Allgemeine Staatslehre oder politische Theorie: Interpretationen zu ihrem Verhältnis am Beispiel der Integrationslehre Rudolf Smends [1 ed.] 9783428420698, 9783428020690

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Allgemeine Staatslehre oder politische Theorie: Interpretationen zu ihrem Verhältnis am Beispiel der Integrationslehre Rudolf Smends [1 ed.]
 9783428420698, 9783428020690

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MANFRED HEINRICH MOLS

Allgemeine Staatslehre oder politische Theorie?

Ordo Politicus Veröffentlichungen des Arnold-Bergstraesser-Instituts, Freiburg i. Br.

Herausgegeben von Prof. Dr. Dieter Oberndörfer Band 10

Allgemeine Staatslehre oder politische Theorie? Interpretationen zu ihrem Verhältnis am Beispiel der Integrationslehre Rudolf Smends

Von

D r . Manfred Heinrich Mols

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DUNCKER

& H U M B L O T

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BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1969 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1969 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed In Germany

Meinem Lehrer Arnold Bergstraesser und den Freunden und Lehrern des Abendgymnasiums

Gelsenkirchen

Vorwort

Die Politikwissenschaft befindet sich i n einer Phase der Neuorientierung. Der m i t dem Schlagwort vom „Scientismus" nur unvollkommen angedeutete Wandel i n den Auffassungen von der Strenge der sozialwissenschaftlichen Verfahrensweisen, die m i t den Vorstellungen von einer Einheitswissenschaft m i t nur nachgeschalteter Gegenstandsberücksichtigung vorgebrachten Hoffnungen auf eine einkreisende Generaltheorie sowie die sich erst i n unseren Tagen vollziehende thematische Ausweitung unseres Beobachtungshorizontes auf m i t den überlieferten europäischen Konzeptionen von Staat und Politik nur partiell erfaßbare politische Räume, schließlich die merkwürdige Zurückhaltung der (deutschen) Politikwissenschaft vor einer ihre Anschauungsgehalte reflektierenden Theorie von einem verläßlichen phänomenalen Substrat des Politischen aus lassen es ratsam erscheinen, i m Rückgriff auf eine der hervorragendsten Leistungen der neueren deutschen Staatslehre der Frage nach einem gegenstandsadäquaten Selbstverständnis politikwissenschaftlichen Denkens nachzugehen. Folglich liegt der Akzent meiner Argumentationsketten nicht auf den hierzulande üblich gewordenen geistesgeschichtlichen Dependenzen; denn i n einer Wissenschaft, i n deren Zentrum das Problem der Gestaltung von aktueller politischer Lebenswelt steht, ist die Kenntnis des Stromes des Gewordenen sicher nicht wichtiger als der Aufweis von Denkstrukturen, die dem wissenschaftlichen Bemühen eine verläßliche Hilfe für die Durchführung ihres Anliegens anbieten. Aktualisierung, nicht ideengeschichtliche Verortung — so etwa könnte man das einzig sinnvolle Programm einer Beschäftigung m i t dem deutschen wissenschaftlichen Denken über Staat und Politik (vielleicht sogar m i t der politischen Ideengeschichte überhaupt) bezeichnen. Die folgende Arbeit geht i n wesentlichen Teilen auf eine Dissertation m i t dem Titel „Die Bedeutung der Integrationslehre Rudolf Smends für die politische Theorie" zurück, die i m Sommersemester 1966 von der philosophischen Fakultät der Universität Freiburg angenommen und später m i t dem Fakultätspreis ausgezeichnet wurde. Sie — obschon vor allem i n ihrem ersten Drittel überarbeitet — etwa zwei Jahre nach ihrem Abschluß und etwa drei Jahre nach der

