Simultaneität: Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten [1. Aufl.] 9783839422618

Handy, Internet und Co. - aus dem Diktat der Gleichzeitigkeit scheint es im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisie

168 109 426MB

German Pages 420 Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Simultaneität: Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten [1. Aufl.]
 9783839422618

Citation preview

Philipp Hubmann, Till Julian Huss (Hg.) Simultaneität

PHILIPP HuBMANN, TrLL JuLIAN Huss (He.)

Simultaneität Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten

[ transcript]

Das Projekt und die Publikation wurden ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung der Westfälischen Wilhelms-Universität und dem Freundeskreis der Kunstakademie Münster e.V. Die Herausgeber des Bandes bedanken sich bei der Kunstakademie Münster, insbesondere bei Frau Professor Dr. Claudia Blümle, für ihre große Unterstützung bei der Realisierung des Projekts. Ferner gilt unser Dank der Westfälischen Wilhelms-Universität und dem Freundeskreis der Kunstakademie Münster. Der Internationale, interdisziplinäre Arbeitskreis für philosophische Reflexion (IiAphR), insbesondere Dr. Frauke Kurbacher, Karin Koch und Susann Köppl haben das Projekt mit ihrem Engagement maßgeblich vorangebracht. Unseren Kooperationspartnern, dem Kulturamt der Stadt Münster und der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Kulturarbeit (GWK), danken wir für die Rückendeckung bei der Organisation der Lesung und der Ausstellung. Weitere Informationen zu dem Projekt finden Sie unter www.modelle-der-simultaneität.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Sielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Installation von Peter Schloss in der Ausstellung »Gleichzeitig« vom 0}-05.05.20I2 Lektorat & Satz: Philipp Hubmann, Till Julian Huss Druck: Majuskel Medienprodulction GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2261-4 Gedruclct auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung: Das Gleichzeitigkeits-Paradigma der Moderne Philipp Hubmann I Till Julian Huss I 9

BILDER Augenblick oder Gleichzeitigkeit. Zur Simultaneität im Bild Claudia Blümle I 37 Simultane Anordnungen. Emblematisches Wissen in der Frühen Neuzeit

Jameson Kismet Bell

I 57

Weltbildgebung. Kreation im Feld der Wissenschaft Claudia Niewels I 77

SOZIALES Multitasking. Zur Ökonomie der Spaltung Stefan Rieger I 91 Das Beste aus zwei Welten? Ludwik Fleck über den sozialen Ursprung wissenschaftlicher Kreativität Nicola Mößner 1111 Simultaneität. Zeitkonstruktion als Diskurs und Praxis Esther Scheurle 1133 Zentrifugalmacht. Figurationen politischer Zeit in den Modellen der Postdemokratie

Philipp Hubmann 1151

RAUM Schichtung, Überblendung, Collage. Formen und Bedeutungen architektonischer Simultaneität Anke Naujokat 11 71 Ungeheure Sammlungen. (Neo)Marxistische Positionen zur Kritik der Gleichzeitigkeit Johan Frederik Hmtle 1191 Wunderkammer Kohlenwäsche. Gleichzeitigkeit in Geschichts- und Kulturmuseen der Gegenwart Kertin Barndt I 2 13

LITERATUR Das »Durcheinander aller dieser Dinge«. Reizüberflutung und Simultaneität der Objekte im literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts Uta Schürmann I 229 Simultaneität und Literarizität. Zur ästhetischen Faktur literarischer Texte Christoph Kleinschmidt I 241 Versetzt, im Stich gelassen. Der große Zeh von Georges Bataille Georg Tscholl I 255 Textpraktiken der Gleichzeitigkeit. Layout und Zitat in Derridas »Circonfession« Johanna Schumm 1271

WAHRNEHMUNG Was also ist gleichzeitig? Allgemeinpsychologische Anmerkungen zur Wahrnehmung von Gleichzeitigkeit Ingrid Scharlau I Katharina Weiß I 293

Diastatische Subjektivität. Zur Phänomenologie der » Verschiedenzeitigkeit«

Frauke Kurbacher I Sebastian Schulze

I 315

VIRTUALITÄT Simulakrum und Technobild. Modelle der Gleichzeitigkeit bei Jean Baudrillard und Viiern Flusser

Rainer Guldin 1335 Produktive Pluralität. Mediale Eigenzeit in der Videokunst I 353

Till Julian Huss

Theater ohne leibliche Ko-Präsenz? Zur Simultaneität im postdramatischen Gegenwartstheater

Tim Zumhof 1371 Filmisch inszenierte Simultaneität als Mittel der Darstellung nichtlinearer Szenarios Andre Steiner 1381 Ausstellungsbesprechung: »Gleichzeitig«

Till Julian Huss 1401 Autorinnen und Autoren

I 409

Einleitung Das Gleichzeitigkeits-Paradigma der Moderne

PHILIPP HUBMANN, TILL JULIAN HUSS

Die Zeit scheint eine Größe zu sein, der eine beinahe schon naturhafte Selbstverständlichkeit zukommt. Vor einigen Jahrhunderten, so mutmaßt der Soziologe Nm·bert Elias, war die enge Verbindung zwischen dem Zyklus des Lebens und dem Zyklus der Natur noch deutlicher nachvollziehbar. Es gab Stufen der Kulturgeschichte, führt Elias aus, »in denen Menschen den Begriff >Schlaf< gebrauchten, wo wir von Nacht[ ... ], den Begriff> MondMonatErnte< oder >JahresertagJahr< reden würden.« 1 Antike Skulpturen und barocke Gemälde wie die Allegorie der vier Jahreszeiten (1 750) von Johann Georg Platzer (Abb. 1) vergegenwärtigen die zyklischen Vorstellungen einer Agrargesellschaft, deren Erntezeit den symbolischen Höhepunkt des Jahres markiert. Der Reigen aus der Allegorie des Frühlings, ausgestattet mit einem Zepter, den im Blumenmeer feiernden Allegorien des Sommers, dem bacchantischen Weingelage im Herbst und der die Leistung des Jahres messenden Inkarnation des Winters spiegeln eine Zeit, in der die humanitäre Situation der Bevölkerung maßgeblich von klimatischen Bedingungen und dem Fleiß der Bauern und des verarbeitenden Gewerbes abhing. Das Nachdenken über Zeit ist aufvielfache motivische Ve1mittlungen angewiesen.2 Sie wird als Fluss, als unumkehrbare Abfolge von Augenblicken ver-

Nobert Elias: Über die Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 5. 2

Eine vielfach konsultierte Studie zur europäischen Ideengeschichte der Zeit hat Rudolf Wendorff vorgelegt. Ygl. Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1980.

10

I PHILIPP HUBMANN , TILL JULIAN Huss

standen, sie kann sich dehnen und verkürzen, abhandenkommen und dem Menschen in Minuten und Sekunden ihr Diktat auferlegen. Ludwig Wittgenstein hat dementsprechend über die sprachlichen Möglichkeiten zur Erfassung der Zeit notiert: Abbildung 1: Die Naturalisierung der Zeit. Johann Georg Platzer: Allegorie der vier Jahreszeiten. Öl auf Kupfer, um 1750

Quelle: Delikatessen der Malerei. Meisterwerke von Johann Georg Platzer. Salzburg, 2007, S. 75. »Und so kann mit dem Wort >Zeit VergangenheitZukunft< das Bild von Gebieten, aus deren einem die Ereignisse in das andre ziehen (>das Land< der Zukunft, der Vergangenheit). Und doch können wir natürlich keinen solchen Strom finden und keine solchen Örter. Unsere Sprache läßt Fragen zu, zu denen es keine Antwort gibt. Und sie verleitet uns die fragen zu stellen durch die Bildhaftigkeit des Ausdrucks. Eine Analogie hat unser Denken gefangen genommen und schleppt uns unwiderstehlich mit sich fort.«3

3

Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980 (Original 1953), S. 156. lm zeitphilosophischen Diskurs wird besonders seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Bedeutung der gebräuchlichen Redeweisen von der Linie der Zeit und vom Fluss der Zeit untersucht. Vgl. die Texte von McTaggert, Russe!, Smart, Eddington und Popper in Mike Sandbothe, Walter Ch. Zimmerli (Hg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993, des weiteren Max Black: »The Direction ofTime«, in: ders.: Modelsand Metaphors. lthaca NY: Comell Univ. Press, 1962, S. 182-193, William Barrett: »The Flow of Time«, in: Richard Gale (Hg.): The Philosophy of Time. New Jersey: Hu-

EINLEI TUNG

I 11

Jede Gesellschaft hat eigene Vorstellungen davon, was Zeit ist und wie sie sich beschreiben lässt. Dabei ist die Entscheidung über die richtige und falsche Interpretation und Einteilung von Zeit für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft derart elementar, dass sie oftmals direkt von Herrschern instrumentalisiert wird. Ihre Regelung dient in diesen Fällen nicht nur der Sicherstellung des reibungslosen Ablaufs aller Interaktionen, sie legitimiert und festigt Machtverhältnisse. Nachdem Julius Cäsar im Jahr 47 v. Chr. wieder an die Spitze des römischen Staates vorgestoßen war, beschloss er, den Julianischen Kalender mit 365 Tagen einzuführen, wobei er das Jahr Null auf das Jahr seiner Regentschaft verlegte und sich selbst einen Monat, den Juli widmete, wodurch dann der zahlen- und namensmäßig siebte Monat (September) zum neunten Monat des Jahres wurde. Auch in der Französischen Revolution wurde 1792 ein Revolutionskalender mit 10-Tage-Woche und 10 statt 24 Stunden pro Tag eingeführt. Zeit, so könnte gefolgert werden, ist mitnichten eine Konstante, die Selbstzweckhaft existiert, sie konditioniert den Menschen und ist Ausdruck spezifischer Machtverhältnisse. Nicht nur die Antwort auf die Frage >Wer hat Zeit und wer keine?< lässt Rückschlüsse auf bestimmte epochenspezifische Herrschaftskonstellationen zu. Auch ein Blick aufkulturelle Praktiken des Zeit-Bestimmens, die Taktung des Alltags, das Design von Lebensentwürfen, die Festlegung von Mündigkeitsgrenzen, die Terminierung und Ritualisierung von Statuspassagen zwischen Kindheit, Jugend und dem Erwachsenenalter, das Vereinbaren von Fristen beim Schließen von Verträgen, die Reflexion auf technische und mediale Innovationen und weltgeschichtliche Ereignisse, die ein neues Zeitempfinden vermitteln, lassen Zeit als eine Ressource erscheinen, die in verschiedenen Phasen der Geschichte und an diversen Orten einer globalisierten Welt unterschiedliche Auslegungen und Konnotationen erhält, deren Verteilung auf Zeit-Regime verweist, die Machtverhältnisse zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, Mann und Frau, Inländer und Migrant festschreiben.

manities Press, 1978 (1968), S. 355-377, für eine detaillierte Analyse der metaphorischen Strukturen unseres Denkens über die Linearität der Zeit vgl. George Lakoff, Mark Johnson: Metaphors We Live By. Chicago: University of Chicago Press, 1980. Bilder wie dasjenige von Platzer sind demnach nicht nur Allegorien der Zeit sondern auch anschauliche Modelle, durch die wir unser Verständnis der abstrakten Zeit konzeptualisieren können.

12

I PHILIPP HUBMANN , TILL JULIAN Huss

RISKANTE GLEICHZEITIGKEIT IN DER MODERNE

Die Zeit ist umkämpftes Terrain. Dieser Umstand wird nicht nur in politischen Plenarsitzungen deutlich, in denen es damm geht, die eigene Redezeit möglichst effektiv gegen die andere Partei einzusetzen. 4 Der Mensch der Moderne flihlt sich durch die Zeit mitunter in die Enge getrieben. Wie Harold Lloyd in dem Film Safty last (dt. Ausgerechnet Wolkenkratzer!, 1923; Abb. 2) hängt mancher im Alltag zwischen diversen Verpflichtungen mit dem Finger am Minutenzeiger einer Turmuhr, unter ihm der Schlund der Großstadt, hupende Autos, drängende Fußgänger, befangen in dem »rasenden Stillstand« (Virilio) der Zivilisation. 5 Abbildung 2: Die gefährliche Zeit in der Moderne. Safty L ast: Alex Clayton

Quelle: The Body in Hollywood Slapstick. London, u.a.: Mc Farland, 2007, S. 87.

4

Vgl. Gisela Riescher: Zeit und Politik. Zur institutionellen Bedeutung von Zeitstrukturen in parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystemen. Baden-Baden: Nomos, 1994.

5

Vgl. Paul Virilio: Rasender Stillstand. München, Wien: Carl Hauser, 1992 (Original im Französischen 1990). Zentral zum Aspekt der Beschleunigung der Zeit und des viel diskutierten Endes der Zeit ist: Dietrnar Kamper, Christoph Wulf (Hg.): Die sterbende Zeit. Darmstadt: Luchterhand 1987. Der Sammelband analysiert die Pluralisierung der Zeiten seit der Modeme aus geschichtstheoretischer und naturwissenschaftlicher Perspektive und schließt mit philosophischen Positionen ab, die die Beschleunigung der Zeit vor dem Hintergrund der Diagnose eines Verlustes der klassischen Zeitkonzepte beleuchtet. Zu diesen Positionen zählt auch ein Text von Virilio, der die Grundlagen für seine oben genannte Schrift legt.

EINLEI TUNG

I 13

Nicht wenige Zeitgenossen Lloyds hat das rapide Anwachsen der Großstädte im 19. und 20. Jahrhundett mit ihrem Überangebot an Optionen und ihrem Hang zur Beschleunigung der Lebensverhältnisse überfordert. Schon der Kirchenvater Augustinus hatte im berühmten 11. Kapitel seiner Confessiones (dt. Bekenntnisse, ca. 400 n. Chr.) einen Unterschied gemacht zwischen der ruhevollen, ewigen Zeit des Reichs Gottes und der flüchtigen Hast des irdischen Lebens. »Du hast uns zu Dir hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.« 6 Knapp 1500 Jahre nach den autobiografischen Aufzeichnungen des Theologen gibt es in den europäischen Metropolen zahlreiche Dichter, die nach den ersten medial aufbereiteten technischen Katastrophen apokalyptische Schreckensvisionen heraufbeschwören: Der Einsturz der Filth-of-Tay-Brücke am 28. Dezember 1879 in Schottland, bei dem 75 Zugpassagiere verunglückten, veranlasste den Schriftsteller Theodor Fontane zu seiner Ballade »Die Brück am Tay«, in dem er vor dem »Tand, Tand I Ist das Gebilde von Menschenhand« warnt. Auch der Untergang der RMS Titanic am 14. April 1912 und Meldungen über sich anbahnende Umweltkatastrophen versetzten die Menschen im deutschen Kaiserreich in Schrecken. Die Gleichzeitigkeit erhält einen bedrohlichen Unterton, die Portschrittsdynamik scheint den Menschen zu überfordern und journalistische und künstlerische Medien entwickeln düstere Untergangsfantasien, in denen globales Chaos und alltägliche Geschäftigkeit eine Symbiose eingehen. In den Versen über das »Weitende«, die der junge Dichter Jakob van Roddis 1911 verfasste, gehören die kleinen und großen Katastrophen der Welt bereits unweigerlich zur heiter-zerklüfteten Seelenlage des modernen Menschen dazu, der Teufelspakt zwischen industriellem Fortschritt und illustrem Großstadterleben ist irreversibel. »Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, ln allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.

