar bei allmählich wechselnden Lichtverhältnissen einer Nacht (25. Juni 1964, 20:06 Uhr, bis 26. Juni 1964, 02:42 Uhr).14

1.2 Etudes Australes Keine Partitur wie viele andere: Die Freeman Etudes (1977–1980, 1989/90) ein­ studieren zu wollen, heißt sich einem ganzen Bündel aufführungspraktischer Herausforderungen gegenüber zu sehen. Ein Eintrag in den vorangestellten „Notes“ wiegt besonders: Hinsichtlich der – in der Partitur oder in verbalen Kommentaren nirgendwo numerisch angezeigten – Temponahme vermerk­ te John Cage (1912–1992), es gehe um jenes Höchstmaß, wie es des bzw. der Ausführenden „Virtuosität erlaubt“ („virtuosity permits“15). Der Geiger Paul Zukofsky (*1943) hatte Cage animiert, dieses Solowerk für Violine zu kreieren. Zukofsky sah sich 1981 zunächst angesichts bestimmter Passagen außerstande, die in dieser extremen Form neuartigen Schwierigkeitshürden zu nehmen: Er hielt den letzten der bis dahin vorgelegenen 17 Abschnitte der Freeman Etudes für schlechterdings unspielbar.16 Cage setzte die kompositorische Arbeit an dieser Sammlung 1989 fort, nachdem im Jahr zuvor der britische AusnahmeGeiger und Primarius des nach ihm benannten Streichquartetts, Irvine Ardit­ ti (*1953), dazu ansetzte, Zukofskys Annahme zu widerlegen – und nicht nur dies: Er deutete Cages Rede von „virtuosity permits“ als Auftrag, den bisherigen Horizont agogischer Machbarkeit sukzessive zu überschreiten. Arditti trug im Rahmen eines Konzertes in Zürich am 29. Juni 1991 als erster die komplet­ ten Freeman Etudes vor, auch legte er kurze Zeit darauf eine Gesamteinspielung vor.17 Cage, der mindestens zweimal bei Konzerten anwesend war, in welchen Arditti die Freeman Etudes spielte, zeigte sich überrascht, zog der Brite doch das 14 Ein 60-minütiges Extrakt dieses Filmes findet sich in der DVD Andy Warhol. Silent movies, Rom 2004. Der vollständige Film, in allerdings mangelhafter Qualität, ist auf You­ tube anzusehen (https://www.youtube.com/watch?v=-w5ogGru8qg). Eben dort ist der Vergleich mit einer modernen Variation desselben Motivs in Form des bedeutend kürze­ ren, von Eli Obus realisierten Films EMPIRE II - The Empire Strikes Back – Andy Warhol Sequel (https://www.youtube.com/watch?v=Elyy280mSro) möglich. 15 John Cage, Note [=Vorwort]. In: ders. FREEMAN ETUDES for violin solo I–XVI. For Betty Freeman. Edited with Paul Zukofsky. New York City 1977–1980 (Henmar Press 66813 a/b/c/d), New York 1981, [1]. 16 Vgl. Rob Haskins, John Cage, London 2012, 149. 17 Vgl. Irvine Arditti, [CD] Freeman Etudes. Books One and Two, mode 32 (vö. 1993), sowie Freeman Etudes. Books Three and Four, mode 37 (vö. 1994).

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Tempo von Mal zu Mal an, ohne an Präzision einzubüßen. Der Geigenvirtuo­ se wurde damit einmal mehr seinem von The Telegraph verliehenen Titel eines „extreme violinist“18 gerecht. Cages allem Anschein nach von Verwunderung gekennzeichnete Frage, warum er die 32 Freeman Etudes mittlerweile derart ra­ sant spielte, beantwortete Arditti mit Hinweis auf Cages eigene Worte.19 Wie nachhaltig Cage dieses unablässige Engagement beeindruckte, ist am Umstand abzulesen, dass die Episode Eingang in sein spätes Autobiographical Statement fand (dieses entstand als Dank für die 1989 erfolgte Verleihung des Kyoto Prize): „Early last summer (‚88) Irvine Arditti played the first sixteen in fiftysix minutes and then late in November the same pieces in for­ tysix minutes. I asked why he played so fast. He said, ‘That‘s what you say in the preface: play as fast as possible.’ As a result I now know how to finish the Freeman Etudes, a work that I hope to ac­ complish this year or next. Where there are too many notes I will write the direction, „Play as many as possible.“a)

„Letztes Jahr im Frühsommer (’88) spielte Irvine Arditti die ersten sechzehn in 56 Minuten, und Ende Novem­ ber spielte er dieselben Stücke in 46 Minuten. Ich fragte ihn, warum er so schnell spielte. Da sagte er: ‚Das sagst du doch im Vorwort: so schnell wie möglich zu spielen.‘ Daher weiß ich jetzt, wie die Freeman Etudes zu beenden sind, ein Werk, mit dem ich in diesem oder im nächsten Jahr zu Rande zu kommen hoffe. Wo zu viele Noten ste­ hen, werde ich die Anweisung hinschreiben: Spielen Sie so viele wie möglich.“b)

a) John Cage, Autobiographical Statement (1990). In: http://johncage. org/beta/autobiographical_statement.html (download 5. 9. 2016)

b) John Cage, Autobiographischer Abriss (1990). In: ­Marie Lu­ ise Kott, Walter Zimmermann (Hg.), Empty Mind (Biblio­ thek Suhrkamp 1472), Berlin 2012, 18.

Besonders die letzte Aussage könnte aufs erste Hinhören kompromisshei­ schend, vielleicht sogar unernst erscheinen. Die Freeman Etudes demzufolge als musica curiosa zu rubrizieren oder gar Fahrlässigkeit zu unterstellen, hie­ ße freilich, ihre Entstehungsgeschichte und ihr ästhetisches bzw. sozialpoli­ tisches Potential zu übersehen. James Pritchett, der an der Fertigstellung der Freeman Etudes maßgeblichen Anteil hatte, dokumentierte in einem 1994 ver­ öffentlichten Text20, wie bedacht Cage vorging: An der zunächst getroffenen formalen Entscheidung, 32 Abschnitte aus jeweils zwei Seiten à sechs gleich langen Systemen zu komponieren, hielt der Amerikaner konsequent fest. ­ 18 Ivan Hewett, Irvine Arditti: extreme violinist. In: The Telegraph, 16. 11. 2012, online: http:// www.telegraph.co.uk/culture/music/classicalmusic/9684162/Irvine-Arditti-extreme-vio­ linist.html (download 8.9. 2016). 19 Vgl. Irvine Arditti, Persönliche Erinnerungen an John Cage. In: Berno Odo Polzer / Tho­ mas Schäfer (Hg.), [Programmbuch] Wien Modern 2004, Saarbrücken 2004, 102/103; auch online verfügbar: http://wienmodern.at/Portals/0/Galerie/Cage_John/Katalog% 202004_Irvine%20Arditti,%20Pers%C3%B6nliche%20Erinnerungen%20an%20 John%20Cage%20(c)%20Wien%20Modern.pdf. 20 Vgl. zur Entstehungsgeschichte James Pritchett, The Completion of John Cage’s Freeman Etudes. In: Perspectives of New Music 32 (1994), 2, 264 –270.

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Die präzise ausnotierte Klangfolge jeder der 32 Freeman Etudes fußt auf pe­ nibel von jenen 32 Sternenkarten abgepausten Figurationen, die der tschechi­ sche Astronom Antonín Bečvár 1964 als farbigen Himmelsatlas Atlas Australis 1950.0 21 edierte; in der Auswahl und in der Feingestaltung der Klangereig­ nisse kamen wie so oft bei Cage I Ching-gelenkte Entscheidungsprozeduren zur Geltung, ohne gänzlich auf individuelles Ermessen zu verzichten. Ergebnis dieses Balanceaktes zwischen Akzeptanz von Gegebenem und künstlerischer Modellierung sind Partiturbilder hoher und höchster spieltechnischer Kom­ plexitätsgrade. Dabei lag Cage nichts am Eindruck faktischer Unspielbarkeit; vielmehr ging es ihm darum, mit künstlerischen Mitteln Anreize zu schaffen, Alternativen zu diesem frustrierenden, in gewisser Weise trostlosen Eindruck zu entwickeln: Ziel sollte der schrittweise Prozess hin zur Überwindung der vielfach exorbitanten Hürden sein. In diesem Sinn äußerte sich Cage u.a. im 1990 entstandenen Autobiographical Statement, und zwar entsprechend seinem seit frühen Lebensphasen erkennbaren Erfindergeist. Dieser Erfindergeist ziel­ te nicht nur darauf, neue, bislang ungehörte Klänge zutage zu fördern. Ent­ gegen Unabhängigkeit oder gar Selbstgenügsamkeit suggerierenden l’art pour l’art- bzw. ars gratia artis-Prämissen22 in der Nachfolge Théophile Gautiers und Charles Baudelaires votierte Cage vielmehr für die unablässige Suche nach ge­ sellschaftspolitischen Lösungen anstatt vor sogenannten unlösbaren Problemen zu kapitulieren. Seine über Jahrzehnte kultivierte Sympathie galt Strategien, angesichts pessimistischer Prognosen in verschiedenen Lebensbereichen nicht in Untätigkeit oder Resignation zu versteinern: „I wanted to make the music as difficult as possible so that a performance would show that the impossible is not impossible“23 („Ich wollte die Musik so schwierig wie möglich gestalten, sodass eine Aufführung zeigen konnte, dass das Unmögliche nicht unmöglich ist“). Und 1982 im Gespräch mit Tom Darter ausführlicher die politischen Implika­ tionen erläuternd: 21 Prag: Nakladatelství Československé Akademie věd 1964. Cage rekurrierte bereits in Atlas Eclipticalis (1960/61) auf eine Edition von Bečvár. 22 Vgl. Wolfgang Ullrich, L’art pour l’art. Die Verführungskraft eines ästhetischen Rigorismus. In: ders., Was war Kunst? Biographien eines Begriffs, Frankfurt am Main 2005, 124–143. Ullrich erinnert darin (S. 140) u.a. an Ad Reinhardts Dictum „Kunst […] ist nicht zu irgend etwas anderem praktisch, nützlich, verwandt, anwendbar oder nützlich“. Diese These stammt aus Reinhardts Text Twelve rules for a new academy (1957), dt. Zwölf Regeln für eine Akademie. In: Th. Kellein (Hg.), Ad Reinhardt. Schriften und Gespräche, München 1988, 54; engl. in: Barbara Rose (Hg.), Art-as-Art. The Selected writings of Ad Reinhart, New York 1975, 204. 23 John Cage, Autobiographical Statement (1990), in: http://johncage.org/beta/autobio­ graphical_statement.html (download 5. 9. 2016)

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I had begun to take an interest in the writing of difficult music, namely etudes, because of the world system, which to many of us seems hopeless. I thought if there was a musician who gave the public an example, if he did the impossible, that he would induce somebody who had been impressed by this performance to change the world.24 (Ich begann mich für das Schreiben schwieriger Musik, genauer: Etüden, zu interessieren, und zwar angesichts einer Weltlage, die von zunehmend mehr Menschen als hoffnungslos empfunden wird. Ein Musiker sollte der Öffentlichkeit ein Beispiel geben; indem er das Unmögliche tun würde, könnte er andere durch diese Aufführung anregen, die Welt zu ändern.)

Mit demselben Plädoyer für eine Kunst außerhalb der seit 1835 sprichwört­ lichen Tour d’ivoire (Elfenbeinturm)25 und derselben Vorlage, Bečvár Atlas Australis 1950.0 korrespondieren zwei verwandte Arbeiten Cages: die Etudes Australes für Klavier (1974/75) sowie die bedeutend kürzeren Etudes boréales für Klavier bzw. Violoncello (1978). Die Aufführungsgeschichte der Etudes Australes vermag zu veranschaulichen, welches Potential konkret frei­ gesetzt werden kann: Als Widmungsträgerin war die aus Berlin gebürtige Pianistin Grete Sultan (1906–2005) bereits ca. 70 Jahre alt, als sie das Stu­ dium der Etudes Australes aufnahm. Cage und Sultan schätzten einander seit Kriegsende, 16 Stücke aus der 88-teiligen Music for Piano (1956) wurden ihr damals gewidmet. In beachtlicher Anstrengung erarbeitete sich Sultan nach 1975 die eben fertig gestellte Partitur der Etudes Australes. Dies hieß u.a. mit jeder ihrer zwei Hände zwei – also insgesamt vier – Notensysteme synchron zu lesen und zu spielen; hinzu kommt die Vorgabe, Stimmkreuzungen nicht konventionell zu realisieren und Entscheidungen zur dynamischen Gestal­ tung und zum Grundtempo jedes der 32 Stücke zu treffen.26 Es lohnt, ver­ schiedene Versionen vom Beginn von Nr. VII hörend zu vergleichen, z.B. jene von Grete Sultan, aufgenommen 1982 in den New Yorker Vanguard Recording Studios (5‘36‘‘), oder jene 2001 vom 54 Jahre jüngeren Steffen 24 Hier zitiert nach Barrett Watten, Questions of Poetics: Language Writing and Consequences, Iowa City 2016, 183. Tom Darter, John Cage. In: Keyboard 1982.9, S. 23–29. 25 Die heute meist abschätzige Rede vom Elfenbeinturm geht auf biblische Formulierungen (u.a. Hohelied 7,5) zurück und findet sich in einer frühen Quelle bei Charles Augustin de Sainte-Beuve, Réception de M. le Compte Alfred de Vigny [1835]. In: Maxime Leroy (Hg.), Œuvres. Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1960, Bd. 2, 872. 26 Vgl. Näheres hierzu bei Marino Formenti, Wolfgang Gratzer, Musikalische Paradoxien. Über „Nowhere“ und das Spielen unspielbarer Musik. In: Wolfgang Gratzer, Otto Neumaier (Hg.), Der Gordische Knoten. Lösungsszenarien in Wissenschaft und Kunst (Schnittstellen. Wissenschaft und Kunst im Dialog 3), München 2014, 161–163.

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Schleiermacher (*1960) im Festspielhaus Fürstliche Reitbahn im Hessischen Bad Arolsen gespielte Version. Dass Schleiermacher in diesem Fall ein lang­ sameres Tempo als Sultan bevorzugt hat, entspricht seiner Zielsetzung, die höchst unterschiedlichen Dichtegrade dieser Musik 27 besser hörbar zu machen. Nicht nur das abgebildete Teleskop im Booklet von Schleiermachers CD lässt daran denken, Turrells Roden Crater mit Cages Etudes Australes zu verglei­ chen. Da wie dort kommt es zur Einladung, die eigene optische bzw. akustische Wahrnehmung auf den Himmel bzw. das Universum zu richten; da wie dort wird angeregt, diesen Wahrnehmungsvorgang über längere Zeit gewähren zu lassen und sich damit auf die respektgebietenden Dimensionen astronomischer Unendlichkeit an den „Grenzen des Denkens“ einzulassen. Angelegt sind da­ mit mindestens zwei Erfahrungen: zunächst die Einsicht in die Beschränktheit bzw. Unvollständigkeit solcher Wahrnehmung und sodann die Chance, sich der Gestaltbarkeit der eigenen Wahrnehmungsmodi bewusst(er) zu werden. Die von Turrell eröffneten Himmelsbilder lassen sich wie Cages Etudes Australes schlechterdings nur selektiv erfassen, was das Bedürfnis nach wiederhol­ ter, langfristiger Fortsetzung der Beschäftigung mit dieser paradoxerweise ge­ nauso einfachen wie komplexen Wahrnehmungssituation zu fördern vermag.

2. Stimuli „Unendlichkeit [Kursiv-Setzung im Original] ist eine Pathosformel von zwei­ felhafter Dignität. Erst die Theologie hat daraus ein göttliches Attribut der un­ eingeschränkten Größe und Vollkommenheit gemacht.“28 Säkularisatorische Skepsis gegenüber der Behauptung aktualer Unendlichkeit, hier von Hans Blumenberg in eine bündige Formulierung gegossen, hat in der Ideengeschichte des Unendlichen speziell seit der Aufklärung an Bedeutung gewonnen. Indes, so wäre einzuwenden, reicht die Geschichte dieser „Pathosformel“ weit hinter die philosophische bzw. theologische Begründung der Metaphysik zurück. Zu bedenken wären jene mindestens ins dritte Jahrtausend v. Chr. datierbaren 27 Vgl. eine diesbezügliche Bemerkung von Schleiermacher in: [Titelloser Einführungstext]. In: [3-CD-Set] Steffen Schleiermacher, Etudes Australes (John Cage. Complete Piano Mu­ sic 9), 21. 28 Hans Blumenberg, Erinnerung an das verlorene Ich. In: ders., Ein mögliches Selbstverständnis, Stuttgart 1996, [41].

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Zeugnisse einer Mythologie, die mit künstlerischen Mitteln erzählender, mu­ sikalischer und bildnerischer Darstellung Vermittlung fand. Die Vorstellung von Dimensionen jenseits zumindest annähernd vollständig imaginierbarer oder gar erfahrbarer Maße ist, soweit überliefert, in Schöpfungsmythen nahezu aller Kulturräume anzutreffen. Das sogenannte Gilgamesch-Epos, den Textwis­ senschaften zufolge ab dem 3. Jahrtausend im sumerisch-babylonischen Raum entstanden29, handelt im Kern vom Traum des König Uruk, zeitlich unbe­ grenzt zu leben, kurzum: Unsterblichkeit zu erlangen. Uta-napišti [udnapisch­ di], der dieses Ziel dank eines Wunderkrautes erreicht hat, gilt ihm als Vor­ bild. Dieses Motiv erst mithilfe sozusagen richtiger Ernährung bewerkstelligter Unendlichkeit sollte im altgriechischen Götterhimmel wiederkehren, nunmehr hießen die ewigkeitsgarantierenden Lebenselixiere Nektar und Ambrosia. Die Haupteigenschaft letzterer ist übrigens etymologisch eingeschrieben: altgr. ἄμβροτος (am-brotos), heißt übersetzt „un-sterblich“ und ist verwandt mit dem Sanskrit-Begriff अम त ृ (amrta), einer Unsterblichkeit garantierenden Speise, wie diese ähnlich u.a. im altindischen महाभारत (Mahabharata)-Epos (verschriftlicht ab ca. 400 v. Chr.) vorgestellt wird.30 Und ohne hier alle Stati­ onen dieses Motivs – aus der Sicht seiner Verfechter Wahrheit oder zumindest adäquates Symbol, aus der Sicht seiner Kritiker naive Illusion – aufrufen zu können: Das Ende dieser allmählich voranschreitenden Entwicklungsgeschich­ te erscheint mit der Aufklärung nicht erreicht, wohl aber von Zeit zu Zeit mit neuen Vorzeichen versehen, wie aktuell das Beispiel des wiederholt für Schlag­ zeilen sorgenden, im Jahr 2000 in Cambridge promovierten Bioinformatikers und Entwicklungsbiologen Aubtey de Grey zeigt: Seine Überzeugung, dass es möglich sein müsste, Alterungsprozesse nicht nur zu verlangsamen, sondern so­ gar zum Stoppen zu bringen31, zog allen Unkenrufen zum Trotz 2009 die Grün­ dung jener SENS-Foundation nach sich, die sich auf „Strategien zur Bekämpfung des Alterns“ („Strategies for Engineered Negligible Senescence“ = SENS) kapriziert. In der Überzeugung, dass diese Elixiere nur göttlichen Wesen zur Ver­ fügung stehen würden, unterschied Homer folgerichtig zwischen „sterbli­ chen Menschen“ und „unsterblichen Göttern“. Letztere waren seinen Epen 29 Vgl. Andrew R. George, The Babylonian Gilgamesh Epic. Introduction, Critical Edition and Cuneiform Texts. 2 Bde., London 2003. 30 Vgl. den diesbezüglichen Hinweis bei Jan Gonda, Die Religionen Indiens I, Veda und älterer Hinduismus (Die Religionen der Menschheit 11), 2. Aufl., Stuttgart 1978, 64. Aus: http:// anthrowiki.at/Amrita. 31 Vgl. Aubrey De Grey, Michael Rae, Niemals alt! So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung, Bielefeld 2010.

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zufolge in der Lage, angesichts der Schlauheit des eifersüchtigen Hephais­ tos, seine Frau und deren Geliebten im mit Blitzen eingezäunten Ehebett festzuhalten, ein ἄσβεστος γέλως ( ásbestos gélōs ) = „unauslöschliches Ge­ lächter“ (Illias I, 599 / Odyssee VIII, 326) anzustimmen. In der Bildenden Kunst wurde dieses Motiv mehrfach aufgegriffen. Die so gesehen archai­ sche Vorstellung einer Allianz zwischen unendlichem Leben bzw. unend­ lich fortgesetzten Handlungen und veritabler Macht über jene, deren Mög­ lichkeiten begrenzt(er) sind, mutierte später zu religiösen Überzeugungen vom unendlich prolongierten bzw. sich ewig wiederholenden Sein Gottes; im jüdisch-christlichen Bereich etwa im alttestamentarischen Buch Da­ niel32 (2. Jh. v.  Chr.) anzutreffen und sodann 381 n.Chr. in einem Doku­ ment des 1. Konzils von Konstantinopel33 als Glaubensgut kanonisiert. Es braucht und kann hier nicht darum gehen, eine Geschichte mythischer, theologischer, philosophischer und naturwissenschaftlicher Vorstellungen von Unendlichkeit zu skizzieren. (Entsprechende Versuche liegen vor.)34 Ich be­ schränke mich in diesem Rahmen auf fünf summarische Beobachtungen: (Beobachtung 1) Mit der Ausprägung einer diskursiver Aushandlung ­wurden Vorstellungen von Unendlichkeit zunehmend zum Gegenstand von Kontro­versen: Die Ansicht des Astronomen, Geographen, Mathematikers, Philosophen, – und übrigens auch Musiktheoretikers – Claudius Ptolemaios (2. Jh. nach Chr.), wonach sich der als „göttlich“ titulierte Sternenhimmel eine „ewig sich gleich bleibende Welt“35 darstelle, ähnelt einer Variante antiker Weltbilder, nicht aber Aristote­ 32 Vgl. Buch Daniel 12,2: „Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwa­ chen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu.“ 33 Vgl. Carl Andresen u.a., Die christliche Lehrentwicklung bis zum Ende des Spätmittelalters, Göttingen 2011, 209. 34 Vgl. u.a. Brian Clegg, A Brief History of Infinity, London 2003, dt. Eine kleine Geschichte der Unendlichkeit, Reinbek bei Hamburg 2015; John D. Barrow, The Infinite Book. A Short Guide to Boundless, Timeless and Endless, London 2005, dt. Einmal Unendlichkeit und zurück. Was wir über das Zeitlose und Endlose wissen, Frankfurt 2006. Argumentativ weit solider als diese populärwissenschaftlichen Darstellungen geriet: Harro Heuser, Unendlichkeiten. Nachrichten aus dem Grand Canyon des Geistes, Wiesbaden 2008; Eli Maor, To Infinity and Beyond. A Cultural History of the Infinite, online 2013. 35 Claudius Ptolemaios, Almagest, Vorwort, hier zitiert nach der deutschen Textausgabe Handbuch der Astronomie, Leipzig 1963, 2 Bände, 3.

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les‘ tiefgreifendem Zweifel, ob solcherart unendlich Erscheinendes als vollen­ det gelten sollte. Gegen Aristoteles musste denn auch der Mathematiker Georg Cantor (1845–1918) antreten, als er im Zuge der Begründung der Mengenleh­ re ab 1874 auch von unendlichen Mengen bzw. transfiniten Zahlen handelte. Cantor schien die von Aristoteles in den Blick genommene, potentielle Unend­ lichkeit, wie diese etwa durch additive Prozesse zustande kommt, nur vor dem Hintergrund aktualer Unendlichkeit sinnvoll denkbar.36 Gründe für die z.T. herbe Ablehnung seiner Thesen dürften nicht zuletzt in Verbalisierungsversu­ chen zu finden sein, die erkennen lassen, dass seine Mengenlehre auch von spi­ rituellen Überlegungen getragen war. So begriff Cantor in der Lesart von Ger­ hard Kowa­lewski das Phänomen transfiniter Zahlen „gewissermaßen als Stu­ fen, die zum Throne der Unendlichkeit, zum Throne Gottes emporführen“37. Es liegen genügend Beispiele für ablehnende, teils spöttische Stimmen zu künstlerischen Projekten vor, die Assoziationen zu Unendlichem för­ dern. Zu nennen wären etwa die frühen Verpackungsarbeiten des Künstler­ paares ­Christo und Jeanne-Claude, darunter deren besonders kontroversi­ ell aufgenommenen Air Packages (1966  –). Das 1968 bei der documenta IV präsentierte 5,600 Cubimeter Package wurde in der deutschen ­Tagespresse harsch der „Kunstperversion“ und in der Fachpresse kaum freundlicher der „Gigantomanie“38 verdächtigt. Mike Steel suchte anlässlich des in Zu­ sammenarbeit mit Studierenden der Minneapolis School of Art realisier­ ten 42,390 Cubic Feet Package 1966) nach Gründen für derlei Antipa­ thie: „It boggles the mind“39 („Das übersteigt jede Vorstellungskraft“).

36 Hier zit. nach Georg Cantor, Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts. Mit erläuternden Anmerkungen sowie mit Ergänzungen aus dem Briefwechsel Cantor – Wedekind [1932], hg. von Ernst Zermelo, Hildesheim 1962, 374. 37 Gerhard Kowalewski, Bestand und Wandel. Meine Lebenserinnerungen, zugleich ein Beitrag zur neueren Geschichte der Mathematik, München 1950, 201. 38 Hans Ludwig Schulte, [Rezension] Ab nach Frankfurt/M.? Generalstaatsanwalt Fritz Bauer will die documenta 8 an den Main holen. In: Hessische Allgemeine (8. Jänner 1965), hier zit. nach Matthias Koddenberg, „Das übersteigt die Vorstellungskraft“. Die Air Packages von Christo und Jeanne-Claude. In: Big Air Package. Christo und Jeanne-Claude Projekte 1961– 2013, Essen 2013, 131. 39 Mike Steele, ‘Wrap-It-Up’. Concept of Art Is a Monument to Nothingness. In: Minneapolis Tribune (28. Oktober 1966), zit. nach Koddenberg (Anm 40), 135.

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(Beobachtung 2) Grenzen – und erst recht: Einflüsse – zwischen künstlerischem und wissen­ schaftlichem Handeln sind nicht immer leicht auszumachen und ei­ ner soliden Argumentation nur in Einzelfällen zugänglich. Wie öfter auf künstlerischem Terrain ist es daher meist geboten, unterschiedsbasiert eher von Parallelen bzw. Ähnlichkeiten zu sprechen als von Einflüssen. Dies mag nicht für jenen Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert gelten, auf welchem Christoph Weigel d. Ältere (1654   –1725) die Worte „Lehre uns doch bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ aus Psalm 90,12 sinnfällig als verschlungenes, scheinbar endloses Schriftband gestaltet hat. Weigel trat damit in eine in verschiedenen Kulturen beobachtbare Tradi­ tion kunstvoll irritierender Endlosknoten ein: Die u.a. im Book of Kells (–800 n.  Chr.) auffindbaren Keltenknoten lassen Vergleiche zum buddhistischen Endlosknoten Shrivatsa zu. Dies gilt auch für die komplex-dekorativen Kno­ tenstrukturen der chinesischen Tang-Dynastie (618– 907 n. Chr.). Ein direkter Zusammenhang zwischen den zuletzt genannten, asiatischen Zeugnissen und Weigels Kupferstich dürfte fraglich bleiben. Ähnliches gilt für die Frage nach Zusammenhängen zwischen der Ideengeschichte des, soweit ich sehen kann, auf den Mathematiker John Wallis (1616–1703) zurückgehenden Unendlich­ keitszeichens (∞) und Henry Nolds Vortexgarten auf der Darmstädter Mathil­ denhöhe, wo Wasserbahnen in etwa diesem Unendlichkeitszeichen folgen und damit die Idee einer auf Regeneration zielenden Permakultur repräsentieren. Und noch ein Beispiel: Einiges spricht dafür, dass die Herausbildung von Kanon-Musik u. a. auf die biblischen Vorstellung eines Alleluia perenne, also einer nie endenden Engelsmusik, zurückgeht;40 doch wäre es vermessen, einen monokausalen Zusammenhang zu behaupten, reicht doch die Vorgeschichte sogenannter Circle Songs, wie sie heute der Jazzvokalist Bobby McFerrin mit seinem Konzertpublikum praktiziert41, vielleicht bis in die Urzeiten zurück. Der älteste, in der British Library (MS Harley 978, f. 11v) erhaltene Kanon, Sumer is icumen in wurde in der Mitte des 13. Jahrhunderts notiert, dürfte aber etliche Vorläufer haben.

40 Vgl. Andreas Jaschinski, Michael Walter, Engelsmusik – Teufelsmusik. In: MGG http:// www.mgg-online.com/probeartikel/engelsmusik_teufelsmusik.pdf. Als testamentarische Belegstellen können u.a. Hiob 38,4 /7 und Math 24,31 dienen. 41 Bobby McFerrin, [CD] circlesongs (aufg. 1996) Sony 1997.

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(Beobachtung 3) Die große Zahl künstlerischer Handlungen, deren Ergebnisse als Ausein­ andersetzung mit Unendlichkeitsannahmen deutbar sind, lässt auf ein epo­ chenübergreifendes, vielleicht sogar existenzielles Bedürfnis schließen, das von kritischen Einwänden nicht zurückgedrängt wurde. Origenes (185–254 n.Chr.) beispielsweise, der die Annahme sukzessive neuer, jeweils von Gott als endliche Einheiten geschaffenen Welten teilte, schätzte in seiner Schrift De Pricipiis (–212–215 n.Chr.) Unendliches als der menschlichen Vorstellung grundsätzlich unzugänglich ein.42 Solche Einwände bedeuteten auf künstle­ rischem Feld alles andere denn Schlusspunkte. Als ob es (auch) darum ginge, sich – mehr oder weniger kenntnisreich bzw. reflektiert – von der disparaten Erkenntnislage stimulieren zu lassen bzw. zur weiteren Auseinandersetzung anzuregen, finden sich auch und gerade seit der Aufklärung zahlreiche ein­ schlägige Beispiele, darunter Il Palazzo Enciclopedico del Mondo des Italieners Marino Auritis (1891–1980). Auriti hatte die Pläne für dieses Opus Magnum vermutlich ab den 1950er Jahren bis zum Lebensende entwickelt: Es ging um die an einem Ort zu erlebende Präsentation von nicht weniger als allem relevanten Wissen der Menschheit in einem erst zu errichtenden, monumen­ talen Gebäudekomplex in Washington D.C. Hierfür entstanden unzählige Skizzen. Auf einem Foto aus dem Sommer 1960 posiert Auriti rechts vor je­ nem Modell, das seit 2002 vom New Yorker American Folk Museum prä­ sentiert wurde und 2013 in der Eingangshalle der Biennale gezeigt wurde. Zu sehen ist ein 136 Geschoße aufragender, kegelförmigen Bau, umgeben von einem quadratisch angelegten Häuserensemble. Und scheiterte die Reali­ sierung dieses Baus, so wurde am 27. November 1956 immerhin Auritis An­ trag auf Patentierung erfüllt: eine Premiere in der Kunst- bzw. Architekturge­ schichte, zugleich ein Indiz dafür, wie ernst es Auriti um die Realisierung war. Dieses scheint in der Folgezeit nur wenigen bekannt gewesen zu sein; und dies bis zur 55. Biennale di Venezia 2013, als der Kurator, Massimiliano Gioni, Il Palazzo Enciclopedico del Mondo als öffentlichkeitswirksamen Impuls für die eingeladenen Biennale-Künstler/innen wählte. Auritis Absicht, alles Wissen an einem Ort versammeln zu wollen und also das Unendliche zu bändigen, wurde durch die bei der Biennale präsentierten Werke einmal als visionär, dann wieder als naiv-illusorisch thematisiert. Zuweilen wurde Auritis Frag­ 42 Origenes, De Principiis II, 9, 1, hier zit. nach der Ausgabe Herwig Görgemanns, Heinrich Karpp (Hg.), Origenes. Vier Bücher von den Prinzipien (Texte zur Forschung 24). Darm­ stadt 1976, 401 bzw. 809.

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ment gebliebenes Hauptwerk, eines der wohl sonderbarsten Projekte in der In­ stitutionsgeschichte der Präsentationsgattung ‚Museum‘, als Zeugnis grotesk verstiegenen Größenwahnsinns gedeutet. Nur eine künstlerische Stimme war meinem Vernehmen nach nicht zu hören: jene, die Auritis Projekt Glauben schenkte und also anhing. Offenbar stand außer Zweifel, dass das von Auriti als erreichbar angenommene recht eigentlich unerreichbar war.

(Beobachtung 4) Unendlichkeit erscheint in künstlerischen Zusammenhängen keinesfalls im­ mer als positiv konnotiertes Faszinosum. Nicht zu vergessen sind demnach Fälle, wo jener horror infiniti Thematisierung erfährt, der etwa in religiösen Kontexten in Form beängstigender Vorstellungen nicht enden wollender, qualvoller Höllenszenarien zutage tritt. Das für manche zum Ort sogenannter ewiger Verdammnis gewordene, trichterförmige „Inferno“ in Dante Alighieris Divina Commedia (~1307– ~1321) ist hierfür nur das prominenteste, zudem besonders detailreich ausgestaltete literarische Beispiel. Die literarischen, bild­ nerischen, musikalischen, filmischen und neuerdings computerspielerischen Folgeerscheinungen43 auch nur kursorisch zu thematisieren, muss an ande­ rer Stelle geschehen. Jedenfalls vermittelt bereits ein flüchtiger Blick auf die langen Werklisten einen Eindruck, wie sehr jener mit gemischten Gefühlen wahrgenommene horror infiniti künstlerisch zu beschäftigen wusste. Fried­ rich Nietzsches wenig schmackhaftes Bonmot Nr. 124 aus dem dritten Buch der Aphorismus-Sammlung Fröhliche Wissenschaft (erstvö. 1882), wonach „es nichts Furchtbareres gibt als Unendlichkeit“ 44, verdiente u.a. im Zusammen­ hang mit der These diskutiert zu werden, dass künstlerisches Handeln im Falle der Darstellung von höllischen Szenarien neben belehrenden auch der verarbeitenden und in gewisser Weise der Resilienz förderliche Funktionen zu übernehmen vermag. 43 Eine heterogene Auswahl: Als ein literarisches Beispiel wäre Dan Browns Thriller Inferno (2013) zu nennen, als bildnerisches Beispiel kommt u.a. Auguste Rodins erst posthum fer­ tiggestelltes Bronzeprotal La porte de l’enfer (–1880–1926) in Frage, aus dem Bereich der Musik Eine Symphonie zu Dantes „Divina Commedia“ (UA 1854) von Franz Liszt, von den existierenden Inferno-Filmen ist u.a. an Dantes Inferno: An Animated Epic (2010) zu den­ ken. Seit 2010 ist zudem das Computerspiel Dante’s Inferno (Electronic Arts) am Markt. 44 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke – Kritische Studienausgabe Bd. 3 (Fröhliche Wissenschaft), München 1980, 480].

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Eine andere Form von horror infiniti liegt in Phänomenen der nicht ­ohne weiteres aktiv beendbaren, dauerhaft-monotonen Aktivierung einzelner Sinne begrün­ det. Diese belastende, weil beispielsweise konzentrations- und schlafraubende Aktivität kann, wie im Falle von Verkehrs-Lärm, extern bedingt sein oder aber auch ohne externen Schallreiz zustande kommen: Tinnitus, ein Sammelbegriff für verschiedene Formen von durch z.B. Bluthochdruck oder einen Gehörsturz bedingten akustische Halluzinationsphänomenen, gilt heute als veritable Zivili­ sationskrankheit, hat aber laut Uwe C. Steiners 2013 veröffentlichter Kulturge­ schichte des Tinnitus bereits in den frühen Hochkulturen Probleme gemacht.45 Und vielleicht rührt die erwähnte homerische Rede vom „unauslöschlichen Gelächter“ der griechischen Gottheiten ein Stück weit von eben solchen beein­ trächtigenden Erfahrungen her. Jedenfalls fällt unabhängig von Tinnitus-Phä­ nomenen auf, wie unterschiedlich Geräusche und Lautstärke wahrgenommen werden können. Wohl einem auch bedrohlich wirkenden Aufführungserlebnis verdankte sich eine am 25. November 1900 im Illustrierten Wiener Extra­ blatt erschienene Karikatur mit der nüchtern formulierten Textzeile „Gustav Mahler dirigiert seine Symphonie Nr. 1 in D-Dur“: Eine Rezeption, die heu­ te schwerlich denkbar wäre, zumal längst Musik existiert, deren Aufführung ganz andere Lautstärkepegel zu erreichen trachtet als Gustav Mahlers 1. Sinfonie D-Dur (~1984–1888, rev. 1893 –1906). Dror Feilers (*1951) überbordend laute, immer wieder zu Protesten Anlass gebende Kompositionen sind nur ein Beispiel für solcherart Grenzen überschreitender Noise Music. Feilers kon­ frontative sozialkritische bzw. politische Beweggründe46 bleiben dabei nicht selten überhört.

(Beobachtung 5) Die meisten der bisher genannten Beispiele künstlerischer Thematisierung von sogenannter Unendlichkeit sind von jenen, die sich damit auseinander setzen, zumindest soweit erfahrbar, dass ein einigermaßen guter Eindruck gewonnen werden kann, selbst wenn sich nicht alle gestalterischen Facetten erschließen. Kategorisch anders verhält es sich in jenen Fällen, deren Entstehungszeit die 45 Vgl. Uwe C. Steiner, Ohrenrausch und Götterhimmel. Eine Kulturgeschichte des Tinnitus, München 2012. 46 Vgl. u.a. Feilers Statement „about my music and noise” (1988), online: http://www.toch­ nit-aleph.com/drorfeiler/aboutmymusic.html. (Download 28.9. 2016).

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biologische Grenze eines Menschenlebens überschreitet. Solche Beispiele sind zunächst aus der Architekturgeschichte bekannt: Für die bauliche Fertigstel­ lung der Vatikanischen Basilika (1506–1626) wurden 120 Jahre benötigt, für die Collegiate Church of St Peter, Westminster (1245–1519) bereits 274 Jahre, für die Hohe Domkirche St. Petrus, genannt Kölner Dom (1248–1880) gar 632 Jahre. Und mag auch manchen die Bauzeit des Flughafens Berlin Bran­ denburg „Willy Brandt“ seit dem Spatenstich 2006 endlos erscheinen: Diese Baustelle wird wohl eher als beendet gelten können denn jene der 1882 begon­ nenen und nach aktuellen Ambitionen bis zum 100. Todestag von Antonio Gaudí im Jahr 2026 fertiggestellten Basílica i Temple Expiatori de la Sagrada Família. Bei den Kirchenbauten in Köln oder Barcelona waren ungeschriebe­ ne Generationenverträge über weit mehr als die üblichen zwei Generationen vonnöten, um eine Realisierung der ursprünglichen Pläne zu bewerkstelligen. Nicht nur von solchen sozialen Konstanz-Phänomenen inspiriert scheint jenes musikalische Projekt, das seit 2001 von sich reden macht, zumal das Ende der Aufführung erst im Jahr 2640 vorgesehen ist. Gemeint ist eine Initiative, in der Burchardikirche in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) Organ2 / As Slow As possible von John Cage zu realisieren. Die Aufführung der 1985 für den Kon­ zertsaal erdachten Komposition dauert in Halberstadt geplante 639 Jahre. Die Teilhabe am Klanggeschehen ist demnach beabsichtigter Weise nur höchst fragmentarisch möglich; der nächste, bis dahin 15. Klangwechsel ist für den 5. September 2020 angekündigt. Cage konnte diese installative Langzeitver­ sion, die neun Jahre nach seinem Tod begonnen wurde, nicht initiieren, wäre aber vermutlich einverstanden gewesen, hatte er doch selber mehrfach unge­ wohnt lange Performances gestaltet: Ein markantes Datum ist in dieser Hin­ sicht der 9. September 1963, zumal Cage an diesem Tag daran ging, im New Yorker Pocket Theatre, mit anderen das unscheinbar auf einer Seite notierte Klavierstück Vexations (1893) von Erik Satie zur Aufführung zu bringen. Die Aufführung dauerte letztlich ca. 18 Stunden, was damit zu tun hat, dass Satie aufforderte, das Stück in einem fort 840 Mal zu spielen – kein Jux und keine Tollerei, sondern ein Beispiel von mehreren für seine parodistische WagnerKritik. (Eine entsprechende Temponahme vorausgesetzt, nehmen die vier Abende von Wagners Ring des Nibelungen zusammen in etwa so viel Lebens­ zeit in Anspruch wie manche Aufführungen von Vexations.) Wagners Konzept einer „unendlichen Melodie“, 1860 in dem Text Zukunftsmusik angedeutet, hatte mit seinem Versuch zu tun, mit Worten Unsagbares auf musikalischem Wege zu vermitteln. Als Robert Schumann, um noch einen Schritt zurück in die Vorgeschichte des Halberstadt-Projekts zu gehen, im März 1840 in einer

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Rezension der Neuen Zeitschrift für Musik von der „himmlischen Länge der Sinfonie“ schwärmte, meinte er Franz Schuberts in etwa einstündige C-DurSinfonie D 944. Erscheint aus heutiger Sicht Schuberts Sinfonik im Vergleich zu Wagners Musiktheater vergleichsweise bescheiden formatiert, so ändert dies nichts daran, dass Schumanns anerkennende Rede von der „himmlischen Länge“ angesichts der bis dahin konventionellen Aufführungsdauern durch­ aus Sinn machte. Die formalen Maßstäbe änderten sich sukzessive, ebenso die Maßstäbe kom­ positorischen Umgangs mit diesen. Anschaulich gespiegelt findet sich diese Einsicht in einer weiteren ironischen Bezugnahme auf Wagners für seine Zeit revolutionären Werkmaßstäbe: Der kanadische Bildende Künstler und Kom­ ponist Rodney Graham (*1949) veröffentlichte 1989 eine Partitur namens Parsifal, deren vollständige Realisierung nicht weniger als 39 Millio­nen – genau: 38 969 364 734 – Jahre verlangen würde. (Kompositorisches Material dieser bisher v.a. als Notat präsentierten Arbeit sind jene wenigen Zusatztakte, die Engelbert Humperdinck für Wagners letztes Bühnenwerk hinzukomponierte, um eine nötige Umbaupause zu überbrücken.) Es wäre eine eigene Aufgabe, Grahams Parsifal in Beziehung zum meines Wissens bis dato längsten Streifen der Filmgeschichte zu sehen, nämlich dem 35 Tage und 17 Stunden dauern­ den, interkontinentale Transportwege bewusst machenden Realtime-Streifen Logistics (2012) der beiden Schweden Erika Magnusson and Daniel Anders­ son47. Kritische Einspruchsimpulse sind auch beim 10-tägigen Film Stora Enso Building, Helsinki, engl. Modern Times Forever (2011) der dänischen Künstler­ gruppe Superflex bemerkbar.

3. Allmählichkeit Exorbitante Formate wie die eben erwähnten werfen verschiedentlich Licht auf das aktuelle, als Zivilisationskrankheit diskutierbare Phänomen chroni­ scher Zerstreuung. Dieses Phänomen unaufhörlich rasanten Switchens zwi­ schen verschiedenen Tätigkeiten, etwas nüchterner mit den Begriffen Fast 47 Vgl. die Homepage zu diesem, den Transportweg zwischen dem chinesischen Ort Bhao’an (Shenzhen) und Stockholm thematisierenden, Kunstprojekt: http://logisticsartproject. com/?lang=en.

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Multitasking oder Diffusion bezeichnet, wurde u.a. 2009 in dem Text Cogitus interruptus. Googlen, Bloggen und Twittern des Schweizer Physikers und Philosophen Eduard Kaeser thematisiert, wobei neben beziehungsrelevanten u.a. auch erhebliche ökonomische Nachteile zur Sprache kamen.48 Ungeachtet dessen, dass derlei Phänomene beispielsweise bereits 1820 von Johann Wolf­ gang von Goethe beobachtet wurden49, mithin nicht ganz neu sind, lautet Kaesers Resümee: „Wir müssen eine Kultur der Aufmerksamkeit entwickeln.“ Der in bescheidener Zurückgezogenheit, weitgehend unbeachtet in Wien lebende Komponist Radu Malfatti (*1943) schuf 2016 eine Konstellation, die das Thema Aufmerksamkeit in künstlerisch völlig neuer Weise aufrollt. Sei­ ne zweistimmige Arbeit hitsudan für Gitarre und Kontrabass stellt den spar­ sam notierten Klangereignissen50 folgende sonderbare Spielanweisung voran: „let the sounds ring, till the shadow of the sound starts to evade your mind“ („Lass den Klang klingen, bis der Nachklang nicht mehr deine Aufmerksam­ keit hat.“) Dieser ernst gemeinten Anweisung Folge zu leisten, bedeutet erst dann zum nächsten Klang zu wechseln, wenn andere mentale Repräsenta­ tionen entstehen als jene Audiation, die von den notierten Klängen ausgelöst wird. Der zeitliche Abstand zwischen den aufeinander folgenden Klangereig­ nissen und erst recht die Gesamtdauer von hitsudan steht demnach nicht ‚an sich‘ fest, sondern ist von der jeweiligen Fokussierung auf die Klangabfolge der Musiker abhängig: Keine konventionelle Musiziersituation, sondern eine höhere Schule der Aufmerksamkeit jenseits der Wahrnehmung von Uhrzeit. Gelingt die anhaltende Audiation, so ist der Aufmerksamkeitsforschung von Vigilanz (lat. vigilantia, dt. Wachheit) zu sprechen. Gemeint ist die über 48 Eduard Kaeser, Cogitus interruptus. Googlen, Bloggen und Twittern. In: Neue Züricher Zei­ tung (31.5. 2009), auch in: ders., Pop Science. Essays zur Wissenschaftskultur, Basel 2009, online: http://www.nzz.ch/cogitus-interruptus-1.2647562 (download 1.  9.  2016). Kaeser verweist u.a. auf einen 2005 veröffentlichten, populärwissenschaftlichen Befund des Indus­ trie-Analysten Jonathan Spira (Managing the Knowledge Workforce: Understanding the Information Revolution. That's Changing the Business World, Lulu.com 2005), wonach chronische Zerstreuung erhebliche Zeit- und Geldverluste mit sich zu bringen vermag. 49 In den Inschriften, Denk- und Sendeblättern schrieb Goethe: „Denn ein äußerlich Zer­ streuen, / Das sich in sich selbst zerschellt, / Fordert inneres Erneuen, Das den Sinn zu­ sammenhält“ (3. Februar 1820). In: Johann Wolfgang von Goethe, Gedichte und Epen I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz (Goethes Werke I), Mün­ chen 1981, 340. 50 Vgl. Wolfgang Gratzer, Hin- und Weghören. Über „hitsudan“. In: Neue Zeitschrift für Mu­ sik 177 (2016), 36–38.

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den flüchtigen Moment hinaus andauernde, erhöhte Aufmerksamkeit. Peter Pennekamp hat eine solche „in langandauernden Beobachtungssituationen“ vollzogene Leistung etwas paradox als „Phänomen des unvermögenden Igno­ rierens [Kursiv im Original]“51 bezeichnet. Laut Thiemo Breyer wird Auf­ merksamkeit u.a. vom „attentionalen Habitus“ gesteuert, also von Trieben, Bestrebungen, Vorlieben und Interessen. Worauf und wie lange sich die Auf­ merksamkeit auf etwas richtet, ist u.a. „durch die Dispositionen (natürlicher, kultureller und persönlicher Art) des Subjekts vorgeprägt“ 52. Sich ähnlich wie beim Betrachten z.B. der maurischen Mosaike in der Alhambra in Zuwen­ dung durch Fokussierung zu üben, also während des Hinhörens nicht sogleich wegzuhören, sprich: gedanklich abzuschweifen, könnte gerade in Zeiten gras­ sierenden Multitaskings als unüberwindbare Hürde begriffen werden – oder als Veränderungschance. Aufhorchen und Aufhören: 1848 fand in Band 195 der 242 Bände umfassen­ den, vom Berliner Arzt und Naturwissenschaftler Johann Georg Krünitz kon­ zipierten, ab 1773 schrittweise publizierten Oeconomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt-, Haus- und Landwirtschaft, in alphabetischer Ordnung ein Artikel zum Wort „unendlich“ Eingang, der die enzyklo­ pädische Anstrengung wie selbstreflexiv kommentierte: Am Ende des nicht weniger als 53-seitigen Artikels ist zu lesen: „Im gemeinen Leben wird un­ endlich oft für ungeheuer, unbegreiflich groß, viel, sehr etc. gebraucht. […] Daher die Unendlichkeit, die Abwesenheit alles Aufhörens, und in weiterer Bedeutung, die Abwesenheit aller Einschränkung.“ (S. 555)53. Bis heute nicht hinreichend bestätigt ist bisher die naheliegende Vermutung im Grimm’schen Wörterbuch, wonach „aufhören“ etymologisch mit „aufhorchen“ im Sinne von „ganz Ohr sein“ zu tun hat. Angesichts archaischen Jagdverhaltens kann dieser etymologische Zusammenhang vermutet werden: Aufmerksames Hinhören, 51 Peter Pennekamp, Aufmerksamkeit unter Vigilanzbedingungen. Psychologische, psychophysiologische und pharmakopsychologische Aspekte der Aufmerksamkeit im Kontext des klassischen Vigilanzparadigmas, Frankfurt/M. 1992, hier S. 65 und 19. 52 Thiemo Breyer, [Diss.] Attentionalität und Intentionalität, Grundzüge zu einer phänomenologisch-kognititionswissenschaftlichen Theorie der Aufmerksamkeit, München 2011, 291. Vgl. auch Christoph Nordmann, [Diss.] Einfluss von Duftstoffen und Musik auf die Vigilanz, Erlangen 2005; und entsprechende Hinweise in: Mauricio R. Delgado, Elizabeth. A. Phelps, Trevor W. Robbins, (Hg.), Decision Making, Affect, and Learning: Attention and Performance XXIII, New York 2011. 53 Hier zitiert nach der Online-Edition http://www.kruenitz1.uni-trier.de/ (Download 16.9. 2016).