8

Vorwort

Formulierung ihrer tragenden Passagen zu publizieren, bleibt nicht ohne Risiko; denn der eingangs angedeutete rasche Wandel i m p o l i t i k wissenschaftlichen Makro-Theorie-Verständnis w i r d jeden, den dieser Wandel zur eigenen wissenschaftlichen A k t i v i t ä t herausfordert, i n einen Lernprozeß hineinstellen, welcher nicht ohne Impulse auf das eigene Selbstverständnis v o n Theorie bleiben kann. I n der Tat arbeite ich zur Zeit an zwei kleineren Studien zur politischen Makro-Theorie, i n welchen die gegenwärtigen Trends m i t ihren diskreten wissenschaftstheoretischen Leistungsschichten v o n politischer Theorie diskut i e r t u n d erste Schritte zu verfahrensmäßig sinnvollen Modalitäten zu einem Programm v o n Theorie-Konstruktionen angedeutet werden sollen. Wenn ich zugleich parallel an dem hier vorgelegten staatstheoretischen E n t w u r f festhalte, so deshalb, w e i l er verhältnismäßig flächig die Leistungsmöglichkeiten u n d Grenzen einer hermeneutisch-dialektischen Staatstheorie u n d deren Relevanz für das politikwissenschaftliche Denken freilegt. M a n w i r d — u n d nicht n u r Smend gegenüber — an mehreren Stellen den Eindruck v o n einem selbst auferlegten Hang zu einer positiven Interpretation herauslesen, w o m a n doch herkömmlichen akademischen Ritualen gemäß differenzierte A k t i v - u n d Passivposten einer interpretierenden Bilanz erwartet hätte. Der G r u n d dafür liegt abermals i n der aktuellen Situation unserer Disziplin: konstruktive Impulse, ergänzend nebeneinandergestellt, zählen mehr f ü r die Wirklichkeitserkenntnis als literarische Fehden (die ja bekanntlich zuvörderst aus beschäftigungsökonomischen Motiven erwachsen). Die Anregungen zu meinem Thema verdanke ich fruchtbaren Freiburger staatstheoretischen Seminaren bei den Professoren A r n o l d Bergstraesser, Hans Maier, Horst Ehmke, K o n r a d Hesse. Auch den Professoren Alexander Schwan u n d Manfred Hättich sei herzlich f ü r manches geduldige Anhören u n d Korrigieren noch unfertiger Gedanken gedankt. V o n Mathias Schmitz erhielt ich mehr Impulse als er i n meinen Überlegungen u n d Formulierungen vermuten w i r d . Der Studienstift u n g des Deutschen Volkes u n d der Stiftung Volkswagenwerk danke ich f ü r ihre großzügige materielle Hilfe, meinem ehemaligen Freiburger Vertrauensdozenten, Prof. Hermann Gundert, für zahlreiche Gespräche über Sinn u n d Verpflichtung v o n Wissenschaft u n d ihrer Wahrheit. V o r allem aber bedanke ich mich bei meinem Doktorvater Prof. Dieter Oberndörfer, i n dessen Doktorandenseminaren m i r zum erstenm a l jene epistemologischen Probleme aufgingen, die als durchgehendes L e i t m o t i v dieses Buch stabilisieren.

Vorwort

Ich widme diese Schrift dem Gedenken meines verstorbenen Lehrers Arnold Bergstraesser sowie den Freunden und Lehrern des Abendgymnasiums Gelsenkirchen. Denzlingen bei Freiburg i. Br., i m Wintersemester 1967/68 Manfred Mols

Inhaltsverzeichnis Vorwort

7

Einleitung

15

(§1)

Die Problemstellung

(§ 2)

Das Verhältnis v o n Politikwissenschaft u n d Staatslehre

..

15 19

(§ 3)

Die Stellungnahme Smends u n d seiner Interpreten zu unser e m Vorhaben

22

I. Kapitel: Politikwissenschaft und Theorie-Denken

28

(§4)

Die wissenschaftstheoretische Aporie der modernen P o l i t i k wissenschaft

28

(§5)

Das Problem der politischen Theorie

37

I I . Kapitel: Vier Bewußtseinsstufen von Theorie in der gegenwärtigen politik-/sozialwissenschaftlichen Diskussion

1

46

(§6)

Die (uneigentliche) Abstraktionstheorie

46

(§7)

Die transzendentallogische

51

(§8)

Die Wissenschaftslogik

(§9)

Talcott Parsons

Theorie

56 60

(§ 10) Nutzen u n d Nachteil der transzendentallogischen Theorie . . (§11) Die heuristisch-systematische

Theorie: Marcel Prélot

66

und

Georges Burdeau

73

(§ 12) Die normative Ordnungstheorie

76

K o r r e k t u r einer Überschrift: Die ordnungspolitische Theorie I I I . Kapitel: Der Begriff des Politischen

89 92

(§13) Die Betrachtungsweisen

92

(§ 14) Die logische S t r u k t u r v o n Begriff

96

(§15) Die K o n k r e t i o n des Politischen aus der lichen Daseinserfahrung

vorwissenschaft-

(§ 16) Der Begriff des Politischen als heuristisches Prinzip (§17) Der Begriff des Politischen als Theorie seiner heuristischen Entfaltung