6

Augustinus: Confessiones. Hamburg: Meiner, 2000, S. 62f. lm zeittheoretischen Diskurs tritt Augustinus als Vordenker subjektivistischer Zeitkonzepte auf. ln Abschnitt 17 des 11. Buches der Confessiones hinterfragt er den Zeitbegriff und verortet alle Zeiten (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) als in der Gegenwart der Seele gegeben.

14

I PHILIPP HUBMANN , TILL JULIAN Huss Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.«7

Die Welt um 1900 Jückt näher zusammen. Telegraphen- und später Telefonleitungen, Eisenbahnschienen und Automobile, die Vergrößerung des Export- und Importvolumens im Überseehandel und Berichte über die Kolonisierung weiter Teile Asiens und Afrikas machen die Globalisierung flir viele Menschen spürbar. Waren werden angeboten, die es vorher nicht gab, Erzählungen von exotischen Völkern im Amazonas machen die Runde, auf>>Völkerausstellungen« sind »Eingeborene« aus aller Herren Länder zu besichtigen, die Weltausstellung wird ab 1851 regelmäßig zum Treffpunkt der Industrienationen, auf dem diese ihre neusten Errungenschaften vorstellen. 8 Dieser engeren Verflechtung der Welt soll schließlich auch zeitpolitisch Rechnung getragen werden. 1884 werden in Washington auf der Internationalen Meridian-Konferenz die auch heute noch gültigen Zeitzonen eingerichtet und damit nach der politischen auch die temporale Kleinstaaterei überwunden. 1893 wurde das Gesetz auch in Deutschland ratifiziert und damit der traditionelle ?-Minuten-Unterschied zwischen preußischer und bayrischer Zeit eingeebnet. Die Menschen der Industrienationen beginnen sich mehr und mehr als überlegene Gemeinschaft zu fühlen, die einen natürlichen Herrschaftsanspruch über zurückgebliebene Stämme und Völker hat. Es werden kulturelle Maßstäbe definieit, nach denen das fortschrittliche Europa und Amerika vorzivilisatorischen Gemeinschaften gegenüberstehen. Doch auch innerhalb der »westlichen« Gesellschaften werden Milieus entlang des Fortschrittspfeils in rückständig und zukunftsweisend eingeteilt. Durch diese Bewertung können Privilegierungen und Stigmatisierungen gerechtfertigt werden. Die Moderne interpretiert ihren eigenen Zustand - einer Formulierung Ernst Blochs folgend - als »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«9 : Die Welt scheint Zeitgenossen zum Bersten gespannt

7

Jakob van Hoddis: »Wehende«, in: Regina Nörtemann (Hg.): Jakob van Hoddis Dichtungen und Briefe. Zürich: Arche, 1987, S. 15.

8

Robert Bogdan: Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit. Chicago, London: The University of Chicago Press, 1988 und Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung »exotischer« Menschen in Deutschland 1870 - 1940. Frankfmt, New York: Campus, 2005.

9

Ernst Bloch verwendete den Begriff der »Ungleichzeitigkeit« zunächst im Zuge seiner Kritik am Nationalsozialismus. Er unterstellte diesem, antiquierte kulturelle Bestände zu reaktivieren und so das Gebot der geltenden Werteordnung zu unterwandern: »Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, daß sie heute

EINLEI TUNG

I 15

zwischen den Polen der Barbarei und einer Kultur, die es immer erst noch zu erreichen gilt. Aus kulturellen Überlegenheitsgeftihlen resultieren Chauvinismen, die - gestützt auf sozialdarwinistische und dialektische Ideologeme - w ie selbstverständlich bestimmte Bevölkemngsgruppen diskriminieren. So ätzt beispielsweise der Architekt und Publizist Adolf Loos 1908 unverhohlen gegen die kolportierte Rückständigkeit seiner Mitmenschen und rekapituliert dabei die Vorstellung der »Gleichzeitigkeit des UngleichzeitigenDauer< ist darin Sukzession, aber nicht als Verfließen, sondern als sukzessives Aufbauen einer Qualität innerhalb einer Präsenz, in der zwar folgen statthaben, aber kein früher oder Später unterscheidbar ist. Diese Sukzession ist zugleich aufgehoben in eine Simultaneität.« Friedrich Kümmel: Über den Begriff der Zeit. Tübingen: Niemeyer, 1962, S. 17. 24 Vgl. hierzu Bergson (1916), ebd., S. 5: »Es gibt eine Realität zum wenigsten, die wir alle von innen, durch Intuition und nicht bloße Analyse ergreifen. Es ist unsere eigene Person in ihrem Verlauf durch die Zeit. Es ist unser ich, das dauert.« 25 Henri Bergson: Dun~e et simultaneite.

A propos de Ia tbeorie d'Einstein. Paris

1922,

in: ders.: Metanges, textes publies et annotes par Andre Robinet. Paris: Presses universitaire de france, 1972, S. 57-244. Maurice Merleau-Ponty hat Bergsons bisher nicht ins Deutsche übersetzte Schrift als einen Affront gegen die Physik gewertet, für die sich Bergson seinerseits viel Kritik eintrug: »Dunie et simultaneite, das - wie Bergson immer wieder betont - ein philosophisches Buch ist, wird sich noch resoluter in der wahrgenommenen Welt einrichten. Heute wie vor 35 Jahren werfen die Physiker Bergson vor, die die relativistische Physik den Beobachter einzuführen, der - so behaupten sie - die Zeit nur relativ zu den Meßinstrumenten oder zum Bezugssystem setzt. Was Bergsoujedoch zeigen will, ist genau dies, daß es keine Simultaneität zwischen Dingen an sich gibt, die, so nah sie auch beieinander sein mögen, jedes für sich sind. Nur wahrgenommene Dinge können an derselben Linie der Gegenwart teilhaben

EINLEI TUNG

I 21

ser Philosophischen Gesellschaft zum Aufeinandertreffen der beiden zentralen Figuren der Zeittheorie. Bergson, so die Überlieferung, habe Einstein danach gefragt, ob es nicht denkbar sei, den Geltungsbereich der Relativitätstheorie auf die Wissenschaft zu beschränken. Entsprechend einer Paraphrase des Diskussionsprotokolls von Mamice Merleau-Ponty hat Bergsan sich mit folgenden Worten an Einstein gerichtet: »Man könnte die Relativität mit der Vemunft aller Menschen versöhnen, wenn man nur bereit wäre, die multiplen Zeiten wie mathematische Ausdrücke zu behandeln und diesseits oder jenseits des physikalisch-mathematischen Bildes der Welt eine philosophische Sichtweise der Welt anzuerkennen, die zugleich die Perspektive der existierenden Menschen [ist].«26

Einstein widerspricht diesem Einwand Bergsans und weist darauf hin, wie Maurice Merleau-Ponty zusammenfasst, dass dieses pragmatische Zeitverständnis »nicht kompetent und autorisiert« sei, >>Unseren intuitiven Begriff vom Simultanen auf die ganze Welt auszudehnen.i7 Es gebe ferner auch »keine [separate] Zeit der Philosophen«, also das, was Bergsan unter »Dauer« versteht. 28 Das alltägliche Erleben einer sich räumlich und zeitlich zutragenden Gegenwart lässt zwar einen Austausch über Erfahrungen zu, sie stellt aber nicht das Modell zur Verfügung, nach dem Zeit und Raum in einem physikalisch-objektivierbaren Sinne zu erfassen wären. Die Wahrnehmung der Menschen und das konventionelle Sprechen über Zeit und Raum und ihre tatsächliche Gestalt sind nach Einstein nicht kompatibel. Die Unvereinbarkeit dieser Positionen verweist auf die immer heterogener werdende Landschaft der Zeittheorien im 20. Jahrhundert. Von der naturwissenschaftlich-physikalischen Linie setzt sich eine eher phänomenologischpsychologisch bzw. existentialistisch orientierte Denkrichtung vertreten von

- und zum Ausgleich gibt es, sobald es Wahrnehmung gibt und ohne jede Maßgabe, eine Simultaneität des einfachen Blickes, nicht nur zwischen zwei Ereignissen desselben Feldes, sondern sogar zwischen allen Wahrnehmungsfeldem, allen Beobachtern, allen Dauern.« Maurice Merleau-Ponty: Zeichen, übersetzt v. Barbara Schmitz, Hans Werner Arndt und Bernhard Waldenfels. Hamburg: Meiner, 2007, S. 270. 26 Bergsou paraphrasiert von Merleau-Ponty nach dem Bulletin de Ia Societe fran9aise

de philosophie, Campte rendus des seances, 1922, S. 91-113, hier S. 107, MerleauPonty, ebd., S. 2857. 27 Einstein zitiert nach Maurice Merlau-Ponty, ebd., S. 288. 28 Ebd.

22

I PHILIPP HUBMANN , TILL JULIAN Huss

Bergson, Busserl, Heidegger, Gadamer und Derrida immer weiter ab. Mit James, McTaggart und Smart wurden seit Ende des vorangegangenen Jahrhunderts zudem Zeittheorien entwickelt, die eher sprachanalytisch motiviert sind und sich mit den beiden bestehenden Linien der Theoriebildung nicht zur Deckung bringen lassen. 29 Neuere zeittheoretische Ansätze vor allem in der Soziologie, Kulturtheorie und Medienwissenschaft lassen aus den divergierenden Linien des Zeitdiskurses eine komplexe Topografie relevanter Theorien entstehen. 30

SIMULTANE UND SYNCHRONE GLEICHZEITIGKEIT In den Künsten beginnt auch angespornt durch Einsteins Relativitätstheorie und Herrmann Minkowskis Begriff der Raumzeie 1 eine Suche nach neuen zeitlichen und räumlichen Ausdrucksformen. Die Entwicklungen in der Fototechnik führen eine paradigmatische Wende in der Darstellbarkeit der Zeit herbei. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang es dem Fotografen Etienne-Jules Marey, durch Mehrfachbelichtung des Bildträgers sukzessive Bewegungsabläufe auf einem einzigen Foto simultan darzustellen (Abb. 3).32 Das Nebeneinander der berühmten Bewegungsdarstellungen von Eadweard Muybridge überftihrte Marey in eine unmögliche Gleichzeitigkeit- eine bildmögliche Simultaneität. 33

29 Vgl. Mike Sandbothe, Walter Ch. Zimmerli (Hg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993. 30 Eine Überblick über medientheoretische Zeitphilosophien bietet: Mike Sandbothe, Walter Ch. Zimmerli (Hg.): Zeit. Medien. Wahrnehmung. Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994; Zur Soziologie vgl. Annin Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. 31 Vgl. Hermann Minkowski,: »Raum und Zeit, 80. Versammlung Deutscher Naturforscher (Köln, 1908)«, in: Physikalische Zeitschrift. 10, 1909, S. 104-111. 32 Vgl. Marta Braun (Hg.): Picturing Time- The Work of Etienne-Jules Marey. Chicago, London: University ofChicago Press, 1992. 33 Durch eine extrem kurze Belichtungszeit gelang Muybridge der fotografische Beweis, dass Pferde im Galopp für einen kurzen Augenblick alle vier Beine in der Luft haben. Der Diskurs um die Darstellungsmodi der Zeit in Bildern, maßgeblich von Shaftesbury und vor allem Lessings Laokoon-Schrift von 1766 entfacht, muss sich der Mo-

mentaufnahme der Fotografie gegenüber neu positionieren. Vgl. hierzu v.a. Ernst Gombrich: »Der fruchtbare Moment« ( 1982), in: ders.: Bild und Auge. Stuttgart:

EINLEI TUNG

I 23

Abbildung 3: Etienne-Jules Marey: Saut apieds Joints, Chronofotografie, 1883 (Detail)

Quelle: Michel Frizot (Hg.): Etienne-Jules Marey - Saut il pieds joints, Chronophotographe. Paris: Nathan, 2001.

In der Auseinandersetzung mit den modernen Gleichzeitigkeitserfahrungen wird »Simultaneität« zum Losungswort einer Künstlergeneration, die versucht, die neue Zeitwahrnehmung für ihr Medium auszuloten. Während Marcel Duchamp in seinen Leinwandarbeiten Mareys simultane Darstellung von Bewegung malerisch verhandelt, lässt Picasso die verschiedenen Bildflächen zwischen Figur und Hintergrund auch innerhalb der Figuren ineinandergreifen, um mit dem seit der Renaissance vorherrschenden illusionistischen Bildraum zu brechen. In seinem Gemälde Les Demoiselles d'Avignon von 1907 (Abb. 4) verschwindet eine realistische Perspektive zu Gunsten einer Ausarbeitung und Betonung genuin bildhafter Strukturen und eröffnet neue bildnerische Möglichkeiten wie beispielsweise die am rechten unteren Bildrand sitzenden Frau, die eine Verschränkung

K.lett-Cotta, 1984, S. 40-62 und Heinrich Theissing: Die Zeit im Bild. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987. Peter Weibel unterscheidet anband der Techniken von Marey und Muybridge explizit zwischen einem Modell der Simultaneität und einem Modell der Sukzession und zeichnet die Wirkmächtigkeit dieser auf die weitere bildnerische Tradition sowohl in der Malerei als auch im Film heraus. Vgl. hierzu Peter Weibel: Die Beschleunigung der Bilder (1987). Bern: Bente1i und K.arlsruhe: ZKM, 2003, besonders S. 32-43.

24

I PHILIPP HUBMANN , TILL JULIAN Huss

von Rücken- und Vorderansicht zu sein scheint: In ihrer Mehransichtigkeit treten simultane Teilansichten zu einer geschlossenen Figm zusammen. 34 Während den Kubismus vor allem das collagenartige Zusammenfügen von Einzelteilen auszeichnet, versteht Picasso seine Arbeit eher als Addition von Zerstörungen. 35 Durch die Radikalität, mit der Les Demoiselles d 'Avignon einen Traditionsbruch betreibt, läutet das Werk den Beginn des Kubismus ein, der in den folgenden 10 Jahren maßgeblich von Picasso und Braque geprägt wurde. 36 Der Futurist Felix Mac Deimarle bezeichnete 1914- anknüpfend an die Ausfüh-

34 Die künstlerischen Bemühungen der Darstellung von Simultaneität zu Beginn des 20. Jahrhunderts verweisen auf den zu jener Zeit vorherrschenden Diskurs der Zeitphilosophie. Eine kritische Diskussion der Zusammenhänge zwischen künstlerischen Strömungen und den zeittheoretischen Debatten der damaligen Zeit bietet Marianne Tauber: »Formvorstellung und Kubismus oder Pablo Picasso und William James«, in: Siegfried Gohr (Hg.): Kubismus. Köln: Josef-Haubrich-Kunsthalle, 1982, S. 9-57. Zu den Zusammenhängen zwischen der Philosophie Bergsans und dem Kubismus vgl. Gabriele Hoffmann: »Intuition, duree, simultaneite - drei Begriffe der Philosophie Henri Bergsans und ihre Analogien im Kubismus von Braque und Picasso von 1910 bis 1912«, in: Hannelore Paflik (Hg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft. Weinheim: Acta Humaniora, 1987, S. 39-64. Bergsans Konzept des Addierens und Anhäufens als Charakteristik des Gedächtnisses steht diesen Auseinandersetzungen Pate. Dieser Gedanke wiederholt sich in Martin Seels Beschreibung der Simultaneität unserer Wahrnehmung, in der die Vorstellung eines Gegenstandes aus unterschiedlichen aspekthaften Momentaufnahmen zu einem simultanen Bild dieser zusammensetzt. ln unserer Wahrnehmung können wir nie alle ästhetischen Eigenschaften eines Gegenstandes gleichzeitig wahrnehmen und sind daher auf die Summe der Momentaufnahmen in der Vorstellung dessen angewiesen: »Die ästhetische Wahrnehmung ist auf das gleichzeitige und das augenblickliche Gegebensein ihres Gegenübers gerichtet.« Martin See!: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, S. 54. 35 Vgl. Klaus Herding: Pablo Picasso. Les Demoiselles d'Avignon. Frankfurt a. M.: Fischer 1992, S. 83 . 36 Vgl. Edward Fry: »Die Geschichte des Kubismus«, in: ders. (Hg.): Der Kubismus. Köln: DuMont, 1966, S. 12-42, hier S. 17-1 9. Das Gemälde wurde zum damaligen Zeitpunkt nicht ausgestellt und war nur wenigen in Picassos Atelier zugänglich. Als George Braque es zu Gesicht bekam, änderte es seine künstlerische Arbeit grundlegend und aus der Begegnung mit Picasso wurde eine Künstlerfreundschaft, aus der alle entscheidenden Phasen des Kubismus hervorgingen.