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während körperliche Bewegungen eingestellt werden, erhöht die Chance, Jagdziele zu erreichen und nahende Gefahren besser einschätzen zu können.

4. Fazit Vermutlich in den Jahren 1805/06 entstand Heinrich von Kleists Frag­ ment Über die allmähliche Verfertigung von Gedanken54: Kleist wirbt darin für die Anwendung einer „Klugheitsregel“ ([340]), nämlich für das beson­ nene, schrittweise Sich-Mitteilen in Form allmählich reifenden Überlegens. Gemeint ist eine Alternative zur Kundgabe abgeschlossener Gedanken im Sinne fixer bzw. vorgefasster Meinungen. Bei der Lektüre von Kleists Formulierung bleibt u.a. zu entscheiden, ob die angesprochene „Hebam­ menkunst“ (346) alleine als strategische Maßnahme der Rhetorik erkannt wird oder aber als mehr, beispielsweise als Erinnerung an die – in man­ chen Katalogen sogenannter virtutes cardinales („Grundtugenden“) zu­ gunsten von oftmals vier angeführten als nachrangig eingeschätzten Pri­ märidealen Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung – Geduld (patientia), ehemals im Deutschen auch Langmut genannt. „Es vergehen viele Jahre, ehe man einen Schatz findet“, heißt ein asiatisches Sprichwort, das m.E. mindestens drei aufeinander angewiesene Implikationen von Ge­ duld aufweist: jene der Beharrlichkeit, jene der Fokussierung und jene des Wohlwollens. Die eben angesprochenen, jedes auf seine Weise überdimen­ sionalen Beispiele künstlerischen Handelns scheinen mir u.a. geeignet, an Alternativen zu Modalitäten fortwährenden Hin- und Herwechselns zwi­ schen verschiedenen Wahrnehmungs- und Tätigkeitsangeboten zu erinnern. Die wohltuende, erstaunlich aktivierende Wirkung lässt sich übrigens auch in einer kleinen Übung bemerken, die keine Reise nach Arizona und auch kein langjähriges Musikstudium verlangt, vielmehr jederzeit gemacht werden kann. Inspiriert ist diese Übung vom vor nunmehr 50 Jahren veröffentlich­ ten, schmalen Buch Exercises de style (vö. 1947) des französischen Literaten Raymond Queneau (1903  –1976). Möglicherweise beeinflusst durch James Joyces mehr als 1000-seitigen Episoden-Roman Ulysses (vö. 1922), wo ein Tag im Leben des Leopold Bloom Schilderung erfährt und an dessen Ende 54 Heinrich von Kleist, [Fragment] Über das allmähliche Verfertigen von Gedanken. In: ders., Sämtliche Erzählungen und andere Prosa (Reclams Universal-Bibliothek 8232), Stuttgart 2011, [340]–346.

Sine fine. Künstlerisches Handeln an den „Grenzen des Denkens“

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monologische Endlossätze von Molly stehen55, finden sich bei Queneau zwei unmerkliche Begebenheiten in wenigen Sätzen erzählt, und zwar nicht nur auf eine Weise, sondern – was ziemliches Vergnügen garantiert – in über hun­ dert Versionen: Ein in einem Bus stehender Mann beschwert sich zunächst, von einem mitfahrenden Fahrgast angerempelt worden zu sein, und wechselt zu einem freien Platz; zwei Stunden später wird derselbe Mann vor einem Bahnhof darauf hingewiesen, dass an seinem Mantel ein Knopf fehlt. Wie die beiden Übersetzer Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel56 in ihrer 2016 vorgelegten, deutschen Neuausgabe es vorexerziert haben, lässt sich die testweise Fortsetzung dieser phantasiefördernden Sprachspiele üben. Dies zu tun, verspricht ein Ergebnis zutage zu fördern, das ca. 1930 von Al­ bert Einstein – entgegen Demokrits und Horaz’ Favorisierung von Athaumasie – als Bindeglied zwischen Kunst und Wissenschaft benannt hat – Staunen: „Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Wissenschaft und Kunst steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und seine Augen erloschen.“57

55 James Joyce, Ulysses. Roman. Übersetzt von Hans Wollschläger, Frankfurt/M. 2004, Kap. 18. 56 Raymond Queneau, Stilübungen, aus dem Französischen übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel (Bibliothek Suhrkamp 1495), Berlin 2016, orig. Exercises de style, Paris 1947. Vgl. hierzu den einer ähnlichen Konstellation folgenden Zeitschleifen-Film Groundhog Day (USA 1993), dt. Und ewig grüßt das Murmeltier, des Regisseurs und Dreh­ buchautors Harold Ramis. 57 Albert Einstein, Mein Weltbild (orig. ca. 1930, vö. 1934), hier dem gleichnamigen Sam­ melband entnommen, Frankfurt/M. 1988, 9/10. Wurde in der griechischen Antike von prominenter Seite im Staunen der Anfang und das Ziel jeden Philosophierens erkannt (Platon, Theaitetos 155d / Aristoteles, Metaphysik I, 2, 982b11–12), so findet dies bis heute Resonanz: James L. Christian etwa stellte 1994 Philosophie als The Art of Wondering vor. Eine bemerkenswerte Erweiterung erfuhr diese Annahme bei Einstein: Jegliche ‚wirkliche‘ wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeiten, so die zitierten Worte, nehmen ihren Ausgang im Staunen, d.h. in der Verwunderung über bzw. Bewunderung von etwas, was man nicht erwartet, vielleicht gar nicht für möglich gehalten hat. Quer zu diesem empha­ tisch positiven Begriffsverständnis stehen Äußerungen etwa von Demokrit (Fragment 68 A 16) oder Horaz (Epistula 1, 6, 1), welche Staunen als Zeichen problematischer Unwis­ senheit sahen; ihre Bewunderung galt vielmehr dem Zustand der Athaumasie, des NichtStaunens.

Schwarze Löcher, Gravitationswellen, Dunkle Energie – Stoßen wir an Grenzen in der Physik? Sabine Schindler

Zusammenfassung Bei den Begriffen „Gravitationswellen, Dunkle Energie und ­Schwarze Löcher“ handelt es sich hier nicht nur um Hypothesen, sondern ­hinter jedem Begriff stehen harte Fakten und Nachweise. Alles sind Beispiele dafür, wie man durch geschickte Beobachtungen die Grenzen des Wissens auf ganz verschiedene Arten erweitern konnte. Generell lassen sich die beobachteten Phänomene der Natur bis jetzt nicht zu einer „Theory of Everything“ zusammenfassen. Bei großen Massen und Kräften liefert die Relativitätstheorie eine richtige Beschreibung, dagegen ist bei kleinsten Teilchen in kleinen Räumen die Quantentheorie die gültige Theo­rie. Das wird anhand von mehreren Beispielen wie etwa dem Gravitations­linseneffekt oder dem Wasserstoffatom aufgezeigt. An Treffpunkten der zwei Theorien ergeben sich interessante und vieldiskutierte Paradoxa. Anschließend werden prinzipielle und technologische Grenzen in der Physik diskutiert. Bei Letzteren wurden in den vergangenen Jahren die Grenzen in vieler Hinsicht um Größenordnungen verschoben.

Schwarze Löcher, Gravitationswellen, Dunkle Energie Zu diesen Begriffen aus dem Titel stellen sich gleich mehrere Fragen: Wie kann man solche „nicht-alltäglichen“ Objekte nachweisen? Was für Fakten stehen hinten den Begriffen? Wo haben Wissenschaftler durch geschickte Beobachtungen die Grenzen erweitert? Das aktuellste dieser Themen sind Gravitationswellen, denn sie wurden erst vor kurzem nachgewiesen: Am 11. Februar 2016 wurde der erste Nach-

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weis von Gravitationswellen bekanntgegeben1. Mit dem Interferometer LIGO2 wurde ein Signal empfangen, das von der Kollision von zwei sehr massereichen Schwarzen Löchern stammt – mit 29 bzw. 36 Sonnenmassen. Was sind Gravitationswellen? Es sind Wellen, bei denen der Raum mitschwingt. Es ändern sich also Abstände zwischen Objekten, was durch Änderungen im Gravitationsfeld verursacht wird. Man kann sich das ähnlich vorstellen wie bei einer glatten Wasseroberfläche. Wenn man einen Stein hineinwirft, ändert man etwas an der Oberfläche, dadurch werden Wellen generiert, die sich dann von der Einschlagsstelle ausgehend ausbreiten. Bei Gravitationswellen findet statt einer Änderung der Wasseroberfläche eine Änderung des Gravitationsfeldes statt. Die Kollision von zwei Schwarzen Löchern ist ein Ereignis, das eine drastische Änderung des Gravitationsfeldes bewirkt: Zunächst gibt es zwei kleine Potenzialtöpfe mit je einem Schwarzen Loch, die um einander spiralieren und sich langsam annähern. Wenn sie dann ganz nahe sind, geht die eigentliche Kollision bzw. das Verschmelzen ganz schnell. Es wird also aus zwei kleineren Potenzialtöpfen in kurzer Zeit ein großer Potenzialtopf. Vorhergesagt wurden Gravitationswellen von Albert Einstein schon im Jahr 1916 im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie. Es dauerte also 100 Jahre, bis man diese Vorhersage verifizieren konnte. Der Grund für die lange Zeit liegt darin, dass sich selbst bei so drastischen Ereignissen wie die Kollision von zwei massenreichen Schwarzen Löchern nur solche Gravitationswellen bilden, die ganz kleine Änderungen des Abstands bewirken. Man muss also zum Nachweis dieser kleinen Änderungen des Abstands ein ganz spezielles Gerät benutzen, ein sog. Interferometer. Bei einem Interferometer lässt man Licht auf einen halbdurchlässigen Spiegel fallen und spaltet somit die ursprünglich eine Lichtwelle in zwei auf, die sich dann senkrecht zueinander entlang von zwei „Armen“ auseinanderbewegen. Jeweils am Ende des Armes wird die Lichtwelle reflektiert und damit zurückgeschickt. Am Kreuzungspunkt der beiden Arme werden die beiden zurückkommenden Lichtwellen überlagert. Wenn beide Wege exakt gleich lang waren, dann liegt bei der Überlagerung Wellenberg auf Wellenberg bzw. Wellental auf Wellental und somit erhält man ein starkes Signal. Wenn die Wege sich leicht unterscheiden, z.B. wenn die Gravitationswelle einen Spiegel um eine halbe Wellenlänge verschoben hat, dann trifft Wellenberg auf Wellental. Also heben sie einander 1 https://www.ligo.caltech.edu/system/media_files/binaries/301/original/detection-sciencesummary.pdf. 2 https://www.ligo.caltech.edu/page/about.

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genau auf und das Signal wird Null. Somit kann man Abstandsänderungen in der Größenordnung von Wellenlängen messen. Dieser Nachweis öffnete ein neues Fenster für die Astrophysik. Normalerweise wurde bisher das Licht, das bei verschiedenen Prozessen abgestrahlt wird, in Teleskopen nachgewiesen, wobei es sich nicht nur um sichtbares Licht handelt, sondern Strahlung in allen Wellenlängen – vom Bereich der Radiowellen hin bis zu ganz hochenergetischer Strahlung. Durch das neue Fenster können nun auch Ereignisse gemessen werden, die kein Licht abgeben. Auch werden Gravitationswellen nicht von Staub und anderem Material, das sich zwischen uns und dem Ereignis befindet, absorbiert/gestreut und sie kommen somit (anders als viele Lichtwellen) unbeeinflusst bei uns an. Sogar aus dieser einen Messung von Gravitationswellen wurden schon neue Erkenntnisse gewonnen: Man weiß nun, dass es Schwarze Löcher mit Massen von etwa 30 Sonnenmassen gibt, denn man konnte bestimmen, dass hier zwei Schwarze Löcher von 29 bzw. 36 Sonnenmassen verschmolzen sind. Es war vorher nicht klar, dass Schwarze Löcher dieser großen Masse nach Supernovaexplosionen übrigbleiben können. Solche Schwarzen Löcher bleiben ja übrig, nachdem am Ende eines Sternenlebens der Stern als Supernova explodiert ist. Auch überraschend war die Tatsache, dass sich solche massereichen Schwarzen Löcher in Zweiersystemen befinden können, denn auch hier ist es nicht leicht zu erklären, dass ein Zweiersystem durch Supernovaexplosionen unbeeinflusst bleibt. Bis jetzt ist dieses „neue Fenster der Astrophysik“ zwar noch sehr klein. Außer dem im Februar 2016 veröffentlichten Ereignis wurde bis jetzt immerhin noch ein weiteres Ereignis nachgewiesen3. Aber dieses Forschungsgebiet wird in den 2030er Jahren sehr aktiv werden, wenn das Weltrauminterferometer eLISA/NGO4 von der European Space Agency gestartet wird, das noch viel empfindlicher sein wird und damit noch viel mehr Ereignisse dieser Art messen wird. Das Interferometer wird eine Armlänge von etwa 1 Million km haben. Man wird dann sich überlagernde Signale herauskorrigieren können und die Richtung bestimmen können, woher das Signal kommt. Außerdem wird es natürlich nicht von Ereignissen gestört, die auf der Erde auftreten (z.B. seismische Aktivität).

3 https://www.ligo.caltech.edu/news/ligo20160615?highlight=second detection. 4 https://www.elisascience.org/.

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Dunkle Energie und Dunkle Materie Die Dunkle Energie zusammen mit der Dunklen Materie bestimmen, wie sich das Universum entwickelt hat und wie es sich weiter entwickeln wird. Schon seit den 1920er Jahren ist klar, dass das Universum expandiert. Es wurde damals von Edwin Hubble gemessen, dass sich praktisch alle Galaxien von uns wegbewegen, und zwar ist diese Wegbewegung umso schneller, je weiter die Galaxien von uns entfernt sind. Diese Expansion passt gut mit dem Urknall-Modell zusammen, wo das Universum zunächst in einem unendlich kleinen Volumen konzentriert war und sich dann wie in einer Art Explosion ausgedehnte. Diese Ausdehnung dauert heute noch an. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Rate, mit der sich das Universum ausdehnt, langsamer wird und eventuell sogar einmal so langsam wird, dass sie gegen Null geht und sich schließlich umkehrt. In diesem Fall würde das Universum also am Ende wieder zusammenfallen. Oder ist das Gegenteil der Fall? In diesem Fall würde sich die Expansion beschleunigen und das Universum sich damit immer schneller ausdehnen. Diese Frage kann man beantworten, wenn man weiß, wie die beiden Komponenten – die Dunkle Energie und die Dunkle Materie – zusammenspielen. Schon seit den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts wird die sog. Dunkle Materie diskutiert. Damals wurde sie noch nicht Dunkle Materie genannt, sondern „missing mass“. Denn man stellte damals fest, dass quasi etwas fehlte, was man nicht sehen konnte, aber man wusste, dass es da sein musste. Seit den 1990er Jahren ist nun klar, dass es sehr viel von dieser Dunklen Materie geben muss. Sie strahlt kein Licht aus, wie wir das von normaler Materie aus Atomen und Molekülen gewohnt sind. Daher wurde sie „dunkel“ genannt. Wäre diese Dunkle Materie nicht vorhanden, würden Galaxien und auch größere Strukturen wie Galaxienhaufen nicht zusammenhalten. Auf diese Dunkle Materie wirkt – wie auch auf die normale, sichtbare Materie – die Gravitation, welche auch uns auf der Erde hält und die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne hält. Die Dunkle Materie wirkt also anziehend und bremst somit auch die Expansion des Universums. Unklar ist bis jetzt, was die Dunkle Materie eigentlich ist – woraus sie eigentlich besteht. Ausgeschlossen werden konnten bis jetzt Objekte, die ähnlich sind wie der große Planet Jupiter. Sie strahlen nicht selbst (Jupiter erscheint uns nur hell, weil er von der Sonne angestrahlt wird), und wenn eine genügende Anzahl von solchen Objekten im Universum vorhanden wäre, könnten die Objekte zusammen eine große Masse aufbringen. Allerdings würden sich diese doch relativ großen „Brocken“ anders bemerkbar machen, näm-

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lich über den sog. Gravitationslinseneffekt, der weiter unten noch beschrieben wird. In jahrelanger (fast) vergeblicher systematischer Suche nach solchen jupi­terähnlichen Objekten wurde gefunden, dass sie nicht in genügend großer Menge vorhanden sind und daher nicht die Bestandteile der Dunklen Materie sein können. Wahrscheinlich ist die Dunkle Materie also viel feiner verteilt und sie besteht aus Elementarteilchen. Auch die Ergebnisse über die Bildung von Elementen im oder gleich nach dem Urknall deuten darauf hin. Allerdings kann die Dunkle Materie nicht aus Elementarteilchen bestehen, die man schon kennt, denn keines der bekannten Elementarteilchen ergibt die richtige Verteilung der Dunklen Materie. Hier ist also noch großer Forschungsbedarf. Andererseits gibt es aber auch etwas, was das Universum auseinander treibt. Dazu wurden Messungen über Abstände im frühen Universum gemacht. Aus der zeitlichen Entwicklung von solchen Abständen kann geschlossen werden, wie Dunkle Materie (anziehend) und Dunkle Energie (abstoßend) zusammenspielen. Die Messungen zeigen, dass die Dunkle Energie einen starken Einfluss hat und bewirkt, dass das Universum sich nicht nur immer weiter ausdehnt, sondern sich sogar immer schneller ausdehnt. Wie kommen diese Ergebnisse zustande? Man hat sich hier sehr ausgefeilte Beobachtungen einfallen lassen. Leider kann man auch mit den größten Teleskopen der Welt nicht in die Zukunft schauen. Aber die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit bietet uns die Möglichkeit, in die Vergangenheit zu blicken. Licht, das von einem weit entfernten Objekt ausgestrahlt wird, braucht eine Zeitlang, bis es bei uns ankommt, denn es bewegt sich nicht unendlich schnell, sondern mit Lichtgeschwindigkeit. Das bedeutet, dass wir das Objekt in einem frühen Entwicklungsstadium sehen – eben in dem Stadium, als das Licht ausgesendet wurde. Damit kann man prinzipiell die frühere Entwicklung des Universums vermessen. Wenn man weiß, wie die Entwicklung in der Vergangenheit verlaufen ist, dann kann man berechnen, wie die Entwicklung in der Zukunft verlaufen wird. Das Kritische daran sind also Messungen des Abstands bis hin zu ganz großen Entfernungen, also möglichst weit zurück in der Zeit, um die Entwicklung gut verfolgen zu können. Abstandsmessungen sind grundsätzlich schwer in der Astrophysik. Es wurden dazu sehr viele verschiedene Methoden entwickelt. Die Methode, die bei der Dunklen Energie dieses Ergebnis gebracht hat, basiert auf folgendem Prinzip: Wenn man weiß, wie hell ein Objekt in Wirklichkeit ist, und man messen kann, wie hell es einem erscheint, dann weiß man die Entfernung! Man braucht also sehr helle (große Entfernung!) Objekte, von denen man genau weiß, wie hell sie sind.

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Man kann sich das veranschaulichen durch einen Motorradscheinwerfer: Wenn der Scheinwerfer kaum zu sehen ist, wissen wir, dass das Motorrad noch weit entfernt ist. Wenn hingegen der Scheinwerfer sehr hell ist, dann wissen wir, dass das Motorrad ganz nah ist. Wir können die Entfernung also abschätzen aus unserer Erfahrung mit Motorradscheinwerfern, da wir wissen, wie hell sie normalerweise leuchten. Natürlich muss man sicherstellen, dass man immer die gleiche Art von Objekt beobachtet, also nicht etwa den Motorradscheinwerfer mit einem Fahrradlicht verwechselt. Außerdem sollten die Objekte möglichst hell sein, damit man möglichst große Entfernung damit ausmessen kann. Da bieten sich Supernovaexplosionen an, denn bei der Explosion am Ende eines Sternlebens wird der Stern für kurze Zeit sehr hell – so hell wie eine ganze Galaxie. Es gibt glücklicherweise eine Art von Supernovae, die sogenannte Typ Ia Supernova, die immer gleich hell ist, wenn sie explodiert. Das sind Supernovaexplosionen eines Weißen Zwergs, der sich in einem Zweiersystem befindet. Es fließt hier so lange Materie von dem großen Stern (einem Roten Riesen) auf den Weißen Zwerg über, bis der Weiße Zwerg die kritische Masse zur Explosion hat. Damit explodiert immer die gleiche Menge an Material und damit wird die Supernova immer gleich hell. In den 1990er Jahren wurden von zwei Teams unabhängig voneinander systematische Suchen nach solchen Typ Ia Supernovae gemacht, die dann nach jahrelangen Untersuchungen die beschleunigte Expansion des Universums und damit die Existenz der Dunklen Energie nachweisen konnten. 2011 erhielten sie den Nobelpreis für Physik für diesen Nachweis5. Auch bei der Dunklen Energie weiß man noch nicht, was das eigentlich ist, und daher ist auch dieses Gebiet heutzutage ein sehr aktives Forschungsgebiet. Die Idee von etwas „Auseinandertreibendem“ war nicht neu, denn schon Albert Einstein führte einen entsprechenden Term in seine Gleichungen für das Universum ein. Er nannte ihn damals Kosmologische Konstante. Albert Einstein wusste damals bei der Aufstellung seiner Gleichungen noch nicht, dass das Universum expandiert. Daher dachte er, um ein statisches Universum vor einem Kollaps zu bewahren, müsse er etwas einfügen, was der Gravita­ tionskraft entgegenwirkt. Später, als die Expansion des Universums entdeckt wurde, nannte er diese Kosmologische Konstante einmal seinen größten Fehler. Er und praktisch alle Astrophysiker setzten diesen Term dann jahrzehntelang gleich Null – bis die Supernova-Messungen das Bild revidierten. Heutzutage nennt man es nicht mehr Kosmologische Konstante, weil man sich gar 5 http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/physics/laureates/2011/.

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nicht sicher ist, dass es mit der Zeit konstant ist, sondern es wird „Dunkle Energie“ genannt. Die Dunkle Energie bewirkt, dass sich alle entfernten Galaxien immer schneller von uns wegbewegen. Das Universum expandiert also beschleunigt. Es dehnt sich also immer schneller aus, und damit wird das Universum ganz anders enden, als es angefangen hat.

Schwarze Löcher Theoretisch kann man sich sehr viel Masse innerhalb eines ganz kleinen Volumens vorstellen. Wenn das Volumen klein genug ist, dann ist die gravitative Anziehung so groß, dass nicht einmal Licht entkommen kann. Die Frage stellt sich nun, ist das nur ein Gedankenexperiment oder gibt es solche Objekte wirklich. Als nächste Frage kommt zwangsläufig: Wie kann man Schwarze Löcher nachweisen, wenn sie doch kein Licht aussenden? Es bleiben also nur indirekte Methoden. Eine Methode besteht darin, Umlaufbahnen von Sternen auszumessen, die sich um das Schwarze Loch herumbewegen. Damit kann auf die anziehende Masse geschlossen werden, die nötig ist, damit die Sterne sich auf stabilen Umlaufbahnen bewegen. Eine Obergrenze für das Volumen kann darüber abgeschätzt werden, dass sich das Schwarze Loch innerhalb der Orbits der Sterne befinden muss. Diese Methode wurde auf Sterne im Zentrum unserer Milchstraße angewendet. Hier wurden die Bahnen von mehreren Sternen ausgemessen, indem über Jahre hinweg die Positionen der Sterne ganz exakt vermessen wurden. Man fand in den 1990er Jahren, dass man tatsächlich eine Bewegung der Sterne nachweisen konnte. Aus der Berechnung der Orbits erhielt man folgendes Ergebnis: Im Zentrum unserer Milchstraße muss sich ein Schwarzes Loch mit 4 Millionen Sonnenmassen befinden6. Eine andere Methode ergibt sich dadurch, dass sich Materie aufgrund der gravitativen Anziehung auf das Schwarze Loch zubewegt. Dabei treten sehr starke Reibungseffekte auf, wenn die Materie in das Schwarze Loch hineinfällt. Hier ist die Materie gemeint, die noch nicht in das Schwarze Loch hineingefallen ist, sondern sich erst auf dem Weg dahin befindet. Sie ist meist in gasförmigem Zustand. Aufgrund der überall geltenden sogenannten Drehimpulserhaltung kann die Materie nicht direkt auf das Loch zufallen, sondern nähert 6 http://www.eso.org/public/news/eso0226/.

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sich ihm auf Spiralbahnen. Da sich Materie, die sich schon auf einer inneren Bahn befindet, schneller um das Schwarze Loch herumdreht als Materie, die sich auf einer äußeren Bahn befindet, gibt es Scherungs- und damit auch Reibungseffekte. Durch die Reibung heizt sich die Materie stark auf und strahlt daher hochenergetische Strahlung ab, typischerweise im Röntgenbereich. Das ist ein sehr effizienter Prozess zur Energieproduktion: Bis zu 40% der Masse wird zu Strahlung konvertiert, die dann durch Röntgenteleskope auf Satelliten nachgewiesen werden kann. Mit dieser Methode konnten viele Schwarze Löcher nachgewiesen werden.

Theory of Everything – Theorie von Allem

Es stellt sich die Frage, ob es ein einziges allumfassendes Modell gibt, das die Theorien aller grundlegenden Wechselwirkungen der Natur erklärt. Leider existiert dieses Modell/diese Theorie bis jetzt noch nicht. Dazu müssten Relativitätstheorie und Quantentheorie vereinigt werden, so ähnlich wie James Clerk Maxwell im Jahr 1865 Elektrizität und Magnetismus zum Elektromagnetismus in den bekannten Maxwellschen Gleichungen vereint hat. Eine Vereinigung von Relativitätstheorie und Quantentheorie hätte den Vorteil, dass man alle Wechselwirkungen dann konsistent mit einer einzigen Theorie beschreiben könnte. Natürlich würde das nicht das Ende der Forschung bedeuten, denn auch die Vereinigung von Elektrizität und Magnetismus hat nicht bedeutet, dass man alles über elektromagnetische Phänomene weiß und somit nichts mehr erforschen müsste. Mit einer Theory of Everything könnte man eben alles konsistent beschreiben. Bis jetzt stellt sich die Situation so dar. Für die Phänomene im Alltag können wir alles mit den „normalen“ Bewegungsgleichungen berechnen. Schwie­ rig wird es erst, wenn wir zu sehr kleinen oder zu sehr großen Skalen gehen. Einer­seits gibt es hier die Relativitätstheorie, die bei großen Massen und Kräften anwendbar ist und die Gravitation korrekt beschreibt. Andererseits gibt es die Quantentheorie, die bei kleinsten Teilchen und kleinen Räumen anwendbar ist und die elektromagnetische, starke und schwache Wechselwirkungen richtig beschreibt. Für beide Theorien – Relativitätstheorie und Quantentheorie – gibt es Beispiele, die für den entsprechend passenden Anwendungsbereich der Theorie das richtige Ergebnis liefern. Ein Beispiel für die korrekten Voraussagen der

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Relativitätstheorie sind die oben schon erwähnten Gravitationswellen, die nun gerade das erste Mal nachgewiesen wurden. Ein zweites Beispiel ist der Effekt, der die Relativitätstheorie berühmt gemacht hat – der Gravitationslinseneffekt. Licht wird durch große Massen abgelenkt, ganz ähnlich wie es auch durch eine Glaslinse beeinflusst wird (daher der Name des Effekts). Die Ablenkung hängt von der Masse des Objekts ab und spielt daher nur bei relativ großen Massen eine Rolle. Die Masse der Sonne lenkt z.B. das Licht dahinterliegender Sterne so ab, dass sie an einer etwas anderen Stelle erscheinen, wenn die Sonne vorne vorbeizieht. Leider kann man die Sterne nicht beobachten, wenn die Sonne vorbeizieht, weil die Sonne so hell ist, dass sie alles überstrahlt. Nur bei einer totalen Sonnenfinsternis wird die Sonne kurzzeitig vom Mond abgedeckt und erlaubt so die Beobachtung der Sterne hinter ihr. Daher haben Wissenschaftler beschlossen, die Sonnenfinsternis 1919 zu nutzen, um Einsteins Vorhersage zu prüfen. Das Ergebnis ist bekannt: Die Position der Sterne war korrekt vorhergesagt von der Relativitätstheorie und dieses Ergebnis hat Albert Einstein über Nacht berühmt gemacht. Heute ist der Gravitationslinseneffekt ein sehr wichtiges Werkzeug in der Astrophysik, mit dem man auf raffinierte Weise Massen und Entfernungen auf ganz großen Skalen bestimmen kann. Ein Beispiel für die Korrektheit der Quantentheorie ist das Wasserstoffatom. Das Wasserstoffatom ist das einfachste Atom. Es besteht aus einem Proton, um das sich ein Elektron bewegt. So kann man mit der Quantentheorie ausrechnen, auf welchen Energieniveaus sich das Elektron bewegt. Das Elektron kann nicht jede beliebige Energie haben, sondern die Energie ist gequantelt (daher der Name!). Das Elektron kann von Niveau zu Niveau springen und die überschüssige Energie in Form von Strahlung aussenden. Diese Strahlung, die man z.B. in Form von Spektren messen kann, hat genau die Energie, die die Quantentheorie vorhersagt. Ein Beispiel, das vielleicht etwas näher am Alltag liegt, ist die Magnetresonanztomographie (MRT). Hier benutzt man nicht Atome, sondern Atomkerne, die die Quantentheorie auch korrekt beschreibt. Atomkerne haben auch gequantelte Zustände. Durch Einstrahlen eines magnetischen Feldes auf menschliches Gewebe werden Übergänge zwischen den Zuständen angeregt. Die emittierte Strahlung ermöglicht dann Bilder der verschiedenen Arten von Gewebe. Es ist also klar, dass beide Theorien in ihrem Bereich korrekt sind. Die Zusammenführung scheitert insbesondere daran, dass man die Gravitation noch nicht quantisieren kann und die Unendlichkeiten nicht in den Griff bekommt.

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Auch hat man das Teilchen, das die gravitative Wechselwirkung vermitteln soll – das Graviton – noch nicht gefunden. Es gibt viele Vorschläge, wie man eine Theorie der Quantengravitation verwirklichen könnte, z.B. Stringtheorie oder Schleifenquantengravitation, aber keine dieser Theorien konnte bis jetzt durch Experimente verifiziert werden.

Paradoxa Natürlich hat die Verschiedenartigkeit der beiden Theorien zu großen Diskussionen geführt. Einem Grundpfeiler der Quantentheorie, dass aufgrund der statistischen Beschreibung nur Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden können, begegnete Albert Einstein mit der Aussage: „Gott würfelt nicht“. Ein Grundprinzip der Relativitätstheorie ist die endliche Lichtgeschwindigkeit: Information kann nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit verbreitet werden. Das kollidiert scheinbar mit den Messergebnissen von sog. verschränkten (= korrelierten) Teilchen. In der Quantentheorie kann der Gesamtzustand eines Zweiteilchensystems definiert werden, wobei diese beiden Teilchen sich nicht unbedingt am gleichen Ort aufhalten müssen. Die beiden Teilchen „wissen“ also instantan voneinander, auch wenn sie entfernt sind. Dies wiederum bedeutet, dass die Messergebnisse an verschränkten Teilchen nur durch eine nichtlokale Theorie erklärt werden können. Dieses scheinbare Paradoxon wurde in einer berühmten Veröffentlichung von Einstein, Podolsky und Rosen (1935)7 diskutiert und als Argument dafür genommen, dass die Quantentheorie nicht vollständig ist. In Wirklichkeit war es natürlich kein Paradoxon, denn bei verschränkten Teilchen wird keine Information übertragen, und somit sind sie nicht an die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit gebunden. Ein zweites Paradoxon ist das Informationsparadoxon der Schwarzen Löcher. In die schon oben diskutierten Schwarzen Löcher kann Materie verschiedenster Art einfallen. Das erhöht die Masse des Schwarzen Loches, aber was genau sich alles in dem Schwarzen Loch befindet, ist nicht messbar, denn wie schon erklärt, ist bei einem Schwarzen Loch die Entweichgeschwindigkeit so hoch, dass sie die Lichtgeschwindigkeit übersteigen würde. Übrigens gibt es aber doch eine Möglichkeit, wie Strahlung aus dem Schwarzen Loch entweichen könnte, die 7 A. Einstein, B. Podolsky, N. Rosen: Can quantum-mechanical description of physical reality be considered complete? In Phys. Rev. 47 (1935), S. 777–780

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sog. Hawking Strahlung – eine von Stephen Hawking 1975 aus quantentheoretischen Überlegungen postulierte Strahlung. Sie wurde postuliert, weil sie als potentielles Testfeld für eine Theorie der Quantengravitation dienen könnte. Sie ist eine thermische Strahlung analog zur Schwarzkörperstrahlung, wie sie die ganz normale Materie aussendet. Wie die Strahlung beschaffen ist, hängt nur von der Masse (eigentlich auch noch von Ladung und Drehimpuls) des Schwarzen Loches ab. Das bedeutet, dass die ganze Information darüber, woraus das Schwarze Loch besteht, sprich was alles hineingefallen ist, vernichtet würde. Es ist also prinzipiell nicht möglich, dass das Wachstum und die Auflösung eines Schwarzen Loches in umgekehrter Reihenfolge erfolgen, d.h. man könnte den Zeitpfeil hier nicht umkehren. So eine Verletzung der sog. „Unitarität“ der Zeitentwicklung, darf nicht vorkommen in der Quantentheorie.

Prinzipielle Grenzen in der Physik In der Physik gibt es eine Reihe von Grenzen, die prinzipiell nicht überschritten werden können. Im Folgenden werden einige Beispiele aufgezeigt. Ein Beispiel für eine prinzipielle Grenze ist der Horizont. Der Horizont in der Astrophysik bildet eine Grenze für Informationen und kausale Zusammenhänge, die sich insbesondere aus der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit ergibt. So gibt es im Universum einen Beobachtungshorizont. Ereignisse jenseits dieses Horizonts sind prinzipiell nicht sichtbar für Beobachter. Man kann also nicht Ereignisse beobachten, die so weit entfernt sind, dass deren Lichtlaufzeit länger als das Alter des Universums wäre. Ein Horizont ist auch der schon erwähnte Ereignishorizont eines Schwarzen Loches. Man kann sich das einerseits über die Entweichgeschwindigkeit veranschaulichen, die bei sehr kleinen massenreichen Objekte sehr groß wird und so im extremen Fall die Lichtgeschwindigkeit überschreiten müsste. Das kann natürlich nicht sein und somit stößt man hier an eine Grenze. Andererseits kann man es auch über die sogenannte „Gravitative Rotverschiebung“ veranschaulichen. Die Energie eines Photons (= Lichtteilchens), das aus dem Gravitationsfeld zu einem entfernten Beobachter gelangen will, wird zum roten (also zum energiearmen) Teil des Lichtspektrums verschoben. Da sich das Photon gegen das Gravitationsfeld bewegt (so wie wir auf der Erde uns gegen das Gravitationsfeld bewegen, wenn wir einen Berg hinaufsteigen), geht dem Photon die entsprechende Energie verloren. Die Rotverschiebung ist umso

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größer, je weiter sich das Licht von der Masse wegbewegt. Am Ereignishorizont würde die Rotverschiebung unendlich groß. Für einen außenstehenden Beobachter, der aus sicherer Entfernung zusieht, wie ein Teilchen auf ein Schwarzes Loch zufällt, hat es den Anschein, als würde sich das Teilchen asymptotisch dem Ereignishorizont annähern. Das bedeutet, ein außenstehender Beobachter sieht niemals, wie es den Ereignishorizont erreicht, da aus seiner Sicht dazu unendlich viel Zeit benötigt wird. Für einen Beobachter, der sich im freien Fall auf das Schwarze Loch zubewegt, ist dies ganz anders. Dieser Beobachter erreicht den Ereignishorizont in endlicher Zeit. Der scheinbare Widerspruch zu dem vorherigen Ergebnis rührt daher, dass beide Betrachtungen in verschiedenen Bezugssystemen durchgeführt werden. Ein Objekt, das den Ereignishorizont erreicht hat, fällt (vom Objekt selbst aus betrachtet) in endlicher Zeit in die zentrale Singula­rität. Eine Grenze ganz anderer Art stellt die Heisenbergsche Unschärferelation dar. Sie besagt, dass in der Quantenphysik zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind. Das bekannteste Beispiel für ein Paar solcher Eigenschaften sind Ort und Impuls. Ein anderes Paar ist Energie und Zeit. Das kann man sich veranschaulichen durch eine Analogie mit Frequenz (entspricht der Energie) und Dauer eines Tons. Nehmen wir ein zeitveränderliches Signal an, z. B. eine Schallwelle. Wir wollen die genaue Frequenz des Signals zu einem bestimmten Zeitpunkt messen. Das ist unmöglich, denn um die Frequenz einigermaßen exakt zu ermitteln, müssen wir das Signal über eine genügend lange Zeitspanne beobachten, und dadurch verlieren wir Zeitpräzision. D.h. ein Ton kann nicht innerhalb nur einer beliebig kurzen Zeitspanne da sein, wie etwa ein kurzer Schrei, und gleichzeitig eine exakte Frequenz haben, wie sie etwa ein ununterbrochener reiner Ton hat. In der Physik gibt es auch eine Grenze für die Temperatur. Während es zu hohen Temperaturen hin keine Limitationen gibt, gibt es eine minimale Temperatur. Diese Temperatur wird absoluter Nullpunkt genannt. In unserer alltäglichen Temperaturskala Celsius liegt er bei -273,2 Grad Celsius. In der Physik wird allerdings meistens eine Skala verwendet, die beim absoluten Nullpunkt ihren Nullpunkt hat mit der Einheit Kelvin. Die Abstände der Grade sind gleich wie bei der Celsius Skala. Also gefriert/schmilzt Wasser bei +273,2 Kelvin. Woran liegt es, dass nichts kälter werden kann als -273,2 Grad Celsius? Temperatur oder Wärme kann man beschreiben als ungeordnete Molekularbewegung. Bei dieser thermischen Bewegung (in einem Gas) wimmeln die

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einzelnen Moleküle zufällig durcheinander. Je höher die Temperatur ist, desto schneller bewegen sich die Moleküle. Wenn allerdings den Molekülen Energie entzogen wird, dann bewegen sie sich langsamer. Wenn die Bewegung völlig zum Stillstand käme, dann hätte der Körper oder das Gas die thermische Energie null und damit auch die Temperatur 0 Kelvin.

Grenzen in der Astrophysik Auch in der Astrophysik gibt es interessante Grenzen. Von diesen Grenzen werden hier einige Beispiele gezeigt. Die Möglichkeit, weit zurückzuschauen Richtung Urknall, hat Grenzen. Man kann nämlich nur soweit zurückschauen, soweit man durch ein „durchsichtiges“ Universum sehen kann. Das Universum war aber nicht immer so durchsichtig, wie es heute ist. In der Anfangsphase waren Materie und Strahlung im Gleichgewicht, das bedeutet, dass Materieteilchen und Lichtteilchen dauernd in Wechselwirkung miteinander waren. Man kann sich das etwa so vorstellen wie Sonnenlicht, das durch Nebel fällt: Das Licht, das sich von der Sonne Richtung Erdoberfläche bewegt, trifft zunächst auf die kleinen Wassertröpfchen im Nebel und wechselwirkt mit ihnen. Die Lichtteilchen werden dadurch aus ihrer Bahn gelenkt und bewegen sich nach der Wechselwirkung in alle möglichen Richtungen. Dann treffen sie auf das nächste Wassertröpfchen und werden wieder abgelenkt und so weiter. Natürlich kommen einige Lichtteilchen nach vielen Wechselwirkungen dann doch einmal auf dem Erdboden an, aber sie enthalten keine Information mehr darüber, aus welcher Richtung sie ursprünglich hergekommen sind. Das bedeutet, dass wir die Sonnenrichtung nicht bestimmen können, wenn Nebel ist, und auch praktisch nichts von unserer Umgebung sehen können. So ähnlich waren die Sichtverhältnisse in der Anfangsphase des Universums. Durch die Expansion verlieren allerdings die Lichtteilchen an Energie. Man kann sich das veranschaulichen mit der Wellenlänge: Durch die Expansion wird die Wellenlänge auseinandergezogen und damit hat das Lichtteilchen eine immer längere Wellenlänge, was einer niedrigeren Energie entspricht. Besonders viel vorhanden waren in dieser frühen Phase die oben schon erwähnten Wasserstoffatome, die – wie gesagt – aus einem Proton mit einem darum herumfliegenden Elektron bestehen. Eine beliebte Wechselwirkung von einem Lichtteilchen mit einem Wasserstoffatom war, das Wasserstoffatom

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zu „ionisieren“. Das bedeutet, das Lichtteilchen gibt seine Energie an das Wasserstoffatom ab, das Elektron kann sich damit vom dem Proton trennen, und beide fliegen als einzelne Teilchen in verschiedenen Richtungen davon. Etwa 300 000 Jahre nach dem Urknall war die Energie der Lichtteilchen so weit gesunken, dass sie nicht mehr ausreichte, um das Elektron vom Proton „abzureißen“. Diese Reaktion konnte also nicht mehr stattfinden, und die Lichtteilchen reagierten also nicht mehr mit den Wasserstoffatomen, wenn sie aufeinander trafen, sondern das Lichtteilchen flog unbeeinflusst weiter. Das ist der Zeitpunkt, an dem das Universum transparent wurde. Die Lichtteilchen fliegen übrigens heute noch und bringen die früheste Information mit, die wir direkt aus dem Universum empfangen können. Diese Strahlung ist also das früheste Abbild des Universums. Man nennt sie kosmische Hintergrundstrahlung. Sie ist heute im Mikrowellenbereich nachweisbar. Sowohl für ihre Entdeckung als auch für die Entdeckung von Strukturen in dieser Strahlung gab es jeweils den Nobelpreis für Physik8,9. Heute ist die kosmische Hintergrundstrahlung Gegenstand einer Vielzahl kosmologischer Forschungen. Sogar ein Satellit namens „Planck“ wurde nur zur Messung dieser Strahlung in den Orbit geschickt, und er brachte uns viele neue Erkenntnisse über das frühe Universum10. Grenzen gibt es in der Astrophysik aber nicht nur im ganz Großen, sondern auch im Kleinen. Wo ist z.B. die Grenze zwischen Objekten, die Sterne werden, und Objekten, die gar nicht zu strahlen anfangen? Die Energie, die ein Stern benötigt, um zu strahlen, bezieht er aus Fusionsreaktionen von Atomkernen in seinem Inneren. Auch hier spielt wieder der oben erwähnte Wasserstoff eine ganz zentrale Rolle. Wasserstoff kann unter bestimmten Bedingungen zu Helium fusionieren. Bei dieser Reaktion wird Energie frei, die wieder benutzt werden kann, um weitere Reaktionen zu starten. Man kann sich das so ähnlich wie bei einen Feuer vorstellen: Wenn es einmal angezündet ist, dann wird so viel Energie frei, dass die Reaktionen immer weitergehen. Erst wenn kein Brennmaterial mehr zur Verfügung steht, geht das Feuer aus. Wir können also die Frage dahingehend verschieben: In welchen Objekten zündet die Fusionsreaktion? Zur Zündung der Fusionsreaktion ist eine hohe Temperatur nötig. Die Objekte sind nach innen zu immer wärmer als außen, denn je weiter man innen ist, desto mehr Druck des darüber liegenden Materi8 http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/physics/laureates/1978/. 9 http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/physics/laureates/2006/. 10 http://sci.esa.int/planck/.

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als wirkt auf sie. Am heißesten ist es also im Zentrum. Bei Objekten, die etwa 10% der Sonnenmasse oder mehr Masse haben, wird die Zündtemperatur erreicht und sie beginnen Wasserstoff zu Helium verbrennen. Dadurch wird Energie frei, so dass die Temperatur nie unter die Zündtemperatur fällt, also das Brennen immer weitergehen kann, bis der Brennstoff verbraucht ist. Vom Zeitpunkt des Zündens an wird das Objekt Stern genannt. Objekte, die die Zündtemperatur nicht erreichen und daher praktisch nicht strahlen, werden Braune Zwerge genannt. Es gibt also eine Grenze, welche Masse ein Stern mindestens haben muss: Knapp 0,1 Sonnenmassen. Andererseits gibt es aber auch eine Grenze für die maximale Masse. Bei ganz großen Sternen entsteht bereits in der Phase vor dem Zünden der Fusion sehr viel Strahlung durch den Kontraktionsprozess. Diese Strahlung drückt den Stern auseinander. Natürlich wirkt normalerweise die gravitative Anziehung diesem Auseinanderdrücken entgegen, so dass die Sterne stabil sind und sich immer weiter kontrahieren können, bis dann im Zentrum die Fusion zündet. Bei Sternen über etwa 100 Sonnenmassen wäre der Druck allerdings so groß, dass die Gravitation den Stern nicht mehr zusammenhalten könnte. Es kommt hier also nie zum Zünden der Fusion. Daher gilt 100 Sonnenmassen als Obergrenze für die Masse von Sternen. Im Zusammenhang mit der Entfernungsbestimmung von ganz weit entfernten Objekten wurde bereits eine weitere Grenze genannt: Ein Weißer Zwerg erreicht die kritische Masse zur Supernovaexplosion. In der Astrophysik wird diese kritische Masse „Chandrasekhar Grenze“ genannt. Damit der Weiße Zwerg diese Grenze erreichen kann, muss Masse zu ihm hinfließen. Das geht nur, wenn sich der Weiße Zwerg in einem Zweiersystem befindet und der andere Stern in einer Phase ist, in der er sich stark ausdehnt. Das ist der Fall, wenn er sich gerade in der Rote-Riesen-Phase befindet. Es fließt also Materie von dem Roten Riesen auf den Weißen Zwerg. Der Weiße Zwerg wird immer massereicher und bei einer ganz bestimmen Masse wird der Druck im Inneren des Weißen Zwerges so hoch, dass die Elektronen regelrecht in die Atomkerne hineingedrückt werden. Das ist die sogenannte „Neutronisierung“, denn es entstehen dabei lauter elektrisch neutrale Neutronen und das führt letztendlich zur Supernovaexplosion. Dieser Prozess startet genau dann, wenn der Weiße Zwerg die Chandrasekhar Grenze von 1,4 Sonnenmassen erreicht, denn genau dann erreicht der Druck die nötige Grenze. Soweit die Theorie. In der Praxis sieht es natürlich etwas komplizierter aus. Die Grenze hängt etwas davon ab, aus welchen Elementen der Weiße Zwerg zusammengesetzt ist. Das bedeutet, dass die Grenze nicht ganz scharf ist. Das

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wiederum bedeutet eine Ungenauigkeit in der Entfernungsbestimmung. Eine weitere Ungenauigkeit kommt dadurch zustande, dass nicht immer das ganze ausgesendete Licht der Supernova bei uns ankommt, sondern dass es auf dem langen Weg z.B. durch Staub etwas abgeschwächt wird. Auch dadurch wird die Entfernungsbestimmung etwas ungenauer. Man muss also auf verschiedene Effekte korrigieren. So sieht also die Wirklichkeit in der Astrophysik oft deutlich komplizierter aus, also man zunächst annimmt.

Grenze in der Astrobiologie? Schließlich stellt sich noch die Frage, ist Leben auf unseren Planeten Erde begrenzt. Diese Fragestellung ragt schon in das Gebiet der Astrobiologie hinein – ein Grenzgebiet zwischen Astrophysik, Biologie und Chemie. Aus astrophysikalischer Sicht kann man dazu einiges zu Wahrscheinlichkeiten abschätzen. Man kann sich also fragen, wie wahrscheinlich ist es, dass sich Leben auch auf anderen Planeten außerhalb unseres Sonnensystems entstanden ist. Im Jahr 1995 wurde der erste Planet außerhalb unseres Sonnensystems gefunden, der einen normalen Stern umkreist11. Damit war klar, was man schon vorher vermutete, dass unser Sonnensystem nichts Besonderes im Universum ist, sondern dass auch um andere Sterne Planeten kreisen. Nach diesen sogenannten Exo-Planeten wurde in der Folge systematisch gesucht und man hat mittlerweile mehr als 3000 gefunden. Warum jedoch dauerte es so lange, bis man den ersten Exo-Planeten fand? Das lag daran, dass Planeten nicht selbst leuchten, sondern nur das Licht des Sterns reflektieren, den sie umkreisen. Sie sind also nicht sehr helle Objekte. Dazu kommt, dass sie auch relativ klein sind im Vergleich zu ihrem umkreisten Stern. Bei dem Versuch, eine Aufnahme zu machen, überstrahlt also der Stern alles und es ist sehr schwer, einen kleinen schwach leuchtenden Planeten direkt daneben zu finden. Daher wurde viele indirekte Methoden entwickelt, wie man Exo-Planeten finden kann. Eine Methode, die man sich bei der Entdeckung des ersten Exo-Planeten 1995 zunutze gemacht hat, ist der sog. Doppler Wobble. Dabei benutzt man die Tatsache, dass sich zwei Körper um den gemeinsamen Schwerpunkt be11 M. Mayor, D. Queloz, A Jupiter-mass companion to a solar-type star. In: Nature 378 (6555), 355–359.