101 105

das Ergebnis 108

(§ 18) Die Doppelfunktion des Begriffs i m hermeneutischen Prozeß 110 (§ 19) Die unvollendete Offenheit des Begriffs des Politischen 112 (§ 20) Die logische u n d praktische D i a l e k t i k des Begriffs des P o l i tischen 114

12

Inhaltsverzeichnis (§21) Der normative Aspekt des Begriffs des Politischen

119

(§22) Zusammenfassung des ersten Teils u n d Überleitung zu Smend 124 I V . Kapitel: Die Integrationslehre

131

(§ 23) Der Begriff der Integration

131

(§24) Das Schema der Integrations arten

133

Die persönliche Integration

134

Die funktionelle Integration

135

Die sachliche Integration

137

Die Einheit des Integrationssystems

139

E x k u r s : Die Rolle des älteren Integrationsbegriffes i m Denken Smends 140 V. Kapitel: Die methodische Grundlage der Integrationslehre

142

(§25) Das Problem

142

(§26) Die Lebensphilosophie

145

(§ 27) W i l h e l m D i l t h e y

146

(§28) Die Phänomenologie

156

(§29) L i t t s Lehre v o n der sozialen Verschränkung u n d v o m geschlossenen Kreis 162 (§30) Vergleich der Integrationslehre m i t ihren epistemologischen Vorbildern 171 V I . Kapitel: Die Begriffe Staat, Integration, Verfassung

180·

(§31) Der Staatsbegriff der Integrationslehre als dialektische E i n heit verschiedener Betrachtungsweisen 180 (§32) Der Begriff der Integration

191

(§33) Der Verfassungsbegriff

199

der Integrationslehre

(§34) Die Eigenart der Staatsauffassung Smends E x k u r s : Die Grundrechtslehre Smends als Sonderfall staatsbürgerlichen I n d i v i d u a t i o n

206 der

Vorbemerkung zu den folgenden K a p i t e l n

212 222

V I I . Kapitel: (§35) Der Begriff der Integration als Begriff des Politischen 224 Der Begriff der Integration als System-Begriff

224

Die Gründung des Begriffs der Integration i n der v o r w i s senschaftlichen Daseinserfahrung — 227 Der Begriff der Integration als heuristisches Prinzip Die wissenschaftlich - theoretische heuristischen Integrationsbegriffs

Sicherungsfunktion

230 des

232

Der Gedanke der Hermeneutik i m Begriff der Integration 233 Die historische Offenheit des Begriffs der Integration

235

Inhaltsverzeichnis Die logische Integration

u n d praktische

Dialektik

des Begriffs

der 236

Der normative Aspekt des Begriffs der Integration

239

V I I I . Kapitel: Die Integrationslehre als politische Theorie

241

(§36) Die Wissenschaftshaltung Smends

241

(§37) Die Integrationslehre i m Vergleich m i t dem transzendentallogischen u n d heuristisch-systematischen Theorie-Denken 250 (§38) Exkurs: Integrationsschema u n d Modelldenken

256

(§39) Die Bedeutung der Integrationslehre f ü r die normative Ordnungstheorie 262 I X . Kapitel: Grenze und Leistung Smends für das deutsche politische Denken der Gegenwart 271 (§40) Die beiden inhaltlichen Grenzen der Integrationslehre die politische Theorie

für

272

(§41) Die E n t w i c k l u n g der Staatslehre bis zur Zeit der Abfassung der Integrationslehre 276 (§42) Die Schwächen des modernen staatstheoretischen Denkens 286 Zusammenfassung (§43)

294

Literaturverzeichnis

296

Abkürzungen

AGF

= Arbeitsgemeinschaft

f ü r Forschung des Landes Nordrhein-

Westfalen, Geisteswissenschaften AöR

= Archiv des öffentlichen Rechts

APSR

= American Political Science Review

ARSP

= Archiv f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie

ArchSozW

= Archiv f ü r Sozialwissenschaften u n d Sozialphilosophie

HdSW

= Handwörterbuch der Sozialwissenschaften

HZ

Historische Zeitschrift

KZS

= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie

NZZ

= Neue Zürcher Zeitung

PPR

^ Philosophy and Phenomenological Research

PSQ

Political Science Quaterly

PVS

= Politische Viertel Jahresschrift

RGG

= Die Religion i n Geschichte u n d Gegenwart

St. Abh.