EINLE ITUNG

I 25

rungen des Dichters Apollinaire37 - Simultaneität als wesentliches Merkmal der kubistischen und futuristischen Kunst: »Die Simultaneität im Kunstwerk ist eines der vielen Ziele, die die wichtigsten Maler unserer Epoche beschäftigen. [... ] Zu dem Bemühen um Simultaneität der einzelnen Seherfahrungen, das den Kubismus auszeichnet und in den letzten Werken seiner Anhänger immer deutlicher wurde, muß die Aussage der italienischen Futuristen hinzutreten: >Die Simultaneität der Seelenzustände, das ist das berauschende Ziel unserer Kunst. Wegwerfgesellschaft< [, 4.] die zunehmende Flüchtigkeit und Vergänglichkeit von Moden, Gütern, Arbeitsprozessen, Ideen und Bildern [, 5.] eine verschärfte >Zeitweiligkeit< von Gütern, Jobs, Karrieren, Natur, Werten und Beziehungen[, 6.] das oft grenzenüberschreitende Überhandnehmen neuer Waren, flexibler Technologieformen und riesiger Müllberge [, 7.] das Anwachsen befristeter Arbeitsverträge und einer >just-in-timeModularisierung< von Freizeit, Aus- und Weiterbildung und Arbeit[, 10.] die extreme Zunahme der Verfugbarkeit von Gütern und Bräuchen unterschiedlichster Gesellschaften an jedem Ort der Welt [, 11.] wachsende Scheidungsraten und andere formen der Haushaltsauflösung [, 12.] schwindendes intergenerationales Vertrauen und abnehmende intergenerationale Solidarität [, 13.] das Gefuhl eines (weltweit) zu hohen Lebenstempos, das in Widerspruch zu menschlichen Grunderfahrungen gerät [, 14.] wachsende Volatilität des politischen

EINLEI TUNG

I 33

In diesem Band, der auf ein Projekt zurückgeht, das in Kooperation der Kunstakademie Münster mit der Westfälischen Wilhelms-Universität im Jahr 2012 lanciert wurde, soll es deshalb damm gehen, Simultaneität als Kategorie und Faktum der modemen Lebenswelt aus einem interdisziplinären Forschungsblickwinkel zu betrachten. Beiträge aus der Kunstwissenschaft, Soziologie, Psychologie, Architektwtheorie, Politologie, Philosophie sowie Literatur- und Filmwissenschaft gehen dabei einzelnen Facetten des Gegensatzpaares Simultaneität und Synchronizität nach und versuchen, ausgehend von dem in der Einleitung entworfenen Konzept in einer kulturgeschichtlichen Zusammenschau prägnante Aspekte des Gleichzeitigkeits-Paradigmas zu erläutem und dabei speziell die Potentiale, Risiken und Grenzen der jeweiligen Simultaneitäts-Modelle aufzuzeigen.

LITERATUR Guillaume Apollinaire: »Simultanisme - Libretisme«, in: Les Soirees de Paris, Jg. 3, 1914, Nr. 25, 15. Juni, S. 322-325. Augustinus: Confessiones. Hamburg: Meiner, 2000. Hugo Ball: Dramen, hrsg. v. Eckhard Faul, Göttingen: Wallstein, 2008. William Barrett: »The Flow of Time«, in: Richard Gale (Hg.): The Philosophy ofTime. New Jersey: Humanities Press, 1978 (1968), S. 355-377. Henri-Martin Barzun: »Voix, rythmes et chants simultanes«, in: Poeme & drame. Anthologie intemationale de Ia poetique, des arts et des idees modernes. Bd. 6, Mai 1913, S. 5-50. Henri Bergson: Zeit und Freiheit. Hamburg: Philo, 2006. Henri Bergson: Duree et simultaneite. Apropos de Ia theorie d'Einstein, Paris 1922, in: ders.: Metanges, textespublies et annotes parAndre Robinet, Paris: Presses universitaire de France, 1972, S. 1-56. Henri Bergson: Einflihrung in die Metaphysik, Jena: Diederichs, 1916. Max Black: »The Direction of Time«, in: ders.: Models and Metaphors. Ithaca (NY): Comell University Press, 1962, S. 182-193. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt: Suhrkamp, 1962. Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt: Suhrkamp, 1996.

Wahlverhaltens«, Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Modeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005, S. 347.

34

I PHILIPP HUBMANN , TILL JULIAN Huss

Umberto Boccioni: Futuristische Malerei und Plastik. Dresden: Verlag der Kunst, 2002, ital. Original 1914. Robert Bogdan: Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit. Chicago, London: The University of Chicago Press, 1988. Marta Braun (Hg.): Picturing Time - The Work of Etienne-Jules Marey. Chicago, London: University of Chicago Press, 1992. Heinz Brüggemann: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Modeme. München: Fink, 20 10. Hans-Georg Brose: »Das Gleichzeitige ist ungleichzeitig. Über den Umgang und eine Paradoxie und die Transformation der Zeit«, in: Hans-Gem·g Soeffner (Hg.): Unsichere Zeiten. Verhandlungen des 34. Kongresses flir Soziologie, Wiesbaden: VS Verlag, 2010, S. 547-562. Martin Carrier: Raum-Zeit. Berlin, u.a.: de Gruyter, 2009. Theodor Däubler: »Simultanität«, in: Die weißen Blätter, 3. Jg. (1916), 1. Quartal, S. 116-117. dOCUMENTA (13) Das Begleitbuch. Ostfildern: Hatje Cantz, 2012. Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung »exotischer« Menschen in Deutschland 1870 - 1940. Frankfurt a. M., New York: Campus, 2005. Nobert Elias: Über die Zeit. Frankfurt a. M. : Suhrkamp, 1988. Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam, 1990, S. 34-46. Edward Fry: »Die Geschichte des Kubismus«, in: ders. (Hg.): Der Kubismus. Köln: DuMont, 1966, S. 12-42. Ernst Gombrich: »Der fruchtbare Moment«, in: ders.: Bild und Auge. Stuttgart: Klett-Cotta: Stuttgart 1984, S. 40-62. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst (1968). Frankfurt a. M .: Suhrkamp, 1997. Johann Gottfried Herder: Verstand und Erfahrung, Vernunft und Sprache, Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Berlin: Aufbau-Verlag, 1955. Klaus Herding: Pablo Picasso. Les Demoiselles d' Avignon. Frankfurt a. M .. : Fischer, 1992. Jakob van Hoddis: »Weitende«, in: Regina Nörtemann (Hg.): Jakob van Roddis -Dichtungen und Briefe. Zürich: Arche, 1987. Gabriele Hoffmann: »Intuition, duree, simultaneite - drei Begriffe der Philosophie Henri Bergsans und ihre Analogien im Kubismus von Braque und Picassa von 1910 bis 1912«, in: Hannelore Paflik (Hg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft. Weinheim: Acta Humaniora, 1987, S. 39-64.

EINLEI TUNG

I 35

Edmund Husserl: Gesammelte Werke (Husserliana), Den Haag: Nijhoff 1950ff., Bd. 10 »Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins« (1893-1917), 1966. Immanuel Karrt: Kritik der reinen Vernunft (A 178 1, B 1787). Hamburg: Meiner, 1998. Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.): Die sterbende Zeit. Darmstadt Luchterhand, 1987. Reinhart Koselleck: »Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit«, in: Reinhart Herzog und Reinhart Kaselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München: Fink, 1987. Friedrich Kümmel: Über den Begriff der Zeit. Tübingen: Niemeyer, 1962. George Lakoff, Mark Johnson: Metaphors We Live By. Chicago: University of Chicago Press, 1980. Adolf Loos: »Ornament und Verbrechen«, in: ders.: Sämtliche Schriften in zwei Bänden, hrsg. v. Franz Glück. Wien (u.a.): Herold, 1962, Bd. 1., S. 277. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996. Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 5 (1990). Wiesbaden: VS, 2005. Felix Mac Delmarle: »Notizen zur Simultaneität in der Malerei« (1914), In: Edward Fry (Hg.): Der Kubismus. Köln: DuMont, 1966, S. 141-142. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle (1964). Düsseldorf: Econ, 1968. Maurice Merleau-Ponty: Zeichen, übersetzt v. Barbara Schmitz, Hans Wemer Amdt und Bernhard Waldenfels. Hamburg: Meiner, 2007. Hermann Minkowski,: Raum und Zeit, 80 (?). Versammlung Deutscher Naturforscher (Köln, 1908). In: Physikalische Zeitschrift. 10, 1909, S. 104-111. Laszlo Moholy-Nagy: Malerei Fotografie Film. Mainz: Kupferberg, 1967, Faksimile-Nachdmck des Originals von 1927. A1min Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. Nora Nebel: Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive. Marburg: Tectum, 2011. Friedeich Nietzsche: »Zweite Unzeitgemäße Betrachtung. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, in: Giorgio Colli, Mazzimo Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche - Die Geburt der Tragödie, Unzeitgernäßte Betrachtungen. Kritische Studienausgabe. München: dtv, 2003, S. 243-334. Hans Poser: Gottfired Wilhelm Leibniz zur Einführung. Hamburg: Junius, 2005 Ingeborg Reichle, Steffen Siegel, Achim Spelten (Hg.): Visuelle Modelle. München: Fink, 2008.

36

I PHILIPP HUBMANN , TILL JULIAN Huss

Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005. Mike Sandbothe, Walter Ch. Zimmerli (Hg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie. Datmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993. Mike Sandbothe, Walter Ch. Zimmerli (Hg.): Zeit. Medien. Wahrnehmung. Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994. Wolf Schäfer: Ungleichzeitigkeit als Ideologie. Beiträge zur historischen Aufklärung. Frankfurt a. M.: Fischer, 1994. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: F. W. J. von Schellings sämmtliche Werke, Hrsg. v. Kar! F. August Schelling, Bd. VII., Stuttgart/Augsburg: Cotta, 185661. Martin See!: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M. : Suhrkamp, 2003. Herbert Stachowiak: Allgemeine Modelltheorie. Berlin: Springer, 1973 . Thorsten Streubel: Das Wesen der Zeit. Zeit und Bewußtsein bei Augustinus, Karrt und Busserl. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. Marianne Tauber: »Formvorstellung und Kubismus oder Pablo Picasso und William James« in: Siegfried Gohr (Hg.): »Kubismus«. Köln: Josef-HaubrichKunsthalle Köln, 1982, S.9-57. Heinrich Theissing: Die Zeit im Bild. Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1987. Paul Virilio: Rasender Stillstand. München: Hanser, 1992. Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Ew·opa. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1980. Walt Whitman: Grasblätter, München: Hanser, 2009. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980.

Augenblick oder Gleichzeitigkeit Zur Simultaneität im Bild

CLAUDIA BLÜMLE

Raum und Zeit in ein bildliches Verhältnis des Hier und Da zu bringen ist eine Aufgabe, die die Malerei immer wieder aufs Neue herausgefordert hat. Im Vergleich verschiedener malerischer Positionen sollen im Folgenden drei unterschiedliche Modelle vorgestellt werden , um die visuelle Dimension von Simultaneität in ihrer jeweiligen Singularität zu veranschaulichen sowie ihre rezeptionsästhetische Wirkung zu diskutieren. Ein erstes Modell der Simultaneität wird anhand des mittelalterlichen Simultanbildes erörtert, das die Ungleichzeitigkeit der Erzählung simultan in einem Bildraum darzustellen vermag. Ausgehend von Gotthold Ephraim Lessings Überlegungen in Laokoon oder Über die Grenzen der Materie und Poesie von 1766 soll in Betrachtung der Laokoon-Gruppe ein zweites Modell der Simultaneität im Zentrum stehen, wonach eine Erzählung als Zusammenschluss der Handlung bildlich in einen Augenblick kulminieren sollte. Schliesslich wird in der Malerei Paul Cezannes ein drittes Modell der Simultaneität ins Auge gefasst, das die Zeit der Wahrnehmung im physiologischen Sinne mit dem Raum verknüpft.