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wegen, wenn sie einander umkreisen. Im Falle des einen Stern umkreisenden Exo-Planeten bedeutet das, dass sich nicht nur der Exo-Planet bewegt, sondern auch der Stern. Der Stern ist natürlich viel schwerer, deswegen ist seine Bewegung nur ganz klein, aber doch messbar. Man muss also nur eine periodische Bewegung eines Sterns nachweisen und hat damit einen guten Kandidaten für ein System, in dem ein Stern und ein Exo-Planet einander umkreisen. So eine Bewegung lässt sich relativ leicht nachweisen über den sog. Doppler Effekt. Diesen Effekt kennt man aus dem Alltag: Wenn ein Zug oder ein Rettungswagen auf einen zukommt bzw. wegfährt, klingt er verschieden. Hier gibt es den Effekt im Schall, aber er funktioniert genauso bei Licht. Man kann also am Licht, das ein Stern uns zusendet, messen, ob er sich manchmal auf uns zu und dann wieder von uns wegbewegt. Es verschieben sich dabei die Linien im Spektrum. Besonders leicht zu messen ist dieser Effekt, wenn der Stern eine große Bewegung macht, also wenn der Planet recht massereich ist und einen Orbit nahe am Stern hat. Das bedeutet, wenn man nur diesen Doppler Wobble zum Auffinden von Planeten benutzt, dann erhält man Auswahleffekte und hat somit kein repräsentatives Sample von Exo-Planeten. Daher wurden noch weitere Methoden angewendet. Die Methode, mit der bis jetzt die meisten Planeten gefunden wurden, ist die Methode der Bedeckung. Man kann das auch in unserem Sonnensystem beobachten. Beim Venus- oder Merkurtransit zieht der Planet an der Sonne vorbei. Er deckt dadurch einen ganz kleinen Teil der Sonne ab. Es kommt daher während dieser Bedeckung etwas weniger Sonnenlicht bei uns an. Der gleiche Effekt ist zu beobachten, wenn ein Exo-Planet vor seinem Stern vorbeizieht. Hier kann man den Planeten von dem Stern zwar nicht sehen, aber der Stern leuchtet scheinbar etwas schwächer. Um mit Hilfe dieses Effekts Planeten zu finden, wurde der Satellit KEPLER von der NASA entwickelt und erfolgreich geflogen12. Ein weiterer Satellit GAIA umkreist derzeit die Erde13. Dieser euro­päische Satellit hat vielfältige Aufgaben. Eine davon ist, Planeten mit der Positionsmethode zu messen. Wie oben schon erwähnt, bewegt sich beim Umkreisen auch der Stern etwas. Während beim Doppler Wobble die Bewegung auf uns zu und von uns weg nachgewiesen wird, kann man aber auch die Änderung der Position des Sterns am Himmel beobachten. Der Effekt ist zwar sehr klein, aber 12 https://www.nasa.gov/mission_pages/kepler/overview/index.html. 13 http://sci.esa.int/gaia/.

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durch die exakten Messungen von GAIA wird erwartet, dass dadurch zehntausende von neuen Planeten gefunden werden. Auch mit dem oben schon erwähnten Gravitationslinseneffekt können Exo-Planeten gefunden werden. Mit Hilfe dieses Effekts konnte z.B. ein Forscherteam nach mehrjähriger systematischer Untersuchung sagen, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit praktisch jeder Stern ein Planetensystem hat. Damit sind wir zurück bei der Frage nach Wahrscheinlichkeiten. Alle bisherigen Beobachtungen von Exo-Planeten ergeben folgendes Bild. Nach einer ganz groben Schätzung gibt es etwa 10 Milliarden erdähnliche Planeten in unserer Milchstraße. Das klingt zunächst danach, als wäre die Wahrscheinlichkeit riesig groß, dass sich Leben an weiteren Orten entwickeln ­konnte. Aber wie viele von diesen Planeten bieten gute Voraussetzungen für Leben bzw. so gute Voraussetzungen für Leben wie unsere Erde? Zunächst braucht Leben ein Lösungsmittel. Dafür bietet sich Wasser an. Dieses Wasser sollte in flüssiger Form vorhanden sein. Auf dem Planeten muss, um eine hohe Wahrscheinlichkeit für Leben zu haben, ein bestimmter Temperaturbereich (0 –100 Grad Celsius) vorhanden sein. Das lässt sich umrechnen in einen bestimmten Abstandsbereich vom Stern, wobei der wieder davon abhängt, wie stark der Stern strahlt. Diesen Bereich nennt man Habitable Zone. Leider ist nicht die ganze Habitable Zone gut geeignet, denn bei Planeten, die sich in der Nähe von schwach leuchtenden Sternen bewegen, stellt sich ein Effekt ein, den wir auch in unserem Sonnensystem bei Merkur finden. Durch Reibungseffekte hat sich die Rotation des Merkurs um seine eigene Achse so weit verlangsamt, dass er der Sonne immer die gleiche Seite zu wendet (so wie das aus dem gleichen Grund auch der Mond mit der Erde macht). Das bedeutet, dass der Planet eine sehr heiße und eine sehr kalte Seite hat, was nicht ideal ist für die Entstehung von Leben. Weiter braucht die Entstehung von Leben auch viel Zeit. Dadurch fallen alle Sterne weg, die sehr kurz leben. Das sind die besonders hell strahlenden Sterne, die ihren Brennstoffvorrat schon innerhalb von einigen Millionen Jahren verbrauchen. Ideal für Leben sind also nicht zu hell und nicht zu schwach strahlende Sterne. Das sind alle Sterne, die an der Oberfläche zwischen 4000 und 7000 Grad heiß sind (zum Vergleich: die Sonne hat etwas weniger als 6000 Grad an der Oberfläche). Das sind in unserer Milchstraße etwa 5–10% der Sterne. Leben braucht auch möglichst konstante Bedingungen. Das ist bei unserer Erde der Fall, weil sie sich nur um einen Stern, die Sonne, bewegt. Wie sähe das aus bei einem Doppel- oder Mehrfach-Sternsystem? Hier sind die Orbits

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nicht so stabil und die Planeten können starken Temperaturschwankungen unterliegen. Wenn man also nur Einzelsterne in Betracht zieht, um eine hohe Wahrscheinlichkeit für Leben zu gewährleisten, dann darf man aus den verbleibenden Sternen wieder nur etwa 10% auswählen. Auch an die Planeten sollten einige Bedingungen gestellt werden. Sie sollten sich auf einer möglich runden Bahn, also einer möglich wenig elliptischen Bahn befinden, um große Temperaturschwankungen zu vermeiden. Auch die Oberfläche des Planeten sollte einen felsigen Charakter haben wie bei der Erde und nicht eine Gasoberfläche, wie das z.B. beim Jupiter der Fall ist. Besonders günstig wirkt sich auf der Erde auch aus, dass sie ein Magnetfeld hat, das die Erdoberfläche vor hochenergetischen geladenen Teilchen aus dem Sonnenwind und dem Weltall schützt. Auch die Tatsache, dass in unserem Sonnensystem ein großer Planet wie Jupiter ist, wirkt sich positiv auf die Erde aus. Jupiter wirkt fast wie ein riesiger Staubsauger, indem er viele Asteroiden einfängt. Ein Asteroideneinfall auf der Erde kann bekanntlich sehr drastische Effekte für das Leben haben. Ein weiterer Punkt, der sich günstig auf das Leben auf der Erde ausgewirkt hat, ist, dass die Erde einen relativ großen Mond hat. Er bewirkt, dass die Erdachse sehr stabil ist, und damit sind auch die Jahreszeiten stabil. Schließlich muss auch noch die Position des Sterns in der Galaxie beachtet werden. Wenn sich der Stern nahe des Zentrums der Galaxie befindet, dann befindet er sich in einem Gebiet mit hoher Sterndichte. Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sich in der Umgebung Supernovaexplosionen ereignen. Die mit ihnen verbundenen Stoßwellen haben fatale Folgen für die Atmosphäre von Planeten. Auch geben einige andere Sterne hochenergetische Strahlung ab, die ungesund für Leben wäre. Andererseits sollte der Stern auch nicht zu weit außen in der Galaxie liegen, denn dort befinden sich weniger von den Elementen, die schwerer als Helium sind. Da die Wahrscheinlichkeit, dass sich Planeten überhaupt bilden, von der Häufigkeit dieser „schwereren“ Elemente abhängt, wird es nach außen hin immer unwahrscheinlicher, Planeten zu finden und damit auch einen für Leben geeigneten Planeten zu finden. Das Sonnensystem befindet sich übrigens gerade zwischen der inneren und der äußeren derartigen Grenze in der Milchstraße. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Bedingungen auf der Erde ganz besonders günstig für Leben sind. Obwohl der Ausgangspunkt etwa 10 Milliarden erdähnliche Planeten war, reduziert sich die Zahl deutlich, wenn man alle Wahrscheinlichkeiten mit ins Kalkül einbezieht. Natürlich kann auch einmal zufällig Leben dort einstehen, wo die Wahrscheinlichkeit nicht so hoch ist. Daher wird die Möglichkeit sicher nicht ausgeschlossen, dass auf mehreren

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Planeten in unserer Milchstraße Leben entstanden ist. Aber insgesamt ist es doch erstaunlich, dass es wohl keine Millionen von Planeten geben wird, die ähnlich günstige Bedingungen aufweisen wie die Erde. Natürlich bleiben die Astrophysiker nicht stehen bei der Planentensuche, sondern es werden nun mehr und mehr dieser Planeten genauer untersucht. Um nach Leben zu suchen, verwendet man u.a. wieder die oben schon erklärte Bedeckungsmethode. Nur misst man nicht einfach, ob sich die Strahlung etwas verringert, sondern man misst auch die unterschiedlichen Spektren vor und während der Bedeckung. Da während der Bedeckung etwas von dem Sternlicht durch die Atmosphäre des Planeten laufen muss, kann man damit die Planetenatmosphäre auf Lebensindikatoren wie Sauerstoff, Wasser oder Methan untersuchen. Das liegt innerhalb der Möglichkeiten existierender Technologien bzw. der Technologien, die gerade entwickelt werden.

Technologische Grenzen Soweit zu den Beispielen für prinzipielle und physikalische Grenzen. Was uns in der alltäglichen Forschung dauernd begegnet und daher viel beschäftigt, sind die technologischen Grenzen. Diese technologischen Grenzen werden zwar oft durch gute Ideen überwunden, aber oft sind auch einfach durch die finanziellen Rahmenbedingungen hier Grenzen gesetzt. Hier will ich nur einige Beispiele nennen. Bei Teleskopen hat sich viel verändert. Ein wichtiger Punkt ist dabei der Durchmesser, denn die Sammelfläche bestimmt die Menge des Lichts, das von Teleskopen eingefangen wird. Mit Linsenfernrohren ist man schon vor langer Zeit bei relativ kleinen Durchmessern an eine Grenze gestoßen, und es wurde dann umgestellt auf Spiegel, da diese keine Linsenfehler aufweisen, kein Licht schlucken und auch leichter gelagert werden können, da man sie nicht nur am Rand, sondern auf der ganzen Unterseite unterstützen kann. Nachdem die Spiegel dann immer größere Durchmesser bekamen, waren auch die konventionellen Spiegel so schwer, dass man sie nur noch schwer exakt ausrichten und in der richtigen Form halten konnte. Beides ist extrem wichtig, um ein scharfes Bild zu erhalten. Man ging dann dazu über, die Spiegel nur noch ganz dünn zu machen und sie dafür mit Stempeln auf der Rückseite immer in die richtige Form zu bringen. Diese Technik eröffnete dann zusätzlich die Möglichkeit, mit den Stempeln auch noch die atmosphärische Unruhe herauszukorrigieren. Und

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schließlich ging man noch einen weiteren Schritt: Es wird nun nicht mehr nur ein Spiegel in ein Teleskop eingebaut, sondern es wird nun eine Wabenstruktur aus vielen hundert Spiegeln konstruiert. Mit dieser Technik werden derzeit Teleskope mit Spiegeldurchmessern von 30 – 40 Metern gebaut, z.B. das E-ELT (European Extremely Large Telescope) bei der Europäischen Südsternwarte in der chilenischen Atacama Wüste, das etwa Mitte der 2020er Jahre in Betrieb gehen wird14. Diese Beispiele zeigen gut, wie einfallsreich Forscher sind, wenn sie an technologische Grenzen stoßen. Auch bei Forschungssatelliten ist ein Trend zu immer größeren und komplexeren Geräten festzustellen. Um die finanziellen Mittel aufbringen zu können, kooperieren die Weltraumagenturen der verschiedenen Kontinente mehr und mehr miteinander. Planungs- und Bauzeiten für Satelliten wie etwa eLISA/ NGO betragen mehrere Jahrzehnte, so dass die Konzeption von Satelliten oft von einer anderen Wissenschaftlergeneration gemacht wird als die Messungen und Auswertung der Daten. Ein weiteres Beispiel, das auch in der Physik sehr relevant ist, ist die Leistung von Supercomputern. Hier gibt es eine empirische Regel, das sog. Moore­sche Gesetz. Es besagt, dass sich die Leistung von Supercomputern etwa alle 1,5 – 2 Jahre verdoppelt. Gordon Moore publizierte diese Regel bereits in den 1960er Jahren, und die Vorhersage hat sich erstaunlicherweise mehr oder weniger ein halbes Jahrhundert lang als richtig erwiesen! Auch hier hat man dieses kontinuierliche Verschieben der Grenzen nur durch vielfältige Entwicklungen erreichen können. Auch die Empfindlichkeit von Detektoren erweiterte die Grenzen deutlich. „Empfindlich“ bedeutet hier, dass selbst ein schwaches einfallendes Licht ein großes Signal macht. In der Astrophysik wurden früher Aufnahmen mit Fotoplatten gemacht. Seit einigen Jahrzehnten werden nun „Chips“ wie in den digitalen Fotoapparaten benutzt. Übrigens, nur durch die Weiterentwicklung in der Astrophysik sind diese Chips so empfindlich, robust und günstig geworden, dass sie dann schließlich als Massenware herstellbar waren. Von Astrophysikern werden sie CCDs (Charge Coupled Device) genannt. Sie bieten die Möglichkeit von langen Belichtungszeiten und die Möglichkeit der sofortigen Speicherung der Daten im Computer. Sie sind sehr empfindlich, und die Menge des Lichtes ist proportional zum Größe des Signals. All das sind entscheidende Vorteile gegenüber den alten Fotoplatten.

14 http://www.eso.org/public/teles-instr/e-elt/.

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Viele weitere Beispiele könnte man hier als drastische Verschiebung der Grenzen anführen, die viele Entwicklungen und Entdeckungen in der Physik möglich machten.

Resümee Forscher stoßen offensichtlich dauernd an Grenzen in der Physik. Dieses Anstoßen hat man in vielen Fällen als Herausforderung angesehen, und so ist es im Laufe der Jahre gelungen, viele Grenzen zu verschieben – in manchen Fällen um viele Größenordnungen. Aus dem Anstoßen an gewisse Grenzen hat man aber auch Prinzipielles über das Universum lernen können. Die Erkenntnisse der Physik haben schon lange die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens überschritten. Weder die Dimensionen von Elementarteilchen noch die von Galaxien oder noch größeren Objekten im Universum sind für uns greifbar. Auch die Phänomene Quantelung, Verschränkung und Relativität sind nicht mit unserer tagtäglichen Erfahrung, sondern nur mit geeigneten Beschreibungen/Formeln in den Griff zu bekommen. Meiner Einschätzung nach warten noch viele, insbesondere technologische Grenzen darauf, angegangen und erweitert bzw. aus dem Weg geräumt zu werden. Die neuen Teleskope und Satelliten in der Astrophysik werden dazu sicher einen substanziellen Beitrag leisten. Daher bin ich sicher, dass in den kommenden Jahren noch sehr viele neue, spannende und überraschende Ergebnisse und Entdeckungen aus dem Bereich der Physik zu erwarten sind.

Grenzen einer rein naturwissenschaftlichen Forschung Ein Plädoyer für transdisziplinäre Zugänge Matthias Beck

1. Hinführung und Problemaufriss Die eine Welt kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden: aus der Perspektive der betroffenen Menschen, der Beobachter oder aus der Distanz der Verobjektivierung durch die Wissenschaften. Dabei sind Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu unterscheiden. Naturwissenschaften und die sie betreibenden Naturwissenschaftler stellen Hypothesen und Theorien über die Zusammenhänge der Welt auf und versuchen, diese mit Experimenten zu verifizieren oder zu falsifizieren. Sie befassen sich mit den ausgedehnten Dingen, die René Descartes als res extensa bezeichnet hat. Das Ausgedehnte kann gemessen werden: es hat Länge, Breite, Tiefe, Gewicht. Messbarkeit, Experiment und Wiederholbarkeit sind die Paradigmen der Naturwissenschaften. Naturwissenschaftliche Experimente können bei bekannter Versuchsanordnung auf der ganzen Welt mit ähnlichen Ergebnissen wiederholt werden. Naturgesetze gelten auf der ganzen Erde, die Ergebnisse der Forschergruppen können in internationalen Journalen veröffentlicht werden. Das ist der weltweite Siegeszug der Naturwissenschaften bis heute. Dabei ist zu bedenken, dass die oft unausgesprochene Bedingung der Möglichkeit dafür, dass überhaupt Naturwissenschaft betrieben werden kann, die Tatsache ist, dass die Welt geordnet ist. Nur deshalb können Ergebnisse aus China mit Erkenntnissen in Europa verglichen werden. Das heißt nicht, dass die Welt und der Kosmos eine starre Ordnung im Sinne mechanistischer Vorgänge darstellen. So gibt es zum Beispiel im mikrophysikalischen Bereich auch so etwas wie Unordnung, Chaos und vielleicht sogar „Freiheitsgrade“. Aber dennoch ist der Kosmos geordnet und die Sonne geht jeden Morgen wieder im Osten auf und nicht zufällig mal im Norden. Im Organismus schlägt das Herz und produziert keinen Urin. Die Augen schauen und hören nicht. Kommt

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diese Ordnung durcheinander – wie es bei Krebserkrankungen geschieht –, ist dies mit dem Leben nicht mehr vereinbar. Hier tauchen Zellen aus der Lunge im Gehirn auf, wo sie nicht hingehören. Man spricht von Metastasen. Diese Ordnung des Kosmos ist schon – hier kommt eine theologische Perspektive ins Spiel – in der Schöpfungsgeschichte im Alten Testament in einer Bildersprache beschrieben. Dort heißt es, dass die Erde zunächst wüst und leer war. Sie war das totale Tohuwabohu. Das ist das hebräische Wort für Chaos. Aber der Geist Gottes schwebte über den Wassern – bildlicher heißt es: er brütete über den Wassern – und ließ aus dem Tohuwabohu Ordnung werden. Aus Chaos entsteht Kosmos. Selbst wenn nach heutigem Kenntnisstand im mikrophysikalischen noch Chaos und Unordnung vorkommen, kann dieses ­Chaos nur im Raum einer größeren Ordnung existieren. Denn wäre alles Chaos, gäbe es das Chaos nicht und die Welt ginge unter. Kein Organismus würde funktionieren und Planeten würden zusammenstoßen. Ordnung und Chaos gehören offensichtlich zusammen, innerhalb einer großen Ordnung gibt es im Kleinen eine Art Chaos, das Flexibilität und ganz rudimentäre „Freiheitsgrade“ schafft. In theologischer Sprache bringt der göttliche Logos diese Ordnung hervor; ein Naturwissenschaftler würde diese Frage nicht so stellen, sondern er nimmt aus seiner wissenschaftlichen Methode heraus diese Ordnung als gegeben an und versucht, von dort aus, die Welt immer besser zu verstehen. Hier befinden wir uns bereits im interdisziplinären Dialog. Der Begriff „transdisziplinär“ sollte dort verwendet werden, wo man nicht erst im Nachherein die verschiedenen Wissenschaften ins Gespräch bringt, sondern bei neuen Forschungsprojekten von Anfang an verschiedene Disziplinen beteiligt. Beim europäischen Human-Brain-Project, bei dem es um die Erforschung des menschlichen Gehirns geht, sind solche Zugänge angedacht. Diese Ordnung ist eine Grundbedingung dafür, überhaupt Naturwissenschaften betreiben zu können. Ein Naturwissenschaftler würde aus seiner Disziplin heraus nicht bis zu diesem letzten Grund eines Schöpfergottes zurückgehen, sondern die Entstehung der Welt als gegeben hinnehmen. Er würde wohl den Urknall an den Anfang setzen. Das kann der Theologe auch. Aber er fragt noch weiter zurück „hinter“ den Urknall. Er fragt nach den letzten Gründen des Seins. Und er fragt, was denn da knallt. Denn von der Logik her ist klar, dass da, wo nichts ist, auch nichts knallen kann. Es muss wenigstens eine Energie vorhanden sein. Und Energie kommt von en ergeia und das heißt übersetzt: etwas ins Werk setzen. Was aber war vor der Energie und wie kann aus dem Nichts etwas werden? Hier würde die Theologie sagen, dass nur der

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Schöpfer aus dem Nichts etwas machen kann. Er kann einen Anfang setzen, creatio ex nihilo, Schöpfung aus dem Nichts. Die Theologie fragt also ganz grundsätzlich danach, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts (Leibniz). Naturwissenschaften fragen hingegen, wie die Welt entstanden sein könnte und wie sie sich weiterentwickelt hat. Beides sind auch methodisch ganz andere Zugänge zur Interpretation der Welt. Hier all diesen Fragen steckt noch eine ganz grundsätzliche Problematik. Es stellt sich die Frage, ob durch die Summativität der Einzelerkenntnisse auf das Erfassen von der Einheit der Welt und des Menschen hingearbeitet werden kann (von außen nach innen) oder ob umgekehrt allen Einzelerkenntnissen die Einheit der Welt zugrunde liegt und von ihr ausgegangen werden muss (von innen nach außen). Genügt es, sich im interdisziplinären Dialog auf eine gemeinsame Mitte zuzubewegen, oder muss man im transdisziplinären Zugang von dieser gemeinsamen Mitte ausgehen und von dort her die Einzelergebnisse einordnen? Anders gefragt: Ist durch das additive Zusammenfügen der Einzelerkenntnisse verschiedener Wissenschaftsgebiete das jeweilige Phänomen integral zu erfassen? Auf die vorliegende Fragestellung eines transdisziplinären Zugangs hin zugeschnitten, stellt sich die Frage, ob Philosophie oder Theologie – die beide auf unterschiedliche Weise auch nach der Einheit der Welt und des Menschen Ausschau halten – den übrigen Wissenschaften nur additiv einen weiteren Aspekt hinzufügen, oder ob ihnen in diesem transdisziplinären Dialog die integrative Aufgabe zufällt, von einer gemeinsamen Mitte aus zu denken? Diese Fragen gilt es wenigstens ansatzweise zu klären.

2. Theologie als Grund- und Integrationswissenschaft1 So eigenartig es für moderne Ohren klingen mag: die Universitäten sind um 1200 aus den Kathedralschulen und somit aus der Theologie hervorgegangen. Der christliche Glaube suchte immer schon nach Reflexion: Fides quaerens intellectum heißt es bei Anselm von Canterbury, der Glaube sucht den Intellekt. Das Christentum ist eine Religion des Logos.2 Dieser Logos Gottes zeigt sich in der Person Jesu Christi, er zeigt sich aber auch in der Natur mit ihren Geset1 Es geht hier um eine christliche Theologie. Inwieweit Theologien anderer Religionen auch diese integrierende Kraft haben, muss jede Religion für sich beantworten. 2 Im Anfang war der logos und der logos ist Fleisch geworden (Joh 1.1)

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zen. Schließlich zeigt er sich im Menschen mit seiner Verantwortung3 für die Schöpfung und seiner Fähigkeit, die Gesetze der Natur zu entdecken. Anders gesagt: Die Ur-Logik Gottes zeigt sich auf je verschiedene Weise in der Natur, im Menschen und in den reflektierenden Wissenschaften. Das Christentum ruht auf dem Judentum auf. Dort begann – so glaubt das Judentum – der letzte Urgrund des Seins, nach dem die Menschen immer gesucht haben, sich zu zeigen. Dieser Urgrund des Seins beginnt nach Auffassung des Alten Testamentes4 zu sprechen und zu handeln. Er spricht zum Volk Israel und führt es aus der Knechtschaft Ägyptens heraus in die Freiheit. Dieses Sprechen und Handeln Jahwes wird mit dem hebräischen Begriff „dabar“ umschrieben. Der Begriff dabar wird dann ins Griechische mit logos übersetzt. Der Urgrund des Seins ist Logos, ist Ur-Logik, Ur-Sinn, Ur-Ordnung. Dieser logos wird Mensch, so die Auffassung des Christentums. Der logos inkarniert sich in der Person Jesu Christi. Man spricht von der Inkarnation des göttlichen logos im Unterschied zum Islam, wo das göttliche Wort Buchstabe des Korans wird. Dies nennt man Illiteration. Dieser logos, die Urlogik der Welt, zeigt sich nicht nur in der Person Jesu Christi, sondern in anderer Weise auch in verschiedenen Dimensionen des Seins: in den Gesetzen der Natur, aber auch in der Gesetzen des Geistes und der Freiheit. Da der Urgrund des Seins logos ist, kann es keinen Gegensatz geben zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Der eine logos findet sich auch in Bio-logie, Sozio-logie, Psycho-logie und Theo-logie. Jede dieser Wissenschaften hat ihre je eigene Methode zur Interpretation der Welt. Die mittelalterliche Sicht von der Einheit der Welt ist zerbrochen, die Wissen3 Wenn man Logos ins Deutsche mit „Wort“ übersetzt, wird hier der Bezug zur Ver-antwort-ung des Menschen klar: Im Anfang war das Wort heißt es im Johannesevangelium (Joh 1.1), und dieses Wort Gottes wird Mensch in der Person Jesu Christi. Dieser Logos zeigt sich aber auch in der Ordnung der Natur sowie im Menschen, der ein Tempel des göttlichen logos und des göttlichen Geistes ist. Der logos als Wort „wortet“ in verschiedener Weise in der Welt und der Mensch muss darauf je neu ant-worten. Darin besteht seine letzte Verantwortung. Dies gilt auch für die Wissenschaften. Der Wissenschaftler ist letztlich der Wahrheit verpflichtet. Er sucht sie implizit, wenn er fragt, was die Welt im Innersten zusammenhält. 4 Der Begriff „Altes Testament“ ist aus der Perspektive des Christentums gesprochen, das die Botschaften über die Person Jesu Christi in dem Buch aufgeschrieben haben, das die Christen „Neues Testament“ nennen. Wenn aus jüdischer Sicht der Messias Jesus Christus noch nicht da war, gibt es kein Neues Testament und dann auch kein Altes Testament, sondern nur die Tora als die fünf Bücher Mose, andere Geschichtsbücher sowie weitere Schriften wie die Psalmen.

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schaften haben sich auseinanderentwickelt und sollten sich heute in komplementären Zugängen wieder aufeinander zu bewegen.

3. Berührungspunkte zwischen Naturwissenschaft und Theologie Zwischen Naturwissenschaften und Philosophie-Theologie gibt es viele Berührungspunkte. Beide Wissenschaften wollen auf je unterschiedliche Weise Antwort auf die Frage nach dem Kosmos und seinen Gesetzen in Natur und Geist stellen. Beide verwenden dazu andere Methoden. Die Theologie – das wurde schon gesagt – interessiert mit Leibniz mehr die Frage, warum die Welt überhaupt existiert, und Naturwissenschaftler wollen wissen, wie die Welt entstanden sein könnte sich weiter entwickelt. Sie nehmen oft den Urknall als gegeben hin und fragen nicht weiter nach. Seit diesem Urknall hat sich die Welt entfaltet und zur Erklärung dieser Entwicklung hat Charles Darwin eine Theorie entworfen, die Evolutionstheorie. Diese Theorie gibt Erklärungsmuster vor, die mit Experimenten bestätigt werden sollen. Das ist Grundlage und Methode jeder Naturwissenschaft: eine Theorie aufzustellen und diese dann mit Experimenten zu verifizieren oder zu falsifizieren. Es kann passieren, dass eine bisher bewährte Theorie durch eine bessere Theorie ersetzt wird. Ein zweiter Berührungspunkt für Theologie und Naturwissenschaft ist das Verhältnis von Geist und Gehirn oder – größer gefasst – jenes von Seele und Leib (unten ausführlicher). Naturwissenschaftler könnten sich dafür interessieren, wieviel Gramm ein Gehirn wiegt oder welche Potentialschwankungen im Gehirn ablaufen. Sie könnten aus der Messung der Potentialschwankungen schließen, dass daraus Gedanken und Handlungen aufsteigen. Der Philosoph würde sofort fragen, ob das Gehirn die Ursache des Geistes ist und ob der Geist aus der Materie aufsteigt oder ob es auch umgekehrt sein könnte, dass der menschliche Geist das Gehirn prägt. Diese Problematik ginge weiter zur Frage, ob der Mensch überhaupt frei ist oder den „Befehlen“ des Gehirns folgen muss. Hier kämen wiederum Philosophie und Theologie ins Spiel und würden reflektieren, was Freiheit eigentlich ist und was es bedeuten würde, wenn der Mensch gar nicht frei wäre? Hätte er dann noch Verantwortung? Wäre er schuldfähig? Die Naturwissenschaften stehen in der Gefahr, nur den messbaren Anteil der Gedanken (z.B. die Potentialschwankungen im Gehirn)

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schon für das ganze Phänomen zu halten. Sie übersehen dabei, dass sie nur die „Außenseite“ des Gedankens erfassen, nicht aber den Gedanken selbst. Gerade im Bereich der Gehirnforschung tritt die Frage der Unterscheidung und des Zusammenspiels zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften immer deutlicher hervor. Und schon kommt eine neue Dimension ins Spiel durch die zunehmende Computerisierung. Ist „künstliche Intelligenz“ etwas Ähnliches wie menschliche Intelligenz? Hat der Computer einen Geist, kann er denken? Hier bekommt die Schnittstelle zwischen Naturwissenschaft, Technik und Philosophie-Theologie eine ganz neue Brisanz. Daher ist das groß angelegte HumanBrain-Project der EU auch transdisziplinär angelegt.

4. Zur aktuellen Situation der Naturwissenschaften mit ihren Paradigmenwechseln Im Kontext der Entwicklung der Naturwissenschaften und dies wiederum im „Dialog“ mit der Theologie hat es mehrere Paradigmenwechsel gegeben. Ein erster Paradigmenwechsel hat mit dem Wandel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild begonnen. Hierbei gab es eher Diskrepanzen mit der Theologie. Dabei muss man vom Ergebnis her sagen, dass die kosmologischen Erkenntnisse, dass die Sonne im Mittelpunkt unseres Sonnensystems steht, auch theologisch viel plausibler ist als das geozentrische Weltbild mit der dunklen Erde als Mittelpunkt. Die Sonne als Lichtkegel des Sonnensystems oder die Vorstellung vom sol invictus als dem unbesiegbaren Sonnengott der Römer sind mit der Vorstellung von Jesus Christus als dem Licht der Welt viel plausibler als wenn die dunkle Erde der Mittelpunkt wäre. Diese kann ohne die Sonne gar kein Leben hervorbringen. In gewisser Weise ist auch die Evolutionstheorie von Charles Darwins ein Paradigmenwechsel. Der Mensch, der sich bisher als Krone der Schöpfung empfand, stand immer in der Gefahr, die Natur auszubeuten und sie als ein Gegenüber wahrzunehmen und zu „behandeln“. Im Zuge der Rezeption der Evolutionstheorie erkennt der Mensch immer mehr, dass er Teil dieser Schöpfung ist und sich gleichsam den eigenen Ast absägt, auf dem er sitzt, wenn er weiterhin die Welt ausbeutet und Pflanzen sowie Tiere gering achtet. Im Schöpfungsauftrag wurde ihm schon gesagt, er solle die Welt gestalten, nicht ausbeuten! Sehr wohl hat der Mensch eine besondere Stellung im Kosmos.

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Aber er trägt auch Verantwortung für sich und die Erde. Er muss im letzten Ant-wort geben auf das Ur-Wort. Dieser Verantwortung muss er sich stellen, er ist der Herr der Schöpfung. Er soll Gestalter, Gärtner und Diener sein. Das Verhältnis von Theologie und Evolutionstheorie war lange Zeit nicht gut. Mancher Theologe glaubte, wenn die Evolutionstheorie die Entstehung der Welt und deren Fortgang erklären könne, werde die Frage nach Gott überflüssig. Hinter dieser Auffassung steht ein falsches Gottesbild, das Gott als den Lückenbüßer für das Unerklärliche nimmt. Dieses Gottesbild wird durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse immer weiter zurückgedrängt, nicht aber Gott selbst. Gott ist nach jüdisch-christlicher Auffassung der Urheber und Träger des Seins. Er kann eine Initialzündung setzen, die die Tradition „Schöpfung aus dem Nichts“ nennt. Nach dieser Initialzündung läuft der Entwicklungsprozess von selbst ab. Diese Erkenntnis ist mit einem christlichen Gottesbild sehr gut vereinbar. Vom Ergebnis her kann wiederum ein Schulterschluss zwischen Evolutionsbiologie und Theologie stattfinden: Wie bei der Zeugung eines Kindes die Verschmelzung von Samen und Eizelle eine Art Initialzündung darstellt für einen Prozess, der dann achtzig Jahre von alleine abläuft, kann auf anderer Ebene auch der Urknall als eine Art Initialzündung gesehen werden, die die Entwicklung des Kosmos in Gang bringt. Es gibt bereits eine Forschungsrichtung, die die Embryonalentwicklung mit der Evolutionsgeschichte in Verbindung bringt. Sie nennt sich Evo Devo, evolutionary development. Der nächste „Paradigmenwechsel“ fand statt mit der Entwicklung der Quantenphysik, die die Newtonsche Mechanik um ein wesentliches Element erweitert hat. Hier zeigt sich, dass die „Starrheit“ des mechanistischen Denkens aufgebrochen wird und sich im mikrophysikalischen Bereich ein Stück Unordnung zeigt. Das bedeutet eine gewisse Unschärfe in der Bestimmbarkeit von Ort und Impuls von mikrophysikalischen Teilchen (Heisenbergsche Unschärferelation). Damit erweist sich die Welt als nicht vollständig mechanistisch festgelegt. Es entstehen gewisse „Freiheitsgrade“ und Unvorhersehbarkeiten. Mit der Heisenbergschen Unschärferelation zeigt sich auch die Begrenztheit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Da Ort und Impuls mikrophysikalischer Teilchen grundsätzlich nicht gleichzeitig bestimmbar sind (Unschärfe oder Unbestimmtheit), zeigt sich, dass die Natur allein mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht vollständig erfassbar ist. Ein weiterer Paradigmenwechsel hat vor einiger Zeit in der Biologie, speziell in der Genetik begonnen. Dachte man noch bis vor einigen Jahren, dass die Information für den Körper und für Krankheit und Gesundheit allein in

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den Genen liegt, weiß man heute, dass Gene aktiviert und inaktiviert werden müssen. Ein geschädigtes Gen löst noch keine Krankheit aus, sondern diese entsteht erst, wenn das entsprechende Gen aktiviert ist. Diese aktivierenden und inaktivierenden Zusatzinformationen nennt man epigenetische Einflüsse. Die Interaktionen von genetischen Grundinformationen und epigenetischen Verschaltungsinformationen beginnen bereits in der Embryonalentwicklung. Bis zum Achtzellstadium (etwa 4. Tag) geht man davon aus, dass noch alle Zellen relativ gleich sind. Ab dann beginnt die Zelldifferenzierung in die etwa 220 verschiedenen Zelltypen, die den menschlichen Organismus auszeichnen. Für diese Differenzierung und Spezialisierung der Zellen werden jeweils unterschiedliche Gene abgeschaltet. Es werden Methylgruppen und andere chemische Verbindungen an die Gene angeheftet und diese werden so „stillgelegt“. So entstehen die unterschiedlichen Zelltypen. Man kann sich das so vorstellen wie bei einer Flöte, bei der jeweils andere Töne herauskommen, wenn bestimmte Löcher verschlossen werden. Viele Informationsträger für diese epigenetischen Verschaltungsprozesse liegen in den Bereichen zwischen den Genen, die man früher für sinnloses Zeug gehalten hat (cheap junk). Sie liegen aber auch im Cytoplasma der Zellen, in der Umgebung der Zellen, in der mütterlichen Umgebung des Embryos und bei geborenen Kindern in allem, was sie umgibt. Schließlich spielen auch alle innerseelischen Vorgänge eine Rolle – bei Embryonen vor allem das Seelenleben der Mutter – sowie beim Erwachsenen sein Denken und Fühlen. Auf 30000 Gene Grundinformation kommen etwa 1,5 Millionen epigenetische Zusatzinformationen. Die Information für den Organismus besteht in einem ständigen Wechselspiel von Genetik und Epigenetik. Die Epigenetik regelt die Gene und die Regler werden selbst wieder durch andere Regler geregelt. Inzwischen versucht die Forschung, diese Regler der Regler zu erforschen. Ein weiterer Paradigmenwechsel findet zurzeit in der Medizin statt. Und zwar entspringt er den naturwissenschaftlichen Forschungen selbst. Im Bereich der sogenannten Pharmacogenomics hat man festgestellt, dass jeder Patient anders auf dieselben Medikamente reagiert. Hat man etwa 50 Patienten mit ähnlichen Grunderkrankungen, ähnlichem Gewicht, ähnlicher Körpergröße und gibt allen Patienten dieselbe Dosis desselben Medikamentes, reagieren doch alle anders. Das hat mit dem ganz individuellen Genom des Einzelnen zu tun. Jeder Mensch hat ein einzigartiges Genom in der Kombination von Genetik und Epigenetik und reagiert daher auch verschieden auf äußere und innere Einflüsse. Daher hat man zwei neue Begriffe geprägt: Individualisierte und Personalisierte Medizin. Der Begriff Individualisierte

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Medizin sollte sich auf das rein naturwissenschaftliche Feld beziehen, das jeden Menschen in seiner einmaligen genetischen Grundausstattung sieht. Der Begriff Personalisierte Medizin sollte sich hingegen auf die ganze Person des Menschen beziehen mit seinem Innenleben, seiner seelischen Verfasstheit, seinem Denken, seinen Beziehungen zu anderen Menschen und seiner Umgebung. Leider wird der Begriff Personalisierte Medizin in der Literatur oft dort verwendet, wo eigentlich von Individualisierter Medizin gesprochen werden müsste. Im Zuge dieser Individualisierten Medizin geht es um eine immer genauere und gezieltere Therapie, die dem einzelnen gerecht wird und dadurch auch Nebenwirkungen reduziert werden können. Hier zeigt sich, dass das rein naturwissenschaftliche Paradigma der Verallgemeinerbarkeit und Wiederholbarkeit von Experimenten nicht mehr ausreicht, um bestimme Phänomene zu erfassen. Die Verallgemeinerbarkeit behält zwar ihre Gültigkeit, muss aber ergänzt werden durch den ganz individuellen Blick auf den Einzelnen mit seiner Biographie, seinem Umfeld und seiner Innenwelt. Diesem Individuellen und der ganzen Komplexität der Person kann man sich ein Stück weit physiologisch durch die Analyse des Genoms nähern, dann aber auch psychologisch durch die Betrachtung der je einmaligen Biographie mit den verschieden Ängsten und Vater- und Mutterbeziehungen und schließlich philosophisch und theologisch-spirituell mit der je einmaligen Sinngebung und der ganz individuellen Berufung des einzelnen Menschen. Vor aller Ethik geht es dabei um anthropologische Fragen der Einzigartigkeit jedes Einzelnen. Beim neu entwickelten sogenannten gene-editing geht es darum, gezielt einzelne geschädigte Gene zu reparieren oder auszuschalten. Zurzeit geht es dabei um die Reparatur in einem schon entwickelten Organismus (somatische Gentherapie). Diskutiert wird aber auch eine Intervention in die Keimbahn des Menschen, also entweder in Samen oder Eizelle oder in einem sehr frühen Stadium des Embryos. Diese genetische Manipulation der Keimbahn betrifft dann alle nachfolgenden Generationen. Während bei der somatischen Gentherapie womöglich manche Nebenwirkungen zu verkraften wären, würde sich eine vielleicht viel kleinere Nebenwirkung bei der Weitergabe in die nächste Generation unkontrollierbar potenzieren. Hier bedarf es von Anfang an einer Risikoabschätzung. Da diese zurzeit nicht möglich ist, sollte von einer Keimbahnintervention abgesehen werden. Wichtiger noch als die Reparatur eines geschädigten Gens könnte aber die Therapie der epigenetischen Verschaltungen sein, die darin bestehen könnte, bestimmte Gene einfach stillzulegen oder stillgelegte Gene zu aktivieren. An

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diesen epigenetischen Therapien wird zurzeit intensiv geforscht. Womöglich spielen hier auch spirituelle Prozesse eine Rolle, die das Innenleben des Menschen ordnen helfen.

5. Konkretisierungen: Das Leib-Seele-Problem und das Geist-Gehirn-Verhältnis Will man das bis hierher Gesagte konkretisieren, könnte man z.B. im Hinblick auf die Hirnforschung fragen, ob die Materie mehr den Geist beeinflusst oder umgekehrt der Geist mehr die Materie. Offensichtlich ist, dass es um ständiges Wechselspiel zwischen Materie und Geist handelt.5 Genauer könnte man fragen, ob das Gehirn die Ursache des Gedankens ist oder der Gedanke – jedenfalls zum Teil – etwas ganz Anderes ist und seinerseits die Materie des Gehirns „in Gang“ setzt. Bringt das Gehirn Gedanken hervor oder sind Gedanken etwas Ursprünglicheres, die von materiellen Veränderungen begleitet sind? Bei Erinnerungen ist es wohl so, dass es sich um zurückliegende geistige Prozesse handelt, die im Gehirn engrammiert, also Materie wurden, auf die dann im Zuge der Erinnerung zurückgegriffen werden kann. Wie aber steht es mit ganz neuen Gedanken? Wo war der Gedanke, bevor er mir kam? Zwar bauen Gedanken auf dem auf, was schon gedacht worden ist, aber es gibt auch das Neue, das so noch nicht bedacht worden ist. Gibt es so etwas wie Inspiration? Woher kommt sie? Sicher scheint zu sein, dass das Denken die Materie verändert und die veränderte Materie womöglich auch das Denken beeinflusst. Eine andere damit zusammenhängende Frage ist, wie das Denken die genetisch-epigenetischen Verschaltungen verändert. Es scheint klar zu sein, dass es hier Zusammenhänge gibt. „Auch das Gehirn ... nimmt direkten Einfluß darauf, welche Gene einer Zelle aktiviert und welche Funktionen von der Zelle infolgedessen ausgeführt werden.“6 Auch die inneren Seelenzustände haben 5 Das folgende schon in ähnlicher Weise veröffentlicht in M. Beck, Seele und Krankheit, Psychosomatische Medizin und theologische Anthropologie, Paderborn 32003, 30ff. Selbst wenn die zitierten Publikationen schon älteren Datums sind, gelten die Grundaussagen noch immer. 6 G. Huether/St. Doering/U. Rüger/E. Rüther/G. Schüßler, Psychische Belastungen und neuronale Plastizität. Ein erweitertes Modell des Streßreaktionsprozesses für das Verhältnis zentralnervöser Anpassungsprozesse, in: U. Kropiunigg/A. Stacher, Ganzheitsmedizin und Psychoneuroimmunologie. Vierter Wiener Dialog, Wien 1997, 126–139, hier 126.

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Einfluss auf die genetische Ebene und damit auch auf Krankheit und Gesundheit: Wie beobachtet wurde, „stellt der seelische Stress der Depression mehrere Gene des Immunsystems ab, die für die Produktion von Immunbotenstoffen zuständig sind.“7 Für das Leib-Seele-Verhältnis können diese unterschiedlichen Zugänge Folgendes bedeuteten: Die alte Seelenlehre des Aristoteles, die später Thomas von Aquin aufgreift, lautet, dass die Seele ein inneres Einheits-, Ganzheits- und Lebensprinzip ist, das von innen her die – wie es bei Thomas heißt – materia prima (auch ein reines Prinzip) zur kon-kreten (con-crescere zusammenwachsen) materia secunda, also zur konkret vorliegenden Materie formt. Die Seele als Formprinzip gestaltet von innen her die Materie des Lebendigen. So entfaltet sich ein Embryo vom Zustand der Zygote über das Zwei-, Vier-, AchtStadium bis zum erwachsenen Menschen. Und das geschieht ganz von selbst. Aristoteles nennt dieses „von selbst“ die Selbstbewegung des Lebendigen. Lebendiges entfaltet sich von innen. Thomas von Aquin bringt die Rolle der Seele als Lebensprinzip so auf den Punkt, dass er sagt, die Seele forme von innen her die Materie zur entfalteten Gestalt: anima forma corporis: die Seele formt den Körper zum Leib. Die Seele sieht man nicht und manche würden auch sagen, die Seele bewirkt nichts. Schaut man auf die moderne Biologie, so versucht diese, das Phänomen „Leben“ mit der Interaktion von Genetik und Epigenetik zu erklären. Aber auch sie bleibt beim Vorletzten stecken und kann das Phänomen „Leben“ nicht vollständig erklären. So kann die Zusammenschau beider Zugänge vielleicht Klarheit schaffen: Die Genetik kann manche Einzelabläufe von außen erklären, und die Philosophie kann die Einheit und Ganzheit des Lebendigen von innen her reflektieren, die den Einzelteilen zugrunde liegt. Von daher kann sie sagen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile und das Ganze als integratives Moment den Einzelteilen zugrunde liegt.

5.1. Der Zugang der Naturwissenschaften

Die Naturwissenschaften und die naturwissenschaftliche Medizin suchen den Menschen dadurch zu erfassen, dass sie Kausalitäten im Rahmen physi7 J. Bauer, Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, Frankfurt a.M. 2002, 136.

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kalischer, (bio-)chemischer und biologischer Zusammenhänge erforschen. Es wurde schon gesagt, dass die Kriterien für intersubjektiv geltende Aussagen über die menschliche Wirklichkeit im Kontext des physikalisch-chemischbiologischen Zugangs zum Menschen sind: Messbarkeit, Reproduzierbarkeit, Objektivierbarkeit und Allgemeingültigkeit auf der Basis experimenteller Versuche. Allerdings: Trotz des Strebens nach Verallgemeinerbarkeit sucht gerade moderne Naturwissenschaft z.B. im Kontext der Personalisierten Medizin auch das je Individuelle zu begreifen. Für die konkrete Medizin wird das sogenannte Leib-Seele-Problem immer wichtiger. Es wurde schon gesagt, dass es im Kontext des Geist-GehirnProblems darum geht, herauszufinden, ob aus der Materie des Gehirns die Gedanken aufsteigen, ob der Geist die Materie beeinflusst oder ob zwischen dem menschlichen Geist und der Materie des Gehirns lediglich Korrelationen feststellbar sind, die dazu führen, dass beim Denken und Fühlen bestimmte Potentialschwankungen zu messen sind. Letztlich kann über die Ursachen der Gedanken nichts gesagt werden kann. Für das größere Leib-Seele-Problem stellt sich die Frage, ob aus materiellen Veränderungen seelische Zustände entstehen (z.B. durch Serotonin-Mangel im Gehirn eine Depression) oder ob umgekehrt die seelischen Phänomene Auswirkungen auf die leiblichen Strukturen haben. Es geht also um die Erforschung der Zusammenhänge zwischen neuronaler Verschaltung im Gehirn und dem menschlichen Geist in seinem Denken und Fühlen. Bei solchen und ähnlichen Fragestellungen stößt man auf die Begrenztheit des naturwissenschaftlichen Zugangs. Sie zeigt sich z.B. darin, dass man zwar eine Korrelation8 von Geist und Materie feststellen kann, wonach „der seelische Zustand dem physikalischen zugeordnet ist.“9 Aber die Feststellung sagt nichts über die Ableitbarkeit des einen aus dem anderen.10 Die Hirn8 Diese Korrelation wird meist als Parallelität von Geist und Gehirn beschrieben. Das heißt, jedem geistigen Prozess ist ein „Gehirnkorrelat“ zugeordnet. Vgl. dazu u.a. das Werk von: Linke/Kurthen, Parallelität von Gehirn und Seele; dann auch A. Gierer, Die Physik, das Leben und die Seele, München-Zürich 1985. Die meisten psychosomatischen Konzepte stellen eine solche „Korrelations-Psychosomatik“ dar. Das heißt, „daß das Seelische – Innen, Sinn (Angst, Wut, die Affekte usf.) – auf ,Physisches‘ ,wirkt‘“: D. Wyss, Erkranktes Leben, kranker Leib. Von einer organismusgerechten Biologie zur psychosomatischen Pathophysiologie, Göttingen 1986, 264. 9 A. Gierer, Die Physik, das Leben und die Seele, München-Zürich 1985, 222. 10 Ebd. 251. Diese von Gierer dezidiert vorgetragene These wird von anderen Autoren so nicht gestützt, da seine Argumente im Detail nicht tragfähig seien. Vgl. dazu die Kritik von M. Carrier/J. Mittelstraß, Geist, Gehirn, Verhalten. Das Leib-Seele-Problem und die Philoso-

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forschung kann zwar „die organische Grundlage der Bewusstseinszustände erforschen, jedoch nicht die Bewusstseinszustände selbst. Sie kann prinzipiell nicht mehr leisten, als psychische Phänomene mit neuronalen Prozessen zu korrelieren.“11 Es existiert „keine logisch zwingende Folge der Gültigkeit der Physik im Gehirn und der eindeutigen Beziehung des jeweiligen seelischen zum physikalischen Zustand.“12 Damit bleibt eine letzte Unentscheidbarkeit, ob die seelischen Reaktionen des Menschen (Emotionen, Gefühle) und die geistigen Aktivitäten (Reflexion, Gedanken) einer materiellen Grundlage entspringen, oder ob umgekehrt materielle Veränderungen die Folge von psychischen Prozessen oder Gedanken sind. „Verhaltensdispositionen, insbesondere solche mit selbstanalytischer Charakteristik, können nicht vollständig aus dem physikalischen Zustand des Gehirns erschlossen werden.“13 Das heißt: „Eine vollständige ,algorithmische‘ Theorie der Leib-Seele-Beziehung erscheint nicht nur praktisch, sondern auch grundsätzlich unmöglich.“14 Die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise stößt an ihre Grenzen, wenn sie darlegen soll, ob (und wie) Geistiges dem Materiellen entspringt, oder umgekehrt, wenn sie bestimmen soll, was Geist, was Bewusstsein und was Identität der Person ist. Da die naturwissenschaftliche Betrachtung ihrem eigenen Selbstverständnis nach vornehmlich Kausalbeziehungen einer Entität zur anderen reflektiert, greift sie von den in der aristotelisch-thomanischen Tradition beschriebenen vier Möglichkeiten einer ursächlichen Beziehung vornehmlich eine heraus, nämlich die der causa efficiens. Diese fragt nach dem „Woher“ einer Gegebenheit, die von außen auf ein anderes einwirkt. Demnach wird von außen durch ein Bakterium eine Krankheit ausgelöst. Die drei anderen causae, die causa formalis, die als Formursache nach dem „Was“ eines Seienden fragt (im Sinne der Seele als innerem Formprinzip), sowie die causa materialis, die als phie der Psychologie, Berlin-New York 1989, 263. Dennoch konstatieren auch diese Autoren, „daß höhere psychische Prozesse physikalisch nicht beschreibbar sind, daß also die Vollständigkeit der Physik in diesem Sinne nicht besteht“: ebd. 259. Es geht nicht darum, die einzelnen Argumente auf ihre Stichhaltigkeit hin zu untersuchen, sondern um die Feststellung, dass eine physikalische Weltauffassung allein nicht alle Phänomene hinreichend erfassen kann. Ein und dasselbe Phänomen muss unter verschiedenen (wissenschaftlichen) Gesichtspunkten betrachtet werden, um es möglichst umfassend zu erklären. 11 H. Goller, Das Leib-Seele-Problem, in: Theologie und Philosophie 72 (1997) 231–246, hier 235. 12 Gierer, Die Physik, das Leben und die Seele, 248. 13 Ebd. 14 Ebd. 249.