= Staatsrechtliche Abhandlungen

VJZG

= Vierteljahreshefte f ü r Zeitgeschichte

WDStRL

= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

ZevEthik

= Zeitschrift f ü r evangelische E t h i k

ZöffR

= Zeitschrift f ü r öffentliches Recht

ZphF

= Zeitschrift f ü r philosophische Forschung

Z. Polit

= Zeitschrift f ü r P o l i t i k

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft

Z u r Zitierweise I n den Anmerkungen w u r d e n i n der Regel n u r Verfassername, Erscheinungsjahr der benutzten Auflage und Seitenzahl zitiert. Sofern ein V e r fasser i n einem Jahr mehrere hier zitierte Arbeiten publiziert hat, w u r d e n dem Erscheinungsjahr die fortlaufenden Kleinbuchstaben des Alphabets beigefügt. Von dieser Regel sind n u r an wenigen Stellen Ausnahmen gemacht worden, u n d zwar dort, w o sich bei philosophischen Texten seit Jahren eine andere Zitierweise durchgesetzt hat.

Einleitung § 1 Die Problemstellung 1

Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch. Sie bricht bewußt m i t der üblich gewordenen problemgeschichtlichen und/oder methodologischen Verortung staatstheoretischen Denkens 1 . Staatstheorie ist i n keinem ihrer Aspekte Selbstzweck. Folglich w i r d man sie aus politikwissenschaftlicher Interessenahme unter dem Gesichtspunkt der Aktualität f indie gegenwärtige politische Forschung diskutieren. U m welche Impulse könnte es sich dabei aus der Sicht der Politikwissenschaft handeln? Der Politikwissenschaft droht weniger die Gefahr, beschäftigungslos zu werden angesichts einiger u m eine kleine Weile arrivierterer Nachbardisziplinen — auch für Deutschland kann man inzwischen von einem Establishment sprechen 2 — als die Versuchung, sich i n spezialisierte Forschungsrichtungen aufzulösen bzw. i n einem nicht mehr zu übersehenden Wust beliebig aufgehäuften Materials zu ersticken 3 , ohne sich über die Relevanz des Geleisteten und i n Angriff Genommenen sowie über die Interdependenz des disparat Vorgelegten zureichende Rechenschaft abzulegen. Nach der Phase fruchtbarer Einzelforschung aus aktuellem Anlaß oder fachbestimmter Tradition ergibt sich nun das Bedürfnis, das Erreichte zu prüfen und die weiteren Forschungsziele i m Lichte des Wesentlichen zu erwägen. Für eine solche Aufgabe gibt es einen sicheren Maßstab: den Begriff des Politischen, den w i r vorläufig als das Wissen u m dasjenige bezeichnen wollen, das i n der endlosen Fülle sozialen Geschehens den Zusammenschluß der Menschen zu ein geordnetes Zusammenleben 1 Vgl. etwa Badura (1959); Holubek (1961). Was an schematisierter Ubersicht eingebracht w i r d , bezahlt die Verortungsmanie m i t dem Opfer des Pauschalurteils i m einzelnen. Das hier angegriffene Denken vergißt i n seiner Suche nach historischen Dependenzen den obersten Maßstab jeder sozialwissenschaftlichen Aussage: das Soziale selbst. Wie gefährlich das Verortungsdenken besonders f ü r den normativen Aspekt politischer Theorie geworden ist, zeigt Easton (1953), bes. Kap. X . Z u m Ganzen ferner Hennis (1963), bes. Kap. I I u n d V I . 2 Vgl. Kimminich (1965), 707. 3 Vgl. Oberndörfer (1962), 9 ff.; Easton (1953), bes. 66 ff.; Hennis (1963), bes. Kap. I.