38

I CLAUDIA BLÜMLE

Im mittelalterlichen Simultanbild ist der Raum des Bildes ein in sich gebrochener Raum, der es ermöglicht, die Zeit der Erzählung in den Raum des Bildes zu legen und verschiedene Szenen gleichzeitig im selben Raum sehen zu lassen. 1 Eingebettet in eine weite Stadtlandschaft werden meistens unterschiedliche Orte hervorgehoben, an denen sich die Stationen einer Erzählung abspielen. Exemplarisch kann man das Gemälde Die Gerechtigkeit Ottos III von Dieric Bouts als Spätform des Simultanbildes heranrücken, in welchem dieselben Figuren mehrfach in einem landschaftlichen und architektonischen Raum dargestellt werden (Abb. 1)_2 Dem narrativen Zusammenhang zufolge hatte die Gemahlin Ottos III. aus Rache falsche Anschuldigungen gegen einen seiner Grafen erhoben, weil er ihrer Verführungskunst widerstand. 3 Der König ließ daraufhin den unschuldigen Grafen ohne Verhör hinrichten. Dieser hatte jedoch zuvor die Gelegenheit ergriffen, die wahre Begebenheit seiner Gemahlin zu erzählen und sie darum zu bitten, nach seinem Tod seine Unschuld zu beweisen. »Als der Tag kam, da der König den Witwen und Waisen Recht sprechen wollte, da war auch die Witwe des Grafen da, und trug das Haupt ihres Gatten in ihren Armeneine vo11kommcne Regel der

AUGENBLICK ODER GLEICHZEITIGKEIT

I 45

l>nicht allein in dem Raume, sondern auch in der Zeit. Sie [die Körper] dauern f01i und können in jedem Augenblicke ihrer Dauer anders erscheinen, und in anderer Verbindung stehen. Jede dieser augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist die Wirkung einer vorhergehenden, und kann die Ursache einer folgenden, und sonach gleichsam das Zentrum einer Handlung sein. Folglich kann die Malerei auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körpcr.« 19

In der Laokoon-Gruppe wird somit die Handlung über einen einzigen Zeitpunkt erschlossen, der zugleich über die Ränder des Bildes hinweg auf die Erzählung verweisen soll. Eine Form absoluter Gleichzeitigkeit hält in diesem Fall am Raum fest, sodass die Zeit sowie die Sinnlichkeit entsprechend in der bildenden Kunst eliminiert und nur mittels Einbildungskraft die narrativen Zeitabläufe vorgestellt werden können ? 0 Die Zeit bildet dabei einen Moment der Überschreitung des Bildes, indem über die Körper und Affekte der Augenblick einer Handlung dargestellt wird. Hier wird somit nicht die Zeit der Erzählung, sondern der Handlungsmoment mit dem Raum verbunden. Die bildende Kunst selbst nicht als Zeitkunst, sondern als Raumkunst zu verstehen, entspricht medien- und wissenschaftshistorisch gesehen dem optischen Wahrnehmungsverständnis des 17. und 18. Jahrhunderts, wonach die visuelle Wahrnehmung einer Camera obscura2 1 gleich operiere. Die Analogie des menschlichen Auges und der Camera obscura, die nicht nur als Metapher, son-

Kunst>Zur Hermeneutik des Bildes«, in: Gottfried Boehm und Hans-Georg Gadamer (Hg.): Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp , 1978, S. 444-471. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden: Verlag der Kunst, 1996. Georg Daltrop: Die Laokoongruppe im Vatikan. Ein Kapitel aus der römischen Museumsgeschichte und der Antiken-Erkundung. Konstanz: Univ.-Verlag, 1986. Bodo von Dewitz und Werner Nekes (Hg.): Ich sehe was, was du nicht siehst! Sehmaschinen und Bilderwelten. Die Sammlung Werner Nekes. Katalog zur Ausstellung im Museum Ludwig, Köln , 27.9.- 24. 11. 2002, Göttingen: Seid) , 2002. Günther Fiensch: Form und Gegenstand. Studien zur niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts. Graz, Köln: Böhlau, 1961 . Michael Pranz, Wolfgang Schäffner, Bernhard Siegert und Robert Stockhammer (Hg.): Electric Laokoon. Zeichen und Medien , von der Lochkarte zur Grammatalogie. Berlin: Akademie-Verlag, 2007. Dorothee Gall und Anja Wolkenhauer (Hg.): Laokoon in Literatur und Kunst. Berl in u.a.: de Gruyter, 2009. Lawrence Gowing: »The Logic of Organized Sensations«, in: Cezanne. The Late Work. Ausst. Katalog, New York: Museum of Modern Art, 1977, S. 55-71. Hans-Christian von Herrmann: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft. München: Fink, 2005. Ulrike Hick: Geschichte der optischen Medien. München: Fink, 1999, S. 2280. Hans Holländer: »Augenblick und Zeitpunkt«, in: ders. und Christian W. Thomsen (Hg.): Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und

54

I CLAUDIA BLÜMLE

Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaft. Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1984, S. 7-21. Hans Holländer: »Augenblicksbi1der. Zur Zeit-Perspektive in der Malerei«, in: ders. und Christian W . Thomsen (Hg.): Augenblick und Zeitpunkt. Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1984, S. 175-1 97. Markus Hörsch: >>Pirckheimer und Scheurl als Stifer. Über das niederländische Credo-Triptichon in Nümberg-Fischbach und andere Simultanbilder des 15. und 16. Jahrhunderts«, in: ders. und Elisabeth Oy-Marra (Hg.): Kunst- Politik - Religion. Studien zur Kunst in Süddeutschland, Österreich, Tschechien und der Slowakei. Petersberg: Imhof, 2000 , S. 37-68. Andrea von Hülsen-Esch, Hans Körner , Guido Reuter (Hg.): Bilderzählungen-Zeitlichkeit im Bild. Köln: Böhlau, 2003. Birgit Jooss: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit. Berlin: Reimer, 1999. Wolfgang Kemp: »Ellipsen , Analepsen , Gleichzeitigkeiten. Schwierige Aufgaben für die Bilderzählung«, in: ders. (Hg.): Der Text des Bildes. Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzählung. München: Ed. Text +Kritik, 1989, S. 62-88. George Kernodle: From art to theatre. Form and convention in the Renaissance. Chicago: Univ. of Chicago Press, 1944. Friedrich Kittler: Optische Medien. Berlin : Merve , 2002. Winfried Klara: »Theaterbilder. Ihre grundsätzliche Bedeutung und ihre Entwicklung bis auf Jacques Callot. Kritisch durchgesehen, mit Anmerkungen versehen und um Abbildungen ergänzt von Dagmar Walache«, in: Antonius Jammers, Ingolf Lamprecht, Damgar Wallach (Hg.): Theaterbilder. Ihre grundsätzliche Bedeutung und ihre Entwicklung bis auf Jacques Callot. Von Max Herrmann aus dem Nachlass in den Jahren 1936 und 1937 zum Druck vorbereitet. Berlin: Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin , 2005, S. 41-1 60 . Ehrenfried Kluckert: Die Erzählform des spätmittelalterlichen Simultanbildes. Tübingen : Diss., 1974. Hans Knuchel: Camera obscura. Baden : Müller, 1992. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerie und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Stuttgart: Reclam, 1998. Norbert Miller: »Die Kunst des genau erfassten Augenblicks«, in: Antonius Jammers , Ingolf Lamprecht, Damgar Wallach (Hg.): Theaterbilder. Ihre grundsätzliche Bedeutung und ihre Entwicklung bis auf Jacques Callot. Von Max Herrmann aus dem Nachlass in den Jahren 1936 und 1937 zum

AUGENB LICK ODER GLEICHZEITIGKEIT

I 55

Druck vorbereitet. Berlin: Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin, 2005, s. 13-40. Inka Mülder-Bach: »Bild und Bewegung. Zur Theorie bildnerischer Illusion in Lessings Laokoon«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), S. 1-30. Götz Pochat: Bild-Zeit. Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts. Wien: Böhlau, 2004. Christoph Schmälzle (Hg.): Marmor in Bewegung. Ansichten der LaokoonGruppe. Frankfurt a. M. u.a.: Stroemfeld, 2006. Günter Schöne: Die Entwicklung der Perspektivbühne. Von Serlio bis GalliBibiena nach den Perspektivbüchem. Leipzig: Voss, 1933. Monika Schrader: Laokoon- >eine vollkommene Regel der KunstvinculaVermögen< [A: Sensus communis- Phantasia, B: Phantasia- Ratio, C[=D]: Ration -Mens]) dar. Der unsterbliche Geist wird durch eine horizontale Linie am Rande des obersten Kreises dargestellt. Von der Anima sensitiva gehen die fünf (äußeren) Sinne (1-5) aus. Aus dem gestirnten Himmel symbolisieren Engel und Teufel mit ihren mit dem Geist mehr oder weniger verknüpften Seilen den Kampf um das Seelenheil. Der Tod (L) mit dem Stundenglas in der Hand am linken Bildrand hält Anima vegetativa und Anima sensitiva gemeinsam am Strick (K) und bezeichnet damit die Grenze der Sterblichkeit des Leibes. Die Flügel deuten auf das unterschiedliche Erkenntnisstreben der Seelenteile hin. Während die Anima vegetativa (P) (die allen Lebewesen eignet) nicht nach Höherem, nach Erkenntnis strebt und der Anima sensitiva (0) (die auch das Tier besitzt) nur begrenzte Erkenntnisfahigkeit gegeben ist, vermag die Anima rationalis (M) Höheres und Höchstes zu erkennen und danach zu streben, desgleichen allein und von den beiden unteren, körpergebundenen Seelenanteilen getrennt nach dem Tode zum Himmel aufzufahren.« 11 Wird das Bild vertikal gelesen, repräsentiert der untere Kreis das Ernährungssystem (anima vegetativa), das der Erde am nächsten ist, der mittlere Zirkel das appetative System (anima sensitiva) in der Bauchregion, und der höchste Kreis das System des Geistes (animal rationalis). Der Tod drückt den Körper nieder, während ein Engel und ein Dämon die Seele in Richtung des Himmels bzw . der Hölle ziehen. Doch diese vertikale Lektüre des Bildes ist nicht die einzige. Wenn das Bild in die Horizontale gedreht wird, kann der Betrachter den inneren Sinnesapparat auch als Physiologie des Wissens verstehen. Der Leser w ird also durch unterschiedliche Interpretationsspuren angestachelt, das Emblem zu manipulieren, die subscriptio u. U. sogar wegzudrehen, um Zugang zu verborgenen Bedeutungsangeboten zu erhalten. Ist Gesners Bild in seinem Aussagegehalt nicht eindeutig genug, motiviert die inscriptio den Leser, sein eigenes Bild zu erschaffen.

II Transkription von Michael Kutzer in ders.: Anatomie des Wahnsinns: Geisteskrank-

heit im medizinischen Denken der frühen Neuzeit. Hürtgenwald: Guid Pressier, 1998, S. 222. Zu Komad Gesners Darstellung der aristotelischen Vorstellung der Hierarchie der Sinne in Eduard-Rudolf Muellener: »Konrad Gesners lllustrationen zu De Anima.«, in Gesnerus 22, 1965, S. 160-175.

66

I JAMESON KISMET BELL

Nach der Hierarchie der Seelenstufen, illustriert das horizontal ausgerichtete Bild das Funktionieren des inneren Sinnesapparats. Die äußeren Sinne sind mit den Zahlen 1 bis 5 versehen. Ursptiinglich wurde geglaubt, dass über diese Sinne generierte Infmmationen zunächst den ersten der inneren Sinne erreichen würden, den Verstand. Aristoteles zeigte in De anima, dass Menschen und Tieren Sinnesreize gemein sind, wobei die W ahmehmungsorgane des Sehens, Tastens, Hörens, Riechens und Schmeckens j e nach der seelischen Konstitution der inneren Sinnesorgane eigene Qualitäten produzieren. 12 Die hierarchische Ordnung der Zeichen, ausgehend von der Geste, dem Bild und der Schrift, spiegeln die Hierarchie der Schöpfung. Im ersten Kreis wandelt der Verstand die Reize nach basalen Kategorien - Bewegung, Ruhe, Form, Größe, Anzahl - in eine unsichtbare Substanz um, die von der zweiten geistigen Instanz, dem Imaginationsvermögen (Buchstabe A) verwertet werden kann. Das Vorstellungsvermögen bzw. die Fantasie schafft nun ein Bild, das der Vernunft zur Verfügung gestellt wird, die sich im innersten Zirkel befindet. Das Bild kann dmt in eine sprachbasierte Zeichenfolge übersetzt werden, die ihrer singulären, materiellen Qualitäten entledigt wurde. Das Gedächtnis, der dritte Kreis, lagert die Symbole der transformierten sensuellen Daten für zukünftige Prozeduren ein. Am Ende des W ahmehmungsvorgangs kann die Seele - in dieser Abbildung repräsentiert durch eine horizontale Linie - alle materiellen Komponenten des Reizes ersetzen und durch den inneren Sinnesapparat zur göttlichen Wahrheit des Wortes bzw. der Essenz vorstoßen. In diesem Emblem, stellt Gesner den Rezipienten vor eine schwierige Aufgabe: Er soll die semiotischen Differenzen von Schrift, Bild und Geste unterscheiden. Wie kann ein Leser diese Lei stung erbringen? Die Antwort liegt in dem Modus der Signifikation, der kalkulierte Wiederholungsbewegungen zwischen Geste, Bild und Schrift vorsieht, durch welche die Bedeutungen der Zeichen in die Schwebe kommen. Gesner nimmt mögliche Einwände vorweg, indem er den Verdacht äußert, dass Studierende sich vermutlich eine »exaktere Illustration« wünschen. Dies könnte entweder bedeuten, dass das Bild, das Gesner anführt, oder aber das Imaginationsvermögen des Rezipienten zur Lösung der gestellten Aufgabe unzureichend sind. Die emblematische Methode simultaner Signifikation, die Gesner anbietet, basiert also auf einer programmierten Unklarheit, sein Modell des inneren Sinnesapparats vergegenwärtigt die konstitutive

12 Aristoteles: De Anima, Buch 111. 425b, S. 12ff. 436a7-436a16 sowie »Ün Sense and Sensiblia«, in: Collected Works, übersetzt v. J. 1. Beare, 2. Bd. Oxford: Oxford University Press, 1908-1954, Bd. I, S. 693-7 13.

SIMULTANE ANORDNUNGEN

I 67

Absenz von Bedeutungshierarchien, auf denen die immaterielle, geistige Seele beruht. Wo Bilder ihren erwarteten Zweck verfehlen, indem sie keine Gegenstände und Ideen im Raum und damit gleichzeitig alles und nichts repräsentieren, liefern Gesten und Worte gerrauere Hinweise auf mögliche Deutungen. Wo körperliche Zeichen fehlen, entfalten Schrift und Bild ihre signifizierende Energie. Wo schließlich Worte und Sätze fehlen, geht die lineare Struktur verloren, die dabei hilft, die amorphen Reize zu kontrollieren, und Bild und Geste sind darauf abstellt, dem dargestellten Inhalt formal zu kontrollieren. Im 16. Jahrhundert hat sich das Emblem als simultane Anordnung von Sclu·ift, Bild und Geste etabliett, die das Ausdrucksrepertoire erweitert und das Modell des Zugangs zu absolutem Wissen verändert hat.

4.

MEDIZINISCHE UND CHIRURGISCHE EMBLEME

In diesem Abschnitt möchte ich mich dreier medizinischer Beispiele annehmen. Die erste emblematische Anordnung findet sich in einer Sclu·ift Joannes de Kenthams mit dem Titel Fasciculus medicine (1495). Das Bild illustriert das anatomische Wissen des mittelalterlichen Arztes Mondino de Luzzi. In diesem Bild steht medizinisches Personal um einen aufgebahrten Leichnam (Abb. 3). Details der Prozedur sind in dem Bild nur schwer zu erkennen, da der den Obduktionsvorgang begleitende Vortrag des Arztes von dem Rezipienten nicht nachvollzogen werden kann. Das Publikum im Bild lauscht den Worten des Mediziners, während es abwechselnd eine Tafel und den Körper betrachtet. In der im Bild inszenierten Entgegensetzung von Visualität und Textualität scheint die mittelalterliche Hierarchie der Sinne auf, in denen Worte den anderen Zeichen übergeordnet sind. 13 Die Handgriffe zur Obduktion und Präparation wie auch die Bilder, die den Text des Vortrags begleiten, werden durch das Vorlesen des Textes eines alten Meisters überflüssig. Die Herausforderungen und Grenzen von Geste und Bild werden nur in Bezug auf die Hierarchie des Wissens präsentiert: Begriffe besitzen eine überlegene signifizierende Kraft. Es dauert bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, bis der Gebrauch von Emblemen zur henschenden Darstellungsform für anatomische

13 Andrea Carlino: Books on the Body: Anatomical Ritual and Renaissance Leaming, übers. v. Tadeschi. Chicago: University ofChicago, 1999, S. 1-20.