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Materialursache nach dem „Woraus“ der Materie fragt (zum Beispiel GenetikEpigenetik), sowie die causa finalis, die nach dem „Wozu“ und dem Ziel fragt, auf das hin ein Seiendes unterwegs ist, bleiben weithin unberücksichtigt. Die moderne Biologie fragt meist nur nach der causa efficiens (wie wird etwas von außen angestoßen) und langsam auch mehr nach der causa materialis (aus welchen Genen und welcher Epigenetik besteht ein Seiendes), aber weniger nach der causa formalis (was ist das innere Wesen eines Lebendigen) und nahezu gar nicht nach der Zielursache (woraufhin zum Beispiel ein Mensch im Letzten ausgerichtet ist).15 Werden naturwissenschaftliche Kriterien als der einzig mögliche Zugang zur Wirklichkeit anerkannt, fallen Phänomene wie Subjektivität, Personalität, Identität, Einmaligkeit, Liebe, Vertrauen, Treue – weil nicht messbar und wiederholbar – aus der Betrachtung heraus. Sie sind in diesem Sinne nicht existent. Es sind also die jeweils der Forschung vorausliegenden Paradigmata, die darüber entscheiden, „welche Phänomene es für eine Wissenschaft geben darf und welche nicht.“16 Die heutige Weltsicht ist weithin auf messbare Parameter eingeschränkt, dies ändert sich langsam durch das Hervortreten des Individuums. So stellt sich die Frage, ob die genannten Phänomene wie Subjektivität, Personalität und Identität unerheblich sind und dem wissenschaftlichen Diskurs entzogen sind und ob mit dem Aufzeigen der Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis das Suchen grundsätzlich an ein Ende gelangt ist. Konkret heißt das für die vorliegende Fragestellung: Ist die Suche nach der Lösung des Leib-Seele-Problems mit dem naturwissenschaftlichen Zugang bereits abgeschlossen, oder kann es auf einer anderen Ebene einer Lösung zugeführt werden? Mit dieser anderen Ebene ist wiederum ein Deutungsfreiraum gegeben, der subjektive Vorentscheidungen mit in die Betrachtung einbezieht.17 15 Vgl. dazu: J. de Vries, Art. „Kausalität“ („Philosophisch“) in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. VI (1961), 96f. E. Runggaldier spricht im Artikel über „Kausalität“ („Philosophisch“) in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. V (1996), 1379 davon, dass durch die wissenschaftliche Weltauffassung des 19. und 20. Jahrhunderts die Kausalität „mehr und mehr zugunsten einer rein funktionalen Abhängigkeitsbeziehung zw. Ereignissen in den Hintergrund gedrängt“ wurde. Vgl. zu den vier Ursachen auch den von R. Heinzmann ins Deutsche übersetzten Traktat von Thomas von Aquin, De principiis naturae – Die Prinzipien der Wirklichkeit. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Übersetzt und kommentiert von Richard Heinzmann, Stuttgart-Berlin-Köln 1999. 16 Th. v. Uexküll, Die Bedeutung der Theorienbildung in der Psychosomatik, in: Psychotherapie, Psychosomatik, medizinische Psychologie 39 (1989) 103–105, hier: 103. 17 Letztlich bringt auch jede naturwissenschaftliche Betrachtung reflektierte oder unreflektierte Vorentscheidungen in ihre Betrachtungen ein. Ein bestimmtes Welt- und Men-

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5.2. Der Zugang der Psychologie Einen ersten Versuch, das Leib-Seele-Verhältnis sowie Phänomene wie „Seele“ „Bewusstsein“, „Personalität“, „Identität“ auf einer die naturwissenschaftliche Sicht übersteigenden Ebene zu erfassen, unternimmt die Psychologie. Sie bemüht sich, die naturwissenschaftlich zunächst nicht direkt messbaren Phänomene des subjektiven Erlebens und Verhaltens genauer zu beschreiben. Wenngleich noch der Behaviorist Burrhus Frederic Skinner (1904–1990) Bewusstseinsphänomene – deren Existenz er nicht leugnete – für wissenschaftlich unerforschbar hielt, da sie intersubjektiv nicht überprüfbar seien18, werden in der heutigen Psychologie sehr wohl kognitive und subjektive Phänomene erforscht.19 Die heutige Psychologie, die mit Biologie, Physiologie und Medizin in enger Verbindung steht, nähert sich dem Menschen unter dem Aspekt des subjektiven Erlebens, Verhaltens und Handelns. Genauer fragt sie, „wie und warum der Mensch bestimmte Gegenstände oder Situationen so und nicht anders wahrnimmt, über sie denkt, sie einschätzt, in ihrer Gegenwart oder bei ihrer Vorstellung fühlt.“20 Sie sucht nach einer Beschreibung der Vorgänge des Wahrnehmens und Erkennens, der Bewertungen und Einstellungen. Es geht ihr um das Erfassen von Phänomenen wie Emotion und Gefühl, Motiv und Motivation, Verhalten und Handeln, Lernen, Denken und Erinnern. So versteht sich die Psychologie „als die Wissenschaft von dem Wie und Warum des Erlebens, Verhaltens bzw. Handelns unter Berücksichtigung der Konstanz, Variabilität und Entwicklung im Kontext biologisch-physiologischer, sozialer bzw. kultureller Bedingungen und Wandlungen.“ 21 Mit „Erleben“ sind dabei alle subjektiven Erfahrungen wie Körperempfindungen, Lust, Schmerz, Wünsche, Bedürfnisse, Willensentschlüsse, Gefühle, Emotionen (Freude, Ärger, Wut), Stimmungen (Heiterkeit, Ängstlichkeit, Melancholie) gemeint, und das Verschenbild, eine vorausgesetzte Ordnung der Welt, eine Vorentscheidung über die herauszugreifenden Partialaspekte menschlichen Lebens (etwa eine Reduktion des Menschen auf den physikalischen Aspekt seiner Existenz) sind in jeder wissenschaftlichen Betrachtung mitgegeben. 18 Vgl. dazu H. Goller, Das Leib-Seele-Problem, in: Theologie und Philosophie 72 (1997) 231–246, hier 245. 19 Vgl. B. Grom, Rehabilitation des Geistes? Die Wiederentdeckung des Kognitiven und Subjektiven in der neueren Verhaltenspsychologie, in: Stimmen der Zeit 200 (1982) 89–103. 20 W. D. Fröhlich, Wörterbuch zur Psychologie, München 201994, 26. 21 Ebd. 26f.

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halten des Menschen umfasst alle „objektiv beobachtbaren und registrierbaren Lebensvorgänge, Reaktionen und Aktivitäten eines Organismus, eines Individuums oder einer Gruppe.“22 Das Erleben stellt einen vom Verhalten und Planen untrennbaren Aspekt dar. „Jedes Verhalten geht einher mit Bedürfnissen, Bewertungen, Gefühlen, Stimmungen, Motivation, mehr oder weniger bewußten Bezügen zu Vergangenem und Zukünftigem, Einschätzungen der Risiken einer geplanten Handlung; es ist von ihnen mitbestimmt.“23 Das Erleben besteht nicht in einem gegenständlichen Vorhandensein, sondern in einer besonderen Weise des subjektiven Sich-Anfühlens. Dieses Erleben „kann insoweit Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden, als es intersubjektiv nachprüfbar ist. Dies trifft auf die Introspektionsberichte und das beobachtbare Ausdrucksverhalten zu.“24 So ist die Psychologie bemüht, „den Menschen in seinem Erleben, Verhalten und Bewußtsein besser zu verstehen.“25 Sie will die Phänomene beschreiben, erklären, vorhersagen und als angewandte Wissenschaft dieses Erleben und Verhalten des Menschen gegebenenfalls verändern. Die Aussagen, die sie über das Erleben und Verhalten macht, „überprüft sie nicht nur auf logische Widerspruchsfreiheit, sondern untermauert sie auch mit systematischen Beobachtungen und Forschungsergebnissen, die sie in kontrollierten Untersuchungen gewinnt.“26 Ihre Begrifflichkeit weist zum Teil noch auf ihre philosophisch-anthropologische Vergangenheit hin, ihre Methode ist aber weitgehend naturwissenschaftlich geprägt und geht über die naturwissenschaftliche Sicht hinaus. „Sie ist keine Philosophie vom Wesen des Menschen oder der Gesellschaft, sie ist dagegen eine Erfahrungswissenschaft, die sich mit Verhalten und Erleben“27 des Menschen befasst. Sie kennt „keine unabänderlichen und ewigen Wahrheiten; ihr Wahrheitsbegriff ist auf Bewährung, Untersuchung und Analyse begründet und ihre Erkenntnisse besitzen überprüfbare Wahrscheinlichkeiten.“28 Die psychosomatische Medizin, die ursprünglich aus einer Verbindung von Psychologie und naturwissenschaftlicher Medizin hervorging, stellt in22 Goller, Das Leib-Seele-Problem, 231. 23 Fröhlich, Wörterbuch zur Psychologie, 27. 24 Goller, Das Leib-Seele-Problem, 232. 25 Ebd.; vgl. dazu auch ders., Psychologie, Emotion, Motivation, Verhalten, Stuttgart-BerlinKöln 1995, Kap I. 26 Goller, Das Leib-Seele-Problem, 235. 27 Fröhlich, Wörterbuch zur Psychologie, 28. 28 Ebd.

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zwischen einen eigenen Wissenschaftsbereich dar. Sie entwickelt eigenständige Konzepte, in denen sie auch das Leib-Seele-Problem reflektiert. Da sie sich um die Erforschung seelischer Ursachen für organische Krankheiten (mit nachweislich organischen Veränderungen) bemüht, spielt insbesondere die Frage nach dem Verhältnis von Seele und Leib eine zentrale Rolle. Die älteren Konzepte der psychosomatischen Medizin sehen noch eine lineare Kausalität zwischen seelischen Ursachen und körperlichen Erscheinungen, während neuere Modelle dieses (lineare) Kausalitätsdenken verlassen und es durch kreisförmige Modellvorstellungen ersetzen, die eine multifaktorielle Genese von Krankheiten annehmen. Die Psychosomatik übernimmt weitgehend die Methodik der Psychologie und lässt soziologische und naturwissenschaftlich-medizinische Erkenntnisse in ihre Modellvorstellungen einfließen. Es geht ihr besonders um die Beziehung des Menschen zu seiner Umgebung. „Psychosomatische Medizin ist die Heilkunde und Wissenschaft der gegenseitigen Beziehungen von seelischen und körperlichen Vorgängen, die den Menschen in engem Zusammenhang mit seiner Umwelt begreift.“29 Die psychosomatischen und psychologischen Konzepte beschreiben Grundvollzüge und Funktionen der Seele, genauer: sie analysieren die diesen Vollzügen zugrundeliegenden seelischen Strukturen. Doch wenn ihre Fragerichtung darauf abzielt, wie etwas erlebt wird, warum ein Mensch eine Situation so und nicht anders wahrnimmt, welche Motive seinem Handeln zugrunde liegen oder welche Prägungen seine Erkenntnisse beeinflussen, dann werden nur bestimmte Funktionen der Seele erfasst, nicht aber deren Wesen, ihr An-sich-Sein. Die Frage, was diesen Funktionen zugrunde liegt und was die Bedingung der Möglichkeit ihrer Vollzüge ist, kommt nicht in den Blick. Die Psychosomatik (Psychologie) bedenkt auch beispielsweise nicht „eine Subjektivität des Wissenschaftlers als die Bedingung der Voraussetzung des Fragens nach dem kategorialen Gegenstand. Die Wissenschaft als solche bedenkt nicht die Subjektivität des erkennenden Menschen, sie denkt nicht das Denken, auch nicht in der empirischen Psychologie, da diese immer nur kategoriale Einzeldaten untereinander verknüpft.“30 Zwar nimmt die Psychosomatik – wie auch die Psychologie – Phänomene des Subjektiven wahr, verbleibt aber auf der Ebene der empirischen Beschreibung der Seelenfunktionen. Fragen nach der Einmaligkeit, Personalität 29 W. Bräutigam/P. Christian/M.v. Rad, Psychosomatische Medizin. Ein kurzgefaßtes Lehrbuch, Stuttgart-New York 51992, 2. 30 K. Rahner, Schriften zur Theologie I–XII, Einsiedeln-Zürich-Köln 1954–1972, hier Schriften X, 106.

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und Freiheit des Menschen sowie nach den Grundbedingungen menschlichen Erkennens können vom psychologisch-psychosomatischen Zugang aus nicht beantwortet werden. Auch die der menschlichen Erfahrung vorausliegende ursprüngliche Einheit der Wirklichkeit, die nicht Summe der empirischen Einzeldaten ist und nicht „eine nachträgliche Extrapolation der Erfahrung auf neue mögliche Einzelobjekte hin“31, wird von Psychosomatik und Psychologie nicht reflektiert.32 Damit zeigen sich auch hier Grenzen der psychologischen Wirklichkeitserkenntnis.

5.3. Der Zugang der Philosophie Diejenige Wissenschaft, die über die den Einzelphänomenen zugrundeliegende Einheit der Wirklichkeit, über Grundphänomene wie Geist und Materie, Freiheit, Person, Subjektivität, Einmaligkeit, Erkenntnis, Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis nachdenkt, ist zunächst die Philosophie. Sie bleibt im Gegensatz zur Naturwissenschaft und Psychologie, die jeweils einen regionalen und kategorialen Gegenstandsbereich mit entsprechender Methode untersuchen, nicht bei einem solchen stehen, sondern zielt mit ihrer Betrachtung auf die Gesamtheit des Seins und auf einzelne Phänomene, insofern sie unter dem Aspekt des Seins betrachtet werden. Sie blendet dabei grundsätzlich keine Fragestellung aus ihrer Wirklichkeitserkenntnis aus und hat im Sinne der Naturwissenschaften keine spezielle Methode. Ihre einzige Beschränkung ist die Widerspruchsfreiheit ihrer Argumente. Im Kontext der vorliegenden Thematik kann die Philosophie darüber nachdenken, ob die Seelenauffassung der Psychologie das Phänomen Seele hinreichend erfasst. Sie vermag ihrerseits darzulegen, was Seele, Geist, Materie, Erkenntnis, Freiheit, Verantwortung, Personalität, Einmaligkeit aus dem Blickwinkel des An-sich-Seins sind. Sie kann Wesenselemente von Geist und Materie herausarbeiten und über die Bedingung der Möglichkeit geistiger Erkenntnis reflektieren. Anders als die Kausalzusammenhänge aufweisende Naturwissenschaft und die das menschliche Erleben und Verhalten analysierende 31 Ebd. 32 „Die Wissenschaften als solche bedenken auch nicht die der aposteriorischen Erfahrung der Einzelgegenstände vorausgehende ursprüngliche Einheit der Wirklichkeit, die nicht die bloße Summe der empirischen Einzeldaten ist“: ebd. 106. Vgl. insgesamt Rahners Ausführungen zum Verhältnis von Theologie und Philosophie zu den anderen Wissenschaften: ebd. 70–112.

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Psychologie ist die Philosophie fähig, den Menschen als Geistwesen in seiner Ausgerichtetheit auf den Gesamthorizont des Seins zu bestimmen und ihn von der Gesamtheit des Lebens und des Seins aus zu betrachten. So ist es der Philosophie aufgegeben, die Verwiesenheit des Menschen auf einen letzten Grund aufzuweisen und über die Einheit der Wirklichkeit nachzudenken. Sie kann zeigen – wie Hegel es formuliert hat –, dass der Mensch als Wesen des Geistes grundsätzlich auf das Absolute ausgerichtet ist. Die Philosophie kann ebenfalls aufweisen, dass die Einheit der Welt und des Menschen nicht die Summe empirischer Einzelphänomene ist, sondern allen kategorialen Einzeldaten vorausliegt. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, so hat es Aristoteles formuliert. Die Philosophie betrachtet neben dem, was am Ganzen zu verallgemeinern ist, auch das Einmalig-Besondere des Geistigen. Dieses Einzelne, Geistige, Personale ist wiederum in dem Sinn zu verallgemeinern, als man darüber allgemeingültige Aussagen treffen kann. Die Philosophie kann im Kontext der vorliegenden Thematik des Zusammenhanges der Wissenschaften nach der aller kategorialen Einzelerkenntnis vorausliegenden transzendentalen Bedingung der Möglichkeit aller Wirklichkeit fragen.

5.4. Der Zugang der Theologie Auch die Philosophie kommt bei ihrer Reflexion über den letzten Grund des Seins an die Grenze ihrer Aussagemöglichkeit. Sie kann den letzten Grund nicht inhaltlich bestimmen. Zwar vermag sie ihn als Bedingung der Möglichkeit, kategoriale Einzelerkenntnisse als Einzelerkenntnisse zu bestimmen, aufzuweisen. Sie kann auch aufzeigen, dass der Mensch aufgrund seiner Geistverfasstheit und der damit gegebenen Ausrichtung auf die Einheit der ganzen Wirklichkeit bereits auf das Absolute ausgerichtet ist. Was dieses Absolute aber letztlich ist, bleibt ihr verschlossen. Es könnte Es-haft sein wie ein Schicksal, apersonal wie in asiatischen Religionen oder personal wie im Judentum, Christentum oder Islam. Sollte der letzte Grund allen Seins personalen Charakter haben, müsste er irgendwann einmal selbst in Erscheinung treten und sich zeigen. So ist es im Judentum nach Auffassung des Volkes Israel geschehen. Jahwe hat sich der Welt und dem Volk Israel gezeigt. „Ich bin da“ ist seine Selbstaussage über sich. Diese Selbstaussage nennt die Theologie Selbstoffenbarung Gottes oder einfach Offenbarung. So sind die drei monotheistischen Religionen Juden-

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tum, Christentum und Islam Offenbarungsreligionen. Zwar ist die Frage nach einem letzten Grund und den Gegebenheiten absoluter Werte dem rationalen Denken zugänglich, doch ist die Existenzweise und -art einer letzten und absolut-unbedingten Wirklichkeit dem Menschen nicht unmittelbar erschlossen. Sie bedarf des In-Erscheinung-Tretens des Grundes selbst. Wenn christliche Theologie von einer Du-haften Gottesvorstellung ausgeht, die in ihrer Einheit zugleich Verschiedenheit repräsentiert (Trinität), dann entspringt diese Auffassung nicht menschlicher Überlegung, sondern der Selbstoffenbarung Gottes. Diese kann der Mensch nachträglich theologisch reflektieren, sie ist ihm aber nicht von sich aus zugänglich. Hat der letzte Seinsgrund sich von sich aus gezeigt, kann der Mensch diese Selbstoffenbarung wieder rational durchreflektieren. Insofern geht die Theologie – vermeintlich im Gegensatz zu anderen Wissenschaften33 – von einer axiomatischen Grundvoraussetzung aus, nämlich der Selbstoffenbarung Gottes. Aber sie kann diese sekundär durchreflektieren und von dort aus auch die Frage nach dem Menschen beantworten. Ein Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften besteht darin, dass die Erkenntnisgegenstände unterschiedlich sind, dass die einen sich primär mit dem Körperlich-Materiell-Physiologischen und die anderen mit dem Psychisch-Seelisch-Geistigen befassen. Will man diese Unterschiedlichkeit in aristotelisch-thomanischer Begrifflichkeit ausdrücken – das sei wiederholt –, dann beschreibt der Begriff der causa efficiens die von der Naturwissenschaft zu erforschenden äußeren Ursachen von Veränderungen, während Philosophie und Theologie nach inneren Gründen und dem Wesen der Dinge fragen und dies mit den Vorstellungen einer causa formalis und causa materialis sowie jener der causa finalis zu beschreiben versuchen.34 Die Theologie schaut auf das Ganze. Dieses ragt über die endliche Welt hinaus. Sie kann alle Einzelerkenntnisse zu einem größeren Ganzen integrieren. So kann man sie auch als eine Integrationswissenschaft bezeichnen. Das heißt aber nicht, dass die Theologie die anderen Wissenschaften einverleiben darf oder ihnen womöglich vorschreibt, was sie zu erforschen hätten. Wissenschaften sind frei und haben ihre eigene Methode. Dennoch kann die Theo33 Auch andere Wissenschaften gehen – wie schon erwähnt – implizit von verschiedenen Voraussetzungen aus, die sie oft nicht ausdrücklich reflektieren. Naturwissenschaften setzen beispielsweise voraus, dass die Welt geordnet und diese Ordnung erkennbar und in Gesetze zu fassen ist. 34 Ob die causa finalis zu den inneren oder äußeren Ursachen gehört, soll hier nicht diskutiert werden.

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logie Fragen stellen, die die Naturwissenschaften aus ihrer Methode heraus nicht beantworten können. Durch die Einordnung in einen größeren Kontext kann sie die Erkenntnisse der Naturwissenschaften einerseits für sich selbst, aber auch für die Sicht der Welt vertieft fruchtbar machen. Dazu bedarf es einer aufgeklärten Theologie, die den Erkenntnissen der Naturwissenschaften offen gegenübersteht.

6. Die Transdisziplinarität der Wissenschaften

Will man noch einmal einen anderen Blick auf die verschiedenen Wissenschaften werfen, so kann man auf eine alte Unterscheidung zurückgreifen: Wilhelm Dilthey beschreibt diese Unterschiede – nicht unproblematisch – als jene von „Erklären“ und „Verstehen“.35 Zunächst versuchen Naturwissenschaften, Einzelaspekte der Wirklichkeit in ihrer Kausalität zu erklären, zu generalisieren und die Erkenntnisse – oft mit Hilfe der Mathematik – unter allgemeine Gesetze zu subsumieren. Ihre Erkenntnisse erfordern Verifikation durch Wiederholung im Experiment. Mathematische und statistische Kriterien stellen die Parameter dieser Art des Zugangs zur Wirklichkeit dar. Geisteswissenschaften hingegen versuchen, auch das Individuelle zu verstehen. Sie haben mit Ereignissen zu tun, die nicht in der gleichen Gestalt erneut auftauchen, die nicht wiederholt oder vorausgesagt werden können. Die Betrachtung des Individuellen bedarf anderer wissenschaftlicher Methoden des Zugangs, die das Einzelne und Ereignishafte erfasst, aber auch auf das Wesen der Dinge zielt. Heutzutage versucht moderne Forschung beides zu verbinden: 35 Vgl. zum Begriffspaar von „Erklären“ und „Verstehen“ u.a.: G. Schurz, G. (Hrsg.): Erklären und Verstehen in der Wissenschaft, München 1990. Dilthey formulierte als erster die Differenz von Natur- und Geisteswissenschaften, die sich durch eine erklärende Methode und ein verstehend-beschreibendes Verfahren unterscheiden. Vgl. dazu: E. Coreth in: E. Coreth u.a., Philosophie des 20. Jahrhunderts, Grundkurs Philosophie, Bd. 10, Stuttgart u.a. 1986, 74. Dilthey verdeutlicht den Unterschied am Beispiel der verstehenden Psychologie im Gegensatz zu der damals herrschenden naturwissenschaftlich-kausal erklärenden Psychologie. „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ W. Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), Schriften Bd. 5, Leipzig-Göttingen 1914, 144. Dieses von Dilthey beschriebene „Verstehen“ beinhaltet die Betrachtung des Einzelnen im Rahmen des Lebensganzen. „Und wir gehen im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen, der uns lebendig gegeben ist, aus, um aus diesem das einzelne uns faßbar zu machen“: ebd. 172.

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einerseits Phänomene wie z.B. Krebserkrankungen naturwissenschaftlich zu erklären, sie dann aber auch in ihrer tieferen Dimension zu verstehen. Transdisziplinäre Forschung will zum Verstehen naturwissenschaftlicher Phänomene beitragen. Für den transdisziplinären Dialog ist es notwendig, dass jede wissenschaftliche Disziplin erkennen lässt, welches die Grundvoraussetzungen ihres Zugangs zur Wirklichkeit sind. Unterschiedliche Erkenntnisebenen müssen als solche kenntlich gemacht werden. Denn in die wissenschaftliche Arbeit fließen – reflektiert oder unreflektiert – bestimmte Prämissen ein, die die Forschungsrichtung bestimmen. Dies wird besonders dort relevant, „wo der Bereich anthropologisch und sittlich relevanter Erkenntnisse und Deutungen betreten wird.“36 Die Prämissen bestimmen bereits den Problemstand und beeinflussen die Forschungsziele. So ist es oft ein bestimmtes Menschenbild, das den Erkenntnissen und Interpretationen vorausliegt, sie begleitet und die jeweilige Deutung der Phänomene beeinflusst. Diese der Forschung vorausliegenden Paradigmata entscheiden – wie bereits erwähnt –, „welche Phänomene es für eine Wissenschaft geben darf und welche nicht.“37 Trotz dieser unterschiedlichen Voraussetzungen der Wirklichkeitserkenntnis durchdringen einander die verschiedenen Ebenen ebenso wie Geist und Materie. Es existiert ein Ineinander der Interpretationsebenen, die dem Ineinander von Geist und Materie entsprechen. So wird z.B. die Verbindung eines körperlichen Symptoms mit einer metaphorischen Aussage sichtbar, wenn jemand etwas „zum Kotzen“ findet und dann magenkrank wird. Dieser Durchdringung der Bedeutungsebenen liegt zugrunde, „daß die körperlich-psychischen und die psychisch-geistigen ‘Funktionskreise’ ineinander verflochten sind, so daß keiner sich schließen kann, ohne den anderen – jedenfalls zum Teil – mit zu durchlaufen.“38 Das heißt, dass die materielle Ebene ihre eigenen Gesetze hat, aber durchwirkt wird von der geistigen. Beiden Ebenen liegt eine Einheit zugrunde. „Die immanenten Gesetzlichkeiten der physiologischen, psychischen und geistigen Ordnung sind zwar von grundverschiedener Art. Da aber nicht nur eine Strukturanalogie zwischen ihnen besteht, sondern auch eine wechsel36 K. Baumann, Das Unbewußte in der Freiheit. Ethische Handlungstheorie im interdisziplinären Gespräch, Rom 1996, 4. 37 Th. v. Uexküll, Die Bedeutung der Theorienbildung in der Psychosomatik, in: Psychotherapie, Psychosomatik, medizinische Psychologie 39 (1989) 103–105, hier 103. 38 G. Haeffner, Philosophische Anthropologie, Grundkurs Philosophie, Bd. 1, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1982, 90.

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seitige Übersetzbarkeit von Existenzweisen der einen Ordnung in solche der anderen sprachlich bezeugt wird, so daß einerseits der ‘metaphorische’ Wortgebrauch und Lebensakt nicht ohne den ‘buchstäblichen’ auskommt und andererseits der volle Gehalt von diesem in jenem ausgefaltet wird, muß diesen Verschiedenheiten eine Einheit innewohnen.“39 Diese innere Verflochtenheit der Ebenen zeigt die Notwendigkeit des transdisziplinären Dialoges. Die eine Wirklichkeit ist nur zu erfassen durch die gleichzeitige Betrachtung aus wissenschaftlich unterschiedlichen Perspektiven. Deshalb sollten auch die Phänomene z.B. der Krankheit von vornherein naturwissenschaftlich, psychologisch und philosophisch-theologisch betrachtet werden, da die Ganzheit des Menschen nur als eine Einheit von Verschiedenem, von Geist und Materie zu erfassen ist. Dabei muss sich jede Wissenschaft ihrer eigenen Methoden bedienen und sich des spezifischen Zugangs zur Welt bewusst sein. Nur so ist eine Einheit von Natur- und Geisteswissenschaft bei aller Verschiedenheit ihrer methodischen Zugänge zu erreichen. Konkret sollen naturwissenschaftliche Erkenntnisse in Verbindung mit psychologisch-psychosomatischen Erkenntnissen (soweit sie im Rahmen ihrer Methoden wissenschaftlichem Standard entsprechen)40 ernstgenommen, gleichzeitig aber in einen philosophisch-theologischen Kontext integriert werden. Ein solch ganzheitlicher Zugang zur Wirklichkeit bringt es mit sich, dass zwei methodisch unterschiedliche und nicht direkt vermittelbare Ansätze – der empirische und der ontologische – gewählt werden müssen, um die Verschiedenartigkeit der menschlichen Ebenen darzustellen. Im Lebensvollzug wird man immer mit dem einen, konkreten Menschen in seiner Einheit von Seele und Leib konfrontiert. Es begegnet einem nie der reine Geist, aber auch nie die reine Materie in ihrer möglicherweise vorliegenden Deformiertheit, biographischen Prägung und psychischen Verstellung. Man findet immer ein Ineinander von Geist und Materie, von Eigenem und Fremdem, von „Eingedrücktem“ und Ausgedrücktem. Im konkreten Menschen begegnet immer das „Durchmischte“ des Personfremden und Personeigenen. Langsam soll der Mensch immer mehr zum Eigenen hin durchreifen. Aufgabe der Wissenschaften ist es, das eine vom anderen zu unterscheiden und dennoch transdisziplinär zu verbinden. Dabei ist der erste Zugang zum konkreten Menschen nicht der ontologische, sondern der empirische. Der 39 Ebd. 40 Im Grunde müsste auch die Wissenschaftlichkeit bisheriger Erkenntnisse selbst noch einmal einer Prüfung unterzogen werden.

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empirische bleibt aber unverstanden, wenn der ontologische nicht in seinen Grundaussagen über die menschliche Existenz ernstgenommen wird. Ohne eine Wesensbestimmung des Menschen und der Seele bleiben auch alle empirischen Aussagen über ihren Vollzug unvollständig. Die wissenschaftliche Differenzierung hat die unterschiedlichen Erkenntnisebenen aufzuzeigen, nicht aber den Menschen in unterschiedliche Bereiche zu zerteilen. Sie soll im Gegenteil dem Aufweis seiner Einheit in Verschiedenheit dienen. Die Ansätze von Medizin, Psychologie und Philosophie/Theologie müssen sich bei aller Unterschiedenheit ähnlich komplementär ergänzen wie Geist und Materie. Im Blick auf den transdisziplinären Dialog stellt sich die Frage, wie die differenzierten wissenschaftlichen Zugänge zur menschlichen Wirklichkeit miteinander zusammenhängen. Es muss gezeigt werden, wie und wo sich die unterschiedlichen Gegenstandsbereiche von naturwissenschaftlicher Medizin, Psychologie, Psychosomatik, Soziologie, Philosophie und Theologie überlappen. Den verschiedenen Wissenschaften ist aufgetragen, in einem wirklichen Dialog zu entdecken, welchen Wirklichkeitsaspekt die jeweils andere erfasst und wie sie einander ergänzen können. Es gilt z.B. im Blick auf die Frage nach der Seele den Punkt herauszuarbeiten, wo sich die theologische Seelenauffassung mit jener der Psychologie berührt. Dieser wird in etwa dort liegen, wo die Theologie eine umfassende, aber vielleicht allzu sehr im Allgemeinen und Abstrakten verbleibende Definition von Seele und Geist geben kann, während die Psychologie konkrete Seelenphänomene beschreibt, die das Leben des Menschen beeinflussen. Während die Psychologie aufweisen kann, wie sich die Seele im Leib in ihrer konkreten Verwobenheit mit der Umwelt vollzieht und welche seelischen Deformationen zu Krankheiten führen können, kann die Theologie klar machen, dass das psychologische Erfassen der Seele ausschnitthaft bleibt, wenn nicht Philosophie und Theologie ontologische Fragen nach dem letzten Grund des Seins beantworten, die humanwissenschaftlicher Erklärung nicht zugänglich sind. So sollten beide Seiten in einen Dialog eintreten, in dem sie einander ergänzen und voneinander lernen können.

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7. Zusammenfassung Die Paradigmenwechsel in der Physik durch die Quantenphysik, jener in der Genetik durch die Erkenntnisse von Genetik, Epigenetik und Hirnphysiologie sowie die neuen Erkenntnisse der Pharmacogenomics, die zu einer Personalisierten Medizin führen, machen deutlich, dass die Naturwissenschaften einerseits immer größere Zusammenhänge erkennen und gleichzeitig das Individuum immer mehr ins Zentrum der Betrachtung rückt. Naturwissenschaften sammeln immer mehr Daten (big data problem) und stehen in der Gefahr, den Überblick zu verlieren. Damit das nicht geschieht, müssen die Erkenntnisse je neu in größere Zusammenhänge eingeordnet werden. Es geht nahezu um einen dialektischen Prozess der Höherentwicklung im Dialog zwischen Naturwissenschaften und den ihre Ergebnisse auf einer höheren Ebene integrierenden Wissenschaften von Philosophie und Theologie. Geschieht diese Integration nicht, geraten der Mensch und die Welt immer mehr aus dem Blickfeld und es geht nur noch um Gewinnmaximierung. Eine derartige Einseitigkeit führt zu Orientierungslosigkeit und diese ruiniert die Welt. Es besteht die Gefahr, dass die Unübersichtlichkeit immer größer wird und der Ruf nach der starken ordnenden Hand wieder erschallt. Manche Entwicklungen in der Welt erinnern derzeit daran. Daher sind begleitende, integrierende und vertiefende philosophische und theologische Reflexionen in allen Wissenschaftsgebieten von größter Bedeutung. Es geht um das tiefere Verstehen naturwissenschaftlicher Phänomene. Dabei bedarf es einerseits einer ethischen Begleitforschung, andererseits aber auch einer Vertiefung einer Anthropologie, die angesichts moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in der Lage ist, Grundfragen menschlichen Daseins aufzugreifen und zu beantworten. Ohne diese Integrationsarbeit werden die weiter zunehmenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse nicht zum Segen des Menschen gereichen.

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Einleitung Es gibt Grenzen, über deren Verlauf Uneinigkeit herrscht, andere, deren Verlauf man ändern will, wieder andere, die man zu erhalten und zu verteidigen wünscht. Wenn heute von „Grenzen“ die Rede ist, so bezieht man sich in erster Linie auf Staatsgrenzen und die Erörterung von Grenzen der Asylmigration. Fragen der Demographie sind es ja in der Tat, die das 21. Jahrhundert in besonderem Maße kennzeichnen werden.1 Die Versuche einer wissenschaftlichen Beantwortung von Fragen nach der Bevölkerungsentwicklung, nach den Grenzen der Immigration und nach der Funktion territorialer Grenzen sind auch von existenzieller Bedeutung für die Zukunft Europas und seiner Nationen. Doch diese Fragen sind es nicht, die im Folgenden mit der Erörterung der Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis verbunden sein werden.

1 Wäre die Welt ein Dorf mit nur 100 Einwohnern, dann stammten zu Ende des Jahres 2016 60 aus Asien, einer aus Ozeanien, fünf wären Nord-, acht Lateinamerikaner, 16 wären Afrikaner und zehn Einwohner wären Europäer. Doch im 21. Jahrhundert wird sich dieses Verhältnis radikal ändern. In Afrika, vor dessen Ausgangstoren Europa liegt, wird sich gemäß der mittleren UN-Bevölkerungsprognose die Zahl der dort lebenden Menschen von heute 1,3 bis 2050 auf 2,7 Milliarden verdoppeln und bis Ende des Jahrhunderts auf voraussichtlich 4,4 Milliarden anwachsen. Um 2100 hätten sich in dem fiktiven Dorf mit seinen 100 Einwohnern die kontinentalen Zugehörigkeiten stark geändert: Die Zahl der Asiaten wäre von 60 auf 44 zurückgegangen, ein Bewohner stammte nach wie vor aus Ozeanien, vier aus Nord-, sechs aus Lateinamerika, die Zahl der Afrikaner hätte sich allerdings von 16 auf 39 mehr als verdoppelt, während nur noch sechs der insgesamt 100 Einwohner Europäer wären. In Anbetracht dieser Entwicklungen wird vor allem die europäische Politik in und für Afrika eine radikale Änderung erfahren müssen, will sich Europa nicht einer weitgehend ungesteuerten Migration und der Gefahr aussetzen, die Kontrolle über seine Grenzen zu verlieren. – Siehe dazu Peter-Philipp Schmitt, 7 473 690 000. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Januar 2017, 8; siehe ferner: Worldometers, World Population Clock: 7.5 Billion People (2017), im Internet unter: http://www.worldometers.info/world-population/ .

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Gleich zu Beginn der Befassung mit diesem Thema könnte sich der Verdacht regen, dass doch jeder Versuch eines Erkennens des Erkennens ein zirkulärer Vorgang und damit letztlich vergeblich sei. Der von Hegel formulierte und von einer Reihe anderer Philosophen (z. B. Johann Friedrich Herbart, Leonard Nelson) ebenfalls vertretene Einwand wurde häufig deshalb für zwingend gehalten, da das Erkennen den Anschauungsvorgängen gleichgesetzt wurde: Wie man das Sehen nicht sehen und das Fühlen nicht fühlen kann, so könne man auch das Erkennen nicht erkennen. Das Erkennen ist aber nicht von dieser Art, sondern ein Zuordnungsprozess. Und der ist ohne Schwierigkeit auf sich selbst anwendbar: Das Bezeichnen selbst kann durch Zuordnungsakte bezeichnet werden, und dies im selben Sinne, wie es z. B. eine Definition für den Begriff „Definition“ gibt, eine Erklärung für das Zustandekommen von Erklärungen, eine Historiographie der Historiographie und eine Theorie, welche die Entstehung und Entwicklung von Theorien erklärt.2

1. Zur Ausgangslage Mit den Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis verbinden sich in der Gegenwart sowohl technikoptimistische als auch technikpessimistische Auffassungen. Während die Technikoptimisten die Ermöglichung menschlicher Autonomie und Selbstbestimmung durch den zielgerichteten Einsatz der Technik für die Zwecke des Menschen beschwören, fürchten Technikpessimisten eine gefährliche Ausweitung der Möglichkeiten technischer Manipulation. Diese erstrecke sich ja nicht nur auf die äußere Welt des Menschen, also seine Umwelt, sondern mehr und mehr auch auf seine Innenwelt, und d.h. einerseits auf das Psychische, andererseits auf die Tiefenstruktur des menschlichen Organismus, dessen Erbsubstanz biotechnisch modifizierbar wird. Die mit diesen Befunden einhergehenden Befürchtungen finden ihre Ergänzung in den Hinweisen auf andere Gefahren: auf Möglichkeiten einer künstlichen Intelligenz, die nahe an die des Menschen herankommt, ihm aber vielleicht sogar entgleitet; auf eine die Sozialstruktur stark verändernde digitalisierte Produktion, die der Öffentlichkeit unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ präsentiert wird und der Arbeitsplätze in großer Zahl zum Opfer fallen könnten; oder aber auf grundsätzlich bereits bestehende Möglichkeiten der Biotechnik zur Herstel2 Vgl. dazu Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 1918, 75–77.

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lung von Chimären, also Mischwesen, wobei dann nicht mehr immer klar wäre, was man vor sich hat, wenn die chimären Organismen sich von Individuen herleiten lassen, die von verschiedenen Species stammen. Doch, so wird der Technikoptimist entgegen, es gibt sie ja schon, die Chimären, wenn auch weitaus unspektakulärer als man sich das landläufig vorstellt: als Mischwesen aus Bakterium und Menschenteilen. Im Jahre 1978 gelang es dem US-amerikanischen Physiker und Biochemiker Walter Gilbert, ein aus Ratten isoliertes Insulin-Gen in Bakterien der Art Escherichia coli einzubauen, 1980 gelang das gleiche Verfahren mit dem menschlichen Insulin-Gen, und seit 1982 wird gentechnisch produziertes Humaninsulin in großem Maßstab hergestellt. Viele Menschen leiden an der Zuckerkrankheit (Diabetes), die durch einen Mangel des Enzyms Insulin verursacht wird, und sie verdanken ihre Lebensqualität, wenn nicht gar ihr Leben, dieser Art von Chimären.

2. Kurze klassifikatorische Vorbemerkungen zu den Wissenschaftsdisziplinen Ganz gewiss sind Erfahrungen von Grenzen der Erkenntnis und von deren Überschreitung nichts Neues. Für Aristoteles ist „die Zeit“ ein guter Erfinder und Helfer, in deren Verlauf ereignen sich die Verbesserungen der Methoden und Fertigkeiten, der „technai“. Die Jahrhunderte, so meinte Plinius, schreiten stets voran, und Seneca stellte gar fest: „Es wird die Zeit kommen, da Verstand und gewissenhafte Forschung eines längeren Zeitraums ans Licht bringt, was jetzt verborgen ist […], da unsere Nachkommen sich wundern, daß wir so offensichtliche Dinge nicht gewusst haben.“3 Es gibt verschiedene Arten der wissenschaftlichen Erkenntnis, wie es auch verschiedene Grenzen und Grenzüberschreitungen in dieser gibt. Und so wird es im Folgenden nicht allein um die Einsicht in Grenzen der Erkenntnis gehen, sondern auch um die Erkenntnis der Grenzen und ihrer Besonderheiten. Die folgenden Ausführungen nehmen auf im weiteren Sinne empirische Disziplinen, nicht aber auf Formalwissenschaften wie Logik und Mathematik Bezug, sosehr diese auch für weite Bereiche der Erfahrungswissenschaften grundlegend sind. 3 Zitiert nach Christian Meier, Griechische Anfänge von Wissenschaft. In: Nova Acta Leopoldina NF 93, Nr. 345 (2006), 259–274, hier 271.

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Was nun, erstens, die auf Erfahrung gegründete wissenschaftliche Erkenntnis anlangt, so lassen sich vier Grundarten idealtypisch und in aller gebotenen Kürze unterscheiden: • Beschreibend-klassifizierende Disziplinen, denen vor allem eine archivierende und systematisierende Funktion zukommt; • kausal-erklärende Disziplinen, die sich auf Gegenstände sowohl nichtmentaler als auch mentaler Art beziehen können, wobei deterministische oder probabilistische Gesetze zur Anwendung kommen; • deutend-verstehende (oder hermeneutische) Disziplinen, in denen nicht allein Texte einer Interpretation zugeführt werden, sondern auch Handlungsakte und Handlungsfolgen, und zwar durch Bezugnahme einerseits auf Motive (Handlungsgründe), Intentionen (Absichten) und die damit verbundenen sozialen Regeln, andererseits auf die objektive Lage des Akteurs sowie auf dessen subjektive Situationswahrnehmung; • präskriptiv-begründende (oder normative) Disziplinen, denen es – neben der deutenden Auslegung von Normen und der Erklärung von deren Genese und Durchsetzung – insbesondere um die Möglichkeiten der Begründung und Rechtfertigung von Normen zu tun ist. Was sodann, zweitens, die „Grenzen des Erkennens“ anlangt, so w ­ aren diese im Verständnis der alten Griechen faktischer oder normativer Art, entweder eine Sache der Natur oder eine Sache der Konvention; jene können als etwas real Gegebenes gefunden und unter Umständen erforscht und erkannt werden, diese sind als etwas von Menschen Geschaffenes gewissermaßen erfunden und können unter Umständen erörtert und anerkannt werden. Grenzen des Erkennens können von sehr verschiedener Art sein, je nachdem, ob man die Grenze innerhalb des bereits Bekannten zieht, ob man mit ihr den Bereich markiert, jenseits dessen sich das Unbekannte, aber prinzipiell Erkennbare befindet, oder ob man schließlich mit „Grenze“ etwas meint, jenseits dessen das für unerkennbar Gehaltene liegt. Anders verhält es sich mit den Grenzen, die nicht überschritten werden sollen und die von Ethik und Recht als Normierungen formuliert werden. Eine präskriptive Funktion kommt auch den logisch-epistemischen Normen der Wissenschaft zu, welche das Handeln steuern, das als wissenschaftlich gelten soll. Sie bewirken entweder eine methodisch als verpflichtend angesehene und für heuristisch frucht-

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bar gehaltene Begrenzung, Eingrenzung und Abgrenzung, oder aber eine mit der gleichen methodologischen Begründung erfolgende Grenzüberwindung, Grenzüberschreitung und Entgrenzung. Jede der beiden methodischen Anwei­ sungen kann – unter jeweils spezifischen Bedingungen – für die Wissenschaft positive oder aber negative Folgen haben, und zwar in allen Disziplinen. Und so bestehen zwischen den vier erwähnten Wissenschaftsbereichen mitunter Grenzen, mitunter aber Übergänge und Interferenzen, und zwar bezüglich des Gegenstandes oder aber bezüglich der Methode. Dies zeigt sich etwa an dem alle Disziplinen betreffenden Erfordernis der beschreibenden Klassifikation, oder auch an der Bedeutung hermeneutischer Verfahren für die normativen Disziplinen. Als Extrempositionen im erwähnten Spektrum typisierter wissenschaftlicher Disziplinen sind die mit nicht-mentalen Dingen und Sachverhalten beschäftigten Wissenschaften und die normativen Disziplinen anzusehen: Während Gesetze, aber vor allem Naturkonstanten in den Naturwissenschaften bestimmen, was nicht sein kann, bestimmen die normativen Disziplinen, wie z. B. Recht und Ethik, vor allem auch, was nicht sein darf. Gleichwohl erfolgen ganz allgemein in den Wissenschaften bestimmte normierende Abgrenzungen mittels Definitionen, die unter anderem festlegen, was Gegenstand der jeweiligen Untersuchung ist, damit aber zumindest implizit auch, was nicht ihr Gegenstand ist. Für Definitionen gilt in besonderem Maße Spinozas Satz „Omnis determinatio est negatio.“ 4

3. Grenzüberwindungen Gleich vorweg sei daran erinnert, dass wissenschaftlich-technische Grenzüberwindungen oft auch eine Überwindung gewisser bislang bestehender normativer Grenzen im Alltag zur Folge haben: So führten beispielsweise die bestimmte biologische Abläufe im weiblichen Organismus ändernden Kontrazeptiva zur Überwindung herkömmlicher Grenzen der Geschlechterbeziehungen; die ohne die Digitalisierung nicht vorstellbare Globalisierung bewirkte eine enorme Beschleunigung von Entgrenzungen in den Beziehungen der internationalen Finanzwelt einerseits, in den durch die Migration ausgelösten 4 Siehe dazu Wolfgang Röd, „Omnis determinatio est negatio.“ In: Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie Bonn, 23.–27. September 2002. Vorträge und Kolloquien. Hrsg. von Wolfram Hogrebe in Verbindung mit Joachim Bromand, Berlin 2004, 478– 489.

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Kulturbegegnungen und Kulturkonflikten andererseits. Die Behauptung ist also nicht unrichtig, dass neue Techniken in diesem grenzüberschreitenden Sinne nie nur neue Techniken sind, da sie häufig auch von gesellschaftlichen Veränderungen und moralischen Einstellungsänderungen begleitet sind. Im Folgenden sollen exemplarisch drei Formen von Grenzüberwindungen in den beschreibend-klassifizierenden und in den kausal-erklärenden Disziplinen dargestellt werden: Reduktion, Pluralisierung und Synthese.

Reduktion In ihr drückt sich eine Tendenz der theoretischen Homogenisierung und Komplexitätsreduktion aus. Hier wird die Grenze vom Heterogenen in Richtung des Homogenen überschritten. Schon in der antiken Naturphilosophie stellte sich folgende grundlegende Frage: Was ist es, das die Vielfalt der Erscheinungen ermöglicht? Oder mit anderen Worten: Was ist die invariante „Substanz“, die allen Metamorphosen der Materie zugrunde liegt?5 Um 500 v. Chr. sind die Ansichten über das Verhältnis zwischen den variablen Phänomenen und ihren stabilen Grundlagen bereits stark polarisiert und äußern sich in den extremen Positionen der Naturphilosophie von Heraklit und von Parmenides. Heraklit lehrt, dass alles im Fluss sei, Parmenides andererseits, dass das Seiende unveränderlich und jede Veränderung in der phänomenalen Welt bloßer Schein sei. Für Empedokles bilden die Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer die Basis der materiellen Vielfalt. Seine Lehre wurde in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts wesentlich verfeinert durch die Atomisten Leukipp und Demokrit. Bereits im 4. Jahrhundert setzte harte Kritik am Atomismus ein, formuliert vor allem von Aristoteles. Im 20. Jahrhundert intensivierte sich das Streben, die alte materialistische These von der Einheit aller Erscheinungen durch den Nachweis einer Herleitung des Organischen aus dem Anorganischen im Sinne der atomistischen Physik zu bewahrheiten. Sah man früher eine starre Grenze zwischen Physik und Biologie, so haben sich die einschlägigen Auffassungen im 20. Jahrhundert geändert. Der russische Biologe Aleksandr Iwanowitsch Oparin äußerte im Jahre 1924 die Ansicht, dass sich die molekularen Bausteine des Lebens 5 Siehe dazu Gernot Eder, Metamorphosen der Materie. In: Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, math.-naturwiss. Kl., Abt. II: Mathematische, Physikalische und Technische Wissenschaften, Bd. 207, Wien 1998, 3–22.