16

Einleitung

garantierenden Verbänden von Dauer ermöglicht. Die Entwicklung des Begriffs des Politischen nennen w i r politische Theorie. Obwohl der Ruf nach einer politischen Theorie heute i n allen Ländern vernehmlich ist, i n denen Politikwissenschaft sich etabliert hat 4 , ist ihr Gehalt, weniger die bezeichnete Funktion, strittig, so daß man kaum fehl geht i n dem Urteil: die politische Theorie ist einstweilen ein Zukunftsprospekt. Die Gründe dafür hängen m i t der epistemologischen5 Unsicherheit der Sozialwissenschaften zusammen. Die alten Kämpfe u m Normativität oder Wertfreiheit, Ganzheitsdenken oder Einzelfallbetrachtung, den Vorrang von Phänomen oder Methode, u m die größere Zuverlässigkeit ontologisch ausgewiesener oder pragmatisch konzipierter Begriffe werden, u m nur einiges zu nennen, entschiedener ausgetragen denn je 6 . Die Schwierigkeiten erhöhen sich, wenn man bedenkt, daß die meisten Ansätze für eine theoretische Bewältigung des Politischen heute von dem politischen Geschehen entfernten Grenzzonen aus vorgetragen werden 7 . Weder die den Primat der (formalen) Logik kündenden Theoretiker 8 noch einige der angesehensten an der aristotelisch-thomistischen Überlieferung orientierten Vertreter der Reaktion 9 noch der namentlich i n der Soziologie einflußreiche Neu-Hegelianismus 10 weisen sich an konkreten, gegenwärtigen Phänomenen aus. Die zeitlich artikulierte Bedingung des Politischen i n der Gegenwart, die Herrschaftsordnung i n dem und durch den modernen Staat 11 w i r d zugunsten abstrakter Betrachtungen außer acht gelassen. % Das genau ist der Punkt, an dem unser Interesse an Smend ansetzt. Eine politische Theorie bleibt blutleer ohne den direkten Ausweis an den modernen Entfaltungsbedingungen des Politischen. 4 Vgl. die Länderanalysen i n Stammer (1960), daraus bes.: Finer , 21; Grosser, 62 f.; von der Gablentz, 173; weiter Easton (1953), 62 f. u n d passim; Meynaud (o. J) ; ferner die Literaturangaben § 5. 5 D. h. m i t der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Unsicherheit. 6 Vgl. vorläufig Topitsch (1966). 7 Grenzzonen i m hier verstandenen Sinne sind methodologische, philosophisch-anthropologische, theologische usw. Standorte; der Ausdruck rechtfertigt sich, w e i l man die i n diesen Wissenschaftsbereichen angestellten Überlegungen grundsätzlicher A r t selten am konkreten Phänomen ausweist. Die meist als Anschauungsbeleg gewählten Beispiele aus der Historie oder den Naturwissenschaften machen selten den gewünschten Analogiecharakter u n d seine Beleggrenze deutlich. 8 Vgl. § 8 A n m . 1. 91 Dies ist nicht pejorativ-abwertend gemeint. I m m e r h i n aber schreiben Autoren w i e Strauss u n d Voegelin, teilweise auch Hennis , i n bewußter Gegenorientierung zum modernen Szientismus. 10 Vgl. § 12 A n m . 1. 11 Dazu ausführlich §31.

§ 1 Die Problemstellung

17

I n der Besinnung auf das positive Legat der neueren deutschen Staatslehre vermag die deutsche Politikwissenschaft sehr wohl als Partner i n die generelle Diskussion u m eine politische Theorie einzutreten. Smend insbesondere bietet den Vorteil, ein u m einen zentralen Begriff ausgebautes System durch grundsätzliche epistemologische Überlegungen und Hinweise abzustützen und auf den umfassenden Rahmen aller modernen Politik, das Gemeinwesen, zu beziehen. Man w i r d vor allem zu beachten haben, ob sein von der hermeneutischen Schule Diltheys und der (Onto-)Logik Hegels beeinflußtes Denken erwägenswerte Alternativen zu den beiden eigentlichen Extremrichtungen i n der politik-/'sozialwissenschaftlichen Theorie-Diskussion, den Abstraktionen der verhaltenslogischen Systeme und den nicht zum System vorgedrungenen Selbstbesinnungen auf die politische Natur des Menschen und der damit aufgegebenen Ordnungsentwürfe, anzubieten vermag. Vielleicht ist sogar die Bezeichnung „Alternative" unangemessen, soll doch i n dieser Arbeit der Versuch unternommen werden zu zeigen, daß Smend, wenigstens i m prinzipiellen Ansatz, beide polaren Betrachtungsweisen einander näher bringt, einfach w e i l er mehr vom Zentrum des Politischen aus argumentiert. Es w i r d weder unterschwellig angenommen noch zu beweisen versucht, daß Smend die gesuchte Theorie exemplarisch vorzeichnet. Auch die Integrationslehre kann nicht höher als ein Beitrag zu einem noch zu leistenden Entwurf gewertet werden. Außerdem soll die Konzeption der Integrationslehre als Verfassungstheorie nicht verdreht werden. Nicht ihre Eigenschaft als politische Theorie ist zu interpretieren erlaubt, sondern ihre Bedeutung für die politische Theorie. 3