68

I JAMESON KISMET BELL

Prozeduren wird 14 Wahre Bedeutung der Essenz war in der Schrift versteckt, die wieder und wieder von einem alten Meister vorgetragen wurden. Hatten im 15. Jahrhundert Bilder die hierarchische Ordnung der Zeichen vorgeführt, schafft nun das Emblem ein offeneres, experimentelleres Rezeptionssetting. Abbildung 3: Illustration einer Obduktion

Quelle: Joannes de Ketham. Fasciculus medicine. 1495. Wellcome Library, London.

Ein zweites Beispiel kann in Leonardo da Vincis anatomischen Schriften gefunden werden, in denen der Gelehrte u.a. den Gebrauch von geschriebener und gesprochener Sprache zur Beschreibung visueller und taktiler Erfahnmgen beklagt. Dieses epistemologische Problem wird in der Anatomie auch zukünftige Generationen beschäftigen. Im folgenden Zitat spricht da Vinci über das Problem der Beschreibung des unsichtbaren Sinus bzw. des dritten Ventrikels des Herzens, einer imaginären Struktur, aufgrund der das Blut dem Galenischen Humoralsystem zu Folge zirkuliert:

14 Katherirre Park: Secrets of Women: Gender, Generation, and the Origins of Human Dissection. New York: Zone, 2006, S. 240-243 .

SIMULTANE ANORDNUNGEN

I 69

»With what words, 0 writer, can you describe the arrangementofthat ofwhich the design is here? Y ou persuade yourself that you can satisfy the hearer when you speak of the representation ofthat which has substance and is surrounded by surfaces. Cumber not yourself with wordsnur busy yourself in making enter by the ears things, which have to do with the eyes. How can you describe this heart without filling a whole book? And the more detail you write of it the more you will confuse the hearer«. 15

Da Vincis Worten ist die Anstrengung förmlich abzulesen, die es erfordert, sich mit unzureichenden Gesten, Bildern und Begriffen einem unerreichbaren Ziel, der absoluten Wahrheit, anzunähern. Wenn mündliche Beschreibungen nicht unterbrochen oder sprachliche Zeichen in andere Medien wie z.B. Bilder oder Gesten übersetzt werden, ftihren sie beim Zuhörer nach da Vinci unweigerlich zu Konfusionen. Es bedarf endloser Beschreibungen, um das medizinische Knowhow sprachlich zu vermitteln. Auf das Problem, dass alle bedeutungsgenerierenden Medien auf sprachliche Beschreibungen zentriert sind, folgt bei da Vinci ein zweites Hindernis, wenn es heißt, sich signifizierenden Strukturen in der geltenden Wissenshierarchie anzunähern. Signifikanten verharren nicht einfach innerhalb des Rahmens ihrer semantischen Struktur. Auch wenn sich da Vinci nicht von seiner Theorie des inneren Sinnesapparats löst, strebt er es an, Bild, Schrift und Gesten in einem emblematischen Verfahren zu kombinieren, um eine adäquate Methode zur Aktivierung des inneren Sinnesapparats zu erwirken. Seine autodidaktische Methode der Übersetzung von Schrift-, Bild- und Körperzeichen ging allerdings in der Mitte des 18. Jahrhunderts und schlussendlich im 19. Jahrhundert verloren, während im 16. Jahrhundert einen weiten Verbreitungsgrad erreichtei 6 Ein drittes Beispiel des medizinischen Gebrauchs von Emblemen entstammt Hans von Geldorffs Feldtbuch der Wundartzney (1517). Gersdorff, ein Militärarzt aus Straßburg, liefe1t in seinem Lehrbuch viele Beispiele für den Mangel klarer Bedeutungshierarchien und die Notwendigkeit zur Übersetzung von Zeichen über den semiotischen Pool ihres Codes hinaus.

15 Da Yinci zitiert nach Charles Singer: Yesalus on the Human Brain. Oxford: Oxford University Press, 1952, S. xxvi. Bislang war meine Suche nach dem Originalzitat vergeblich. Zu Da Yincis geschildertem medizinischem Dilemma vgl. Robert Zwijnenberg: »Poren im Septum«, in: Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. hrsg. v. Fehrenbach. München: Wilhelm Fink, 2002, S. 60-76. 16 Charles O'Malley, J.B Saunders: Leonardo on the Human Body. New York: Dover Publications, 1982, S. 35.

70

I JAMESON KISMET BELL

Sein didaktischer Text für Chirurgen beinhaltet über 25 emblematische Bilder, die den Rezipienten in der richtigen Anwendung chirurgischer Techniken untetweisen (Abb. 4). Abschriften seines Lehrbuchs kursieren im 16. Jahrhundett in ganz Europa. Die Emblem im Feldtbuch illustrieren neue fachliche Entwicklungen und autodidaktische Methoden. Als fragmentierte Einzelheiten konnten Bilder und Worte erst in Abschriften modifiziert werden, indem die Embleme auseinander genommen und neu zusammengesetzt wurden.

Abbildung 4: Lehrbild einer Amputation

Quelle: Hans von Gersdorff. Feldtbuch der Wundartzney. Strassburg, Schott, 1517. Bayerische Staatsbibliothek München, Rar. 1457, fol. 69r.

In den Ausfühtungen zu Amputationstechniken am Ende des zweiten Buches über chirurgische Eingriffe behauptet Gersdorff, er habe auf einem Platz vor dem Saint Anthony's Hospital in Straßburg mehr als 200 Amputation vorgenommen. Er legt dem Bild ein kurzes Gedicht bei, dass die erfolgreichen Amputationen exemplarisch dokumentiert. Das Bild mit der inscriptio »Serratura«

SIMULTANE ANORDNUNGEN

I 71

(ital. »Türschloss«, übertr. Bedeutung vermutlich: »kleiner Eingriff«) zeigt einen Chirurgen, der einem Mann das Bein unterhalb des Knies amputiett. Eine Krankenschwester hält pflichtbewusst das Bein des Patienten, während der Chirurg es abschneidet. Ein Bassin unterhalb der Gliedmaßen fängt das Blut auf. Im Hintergrund ist der Patient einer Unterarmamputation zu sehen, der um seinen Hals ein Tau-Amulett trägt, das ihn vor Unheil schützen soll. Über dem Bild dient das besagte Gedicht als Anleitung flir die Interpretation der chirurgischen Szene: »Arm/bein abschniden hat sein kunst/ Vertriben sanct Anthonien Brunst. Gehrert auch nit ein yeden zu/ Er schick sichdanwie ich im thü.« 17

Das Bild allein gibt keine ausreichende Auskunft über die Verletzung des Patienten, die er sich durch Krankheiten oder militärische Manöver zugezogen haben kann. Um eine korrekte Diagnose stellen zu können, forde1t das Gedicht die jungen Auszubildenden auf, sie sollten die ftir derartige Eingriffe notwendigen Handgriffe lernen. Das Gedicht schränkt sogleich ein, eine Amputation sei allerdings »nichts für jedermann«. Ausgehend von Titel, Bild und Gedicht kann der Betrachter diese Passage auf zweifache Weise verstehen: entweder bedürfen nicht alle Patienten im Lichte Saint Anthonys einer Amputation oder nicht alle Chirurgen sind für diese Art von Eingriff qualifiziett. Folgt der Chimrg allerding den im Feldtbuch dargelegten Methoden, wird er sich, so die implizierte Botschaft, auf die korrekte Diagnose von Leiden und die erforderlichen chirurgischen Handgriffe verstehen. Das Bild zielt, genauso wie Illustrationen von Schädeltraumata, Lepra, gebrochenen Extremitäten, Verbrennungen, Schussverletzungen und gynäkologischen Behandlungen, die im Feldtbuch thematisiett werden, darauf ab, chirurgische Techniken zu vermitteln, damit junge Wundheiler dem Vorbild des erfahrenen Arztes folgen können. Die traditionelle chirurgische Ausbildung erfolgte durch Anlernen, wobei junge Auszubildende durch mündliche Unterweisungen und Nachahmung direkt von ihrem Meister lernten. In den in Knittelversen abgefassten Gedichten ist dieser Vorgang des mündlichen Lehrens und Lernens festgehalten. Mit dem Bild sollen Details der chirurgischen Handgriffe ins Zentmm gestellt werden. Das

17 Hans von Gersdorff: Fe1dtbuch der Wundartzney. Strassburg: Johann Schott, 1517, erneut publizierte Fassung bei Medicina Rara Ltd., Baiersbronn, 1971, Text # 1100, S. 73f.

72

I JAMESON KISMET BELL

Lehrbuch kompensiert die Abwesenheit emes anleitenden Meisters, auch die Begriffe und Bilder entbehren einer endgültigen Bedeutungszuweisung. Was denotativ festgehalten wurde, ist der Befehl, gemäß der katholischen Tradition eine gründliche chirurgische Ausbildung zu durchlaufen. Im Anschluss an diesen Appell setzt Gersdorff seine Beschreibungen des Amputationsvorgangs fort und scheint mit seinem Hinweis (»das heylig sacrament«) motivisch auf das TauAmulett des zweiten Patienten einzugehen: »Von der Abschneidung So sollst du den Krancken heyssen vor allenn digen beychten/un das heylig sacrament entpfahen am andere tage du in schneydest. Un soll der chirurgicus vor messz höre/so gibt im got glück zü seiner würckug.« 18

Religiöse Rituale sind sowohl für den Chirurgen und den Patienten Teil der chirurgischen Praxis, die der junge Auszubildende erst noch lernen muss. Das magische Tau-Symbol soll, betiihrt man es, heilende Effekte zeitigen, ebenso wie der Ausspruch der Worte »Saint Anthony« (die eine ähnliche heilende Wirkung versprachen) und die Berührungen des Chirurgen. Der Patient kann also in Geldorffs Szenario entspannt mit einer Decke über dem Kopf warten, bis der Chirurg ihm mit »geschklickeit« das Bein abgenommen hat. Das emblematische Verfahren hat in diesem Fall daher die Kraft, eine simultane Lernsituation zu schaffen, aus der alle unvorteilhaften Faktoren getilgt sind. Der Student muss nicht seine eigene Einbildungskraft bemühen, um sich die Szene vorzustellen, sie liegt ihm, gespeichert in einer simultanen, intermedialen Anordnung konkret vor. Die fragmentierten Signifikanten minimieren ihre jeweiligen Bedeutungsspielräume durch eine semiotische Kombination.

S.SCHLUSSBETRACHTUNG In dieser und anderen emblematischen Anordnungen, die sich bei Gersdorff finden lassen, sind eine Reihe von Brüchen im Übersetzungsprozess von Schrift, Bild und Geste festzustellen. Sie entstehen aus der intermedialen Konstellation, in der sich die schriftlichen und visuellen Zeichen - mit ihren je spezifischen syntagmatischen und paradigmatischen Strukturen befinden. 19

18 Ebd., S. 72. 19 Vgl. Roman Jakobson: Selected Writings. Paris: Mouton, 1971, S. 130-132. Für eine ausführliche Darstellung des Verhältnisses zwischen paradigmatischer und syntagma-

SIMULTANE ANORDNUNGEN

I 73

Das Syntagma ist die privilegierte Instanz der Generierung von Bedeutung, die sich z.B. in deklarativen Äußerungen nachvollziehen lässt: »Das ist ein Kopf, Bein, Fuß, Brustkorb.« Beispielsweise verbindet die gedruckte Äußerung »Amputiere dieses unterhalb des Knies kranke Bein« die lineare Syntax des Satzes mit dem Paradigma möglicher Kontrastbegriffe, um einen bestimmten Teil des Körpers (Das Bein unterhalb des Knies), seinen Zustand (verletzt) und die Handlung (Amputation), die vom Ernpfarrger der Botschaft ausgeführt werden soll, zu bezeichnen. Auf diese Weise werden Begriffe innerhalb einer linearen syntagmatischen Struktur mit Bedeutung versehen und u.U. Termini aus der Chirurgie mit Begriffen aus der Mundart verbunden. Ohne ein Bild zu sehen, olme einen Patienten direkt vor sich zu haben, nehmen die Begriffe für den Leser allerdings eine entkörperlichte, abstrakte Form an, den Signifikanten fehlt das Signifikat. Bilder wiederum operieren in räumlichen, syntagmatischen Strukturen, so dass die einzelnen Bildabschnitte darum werben, die Anordnung der Bedeutungsproduktion anzuleiten. Die Grammatik eines bildliehen Syntagmas ist auf eine andere Weise gebildet als geschriebene Sätze. Im Vergleich von Conrad Gesners Illustration des aristotelischen Modells der Stufen der Seele mit Gersdorffs Bild der Amputation sehen wir zwei unterschiedliche Versuche, eine bildliehe Struktur verständlich zu machen. Gesner beginnt seine Bildbeschreibung mit dem Satz »Von der Unterseite aus gelesen«, der die Leserichtung des Lesers lenkt und damit eine syntagmatische Struktur aufdrängt. Dieser Satz deutet auch ein grundsätzliches Problem der Bildrezeption an: An welchem Punkt soll die Betrachtung ansetzen? Bilder interpretieren sich nicht selbst, sie bedürfen eines Zusatzes, der mögliche Bedeutungsregister eröffnet. Zum Vergleich: Gersdorffs Bild der Amputation bietet keinen klaren Ausgangspunkt an, von dem aus der Blick starten kann. Das vergrößerte Wort »Serratura« zieht die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich, aber es ist kein klarer Anfang. Die Abschattung des Bildhintergrunds und die traumatische Szene mit dem Bein, dem Schnitt, und der Geste des Schneidens im Zentrum des Bildes lenkt die Aufmerksamkeit auf den Vordergrund, aber es gibt keine spezifische temporale Sequenzierung. Die unterschiedlichen Werkzeuge auf der Bank, die Arbeitsbekleidung wie auch das TauAmulett, das um den Hals des Patienten hängt, versuchen den Blick des Lesers in unterschiedliche Richtungen zu ziehen. Eine bildexterne Beschreibung ist erforderlich, um die endlose Suchbewegung nach Details und Sinnangeboten zu unterbrechen. Ohne die Einführung eines zeitlichen Rahmens, durch den die ein-

tischer Achse vgl. Rebecca Green: »Syntagmatic relationship in lndex Languages«, in: The Library Quarterly (1995), S. 365-371.