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aus einfacheren Substanzen gebildet haben könnten. Der durch diese Ideen angeregte amerikanische Chemiker Harold Urey hegte die Vermutung, dass elektrische Entladungen aus den Molekülen von Ammoniak, Methan, Wasserdampf und Wasserstoff, die in der präbiotischen Atmosphäre enthalten sind, einfache organische Moleküle entstehen lassen, vor allem Aminosäuren und Zucker, wie sie von Lebewesen genutzt werden. Ureys Student Stanley Miller erzeugte 1953 im Reagenzglas eine Vielzahl organischer Moleküle aus einfacheren Substanzen. Seine Ergebnisse erregten damals einiges Aufsehen, nicht nur weil sie mit bestimmten religiösen Auffassungen in Konflikt gerieten, sondern auch mit einer die bisherige Wissenschaftsgeschichte mehrheitlich bestimmenden grundlegenden Kategorisierung alles Seienden: hier das Organische, dort das Anorganische. Die Grenze zwischen Belebtem und Unbelebtem war wieder einmal neu zu bestimmen. Dieses reduktive Verfahren hat sein methodologisches Äquivalent in den Prozessen der Theorienreduktion. Besonders anschaulich tritt uns dieser Vorgang in den Phasenübergängen von mehreren getrennt ausgebildeten Teil­ theorien vor Augen, die auf eine sie integrierende Theorie zurückgeführt werden. Dies gilt exemplarisch für die universale Mechanik Newtons in Bezug einerseits auf Galileis terrestrische Mechanik, andererseits auf Keplers Himmelsmechanik.6

Pluralisierung In ihr drückt sich eine Tendenz der Ausdifferenzierung und der Grenzüberschreitung vom Homogenen zum Heterogenen aus. Vollends nach der im 19. Jahrhundert erfolgten Entdeckung der Bakterien, die man beim besten Willen nicht mehr als Tiere oder Pflanzen auffassen konnte, war den Biologen klar, dass die alte Zweiteilung nicht mehr der Gesamtheit von Lebewesen Rechnung tragen kann. Endgültig verabschiedet wurde sie 1969 durch die Fünf-Reiche6 Übertroffen wird dieser Phasenübergang durch den von einer anschaulichen, auf Sinnes­ erfahrung beruhenden zu einer abstrakten und unanschaulichen, aber durch Sinneserfahrung überprüfbaren Theorie, wofür Einsteins Relativitätstheorie steht, welche Newtons klassische Mechanik abgelöst und deren mangelnde Triftigkeit für bestimmte Bereiche der physikalischen Welt nachgewiesen hat. – Vgl. dazu Erhard Oeser, Phasenübergänge und Paradigmawechsel. Die Entstehung des Neuen in der Wissenschaft. In: Ludwig Huber (Hg.), Wie das Neue in die Welt kommt. Phasenübergänge in Natur und Kultur, Wien 2000, 309–327.

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Klassifikation des US-amerikanischen Ökologen Robert Whittaker. Dieser unterschied Tiere, Pflanzen, Pilze, Protisten und Bakterien. Carl Woese hat später eine neue Klassifikation mit drei Reichen des Lebens vorgenommen: Archaea, Bacteria und Eukarya, welch Letztere vier Reiche aus Whittakers System – Tiere, Pflanzen, Pilze und Protisten – umfassen. Somit wurde die alte Frage „Tier oder Pflanze?“ zwar nicht unsinnig, aber für den Fall unzutreffend, dass mit ihr implizit vorausgesetzt wird, alle Lebewesen seien entweder Tiere oder Pflanzen. Ein ähnliches Fortschreiten von niedrigerer zu höherer Komplexität findet sich auch in anderen Wissenschaften, so z. B. in dem Buch über den Selbstmord (Le Suicide, Paris 1897) des Soziologen Émile Durkheim. Was im Sinne eines auf die individuellen Handlungsgründe und Absichten bezogenen Interpretationsmusters, dem zufolge ein Mensch beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen, zu einer einheitlichen Kategorie des Suizids zusammengefasst worden war, schloss in Durkheims Definition drei völlig verschiedene soziale Vorgänge ein – in Durkheims eigenwilliger Terminologie: den „egoistischen Suizid“ aufgrund von mangelnder sozialer Integration, den „altruistischen Suizid“ aufgrund von allzu starker sozialer Integration, und den „anomischen Suizid“ aufgrund eines Mangels an verbindlichen normativen Orientierungen.

Synthese Hierbei geht es um die Grenzüberschreitung von partikulären A ­ spekten eines Bereichs der Wirklichkeit zu einem diese Aspekte integrierenden und ergänzenden Modell desselben. Auf ein solches Bestreben bezieht sich ­beispielsweise eine Bemerkung Kants aus der Vorrede zu seiner „Kritik der praktischen Vernunft“. Hier führt er aus, dass es neben dem Streben nach Genauigkeit und Richtigkeit „noch eine zweite Aufmerksamkeit“ gebe, die „mehr philosophisch und architektonisch ist: nämlich die Idee des Ganzen richtig zu fassen und aus derselben alle […] Theile in ihrer wechselseitigen Beziehung aufeinander […] ins Auge zu fassen“.7 Die Entwicklung von Modellen spielt in nahezu allen Bereichen der Wissenschaft eine Rolle; hier soll ein Beispiel aus den Geisteswissenschaften zur Illustration genügen. Marc Bloch verweist auf die verschiedenen Hinsichten, unter denen ein Mensch zur Sprache kommen kann: als homo religiosus, homo 7 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft [1788]. In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Band V, Berlin 1968, 10. (Kursivierungen sind im Original gesperrt gedruckt.)

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oeconomicus, homo politicus – und er führt dann aus: „man könnte die Liste dieser Menschen auf -us beliebig erweitern. Es wäre jedoch sehr gefährlich, in ihnen etwas anderes zu sehen, als sie in Wirklichkeit sind: bloße Phantome, die solange praktisch sind, als sie dem Erkennen nicht hinderlich werden. Das einzige Wesen aus Fleisch und Blut ist der Mensch schlechthin, der immer alles das zugleich ist.“8 Verlässt man hingegen den Boden der Analyse und verdinglicht diese heuristisch nützlichen „Phantome“, so landet man – modern gesprochen – bei einer Variante des „Modellplatonismus“. Doch die Analyse bildet nicht den Abschluss des wissenschaftlichen Unternehmens, denn auf sie folgt die Synthese – das Wiederzusammenfügen ist dann, wie Marc Bloch bemerkt, nur „die Verlängerung der Analyse, gleichsam deren Legitimierung“.9 Mit jeder der drei angeführten Formen der wissenschaftlichen Darstellung und Erklärung ihres jeweiligen Forschungsgegenstandes: der Reduktion, der Pluralisierung und der Synthese, werden die vormals bestehenden Grenzen dieses Gegenstandes verändert. Alle drei haben ihr Äquivalent in einer bestimmten Art von Theoriebildung. Aber das ist eine andere, hier nicht näher zu erörternde Angelegenheit.

4. Faktische Grenzen Klassifikatorische Grenzen Hierbei geht es um Grenzen zwischen verschiedenen Sparten der Wissenschaft, z. B. zwischen den Formal- und den Realwissenschaften oder etwa – innerhalb der Letzteren – zwischen den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Diese Grenzen sind nicht immer trennscharf und daher veränderlich. Nicht selten kommen allerdings in der wachsenden Ausdifferenzierung von Disziplinen bei gleichzeitig erfolgender Abgrenzung von bereits bestehenden nur Bestrebungen zum Ausdruck, dem Kampf um einen Platz unter der Lehrplatzsonne eine Rechtfertigung unter Hinweis auf eine neue disziplinäre Matrix zu verschaffen. – Eine andere, hier nicht weiter zu erörternde Art von klassifikatorischen Grenzen betrifft die zwischen der wissenschaftlichen Erkenntnis und anderen 8 Marc Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers. Hrsg. von Lucien Febvre (frz. Orig. Paris 1949), München 1985, 116 f. (Kursivierungen im Original.) 9 Ebd., 119.

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Erkenntnis- oder – oft besser – Erfahrungsweisen, wie z. B. solchen der Kunst und der Religion.

Empirische Grenzen Grenzen der Technik: Technische Geräte ermöglichen Beobachtungen und Experimente, und in der Wechselbeziehung von Theorie und Technik vollzieht sich der Fortschritt der Wissenschaft, der es uns unter anderem ermöglicht, die Welt unserer primären Sinneserfahrung hinter uns zu lassen: „Heute wissen wir, daß wir Menschen von einem breiten Spektrum elektromagnetischer Wellen nur den schmalen Ausschnitt zwischen den Farben Rot und Violett sehen können. [...] Wir wissen, daß manche Blüten eine ultraviolette Färbung haben, die von Bienen und anderen Insekten, nicht aber von uns wahrgenommen wird. Andere Tiere können magnetische Informationen wahrnehmen und sich danach richten oder Töne hören, die höher oder tiefer sind als die für Menschen wahrnehmbaren.“10 Instrumente wie Teleskope und Mikroskope stellen Prothesen unserer Sinnesorgane dar, mit deren Hilfe wir den mit unserer primären organischen Ausstattung erschließbaren Erfahrungsraum ungemein erweitern können. Fehlen sie uns, so finden wir uns vor eine Grenze der Erfahrung gestellt; ohne diese Erfahrung sind aber auch keine einschlägigen Erkenntnisse möglich. Gesellschaftlich-politische Grenzen: Hier stehen jene praktischen Grenzen in Betracht, die sich auf die ökonomischen, sozialen, religiösen oder politischen Vorbedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis beziehen. So ist etwa an die öko­nomischen Grenzen der immer mehr expandierenden Großforschung oder an ethische Grenzen zu denken,11 die beispielsweise von Tierschützern gegen bestimmte Tierexperimente oder von ökologisch argumentierenden Gruppen gegen die Herstellung gentechnisch veränderten Saatgutes für Nahrungsmittel ins Treffen geführt werden. Naturkonstanten: Hierbei handelt es sich um theorierelevante faktische Grenzen, die die Natur unserem Willen, sie zu modifizieren, setzt. Die Liste der von der Wissenschaft erschlossenen fundamentalen Naturkonstanten wird ungefähr alle vier Jahre in der Zeitschrift „Reviews of Modern Physics“ aktualisiert. 10 Ernst Mayr, Das ist Biologie Die Wissenschaft des Lebens. Aus dem Englischen übersetzt von Jorunn Wißmann, Heidelberg-Berlin 2000, 109. 11 Vgl. dazu exemplarisch Jürgen Mittelstrass, Wissen und Grenzen. Philosophische Studien, Frankfurt a. M. 2001, v. a. 120–137.

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„Aktuelle Werte von Konstanten?“, mag man fragen. Die Physiker glauben zwar an die Unveränderlichkeit der Größen von Naturkonstanten, wissen aber zugleich, dass sie die Naturkonstanten immer nur so gut wie möglich zu messen vermögen. Daher suchen sie mithilfe neuer Beobachtungsverfahren und Messgeräte zu neuen und besseren Zahlenwerten und so den „wahren“ Werten immer näher zu kommen. Auf der Liste der Naturkonstanten stehen vertraute Größen wie die Lichtgeschwindigkeit oder die Newtonsche Gravitationskonstante, mittels derer man das Herabfallen eines Apfels (natürlich unter idealen Bedingungen) ebenso berechnen kann wie die Drehbewegung ferner Galaxien, aber auf jener Liste steht auch weniger Geläufiges wie das Plancksche Wirkungsquantum, das die Grenze zur numinosen Quantenwelt bezeichnet. Blickt man zurück auf die Geschichte der neuzeitlichen Naturwissenschaften, so zeigt sich, dass man lange Zeit nichts wirklich Konstantes fand. Einer der ersten Treffer war die Avogadrosche Zahl, wonach ein Mol eines Stoffes immer die gleiche Anzahl von Atomen enthält. Der Fortschritt in Chemie und Physik hat dazu geführt, dass die Liste der Naturkonstanten immer wieder überarbeitet, aber auch ergänzt werden musste. Die Frage, ob die Naturkonstanten wirklich konstant sind, hat jedenfalls bedeutende Konsequenzen für unser naturwissenschaftliches Weltbild. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Hinweise von maßgeblichen Vertretern der theoretischen Physik, denen zufolge insbesondere im 20. Jahrhundert allzu viele als gewiss und konstant angesehene Sicherheiten widerlegt wurden. Wolfgang Ketterle, ein am Massachusetts Institute of Technology tätiger Nobelpreisträger meint sogar: „Das Einzige, das für mich absolut unveränderlich ist, ist die Frage, ob es Konstanten und Naturgesetze gibt, die unveränderlich sind.“12 Andere denken weniger heraklitisch. So sind für Harald Fritzsch von der Universität München die Strukturen unserer Welt unveränderlich; die starke Wechselwirkung werde durch die Eichtheorie der Quantenchromodynamik beschrieben, die schwachen und elektromagnetischen Kräfte durch die Eichtheorie der elektroschwachen Wechselwirkungen. Naturkonstanten, wie etwa die Masse des Elektrons, können jedoch ihm zufolge durchaus zeitabhängig sein. Daher sollte man auch nicht so sehr diese Größen für absolut konstant halten, sondern eher nach deren Zeitabhängigkeit suchen.13 Allerdings, so darf man ergänzen, gibt es kosmische Zeiträume, die so groß 12 Zitiert in: maßstäbe. Magazin der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, Heft 7, Braunschweig 2006, 6. 13 Siehe ebd., 7.

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sind, dass der Begriff „Veränderung“ für Menschen keinen Sinn macht.14 Selbst angesichts der Möglichkeit einer zeitabhängigen Geltung der Naturkonstanten sind diese als unverzichtbare theoretische Voraussetzungen einer Erschließung des in seiner Vielfalt wandelbaren Kosmos anzusehen.

Logisch-epistemische Grenzen Grenzen der Sprache: Hier geht es um Grenzen der wissenschaftlichen Welterschließung als Folge der Begrenztheit unserer sprachlichen Darstellungs- und Ausdrucksformen. Der frühe Wittgenstein machte auf die Gebundenheit des Erkennens an die Sprache aufmerksam.15 „Was sich überhaupt sagen läßt“, so bemerkt er bereits im Vorwort zum „Tractatus logico-philosophicus“, „läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“16 Klar waren nach Wittgenstein die Sätze der Logik und Mathematik sowie der exakten empirischen Wissenschaften; was jenseits dieser Klarheit zu liegen kommt, erschien ihm vom Standpunkt der Formalwissenschaften und der strengen empirischen Disziplinen als Unsinn: „Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.“17 Damit hat Wittgenstein der Formulierung jenes Kriteriums der Abgrenzung wissenschaftlicher von metaphysischen Sätzen vorgearbeitet, das als „Sinnkriterium“ ein den logischen Empirismus des Wiener Kreises charakterisierendes Leitprinzip in dessen Auseinandersetzung mit der traditionellen Metaphysik geworden ist. Als sinnvoll sollten jene Sätze gelten, von denen sich sagen lässt, unter welchen Bedingungen sie wahr oder falsch sind. Metaphysische Sätze genügten nach Auffassung der meisten Philosophen des Wiener Kreises diesem Kriterium nicht – sie galten daher als „sinnlos“. Als einer der Ersten scheint Wittgenstein selber begriffen zu haben, dass diese Maxime Elemente enthält, die sie selbst in die Nähe von Scheinsätzen rücken. Darüber, was beispielsweise „klar“ heißt, ist man sich seit Descartes und trotz der Bemühungen von Autoren wie Charles S. Peirce18 auch heute 14 In diesem Sinne äußert sich der Philosoph Walther Zimmerli, ebd., 4. 15 Siehe Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1963, 64. 16 Ebd., 9. – Ganz ähnlich lautet der Schlusssatz des Tractatus: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ (Ebd., 83) 17 Ebd., 9. 18 Charles Sanders Peirce, How To Make Our Ideas Clear [1878]. In: The Essential Peirce,

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nach wie vor im Unklaren. Und selbst wenn man tatsächlich in der Lage wäre zu sagen, was sich klar sagen lässt, so wäre vermutlich die Wissenschaft längst aus Mangel an Fantasie und Wagemut erstarrt. Aus Furcht, nur ja nicht trivial und ungenau über Wichtiges zu reden, gefiele man sich darin, exakt über Triviales zu ­sprechen. Wahrheitskontingenz: Prinzipiell unübersteigbare Grenzen sind der Wissenschaft dadurch gesetzt, dass die Dichte und Qualität von Informationen über bestimmte physikalische, biologische oder auch historische Zustände und Ereignisse in dem Maße abnimmt, in dem deren räumliche oder zeitliche Entfernung vom Betrachter zunimmt. Das Universum ist – jedenfalls in bestimmter Hinsicht – unendlich, und das Gleiche gilt für die Zahl möglicher Relationen zwischen den in ihm existierenden Gegenständen. Wir sind nicht fähig, jemals so etwas wie die absolute Wahrheit unserer wissenschaftlichen Theorien über die reale Welt einzusehen. Denn den Weg zur Wahrheit pflas­tern zwar durch Falsifikation schrittweise eliminierte Befunde und Theorien, was aber „die“ Wahrheit im emphatischen Sinne ist, werden wir nie wissen. Unsere Wahrheitsansprüche können daher stets nur hypothetische Geltung beanspruchen.19 Zu alledem kann uns wissenschaftliche Erkenntnis nicht zur Einsicht darüber verhelfen, was wir in Zukunft wissen werden, wie Karl Popper in seinem „Historizismus“-Buch darlegte.20 Da aber davon auszugehen ist, dass dieses Wissen für menschliches Handeln nach wie vor maßgeblich sein wird, ist die Zukunft nicht prognostizierbar. Pascals Wissenskugel-Metapher: Das wissenschaftliche Wissen wird durch ein Gedankenbild Blaise Pascals als eine Kugel verstanden, die im All des Nichtwissens schwimmt und als Folge des Wissensfortschritts beständig größer wird. Mit ihrem Wachsen vergrößert sich ihr Volumen, damit aber auch ihre Oberfläche, und die Berührungspunkte des Wissens mit dem Nichtwissen vermehren sich. Zwar wächst das Volumen der Kugel – das Wissen – schneller als ihre Oberfläche, wo die Generierung des Nichtwissens erfolgt, aber das Wissen wird gleich wenig das Nichtwissen einholen oder gar überholen wie im berühmten Paradoxon des Zenon von Elea Achilles die Schildkröte. Vol.1, eds. N. Houser and C. Kloesel, Bloomington/Indiana 1992, 124–141. 19 Vgl. dazu Wolfgang Stegmüller, Die Ergebnisse der Erkenntnistheorie. In: Grenzen der Erkenntnis. Hrsg. von Leonhard Reinisch, Freiburg i. B. 1969, 11–30, v. a. 29 f. 20 Vgl. Karl Raimund Popper, Das Elend des Historizismus (engl. Orig. London 1960), Tübingen 1965, XI f.

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Rationalitätsgrenzen: Schließlich ist noch im Sinne von Karl Popper auf jene Grenzen hinzuweisen, die dem wissenschaftlichen Verstand gesetzt sind, da sein Wirken auf der Voraussetzung einer Glaubensentscheidung zu kritischer Rationalität beruht, die nicht selbst wiederum rational begründbar ist: „Das bedeutet, daß ein Mensch, der die rationalistische Einstellung annimmt, [...] einen Glauben oder ein Verhalten akzeptiert, das [...] seinerseits irrational genannt werden muss. Was immer es auch sein mag – wir können es einen irrationalen Glauben an die Vernunft nennen.“21

5. Postulierte Grenzen Wissenschaft als Ganzes ist nicht nur ein durch permanente Grenzüberschreitungen, sondern auch ein durch selbst vorgenommene Abgrenzungen und Exklusionen charakterisiertes Unternehmen. Dabei geht es um logisch-epistemische Normierungen des wissenschaftlichen Betriebs selber. Anders verhält es sich mit Disziplinen wie Ethik und Recht, deren Normadressaten im Regelfall außerhalb der Institution Wissenschaft befindliche Mitglieder der Gesellschaft sind.

Wertfreiheit Hier steht die Abgrenzung der Wissenschaft von subjektiv wertenden Stellungnahmen in Betracht. In Bezug auf die historischen Sozialwissenschaften fand Max Weber, dass „die stete Vermischung wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Raisonnements […] eine der zwar noch immer verbreitetsten, aber auch schädlichsten ihrer Eigenarten“ sei. Gegen diese Vermischung, nicht etwa gegen das Eintreten für die eigenen Ideale richtet sich seine Kritik, und so haben ihm zufolge auch „Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche ,Objektivität‘ […] keinerlei innere Verwandtschaft“.22 Diese Haltung kommt auf exemplarische Weise bereits im Werk und im Wirken 21 Karl Raimund Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Zweiter Band: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen (engl. Orig. London 1945), Bern 1958, 283 f. 22 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904]. In: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre [1922], 3., erw. u. verb. Aufl., Tübingen 1968, 146–214, hier 157. (Kursivierungen im Original.)

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von David Hume zum Ausdruck, dem ersten Verfechter wertfreier Wissenschaftlichkeit.23

Wissenschaftlichkeitskriterien Unendliches Missverständnis und vor allem terminologischer und gänzlich steriler Streit hat sich an das Wort „Werturteil“ geknüpft, wie Max Weber in seinem 1917 erschienenen Wertfreiheits-Aufsatz bemerkt: „Daß die Wissenschaft 1. ,wertvolle‘, d. h. logisch und sachlich gewertet richtige und 2. ,wertvolle‘, d. h. im Sinne des wissenschaftlichen Interesses wichtige Resultate zu erzielen wünscht, daß ferner schon die Auswahl des Stoffes eine ,Wertung‘ enthält, – solche Dinge sind trotz alles darüber Gesagten allen Ernstes als ‚Einwände‘ aufgetaucht.“24 In der Tat legt ja die Gemeinschaft der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen allein schon durch Formulierung der Kriterien für Wissenschaftlichkeit gegenüber dem vor- und außerwissenschaftlichen Wissen, vor allem aber gegenüber pseudowissenschaftlichen Erkenntnisansprüchen Grenzen fest. Als Kriterien für Wissenschaftlichkeit werden in der Regel insbesondere genannt: 1. Sprachgenauigkeit und intersubjektive Mitteilbarkeit; 2. Logische Überprüfbarkeit – und dies impliziert •

logische Richtigkeit der Deduktion von Sätzen aus Prämissen, Axiomen und Theorien,



logische Konsistenz oder Widerspruchsfreiheit von Aussagen,



logische Kohärenz mit bereits bewährten Aussagen und Theorien;

3. Empirische Überprüfbarkeit und prinzipielle Falsifizierbarkeit der Aussagen, im Besonderen der Theorien;

23 Vgl. dazu Ernst Topitsch, Humes Prinzip der Wertfreiheit – heute. In: Alan Peacock und Ernst Topitsch, David Hume in unserer Zeit. Vademecum zu einem frühen Klassiker der ökonomischen Wissenschaft (Kommentare zur Faksimile-Ausgabe der 1752 in Edinburgh erschienenen Erstausgabe von David Hume: Political Discourses), Düsseldorf 1987, 63 –78. 24 Max Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften [1917]. In: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre [1922], 3., erw. u. verb. Aufl., Tübingen 1968, 489–540, hier 499. (Kursivierungen im Original.)

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4. Konditionalität, also die explizite Darlegung der Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen eine Aussage gültig ist; 5. Objektivität als das Postulat, nichts, was zum Gegenstandsbereich der betreffenden Wissenschaft gehört, aufgrund persönlicher Wertpräferenzen von der Darstellung und Analyse auszuschließen. Diesen Kriterien kommt eine die Wissenschaft zugleich einhegende und von anderen mit Erkenntnisanspruch auftretenden Bestrebungen abgrenzende Funktion zu.

Wissenschaftsautonomie Moderne Gesellschaften gliedern sich in Teilsysteme auf, welche bestimmte für die Gesamtheit wichtige Funktionen erfüllen und gerade darauf spezialisiert sind. Daher spricht man auch von der „funktionalen Differenzierung“ als dem beherrschenden Strukturprinzip entwickelter gegenwärtiger Gesellschaften. Das Wirtschaftssystem hat so beispielsweise die Aufgabe, die Gesellschaft optimal mit knappen Gütern zu versorgen; gesteuert wird es dabei über den Code oder das Rationalitätsprinzip von Gewinn und Verlust.25 Heute – im Unterschied vor allem zur Epoche der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts, als der Primat des Handelns eindeutig auf Seiten der Politik lag – gelingt es gerade dem ökonomischen System besonders gut, andere gesellschaftliche Teilsysteme, die nicht auf den wirtschaftlichen Code programmiert sind, für seine Zwecke zu instrumentalisieren.26 Der Vorrang der angewandten Wissenschaft hat eine Angleichung weiter Teile der an Universitäten geleisteten naturwissenschaftlichen Forschung an die Industrieforschung zur Folge gehabt. Nicht selten werden Forschungsziele und Forschungsinhalte gemeinsam mit der Vergabe von Drittmitteln aus der Industrie festgelegt, wobei selbst Universitätsforschung zum Teil auf die Entwicklung marktfähiger Verfahren gerichtet ist.27 Auf besonders negative 25 Vgl, dazu Dieter Grimm, Vergiss die Besten nicht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. De­zember 1999, 54. 26 Diese häufig zu konstatieren Verschiebung des Primats im gesellschaftlichen Handeln hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Kongruenz zwischen politischen und wirtschaftlichen Aktionsräumen im Zeitalter globaler, vor allem finanzindustrieller Verflechtungen geschwunden ist und sich in der Folge die Zugriffschancen einer sich im nationalen Rahmen vollziehenden Politik verringern. 27 Vgl. in diesem Zusammenhang Martin Carrier, Interessen als Erkenntnisgrenzen? Die Wis-

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Auswirkungen einer durch außerwissenschaftliche Interessen in Dienst genommenen Wissenschaft haben Angela Spelsberg und Matthias Burchardt am Beispiel manipulierter Studiendaten bei Generika und patentgeschützten Medikamenten hingewiesen: „Alle Studiendaten sind Eigentum des Herstellers; er allein entscheidet darüber, was veröffentlicht wird und was nicht. […] Auf die veröffentlichten Forschungsergebnisse ist kein Verlass mehr.“28 Dem Code der Ökonomie geht der Ruf der Erfolgsträchtigkeit voran, was ihm, wie Dieter Grimm bemerkt, die Anmaßung universaler Gültigkeit erleichtert und seine Expansion in Bereiche fördert, die andere Funktionen erfüllen als die Wirtschaft: „Wer heute verlangte, die Wirtschaft habe sich organisatorisch und funktional an der Universität zu orientieren, würde nur mit Kopfschütteln bedacht. Es gilt aber offenbar nicht als befremdlich, wenn die Forderung erhoben wird, die Universitäten sollten wie ein Unternehmen arbeiten. Der das als Zumutung ansieht, spricht sich damit nicht gegen Sparsamkeit oder gegen Wettbewerb aus, wohl aber gegen eine Vorstellung, in der Wettbewerb nur noch als kommerzieller denkbar erscheint.“29 Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass im Falle der dem Wissenschaftssystem zuzuzählenden Institutionen mit deren Instrumentalisierung ein Verlust ihrer kritisch-distanzierten Position einhergeht. Es kommt darauf an, dass die maßgeblichen Vertreter der Wissenschaft und der Wissenschaftspolitik der Intervention aus dem ökonomischen Teilsystem Grenzen setzen, sobald die Autonomie der Wissenschaft in Gefahr ist.

Grenzen der Entgrenzung: Ethik und Recht Im Folgenden geht es, wenn auch nur kursorisch, um einige grundlegende Aspekte der jüngeren Diskussion in und zwischen einigen normativ-begründenden Disziplinen. Subjektivität und Moral: Gerade bezüglich des Nutzens moralischer Normen gibt es immer wieder Auseinandersetzungen, die nicht selten affektuell und mit offen zur Schau getragenen Sympathien und Aversionen, mitunter aber senschaft unter Verwertungsdruck. In: Grenzen und Grenzüberschreitungen (Anm. 4), 168– 180. 28 Angela Spelsberg, Matthias Burchardt, Unter dem Joch des Drittmittelfetischs. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Januar 2015, 8. 29 Dieter Grimm, Vergiss die Besten nicht (Anm. 25).

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auch auf ideologische Weise subtil und mit scheinbar wissenschaftlichen Argumenten geführt wurden. Wie der 1994 verstorbene US-amerikanische Historiker und Sozialkritiker Christopher Lasch in seinem letzten Buch „Die blinde Elite“ ausführte, gibt es eine ganze Reihe von mit Wissenschaftsanspruch auftretenden Tiefenpsychologen, welche moralische Grenzen sowie Gefühle der Scham als nicht zu billigende Formen der psychischen Repression betrachten. Stattdessen empfehlen sie den Abbau von Idealen als Mittel, um geistig-seelische Gesundheit zu erreichen, wobei sie damit, wie Lasch ausführt, de facto nichts anderes vorschlagen, „als Scham durch Schamlosigkeit zu heilen“.30 Die Kultur der Schamlosigkeit werde zur Kultur der Herabsetzung und Entwertung von Idealen. „Das einzig Verbotene in unserer Enthüllungskultur“, sagt Lasch, „ist die Neigung, zu verbieten, der Enthüllung Grenzen zu setzen.“31 „Autonomie“ lautet das Zauberwort für die Abwehr moralischer Abgrenzungen und der gemeinsam mit diesen in Misskredit geratenen, angeblich samt und sonders vorurteilsbehafteten ethischen Wertbegriffe – etwa Freundschaft, Liebe, Freiheit. Den Definitionen moralischer Begriffe komme im selben Sinne ein unzeitgemäßer Autoritätsanspruch zu wie dem literarischen oder musikalischen Kanon in der Kunst. „Die Definition – das bin ich. Diese Selbstermächtigung soll die Gewalt objektiver Maßstäbe brechen“, wie der Literat und Essayist Michael Rumpf diese Einstellung charakterisiert;32 oder mit anderen Worten dieses Autors: „in der pluralistischen Welt darf jeder wählen, welchen Normen er folgt, um an ihnen nicht zu scheitern.“33 Letzt30 Vgl. Christopher Lasch, Die blinde Elite. Macht ohne Verantwortung. Aus dem Amerikanischen von Olga Rinne, 2. Aufl., Hamburg 1995, 225. – Dieses therapeutische Konzept liegt in einer die eigenen Interessen reichlich verklärenden Form nicht nur gewissen pornographischen Produkten, sondern auch anderen Erzeugnissen der Unterhaltungsindustrie zugrunde. Der Tod sei ein Tabu, das manchmal gebrochen werden müsse, sagte der Redaktionschef der französischen Satirezeitung „Charlie Hebdo“, Laurent Sourisseau (Pseudonym Riss), nachdem diese wenige Tage nach dem verheerenden Erdbeben vom 24. August 2016, bei dem knapp 300 Menschen ums Leben kamen, eine Zeichnung des Karikaturisten Felix veröffentlichte. Diese erschien unter dem Titel „Erdbeben nach italienischer Art“ und zeigte Opfer als Nudelgerichte: eines war „Penne mit Tomatensauce“ benannt, ein weiteres als „mit Käse überbackene Penne“, als „Lasagne“ wiederum mehrere Opfer, die unter den Schichten ihrer eingestürzten Häuser begraben liegen. – Vgl. den unter Bezug auf die Nachrichtenagentur AFP erschienenen Redaktionsartikel „Diffamierend?“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 14. September 2016, 13. 31 Christopher Lasch, Die blinde Elite, ebd., 218. 32 Michael Rumpf, Gefühlsgänge. Vier Essays, Graz-Wien 1997, 96. 33 Ebd., S. 99.

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lich läuft diese Strategie darauf hinaus, ein unbestimmtes Gefühl von Gleichheit herzustellen. Im Hintergrund stehen derweil, wie Max Weber einmal sagte, „zahlreiche ökonomische und soziale Interessen […] unter der Garantie des Tabu“.34 Sittlichkeit und Recht: Soviel zu bestimmten Beständen der Moral. Das Recht aber hat es mit Sittlichkeit zu tun, und es enthält generalisierte, nicht individualisierte Normen. Seine Satzungen enthalten die Aufforderung, eine Grenze nicht zu überschreiten, sondern sie zu respektieren. Wir unterstellen uns dem Recht, weil und sofern es unsere Freiheit durch Sicherung gegenüber politischen, ökonomischen oder kulturellen Zwängen verbürgt. In der Sicherung des Einzelnen vor der herrschaftlichen Willkür von Autokraten und Kollektiven wurzelt der europäische Rechtsstaat. Die durch ihn formulierten egalitären Grundrechte garantieren zwar die „Diversität“ partikulärer religiöser sowie ethnisch-kultureller Orientierungen und bilden die homogene Grundlage sowie die Voraussetzung religiöser und kultureller Pluralität, aber die Akzeptanz des Rechtsstaats trifft dennoch auf Hindernisse. Das abstrakte Bekenntnis zu den allgemeinen Grund- und Menschenrechten macht nämlich nach Ansicht gewisser „liberaler“ Exegeten in konkreten sozia­ len und politischen Lagen eine besondere Interpretation ihrer Inhalte erforderlich. Insbesondere die Vertreter einer postmodern-aufgeklärten Ethno­logie versichern in diesem Zusammenhang, dass die von Seiten anderer – mittlerweile in gewissem Umfang auch in Europa präsenter – Kulturen anzutreffende Kritik an den Grund- und Menschenrechten nur aus der bornierten Sicht unserer eigenen Kultur als rückschrittlich erscheine, während doch die Kultur des Anderen, des Fremden, als authentische Kultur anzusehen sei. „Eine hedonistische Bourgeoisie“ macht, wie Rudolf Burger bemerkt, „alle denkbaren exotischen Kulturen zum Gegenstand ihres ästhetischen Konsums – sie findet sie ‚interessant‘ und moralisch gleichberechtigt. Oder besser gesagt: Sie stellt die Frage nach der Berechtigung gar nicht mehr, sie findet vielmehr die Frage nach der Berechtigung selber unberechtigt. Der konsequente Kulturalismus, der der herrschende liberale ist, ist ein Relativismus, der objektive Standards nicht erlaubt.“35 Und so werden bereits jetzt ansatzweise binnenstaatliche Kon34 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Einführung in die Verstehende Soziologie [1922], 5. Aufl., Tübingen 1972, 264. 35 Rudolf Burger, Ein neues Zentralgebiet? Kultur als Zivilreligion. In: Ders., Ptolemäische Vermutungen. Aufzeichnungen über die Bahn der Sitten, Lüneburg 2001, 88–98, hier

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flikte im Namen jener Menschenrechte ausgefochten, welche die Grundlage für eine binnennationale Verständigung abgeben sollen. Entsprechendes gilt für die internationalen Beziehungen: Vieles spricht dafür, dass – als eine der Folgen solcher kulturrelativistisch betriebenen Entgrenzungen in der Exegese von Grundrechten – in Zukunft vermehrt Kriege im Namen der Menschenrechte geführt werden, wie schon in der Vergangenheit im Namen der gleichen Religion oder des äquivoken ideologischen Glaubensbekenntnisses. Will man nicht die Entscheidung über Fragen der Legitimität von grundund menschenrechtlichen Normen den jeweils stärkeren Bataillonen überlassen, so wird man sich gerade angesichts der kulturellen Vielgestaltigkeit und auch Heterogenität moderner Gesellschaften um die Durchsetzung klarer (und machtbewehrter) normativer Regelungen und Bestimmungen bemühen müssen, die festlegen, welche Bereiche dem Zugriffsrecht religiöser, kultureller, politischer und ökonomischer Gruppierungen entzogen sind.

6. Versuchungen in der Wissenschaft, eigene logisch-epistemische Grenzziehungen zu missachten Wie das Recht, so sucht auch die Wissenschaft – neben anderen Erfordernissen – dem Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung zu genügen. Darin kann man den latenten Sinn wissenschaftlichen Handelns sehen. Dessen manifester Sinn ist vor allem mit drei Merkmalen verbunden: erstens mit der Rationalität von logisch kohärenten und empirisch gehaltvollen Aussagen gemäß den Prinzipien des Verstandes; dann aber mit zwei Prinzipien der wissenschaftlichen Vernunft: zunächst mit dem Streben nach Angemessenheit der Methoden an ihren Gegenstand – so erachtete es bereits Aristoteles in der „Nikomachischen Ethik“ als „Kennzeichen des Gebildeten, daß er Genauigkeit in jeder Art von 89. – Zweifellos hat allerdings der sog. Westen nicht unerheblich zur Entwertung der Verbindlichkeit menschenrechtlicher Normen beigetragen. Denn wenn es die Umstände erforderten, gab es immer wieder – menschenrechtliche Tabus hin oder her – tabuneutrale, weil angeblich höheren aktuellen Erfordernissen entsprechende Sonderbestimmungen, welche die Praktizierung der Menschenrechte, des zentralen Glaubensinhalts unserer Zivilreligion, außer Kraft setzten. So kam beispielsweise die Interrogationstechnik des „waterboarding“ in Guantánamo und andernorts der unter sog. politischen Entscheidungsträgern gerade vorherrschenden Interessenlage und den sie repräsentierenden „westlichen Werten“ entgegen.

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Wissenschaft nur so weit erwarten wird, als die Natur des Gegenstandes sie ermöglicht“;36 sodann aber mit der Bestimmung des Zieles der wissenschaftlichen Tätigkeit, das einerseits in einem vertieften theoretischen Verständnis von Natur, Mensch und Gesellschaft gesehen wird, andererseits in der Entwicklung von Techniken der Lebensbewältigung. Es ist die Vernunft, die dem Verstand das eine Mal Grenzen setzt, ihn aber das andere Mal zum Übersteigen faktisch bestehender Grenzen anleitet.37 Doch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen können sowohl gegen logisch-epistemische Regeln des wissenschaftlichen Verstandes als auch gegen Prinzipien der wissenschaftlichen Vernunft verstoßen, einschließlich der mit der Suche nach Lebenserleichterung und Lebensbewältigung verbundenen wissenschaftsethischen Konventionen. Damit verletzen sie Grenzen in der einen oder anderen Richtung, doch es geschieht dies nicht immer bewusst. Hubert Markl, der ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft, hat vor mehr als zwei Jahrzehnten einige Versuchungen von Wissenschaftlern zu einschlägigen Grenzverletzungen in Betracht gezogen, worauf im Folgenden mit Modifikationen und Ergänzungen Bezug genommen wird.38 Insgesamt geht es im Folgenden um sieben Versuchungen zur Selbstentgrenzung oder auch Selbsteingrenzung wissenschaft­ lichen Handelns.

Die reduktionistische Versuchung Dass verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, jedenfalls große Teile der Naturforschung, aber auch Teile der Humanwissenschaften, wie die Ökonomik, die Soziologie und die Psychologie, reduktiv oder reduktionistisch vorgehen, hat damit zu tun, dass sie Phänomene definieren und erklären wollen. Sie müssen diese in ihren Eigenschaften – dem Wortsinne von „Definition“ 36 Aristoteles, Hauptwerke. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Nestle, 2. Aufl., Stuttgart 1953, 211. 37 Diese Betrachtung unseres Denkvermögens geht zurück auf die Unterscheidung zwischen dem „Verstand“ und der „Vernunft“ als dem höheren Erkenntnisvermögen, das auch die Ziele der Verstandesaktivität der Beurteilung unterzieht; sie blieb zwar terminologisch, nicht aber was die Problematik betrifft, an die von Kant auf den Weg gebrachte Philosophie des Deutschen Idealismus gebunden. 38 Hubert Markl, Wer liebt, der forscht. Über die sieben Versuchungen der Wissenschaft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Juni 1993, Nummer 145, Beilage

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gemäß – eingrenzen, also isolieren, und das komplexe Ganze, dem sie angehören, auf ein Detail reduzieren. Da die isolierende Bestimmung von Phänomenen allerdings oft unter Laboratoriumsbedingungen, also fern der biologischen und der sozialen Wirklichkeit erfolgt, kann es durchaus sein, dass nicht das erforscht wird, was in der Natur oder der Gesellschaft vor sich geht, sondern ein Kunstprodukt: das Artefakt der eigenen Versuchsanordnung.

Die experimentalistische Versuchung Der Königsweg der Überprüfung jeder reduktiven Erklärung natürlicher, aber auch gewisser sozialer Phänomene ist das kontrollierte Experiment. Nun werden allerdings mitunter wissenschaftliche Probleme als von geringerem Wert betrachtet, wenn sie sich nicht zur experimentellen Analyse eignen. Doch es gibt wichtige Forschungsbereiche – auch außerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften –, deren wissenschaftliche Bedeutsamkeit nicht mit der experimentellen Methode verknüpft ist. Dazu zählen beispielsweise die beschreibend-klassifizierenden Arbeiten zur Inventarisierung von Gestirnen, Mineralien, Tieren, Pflanzen, Mikroben etc. Derartige Bestandsaufnahmen sind es, die der immer wichtiger werdenden Bestandssicherung alles dessen vorangehen müssen, was uns die Natur überliefert und anvertraut hat.

Die monistische Versuchung Hier stehen Erklärungen in Betracht, in denen eine Vielzahl von Merkmalen eines Phänomens auf ein angeblich für dieses allein oder „letztlich“ konstitutives Merkmal zurückgeführt wird. Solche Nichts-anderes-als-Erklärungen hat der Historiker Alexander Demandt im Blick, wenn er sagt: „Wer alles Handeln aus Egoismus ableitet, alles Geschehen als Zufall versteht, hat ebenso Recht wie jemand, der in jedem Text nur Buchstaben, in jeder Musik nur Schallwellen findet.“39 Vor allem das für Wissenschaftlichkeit bedeutsame Merkmal der Konditionalität bleibt hier außer Acht. So nahmen bekanntlich die erbitterten Diskussionen zwischen den Nativisten und den Anhängern der Milieutheorie in 39 Alexander Demandt, Zeit und Unzeit. Geschichtsphilosophische Essays, Köln-Wien-Weimar 2002, 293.

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Pädagogik und Soziologie häufig den Charakter eines Streits über die Frage an: „Was ist wichtiger – die Vererbung oder das Milieu?“, und nicht darüber: „Was ist in einer bestimmten Situation im Hinblick auf diese und jene Dinge wichtiger?“ Die Frage lautete einfach: „Was ist wichtiger?“ 40

Die advokatorische Versuchung Diese ist mit einem Wort Hubert Markls als „Rechthaberversuchung“ zu verstehen, die der weit verbreiteten Neigung entspringt, nur jene Belege für eine erklärende Hypothese zu suchen und nur jene Argumente für sie vorzubringen, die sie stützen, während die sie möglicherweise falsifizierenden Belege für gering erachtet oder übersehen werden. Auf exemplarische Weise tritt dieser Wille (oder das Unvermögen) in der Erziehungswissenschaft zu Tage: in den aktuellen Diskussionen über die Abschaffung des Frontalunterrichts; über die umfassende Inklusion von mehrfach Behinderten in nicht speziell auf deren Bedürfnisse ausgerichteten Schultypen mit der Folge, dass jene sich als permanente Versager fühlen und weder lernen, ihre Ängste zu überwinden und sich zu regulieren, noch zu lernen;41 oder über die angeblich soziale Barrieren überwindende Praxis des Schreibens nach Gehör in den ersten Volksschulklassen. Dort, wo der normierende Wille eine Erörterung der Folgen einer Verwirk­ lichung der oft durchaus moralisch ambitionierten Absichten ebenso in den Hintergrund rückt wie die Erwägung von nicht-intendierten Nebenfolgen, haben Vertreter einer empirischen Pädagogik schlechte Karten.

Die ahistorische Versuchung Der Althistoriker Christian Meier erörterte vor einiger Zeit in einer gleich­ namigen Schrift den in gewisser Weise paradoxen „Wandel ohne Geschichtsbewußtsein“.42 Besonders drastisch zeigt sich dieser unter anderem 40 Vgl. dazu Stanisław Ossowski, Die Besonderheiten der Sozialwissenschaften (poln. Orig. Warschau 1967), Frankfurt a. M. 1973, 89–119, v. a. 108–110. 41 Vgl. dazu Reiner Burger, Wunsch und Wirklichkeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. August 2016, 6, sowie Regina Mönch, Rettungsinsel für Versager. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Dezember 2016, 11. 42 Vgl. dazu Christian Meier, Wandel ohne Geschichtsbewusstsein – ein Paradox unserer Zeit? (= Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen, 16), Basel 2004, v. a. 45–60.

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an der Gestaltung des Geschichtsunterrichts selber in jenem Land, das einstmals als Hochburg historischen Wissens angesehen wurde: in Deutschland. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ berichtete in ihrer Ausgabe vom 8. August 2016: „Statt Inhalte vorzugeben, werden Standards definiert, statt eines detaillierten Rahmenplans wird den Geschichtslehrern vorgegeben, welche ,Kompetenzen‘ die Schüler erwerben sollen. Dafür wurden die Lehrpläne zuletzt fast überall gründlich verschlankt, was die Pflichtinhalte betrifft: In Baden-Württemberg verzichtet man auf die Französische Revolution, in Bayern auf Hitlers Außenpolitik. Und in Sachsen-Anhalt kommt die Amerikanische Unabhängigkeit als erstes neuzeitliche Streben nach Demokratie nicht mehr vor.“ Für Berlin sind allerdings auch chronologische Blöcke vorgesehen, die jedoch erst 1789 beginnen. „Über die Antike oder die Renaissance werden die Schüler der Hauptstadt also nicht zwingend jemals etwas hören.“ 43 Die großen Leistungen Europas, seine philosophischen und wissenschaftlichen Anfänge in der griechischen Antike, das römische Recht, das christliche Mittelalter, Renaissance und Reformation, sowie der Humanismus samt einem großen Teil der Aufklärungsphilosophie – alles das ist für die Vertreter dieses Präsentismus unnütz und museal, für die schicke Linke bürgerlichverzopft, und für die zutiefst verunsicherten Konservativen eine unangenehme Herausforderung zur Bekundung von couragiertem Widerstand. Was für eine Eingrenzung des geschicht­lichen Bewusstseins! Und wie sehr kontrastiert diese pädagogische Aktualitätsneurose mit dem Wort eines großen Naturwissenschaftlers: „Das Wissen um den historischen und philosophischen Hintergrund macht einen unabhängig von jenen Vorurteilen der Generation, unter denen die meisten Wissenschaftler leiden. Diese durch philosophische Einsicht gewonnene Unabhängigkeit unterscheidet meiner Ansicht nach den bloßen Handwerker oder Spezialisten von dem echten Wahrheits­suchenden.“ Das Wort stammt von Albert Einstein.44 43 Vgl. Louisa Reichstetter, Was geschah vor 1789? Nicht so wichtig! In: Die Zeit, 4. August 2016; auch im Internet unter: http://www.zeit.de/2016/33/geschichtsunterricht-schulegeschichte-lehrer-schueler (abgerufen am 10. Oktober 2016). – Vgl. In diesem Zusammenhang auch Martin Schulze Wessel, Wie die Zeit aus der Geschichte verschwindet. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. September 2016; auch im Internet unter: http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/geschichtsunterricht-wie-die-zeitaus-der-geschichte-verschwindet-14432809.html (abgerufen am 10. Oktober 2016). 44 Im Original heißt es in einem Brief an Robert Thornton von Dezember 1944: „A knowledge of the historic and philosophical background gives that kind of independence from prejudices of his generation from which most scientists are suffering. This independence created by philosophical insight is – in my opinion – the mark of distinction between a

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Die ideologische Versuchung Bei der ideologischen Versuchung handelt es sich um eine Tendenz, die die Grenzen, welche die Wissenschaftlichkeit dem Vorurteil zieht, außer Kraft setzt. Die Ursprünge dieser Tendenz liegen einerseits in einem – nicht immer bewussten – Streben nach Selbstentlastung und Selbstrechtfertigung, das zur Rationalisierung zweifelhafter Handlungen Anlass gibt, andererseits in einem zum unbezweifelbaren Glauben verfestigten Weltbild, der nicht selten der Selbsttäuschung entspringt. In der Absicht, eine uns unangenehme Handlung zu rechtfertigen, bedienen wir uns mitunter – und häufig nur halb bewusst – der exkulpierenden Rationalisation auf Grundlage eines behaupteten Kausaldeterminismus. Dann sind wir, wie Rüdiger Safranski einmal meinte, „nichts anderes als soziale Rollen, ökonomische Charaktermasken, die statistischen Kalkülen, Triebprozessen und biologischen Verhaltensschemata unterworfen sind.“ 45 Der Fehlschluss von der kausalen Rekonstruktion von Handlungen auf deren Zwangscharakter, der eine Reihe von mit Wissenschaftsanspruch auftretenden Deutungen charakterisiert, drang auch in das Alltagsbewusstsein vor: „mit dem Ergebnis, daß man Verantwortung für sein Handeln von sich selbst abwälzen kann: die Gesellschaft, meine frühe Kindheit, meine Natur etcetera sind schuld. Nicht ich.“46 Ein besonders markantes Beispiel für ein in einem politischen Glauben verfestigtes Weltbild bilden andererseits die Ansichten des ukrainischen Agronomen Trofim Denissowitsch Lyssenko.47 Wie Stalin bestrebt war, den alten spätfeudalen und bürgerlichen Menschen durch Erziehung in den neuen Sowjetmenschen umzuformen und seine Eigenschaften intergenerationell auf Dauer zu stellen, so hat auch Lyssenko versucht, eine „Umerziehung“ von Winterweizen in Sommerweizen zu bewerkstelligen und dabei auch den Nachweis für die Möglichkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften zu mere artisan or specialist and a real seeker after truth.” – Zitiert aus dem Blog-Artikel von Samaneh Kleopatra Zarabi, I’m an Imported ‘Skilled-Worker.’ What Does That Mean for My U.S. Born Children? In: The Huffington Post, 10. März 2015 (abgerufen am 10. Oktober 2016). 45 Rüdiger Safranski, Wie viel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare, Frankfurt a. M. 1993, 196. 46 Ebd., 197. 47 Zum Folgenden siehe vor allem Rudolf Hausmann, Die Entdeckung des Lebens. Wege und Irrwege großer Forscher, Darmstadt 2009.