Die vorhergehenden Überlegungen bestimmen den Gang der Untersuchung. Da man nicht als ausgemacht annehmen darf, was politische Theorie ist, zum anderen aber auch der W i l l k ü r einer mehr oder minder einseitigen Parteinahme entgehen sollte, ist die Prüfung der wichtigsten vorhandenen Ansätze eines theoretischen Bemühens für ein Bewußtsein des Erforderlichen unumgänglich. W i r gehen dabei, wie schon eingangs angedeutet, von der Arbeitshypothese aus, daß zwischen der politischen Theorie und dem Begriff des Politischen eine enge und angebbare Beziehung besteht. Der politischen Theorie hat i h r Begriff voranzugehen, und umgekehrt ist wiederum nur das als Begriff haltbar, was sich als System (Theorie) 12 auszuweisen vermag 1 3 . Gewiß, die 12

Z u r Unterscheidung von „System" und „Theorie" § 22.

2 Mols

18

Einleitung

Formulierung klingt hegelianisch und w i r werden uns zur Explikation des Gemeinten gemäßigter Hilfe des Philosophen versichern. Dennoch ist der zugrunde gelegte Gedankengang denkbar einfach und bedarf zur prinzipiellen Vermittlung nicht des billigenden Nachvollzugs eingebrachter philosophischer Voraussetzungen: wenn das Politische mehr ist als Summe von Institutionen organisatorischer und/oder funktioneller Art, dann muß es als begreifbare Qualität i n angebbaren sozialen Erscheinungen faßbar werden. Nach allem Gesagten würde man die ersten drei Kapitel des Buches gründlich mißverstehen, sähe man i n ihnen nur eine (etwas zu lang geratene) Einleitung zur Smend-Interpretation. Unser Interesse an Smend ist vom Problem der politischen Theorie bestimmt, nicht umgekehrt. Daher ist alles, was die politische Theorie oder zumindest ihre Bedingungen vorstellt, durchaus selbständig. Die ersten Kapitel erhalten dort einen relativen Stellenwert zur gesamten Arbeit, wo i h r Inhalt einer Erweiterung bedarf. I n den Kapiteln I V bis V I w i r d die Integrationslehre i m Zusammenhang mit ihrer epistemologischen Begründung vorgestellt. Inhaltlich bringen sie den i n der gegenwärtigen Theorie-Diskussion gar nicht oder doch unterbewerteten Gesichtspunkt der Entfaltungsweise aller tragenden politischen Vorgänge zum Staat. Die entsprechenden Kapitel werden sich also m i t dem Schema der Integration, seiner epistemologischen Begründung und dem Staatsbegriff Smends zu befassen haben. I n den Kapiteln V I I und V I I I betrachten w i r die Integrationslehre aus der Perspektive der i n den ersten drei Kapiteln entwickelten Bedingungen der politischen Theorie. Genauer gesagt, interpretieren w i r Begriff und Schema der Integration vor dem Forum der Ergebnisse des ersten Teiles, die uns jenseits aller verabsolutierenden Einkleidung i n als geschlossen vorgetragenen Philosophemen bleibende Forderungen an die künftige politische Theorie zu sein scheinen (Kapitel II) bzw. die dann als Mindestforderung für die Bestimmung von System-Begriffen zu gelten haben, wenn dem Begriff des Politischen Freiheit von reduktiver Setzung 14 sowie das i n „praktischen" Disziplinen 1 5 vertretbare Maß von Notwendigkeit eignen soll (Kapitel III). Die i n kritischer Durchsicht vorhandener Ansätze vorzustellende Theorie gelte als eine hermeneutische. Für jede hermeneutische Argu13

Die Korrelation von System u n d System-Begriff ist die eigentliche These dieser Arbeit. W i r werden für den Erweis partiell auf Hegel zurückgehen (vgl. § 14). 14 Bergstraesser (1961 a, 21) nennt solche Versuche, den Begriff des Politischen zu fassen, „ r e d u k t i v " , „die das Ganze nicht zu tragen vermögen", d. h. partiell richtige Gesichtspunkte verabsolutieren. 15 Vgl. Oberndörfer (1962); Hennis (1963).