74

I JAMESON KISMET BELL

zeinen Bildabschnitte sortierbar werden, kann das Bild nicht dem Zweck der chirurgischen Ausbildung dienen. Dieses Problem wird in der Ausbildung von Chirurgen später so gelöst, dass eine episodenhafte Reihung emblematischer Anordnungen an die Stelle einzelner bedeutungsoffener, simultaner Anordnungen treten. Die Handgriffe werden zeitlich gerahmt und in Einzelsequenzen präsentiert. Die Expansion emblematischer Bilder hat damit die Gesten und Handgriffe von Chirurgen, Ärzten und Naturphilosophen beeinflusst, die gleichermaßen in den Emblemen nach versteckten Wahrheiten bzw. hilfreichen Informationen suchten. Das Emblem, das im flühen 16. Jahrhundert auftauchte, hat damit zu einer neuen sozialen Praktik der Wissenskonstruktion geflihrt. Anstatt die Vorherrschaft der Schrift zu unterstützen, deren Rezeption an Rituale der Meditation und der Gebrauch der inneren Sinne gebunden war, an deren Ende der Leser die Essenz des Geschriebenen erfasst, zeichnen sich semiotische Strukturen, die aus Schrift, Bild und Gesten bestehen, durch Dehierarchisierung und eine offene Bedeutungskonstitution aus. Das Ziel ist nicht länger eine Reise durch unterschiedliche Hierarchien von Zeichen, sondern die Einflihrung neuer Codes, die eine Übersetzung von Zeichen über die Grenzen ihrer semiotischen Milieus hinaus anregen. Bilder unterstützen Begriffe, Begriffe unterstützen Gesten, Gesten unterstützen Bilder. Wenn historische, naturwissenschaftliche, medizinische und künstlerische Objekte durch emblematische Anordnungen untersucht werden, kann sich ihr Bedeutungsangebot nur stabilisieren, da es in paradigmatische und syntagmatische Achsen eingefügt ist, die seinen Bedeutungsspielraum begrenzen. Gleichwohl führt auch hier gerade die kalkulierte Unschärfe von Formulierungen zu einer Nivellierung textueller Aussageleistungen. Das Emblem flihrt damit durch seine simultane Anordnung intermedialer Zeichenvorräte letztlich zu einer offeneren Lektüre, die bisweilen auch der Kompensation von epistemologischen Defiziten dienen kann, die aus der Absenz des Meisters resultieren.20

LITERATUR Aristoteles: »De Anima«, in: Collected Works, übers. von J. I. Beare, 2 Bände. Oxford: Oxford University Press, 1908-1954. Aristoteles: »Ün Sense and Sensiblia«, in: Collected Works, übers. von J. I. Beare, 2 Bände. Oxford: Oxford University Press, 1908-1954.

20 Ludwik Fleck: Genesis and Development of a Scientific Fact, S. 20ff.

SIMULTANE ANORDNUNGEN

I 75

Andrea Carlino: Books on the Body: Anatomical Ritual and Renaissance Learning. Übers. Tadeschi. Chicago: University ofChicago, 1999. Peter M. Daly: Literature in the Light of the Emblem: Structural Parallels between the Emblem and Literature in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. 2. Edition. Toronto: University ofToronto Press, 1998. Ludwik Fleck: Genesis and Development of a Scienific Fact. Chicago: University of Chicago Press, 1979. Hans von Gersdorff: Feldtbuch der Wundartzney. Strassburg: Johann Schott, 1517. Rebecca Green: »Syntagmatic relationship in Index Languages.« in: The Library Quarterly (1995), S. 365-371. Ruth E. Harvey: The Irrward Wits: Psychological Theory in the Middle Ages and the Renaissance. London: Warburg Institute, 1975. Roman Jakobson: Selected Writings. Paris: Mouton, 1971. Sirnon Kemp: Medieval Psychology. New York: Greenwood Press, 1990. Sirnon Kemp: Cognitive psychology in the Middle Ages. New York: Greenwood Press, 1996. Friedrich Kittler: Gramophone, Film, Typewriter. Stanford: Stanfm·d University Press, 1999. Michael Kutzer: Anatomie des Wahnsinns: Geisteskrankheit im medizinischen Denken der frühen Neuzeit. Hürtgenwald: Guid Pressier, 1998. Bruno Latour: »Visualisation and Cognition: Drawing Things Together«, in: Knowledge and Society Studies in the Sociology of Culture Past and Present 6, Amsterdam, Jai Press, 1988. Charles O'Malley, J.B. Saunders: Leonardo on the Human Body. New York: Dover Publications, 1982. Katherirre Park: Secrets of Women: Gender, Generation, and the Origins of Human Dissection. New York: Zone, 2006. Plinius der Ältere: »Natural History«, in: Perseus Project. Hrsg. v. John Bostock, M.D., F.R.S., H.T. Riley, Esq., B.A. http://data. perseus.org/citations/urn:cts: latinLit:phi0978.phiOO 1.perseuseng1:16.81. Letzter Aufruf: 16.12.2012. Mario Praz: Studies in Seventeenth-Century Imagery. 2. Edition 1964. Roma: Edizioni De Storia E Letteratura, 1936. Daniel Russell: Emblematic Structures in Renaissance French Culture. London: University ofToronto Press, 1995. Daniel Russell: »Perceiving, Seeing and Meaning: Emblems and Some Approaches to Reading Early Modern Culture«, in: Aspects of Renaissance and

76

I JAMESON KISMET BELL

Baroque Symbol Theory:1500-1700. Hrsg. v. Peter Daly. New York: AMS Press, INC, 1999, S. 77-93. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München: Beck, 1993. Charles Singer: Vesalus on the Human Brain. Oxford: Oxford University Press, 1952. Carsten-Peter Wamcke: Symbol, Emblem, Allegorie. Die zweite Sprache der Bilder. Köln: Deubner, 2005 Robert Zwijnenberg: »Poren im Septum«, in: Leonardo da Vinci. Natm im Übergang. Hrsg. v. Felu·enbach. München: Wilhelm Fink, 2002, S. 60-76.

Weltbildgebung Kreation im Feld der Wissenschaft

CLAUDIA NIEWELS

»Die neuzeitliche Errungenschaft eines Weltbildes im Sinne eines Weltgebildes selbst impliziert, daß jede Unmittelbarkeit, jede Möglichkeit von unvermittelter Evidenz immer schon vergeben ist. Der Prozcß des Analogisicrcns, Modcllicrcns und Rcalisicrcns verläuft ni cht von der Erscheinung zum Wesen, von der Repräsentation zum Repräsenti erten, von der Oberfläche in die Tiefe; er konstituiert sich vielmehr horizontal, als ein laterales Oszillieren zwischen verschiedenen Repräsentationsräumen [ ... ]. Als wissenschaftlicher Prozcß kann dieser Vorgang, wenn man ihn so auffaßt, pcr dcfinitioncm nicht zu einem Stillstand kommen, solange er jedenfalls als Forschung betrieben wird.«'

1.

MODELLIEREN UND POPULARISIEREN

Der Mediziner und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck hat in seiner 1935 erschienenen Schrift Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache den Prozess der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse als Durchsetzung eines historisch entstandenen Denkstils aus der Fachwissenschaft hinein in die Öffentlichkeit beschrieben. Seine Charakterisierung dieses Prozesses kann meines Erachtens bis heute Gültigkeit beanspruchen und eröffnet das Feld, um das es im Folgenden geht:

Hans-J. Rhcinbcrgcr: »Von der Zelle zum Gen. Repräsentationen der Molekularbiologie«, in: Hans-J. Rheinherger u.a. (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Bcrlin : Akademie Verlag, 1997, S. 265-279, hier S. 272.

78

I CLAUDIA NIEWELS

»Charakteristisch flir eine populäre Darstellung ist der Wegfall der Einzelheiten und hauptsächlich der streitenden Meinungen, wodurch eine künstliche Vereinfachung erzielt wird. Sodann die künstlerisch angenehme, lebendige, anschauliche Ausführung. Endlich die apodiktische Wertung, das einfache Gutheißen oder Ablehnen gewisser Standpunkte. Vereinfachte, anschauliche und apodiktische Wissenschaft - das sind die wichtigsten Merkmale exoterischen Wissens. An Stelle des spezifischen Denkzwanges der Beweise, der erst in mühsamer Arbeit herauszufinden ist, entsteht durch Vereinfachung und Wertung ein anschauliches Bild.«2

Gegenwärtig macht insbesondere die biowissenschaftliche Forschung durch Bilder des Körperinneren und im Besonderen des Gehirns auf sich aufmerksam. Hirnbilder verzieren nicht nur bunte Seiten in den renommierten Fachzeitschriften Nature und Science, sondem auch die in Hochglanzzeitschriften sowie Tageszeitungen und stellen damit Interventionen im öffentlichen Raum dar. Die biopolitische Frühlingsstimmung, mit der insbesondere die Neurowissenschaften ihre gesellschaftliche Relevanz beanspruchen und bereits zu Diskussionen eines neuen Menschenbildes aufrufen 3, lässt sich nicht zuletzt ablesen an der Formierung neuer Bindestrich-Wissenschaften: Neuro-Pädagogik, Neuro-Ökonomie, Neuro-Theologie, Neuro-Marketing und Neuro-Kriminalistik nennen sich diese interdisziplinär zusammengesetzten Forschergruppen. Dabei bedeutet Fortschritt im Projekt der Bio-Aufklärung des Menschen über sich selbst, so der Konsens, vor allem technischen Fortschritt im Bereich bildgebender Verfahren. Für die Einordnung und Bewertung dieser Bilder ist es vonnöten, sie in einen größeren Kontext von Bildtransformationen einzuordnen. Gegenwärtig beschränken sich die Fragen der Neurowissenschaft jedoch auf den Aspekt, wie Bilder als Träger von Informationen technologisch und wissenschaftstheoretisch optimiert werden können und wie kriminellen Manipulationen von digitalen Himbildern im Zeitalter des Bildbearbeitungsprogramms Photoshop zu begegnen sei. 4

2

Ludwik Fleck : Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Dcnkkollcktiv. FrankfUJi a. M.: Suhrkamp, 1980, hier S. 149, kurs. i. Orig.

3

Vgl. »Das Manifest. Elf fuhrende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung«, in: Gchim und Geist, Heft 6, 2004, S. 20-39; Wolf Singcr: Ein ncucs Menschenbild? Gespräche über Himforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003.

4

Vgl. Horst Brcdckamp: >»Nature< über >Picturcssubjektiven Zeit< von Handelnden [ist, E.S.], die eine Praktik vollziehen« 17 . Zu Anfang wurde im Anschluss an Damasio der Gedanke verfolgt, dass es immer nur die Gegenwart der Vergangenheit und die Gegenwart der Zukunft gibt und Zeit nach dieser Definition die lineare Abfolge von Gegenwarten ist. Verbindet man diesen Gedanken mit den sozialkonstruktivistischen Überlegungen von Gedächtnis und Antizipation wird klar, dass gerade die Praktiken selbst Zeit hervorbringen. 18 Die Wiederholung der gemachten Erfahrung und die daran geknüpfte Antizipation der erwarteten Zukunft aktualisieren sich gleichzeitig in der Gegenwart und bilden so die Praxis, indem sich aber in eben dieser Gegenwart an die tatsächlichen Umstände der gegenwärtigen Situation angepasst werden muss. »This temporal sequence is born ofthe practice itself. « 19

17 Ebd.,S.373. 18 Vgl. Nassehi 2008, S. 11; Shove/Pantzar/Watson 20 12, S. 129; Schatzki/Knorr Cetina/Savigny 2001, S. 2. 19 Ebd.

140

I ESTHER SCHEURLE

2.3

ZEITREGIME UND ZEITEMPFINDEN: SIMULTANEITÄT ALS SYNTHESELEISTUNG DER ZEITKONSTRUKTION AM BEISPIEL VON ARBEITSZEIT

Das Konzept der Simultanität ist ein Teilaspekt dieses soziologisch inspirierten Nachdenkens über Zeit. Die Soziologie leistet den zentralen Beitrag, die diskursiv dominierende physikalische Konzeption von Zeit20 durch eine sozialkonstruktivistische Perspektive zu erweitern und in diesem Sinne auch zu hinterfragen. So wird hier in den ersten Abschnitten dieses Aufsatzes zunächst mit der »geradezu stereotypen Feststellung« begonnen, dass »Zeit eine Fundamentalkategorie der sozialen Wirklichkeit sei« 21. In diesem Kontext lassen sich in Anlehnung an Norbert Elias (1988) idealtypisch verschiedene Dimensionen der ZeitNatur, Gesellschaft und Individuum- voneinander entkoppelt, um das Verhältnis des Menschen zur Zeit näher zu analysieren.

Abbildung 1: Darstellung zu Nobert Elias: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie 11. Frankfurt a. M : Suhrkamp, 1988.

INDIVIDUUM

Vergänglichkeit

NATUR

GESELLSCHAFT

Quelle: Esther Scheurle

20 Vgl. Elias 1988, S. 92ff. 21 Rosa 2005, S. 20.

ZEITKONSTRU KT ION ALS DISKURS UND PRAX IS

1141

Dabei gilt diese Trennung als heuristisches Mittel, um sich den Phänomenen des Alltags Schritt für Schritt annähern zu können. »Zuerst gebrauchen sie [die Menschen, E.S.] kontinuierliche Sequenzen dessen, was wir Natur-Ereignisse nennen, und dann in zunehmendem Maße menschengeschaffene mechanische Sequenzen kontinuierlicher Veränderungen als Mittel zur Bestimmung von Positionen in der Abfolge des Nacheinander ihrer selbst in ihrer dreifachen Eigenschaft: als biologische, soziale und persönliche Prozesse.« 22

Ein für Elias besonders wichtiger Punkt im Rahmen seiner Theorie des Zivilisationsprozesses ist die Verortung der Menschen innerhalb des Geschehens der Natur, entgegen der eher gängigen Gegenüberstellung von Natur und Kultur und der Subsumierung des Menschen unter die Sozialkategorie Kultur. Ein insgesamt immer wieder in soziologischen Überlegungen auftauchender Kristallisationspunkt dieser Einordnung von Zeit als anthropologischer Grundkonstante ist die Lebensspanne des Menschen vom Zeitpunkt der Geburt bis zum Zeitpunkt des Todes. Diese unhintergehbare Tatsache dete1miniert die Wahrnehmung der eigenen Person und ihrer Relation zur Lebenswelt Das Wissen der Tatsache, dass man stirbt, geht mit dem Nichtwissen des Zeitpunkts einher und prägt das individuelle Zeiterleben der Individuen als entkoppelt von der Möglichkeit der Einflussnahme, d.h. als naturgegeben. »Wir erfahren unsere Zukunft als einen unerforschten offenen Horizont der Gegenwart, aus dem nur eine Tatsache mit Gewißheit herausragt, nämlich daß wir sterben müssen und nicht wissen wann.«23 Diese Einschätzung ist diskursiv so besetzt, dass Zeit - gemessen an menschlicher Vergänglichkeit - als dem Zutun entzogene Größe gilt. Diesem Gedanken der Seinsgegebenheit werden Zeitraster sozialer Prozesse gleichgesetzt und generalisiert, d.h. da die eigene Lebensspanne nicht beeinflusst werden kann, erlangt Zeit objektiven Stellenwe1t. Diese Analogie invisibilisiert die soziale Konstruktion der Zeitregime. Dabei gilt es in Elias' Sinne des Zivilisationsprozesses, die historische Gerichtetheit der Genese der Beschreibungskategorie Zeit zu beachten. Auf materieller Ebene repräsentiert die Einltihrung der Uhr beispielhaft die technische Möglichkeit Zeit »sichtbar« zu machen und hat in dieser Form weitreichende Konsequenzen, nicht nur für die kollektive Koordination im Alltag, sondern auch für die Subjektivierungsweisen der einzelnen Individuen. Hier zeigt sich bereits die Verschränkung persönlicher und sozialer Pro-