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liefern. Die „Umerziehung“ sollte dadurch geschehen, dass Wintergetreide nach Kälteschock auch im Sommer angepflanzt wird und das daraus entspringende Saatgut auch in Zukunft stets die Eigenschaft von Sommerweizen beibehält. Heftig kritisierte er Gregor Mendel, August Weismann und Thomas H. Morgan als Apologeten der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft. Lyssenko leugnete die Existenz von intraspezifischer Kompetition im Pflanzenreich. Zwar war nicht zu bestreiten, dass viele Keimlinge eingehen, wenn zu eng gesät wird. Aber die Deutung, wonach die kräftigeren Keimlinge die schwächeren verdrängen, war Lyssenko zufolge eine verwerfliche, weil dem kapitalistischen Wettbewerbsprinzip huldigende Deutung. In Wirklichkeit sei es so, dass das Kollektiv der Keimlinge feststelle, dass sie zu viele seien und dass sich dann altruistisch handelnde Keimlinge freiwillig zum Wohle der Gesamtheit opfern würden.48 Lyssenko brachte es auch fertig, nach Stalins berüchtigter Rede vor dem Zentralkomitee im Frühjahr 1937, in der dieser zur Liquidierung der Trotzkisten und anderer „Verräter“ aufgerufen hatte, eine Hexenjagd gegen Biologen in die Wege zu leiten. Ihr prominentestes Opfer wurde einer der namhaftesten Pflanzenpathologen der damaligen Zeit, Nikolai Wawilow. 1940 von der Geheimpolizei verhaftet, soll er im Kerker verhungert sein. Ideologische Überzeugung und Opportunismus führten in der Folge zu einer Flut von wissenschaftlichen Publi­kationen, in denen Lyssenkos Lehre angeblich experimentell belegt wurde: So wurden z. B. die Umwandlungen von Weizen in Gerste, von Tannen in Föhren, von Kohl in Raps und vieles mehr beschrieben. Als 1963 die Sowjetunion erstmals Getreide aus Kanada, USA und Australien importieren musste und sich zeigte, dass die sowjetische Landwirtschaft durch Lyssenkos Lamarckismus argen Schaden genommen hatte, führte dies zum Machtverlust Lyssenkos und zur Verbreitung von bis dahin in der UdSSR als kapitalistisch denunzierten biologischen Wissensinhalten.

Die manipulative Versuchung Eine besondere Art der manipulativen Versuchung könnten heute bestimmte Methoden der Biotechnologie auf der Grundlage der modernen Genetik darstellen. Die Genetik ist jene biologische Wissenschaft, die in ähnlicher Weise, 48 Vgl. ebd., 134 f.

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wie dies für die Physik Jahrhunderte hindurch gegolten hat, zur Schlüsselwissenschaft einer Epoche werden kann. Grundlage der modernen Biotechnik sind die von den Wissenschaftlerinnen Emmanuelle Charpentier (vom Max-PlanckInstitut für Infektionsbiologie in Berlin) und Jennifer Doudna (von der University of California at Berkeley) entwickelten enzymatischen Scheren, CRISPR/ Cas (= Clustered Regularly Interspaced Short Palindrome Repeats/CRISPR associated) genannt, welche die Arbeit von Biologen und Medizinern zu revolutionieren scheinen.49 Diese sind mit Hilfe dieser Scheren in der Lage, die Erbsubstanz, das Genom, umzuschreiben und gewissermaßen wie einen Buchtext zu edieren oder editieren. Deshalb die Bezeichnung „Genomeditierung“ („Genome editing“) für dieses neue Verfahren der „biologischen Textverarbeitung“. In den letzten Jahren wurden mithilfe dieser Methode große Fortschritte in der Grundlagenforschung erzielt. So versteht man jetzt besser, welche Gene bzw. Produkte an der Verbreitung von Infektionserregern beteiligt sind oder welche Prozesse bei der Entstehung von Krebs von besonderer Bedeutung sind. Es gibt allerdings einen neuen, in seinen Auswirkungen noch höchst unzureichend abgeklärten Aspekt der Anwendung dieses Verfahrens, So groß nämlich die Erwartungen sind, die sich mit der somatischen Gentherapie verbinden, so groß sind die Bedenken bezüglich der Möglichkeiten von Keimbahninterventionen beim Menschen. Wie Jörg Hacker, der derzeitige Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, ausführt, gibt es genetische Veränderungen nicht nur mit den intendierten und bekannten positiven Folgen, sondern auch so genannte „off target“-Effekte in Form von unerwünschten genetischen Veränderungen, die bei der Genomeditierung entstehen können. Von besonderem Belang ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass die einmal in der Keimbahn befindlichen Gene nicht mehr ohne weiteres korrigiert und entfernt werden können. Dies widerspricht dem vom Theologen und Sozialethiker Lutz Rendtorff formulierten erweiterten kategorischen Imperativ, den auch Hacker im Hinblick auf die Folgenabschätzung neuer biomedizinischer Verfahren für grundlegend hält: „Handle so, dass du der Situation, in der du dich befindest, gerecht wirst und dich durch die Folgen deines Handelns noch korrigieren lassen kannst.“50 49 Siehe Martin Jinek, Krzysztof Chylinski, Ines Fonfara, Michael Hauer, Jennifer Doudna, Emmanuelle Charpentier, A Programmable Dual-RNA–Guided DNA Endonuclease in Adaptive Bacterial Immunity (als PDF zugänglich). In: Science, Vol. 337, Nr. 6096, 17. August 2012, 816 ff. – Zum Folgenden siehe Jörg Hacker, Der Grund des Lebens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Mai 2016, 6. 50 Siehe ebd. – Es war einfach, in der Biotechnik Grenzen zu respektieren, solange es keine

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Vom Golem über Frankenstein bis zu den Cyborgs erstreckt sich eine ganze Palette von fiktiven Gebilden in Literatur und Film, in denen der Wunsch von Menschen zum Ausdruck kommt, selbst menschliche oder jedenfalls menschenähnliche Kreaturen herzustellen. Einen sehr konkreten Schritt in diese Richtung stellt die Möglichkeit dar, Veränderungen des menschlichen Genoms durchzuführen, die auf „enhancement“, auf die „Verbesserung“ von Menschen zielen. Bisher haben Menschen das Humangenom nie gezielt und generationenübergreifend verändert – sie konnten das auch nicht. Nun aber könnten sie es. Die Frage ist, ob die Verlockungen so groß sein werden, dass sie dies – selbst um den Preis bedenklicher Folgen – auch wollen.

7. Selbstbesinnung der Wissenschaft Vor dem Hintergrund des soeben Erörterten ist für die wissenschaftliche Gemeinschaft die Frage von Belang, ob den Standards der Wissenschaftlichkeit nicht auch solche der Wissenschaftsethik hinzuzufügen seien. Die Frage ist aktuell, denn wenn sie nicht auch von der wissenschaftlichen Gemeinschaft mitbeantwortet wird, beantworten sie bei Bedarf gerne Repräsentanten bestimmter politischer, ökonomischer oder religiöser Institutionen allein. Eine Antwort auf diese Frage bilden die vier von dem Soziologen Robert K. Merton im Jahr 1942 formulierten „institutionellen Imperative“ („institutional imperatives“) oder Normen, die nach seiner Ansicht für das Ethos der modernen Wissenschaft bestimmend sind: Universalismus („universalism“), womit die allgemeine Geltung wissenschaftlicher Erkenntnisse gemeint ist, unabhängig von der sozialen Stellung oder den besonderen persönlichen Merkmalen der Wissenschaftler, welche diese Erkenntnisse formulieren; Kommunismus („communism“) als die das geistige Gemeineigentum an wisMöglichkeiten gab, sie zu überschreiten. Bei der Keimbahntherapie, die das Erbgut generationsübergreifend verändert, scheint nun eine solche Grenze überwunden worden zu sein: Shoukrat Mitalipov von der Oregon Science and Health University und seinem Team ist, wie in der Zeitschrift „Nature“ vom 2. August 2017 dokumentiert, an 42 von 58 Embryo­ nen die Reparatur eines Gens gelungen, das Ursache für eine Herzkrankheit ist. Als eine Folge von derart spektakulären Eingriffen wird wohl das bisher mit Sicherheits­risiken begründete Verbot der Keimbahntherapie gelockert werden. Und so wird es schwieriger, jeder Form der generationsübergreifenden Veränderung des Erbguts auf Dauer eine A ­ bsage zu erteilen.

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senschaftlichen Gütern betreffende Norm, die im Gegensatz zu jeder Form von Geheimwissen steht; Uneigennützigkeit („disinterestedness“) als Befürwortung einer Haltung der Wissenschaftler, ihre Arbeit in den Dienst des gemeinsamen Interesses am Fortgang der Erkenntnis zu stellen und sie nicht lediglich um persönlicher Vorteile willen zu verrichten; und schließlich organisierter Skeptizismus („organized skepticism“), welcher Norm zufolge wissenschaftliche Meinungen der kritischen Überprüfung durch die Gemeinschaft der Wissenschaftler ausgesetzt werden sollen, ehe sie in den allgemeinen Wissensbestand integriert werden.51 Es sind zwei Ebenen der Betrachtung, welchen hier abschließend in Bezug auf die Frage nach der Verantwortung und den moralischen Grenzen der Wissenschaft noch Rechnung getragen werden soll: eine der allgemeinen Ethik, die unsere moralischen Urteile auf bestimmte ihrer Voraussetzungen hin untersucht, und eine der Individualmoral.

Moralische Konstanten? Angesichts der grundstürzenden neuen Möglichkeiten in den Naturwissenschaften – insbesondere in der Nanotechnik, in der Robotik und in der Biotechnik – stellt sich die Frage nach der Existenz von Größen, die nicht von vornherein schon eine Sache des normativen Relativismus sind. Bekanntlich sehen ja nicht wenige Vertreter der zeitgenössische Ethik in allen Moralnormen nur noch Funktionen historischer oder sozialer Konstellationen und sind nur bereit, ihnen eine Geltung auf Abruf zuzuerkennen.52 Welche Möglichkeiten gibt es da für Wissenschaftler, jenseits von moralischer Indifferenz und blankem Konformismus im Sinne der herrschenden Mehrheits- oder Durchschnittsmeinung einen moralischen Standpunkt zu gewinnen? Auch wenn sich die Beantwortung der Frage nach einem in moralischer Hinsicht absolut Guten als gleich unmöglich erweist wie die Beantwortung der Frage nach der absoluten Wahrheit, so mag es doch sein, dass sich via negationis, also auf dem Wege einer begrifflichen Abgrenzung vom moralisch Bösen, die Möglichkeit zur Festigung einer moralischen Überzeugung ergibt. 51 Robert K. Merton, The Normative Structure of Science. In: Ders., The Sociology of Science. Theoretical and Empirical Investigations, Chicago 1942, 2. Aufl. 1973, chapter 13, v.a. 268 ff. 52 Vgl. dazu Wolfgang Wieland, Herausforderungen der Bioethik. In: Grenzen und Grenzüberschreitungen (Anm. 4), 829–842, hier 839 f.

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Einen gewissen Anhaltspunkt findet diese Annahme in der Tatsache, dass wir zwar beispielsweise nicht sagen können, wie „Gesundheit“ bedeutungsmäßig genau zu bestimmen ist, und dass diese daher weitgehend der subjektiven Urteilsbildung überlassen bleibt, dass es aber – wie durch Lehrbücher der Pathologie exemplarisch unter Beweis gestellt wird – relativ leicht fällt, sich darauf zu einigen, was man als „Krankheit“ bezeichnen kann; Entsprechendes gilt für die Begriffe „Glück“ bzw. „Unglück“. „Den harten Kern einer jeden Ethik“, so führt Wolfgang Wieland den hier entwickelten Gedanken weiter, „berührt die Frage, ob es Handlungen gibt, deren Normierung deswegen nicht von Voraussetzungen oder Folgen abhängt, weil sie als ,actūs intrinsice mali‘ unter allen denkbaren Bedingungen verwerflich sind.“53 Nach Wieland lässt sich die Frage nach Normen, deren Verbindlichkeit von Bedingungen unabhängig ist und die Grenzen setzen, die niemals überschritten werden dürfen, nicht mit dem „wohlfeilen Vorwurf des Fundamentalismus“ abtun: „Der Ethik steht es nicht frei, auf die Suche nach Invarianten zu verzichten. Insoweit gleicht ihre Situation der des Physikers: Wenn der Physiker Anlaß hat, an der Unveränderlichkeit von Naturgesetzen oder Naturkonstanten zu zweifeln, die ihm bislang Invarianten zu sein schienen, stellt sich ihm nur die Aufgabe, nach dem Gesetz zu suchen, dem die einschlägigen Veränderungen gehorchen.“54 Es ist nicht auszuschließen, dass es in Bezug auf moralische Konstanten ebenfalls bestimmte Änderungen gibt, so wie im Falle der Konstanten in den Naturwissenschaften auch, aber eben – in Entsprechung zu diesen – nicht im Sinne eines grundlegenden „Wertewandels“, sondern im Sinne einer ethischen Kalibrierung oder Nachjustierung. Die Idee einer negativen Ethik samt ihren Bestimmungen von un- oder antimoralischen Invarianten verdient Respekt aus heuristischen Gründen. Denn als ein regulatives Prinzip verhilft sie immerhin dazu, durch die Bestimmung von Unwerten die moralisch zulässigen Grenzen unseres Handelns innerhalb der Konfinien des Unzulässigen festzustellen. Während aber, wie bereits in ähnlichem Sinne bemerkt wurde, Konstanten in den Naturwissenschaften bestimmen, was nicht sein kann, bestimmen ethische Konstanten der erwähnten Art, was nicht sein darf.

53 Ebd., 838. 54 Ebd., 839.

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Individualmoralisches Die Erkenntnis praktischer Probleme in ihrer ganzen „Tragweite“ und die Ermöglichung der „vollen Nüchternheit des Urteils“, also erforderlichenfalls der Ent-Täuschung anderer wie auch seiner selbst, – darin lag Max Webers Leistung. Und demzufolge erachtete er es auch als die erste Aufgabe eines akademischen Lehrers, „seine Schüler unbequeme Tatsachen anerkennen zu lehren, solche […] die für seine Parteimeinung unbequem sind“.55 Nur vor dem Hintergrund von Webers rigorosen Vorstellungen der akademischen Distanz und Autonomie gegenüber allen anderen Mächten in Staat und Gesellschaft wird das Pathos seines Wertfreiheits-Postulats verständlich. „Sich ,treubleiben‘, nicht zu täuschen, nicht getäuscht zu werden, Unbequemes ,auszuhalten‘ – die Zusammenhänge, in denen seine Forderung nach Wertfreiheit der Wissenschaft stehen, sind“, so Wilhelm Hennis, „moralische“.56 „Was soll das?“ wird gar mancher Wissenschaftsjobber und „Brotgelehrte“ (Friedrich Schiller) fragen. Heute, in einer Zeit, die nichts lächerlicher findet als Pathos, erscheinen Sätze wie die soeben zitierten von Max Weber heute manchem als veraltet. Sie haben etwas von einem vormodernen Ehrbegriff an sich. Und leiten denn nicht viele von uns Heutigen Ehre geradezu von „ehrpusselig“ ab? Wie der Soziologe Justin Stagl einmal bemerkte, ist es eine der Attraktionen des Egalitarismus, dass er davon dispensiert, eine Ehre haben und verteidigen zu müssen.57 Er verweist auf ein damit kontrastierendes Beispiel: auf David Kelly, einen Mikrobiologen, Biowaffenexperten und Berater des britischen Verteidigungsministeriums. Dieser hat die Frage, ob Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besessen habe, ausschließlich nach Gesichtspunkten der empirischen Überprüfung zu beantworten gesucht. Dabei kam er als verantwortlicher Waffeninspektor im Auftrag der Vereinten Nationen, worüber Wikipedia Aufschluss gibt,58 nach 37 Aufenthalten im Irak zu einem keineswegs regierungskonformen Befund. Doch weiter: Am 15. Juli 2003 wurde Kelly von einem Untersuchungsausschuss des britischen Parlaments vernommen. Dabei soll er stark unter Druck gesetzt worden sein. Wie 55 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Ders., Gesammelte Abhandlungen zur Wissenschaftslehre (Anm. 22), 603. (Kursivierung im Original.) 56 Wilhelm Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biografie des Werks, Tübingen 1996, 170. 57 Justin Stagl, Honorare und Honoratioren. In: Die Furche, 16. Dezember 2004, 24. 58 Art. „David Kelly (Mikrobiologe)“, im Internet unter: https://de.wikipedia.org/wiki/David_Kelly_(Mikrobiologe) (abgerufen am 10. Oktober 2016).

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die BBC zuvor berichtet hatte, soll der Kommunikationsdirektor des britischen Premiers darauf bestanden haben, in das Dossier des Geheimdienstes gegen den Widerstand des Secret Intelligence Service den Satz einzubringen, „irakische ABC-Waffen könnten innerhalb von 45 Minuten gefechtsbereit sein“. Die Hauptquelle für den Bericht der BBC, so hieß es, sei Kelly gewesen. Deshalb kam es zur Vernehmung durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Kelly gab zwar zu, sich mit einem BBC-Reporter getroffen zu haben, bestritt jedoch, dass die Informationen zu dem Bericht der BBC von ihm stammten. Zwei Tage nach der Anhörung vor dem Untersuchungsausschuss verließ er sein Haus in Abingdon, um spazieren zu gehen. Einen Tag später wurde er in einem Waldstück, einige wenige Kilometer von seinem Wohnsitz entfernt, mit durchschnittener Ellenarterie tot aufgefunden. Sein Taschenmesser, mit dem diese durchtrennt worden war und das man bei ihm vorfand, wies jedoch keine Fingerabdrücke auf. Dieser Umstand erschien reichlich mysteriös. Der nach über sieben Jahren, am 22. Oktober 2010, vom Ministry of Justice veröffentlichte Bericht des Pathologen sowie das ebenfalls veröffentlichte toxikologische Gutachten belegen allerdings die These des Suizids. Vielleicht – vorausgesetzt, diese These stimmt – hat sich Kelly über seine Stellung als Wissenschaftler in der Politik Illusionen gemacht und sich schließlich einer Welt gegenüber gesehen, in der er nicht weiterleben wollte.59 Kelly hatte wohl etwas von einem störrischen Helden, einem wissenschaftlichen Michael Kohlhaas, an sich. Niemandem aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist zuzumuten, ein solcher zu sein und gegebenenfalls mit dem eigenen Leben für die Wahrheit einzustehen. Aber von der Verfolgung des Ideals, das der wie Kelly in der sokratischen Tradition – wenn auch nicht in deren suizidaler Variante – stehende Max Weber den wissenschaftlich Tätigen angesonnen hat: von dem Bestehen auf dem Durchdenken des Prinzipiellen, sollte niemand abrücken, sofern ihm daran liegt, dass eine unabhängige Wissenschaft im Kreis der Lebensmächte ihre besondere Aufgabe erfüllt. Dieses alteuropäische Postulat hat weder an Gültigkeit noch an Aktualität eingebüßt.

59 So Justin Stagl, Honorare und Honoratioren (Anm. 57).

Normative Grenzen der Wissenschaftsfreiheit1 Magdalena Pöschl

Ständig stößt Wissenschaft an Grenzen; viele davon sind uns vorgegeben, manche können wir überwinden, andere immerhin hinausschieben, mit wie­ der anderen müssen wir uns abfinden. Die Grenzen, von denen hier zu berich­ ten ist, sind disponibel; sie sind weder von Gott noch von der Natur gegeben, sondern von Menschen gesetzt: Es sind normative Grenzen, die von Genera­ tion zu Generation neu verhandelt werden. Der vorliegende Beitrag erkundet zunächst, wo überhaupt Bedarf nach sol­ chen Grenzen besteht, benennt also Erscheinungsformen und Effekte der Wis­ senschaft, für die heute eine Regulierung gefordert wird (Abschnitt 1). So­ dann wird erörtert, inwieweit solche Regulierungen rechtlich erlaubt sind. Die wichtigste Schutzmacht der Forschung ist bekanntlich die Wissenschaftsfrei­ heit. Doch ist diese altehrwürdige Garantie den Herausforderungen der Ge­ genwart gewachsen? Gibt sie dem Staat genug Spielraum, um die Gefahren der modernen Forschung abzuwenden, und wie schützt sie die Wissenschaft um­ gekehrt vor den Gefährdungen, denen sie aktuell ausgesetzt ist? (Abschnitt 2) Wenn das abstrakt geklärt ist, werden konkrete normative Grenzen beleuch­ tet, die der Forschung derzeit gezogen sind. Aus einer Reihe von Gründen hält sich der Staat in diesem Feld mit hartem, also zwangsweise durchsetzbarem Recht, merklich zurück. So ist ein Regelungsvakuum entstanden, in dem eine Vielfalt anderer Normen zu blühen beginnt: Wir finden hier weiches Recht ebenso wie privates Recht, und auch die wissenschaftliche Sitte bestimmt leise, aber effektiv, was Wissenschaftler tun und was sie bleiben lassen. Was diese Normsorten leisten, wo sie ihrerseits an Grenzen kommen und was passiert, wenn sie miteinander kooperieren, wird im letzten Teil dieses Beitrages be­ leuchtet (Abschnitt 3).

1 Für Hilfe bei der Erstellung des Fußnotenapparates und für die kritische Lektüre dieses Beitrages danke ich Philipp Selim.

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1. Regulierungsbedarf

1.1. Gefährliches Forschen Dass die Wissenschaft nicht tun darf, was sie will, ist keine neue Einsicht. Gefahren, die mit der Forschung unmittelbar einhergehen, wurden schon im 19. Jahrhundert reflektiert – primär in der Medizin, die ja direkt am Men­ schen forscht.2 Dass das hochgefährlich sein kann, musste auch die breite Öffentlichkeit spätestens an den Experimenten der NS-Medizin erkennen.3 Seither gilt als wichtigster Grundsatz der Humanforschung, dass Versuche am Menschen nicht ohne dessen informierte Zustimmung erfolgen dür­ fen.4 Als schützenswert betrachten wir heute aber nicht nur Leib und Leben, sondern z.B. auch die psychische Integrität und die persönlichen Daten von

2 Näher B. Elkeles, Der moralische Diskurs über das medizinische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Jena/New York 1996, 153–231. 3 Dokumentiert bei A. Mitscherlich, F. Mielke (Hg.), Medizin statt Menschlichkeit. Doku­ mente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt/Hamburg 1960. Freilich gab es auch vor­ her und nachher Forschungsskandale, m.w.N. H. Fangerau, Geschichte der Forschung am Menschen. In: C. Lenk, G. Duttge, H. Fangerau (Hg.), Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen, Berlin/Heidelberg 2014, 169–176; B. Rütsche, L. Schläpfer, Ethik und Grundprinzipien des Humanforschungsrechts. In: B. Rütsche (Hg.), Humanforschungs­ gesetz (HFG), Bern 2015, Rz.  6–11; folgt man C. Levine, Has Aids Changed the Ethics of Human Subjects Research? In: The Journal of Law, Medicine & Health Care 16/3– 4 (1988), 167, ist die Humanforschungsethik ohnedies „born in scandal and reared in ­protectionism“. 4 Das ist das erste von zehn Prinzipien, die der Nürnberger Kodex formuliert, zu diesem E. Deutsch, Der Nürnberger Kodex. Das Strafverfahren gegen Mediziner, die zehn Prinzi­ pien von Nürnberg und die bleibende Bedeutung des Nürnberger Kodex. In: U. Tröhler, St. Reiter-Theil (Hg.), Ethik und Medizin 1947–1997. Was leistet die Kodifizierung von Ethik, Göttingen 1997, 103. Zur Rezeption des Nürnberger Kodex im Standesrecht der Ärzte G. Herranz, Der Eingang der 10 Nürnberger Postulate in berufsständische Ethik-Kodizes. Ein internationaler Vergleich. In: U. Tröhler, St. Reiter-Theil (Hg.), Ethik und Medizin 1947–1997. Was leistet die Kodifizierung von Ethik, Göttingen 1997, 171. Zum Prinzip des Informed Consent, das inzwischen in viele andere internationale Richtlinien und Staatsverträge Eingang gefunden hat, B. van Spyk, Das Recht auf Selbstbestimmung in der Humanforschung. Zugleich eine Untersuchung der Grundlagen und Grenzen des „informed consent“ im Handlungsbereich der Forschung am Menschen, Zürich/St. Gallen 2011.

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Menschen,5 und zwar umso mehr, je vulnerabler Personen sind.6 Als schutz­ bedürftig werden auch Verstorbene angesehen, namentlich ihre Würde oder die Religionsfreiheit ihrer Angehörigen, etwa im Fall einer Obduktion.7 Unter Würdegesichtspunkten hochumstritten sind ferner die Embryonen- und die Stammzellforschung.8 Selbst das noch nicht gezeugte Leben scheint durch die Wissenschaft bedroht; es nimmt Gestalt an in der nachfolgenden Generation, die eine intakte Umwelt vorfinden soll. Und selbstverständlich halten wir auch Tiere für schützenswert und Tierversuche folglich für ein Regulierungsfeld.9 All diese Gefahren, die mit der Forschung unmittelbar eingehergehen, las­ sen sich prima vista leicht regulieren: Man kann die gefährliche Forschung ja verbieten, entweder absolut oder indem man gefahrengeneigte Forschungs­ projekte nur unter bestimmten Sicherheitsbedingungen erlaubt. Ein Staat, der solche Grenzen setzt, muss freilich bedenken, dass seine Rechtsordnung im Wettbewerb mit anderen Rechtsordnungen steht:10 So können Forschungs­ 5 B. Rütsche, Ethik und Grundprinzipien des Humanforschungsrechts. In: B. Rütsche (Hg.), Humanforschungsgesetz (HFG), Bern 2015, Rz. 40–44. 6 B. Rütsche (FN 5) Rz. 49–51. Als vulnerabel gelten Kinder, urteilsunfähige Erwachsene, Notfallpatienten, Gefängnis- und Anstaltsinsassen sowie schwangere Frauen. Ihr Schutz geht zum Teil so weit, dass kritische Stimmen schon davor warnen, vulnerable Gruppen der Forschung zu sehr zu entziehen und sie damit „zu Tode zu schützen“: R.  A. Charo, Protecting Us to Death. In: Saint Louis University Law Journal 38/1 (1993), 135  –187, insb. 136–137, 166 –167. 7 Siehe das Urteil des Obersten Gerichtshofs (OGH) 25. 9. 2015, 5 Ob 26/15 g; in dem zu­ grundeliegenden Fall machte eine muslimische Frau geltend, die Obduktion ihres Säug­ lings habe ihre Religionsfreiheit verletzt. Der OGH verneinte dies mit dem Argument, die Obduktion sei für die Entwicklung der Medizin und die Qualitätssicherung ärztlichen Handelns so bedeutsam, dass sie im Interesse der Gesundheit gerechtfertigt sei; zustim­ mend C. Kopetzki, Obduktion und Religionsfreiheit. In: Recht der Medizin (2015), 273; kritisch Th. Schoditsch, Obduktion gegen den Willen der Angehörigen. In: Österreichische Juristen-Zeitung (2016), 1088 –1089. 8 Näher U. Körtner, C. Kopetzki (Hg.), Embryonenschutz – Hemmschuh für die Biomedizin? Wien 2003; U. Körtner, C. Kopetzki (Hg.), Stammzellforschung. Ethische und rechtliche Aspekte, Wien /New York 2008; siehe ferner T. Wilholt, Die Freiheit der Forschung, Berlin 2012, 298 –311. 9 Grundlegend z.B. R. Binder, N. G. Alzmann, H. Grimm (Hg.), Wissenschaftliche Ver­ ant­wor­tung im Tierversuch, Baden-Baden 2013; aus unionsrechtlicher Sicht A. Peters, S. ­Stucki, Tierversuchsrichtlinie 2010/63/EU: Rechtsgutachten zu ihrer Umsetzung in Deutsch­ land, Zürich 2014; zur Rechtslage in Österreich H. Herbrüggen, N. Raschauer, W. Wesse­ ly, Österreichisches Tierschutzrecht, Band 2 Tierversuchsrecht, Wien/Graz 2010. 10 Allgemein A. Peters und Th. Giegerich, Wettbewerb von Rechtsordnungen. In: Veröffent­ lichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 69 (2010),

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verbote in der globalisierten Welt prestigeträchtige Forschungskooperationen mit dem Ausland torpedieren oder dazu führen, dass Forscher an einen „for­ schungsfreundlicheren“ Standort abwandern. Ebenso können Forschungsver­ bote leerlaufen, wenn etwa ein Gesetz vorsieht, dass embryonale Stammzellen im Inland nicht erzeugt werden dürfen, zugleich aber zulässt, dass sie impor­ tiert und dann beforscht werden.11 Diese Probleme und Ausweichmöglichkeiten bestünden nicht, gäbe es weltweit gleiche Forschungsregeln, etwa in Staatsverträgen. Doch davon kann man nur träumen, angesichts der Unzahl ethisch heikler Fragen, die sich hier stellen; sie werden selbst in den westlichen Staaten unterschiedlich beantwor­ tet und sind auch innerhalb dieser Staaten strittig 12 – nur ein Ausdruck dieser Unsicherheiten ist die ständig steigende Zahl an Ethikkommissionen, die zur Unterstützung der Gesetzgebung und der Vollziehung eingerichtet werden. Selbst wenn sich die Staatengemeinschaft aber einmal auf eine Regelung eini­ gen könnte, käme hinzu, dass sie ein besonders schwerfälliger Regelsetzer ist, der mit der schnelllebigen Wissenschaft kaum Schritt halten kann. Schon an Problemen der ersten Stufe, also an unmittelbar gefährlicher Forschung, sieht man also: Die Wissenschaft ist schwer zu regulieren, denn sie ist global, mobil, sie weicht aus, und sie ändert sich rasant.

Berlin/New York 2010, 7–56 und 65–105; speziell für das Forschungsrecht M. Ruffert, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit. In: VVDStRL 65 (2006), 199. 11 In Österreich verbietet etwa das Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG), Bundesgesetz­ blatt (BGBl.) I 1992/275 i.d.F. BGBl. I 2015/35, die Gewinnung pluripotenter embryo­ naler Stammzellen aus befruchteten Embryonen im Inland, nicht aber den Import solcher Stammzellen aus dem Ausland und ebenso wenig deren Beforschung; zur Rechtslage C. Kopetzki, Stammzellforschung in Österreich. Eine Bestandsaufnahme des geltenden Rechts. In: U. Körtner, C. Kopetzki (Hg.), Stammzellforschung. Ethische und rechtliche Aspekte, Wien/New York 2008, 273–282. 12 Exemplarisch ist hier nur auf die Debatte über die Embryonenforschung zu verweisen, die nach M. Ruffert (FN 10) 198, wegen ihrer Nähe zum „Abtreibungsproblem“ in Deutsch­ land zu einem „Stellungskrieg“ geführt habe; Gleiches kann auch für Österreich gesagt werden. Ethisch hochaufgeladen sind z.B. auch Biotechnologie, Gentechnologie, Nano­ technologie, Human Enhancement-Forschung oder Robotik, dazu I. Eisenberger, Innova­ tion im Recht, Wien 2016, 164.

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1.2. Gefährliches Wissen Forschung ist nicht nur mit Gefahren verbunden, die unmittelbar im Labor oder bei Experimenten auftreten. Sie kann auch bloß mittelbar gefährlich sein, dann nämlich, wenn Forschungsergebnisse nicht zum Nutzen, sondern zum Schaden der Menschen eingesetzt werden – die sogenannte Dual-UseProblematik.13 Damit betreten wir nach der gefährlichen Forschung die zwei­ te Regulierungszone, die hier „gefährliches Wissen“ genannt werden soll. Der alte Glaube, dass Forschung notwendig zu einer besseren Welt führt, wurde ja schwer erschüttert, als Kernenergie für Waffen verwendet wurde;14 er ist aber auch sonst zweifelhaft geworden: Forschungen zu pathogenen Mikroor­ ganismen können für terroristische Anschläge verwendet werden;15 psycholo­ gische Forschungen lassen sich für Foltermethoden einsetzen; krude rassisti­ sche Theo­rien können Vorurteile in der Bevölkerung bestätigen, das politische Klima vergiften und die Lage ohnehin benachteiligter Menschen noch weiter verschlechtern16 – die Beispiele sind beliebig vermehrbar. Sie zeigen, dass Miss­ brauchsrisiken in den meisten Disziplinen existieren.17 Nicht nur, aber auch und besonders, weil die Wissenschaft sich „von der erkenntnissuchenden Re­ flektion zur angewandten Naturwissenschaft“ gewandelt hat; „Technologische Forschung entdeckt nicht die Wahrheit, sondern gestaltet die Wirklichkeit.“18 Auch hier möchte man annehmen, der schädliche Einsatz von Forschungs­ ergebnissen ließe sich leicht abstellen, indem man eben diese Verwendung re­ guliert. Doch was nützt das, wenn ein Forschungsergebnis Personen in die 13 M.w.N. D. Thurnherr, Biosecurity und Publikationsfreiheit. Die Veröffentlichung heikler Fors­chungsdaten im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit – eine grundrechtliche Ana­ lyse, Bern 2014, 22–28. 14 Dass Kernenergie sowohl friedlich als auch für kriegerische Zwecke genützt werden kann, war mit ein Grund für die Einrichtung der International Atomic Energy Agency (IAEA), siehe D. Fischer, History of the International Atomic Energy Agency. The First Forty Years, Wien 1997, 1. 15 Mit Blick auf solche Gefahren empfahl z.B. der sogenannte Fink Report die Einrichtung des National Science Advisory Board for Biotechnology (NSABB): National Research Council, Biotechnology Research in the Age of Terrorism, Washington 2004, 8–10, 118–121. 16 Zu diesem Problem T. Wilholt (FN 8) 181–182, 318–321, 325. 17 Siehe mit weiteren Beispielen Max-Planck-Gesellschaft, Hinweise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortungsvollen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungs­risiken, 2017, 4 FN 4, abrufbar unter https://www.mpg.de/199426/forschungs­ freiheitRisiken.pdf (20. 9. 2017). 18 M. Ruffert (FN 10) 157.

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Hände fällt, die das Recht – wie Terroristen – bekämpfen? Und auch sonst ist fraglich, ob Regulierung wirklich erst „an der Labortür“ beginnen kann: Ist es nicht völlig illusorisch anzunehmen, dass sich einmal entdeckte Techniken durch das Recht noch stoppen lassen?19 Setzt die Regelung deshalb schon vor der Labortür an, stellen sich wieder neue Fragen: Wie soll man alle denkba­ ren Risiken einer Forschung im Vorhinein feststellen?20 Und welche Risiken rechtfertigen dann ein Forschungsverbot, da wir doch wissen, dass selbst die Militärforschung Erfindungen wie Internet und GPS hervorgebracht hat,21 die aus unserem Alltag nicht wegzudenken sind? Also sollte man die Risiken der Forschung wohl gegen ihren Nutzen abwägen, den wir abermals nur erahnen können. Und selbst wenn wir sicher sind, dass eine Forschung mehr schadet als nützt, kann ein Verbot noch immer kontraproduktiv sein; zu denken ist etwa an Theorien, die einen Zusammenhang zwischen „Rasse“ und Intelligenz erweisen wollen: Sie zu verbieten, kann die wildesten Verschwörungstheorien nähren und Rassisten erst recht in ihren Vorurteilen bestätigen.22 Eine weni­ ger einschneidende Alternative zu Forschungsverboten können Publikations­ beschränkungen sein, doch auch sie stoßen auf Probleme, nicht nur, weil die Verbreitung von Wissen schwer zu kontrollieren ist. Publikationsbeschrän­ kungen behindern auch die kritische Diskussion von Forschungsergebnissen, die die Wissenschaft gerade vorantreibt. Die Geheimhaltung von Forschungs­ ergebnissen kann aber auch für Dritte schädlich sein, etwa wenn teure und für Probanden möglicherweise sogar belastende Versuche neuerlich durchgeführt werden.23 Auch die Probleme zweiter Ordnung zeigen: Wissenschaft ist schwer zu re­ gulieren, weil sie immer mehr kann, weil ihre Chancen und Risiken oft kaum vorhersehbar sind, weil Forschungsergebnisse immer schwerer von ihrer Ver­ wendung zu trennen sind und weil Verbote manchmal alles schlimmer ma­ chen.

19 Zu diesem Problem T. Wilholt (FN 8) 23–24. 20 Zum Umgang mit diesen multiplen Ungewissheiten am Beispiel von Publikationsverbo­ ten für heikle Forschungsdaten D. Thurnherr (FN 13) 127–156. 21 J. Abbate, Inventing the Internet, Cambridge/London 2000, insb. 113–114, 133 –145; S. Pace et al., The Global Positioning System, Santa Monica 1995, 237–247. 22 Zu diesen Forschungen T. Wilholt (FN 8) allgemein 311–328, und speziell zu den Schwie­ rigkeiten, sie zu regulieren, 322–323. 23 Diese Probleme und mögliche Lösungen analysiert eingehend D. Thurnherr (FN 13).

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1.3. Gefährliches Schweigen Eine dritte Problemzone tut sich auf, weil Forschung immer teurer wird und der Staat diese Finanzierungslast nicht mehr allein tragen will. Er hat deshalb ande­ re Geldgeber mobilisiert, insbesondere Unternehmen, die heute erheb­liche Teile der Forschung finanzieren.24 So werden Forschungsziele bisweilen weniger wis­ senschaftsimmanent bestimmt, sondern von außen vorgegeben. Für diese Poli­ tik wird ins Treffen geführt, die von der Wirtschaft finanzierte Forschung diene dem Allgemeinwohl deutlich besser, als wenn sie weiter im Elfenbeinturm Or­ chideen züchtet.25 Daran ist sicher richtig, dass die Forschung durch diese neu­ en Finanzierungsquellen anwendungsorientierter geworden ist. Dass sie deshalb dem Wohl aller besser dient, stimmt aber nur begrenzt, denn „der Markt ist kei­ ne Demokratie“:26 So kommt es, dass für Krankheiten in Entwicklungsländern, die etwa 90% der Gesundheitsprobleme weltweit ausmachen, nur etwa 10% der Forschungsressourcen ausgegeben werden.27 Auch innerhalb der Industriestaa­ ten kümmert sich die Forschung heute nicht gleichmäßig um alle Menschen, sondern wendet sich dorthin, wo das Geld fließt. Das ist sogar in der Rechts­ wissenschaft spürbar, wenn man etwa die überbordende Forschung zum Verga­ berecht vergleicht mit der bescheidenen wissenschaftlichen Durchdringung des Sozial- oder Migrationsrechts, das viel mehr Menschen betrifft. Die zunehmen­ de Kommerzialisierung der Wissenschaft kann zudem zur Folge haben, dass Forschungsergebnisse, die den Interessen des Geldgebers zuwiderlaufen, nicht publiziert werden, obwohl sie für die Allgemeinheit wichtig wären;28 besonders schädlich ist dies naturgemäß in der medizinischen Forschung.29 Dieses­Prob­ 24 25 26 27

Zur Kommerzialisierung der Forschung grundsätzlich T. Wilholt (FN 18) 328–345. Siehe die Nachweise zu dieser Position bei T. Wilholt (FN 8) 338–339. T. Wilholt (FN 8) 340. Der sog. 10/90 gap, siehe T. Wilholt (FN 8) 340; zum extremen Missverhältnis zwischen den Ausgaben für Lifestyle-Präparate (z.B. gegen Falten, Impotenz, Kahlköpfigkeit oder Nagelpilz) einerseits und für lebensgefährliche, aber heilbare Krankheiten wie Malaria oder Tuberkulose andererseits: K. Silverstein, Millions for Viagra, Pennies for Diseases of the Poor. In: The Nation 1. 7. 1999, abrufbar unter https://www.thenation.com/article/mil­ lions-viagra-pennies-diseases-poor/ (11. 2. 2017). 28 T. Wilholt (FN 8) 337–338; spezifisch zum Problem, dass Patentierung Wissen für die Allgemeinheit verschließt derselbe, a.a.O. 333–337; M. Schulte, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit. In: VVDStRL 65 (2006), 131–134. 29 Z.B. L. Schläpfer, Der Sponsor in der klinischen Arzneimittelforschung. In: H. Zaugg, L. Schläpfer (Hg.), Recht und Gesundheit, Junge Rechtswissenschaft Luzern, Zürich/Basel/Genf 2013, 147–148.

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lem dritter Ordnung wird hier „gefährliches Schweigen“ genannt. Es schadet neben der Allgemeinheit auch der Wissenschaft selbst, die ja von einer offenen Kommunikation lebt, in der Thesen diskutiert und falsifiziert oder verifiziert werden, auf dass sich die belastbarste Theorie durchsetzt. Auch die Gefahren einer schweigenden Wissenschaft lassen sich auf den ersten Blick leicht regulieren, indem man Wissenschaftlern gebietet, ihre For­ schungsergebnisse zu veröffentlichen, oder indem man ihnen zumindest ver­ bietet, die Publikation dieser Ergebnisse den Geldgebern zu überlassen.30 Die Frage ist nur: Warum sollte die Wirtschaft ohne ein solches Sicherheitsnetz eine Forschung finanzieren, die ihr möglicherweise schadet? Kann wirklich erwartet werden, dass der Staat, der die Kooperation zwischen Forschung und Wirtschaft so fördert, die Wirtschaft just durch solchen Anordnungen demo­ tiviert? – ein regulatives Dilemma. 1.4. Unfaires Forschen Das vierte und letzte Problemfeld tritt – zumindest in dieser Dimension – ebenfalls erst in der jüngeren Vergangenheit auf: Der Wissenschaft kommen, vorsichtig gesagt, die Manieren abhanden. So mehren sich spektakuläre Fäl­ le wissenschaftlichen Fehlverhaltens, und zwar nicht nur Betrug und Täu­ schung, die es in der Wissenschaft schon immer gab, sondern auch Plagiate und andere Praktiken, die den Wettbewerb zwischen Forschern verzerren:31 Wissenschaftler stellen ihre eigenen Leistungen größer dar als sie sind, zerle­ gen ihre Projekte in möglichst viele kleine Publikationen (sog. Salamitaktik), die dann ihrerseits variiert und neuerlich publiziert werden (sog. Graphorrhö), was den Leser immer mehr Zeit kostet, aus der Masse ähnlicher Texte das Neue herauszufiltern. Zugleich sabotieren Wissenschaftler ihre Konkurren­ ten, verschleppen die Begutachtung ihrer Forschungen oder schwärzen sie an, z.B. indem sie ihnen anonym vorwerfen, sich wissenschaftlich fehlzuverhal­ ten. Die Ursachen für diesen unfairen Wettbewerb sind vielfältig; ein Stück weit ist auch dafür die Kommerzialisierung der Wissenschaft verantwortlich, dazu kommt der Druck, immer noch mehr zu publizieren und sich der Öf­ fentlichkeit gegenüber als omnipräsenter Spitzenforscher zu inszenieren, o­ hne dass gleichzeitig die Rahmenbedingungen für die Wissenschaft verbessert 30 So z.B. der Vorschlag von M. Schulte (FN 28) 134. 31 Dazu und zum Folgenden m.w.N. M. Pöschl, Wissenschaftliche Integrität. In: C. Jabloner et al. (Hg.), Gedenkschrift für Robert Walter, Wien 2013, 617–623.

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werden.32 Das alles entschuldigt wissenschaftliches Fehlverhalten nicht, be­ günstigt es aber. Anders als gefährliche Forschung, gefährliches Wissen und gefährliches Schweigen schadet das unfaire Forschen nicht primär Dritten. Es richtet sich vielmehr autoaggressiv gegen die Wissenschaft selbst, die durch solche Praktiken an Glaubwürdigkeit und Einfluss verliert und letztlich neuer­ lich um ihre Finanzierung fürchten muss. Um diese Selbstbeschädigung der Wissenschaft abzuwenden, werden aber­ mals Regelungen verlangt – nur, wer soll sie erlassen? Ist der Staat dazu be­ rufen oder muss die Scientific Community dieses Problem selbst lösen, und wenn letzteres: Wo findet sich diese Gemeinschaft in einer Weise organisiert, die für alle Wissenschaftler sprechen könnte? Hier kehrt ein Problem wieder, das schon beim gefährlichen Forschen sichtbar wurde: Die Wissenschaft arbei­ tet global und braucht daher grenzüberschreitend wirksame Regeln, doch ist kein Organ in Sicht, das diese Regeln erlassen könnte.

2. Wieviel Regulierung erlaubt und verlangt die Wissenschaftsfreiheit? Eine erste Zwischenbilanz: Die Fähigkeiten und Rahmenbedingungen der Wissenschaft haben sich massiv verändert. Das macht nicht nur die For­ schung selbst gefährlicher, sondern auch ihr Wissen, ihr Schweigen und ihre Forschungspraktiken. Von diesen Gefahren ist großteils die Allgemeinheit be­ troffen, in letzter Zeit aber auch die Wissenschaft selbst. Das löst dringenden Bedarf nach Regelungen aus, die zu erlassen jedoch auf eine Fülle praktischer Probleme stößt. Was kann das Recht beitragen, um diese Probleme zu lösen? Diese Frage richtet sich zuerst an die Wissenschaftsfreiheit, hütet sie doch die Grenze zwischen erlaubter und verbotener Forschungsregulierung. 2.1. Artikel 17 Staatsgrundgesetz: Altes Recht vor neuen Herausforderungen Die Wissenschaftsfreiheit ist ein altes Recht, sie wurde in Österreich erstmals 1867 garantiert, im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staats­ 32 Dazu und zu weiteren Ursachen wissenschaftlichen Fehlverhaltens M. Pöschl (FN 31) 635– 641.

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bürger (StGG).33 Sein Artikel 17 verspricht: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.“ Als diese Garantie 1867 gegeben wurde, herrschten auch in der Wis­ senschaft ganz andere Verhältnisse als heute. Sie beschränkte sich in der Tat noch auf die Suche nach Wahrheit, die – wie man damals annahm – nicht unterbunden werden muss, weil sich im freien Widerstreit der Meinungen der Irrtum ohnedies nicht hält und daher auch nicht schadet, während sich das Wahre durchsetzen und großen Nutzen stiften kann.34 Deshalb sollte die Wis­ senschaft befreit werden von den Beschränkungen, die ihr Staat und Kirche jahrhundertelang auferlegt hatten.35 Was die Wissenschaft 150 Jahre später alles können wird, wie schnelllebig, globalisiert, riskant und kommerzialisiert sie sein wird, davon und von allen damit einhergehenden Gefahren wusste der Gesetzgeber des Jahres 1867 natürlich nichts. Überpointiert gesagt, hat er die Wissenschaft für frei erklärt im Angesicht von Staat und Kirche, nicht im Angesicht von Dr. Frankenstein. Das wirft die bange Frage auf, ob diese Garantie auf Probleme, mit denen sie nicht gerechnet hat, adäquat reagieren kann: Erlaubt sie dem Staat, die Gefahren und Risiken abzuwehren, die von der Forschung heute ausgehen, und schützt sie vor den neuen Gefährdungen, denen umgekehrt die Forschung gegenwärtig ausgesetzt ist?

2.2. Artikel 13 Grundrechte-Charta: Neue Garantie ohne Erfahrungsspeicher Man möchte meinen, dass moderne Grundrechtsgarantien diese Fragen klarer beantworten. Nun gibt es neben dem StGG einen Grundrechtskatalog, der 33 Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867, über die allgemeinen Rechte der Staats­ bürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder, Reichsgesetzblatt 1867/142. 34 T. Wilholt nennt diese Annahme die erkenntnistheoretische Begründung der Forschungs­ freiheit; sie wurde schon von Thomas Campanella benützt, um Galileo Galilei zu vertei­ digen, fand sich dann bei zahlreichen Denkern von Descartes über Milton und Kant bis Mill und liegt heute der Forschungsfreiheit in vielen Ländern zugrunde: T. Wilholt (FN 8) 65–82; dass wissenschaftliche Irrtümer indes großen Schaden anrichten können, ist in der Zwischenzeit unabweisbar, siehe schon oben 1.2. sowie T. Wilholt (FN 8) 151–153, 324. 35 C. Kopetzki, Muss Forschung „ethisch vertretbar“ sein? In: C. Jabloner u.a. (Hg.), Vom praktischen Wert der Methode. Festschrift Heinz Mayer zum 65. Geburtstag, Wien 2011, 257; S. Hammer, Art  17 StGG, Rz.  5. In: K. Korinek et al. (Hg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Band II/2, 12. Lieferung Wien 2016; für Deutschland m.w.N. M. Schulte (FN 28) 126.