§ 2 Das Verhältnis von Politikwissenschaft und Staatslehre

19

mentation ist der Einschluß der eigenen Situation (hier: Herrschaftsform) selbstverständlich. Alles andere ist kein Verstehen mehr, sondern enzyklopädische Bestandsaufnahme. Umgekehrt aber ist die Politikwissenschaft mit divergierenden Herrschafts- bzw. Sozialsystemen konfrontiert, die es i h r verbieten, das dem eigenen Gemeinwesen nicht Entsprechende jedesmal als defizient abzuwerten. Politische Theorie i m hier vorgestellten allgemeinen Sinne kann daher nur den Mittelweg gehen, ihre Aussagen aus der Spannung zwischen der hermeneutischen Situation und ihrer Verallgemeinerung als Strukturanalyse des Sozialen und Politischen als relativ verbindlich anzusehen. Indem sich so jede sozialwissenschaftliche Aussage ihrer hermeneutischen Situation zu stellen hat, trägt sie die „objektive" Grenze ihrer Gültigkeit i n sich. § 2 Das Verhältnis von Politikwissenschaft und Staatslehre Ein Werk der Staatslehre auf seine politikwissenschaftliche Bedeutung zu befragen, vollends i n das Verhältnis beider Lehrfächer den Begriff „politische Theorie" einzubringen, ist so selbstverständlich, wie es selten durchgeführt wird. Dies ist u m so erstaunlicher, als man sich selbst dort, wo Staatslehre nicht mehr zu sein beansprucht als eine „Hilfswissenschaft der Rechtswissenschaft" 1 , noch wesentlich i n der Tradition der älteren Lehre von der Politik weiß 2 . Der gleiche Ahnherr hat aber nur bisweilen den modernen Nachfahren zum Anlaß gereicht, über ihr Verwandtschaftsverhältnis nachzudenken. Auf die beiden wichtigsten Stellungnahmen soll hier eingegangen werden. 1

K u r t Sontheimer argumentiert i n seiner Freiburger Antrittsvorlesung, die den bezeichnenden Titel „Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre" trägt 3 , vornehmlich i m historischen Rückblick auf die Neubesinnung der Staatslehre i n den zwanziger Jahren. Man müsse sich vor Augen halten, daß die große Auseinandersetzung der Smend, Kaufmann, Triepel, Carl Schmitt und Heller nur vor dem Hintergrund des Protestes gegen die den Dualismus Jellineks konsequent zu Ende denkende Lehre Kelsens zu begreifen sei. Recht könne man nicht isolieren aus der gesamtstaatlichen Wirklichkeit — so etwa laute die ge1 2 3

2*

Etwa Schmidt (1901), 6. Schmidt (1901), 27. Sontheimer (1963).

20

Einleitung

meinsame Plattform gegen den Positivismus Cohenscher Prägung. „Darüber hinaus kann man auch sagen, daß die antipositivistische Schule der deutschen Staatsrechtswissenschaft der zwanziger Jahre ihre Wissenschaft . . . als eine politische begriffen hat 4 ." Nun ist, so könnte man kritisch gegen Sontheimer bemerken, eine Staatsrechtswissenschaft, die sich außer der rechtlichen noch ihrer ingredienten politischen Gehalte erinnert, noch keine Politikwissenschaft. (Wobei w i r als Beleg auf die oft zitierte Rektoratsrede Heinrich Triepels hinweisen 5 .) Richtig ist aber dennoch an den Überlegungen Sontheimers, daß eine ihre politischen, soziologischen, normativen (usw.) Inhalte einschließende Wissenschaft vom Staat kaum anders als der Politikwissenschaft verwandt begriffen werden kann. Sontheimers Schrift ist beherrscht von dem Glauben an einen „Primat der Gemeinsamkeit" 6 , der die methodischen und vom Gegenstand selbst gesetzten Grenzen beider Lehrfächer zunehmend „verwischt" 7 und eine Abgrenzung zuförderst von einer praktischen, durch Universität und Gesellschaft bedingten Arbeitsteilung sinnvoll macht. Das Ergebnis ist karg. Die zentrale Problematik einer systematischen Zuordnung w i r d durch den Hinweis auf eine „partielle Identität" 8 unterlaufen, w e i l Sontheimers Abgrenzung arbeitsteilig, nicht systematisch ist. Es ist erlaubt, an die Staatslehre politikwissenschaftliche Fragen zu stellen und umgekehrt. 2 I n dem hierzulande leider zu wenig beachteten A r t i k e l „Political Science" i n der „Encyclopaedia for the Social Sciences" 9 kommt Her4