22 Elias 1988, S. 41 , Hervorhebung E.S. 23 Schütz 1982, S. 222.

142

I ESTHER SCHEURLE

zesse. Was Elias- wie zitiert- »Abfolge des Nacheinanders« nennt, wird zentral durch die Spaltung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwatt und Zukunft und die Relation dieser Sequenzen zur individuellen Lebenswelt repräsentiert, womit Elias' These der zielgerichteten Entwicklung des Zivilisationsprozesses anhand des intersubjektiv koordinierenden Charakters der Zeit deutlich wird. »Mit anderen Worten: Die menschliche Erfahrung dessen, was heute >Zeitsystemischen Zeitfenstem< durch die tendenziell schrankenlose Ausdehnung von Verfügbarkeits-, Operations-, und Zugriffszeiten, welche die kollektiven Rhythmen des sozialen Lebens erodieren, und irrfolge der damit einhergehenden Flexibilisiemng der individuellen bereichsspezifischen Engagementzeiten zeichnet sich nun jedoch auch im Bereich der alltägliche[n] Zeitstrategien und-praktikenein >Paradigmenwechsel< ab: Wenn den Aktivitäten des täglichen Lebens wie arbeiten, einkaufen, Freunde treffen, Korrespondenz erledigen, sich um die Familie kümmern etc. kein vordefiniertes Zeitfenster mehr zur Verfügung steht, weil zum einen ihre Ausübung jederzeit möglich ist und zum anderen unvorhersagbare Ereignisse stets ein ungeplantes oder intensiviertes Engagement erforderlich machen können, wird es rational, den Alltag flexibel zu gestalten,

34 Höming/Ahrens/Gerhard 1997, S. 168. 35 Ygl. Beck 1986; Becld Beck-Gemsheim 1994. 36 Ygl. GroßiBoger 20 11, S.169f.

146

I ESTHER SCHEURLE

wobei zur Koordination und Synchronisation dann insbesondere die neuen Mobiltechniken benutzt werden können.«37

Dabei ist mit Zeitdiagnose bereits eine Zeitrelation gemeint, nämlich der Bezug auf die Gegenwartsgesellschaft und die entscheidenden Kriterien der Zuschreibung ihrer Ordnung im Sinne eines zentralen Bezugspunktes für das Kollektiv, um gesellschaftliche Kohäsion, d.h. Koordination und kollektive Handlungssynthese abzusichern. Zeitdiagnostisch augewandte Faktoren sind dabei augenblicklich Bezugsgrößen wie Arbeit, Individualisierung, Beschleunigung und Wissen. Zeitregime und Zeitempfinden gewinnen erst in Relation zu den jeweiligen Bezugsgrößen an Kontur und vice versa. Arbeit kann erst zeitdiagnostische Relevanz bekommen, wenn tatsächlich ein immenser Anteil der individuellen Lebenszeit in diese investiert wird bzw. werden muss und z.B. entscheidende Anerkennungsstrukturen über die Bewertung der geleisteten Arbeit definiert werden. Individualisierung gewinnt dmch die Eigenverantwortung des Gelirrgens oder Scheiterns der eigenen Lebensplanung im Sinne von lebensabschnittsabhängigen Statuspassagen an Kontur. Beschleunigung in Bezug auf technischen Fortschritt zeigt sich beispielhaft in der Entwicklung des Transportwesens in Form von Bahn und Flugzeug38 , da durch eine schnellere Bewegung durch den Raum die Zeit der Reise verkürzt wird und durch dieses Potenzial Mobilitätsanforderungen steigen. Ebenso symptomatisch ist die Kategorie der Zeit in Bezug zur Zeitdiagnose der Wissensgesellschaji. Die Verknüpfung der individuellen und kollektiven Wissensbestände regulieren und stabilisieren Wissen über die Zeit hinweg, verdichten praktischen Vollzug zu wiederholbaren Mustern und machen Entwicklung damit möglich, da Wissen über die Zeit und über Generationen hinweg gleichzeitig konserviert und verändert werden kann.

3.

SIMULTANEITÄT ALS FLÜCHTIGES UND MANIFESTES ELEMENT ZWISCHEN VOLLZUG UND KONSTRUKTION

Der Aspekt der Simultanität, aufgrund der bisherigen Ausführungen hier in soziologischer Perspektive verstanden als Gleichzeitigkeit individueller Erfahrung und Aktualisierung kollektiv-diskursiver Handlungsnormen mit Appellcharakter, beschreibt den Moment des tatsächlichen praktischen Vollzugs. Dabei ist entscheidend, dass die Praxen sich zwar an Wiederholungssequenzen orientieren,

37 Rosa 2005, S. 367. 38 Vgl. ebd., S. 124ff.

ZEITKONSTRUKTION ALS DISKURS UND PRAX IS

1147

aber eine stetige Verschiebung im eigentlichen Vollzug stattfindet, da durch die Linearität von Zeit kein Moment identisch mit dem anderen sein kann. Die Zuschreibung von Sinnhaftigkeit geschieht retrospektiv mit der Einordnung der Handlung als gelungen oder nicht gelungen. Was sich in der Handlungstheorie als Rational-Choice-Modell erkenntnisleitend durchgesetzt hat, ist also eine Konzeption, die den Zuschreibungsprozess ex post erfasst, nicht aber den eigentlichen situativ gebundenen Vollzug. 39 Durch die Einbettung der Praxen in nie gleiche Situationen und Kontexte kann vorab zwar ein Vollzugsentwurf geleistet werden, der eine Zielvorstellung auf den Weg bringt, wo diese zunächst fiktive Vorstellung aber dann tatsächlich hinfüh.tt, ist nicht steuerbar, sondern beruht auf Wahrscheinlichkeitseinschätzungen. Die Handlungstheorie überrationalisiert also das Tun durch die Fokussierung einer eigentlich retrospektiv gerichteten Bewertungseinordnung, die von ihr in Form von Entscheidungsfindungsprozessen als vorausgehend essentialisiert wird. Die Kontinuität des Zeitflusses wird reflektierend unterbrochen, indem aus der gerade vergangen gewordenen Tätigkeit ein Idealtypus abstrahiert wird und so Sinn projizie1t werden kann. Hier aber ist Simultanität die In-eins-Setzung verschiedener Vergangenheiten - die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«40 - die sich in der Verallgemeinerung ineinanderfügen und damit Sinn nicht nur individuell sondern auch intersubjektiv ermöglicht. Die Praxis ist der Angelpunkt der Beschreibung der Konstruktionsprozesse, indem in ihr die Simultanität von individueller Elfahrung und diskursivem Wissen im Vollzug geschaffen wird.

LITERATUR Jan Assmann (2005): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck. Ulrich Beck (1986): Risikogesellschaft Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernheim (1994) (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Peter L. Berger, Thomas Luckmann (2001): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Fischer.

39 Ygl. Schmidt 2012, S. 52. 40 Ygl. Nassehi 2008.

148

I ESTHER SCHEURLE

Andrea D. Bührmann, Werner Schneider (2008): Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld: transcript. Antonio R. Damasio (2001): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. München: List. Norbert Elias (1988): Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Richard Florida (2004): The Rise of the Creative Class: And How It's Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life. New York: Basic Books. Michel Foucault (1981): Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lena Groß, Mai-Anh Boger (2011): »Subjektives Belastungsempfinden von Studierenden«, in: Schulmeister, Rolf, Christiaue Metzger (Hg.): Die Workload im Bachelor: Zeitbudget und Studierverhalten. Eine empirische Studie. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann, S. 153-1 72. Karl H. Hörning, Daniela Ahrens, Anette Gerhard (1997): Zeitpraktiken. Experimentierfelder der Spätmoderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Reiner Keller (2008): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Sandra Mitchell (2008): Komplexitäten. Warum wir erst anfangen die Welt zu verstehen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Armirr Nassehi (2008): Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Wiesbaden: VS Verlag flir Sozialwissenschaften. Andreas Reckwitz (2003): »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, Heft 4. S. 282-301. Hartmut Rosa (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Franz Schapfel-Kaiser (2008): Beruf und Zeit. Pilotstudie zum Zeiterleben in Erwerbsbemfen am Beispiel von Hebammen, Straßenbahnfahrem, leitenden Angestellten und Künstlern. Bielefeld: Bertelsmann. Theordore R. Schatzki, Karirr Knarr Cetina, Eike von Savigny (2001) (Hg.): The practice turn in contemporary theory. London, New York: Routledge. Robert Schmidt (201 2): Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen. Frankfmt a. M.: Suhrkamp. Rolf Schulmeister, Christiaue Metzger (2011) (Hg.): Die Workload im Bachelor: Zeitbudget und Studierverhalten. Eine empirische Studie. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann. Peter Grass (1994): Die Multioptionsgesellschaft Frankfurt a. M .: Suhrkamp. Alfred Schütz (1982): Das Problem der Relevanz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

ZEITKONSTRU KT ION ALS DISKURS UND PRAX IS

1149

Elisabeth Shove, Mika Pantzar, Matt Watson (2012): The Dynamics Of Social Practice. Everyday Life And How It Changes. London, Thousand Oaks, New Delhi, Singapore: Sage. Lucia Stanko, Jürgen Ritsert (1994): Zeit als Kategorie der Sozialwissenschaften. Eine Einfüluung. Münster: W estfalisches Dampfboot

Zentrifugalmacht Figurationen politischer Zeit in den Modellen der Postdemokratie

PHILIPP HUBMANN

1.

EINLEITUNG: DAS BILD DES MODERNEN POLITIKERS

In den letzten Jahren wurden in der Politologie und Soziologie vermehrt Anstrengungen unternommen, den Wert und die Funktion der Zeit für politische Entscheidungsprozesse zu analysieren. Gisela Rieseher hat sich in einer sehr ausführlichen Studie der Zeitökonomie parlamentarischer Ordnungen angenommen 1, Kari Palonen beschäftigte sich mit der Emanzipation demokratisch gesinnter Parlamentarier und der Herausbildung einer speziellen modernen Politikethik im Übergang von der ständischen zur demokratischen Ordnung 2 , Bruno Latour unterzog die Wahrnehmung moderner Politik in der Gesellschaft einer fundamentalen Kritik, indem er der Öffentlichkeit ein romantisch-verklärtes Politikverständnis unterstellte.3 Dieser Aufsatz nimmt sich des Verhältnisses von Politik und Zeit aus einer entsprechend des Themas dieses Bandes modifizierten Perspektive an. Er geht

Gisela Riescher: Zeit und Politik. Zur institutionellen Bedeutung von Zeitstrukturen in parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystemen. Baden-Baden: Nomos, 1994. 2

Kari Palonen: A Struggle With Time: A Conceptual History of Politics As an Activi-

3

Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wis-

ty. Berlin, Münster: Lit, 2006.

senschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002.

152

I PHILIPP HUBMANN

dem Eindruck nach, dass das aktuelle demokratische Systeme mit einer doppelten Anhäufung von Unzufriedenheit zu tun hat: Einer Frustration seitens der Wählerschaft, die sich ein verbindlicheres, effizienteres, charismatischeres politisches Personal wünscht und bisweilen glaubt, selbst mit Petitionen und Protesten kaum Gehör zu finden; und einer Ernüchterung seitens der Parlamentarier, die ihr Tätigkeitsfeld in einer global vernetzten, kapitalistisch strukturierten und hochgradig bürokratisierten Zeit von mannigfachen Einflüssen infiltriert sehen, in der selbst ursprünglich anvisierte und gegenüber den Bürgern in Aussicht gestellte Reformen nicht oder nur stark eingeschränkt umgesetzt werden können. Colin Crouch hat diese scheinbar paradoxe Situation in seinem Modell der »Postdemokratie« konzeptualisiert. Er zeichnet darin das Bild eines politischen Betriebs, der datum bemüht ist, die Fassade einer funktionierenden Demokratie zu wahren, während er in seinen Funktionsweisen weitestgehend außer Kraft gesetzt wurde. Ausgehend von Crouchs Überlegungen soll der Versuch unternommen werden, diesen propagierten Übergang von einer handlungsfähigen demokratischen Ordnung zu einer primär inszenierten Postdemokratie anhand der Untersuchung politologischer Zeitkonzepte nachzuzeichnen: Beruht bereits die frühe Politikethik auf dem klassischen kairos-Topos, der darauf abstellt, den Politiker als einen Meister über die »Gunst der Stunde« vorzuführen, so folgt der Politiker der Postdemokratie einer situativen Ethik, die spontan auf aktuelle Anforderungen reagiert, statt selbst strategisch agieren zu können. Eben diese situative Ethik gilt es, vor dem Hintergrund des postdemokratischen Modells näher zu beschreiben.

2.

DAS MODELL DER POSTDEMOKRATIE

Die vermeintliche Unübersichtlichkeit der Politik scheint nicht allein die Begleiterscheinung eines sich verkomplizierenden Globalgeschehens4 zu sein: Sie geht auch auf den medialen Repräsentationsmodus moderner Politik zurück. Seit

4

Ulrich Beck unterstreicht in seinem Buch über Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter dem entgegen: »Das exklusive Szenario, nach dem die Nationalstaaten und

das System internationaler Beziehungen zwischen Staaten den Raum kollektiv politischen Handeln bestimmten, wird gleichzeitig von innen und außen aufgebrochen und sukzessive ersetzt durch ein komplexes, Grenzen übergreifendes, Machtregeln veränderndes, paradoxienreiches, unberechenbares, sub- und weltpolitisches Metamachtspiel mit offenem Ausgang.« Ulrich Beck: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 23.

ZENTRIFUGALMACHT

1153

den 90er Jahren sei eine Theatralisierung der Politik zu beobachten, mutmaßt der britische Politologe Colin Crouch. Politik müsse zum Event und Spektakel werden, ehe bestimmte Themen in den Fokus rücken und sich dmt gegenüber den Überbietungen eines konkurrierenden agenda settings behaupten können. Die Medialisierung der Politik hat Crouch zu Folge nicht nur das PolitMarketing sondern die Demokratie selbst im Kern modifiziert. Crouch entwirft deshalb ein demokratietheoretisches Dekadenz-Modell, das er mit dem Namen »Postdemokratie« versieht, um den epigonalen Status des vorherrschenden politischen Geschehens zu akzentuieren. Unter »Postdemokratie« versteht der britische Wissenschaftler » ... ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, daß Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf solche Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierungen wird die reale Politik hioter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.«5

Crouch räumt sogleich ein, dass dieses »Modell eine Übeitreibung« sei,6 gleichwohl insistie1t er auf den Befund einer Aushöhlung traditioneller demokratischer Entscheidungs- und Entscheidungsfindungsprozeduren. »Während die demokratische Institution formal weiterhin vollkommen intakt sind, [ ... ] entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in einer Richtung zurück, die typisch war für Vordemokratische Zeiten: Der Einfluß privilegieiter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfi"ontiert«? Indizien, die diese Einschätzung stützen, seien ein Hang zur Symbolpolitik und alibihafte Versuche der Einbindung von Bürgern in politische Entscheidungsprozesse. In diesem Sinne sei u.a. die Rücktrittskultur als ein Sachprobleme überspielender Deeskalationsmechanismus zu verstehen, der effektiv zur Beseitigung des Unmuts der Wähler eingesetzt werden kann, ohne jedoch inhaltliche Probleme zu lösen. »Jedesmal, wenn wir einen

5

Colin Crouch: Postdemokratie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008, S. I 0.

6

Ebd.

7

Ebd., S. 14.