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erst im Jahr 2000 beschlossen wurde – die Charta der Grundrechte der EU (GRC). Auch sie sagt in Artikel 13 aber nur: „Die Forschung ist frei“ und mit Blick auf die Lehre: „Die akademische Freiheit wird geachtet.“ Das ist kaum aussagekräftiger, zumal über die Hintergründe dieser Formulierung wenig be­ kannt ist36 und der Europäische Gerichtshof (EuGH) bisher noch nie Gele­ genheit hatte, sich zu Artikel 13 zu äußern; gesichertes Wissen haben wir über diese Garantie also nicht. So ist die Wissenschaftsfreiheit der GRC anders als jene des StGG zwar neu, doch fehlt ihr der Erfahrungsspeicher. Dennoch soll im Folgenden versucht werden, die Reichweite beider Garantien näher zu be­ stimmen; dafür sind mehrere Fragen zu klären: Wen berechtigt die Wissen­ schaftsfreiheit, wen verpflichtet sie, was schützt sie und wovor schützt sie? 2.3. Berechtigte: Von Professoren zu Industrieforscherinnen Als Berechtigte hatte der Staatsgrundgesetzgeber im Jahr 1867 primär Uni­ versitätslehrer vor Augen.37 Auf sie beschränkt sich die Wissenschaftsfrei­ heit aber nicht, noch weniger setzt sie eine Lehrbefugnis vor­aus.38 Artikel 17 StGG schützt vielmehr auch Studierende, die z.B. ­eine Dissertation verfassen, 36 Deutlich wird aus der Entstehungsgeschichte nur, dass im Grundrechtskonvent diskutiert wurde, ob diese Garantie bereits von anderen Grundrechten mitumfasst und daher ent­ behrlich sei; dies wurde jedoch mit Blick auf die Verfassungen der Mitgliedstaaten ver­ neint, die die Freiheit von Forschung und Lehre fast durchwegs explizit gewähren. Um die Lehrfreiheit von der anderwärts garantierten Freiheit zur Gründung von Lehranstal­ ten und der Freiheit, Lehrinhalte zu bestimmen, abzugrenzen, wurde sie als „akademi­ sche Freiheit“ bezeichnet. Vereinzelt angesprochen wurde ferner die Notwendigkeit, die Forschung zu beschränken; dies schlug sich im Wortlaut des Artikel 13 jedoch nur in­ soweit nieder, als die akademische Freiheit sprachlich durch den Passus „wird geachtet“ abschwächt wurde, m.w.N. N. Bernsdorff, M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Handreichungen und Sitzungsprotokolle, Baden-Baden 2002, 81, 189– 190, 286–287 und 366; N. Bernsdorff, Art 13, Rz. 6 –11, 15. In: J. Meyer (Hg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Baden-Baden 2014. 37 B. Binder, Die verfassungsrechtliche Sicherung der Wissenschaftsfreiheit in Österreich. In: Wissenschaftsrecht (1973), 19– 20. 38 In diesem Sinn wird häufig die ältere Judikatur zur Lehrfreiheit verstanden, siehe etwa F. Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, Wien 1963, 470, 478; G. Wielinger, Die Freiheit der Wissenschaft. In: R. Machacek et al. (Hg.), Grund- und Men­ schenrechte in Österreich, Band II, Kehl/Straßburg/Arlington 1992, 184; diese Deutung relativierend F. Koja, Konkordat und Wissenschaftsfreiheit, Salzburg 1980, 31; ihr entgegen­ tretend K. Spielbüchler, Das Grundrecht auf Bildung, in R. Machacek et al. (Hg.), Grundund Menschenrechte in Österreich, Band II, Kehl/Straßburg/Arlington 1992, 170.

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und ebenso jede andere Person, die, etwa im Rahmen eines Dienstverhältnis­ ses oder Forschungsauftrages, wissenschaftlich arbeitet;39 geschützt sind also auch Industrieforscher.40 Vor allem letzteres ist zu betonen, weil die deutsche Lehre „ihre“ Wissenschaftsfreiheit teilweise enger sieht.41 Auftrags- und In­ dustrieforscher von der Wissenschaftsfreiheit auszuschließen, würde die prak­ tische Bedeutung dieses Grundrechts aber nicht nur deutlich schwächen;42 eine solche Grenzziehung ist auch nicht sinnvoll durchführbar, weil univer­ sitäre und außeruniversitäre Forschung immer mehr ineinanderfließen und weil Forschung zunehmend sowohl staatlich als auch privat finanziert wird.43 Die Wissenschaftsfreiheit des StGG schützt folglich jede Person, die forscht oder lehrt. Ebenso ist auch die Garantie der GRC zu verstehen.44 39 In Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes (VfSlg.) 8136 /1977 macht der Verfassungsgerichtshof die Lehrfreiheit jedenfalls nicht von der Lehrbefugnis abhängig; in VfSlg. 14.485/1996, 18.559/2008 und 18.763/2009 wird die Wissenschaftsfreiheit jeder Person zugestanden, die wissenschaftlich forscht oder lehrt. 40 S. Hammer (FN 35) Rz. 25. 41 Z.B. A. Blankenagel, Vom Recht der Wissenschaft und der versteckten Ratlosigkeit der Rechtswissenschaftler bei der Betrachtung des- und derselben. In: Archiv für das öffentliche Recht 125 (2000), 91–94; explizit gegen dieses Verständnis M. Ruffert (FN 10) 158–160. Die Schweizer Lehre bezieht die Industrieforschung, soweit zu sehen, in die Wissen­ schaftsfreiheit ein, siehe D. Thurnherr (FN 13) 31 m.w.N. 42 In Österreich werden rund 49% der Forschungsausgaben vom Unternehmenssektor fi­ nanziert; knapp 56 % der Beschäftigten in Forschung und Entwicklung sind im Unter­ nehmenssektor angestellt, davon ist etwas mehr als die Hälfte wissenschaftliches Personal: Österreichischer Forschungs- und Technologiebericht 2016, Wien 2016, 16–17, 25–26; siehe auch M. Schulte (FN 28) 117, wonach in Deutschland etwa zwei Drittel der For­ schungstätigkeit im industriellen Sektor stattfinden. 43 Allgemein M. Adam, T. Wilholt, Unternehmensforschung – zum Verhältnis öffentlicher und privater Wissensproduktion. In: P. Weingart u.a. (Hg.), Nachrichten aus der Wissensgesell­ schaft, Göttingen 2007, 55, insb. 62– 66; mit Bsp. für Österreich M. Pöschl, Private Rechts­ setzung – Wissenschaft. In: WiR – Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht (Hg.), Private Rechtssetzung (in Druck). Ausdrücklich gegen „eine an der Realität der ausdiffe­ renzierten Wissensgesellschaft vorbeigehende ‚Hochschulzentriertheit‘ einer Theorie und Dogmatik der Wissenschaftsfreiheit“ auch M. Schulte (FN 28) 117. 44 N. Bernsdorff (FN 36) Rz. 15; B. Moser, Art. 13 GRC, Rz. 7, 11. In: M. Holoubek, G. Lien­ bacher (Hg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union. GRC-Kommentar, Wien 2014; I. Augsberg, Art. 13 GRC, Rz. 5, 7. In: H. von der Groeben, J. Schwarze, A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage, Band 1, Baden-Baden 2016; H. D. Jarass, Art. 13, Rz. 6, 10, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, München 2016; M. Ruffert, Art. 13 GRC, Rz. 8. In: C. Calliess, M. Ruffert (Hg.), EUV / AEUV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, München 2016.

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2.4. Verpflichtete: Vom Staat zur Wirtschaft Wem gegenüber besteht diese Berechtigung nun, anders gewendet: Wen ver­ pflichtet die Wissenschaftsfreiheit? Wie fast alle Grundrechte bindet Arti­ kel 17 StGG unmittelbar nur den Staat, d.h. auch staatlich eingerichtete Uni­ versitäten und sonstige Forschungseinrichtungen, etwa Fachhochschulen oder Krankenanstalten. Sie alle müssen die Freiheit der Forschung ihrer Mitarbeiter wahren.45 Teils weiter, teils enger ist Artikel 13 GRC; er verpflichtet den Staat nur, soweit er Unionsrecht durchführt, darüber hinaus aber auch alle Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union.46 Weder Artikel 13 StGG noch Artikel 17 GRC binden Privatpersonen un­ mittelbar; dass sie die Wissenschaft unbegrenzt behindern dürfen, folgt daraus indes nicht. Wie die Geschichte zeigt, sollte das StGG die Forschung nicht nur vor dem Staat schützen, sondern ebenso vor mächtigen Privaten wie damals der Kirche.47 Diese nimmt heute zwar noch Einfluss auf die Theologie,48 davon abgesehen, gehen von ihr jedoch kaum mehr Bedrohungen für die Wissen­ schaft aus. Doch hat die Wirtschaft inzwischen eine ähnliche Machtposition inne:49 Sie hat großen Einfluss auf die Wissenschaft, weil sie sie finanziert, ihr Forschungsziele vorgibt und sie manchmal sogar zum Schweigen bringt. Wer­ den solche Beschränkungen zwischen Geldgebern und Forschenden einver­ nehmlich vereinbart, brauchen Forschende freilich regelmäßig keinen Schutz. Nur wenn ein Vertrag Wissenschaftlern ganz übermäßige Schweigepflichten auferlegt, muss der Staat sie vor ihren Vertragspartnern in Schutz nehmen und diese Pflichten für nichtig erklären.50 45 Für Universitäten z.B. W. Berka, Die Quadratur des Kreises: Universitätsautonomie und Wissen­ schaftsfreiheit. In: zeitschrift für hochschulrecht (2008), 45; für Fachhochschulen F. Oppitz, Wissenschaftsfreiheit und Fachhochschulen. In: zeitschrift für hochschulrecht (2006), 117–119; mit etwas anderem Akzent, im Ergebnis aber wohl ebenso S. Hammer (FN 35) Rz. 31. 46 Artikel 51 Absatz 1 GRC. Der EuGH fasst den Anwendungsbereich der GRC jedoch sehr weit, siehe sein Urteil vom 26. 2. 2013, C-617/10 (Åkerberg Fransson). 47 Siehe oben 2.1. 48 Das Konkordat gestattet der Kirche an katholischen Fakultäten eine weit reichende Kon­ trolle wissenschaftlicher Lehrmeinungen; diese Kontrolle lässt sich dem Grunde nach durch die (kollektive) Religionsfreiheit rechtfertigen, fällt im Detail aber nicht immer ver­ hältnismäßig aus, näher und m. w. N. S. Hammer (FN 35) Rz. 69. 49 Dass die Forschungsfreiheit auch Schutzwirkungen gegen andere gesellschaftliche Kräfte als die Kirche entfaltet, ist in der Lehre unbestritten, siehe die Nachweise bei S. Hammer (FN 35) Rz. 5. 50 Siehe für Deutschland z.B. O. Pramann, Publikationsklauseln in Forschungsverträgen und Forschungsprotokollen klinischer Studien, Berlin/Heidelberg 2007, 107–114, insb. 109.

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2.5. Schutzbereich: Von der Idee zur Förderung Die Wissenschaftsfreiheit erzeugt nach dem Gesagten zwischen Staat und Forschenden eine Rechtsbeziehung, die den Staat verpflichtet, die Freiheit von Wissenschaft und Lehre zu schützen, erforderlichenfalls auch vor Übergriffen durch Dritte. Was ist nun im Detail gemeint mit „Wissenschaft“ und „Lehre“? Die „Lehre“ umfasst die Publikation von Forschungsergebnissen ebenso wie das mündliche Kundtun wissenschaftlicher Lehrmeinungen.51 Unter „Wissen­ schaft“ i.S.d. Artikel 17 StGG versteht die Staatsrechtslehre seit Generationen „jede geistige Tätigkeit, die nach Form, Inhalt und Ziel einen ernsthaften Ver­ such darstellt, in methodischer, systematischer und nachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen“.52 Ähnlich definiert der VfGH „Wissenschaft“ als das „Aufsuchen neuer Erkenntnisse oder die Festigung älterer Erkenntnisse auf einem bestimmten Wissensgebiet“.53 Wirklich zeitgemäß formuliert ist beides nicht. Gemeint sein muss mit „Wissenschaft“ selbstverständlich ebenso die Entwicklung neuer, wirklichkeitsverändernder Technologien, schon weil sie sich von der Suche nach Erkenntnis nicht sinnvoll trennen lässt.54 Dass diese – weit verstandene – Wissenschaft auch viele Gefahren birgt, lässt Tei­ le der deutschen Lehre annehmen, die Wissenschaftsfreiheit schütze nur die 51 Z.B. Th. Kröll, Art 17 StGG, Rz. 39–40. In: B. Kneihs, G. Lienbacher (Hg.), Rill-Schäffer, Kommentar Bundesverfassungsrecht, 13. Lieferung Wien 2014, Rz.  39– 40; R. Rebhahn, Weisungen im Universitätsbereich, Wien 1982, 24. Die Publikation wissenschaftlicher Er­ kenntnisse ließe sich freilich auch der Forschung zuordnen; letztlich ist dies jedoch bedeu­ tungslos, weil der Schutz hier wie dort gewährleistet ist: S. Hammer (FN 35) Rz. 24. 52 R. Rebhahn (FN  51) 24; ähnlich F. Ermacora (FN  38) 468; B. Binder (FN  37) 5; M. Welan, Wissenschaftsfreiheit und Zugang zu gerichtlichen Rechtsmittelentscheidungen. In: Ös­ terreichische Juristen-Zeitung (1986), 642; M. Potacs, Wissenschaftsfreiheit und Grundrecht auf Datenschutz. In: Zeitschrift für Verwaltung (1986), 7–8; W. Berka, Die Grundrechte. Grundfreiheiten und Menschenrechte in Österreich, Wien/New York 1999, Rz. 589; C. Ko­ petzki, Grundrechtliche Aspekte der Biotechnologie am Beispiel des „therapeutischen Klonens“. In: C. Kopetzki, H. Mayer (Hg.), Biotechnologie und Recht, Wien 2002, 52; M. Pöschl, Von der Forschungsethik zum Forschungsrecht: Wieviel Regulierung verträgt die Forschungsfreiheit? In: U. Körtner, C. Kopetzki, C. Druml (Hg.), Ethik und Recht in der Humanforschung, Wien/New York 2010, 114–115; Th. Kröll (FN 51) Rz. 22; I. Eisenberger (FN 12) 162. 53 VfSlg. 3191/1957, 15.617/1999; ähnlich der VwGH 28. 2. 2002, 2000/15/0200 m.w.N. 54 Zur starken Verflechtung von wissenschaftlicher Forschung und der Entwicklung und Verbesserung neuer Technologien T. Wilholt (FN 8) 22–23. Gegen einen auf die bloße Wahrheitssuche verengten Schutzbereich auch M. Ruffert (FN  10) 157–158, bezogen auf die im deutschen Grundgesetz normierte Wissenschaftsfreiheit; ebenso S. Hammer (FN 35) Rz. 25, bezogen auf Artikel 17 StGG.

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Forschungsidee, nicht aber deren Durchführung.55 In Österreich hat das noch niemand behauptet, und das StGG liefert dafür auch keinen Anhaltspunkt, im Gegenteil. Auch im 19. Jahrhundert, als das StGG erlassen wurde, gab es gefährliche Forschung, man denke nur an medizinische Experimente: Sie wa­ ren zweifellos von der Wissenschaftsfreiheit mitumfasst. Nichts anderes kann für Forschungen in neuen Disziplinen gelten. Dass sie zunehmend gefährli­ cher werden, ist kein Grund dafür, ihnen von vornherein jeden Schutz zu ver­ sagen, vielmehr ist nachzufragen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Wissenschaftsfreiheit es zulässt, solche Forschungen zu beschränken. Das gilt umso mehr für Artikel 13 der GRC, die um diese Gefahren wusste und die Forschung dennoch für frei erklärt.56 Dass StGG und GRC die Wissenschaft bzw. Forschung für frei erklären, ist fraglos wichtig, in vielen Disziplinen jedoch nur die halbe Miete. Denn vor allem in der Naturwissenschaft und in der Technik setzt Forschung ne­ ben formaler Freiheit auch finanzielle und personelle Unterstützung voraus. Das wirft die Frage auf, ob die Wissenschaftsfreiheit ein Recht auf Teilhabe an staatlichen Leistungen einschließt. Der Verfassungsgerichtshof hat das in den 1970er Jahren noch kategorisch verneint.57 Angesichts der begrenzten Budgets kann in der Tat nicht angenommen werden, dass der Staat alle Forschungs­ wünsche jeder einzelnen Wissenschaftlerin finanzieren muss. Umgekehrt wäre es aber weltfremd anzunehmen, die Finanzierung der Forschung habe mit der Wissenschaftsfreiheit gar nichts zu tun, denn de facto „eröffnen und verschließen [Ressourcen] Freiheitsräume wissenschaftlicher Forschung“.58 So geht die überwiegende Lehre heute davon aus, dass die Wissenschaftsfreiheit (gegebenenfalls in Verbindung mit dem Gleichheitssatz) immerhin ein Recht 55 Siehe die Nachweise bei M. Ruffert (FN 10) 174 FN 129, der sich a.a.O., 174–176, aber gegen eine solche Verengung ausspricht. 56 Siehe z.B. M. Ruffert (FN 44) Rz. 6; auch sonst subsumiert die Lehre bei Artikel 13 GRC nicht nur Grundlagen- und angewandte Forschung dem Schutzbereich der Forschungs­ freiheit; sie differenziert auch nicht zwischen der Forschungsidee und ihrer Umsetzung. Unterschiedlich beurteilt wird nur, ob die wirtschaftliche Verwertung der Forschungser­ gebnisse von der Wissenschaftsfreiheit geschützt ist: I. Augsberg (FN 44) Rz. 5 verneint das; H. D. Jarass (FN 44) Rz. 6 schließt „die bloße Anwendung bereits gewonnener Er­ kenntnisse“ generell vom Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit aus; ebenso B. Moser (FN 44) Rz. 9. M. Ruffert (FN 44) Rz. 8 hingegen nimmt an, dass die Rückwirkung der Verwertungsmöglichkeiten auf die Wissenschaftsfreiheit nicht ausgeblendet werden darf. 57 VfSlg. 8136/1977, wonach Artikel 17 StGG nur ein Abwehrrecht gegen den Staat ist, aber keine Teilhaberechte vermittelt. 58 M. Schulte (FN 28) 118.

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darauf vermittelt, bei der Mittelverteilung durch den Staat angemessen berück­ sichtigt59 bzw. von Ressourcen nicht unsachlich ausgeschlossen60 zu werden. Gleiches wird auch für Artikel 13 GRC vertreten.61 Die Pflicht, Ressourcen nach sachlichen Kriterien zu verteilen, trifft den Staat dabei nicht nur, wenn er öffentlichen Universitäten eine Grundausstattung zuweist, sondern eben­ so, wenn er – etwa in Gestalt des FWF – projektbezogen Drittmittel vergibt. Je stärker sich freilich staatliche und private Einrichtungen verbinden, um Fördergelder zu vergeben,62 desto schwerer wird es festzustellen, ob diese „ge­ mischten Förderwesen“ noch staatlich und daher an Grundrechte gebunden sind. 2.6. Eingriff: Vom Verbot zur Empfehlung Der Schutz der Wissenschaftsfreiheit setzt noch nicht bei jeder, auch noch so entfernten Störung der Forschung ein, sondern erst bei qualifizierten Beein­ trächtigungen, die die Grundrechtsdogmatik „Eingriffe“ nennt.63 Ein solcher Eingriff liegt eindeutig vor, wenn Forschungen verboten oder geboten werden, wenn der Staat also untersagt, einen bestimmten Gegenstand zu erforschen, z.B. das Klonen von Menschen,64 oder bestimmte Forschungs­ methoden anzuwenden, z.B. Eingriffe in die Keimzellbahn65 oder Tierversu­ 59 S. Hammer (FN 35) Rz. 16 –18, 37, entnimmt Artikel 17 StGG einen „(derivative[n]) An­ spruch auf angemessene Berücksichtigung“ bei der Ressourcenverteilung und hält den Staat für verpflichtet, einen „akademischen Pluralismus“ zu gewährleisten. In diese Richtung wohl auch schon H. Stolzlechner, Institutsinterne Ressourcenverteilung und „Teilhabean­ spruch“ des Hochschullehrers. In: R. Strasser (Hg.), Organisations-, europa- und immaterial­ güterrechtliche Probleme der Universitäten, Wien 1992, 67–70. 60 Siehe K. Spielbüchler (FN 38) 170, nach dem ein „gezieltes Aussperren bei der Verteilung der Mittel“ in die Forschungsfreiheit eingreift. 61 M.w.N. I. Eisenberger (FN 12) 190–191. 62 Dazu M. Pöschl (FN 43). 63 M. Holoubek, Der Grundrechtseingriff. In: Deutsches Verwaltungsblatt (1997), 1031– 1039; H. Bethge und B. Weber-Dürler, Der Grundrechtseingriff. In: VVDStRL 57 (1998), 7–56 und 57–99; F.-J. Peine, Der Grundrechtseingriff. In: D. Merten, H.-J. Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Band III, Heidelberg 2009, § 57 Rz. 1–   60; G. Kucsko-Stadl­ mayer, Die allgemeinen Strukturen der Grundrechte. In: D. Merten, H.-J. Papier, G. Kucs­ ko-Stadlmayer (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Band VII/I, Heidelberg/Wien 2014, § 3 Rz. 82–90. 64 Artikel 3 Absatz 2 litera d GRC, § 9 Absatz 1 und 3 FMedG sowie § 64 Gentechnikgesetz (GTG), BGBl. 1994/510 i.d.F. BGBl. I 2016 /112. 65 § 9 Absatz 3 FMedG.

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che66. Der Staat greift in die Wissenschaftsfreiheit ferner ein, wenn er erst die Durchführung eines Forschungsprojekts reguliert und z.B. Arbeiten an gen­ technisch veränderten Organismen an behördliche Bewilligungen bindet;67 Forschungen an Menschen nur mit deren informierter Zustimmung zulässt;68 verlangt, dass Versuche dokumentiert oder der Behörde Forschungsergebnisse berichtet werden.69 Ein Eingriff liegt ebenso vor, wenn der Staat die Veröffent­ lichung von Forschungsprojekten oder -ergebnissen anordnet,70 oder wenn er umgekehrt gebietet, eine Publikation zu unterlassen, sie erst zu einem späteren Zeitpunkt oder nur in bestimmten Medien vorzunehmen, sie zurückzuziehen, zu widerrufen, zu korrigieren oder sich für sie – auch das kam schon vor 71 – öffentlich zu entschuldigen, weil sie ein Plagiat enthält: All das sind eindeutig Eingriffe, die den Schutz der Wissenschaftsfreiheit aktivieren. Nicht geklärt ist bisher, ob Regeln guter wissenschaftlicher Praxis in die Forschungsfreiheit eingreifen.72 Meines Erachtens ist ein Eingriff zu vernei­ nen, soweit solche Regeln Fälschung, Betrug, Plagiate und Forschungssabota­ ge untersagen, denn diese Praktiken sind per se unwissenschaftlich und daher durch die Wissenschaftsfreiheit von vornherein nicht geschützt.73 Zu bejahen ist ein Eingriff hingegen, wenn Regeln guter wissenschaftlicher Praxis die Mo­ dalitäten wissenschaftlichen Arbeitens festlegen, also z.B. Dokumentations­ pflichten normieren, bestimmen, was Autorenschaft stiftet oder Selbstplagiate verbieten.74 Kein Eingriff liegt wiederum vor, wenn Forschende über die Re­ geln guter wissenschaftlicher Praxis nur informiert oder an sie erinnert werden oder wenn ein über diese Regeln entstandener Konflikt zwischen Forschern 66 67 68 69 70

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§ 4 Tierversuchsgesetz 2012 (TVG 2012), BGBl. I 2012/114. §§ 20 ff GTG. Siehe z.B. für genetische Analysen §§ 66, 69 GTG. Z.B. §§ 46, 52 GTG; § 31 Absatz 3 TVG 2012. Z.B. die Veröffentlichung einer Zusammenfassung genehmigter Projekte nach § 31 TVG 2012 auf der Homepage des zuständigen Ministeriums, http://wissenschaft.bmwfw.gv.at/ bmwfw/forschung/national/forschungsrecht/tierversuche/nichttechnische-projektzusam­ menfassungen-veroeffentlichung-gemaess-tierversuchsgesetz-2012/ (9. 2. 2017). Siehe Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofes (VwSlg.) 18.449 A/2012 und dazu M. Pöschl, Weisung an einen Universitätsprofessor, öffentlich ein Plagiat einzugestehen und sich dafür zu entschuldigen, In: Recht der Medizin (2013), 60 – 66. Zum Forschungsstand M. Pöschl (FN 52) 122–125. Auch nach M. Ruffert (FN 10) 156–157 ist der Grundrechtsschutz zu versagen, wenn ge­ gen „grundlegende Prinzipien der Wissenschaftlichkeit“ verstoßen wird, insb. im Fall von Fälschung und Plagiat. M. Pöschl (FN 52) 123 –124.

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geschlichtet wird:75 Das alles kann lästig oder sonst unerwünscht sein, doch solche Gespräche behindern die Forschung nicht und greifen daher nicht in die Wissenschaftsfreiheit ein. In einer Grauzone bewegt sich der Staat, wenn er keine Gebote oder Ver­ bote ausspricht, sondern ein Verhalten nur „empfiehlt“ oder umgekehrt davor „warnt“. Dass der Staat hier bloß kundtut, welches Verhalten er als erwünscht ansieht, ohne es mit Zwang durchzusetzen, spricht prima vista gegen einen Eingriff. Bei näherem Hinsehen können jedoch auch solche Direktiven die Forschung ernsthaft behindern, nämlich dann, wenn der Staat dabei Perso­ nen adressiert, auf deren Kooperation Wissenschaftler angewiesen sind.76 Man stelle sich etwa vor, ein Bundesminister würde bestimmte Forschungen als „unethisch“ klassifizieren und allen Geldgebern und Verlagen empfehlen, diese Forschungen nicht zu fördern bzw. ihre Ergebnisse nicht zu publizieren. Rechtlich wäre es dann zwar weiterhin erlaubt, solche Forschungen zu betrei­ ben, doch faktisch wären sie durch die ministerielle Empfehlung erheblich be­ hindert, weil sich dafür zumindest im nationalen Raum kaum ein Geldgeber fände, und wenn doch, würde wahrscheinlich die Publikation scheitern. Der Verfassungsgerichtshof hat in einer vergleichbaren Situation – nämlich bei der behördlichen Warnung vor einem Finanzdienstleister, dessen Geschäft dar­ aufhin einbrach – einen Grundrechtseingriff in die Erwerbsfreiheit bejaht.77 Gleiches müsste mutatis mutandis auch für die Forschungsfreiheit gelten. 2.7. Schranken: Vom absoluten zum relativen Freiheitsschutz Nun bleibt die Gretchenfrage: Sind Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit ab­ solut verboten oder unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt? Artikel  17 StGG scheint Eingriffe schlechthin zu verbieten, denn anders als bei den meisten sonstigen Freiheitsrechten sieht sein Wortlaut nicht vor, dass gesetz­ liche Ausnahmen erlaubt sind; er garantiert vielmehr ohne jeden Vorbehalt: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.“ Der VfGH hat die Wissenschafts­ freiheit jedoch nie so strikt verstanden, sondern schon früh klargestellt, dass Gesetze, die für alle Bürger gelten, auch für Forscher verbindlich sind.78 Da 75 M. Pöschl (FN 52) 126 –127. 76 Dazu allgemein P. Tschannen, Amtliche Warnungen und Empfehlungen. In: Zeitschrift für Schweizerisches Recht (1999), 415. 77 VfSlg. 18.747/2009. 78 VfSlg. 1777/1949, 3565/1959, 4732/1964.

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Körper­verletzungen jedermann verboten sind, dürfen auch Forschende ihren Probanden keine solchen Verletzungen zufügen. Werden Universitätslehrer dienstun­fähig, darf ihr Dienstgeber daraus dieselben Konsequenzen ziehen wie bei jedem anderen Dienstnehmer auch. Sicherheitsanforderungen, die die Gesetzgebung an Bauwerke stellt, gelten ebenso für Versuchsanlagen. Auch an das Verbot, ungebührlichen Lärm zu erzeugen, müssen sich Forschende bei ihren Experimenten halten. Die Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Freilich kann die Gesetzgebung im Interesse der Wissenschaft gewisse Aus­ nahmen zulassen, wie das etwa im Tierversuchsrecht, im Datenschutzgesetz oder im Gentechnikgesetz geschieht.79 Solange solche Ausnahmevorschriften nicht bestehen, gelten allgemeine Gesetze aber für Forschende genauso wie für alle anderen Menschen auch. Das war in Rechtsprechung und Lehre schnell geklärt. Kritisch sind hingegen Gesetze, die die Wissenschaft „intentional“ be­ schränken: Sie sind nach der Judikatur absolut verboten;80 was das bedeutet, wird in den einschlägigen Entscheidungen allerdings nicht restlos klar und ist in der Lehre entsprechend umstritten. Einigkeit dürfte immerhin darüber bestehen, dass das Verbot intentionaler Gesetze sich nicht gegen Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit richtet, die durch gegenläufige Grundrechte geboten sind, etwa um das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Privatsphäre von Probanden zu schützen.81 Im Übrigen gehen die Meinungen jedoch aus­ einander; lässt man Details beiseite,82 sind im Wesentlichen drei Positionen erkennbar: Am regulierungsfreundlichsten ist die Meinung, das StGG unter­ sage Eingriffe nur dann absolut, wenn sie einzig in der Intention erlassen wer­ den, die Wissenschaft zu beschränken. Eingriffe, die einem beliebigen anderen Rechtsgut dienen und verhältnismäßig sind, seien hingegen erlaubt.83 Enger ist der Spielraum des Gesetzgebers nach einer zweiten Meinung: Danach lässt das StGG Eingriffe nur zu, wenn sie zum Schutz verfassungsrangiger Rechtsgüter 79 So lässt sich das gesamte Tierversuchsrecht als eine Ausnahme zum Tierschutzrecht ver­ stehen; siehe außerdem z.B. die datenschutzrechtlichen Erleichterungen für wissenschaft­ liche und statistische Untersuchungen in §§ 46 und 47 DSG sowie die Sonderregelung des § 66 GTG für genetische Analysen am Menschen für wissenschaftliche Zwecke und zur Ausbildung. 80 VfSlg. 8136/1977, 13.978/1994, 14.485/1996, 18.559/2008, 18.763/2009. 81 M.w.N. S. Hammer (FN 35) Rz. 53 in FN 287. 82 Für eine eingehende Darstellung des Meinungsstandes siehe I. Eisenberger (FN 12) 195– 201, und S. Hammer (FN 35) Rz. 51–59. 83 Z.B. M. Stelzer, Das Wesensgehaltsargument und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Wien/New York 1991, 269–272; I. Eisenberger (FN 12) 200–201, 234.

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geboten und verhältnismäßig sind; als solche Rechtsgüter kommen neben den Grundrechten z.B. auch Staatszielbestimmungen in Betracht, in denen sich Österreich zum Tier- und Umweltschutz bekennt.84 Nach der dritten Position schließt das StGG nur Gesetze aus, die die Eigengesetzlichkeit der Wissen­ schaft antasten; sonstige Eingriffe seien erlaubt, wenn sie irgendeinem Rechts­ gut dienen und verhältnismäßig sind.85 Jede dieser Lehrmeinungen hat ihre Stärken und Schwächen;86 was sie verbindet, ist das Bemühen um eine Ausle­ gung, die dem vorbehaltlosen Charakter der Wissenschaftsfreiheit Rechnung trägt, der Gesetzgebung aber zugleich eine maßhaltende Regulierung der Wis­ senschaft erlaubt. Ob der VfGH sich einer dieser Deutungen anschließt oder seine Judikatur in anderer Weise spezifiziert, ist offen, weil er in den letzten Jahren keinen einschlägigen Fall entscheiden musste. In dieser Hinsicht ist die Garantie der GRC realistischer und in der Tat moderner: Sie erklärt zwar die Forschung zunächst für frei, ermächtigt aber in einer zweiten Bestimmung dazu, alle Freiheitsrechte (und daher auch die Wissenschaftsfreiheit) zu beschränken, wenn dies – vereinfacht gesagt – aus guten Gründen geschieht und verhältnismäßig ist.87 Diese Eingriffsgründe werden nach überwiegender Meinung durch Artikel  10 der Europäischen 84 Z.B. C. Kopetzki (FN 35) 264–265; M. Pöschl (FN 52) 130–131. 85 S. Hammer (FN 35) Rz. 54–59. 86 Die erste und zweite Position instruktiv dargelegt bei I. Eisenberger (FN 12) 195–201, und S. Hammer (FN 35) Rz. 51–53. Für die erste Position spricht, dass sie der Gesetzge­ bung relativ freie Hand bei der Regulierung der Forschung lässt; das geschieht aber um den Preis, dass die – vorbehaltlos garantierte – Wissenschaftsfreiheit sich sehr stark jenen Freiheitsrechten annähert, die unter dem Vorbehalt einfachgesetzlicher Beschränkungen gewährt sind. Dieses Problem vermeidet die zweite Position; gegen sie wird allerdings ein­ gewendet, dass sie zu unplausiblen Ergebnissen führe, weil der österreichischen Verfas­ sung keine konsistente Wertordnung zugrundliegt, sodass nicht einleuchte, warum Ein­ griffe durch verfassungsrangige Rechtsgüter gerechtfertigt werden können, durch andere Rechtsgüter hingegen nicht. Dieser (m.E. als rechtspolitische Kritik an der Verfassung be­ rechtigte, rechtsdogmatisch aber nicht überzeugende) Einwand trifft wiederum die dritte Position nicht; dafür mag man ihr anlasten, dass sie keine allzu klaren Grenzen zwischen erlaubten und verbotenen Eingriffen zieht, weil sich trefflich darüber streiten lässt, was die Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft ist. 87 Siehe Artikel 52 Absatz 1 GRC, der zunächst fordert, dass jeder Eingriff in ein Freiheits­ recht „gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten ach­ ten“ muss. Zudem dürfen Einschränkungen nach dieser Bestimmung nur vorgenommen werden, „wenn sie erforderlich sind und in den von der Union anerkannten dem Gemein­ wohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Frei­ heiten anderer tatsächlich entsprechen“.

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Menschenrechtskonvention (EMRK) näher spezifiziert;88 die dort genannten Interessen sind jedoch immer noch denkbar weit89 und keinesfalls auf verfas­ sungsrangige Rechtsgüter beschränkt. Ergänzend heben die Erläuterungen zu Artikel 13 GRC hervor, dass die Wissenschaftsfreiheit ihre Grenze an der Menschenwürde findet.90 Für medizinische und biologische Forschungen sta­ tuiert Artikel 3 Absatz 2 GRC sogar konkrete Forschungsverbote: Er untersagt Humanforschung ohne informierte Zustimmung der Probanden, eugenische Praktiken, reproduktives Klonen und die Nutzung des menschlichen Körpers oder seiner Teile zur Erzielung von Gewinnen. Diese Verbote und die recht weitreichende Eingriffsermächtigung gelten allerdings nur für Rechtsakte des Unionsrechts bzw. für seine Durchführung in nationalem Recht.91 Für genuin staatliche Eingriffe gilt die – vermutlich – strengere, aber in der Lehre auch schon aufgeweichte Garantie des StGG. 2.8. Bilanz: Vom Schutz zur Lücke Insgesamt betrachtet, gewährt die Wissenschaftsfreiheit also Schutz, sie lässt aber auch Lücken: Gesichert ist erstens, dass der Staat Forschungen unterbin­ den darf, die Grundrechte Dritter, Tiere oder die Umwelt beeinträchtigen: Das ist – gleichgültig, welcher Auslegung man folgt – jedenfalls erlaubt, sofern die Regelung verhältnismäßig ist. Zweitens: Schwerer als gefährliche Forschung ist gefährliches Wissen zu re­ gulieren, denn zur Unklarheit, welche Schutzgüter eine Beschränkung recht­ fertigen, kommt die Unsicherheit, ob das Schutzgut überhaupt gefährdet ist. Diffuse Befürchtungen und vage Vermutungen, wie Forschungsergebnisse vielleicht von Dritten verwendet werden könnten, genügen für Forschungsver­ bote noch nicht.92 Um die Wissenschaft zu beschränken, muss der Staat schon über ein einigermaßen gesichertes Risikowissen verfügen, das zu generieren aber nicht einfach ist. 88 M.w.N. I. Eisenberger (FN 12) 188. 89 Artikel 10 Absatz 2 EMRK nennt das „Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer“. 90 Amtsblatt der EU (ABl.) C 303/17 vom 14. 12. 2007. 91 Siehe FN 46. 92 M.w.N. S. Hammer (FN 35) Rz. 56.

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Drittens: Auch gefährliches Schweigen ist schwer zu regulieren, denn ge­ heim gehalten werden Forschungsergebnisse auf Basis einvernehmlicher Ver­ einbarungen zwischen Forschenden und Geldgebern. Ein staatlicher Eingriff in solche Verträge ist nicht ohne Weiteres zu rechtfertigen; insbesondere lässt er sich nicht auf Grundrechte Dritter stützen, denn ein Grundrecht, über For­ schungen anderer informiert zu werden, gewährt die Verfassung nicht. Nur wenn ein Forscher vertraglich ganz übermäßig zum Schweigen verpflichtet wird, kann er sich aus dieser Pflicht gestützt auf seine eigene Wissenschafts­ freiheit lösen; auch das wird aber nur gelingen, wenn die – grundrechtlich ebenfalls geschützten – Geheimhaltungsinteressen seiner Vertragspartner nicht schwerer wiegen. Viertens: Unfaire Forschungspraktiken lassen sich problemlos verbieten, wenn sie – wie Betrug, Fälschung, Plagiat oder Sabotage fremder Forschung – per se unwissenschaftlich sind. Im Übrigen greifen Regeln guter wissenschaft­ licher Praxis jedoch in die Wissenschaftsfreiheit ein und bedürfen daher einer Rechtfertigung. Als Rechtfertigungsgrund kommen die Wissenschaftsfreiheit der konkurrierenden Forscher in Frage und auch der Schutz der Wissenschaft als solcher, weil ihr Funktionieren auf einen fairen Wettbewerb zwischen den Forschenden angewiesen ist. Doch ist fraglich, ob der Staat die Regelung der­ art wissenschaftsinterner Fragen nicht der Scientific Community überlassen muss. Fünftens: Die Wissenschaft mit anderen Mitteln als durch zwangsweise durchsetzbare Gebote und Verbote zu regulieren, ist dem Staat leichter mög­ lich. Er kann z.B. sanften Druck ausüben, indem er unverbindliche Empfeh­ lungen an Forschende ausspricht; heikel werden Empfehlungen erst, wenn sie nicht die Wissenschaftler adressieren, sondern Dritte, auf deren Kooperation Forschende zur Verwirklichung ihrer Wissenschaftsfreiheit angewiesen sind. Die universitäre Forschung kann der Staat ohne Zwang ferner steuern, indem er ihre Grundausstattung reduziert. So werden Universitätslehrer vermehrt auf Drittmittel verwiesen, die der Staat dann – z.B. in Gestalt des FWF – für Pro­ jekte vergibt, die ihm wertvoll oder zumindest ungefährlich erscheinen: Das ist kein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit, denn diese Art der Finanzierung behindert die Forschung nicht, sondern ermöglicht sie. Aus gleichheitsrecht­ lichen Gründen muss der Staat diese Mittel dann allerdings nach sachlichen Kriterien verteilen. Sechstens: Die Wissenschaftsfreiheit verpflichtet nur den Staat, nicht auch sonstige Akteure, private Geldgeber ebenso wenig wie Verlage, andere Forschende oder Fachvereinigungen. Sie alle können daher für die Forschung

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o­ hne weiteres Regeln aufstellen, also festlegen, unter welchen Bedingungen sie Forschung finanzieren, publizieren und respektieren. Die Wissenschaftsfrei­ heit setzt dem keine Grenzen, das heißt aber auch umgekehrt: Sie schützt vor solchen Regeln nicht.

3. Regeln für die Wissenschaft Schutz und Lücken der Wissenschaftsfreiheit bilden zusammen den rechtli­ chen Rahmen, in dem Forschung reguliert werden kann. Zu diesen rechtlichen Grenzen kommen die eingangs erwähnten faktischen Regulierungsprobleme – die Globalisierung der Forschung; ihre Schnelllebigkeit; die Schwierigkeit, ihre Risiken und Chancen vorherzusehen; die Probleme, Forschungsergebnis­ se von ihrer Verwendung zu trennen; die Kontraproduktivität mancher Ver­ bote; die nachteiligen Effekte der Kommerzialisierung von Forschung und schließlich die Vielzahl an heiklen ethischen Fragen, über die sich politisch oft keine Einigung erzielen lässt.

3.1. Hartes Recht Die Summe dieser rechtlichen und faktischen Rahmenbedingungen erklärt, warum Staaten, die EU und die Staatengemeinschaft ihre ureigenen Steue­ rungsinstrumente für die Regulierung der Forschung nur zurückhaltend ein­ setzen: Was und mit welchen Methoden etwas erforscht werden darf, ist nur selten durch sogenanntes hartes Recht geregelt, also durch Gebote, Verbote und sonstige Beschränkungen, die mit Zwang durchsetzbar sind. Absolut un­ tersagt sind in Österreich insbesondere Kernwaffenversuche,93 Forschungen an Embryonen, die Gewinnung embryonaler Stammzellen, Eingriffe in die menschliche Keimbahn,94 das reproduktive Klonen von Menschen95 und 93 Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser, BGBl. 1964/199 i.d.F. BGBl. I 2008/2. 94 § 9 FMedG. 95 Artikel 3 Absatz 2 litera d GRC, § 9 Absatz 1 und 3 FMedG sowie § 64 GTG; näher A. Miklos, Das Verbot des Klonens von Menschen in der österreichischen Rechtsordnung. In: Recht der Medizin (2000), 35–   45; C. Kopetzki, Klonen – rechtlich betrachtet, http:// science.v1.orf.at/news/8784.html (20.9.2017); E. Dujmovits, Die EU-Grundrechtscharta und das Medizinrecht. In: Recht der Medizin (2001), 77–78.

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Versuche an bestimmten Tieren.96 Im Übrigen sind in Österreich primär die medizinische Forschung, Tierversuche und die Gentechnik Genehmigungsoder Anzeigepflichten und sonstigen Beschränkungen unterworfen, wobei nur die beiden letzten Forschungsbereiche geschlossen in einem Gesetz, nämlich im GTG und im TVG 2012,97 geregelt sind. Die Rechtslage zur humanme­ dizinischen Forschung muss hingegen aus einer Fülle an Einzelvorschriften rekonstruiert werden; sie ist dementsprechend „zersplittert, unübersichtlich und teilweise auch in sich widersprüchlich“.98 Genehmigungspflichtig ist in Österreich schließlich die Ausfuhr bestimmter Dual-Use-Technologien99 und damit gegebenenfalls auch die Publikation heikler Forschungsdaten.100 Zu den Gesetzen, die die Forschung verbieten oder beschränken, treten noch Vorschriften, die die Förderung bestimmter Forschungen untersagen. Das geschieht zum einen direkt, indem einzelne Forschungen explizit von Förderungen ausgeschlossen werden,101 zum anderen indirekt, indem festge­ legt wird, welche Fachdisziplinen, Forschungsthemen, Methoden und Nütz­ lichkeiten staatlich förderbar sind.102 96 Insb. an Schimpansen, Bonobos, Gorillas, Orang-Utans und Gibbons; unter bestimmten Voraussetzungen auch an nichtmenschlichen Primaten, Weißohrseidenäffchen, streunen­ den oder verwilderten Tieren, siehe im Detail § 4 TVG 2012. 97 FN 64 und 66. 98 C. Kopetzki, Braucht Österreich eine Kodifikation des biomedizinischen Forschungsrechts? In: U. Körtner, C. Kopetzki, C. Druml (Hg.), Ethik und Recht in der Humanforschung, Wien/New York 2010, 74–75. 99 Außenwirtschaftsgesetz 2011 – AußWG 2011, BGBl. I 2011/26 i.d.F. BGBl. I 2015 /163. 100 Siehe dazu allgemein D. Thurnherr (FN 13) 77–100. 101 Artikel 19 Absatz 3 Verordnung (EU) Nr. 1291/2013, ABl. 2013 L 347/104, wonach nä­ her bezeichnete Forschungen (reproduktives Klonen, Veränderung menschlichen Erb­ guts, Züchtung menschlicher Embryonen ausschließlich zu Forschungszwecken oder zur Gewinnung von Stammzellen) nicht unterstützt werden. Artikel 13 Absatz 3 Verordnung (EU) Nr. 1290/2013, ABl. 2013 L 347/81, ermächtigt die Europäische Kommission zu­ dem, Forschungsprojekte von Förderungen auszuschließen, die „im Widerspruch zu ethi­ schen Prinzipen“ stehen. Näher I. Eisenberger (FN 12) 192–194. 102 Auf unionsrechtlicher Ebene geschieht das durch Forschungspriorisierungen, zu ­diesen I. Eisenberger (FN 12) 191 f., ferner durch Artikel 19 Absatz 3 Verordnung (EU) Nr. 1291/2013, der Förderungen auf Forschungen beschränkt, die ausschließlich auf z­ ivile Anwendungen ausgerichtet sind. Auf nationaler Ebene bestimmt §  11 Absatz  1 For­ schungsorganisationsgesetz (FOG), BGBl.  1981/341 i.d.F. BGBl.  I 2015/131, dass der Bund bei Förderungen „auf die Ziele und Prinzipien der gesamtösterreichischen For­ schungs- und Technologiepolitik, insbesondere die Forschungsstrategien des Bundes, Bedacht zu nehmen“ hat. Dazu kommt eine Fülle detaillierter Festlegungen für die jewei­ ligen Förderstellen, dazu m.w.N. M. Pöschl (FN 43).

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Mit diesem harten Recht reagiert der Staat primär auf gefährliches Forschen, seltener auf gefährliches Wissen. Diese Form der Regulierung hat für die Wis­ senschaft viele Vorzüge: Hartes Forschungsrecht wird erstens vom demokra­ tisch legitimierten Gesetzgeber in einem genau geregelten Verfahren erzeugt.103 Es muss zweitens klar formuliert sein, sodass Forschende genau wissen, was ihnen ge- oder verboten ist und welche Sanktion im Fall einer Gesetzesüber­ tretung droht.104 Drittens muss jedes Eingriffsgesetz der Wissenschaftsfreiheit entsprechen, d.h. auf guten Gründen beruhen und verhältnismäßig sein.105 Viertens darf die staatliche Vollziehung Forschungen nur auf Basis solcher Ge­ setze beschränken,106 und fünftens: Gegen Freiheitsbeschränkungen, denen auch nur eine dieser Voraussetzungen fehlt, kann sich der betroffene Forscher in einem rechtsstaatlichen Verfahren wehren.107 Neben diesen Vorzügen hat die gesetzliche Regulierung freilich auch die erwähnten Nachteile: Sie setzt politische Einigungen voraus, die mühsam und manchmal gar nicht zu er­ reichen sind. Gelingen sie doch, hinken Gesetze der schnelllebigen Wissen­ schaft möglicherweise rasch hinterher. Zugleich gelten sie nur im Staatsgebiet und können daher grenzüberschreitende Forschungsprojekte torpedieren oder Wissenschaftler sogar veranlassen, an forschungsfreundlichere Standorte ab­ zuwandern.

103 Artikel 24, 31, 41– 49b Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. 1930/1 i.d.F. BGBl. I 2016/106. 104 Der Gesetzgeber ist bereits nach Artikel  18 Absatz  1 B-VG verpflichtet, jedes Gesetz ausreichend zu determinieren; bei Gesetzen, die in Grundrechte eingreifen, sind die An­ forderungen an diese Bestimmtheit besonders hoch: VfSlg.  10.737/1985, 11.455/1987, 19.738/2013. 105 Oben 2.7. 106 Das ergibt sich schon allgemein aus Artikel 18 Absatz 1 B-VG, wonach die gesamte staat­ liche Verwaltung nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden darf; für die Forschungsfrei­ heit im Besonderen wird dieser Gesetzesvorbehalt noch zusätzlich in Artikel 10 Absatz 2 EMRK und Artikel 52 Absatz 1 GRC betont, die Freiheitseingriffe nur erlauben, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind. 107 Bescheide und Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (z.B. die Schließung eines Forschungslabors oder die Beschlagnahme von Dokumenten) können nach Artikel  130 Absatz  1 B-VG bei den Verwaltungsgerichten erster Instanz bekämpft werden; gegen deren Entscheidungen kann nach Artikel 133 B-VG der VwGH und nach Artikel 144 B-VG der VfGH angerufen werden. Die Entscheidungen dieser beiden Gerichtshöfe können schließlich beim Europäischen Gerichtshof für Menschen­ rechte (EGMR) bekämpft werden.

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3.2. Weiches Recht Oft lassen sich die beschriebenen verfassungsrechtlichen und faktischen Hür­ den nicht überwinden; unreguliert bleibt Forschung deshalb jedoch keines­ wegs. Vielmehr treten dann andere Normsorten auf den Plan, zunächst das sogenannte weiche Recht: Es wird von staatlichen Organen gesetzt, die auch hartes Recht setzen könnten, sich aber mit unverbindlichen „Empfehlungen“ begnügen,108 weil der Regelsetzer Verbote nicht für zweckmäßig hält, weil er politisch keinen Konsens dafür erzielen kann oder weil ein Verbot den ver­ fassungsrechtlichen Anforderungen widerspräche. Weiches Recht ist nicht mit Zwang durchsetzbar; seine Befolgung ist freiwillig, es beruht also auf der Überzeugungskraft der jeweiligen Regeln und ein Stück weit auch auf der Au­ torität des staatlichen Regelsetzers. In der Welt der Wissenschaft wird weiches Recht bevorzugt eingesetzt, um gefährliches Wissen zu entschärfen, also Wissen, das Dual-Use-Forschungen generieren. Um etwa die schwer fassbaren Risiken der Nanowissenschaften und -technologien zu mindern, spricht die Kommission der EU in einem „Ver­ haltenskodex“ umfangreiche Empfehlungen aus:109 Demnach soll die NanoForschung u.a. „ethisch vertretbar“ sein,110 „Menschen, Tiere, Pflanzen oder die Umwelt weder heute noch in Zukunft schädigen, noch sollte sie eine bio­ 108 Zum Soft Law und der Vielfalt seiner Erscheinungsformen allgemein C. Jabloner, W. Ok­ resek, Theoretische und praktische Anmerkungen zu Phänomenen des „soft Law“. In: Zeit­ schrift für öffentliches Recht (1983), 217–241; R. Walter, Soft Law aus rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht. In: M. Lang, J. Schuch, C. Staringer (Hg.), Soft Law in der Praxis, Wien 2005, 21–28; M. Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, Tübingen 2010. Konkret für den Bereich der Forschung siehe z.B. die UNESCO Deklaration über Bioethik und Menschenrechte; die UNESCO Deklaration über genetische Daten des Menschen; die Recommendation on the Governance of Clini­ cal Trials der OECD; die Richtlinien des CIOMS (Council for International Organisa­ tions of Medical Sciences), eine NGO, die 1949 von der WHO und der UNESCO ge­ gründet wurde, 1982 International Ethical Guidelines for Biomedical Research Involving Human Subjects erlassen und diese 1993 und 2002 in revidierter Fassung vorgelegt hat. Verschiedene Guidelines für die Forschung am Menschen hat ferner die WHO erlassen, aufgeführt bei B. van Spyk, Quellen des Humanforschungsrechts. In: B. Rütsche (Hg.), Hu­ manforschungsgesetz (HFG), Bern 2015, Rz. 45. 109 Empfehlung der Kommission vom 7. 2. 2008 für einen Verhaltenskodex für verantwor­ tungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien, K(2008) 424 endg. 110 Anhang 3.2.