154

I PHILIPP HUBMANN

Fehler oder ein Mißgeschick bereits dann als behoben betrachten, wenn ein unglückseliger Minister oder Beamter zurücktreten muß, machen wir uns paradoxerweise mit einem Modell gemein, in dem die Politik allein als das Geschäft kleiner Gtuppen elitärer Entscheidungsträger gilt.« 8 Das tatsächliche Skandalon der postdemokratischen Demokratie sei vor allem in der kulturgeschichtlich weit zurückreichenden systematischen Diffamierung des politischen Personals zu suchen, durch das die Verhandlungsposition von Mandatsträgem gegenüber Lobbyverbänden und der durch sie vertretenen Konzerne nachhaltig geschwächt wurde. »Der Respekt, den man den Politikern entgegengebracht hat, ist zusammengebrochen, insbesondere im Umgang der Massenmedien mit den politischen Eliten; alle betonen, wie wichtig es sei, daß das Regierungshandeln ftir die Bürger vollkommen transparent sein müsse; und die Politiker werden in einer Weise degradiert, daß sie eher dem Besitzer eines kleinen Ladens ähnlich sehen als einem Herrscher: Wenn sie im Geschäft bleiben möchten, müssen sie sich permanent bemühen herauszufinden, was die >Kundschaft< ha-

ben will.« 9 Die enge Verbindung zwischen Staat und Wählerschaft konnte laut Crouch auch darum erodieren, weil durch den Abbau sozialpolitischer Sicherungsleistungen »die intrinsische Verbindung« zwischen Staat und Bürgerschaft verloren gegangen sei. 10 War das Wahlrecht, so es bestand, Jahrhunderte lang an Besitzverhältnisse gekoppelt, sei die intime und vertrauensvolle Allianz zwischen Wählern und den Parlamenten entstanden, als beide bereit waren, ein anspruchsvolles Verhältnis gegenseitiger Verantwortlichkeit einzugehen, das die soziale Absicherung auf der einen Seite, die Aufrechterhaltung einer starken Demokratie auf der anderen Seite voraussetzte. Diese Verantwortung kann allerdings von beiden Seiten, so suggerieren es die Ansätze der politologischen Soziologie, kaum mehr wahrgenommen werden, da sich die Voraussetzungen für die Konstitution von Gesellschaft durch die Atomisierung und Dynamisierung der Lebensverhältnisse verkompliziert haben. Das sich abzeichnende Auseinanderdriften der diversifizierten gesellschaftlichen Teilbereiche wurde im deutschen Sprachraum vor allem von Hartmut Rosa mit der Kategorie der Zeit koneliert. Rosa geht in seiner Monografie Beschleunigung, Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (2005) von einer zeit-

8

Ebd., S. 23.

9

Ebd., S. 32.

10 Ebd., S. 105.

ZENTRIFUGALMAC HT

I 15 5

Iichen Entkopplung der politischen, wissenschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Sphäre der Gesellschaft aus, wobei die dynamischsten Sektoren, allen voran Industrie und Wirtschaft, eine Auflösung von systemischen Kohärenzpotentialen provozieren, indem sie schützenswerte >langsamere< Bereiche pe1manent unter Druck setzen und selbst durch die Definition von berufsbedingten Anwesenheits- und Verfligbarkeitszwängen eine Ausweitung des eigenen Einflusses anstreben. Abbildung 1: Schema der de-~ynchronisierten Politik Verkürzung des Zeithorizonts/ Verknappung der Zeitressourcen:

- Zeitraum für Entscheidungen schrumpft (Geschwindigkeit technischer und sozialer Innovationen steigt) - Zahl notwendiger Entscheidungen wächst -Verknappung der Zeitressourcen pro Entscheidung - Horizont der Berechenbarkeil schrumpft (Gegenwartsschrumpfung)

1

Konsequenz:

Verlagerung von Entscheid ungen in schnellere Systeme:

Politische Entscheidungen

--+

- Verrechtlichung - Oe-Regulierung - ~rivatisierung - Ubergewicht der Exekutive über die Legislative

r Erweiterung des Zeithorizontsl Steigerung des Zeitbedarfs:

- Reichweite der Entscheidungswirkungen wächst (z.B. Gentechnik) - Planungsbedarf pro Entscheidung steigt infolge wachsender Kontingenzen - Erosion der kulturellen und sozialstruktureilen Entscheidungsgrundlagen (Desintegration) führt zu erhöhtem Zeitbedarf

Abb.

1):

Paradoxien politischer Zeit

Quelle: Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Modeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005, S. 232.

Die Möglichkeiten einer Weltschätzung der Politik beeinträchtigt dies schon auf einer ganz basalen Ebene: Nämlich durch einen Mangel an Zeit, sich fundiert mit den Positionen einzelner Parteien auseinander zu setzen oder sich gar selbst politisch einzubringen. »Die Aggregation und Artikulation kollektiver Interessen und die demokratische Entscheidungsfindung sind und bleiben zeitintensiv demokratische Politik ist deshalb in hohem Maße der Gefahr ihrer Desynchroni-

156

I PHILIPP HUBMANN

sation gegenüber stärker beschleunigungsfähigen sozialen und ökonomischen Entwicklungen ausgesetzt.« 11 Sheldon Wolin, auf den sich Rosa beruft, begründet die Notwendigkeit eines zu Meinungsbildungszwecken bereitzustellenden Zeitkontos mit der agonalen und kompetitiven Grundstruktur der demokratischen Ordnung. »Starkly put, political time is out of synch with the temporalities, rhythms, and pace goveming economy and culture. Political time [... ] requires an element of Ieisure [ ... ]. This is owning to the needs of political action to be preceded by deliberation and deliberation, as its >deliberate< part suggests, takes time because, typically, it occurs in a setting of competing or conflicting but legitimate considerations. Political time is conditioned by the presence of differences and the attempt to negotiate them. The results of negotiations, whether successful or not, preserve time [ ... ]. This time is >taken< in deliberation yet >savedZeichen der Zeit< zu verstehen. Der ebenfalls von Rosa zitierte Medientheoretiker Thomas Jung hat in den 90er Jahren in Anknüpfung an Jean Baudrillard deutlich gemacht, welche Konsequenzen eine Abnutzung der Zeichen in der Postmoderne für die politische Kommunikation hat. »Geschichte verliert [... ] ihre Gültigkeit, wenn die Ereignisse in Aktualität implodieren, wenn die Fakten zu Botschaften gerinnen, deren Funktion nur in der Zirkulation von Medieninformationen liegt, Geschichte wird sinnlos, da >keine Geschichte< das Zentrifugieren der Fakten um ihrer selbst willen verträgt.« 15

3.

DIE DEZENTRIERTE ORDNUNG DER GOUVERNEMENTALITÄT

Die Wahrnehmung von Politik hat im postmodernen Zeitalter einen Wandel erfahren. Dieser in den visuellen Medien vielfach attestierte Bedeutungsschwund, der in der postdemokratischen Theorie ebenfalls in Rechnung gestellt wird, drückt sich nicht nur in dem empfundenen Niedergang einer bürgerschaftliehen Partizipationskultur aus, auch nicht nur in einer auf niedrigem Niveau stagnierenden Wahlbeteiligung, sie scheint auch die Zentralsymbole der parlamentarischen Ordnung zu erfassen. Hat der Philosoph Claude Lefort im Vergleich zwischen dem totalitären und demokratischen System der Volksherrschaft eine »Leerstelle im Zentmm der Macht« konstatiert und diese auf eine Institutionalisierung des Streits 16 und eine restriktive Festschreibung von Mandatszeiten zu-

15 Thomas Jung: Vom Ende der Geschichte. Rekonstruktionen zum Posthistoire in kritischer Absicht. Münster, New York: Waxmann, 1989, S. 189f., zit. n. Rosa, ebd., S. 421.

16 Im Rückbezug auf Carl Schmitts Definition des »Politischen« fUhrt auch Chantal Mouffe die Demokratie auf ihren antagonistischen Charakter zurück und macht in der Marginalisierung des politischen Streits einen wichtigen Grund flir das mangelnde Interesse der Wähler an dem politischen Betrieb aus: »Da dem Konsens gegenwärtig ei-

158

I PHILIPP HUBMANN

rückgeführt, 17 so scheint sich in der spätmodernen Gesellschaft neben der verfassungsmäßigen eine zweite Leerstelle im politischen System eingenistet zu haben, die sogar am Reichstagsgebäude in Berlin deutlich wird: Die neue Qualität der virtuellen Vermittlung zwischen »Hen·schern auf Zeit« und »Bürgern auf Zeit«. Horst Bredekamp hat die Installation einer begehbaren Glaskuppel - in deren Mitte eine kleinteilige Spiegelkonsole zwischen Besuchern und Parlamentariern einen schemenhaften Austausch herstellt - unmittelbar auf Veränderungen bezogen, die sich im Verhältnis der Gesellschaft zur Politik in den letzten Jahrzehnten ausmachen lassen. Bredekamp stellt die von Norman Foster entworfene Kuppel in die ikonografische Tradition des von Abraham Bosse angefertigten Frontispiz von Thomas Hobbes staatstheoretischer Schrift Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil (dt. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, 1651). Hobbes konzeptualisiert darin - basierend auf Erfahrungen des Bürgerkriegs - die stabilisierende Macht eines Souveräns, der die Geschicke des Staates lenkt.

ne enom1e Bedeutung beigemessen wird, ist weder das sinkende Interesse der Menschen an Politik noch die steigende Quote der Nichtwähler überraschend. Mobilisierung erfordert Politisierung, aber Politisierung kann es nicht ohne konfliktvolle Darstellung der Welt geben, mit denen die Menschen sich identifizieren können; einer Darstellung der Welt, die die politische Mobilisierung von Leidenschaften innerhalb des Spektrums des demokratischen Prozesses zuläßt.« Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische lllusion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007, S. 35. 17 Claude Lefort: »Die frage der Demokratie«, in: Ulrich Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990, S. 89-122, hier S. 102. Nach Lefort findet ein permanenter Austausch zwischen dem Zentrum und der Peripherie der Gesellschaft statt. »Macht« als Ergebnis dieser Wechselwirkung besteht folglich »in der Geste einer gegenstrebigen Fügung, einer simultanen Verschränkung und Abgrenzung zwischen dem Außen und dem lnnen der Gesellschaft«. Oliver Marchart »Die politische Theorie des zivilgesellschaftlichen Republikanismus: Claude Lefort und Marcel Gauchet«, in: Andre Brodocz, Gary S. Schaal (Hg.): Politische Theorien der Gegenwart 11. Eine Einführung. Opladen, u.a.: Verlag Barbara Buderich, 2009, 3. Auflage, S. 222-250, hier S. 242. Zu Lefort vgl. auch Uwe Hebekus, Jan Völker: »Ciaude Lefort« in: dies. (Hg.): Neue Philosophen des Politischen zur Einführung. Hamburg: Junius, 2012, S. 61-89.

ZENTRIFUGALMACHT

1159

Abbildung 2: Innenansicht der Kuppel des Deutschen Reichstags

Quelle: Horst Bredekamp: Thomas Hobbes - Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder, 1651-2001. Berlin: Akademie Verlag, 2006, S. I.

Da Bredekamps Interpretation des Berliner Kuppelbaus die Zäsur in der Wahrnehmung der Politik paradigmatisch beschreibt, sei es an dieser Stelle gestattet, eine längere, das deutsche Regierungsgebäude betreffende Passage aus seinem Kapitel über die »Politische Ikonographie der Zeit« zu zitieren: »Die transparente Kuppelläßt den Souverän erneut als Bild erscheinen: nun aber nicht als Hobhesseher Kopf eines furchterregenden Riesen, sondern als caput, in dem die Bürger die beweglichen Zellen bilden. Die Kuppel des Reichstages bildet eine Art Oberhaus, das auf stochastische Weise immer neue Souveräne zusammenbringt. Hierin liegt auch eine politische Bestimmung der Zeit. Der feierliche Akt, in dem die Bürger bei Hobbes den Leviathan durch Eid erzeugen, wird hier zu einem zufälligen und auch ein wenig selbstgefälligen Dauerfest Dies begründet die in jeder Jahreszeit spürbare Heiterkeit, die von den Besuchern der Kuppel ausgeht. ln der Begehbarkeit der Kuppelliegt keineswegs nur eine leere Geste; vielmehr hat Fosters Kuppelkopf der kurzen Phase eines gewandelten Staatsbegriffs das nachhaltige Bild vermittelt. Die Kuppel erhöht das Parlamentsgebäude, diskreditiert aber das Hobbessche Souveränitätsbild, und mit dieser Mittelstellung bezeichnet sie präzise jene Diskussion, die in den neunziger Jahren um die Zukunft des Nationalstaates entbrannt war. ln einem Moment, in dem die Parlamente ihr Gewicht zunehmend an die europäische Zentrale abgaben, in dem die wirtschaftliche Globalisierung den nationalen Spielraum verengte, in dem weite Bereich der elektronischen Kommunikationsformen die staatlichen Kontrollmöglichkeiten unterliefen und in dem das mediale Entertainment den Denkraum des Politischen entkernte, hatte Fosters symbolische Verkehrung der Hierarchie neben ihrer gelas-

160

I PHILIPP HUBMANN

senen Provokation auch den Charakter einer ironischen Offenlegung des Gegebenen. Wer aus der Kuppel des Reichstages über Berlin blickt, wähnt Hobbes Leviathan unendlich weit entfernt.« 18

In der politischen Philosophie war speziell in den 70er Jalu·en des vergangeneu Jahrhunderts ein Umdenken zu beobachten, das neue Modelle von Macht mit sich brachte. Insbesondere Michel Foucaults Modell der gouvernementalen Disziplinarmacht trug einer veränderten Wahrnehmung und Funktion der Politik im Zeitalter der dynamischen ökonomischen, medialen, sozialen und kulturellen Globalisierung der Lebenswelt Rechnung, die anders als Hobbes vertragstheoretische Herrschaftsinstanz von einer kaum hintergehbaren Dezentrierung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse ausging. Hatte Hobbes mit dem Leviathan versucht, die Pole des Nichts- die totalitaristische Negierung des Einzelnen wie auch die anarchistische Abschaffung des Gemeinsamen - durch die Etablierung eines auf Partizipation beruhenden Herrschaftsapparats zu überspringen und zur Not auch unter Anwendung von Gewalt gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen, bildet sich nach Foucaults Überzeugung im 18. Jalu·hundert die Logik einer pazifistischen »Regierungskunst« heraus, die auf körperliche Gewalt verzichtet.19 Gewalt wird durch Kontrolle ersetzt, gouvernementales Regieren ist eine pazifistische, wenngleich nicht weniger restriktive Form der Ausübung von Herrschaft. Die Faszination, die flir Foucault von der Kunst des Regierens ausgeht, basiert auf ilu·er Suggestion von Bedeutsamkeit angesichts einer flir alltägliche Lebensvollzöge relativen Bedeutungslosigkeit »Doch mit Sicherheit besaß der Staat weder in der Gegenwart noch im Verlauf seiner Geschichte je diese Einheit, diese Individualität, diese strikte Funktionalität und, ich würde sogar sagen, diese Bedeutung; letzten Endes ist der Staat vielleicht nur eine zusammengesetzte Wirklichkeit, eine zum Mythos erhobene Abstraktion, deren Bedeutung viel reduzieJter ist, als man glaubt. Vielleicht ist das wirklich Wichtige ftir unsere Modeme, d.h. für unsere Aktualität, nicht die Verstaatlichung der Gesellschaft, sondern das, was ich eher die >Gouvernementalisierung< des Staates nennen würde.}0

18 Horst Bredekamp: Thomas Hobbes - Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder, 1651-2001. Berlin: Akademie Verlag, 2006, S. 156f. 19 Michel Foucault: »Die >GouvernementalitätangekommenParteilichkeit