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logische, physische oder moralische Bedrohung für sie darstellen.“111 Geht es nach dem Verhaltenskodex, sollen Forschende sogar „für die möglichen sozia­ len, ökologischen und gesundheitlichen Folgen“ ihrer Nano-Forschung „für die heutige und für künftige Generationen zur Rechenschaft gezogen werden können.“112 Was diese Empfehlungen im Einzelnen bedeuten, ist völlig unklar; insbesondere offenbart der Verhaltenskodex nicht, welche Forschungen er für „ethisch vertretbar“ hält, wem Forschende für ihr Tun Rechenschaft ablegen sollen, und nach welchen Maßstäben. Diese Unklarheiten sind für weiches Recht keineswegs ungewöhnlich, ja eher sind sie sogar die Regel, und das scha­ det auch nicht, eben weil weiches Recht nicht mit Zwang durchsetzbar ist. In diesem Sinn betont auch der Verhaltenskodex selbst, dass seine Einhaltung frei­ willig ist.113 Zugleich drückt er jedoch die Erwartung aus, die Mitgliedstaaten sollten sich von den Grundsätzen des Verhaltenskodex bei der Regulierung der Nano-Forschung „leiten lassen“.114 Folgt ein Mitgliedstaat dieser Erwartung, erlangt der – unverbindliche – Kodex der Kommission doch rechtliche Bedeu­ tung. Denn der Staat kann die weichen Empfehlungen dieses Kodex in hartes Recht transformieren und z.B. zwangsweise durchsetzbare Verhaltens- und Re­ chenschaftspflichten für Forschende formulieren. Um der Wissenschaftsfrei­ heit zu genügen, müssten solche Pflichten dann allerdings deutlich konkreter gefasst werden als im Kodex und zudem durch gute Gründe gerechtfertigt und verhältnismäßig sein, was nicht leicht zu erreichen ist. Werden deshalb – wie derzeit in Österreich – keine solchen Pflichten normiert, bleibt der Kodex ei­ ne bloße Empfehlung, die Wissenschaftler aber immerhin veranlassen kann, die Folgen ihrer Nano-Forschungen zu reflektieren. Weniger harmlos ist der Verhaltenskodex, soweit er sich nicht nur an Forschende und Mitgliedstaaten wendet, sondern ebenso an Forschungsförderungseinrichtungen: Ihnen emp­ fiehlt der Kodex unumwunden, näher bezeichnete Nano-Forschungen nicht zu finanzieren, darunter solche zu künstlichen Viren mit pathogenem Poten­zial oder zu Human Enhancement.115 Halten sich Fördereinrichtungen an diese Empfehlung, so hat das den Effekt, dass die verpönten Forschungen zwar nicht hart, d.h. mit Zwang verboten, aber doch – weich – ausgehungert werden und daher nicht oder nur vermindert stattfinden. Das kommt einem Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit bedenklich nahe. 111 Anhang 3.2. 112 Anhang 3.7. 113 Anhang 1. 114 Empfehlungen 1–9. 115 Anhang 4.1.15 und 4.1.16.

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Die Nanowissenschaften und -technologien sind nur ein Feld von vielen, das wegen seiner schwer einschätzbaren Folgen für regulierungsbedürftig ge­ halten wird. Als überaus gefährlich gilt ferner das Wissen, das die Militärfor­ schung generiert, beauftragt von verschiedensten Staaten, aber auch der In­ dustrie, ausgestattet mit beträchtlichen Mitteln und oft zudem verbunden mit vertraglichen Geheimhaltungspflichten. Um diesem gefährlichen Wissen und Schweigen entgegen zu wirken, appelliert das International Network of Engi­ neers and Scientists for Global Responsibility (INES) an Universitäten, sie mö­ gen sich in „Zivilklauseln“ verpflichten, nur Forschung zu betreiben, die nichtmilitärischen Zwecken dient.116 Dem folgen in Deutschland immer mehr Uni­ versitäten, und zwar abermals mit weichem Recht: Teils bekennen sie sich in ihren Präambeln empfehlungsgemäß zu ziviler Forschung;117 teils beschließen sie in sogenannten Friedensklauseln auch nur, dass die universitäre Forschung friedlichen Zwecken dienen soll118 – und hier beginnen bereits die Probleme, denn was heißt das: Eine Forschung „dient friedlichen Zwecken“? Bedenkt man, dass die Satzung der Vereinten Nationen zur Wiederherstellung des 116 International Appeal to the heads of universities and responsible academic bodies, abrufbar unter www.inesglobal.com/appeal.phtml, siehe auch www.inesglobal.com/campaignoutline-1.phtml (10. 2. 2017). 117 Verzeichnet unter www.zivilklausel.de/index.php/bestehende-zivilklauseln (10. 2. 2017); näher T. Nielebock u.a. (Hg.), Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium. Hochschu­ len zum Frieden verpflichtet, Baden-Baden 2012. Österreichische Universitäten sind in dieser Hinsicht zurückhaltender; soweit zu sehen, gibt es vergleichbare Bemühungen erst an der Universität für Bodenkultur, siehe die von der dortigen Ethik-Plattform beschlos­ sene „Ethik-Charta der Universität für Bodenkultur Wien“, abrufbar unter www.boku. ac.at/fileadmin/data/H01000/H10220/H10240/ethikplattform/BOKU_Ethik_Charta. pdf (10. 2. 2017). 118 Zum Unterschied zwischen Zivil- und Friedensklauseln E. Denninger, Zivilklausel und Wissenschaftsfreiheit des Grundgesetzes: Was ist möglich? und H. Burmester, Zivil- und Friedensklauseln in Deutschland: Ein Wachhund ohne Zähne? Beide in: T. Nielebock u.a. (FN 117) 82–85 bzw. 63  – 65. Die in der Ethik-Charta der Universität für Bodenkultur Wien beschlossenen „Zivilbindung“ legt sich zwischen Zivil- und Friedensklausel nicht fest. Sie bestimmt zunächst nur: „Forschung und Lehre an der BOKU sind friedlichen Zielen verpflichtet“, setzt dann aber fort: „Die Forschung, die Entwicklung und Optimie­ rung technischer und sozialer Systeme, oder die Veränderung biologischer Systeme, sind auf eine Verwendung für zivile Zwecke ausgerichtet.“ Zurückhaltender bestimmt wiede­ rum der Entwicklungsplan 2015, 23–24, dass das „Ziel der an der BOKU betriebenen Forschung […] die Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft [ist]. Forschungsprojekte für militärische Stellen zur Unterstützung kriegerischer Auseinandersetzungen liegen nicht im Fokus der BOKU.“

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Weltfriedens auch den Einsatz von Streitkräften erlaubt,119 müsste Forschung für militärische Zwecke mit einer Friedensklausel eigentlich vereinbar sein.120 Zivilklauseln sind insoweit klarer, doch auch sie lassen viele Fragen offen, z.B. ob von militärischen Einrichtungen überhaupt keine Forschungsgelder ange­ nommen werden dürfen, egal für welche Art von Forschung,121 ob militärische Forschung auch verpönt ist, wenn sie der Abrüstung dient,122 wie es um die Forschung an Basistechnologien (z.B. Körperscannern) steht, die auch für das Militär nutzbar gemacht werden, aber keineswegs nur für dieses,123 ob nach Antidoten gegen Nervengifte gesucht werden darf, die nicht nur militärisch, sondern ebenso zur Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft eingesetzt werden und die auch schon für Terroranschläge benutzt wurden,124 kurz ge­ sagt: Woran erkennt man zivile Forschung eigentlich und noch wichtiger: Wer entscheidet, was zivile Forschung ist? Regelmäßig bleiben diese und viele an­ dere Fragen in Zivil- und Friedensklauseln offen; ebenso regelmäßig fehlen an den Universitäten Umsetzungsmechanismen, d.h. es gibt weder Organe noch Verfahren, um diese Fragen verbindlich zu klären.125 Zwar müssen Forschende 119 Artikel 43 Satzung der Vereinten Nationen, BGBl. 1956/120 i.d.F. BGBl. III 2012/36. 120 Eine solche Argumentation hält z.B. E. Denninger (FN 118) 64–65 für denkbar. Den weiten Interpretationsspielraum von Friedensklauseln betont auch H. Burmester (FN 118) 84. Dass „reine Friedensklauseln durch Friedenskonzepte unterwandert wer­ den, die Kriege als legitimes Mittel der Politik ermöglichen“, befürchten auch S. Meisch, T. Nielebock, V. Harms, Zivilklauseln für Forschung, Lehre und Studium. Eine Einfüh­ rung. In: T. Nielebock u.a. (FN 117) 13. 121 Das nimmt z.B. H. Burmester (FN 118) 83 an; siehe demgegenüber – wenngleich ohne Bezug auf eine Zivilklausel – das Interview mit dem Genetiker J. Penninger, der vom Pen­ tagon erhebliche Summen für Brustkrebsforschung bezieht: B. Figl, „Das ist absolut nichts Unanständiges“. In: Wiener Zeitung vom 18. 7. 2014. 122 Dass eine zu eng formulierte Zivilklausel Friedensforschung „behindern oder gar ver­ hindern“ kann, zeigt J. Altmann, Forschung für den Unfrieden: Wer betreibt wo Rüstungs­ forschung in Deutschland? Mit Gedanken zur Zivilklausel. In: T. Nielebock u.a. (FN 117) 121–124. 123 R. Ammicht Quinn, M. Nagenborg, Wissen, was man tut – Ethische Perspektiven auf Fra­ gen ziviler Sicherheit und auf die Sicherheitsforschung in Deutschland. In: T. Nielebock u.a. (FN 117) 258–259. 124 Siehe einerseits D. Christen, Die Tübinger Zivilklausel: Eine Herausforderung für die Na­ turwissenschaften. In: T. Nielebock u.a. (FN 117) 309–311, andererseits die Bundestags­ abgeordnete H. Hänsel in einer Podiumsdiskussion, wiedergegeben bei U. Pfeil, Kontrol­ lieren oder (nur) sensibilisieren? – Eine Podiumsdiskussion über die Umsetzung der Tübinger Zivilklausel (31. Januar 2012). In: T. Nielebock u.a. (FN 117) 317. 125 Siehe E. Denninger (FN 118) 75, nach dem bei Friedens- und bei Zivilklauseln „mit hart­ näckigen Streitigkeiten“ darüber zu rechnen ist, ob ein konkretes Forschungsprojekt mit

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ihre Projekte der Universität anzeigen und dabei eine allfällige Nutzung für militärische Zwecke offenlegen;126 doch für die Administration ist im Vorhin­ ein oft nicht erkennbar, wem und welchen Zwecken ein Projekt dient.127 Selbst erkennbar zweifelhafte Projekte werden meist nicht untersagt. Vereinzelt ver­ weigern Universitäten für sie administrative Hilfestellungen;128 häufiger finden über diese Projekte bloß universitätsöffentliche Debatten statt, die Forschende für den möglichen Missbrauch von Wissenschaft sensibilisieren,129 aber auch zur Folge haben können, dass diese Forschungsvorhaben „verbrannt“, also dis­ kreditiert sind.130 Wirkungslos sind solche Klauseln also nicht, denn ehe je­ mand ein heikles Forschungsprojekt übernimmt, wird er sich gut überlegen, ob er dafür all die Diskussionen und Belehrungen auf sich nehmen will. Die rechtliche Beurteilung dieser Friedens- oder Zivilklauseln kann nicht pauschal erfolgen; sie hängt vielmehr von den Konsequenzen ab, die die Nichteinhaltung einer Klausel jeweils hat. Setzt die Universität klauselwidri­ gen Projekten Hindernisse entgegen, die einem Forschungsverbot nahekom­ men – etwa indem sie zeitaufwendige und mühselige, den Forschungsbeginn stark verzögernde administrative Hürden errichtet und das Projekt und mit ihm womöglich auch den Forscher öffentlich brandmarkt –, wäre eine solche Klausel als Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit zu qualifizieren. Ihre Zulässig­ keit wäre dann aus vielen Gründen zweifelhaft: Zunächst wäre gegen eine sol­ che Klausel einzuwenden, dass ihr die demokratische Legitimation fehlt. Die Frage, was und zu welchen Zwecken es erforscht werden darf, geht nämlich der Klausel vereinbar ist, weshalb derartige Klauseln ohne ein Streichschichtungsverfah­ ren wenig sinnvoll seien. Dass solche Umsetzungsmechanismen an deutschen Universitä­ ten indes meist fehlen, zeigt H. Burmester (FN 118) 93, 99–110. 126 Siehe z.B. für die TU Berlin W. Neef, Zur Bedeutung und Ausgestaltung von Zivilklauseln – das Beispiel TU Berlin. In: T. Nielebock u.a. (FN 117) 333. 127 So der Prorektor für Forschungsangelegenheiten an der Universität Tübingen, H. Müther, in einer Podiumsdiskussion, wiedergegeben bei U. Pfeil (FN 124) 319: „Im Zweifelsfall kann ich das nicht beurteilen.“ 128 Die TU Berlin beschränkt sich z.B. darauf, bei rüstungsrelevanten Forschungsprojekten die Verwaltung der Mittel abzulehnen, siehe W. Neef (FN 126) 332, 339–340. 129 Dies hält z.B. H. Müther sogar für wichtiger als die Beaufsichtigung der Forschung, wie­ dergegeben bei U. Pfeil (FN 124) 321. 130 So berichtet etwa W. Neef in einer Podiumsdiskussion, wiedergegeben bei U. Pfeil (FN  124) 319: „solche Projekte sind dann verbrannt“; zur Notwendigkeit öffentlicher Debatten ferner W. Neef (FN 126) 331–332, 340 sowie T. Nielebock, Zur Ausgestaltung einer Zivilklausel: Anregungen aus den Tübinger Vorträgen und Debatten. In: T. Nielebock u.a. (FN 117) 338, der in der Etablierung eines Diskurs-Rahmens den zentralen Effekt der Zivilklauseln sieht.

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keineswegs nur Universitätslehrer und ihre Studierenden etwas an; sie betrifft die gesamte Gesellschaft. Diese findet sich in den universitären Gremien, die solche Klauseln beschließen, aber gerade nicht repräsentiert. Der einzige Ort, an dem die Interessen der ganzen Bevölkerung vertreten sind, ist das Parla­ ment. Der österreichische Gesetzgeber hat bisher jedoch weder die Militärfor­ schung untersagt noch die Forschung auf zivile Zwecke beschränkt. Ein derart schwer wiegender Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit ließe sich auch kaum rechtfertigen: Ein verfassungsrangiges Rechtsgut, das solche Forschungsver­ bote gebietet, ist in Österreich jedenfalls nicht in Sicht. Selbst wenn man als Rechtfertigungsgrund das Ziel genügen ließe, die – bei nichtziviler Forschung oft vereinbarte – Geheimhaltung von Forschungsergebnissen zu verhindern, wäre ein solcher Eingriff unverhältnismäßig. Denn dieses Ziel lässt sich mit Publikationsgeboten weit schonender und treffsicherer erreichen, sodass ein Forschungsverbot jedenfalls überschießend wäre. Umso mehr trifft das Ver­ dikt der Verfassungswidrigkeit ein Forschungsverbot, das im Gewand einer Zivil- oder Friedensklausel von einer Universität ohne gesetzliche Ermächti­ gung erlassen wird und das zu allem Überfluss auch noch vage formuliert ist. Ganz anders liegen die Dinge, wenn eine Zivil- oder Friedensklausel tat­ sächlich weich ausgestaltet ist, sich in ihrer Wirkung also darauf beschränkt, bei Wissenschaftlern eine kritische Reflexion über die Folgen ihres Tuns an­ zustoßen. Dann entfallen die geschilderten verfassungsrechtlichen Anforde­ rungen, und manche Schwäche der Klausel kann zu einer Stärke werden: So schaden etwa vage Formulierungen nicht, im Gegenteil. Eine weitläufig tex­ tierte Klausel ermöglicht gerade, dass die Forschenden unvoreingenommen in einen offenen Diskurs eintreten, der sie für Probleme sensibilisiert und damit letztlich jedem Einzelnen hilft, nach seinem eigenen Gewissen – also frei von äuße­rem Druck – zu entscheiden, an welchen Forschungsprojekten er teil­ nimmt. Soweit Friedens- oder Zivilklauseln nur einen solchen Besinnungspro­ zess einleiten und begleiten, mag man über sie politisch streiten; rechtlich ist gegen sie nichts einzuwenden. 3.3. Privates Recht Die Welt der Wissenschaft wird schließlich von privaten Akteuren reguliert, die von vornherein nicht an die Grundrechte gebunden sind und daher viel mehr Spielraum haben als der Staat. Die Regeln, die sie erlassen, sind gleich­ sam das Gegenmodell zu hartem staatlichen Recht: Sie lassen sich rasch erzeu­ gen und ebenso schnell an Neuerungen anpassen, weil ihre Regelsetzung viel

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weniger förmlich verläuft als bei hartem Recht. Zudem können diese Regeln über die Staatsgrenzen hinaus wirken, allenfalls sogar weltweit Autorität bean­ spruchen. Zugleich fehlt privaten Regeln freilich auch die demokratische Legi­ timation, und sie müssen weder klar noch gut begründet noch verhältnismäßig sein. Das alles schadet nicht, denn privates Recht ist nicht mit Zwang durch­ setzbar. Anders als weiches Recht kann es zwar auch nicht auf die schlichte Autorität des staatlichen Regelsetzers bauen. Wirksam ist privates Recht den­ noch, vorausgesetzt der Regelsetzer verfügt über Ressourcen, auf die die Ad­ ressaten seiner Regeln angewiesen sind. Derart machtvolle Private treten in der Welt der Wissenschaft in großer Zahl auf: private Förderungseinrichtun­ gen, die Forschungsgelder vergeben; Verlage, die Publikationsmöglichkeiten eröffnen, und die Scientific Community, die Reputation verteilt; dazu kom­ men Standesvertretungen medizinischer Berufe und die Pharmaindustrie.131 Sie alle erlassen beherzt Regelungen, um gefährliche Forschung, gefährliches Wissen, gefährliches Schweigen und unfaire Forschungspraktiken abzustellen. Soweit privates Recht gefährliche Forschung reguliert, bestellt es ein Feld, das oft auch durch hartes Recht geregelt ist. So kann sich der Staat die Vorzüge privater Regeln zunutze machen, indem er sie – sofern sie sich bewähren – in hartes Recht überführt. Er lässt private Regelsetzer dann gleichsam vorarbei­ ten, schließt sich ihren grenzüberschreitend wirksamen Normen an und macht sie damit im Staatsgebiet zwangsweise durchsetzbar, sodass sich die Vorteile beider Normsorten verbinden. Freilich muss der Staat bei diesem Transforma­ tionsprozess auch alle Nachteile privater Regeln beseitigen. Ein Beispiel für eine solche Kooperation zwischen privatem und hartem Recht ist die Helsinki-Deklaration.132 Sie wurde 1964 von der Weltärzte­ vereinigung auf einem Kongress in Helsinki beschlossen, enthält „Ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen“ und versucht, 131 Zahlreiche Beispiele für Standesregeln der Pharma- und Medizinprodukteindustrie nennt B. Rütsche, Das Recht der biomedizinischen Forschung am Menschen: Nationales Recht im Spiegel internationaler Prinzipien. In: Medizinrecht (2014), 31–32. Hier relevante Verlags­ richtlinien hat z.B. das International Committee of Medical Journal Editors (ICMJE) erlassen; danach werden Publikationen nur ermöglicht, wenn Studienautoren ihre Inter­ essenbindungen offenlegen (Sponsorship, Authorship, and Accountability 2001/2007, www. icmje.org/news-and-editorials [10. 2. 2017]) bzw. wenn Forschungsprojekte von Anfang an in internationalen, öffentlich zugänglichen Registern verzeichnet sind (Clinical Trials Registration [Editorial] 2004 mit ergänzenden Erklärungen 2004, 2005, 2007 und 2008, abrufbar unter www.icmje.org/news-and-editorials [10. 2. 2017]). 132 Zur Entstehung, Entwicklung und Inhalt dieser Deklaration z.B. H.-J. Ehni, Y. Wiesing (Hg.), Die Deklaration von Helsinki. Revisionen und Kontroversen, Köln 2012.

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Gefahren abzuwehren, die für Menschen unmittelbar bei der Forschung ent­ stehen. Diese Deklaration wird laufend überarbeitet und auf den Jahrestagun­ gen der Weltärztevereinigung neu beschlossen, zuletzt 2013 in Brasilien.133 Die Helsinki-Deklaration wurde zwar nur von einem privaten Verein – der Weltärzte­vereinigung – erlassen und ist daher unverbindlich. In der medizini­ schen Forschung genießt sie aber höchstes Ansehen.134 Wie weiches Recht und private Regelungen auch sonst, ist sie allerdings streckenweise unklar bzw. wi­ dersprüchlich formuliert.135 Zudem fehlt ihr die demokratische Legitimation, stellen hier doch – ähnlich wie bei universitären Friedens- oder Zivilklauseln – Wissenschaftler Regelungen auf, die keineswegs nur die Scientific Commu­ nity betreffen, sondern ebenso die Allgemeinheit, insbesondere die Probanden, die in der Weltärztevereinigung gerade nicht repräsentiert sind. Dennoch ist diese Deklaration auf vielen Kanälen in die österreichische Rechtsordnung eingesickert: Zunächst haben Gesetze und universitäre Sat­ zungen Ethikkommissionen ermächtigt, Forschung auf ihre „ethische Vertret­ barkeit“ zu prüfen, ohne anzugeben, welche Ethik dabei gemeint ist.136 Das veranlasste die – auch mit Medizinern besetzten – Kommissionen, ihre Ethik­ prüfung an der Deklaration von Helsinki auszurichten.137 In der Zwischenzeit ist die Helsinki-Deklaration in der Vollziehung so fest verankert, dass recht­ liche Normen bereits explizit auf sie verweisen, zuerst eine Richtlinie der EU, nach der klinische Prüfungen „gemäß den ethischen Grundsätzen der ‚Dekla­ 133 Die aktuelle Version ist abrufbar unter www.wma.net/en/20activities/10ethics/10helsin ki/DoH-Oct2013-JAMA.pdf (13. 1. 2017, englisch) bzw. www.bundesaerztekammer.de/ fileadmin/user_upload/Deklaration_von_Helsinki_2013_DE.pdf (13. 1. 2017, deutsch). 134 Y. Wiesing, H.-J. Ehni, Die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes – Ethische Grundsätze für die Forschung am Menschen. In: C. Lenk, G. Duttge, H. Fangerau (Hg.), Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen, Berlin/Heidelberg 2014, 518. 135 Beispiele bei M. Pöschl (FN 43). 136 Zahlreiche Beispiele für solche Gesetze nennt I. Eisenberger (FN  12) 206–210; siehe überdies §  3 Absatz  1 Satzungsteil Ethikkommissionen der Universität Graz, wonach „Alle Forschungsarbeiten am Menschen oder an Tieren, die von Angehörigen der Univer­ sität oder an Einrichtungen der Universität durchgeführt werden, […] auf ihre ethische Vertretbarkeit zu prüfen [sind]“. 137 Manche Ethikkommissionen machen das auch explizit, siehe z.B. § 2 Absatz 1 Geschäfts­ ordnung für die Ethikkommission der Medizinischen Universität Graz, Mitteilungsblatt der Medizinischen Universität Graz vom 13. 4. 2004, 29. Stück in der Fassung des Mit­ teilungsblattes vom 2. 6. 2010, 23. Stück, Nr. 149, wonach die Ethikprüfung u.a. „unter Beachtung der Grundsätze, die in der Deklaration von Helsinki niedergelegt sind“ er­ folgt.

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ration von Helsinki‘ […] durchgeführt“ werden müssen.138 Seit einigen Jahren bestimmt auch ein staatliches Gesetz, dass u.a. bei klinischen Prüfungen von Medizinprodukten „die ethischen Prinzipien […] der Deklaration von Helsin­ ki […] zu beachten“ sind.139 Mit solchen Verweisen macht die Gesetzgebung die Deklaration zu hartem Recht, denn wer die Deklaration verletzt, verletzt auch das Gesetz und muss daher mit zwangsweise durchsetzbaren Sanktio­ nen rechnen. Damit partizipiert die Deklaration am staatlichen Gewaltmo­ nopol; im Gegenzug muss sie allerdings den Anforderungen genügen, die die österreichische Verfassung an zwangsbewehrte Vorschriften stellt, d.h. sie muss klar formuliert sein und darf die Forschung nur aus gutem Grund und verhältnismäßig beschränken. Deklarations-Regeln, die diese Anforderungen nicht erfüllen, darf der Staat folglich nicht in hartes Recht transformieren. Hält er sich an diese Bedingungen, hat die Normkomposition aus Gesetz und De­ klaration Vorteile, die das staatliche Recht allein nicht zuwege gebracht hätte: Die in das nationale Recht übernommenen Regeln gelten für die medizinische Forschung weltweit, behindern also weder die grenzüberschreitende Forschung noch führen sie zu einem Brain-Drain. Zudem genießen diese Regeln bei den Normadressaten hohe Akzeptanz, weil sie ihnen nicht oktroyiert, sondern letzt­ lich von ihnen selbst erarbeitet wurden. Dabei müssen Normkooperationen wie diese nicht notwendig punktuell bleiben; sie können sogar in die Schaffung neuer Gesetze münden. So hat etwa die Schweiz ein Humanforschungsgesetz erlassen, das in großen Teilen sanftes und privates Forschungsrecht rezipiert.140 Zur Helsinki-Deklaration sind in der Zwischenzeit zahlreiche weitere Ka­ taloge von Internationalen Organisationen und Fachvereinigungen getreten, die teils für die medizinische Forschung, teils auch für andere Disziplinen ethische Standards festlegen.141 In der jüngeren Vergangenheit produziert die 138 Artikel  3 Richtlinie 2005/28/EG der Kommission vom 8. 4. 2005 zur Festlegung von Grundsätzen und ausführlichen Leitlinien der guten klinischen Praxis für zur Anwendung beim Menschen bestimmte Prüfpräparate sowie von Anforderungen für die Erteilung ei­ ner Genehmigung zur Herstellung oder Einfuhr solcher Produkte, ABl. L 2005 91/13. 139 § 41 Absatz 6 Medizinproduktegesetz (MPG), BGBl. 1996/657 i.d.F. BGBl. I 2014/32. 140 Näher B. Rütsche (FN 131) 34–36; zu diesem Gesetz im Einzelnen B. Rütsche (Hg.), Humanforschungsgesetz (HFG), Bern 2015. 141 Siehe für die medizinische Forschung die Nachweise bei C. Kopetzki, Kodifikation (FN 98) 63–64; für die nichtmedizinische Forschung z.B. die Berufsethischen Richtlinien des Be­ rufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. und der Deutschen Gesell­ schaft für Psychologie, Abschnitt 7 (http:www.bdp-verband.org/bdp/verband/clips/Be­ rufsethische Richtlinien_2016.pdf, 20. 9. 2017) oder den Verhaltenskodex der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Arbeit mit hochpathogenen Mikroorganismen und Toxinen

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Scientific Community zunehmend auch fächerübergreifende Empfehlungen für die Dual-Use-Forschung,142 d.h. für Forschung, die nicht nur zum Vorteil der Menschheit eingesetzt, sondern auch missbraucht werden kann. Parallel dazu erklären sich private Fördereinrichtungen und Verlage zunehmend nur mehr bereit, Forschungen zu finanzieren bzw. zu publizieren, die „ethisch unbedenklich“ sind. Damit regelt privates Recht neben gefährlichem For­ schen auch gefährliches Wissen und füllt so eine Lücke, die das harte Recht offen lässt und oft auch lassen muss, weil es die strengen Anforderungen der Wissenschaftsfreiheit in diesem Regulierungsfeld nur schwer erfüllen kann. Private Regelsetzer sind durch solche Anforderungen nicht gehemmt und kön­ nen daher unbekümmert Regeln erlassen, die demokratisch nicht legitimiert, vage und überschießend sind, die Forschung aber im Effekt gravierend be­ schränken und wirksam steuern: Denn Forschungen, die keine Aussicht auf Finanzierung und Publikation haben, werden vielfach unterbleiben. Privates Recht findet sich schließlich auch im Regulierungsfeld des un­ fairen Forschens, dort allerdings in bunter Konkurrenz und Kooperation mit weichem und mit hartem Recht. Alle drei Normsorten produzieren Regeln guter wissenschaftlicher Praxis. Sie sind eine Art Standesordnung, die die Re­ putationsverteilung innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft regelt und wettbewerbsverzerrende Forschungspraktiken abstellen soll, also ein Problem, das – anders als die Frage, was mit welchen Methoden und zu welchen Zwe­ cken erforscht wird – nun wirklich primär die Scientific Community betrifft. Daher muss auch sie diese Standesordnung festlegen, allein: Es fehlt ein Or­ gan, das solche Regeln für die gesamte Community erlassen könnte. Die wis­ senschaftliche Gemeinschaft hat jedoch Wege gefunden, dieses Kompetenz­ problem zu bewältigen. Die Bemühungen dazu setzten vor etwa 15 Jahren ein, als die (damalige) Rektorenkonferenz eine Richtlinie erließ, die den Universi­ täten – weich, weil unverbindlich – auftrug, Regeln guter wissenschaftlicher Praxis zu erlassen.143 Das setzte einen Regulierungsprozess in Gang, an dessen (www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellungnahmen/2013/130313_verhal­ tenscodex_dual_use.pdf, 20. 9. 2016), zu diesem näher H. C. Wilms, Die Unverbindlich­ keit der Verantwortung, Berlin 2015, 60 ff. 142 Z.B. Deutsche Forschungsgemeinschaft/Leopoldina, Wissenschaftsfreiheit und Wis­ sen­ schafts­­verantwortung. Empfehlungen zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung, 2014; Max Planck-Gesellschaft (FN 17). 143 Richtlinien der Österreichischen Rektorenkonferenz zur Sicherung einer guten wissen­ schaftlichen Praxis, abrufbar unter www.sbg.ac.at/aff/recht/documente/par27/RichtlOe­ sterrRektorenkonferenz.pdf (13. 1. 2017).

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Ende jede Universität ihren eigenen Regelkodex hatte – manche verbindlich, manche nur in Form von Empfehlungen.144 Diese Regelwerke waren aller­ dings von sehr unterschiedlicher legistischer Qualität und wichen auch inhalt­ lich voneinander ab; manche ließen zudem bedeutende Fragen offen – etwa, welche Daten aufzubewahren sind und wie lange, ob ein Selbstplagiat verbo­ ten ist, was Autorenschaft stiftet, ob wissenschaftliches Fehlverhalten Vorsatz voraussetzt oder ob leichte Fahrlässigkeit genügt.145 Um diese Probleme zu beseitigen, gründeten öffentliche Universitäten, staatliche Fördereinrichtungen und private Forschungseinrichtungen einen Verein, die Agentur für wissenschaftliche Integrität,146 die ihrerseits Regeln guter wissenschaftlicher Praxis erließ. Aus pragmatischen Gründen übernahm diese Agentur zunächst den Regelkatalog der Universität Wien;147 zugleich setzte sie eine Kommission ein, die Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens prüft und dazu Stellung nimmt. 2015 erließ die Agentur sodann einen eigenen Regelkatalog,148 der nun schrittweise an den Universitäten implementiert wer­ den soll,149 was durchaus sinnvoll ist. Denn dieser Katalog ist nicht nur legis­ tisch gelungen, er schafft auch einheitliche Regeln für die ganze Forschungs­ landschaft und klärt zudem viele offene Fragen.150 Für einige Punkte verweist er allerdings bloß auf die jeweilige Fachdisziplin: Wie lange z.B. Daten aufzu­ bewahren sind, ob fünf Jahre, zehn Jahre oder länger, soll nach dem Agentur144 Siehe im Einzelnen M. Pöschl (FN 31) 615–616. 145 M.w.N. M. Pöschl (FN 31) 624–627. 146 www.oeawi.at/ (13. 1. 2017). 147 http://www.oeawi.at/downloads/Richtlinien_zur_Untersuchung_von_Vorwuerfen_ wis­ssenschaftlichen_Fehlverhaltens.pdf (13. 1. 2017). 148 www.oeawi.at/downloads/GWP-Richtlinien Web.pdf (13. 1. 2017). 149 In diesem Sinn hält die Kommission für wissenschaftliche Integrität bereits im Jahresbe­ richt 2014, 8, und im Jahresbericht 2015, 5 (beide abrufbar unter www.oeawi.at/de/links. asp, 13. 1. 2017) fest, dass die Mitglieder der Agentur „angehalten [sind], diese Richt­ linien an ihren Institutionen entsprechend zu implementieren“. Im Jahresbericht 2015, 2, kündigt die Kommission außerdem an, sie werde im Jahr 2016 „zusammen mit den Mitgliedsorganisationen […] über Wege nachdenken, wie die Richtlinien effektiv in den Alltag der Mitgliedsorganisationen implementiert werden können.“ 150 Insbesondere stellt der Regelkatalog klar, dass Selbstplagiate zu unterlassen sind, indem er die erneute Publikation eigener Texte ohne Hinweis auf die frühere Publikation untersagt (§ 2 Absatz 1 Ziffer 3). Der Katalog regelt auch näher, was Autorenschaft stiftet (§ 2 Ab­ satz 1 Ziffer 4), und legt fest, dass Mitautor/inn/en für Publikationen eine „gemeinsame Verantwortung“ tragen (§ 2 Absatz 1 Ziffer 5) und dass ein wissenschaftliches Fehlver­ halten nur vorliegt, wenn „vorsätzlich, wissentlich oder grob fahrlässig gegen Standards Guter Wissenschaftlicher Praxis (§ 2) verstoßen wird“ (§ 3 Absatz 1).

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Katalog von Fach zu Fach nach den jeweiligen Erfordernissen festgelegt wer­ den.151 Diese Regelungstechnik ist klug, denn in der Tat beruhte manche Di­ vergenz zwischen den universitären Katalogen letztlich auf unterschiedlichen Gepflogenheiten in den einzelnen Fächern, von denen sich manche an dieser und andere an jener Universität durchgesetzt hatten. Erkennbar braucht die Scientific Community also einen gemeinsamen Grundstock an Regeln guter wissenschaftlicher Praxis, der dann aber im Detail fachspezifisch ausdifferen­ ziert werden muss. Auch dieser Differenzierungsprozess ist bereits im Gang, und er kann aber­ mals nicht an den Universitäten stattfinden, sondern nur in den Fachvereini­ gungen, die schon munter Regelkataloge erlassen, und zwar grenzüberschrei­ tend, weil Fachvertreter sich meist in internationalen Vereinigungen zusam­ menschließen.152 Dieser aufwendige Prozess, in dem zahllose selbsternannte Regelsetzer zusammenwirken, wird wohl irgendwann in einen Katalog mün­ den, der der Scientific Community brauchbare und ausreichend differenzier­ te Regeln guter wissenschaftlicher Praxis gibt, die von ihr akzeptiert werden und die sie grenzüberschreitend verbinden. Auf eine zwangsweise Durchset­ zung sind solche Regeln nicht angewiesen; die Scientific Community kann ihre Befolgung auch selbst sicherstellen, indem sie Regelverstöße – wie dies an den Universitäten und in der Agentur für wissenschaftliche Integrität bereits geschieht – institutionell feststellt und damit den betroffenen Forschern die Reputation entzieht. Flankierend wirken auch Förderer und Verlage mit ih­ ren je eigenen Steuerungsressourcen an der Durchsetzung dieser Regeln mit, indem sie Forschungen, die durch wissenschaftliches Fehlverhalten belastet sind, nicht finanzieren bzw. publizieren. Der Staat kann sich in diese Reihe einstellen und seinerseits an diese Regeln anknüpfen, etwa indem er bestimmt, dass es zu den Dienstpflichten eines Forschers gehört, die im jeweiligen Fach anerkannten Regeln guter wissenschaftlicher Praxis zu befolgen; untaugliche Regeln müsste der Staat dabei allerdings herausfiltern: An die Übertretung unklarer, die Forschungsfreiheit ohne guten Grund oder unverhältnismäßig beschränkender Regeln darf der Staat folglich keine zwangsbewehrten Sank­ tionen knüpfen.

151 § 2 Absatz 1 Ziffer 1 152 Siehe exemplarisch die Regeln der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer: www. vdstrl.de/gute-wissenschaftliche-praxis/ (13. 1. 2017) und die noch differenzierteren Re­ geln der deutschen Zivilrechtslehrer www.zlv-info.de/index.php?id=160 (13. 1. 2017).

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3.4. Wissenschaftliche Sitte Geheimnisvoll, faszinierend, aber auch gefährlich ist eine vierte Normsorte, die noch kurz anzusprechen ist: die wissenschaftliche Sitte, verstanden als Regeln, die in einer Fachdisziplin gelten und die – anders als das harte, das weiche und das private Recht – nicht aufgeschrieben werden, „weil man das einfach weiß“. Sie steuern leise, aber gerade deshalb so wirkungsvoll, was in dieser wissen­ schaftlichen Gemeinschaft passiert, welchen Themen man sich lieber nicht zu­ wendet, welche Methoden man besser vermeidet, an welchen Personen man nicht anstreift, welche Thesen man nicht vertritt, „weil man das einfach nicht tut“. Wer diese Regeln übertritt, muss mit schweren Sanktionen rechnen: Er verlässt die Gemeinschaft bzw. wird von ihr verstoßen. Erzeugt wird dieses Ge­ heimrecht nicht demokratisch; es wird in stiller Übereinstimmung von jenen Fachvertretern festgelegt, die in der jeweiligen Community den Ton und Takt angeben. Da diese Regeln ungeschrieben sind, können sie Probleme bewältigen, die sich weder mit hartem noch mit weichem noch mit privatem Recht lösen las­ sen: Die wissenschaftliche Sitte ist in der Lage, Forschungen zu unterbinden, die man nicht ausdrücklich verbieten kann, weil das kontraproduktiv wäre und die Verfechter dieser Forschungen eher stärken als schwächen würde. Auf diese Weise könnte eine wissenschaftliche Gemeinschaft z.B. Forscher daran hindern, Theorien aufzustellen, die den Zusammenhang von „Rasse“ und Intelligenz erweisen wollen und damit ein – sonst kaum lösbares – Pro­ blem gefährlichen Wissens unterbinden.153 Das klingt prima vista gut, doch sollte man auch die Kehrseite sehen: Regeln wie diese eignen sich nicht nur für hehre Ziele, sondern ebenso für verwerfliche – in gewisser Weise ist auch das ein Dual-Use-Problem. Um das zu sehen, braucht man nur ein paar Jahr­ zehnte zurückzugehen und sich daran zu erinnern, wie verpönt es etwa in der Staatsrechtslehre lange war zu erforschen, welche Rolle bedeutende amtierende Professoren im Nationalsozialismus und im Austrofaschismus gespielt haben: Darüber zu sprechen, galt als taktlos, es gehörte sich nicht, und es geschah auch nicht. Erst in den späten 1980er Jahren, als diese Generation abtrat, hat die Staatsrechtslehre begonnen, sich ihrer Vergangenheit zuzuwenden und sie wissenschaftlich aufzuarbeiten.154 153 Siehe oben bei und in FN 22. 154 Davy u.a. (Hg.), Nationalsozialismus und Recht. Rechtssetzung und Rechtswissenschaft in Österreich unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Wien 1990; H. Dreier und W. Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus. In: VVDStRL 60,

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Heute herrscht in der Staatsrechtslehre, jedenfalls in Österreich, ein anderer Ton, daher haben sich auch die Regeln geändert; so wäre es etwa verpönt, ei­ nen prononciert antieuropäischen oder antidemokratischen Kurs zu vertreten oder die Menschenrechte lächerlich zu machen. Doch auch dieser Konsens ist keineswegs in Stein gemeißelt. Wie die Geschichte ja gerade zeigt, neigt die Wissenschaft dazu, sich recht geschmeidig in die allgemeinen Zeitströmungen einzufügen – und ihre Sitte dann eben an die neuen Gegebenheiten anzupas­ sen. Ob es uns gefällt oder nicht: Forschende sind auch nicht moralischer als andere Menschen. Die Beobachtung der Staatsrechtslehre lässt die Vermutung zu, dass es ei­ ne wissenschaftliche Sitte, also ungeschriebene Regeln, die man einfach weiß und bei deren Missachtung man sich außerhalb der Gemeinschaft stellt, auch in anderen Fächern gibt. Die geschilderten Beispiele zeigen, dass solche Regeln sehr wirksam sein, aber auch wichtige Forschungen tabuisieren können. Ihre größte Stärke ist zugleich ihr gravierendstes Problem: Sie sind ungeschrieben und entziehen sich damit der Diskussion. Das läuft der Wissenschaft mehr zu­ wider als alle Schwächen, die an den anderen Normsorten festzustellen waren.

4. Fazit Die Wissenschaft ist eine Welt für sich, entsprechend eigenwillig verläuft auch ihre Regulierung, zu der vielfältiger Anlass besteht: Forschung kann zunächst für Probanden, Tiere oder die Umwelt unmittelbar gefährlich sein. Sodann ge­ neriert sie Wissen, das falsch verwendet, Schaden für die Menschheit anrichten kann. Ebenso gefährlich kann es für die Allgemeinheit sein, wenn Forschungs­ ergebnisse geheim gehalten werden. Primär der Scientific Community wieder­ um schaden unfaire Forschungspraktiken, die sich in letzter Zeit mehren. Die Regulierung dieser vier Problemfelder stößt teils auf faktische Schwie­ rigkeiten, teils an rechtliche Grenzen, teils kämpft sie auch an beiden Fronten und setzt je nach dem auf verschiedene Normsorten, oft auch auf mehrere zu­ Berlin/New York (2001), 9–72 und 73–147; F.-S. Meissel u.a. (Hg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht: zur Geschichte der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1938 und 1945, Wien 2012; Th. Olechowski, T. Ehs, K. Staudigl-Ciechowicz (Hg.), Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918 –1938, Göttingen 2014; zu den „dunklen Vermächtnissen des Nationalsozialismus und Faschismus“ ferner C. Joerges, N. Singh Ghaleigh, Darker Legacies of Law in Europe. The Shadow of National Socialism and Fascism over Europe and its Legal Traditions, Oxford/Portland, 2003.

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gleich: auf hartes Recht, das mit Zwang durchsetzbar ist, dafür aber hohen Anforderungen entsprechen muss; auf weiches Recht, das diesen Anforderun­ gen nicht genügen, sich dafür aber damit bescheiden muss, die Normadressa­ ten durch Autorität zu überzeugen. Auch privates Recht ist nicht an strenge Anforderungen gebunden, ahndet Regelverstöße allerdings sehr effektiv mit der Verweigerung von Förderungen, Publikationsmöglichkeiten oder Reputa­ tion. Wenn keine dieser Normsorten weiterhilft, greift manchmal noch die wissenschaftliche Sitte, ein Geheimrecht, dessen Missachtung zum Ausschluss aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft führt. Vergleichsweise leicht fällt die Regulierung gefährlicher Forschung. Sie kann zwar im Einklang mit der Wissenschaftsfreiheit durch hartes staatliches Recht erfolgen; es greift jedoch angesichts der global agierenden Wissenschaft vielfach zu kurz. Dieses Problem ist lösbar, wenn hartes Recht mit privatem Recht kooperiert, wenn der Staat also private Regelsetzer vorarbeiten lässt und ihre Forschungsnormen in hartes Recht transformiert, soweit sie klar genug, durch gute Gründe gerechtfertigt und verhältnismäßig sind. Diese Trans­ formation ist für beide Seiten ein Gewinn: Die solcherart erzeugten Regeln sind in der Wissenschaft grenzüberschreitend akzeptiert, sie sind zwangsweise durchsetzbar und weisen dann auch jene demokratische Legitimation auf, die ihnen zuvor fehlte, weil der private Regelsetzer nicht die Gesamtgesellschaft repräsentiert. Wesentlich schwerer zu regulieren ist gefährliches Wissen, das die DualUse-Forschung generiert. Denn die Chancen und Risiken dieser Forschun­ gen sind schwer vorherzusehen und werden zudem ethisch kontrovers bewer­ tet. Das erschwert die Regulierung durch hartes Recht, weil die Fakten- und Wertungslage für harte Verbote meist zu unsicher ist. Dementsprechend fin­ det sich hier vorwiegend weiches Recht, das Forschenden eine Reflexion über die Folgen ihres Tuns empfiehlt, manchmal aber auch in bedenklicher Weise weiter geht und bestimmte Forschungen diskreditiert oder ihre Finanzierung erschwert. Noch intensiver wirkt privates Recht, das von Fördereinrichtungen und Verlagen gesetzt wird und als „unethisch“ qualifizierter Forschung kur­ zerhand die Finanzierung und Publikation versagt. Gefährlichem Schweigen der Wissenschaft ist mit solchen Mitteln nicht beizukommen, denn Forschungsergebnisse, die im Interesse des Auftraggebers geheim gehalten werden, sind bereits finanziert und wollen gerade nicht pub­ liziert werden, sodass die Steuerungsressourcen von Fördereinrichtungen und Verlagen hier versagen. Weiches Recht kann immerhin die Publikation von Forschungsergebnissen empfehlen; sie durch hartes Recht auch zu erzwingen,

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ist kaum möglich und politisch auch nicht ohne weiteres erwünscht, entweder, weil der Staat (im Fall der Militärforschung) an der Geheimhaltung selbst in­ teressiert ist oder weil er Geldgeber nicht demotivieren will. Kompliziert zu erzeugen sind schließlich Regeln, die unfairem Forschen entgegenwirken. Der Gesetzgeber darf sie nicht erlassen, weil sie ein wissen­ schaftsinternes Problem betreffen, das nur die Scientific Community selbst lösen kann. Da ihr ein einheitlicher Normsetzer fehlt, muss sie die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis durch die Schwarmintelligenz aller Teilorga­ nisationen erzeugen; dazu gehören mit öffentlichen Universitäten staatliche Regelsetzer ebenso wie private Fachvereinigungen und schließlich Hybride, die aus staatlichen und privaten Forschungseinrichtungen bestehen. Sie alle haben im letzten Jahrzehnt je eigene Regelkataloge erlassen, die derzeit in ei­ nem komplizierten Prozess aufeinander abgestimmt werden; wenn das gelingt, kann ein Regelkatalog entstehen, der die wissenschaftliche Gemeinschaft in­ stitutionen- und grenzüberschreitend verbindet. Die Befolgung dieser Regeln stellt die Scientific Community schon jetzt sicher, indem sie Regelverstöße mit Reputationsverlusten bedroht, die ihrerseits den Verlust von Förderungen und Publikationsmöglichkeiten zur Folge haben können. Erklärt der Staat die Befolgung dieser Regeln zur Dienstpflicht, werden sie zusätzlich zwangsweise durchsetzbar. Lässt man die Fülle dieser Probleme und Regelungstechniken Revue pas­ siert, wird eines klar: Im Zweifel wären wenige, klare, gut begründete und maßhaltende Normen von einem demokratisch legitimierten Normsetzer bes­ ser als viele vage, divergierende, überschießende Normen von selbsternannten Regelsetzern ohne demokratische Legitimation. Durch eine kluge Koopera­ tion von Normsorten können wir uns diesem Zustand nähern, doch sollten wir dabei eines nicht übersehen: Die Regulierung der Forschung passt sich ih­ rem Gegenstand an; sie ist ein weltweites Versuchslabor und ein aufregendes, manchmal auch gefährliches Experimentierfeld.

Autorenverzeichnis

Univ.Prof. Dr. Karl Acham Institut für Soziologie, Universität Graz, Universitätsstr. 15/ G4, 8010 Graz Univ.Prof. DDr. Matthias Beck Institut für Moraltheologie, Universität Wien, Schenkenstr. 8–10, 1010 Wien Univ.Prof. Dr. Wolfgang Gratzer Institut für Musikwissenschaft, Universität Mozarteum Salzburg, Mirabell­ platz 1, 5020 Salzburg Univ.Prof. Dr. Thomas Lindner Fachbereich Linguistik, Universität Salzburg, Erzabt-Klotz-Straße 1, 5020 Salzburg Univ.Prof. Dr. Magdalena Pöschl Institut für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Wien, Schottenbastei 10 –16,  1010 Wien Univ.Prof. Dr. Susanne Rau Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit, Universität Erfurt, D 99105 Erfurt Univ.Prof. Dr. Sabine Schindler UMIT - Private Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik, Eduard-Wallnöfer-Zentrum 1, 6060 Hall in Tirol

Anschrift der Herausgeber: Österreichische Forschungsgemeinschaft, Berggasse 25, 1090 Wien [email protected]

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