Sontheimer (1963), 21. Triepel (1926). Die von Triepel eingenommene tastende Position scheint uns typisch f ü r den oben gemeinten Kreis der Staatsrechtslehrer zu sein. „Das Staatsrecht hat j a i m Grunde gar keinen anderen Gegenstand als das Politische (das S. 10 vorsichtig als „staatliches Handeln" bestimmt w i r d , A n m . d. Verf.). Der Staatsrechtslehrer k a n n also gar nicht darauf verzichten, politische Vorgänge oder Absichten m i t den Maßstäben des öffentlichen Rechts zu messen (12)." Doch dann folgt bald der einschränkende Satz: „Ob es . . . auch eine P o l i t i k i n einem engeren Sinne, d. h. eine wissenschaftliche Lehre v o m Staatsinteresse geben könnte, ist streitig, darf uns aber zunächst gleichgültig sein (17)." M i t anderen Worten: M a n weiß u m das Politische, vermag es aber als „Gegenstand" i m Gefüge der Wissenschaften nicht zu lozieren. 6 Sontheimer (1963), 44 ff. 7 Sontheimer (1963), 42. 8 Sontheimer (1963), 47. 9 Heller (1957), 207 ff. 5

§ 2 Das Verhältnis von Politikwissenschaft und Staatslehre

21

mann Heller sehr bald auf das Verhältnis von Politikwissenschaft und Staatslehre zu sprechen. Alongside political science there has grown up i n a l l countries, b u t particularly i n Germany, a closely related b u t distinct discipline k n o w n usually as a general theory of the state (Allgemeine Staatslehre or Staatstheorie). The line of demarcation between the t w o disciplines ist not clear because i n neither oase are terminology and scope constant 1 0 .

Das Urteil berührt sich zunächst m i t dem Sontheimers. Allein, Heller gibt sich damit nicht zufrieden. Zunächst weist er das seiner Meinung nach üblich gewordene Unterscheidungsmerkmal als falsch zurück, daß die Politikwissenschaft als eine praktische Wissenschaft es m i t Wertsetzungen zu tun habe, die Staatstheorie dagegen wertindifferent sei 11 . Genau das mache den Unterschied nicht aus. Denn — hier sei es gestattet, seiner kurze Zeit später erschienenen Staatslehre eine besonders eindeutige Formulierung zu entnehmen: „Ohne letztlich praktische Forschungsabsicht kann es i n der Staatslehre weder fruchtbare Fragen noch wesentliche Antworten geben 12 ." Näher käme schon eine Unterscheidung, die einer Theorie vom Staat ein mehr statisches Moment als Beschreibung und Erklärung der staatlich-politischen Institutionen, der Politikwissenschaft ein mehr dynamisches Element i n der Analyse politischen Handelns zuweise. Wobei man nach Heller allerdings zu beachten hätte, daß Statik und Dynamik keinen absoluten Gegensatz bildeten, insofern der Staat qua Institution der ständigen Erneuerung bedürfe. Er fährt dann fort: A deeper justification for the stranger emphasis on the static elements i n theory of the state as constrasted w i t h the dynamic elements i n political science, lies i n the fact t h a t the chief function of the former consists i n claryfying the basic concepts of the latter. I n this sense theory of the state may be designated as the general conceptual side of political science. Thus i t m a y be understood w h y political science is more l i k e l y t o be concrete and i n close contact w i t h life, w h i l e theory of the state is conceptually more incisive and clearer i n its methodology 1 3 .

Die saubere Unterscheidung Hellers bedarf keiner weiteren Interpretation. Er schließt seine systematische Funktionsanalyse beider Zweige einer i m weiteren Sinne identischen „political science" m i t der unüberhörbaren Mahnung: „Political science, without a theory of the state either expressly or implicitly assumed, is basically unthinkable 1 4 ." 10 11 12 13 14

Heller Heller Heller Heller Heller

(1957), (1957), (1957), (1957), (1957),

209. 210. 210; K u r s i v durch uns. 210; K u r s i v durch uns. 210.

22

Einleitung

M i t anderen Worten: Staatstheorie setzt den epistemologischen und inhaltlichen Rahmen der politikwissenschaftlichen Arbeit. Die Frage nach der Bedeutung der Integrationslehre für eine politische Theorie ist deshalb angemessen, weil auch die zeitgenössische Politikwissenschaft die ihr gemäße Theorie als ein „cadre conceptuel" begreift, „qui permettrait d'orienter la recherche courante en inspirant la sélection des faits et en fournissant des hypothèses de t r a v a i l " 1 5 . Wie würde sich Smend selbst und wie würden sich seine Interpreten zu unserer Absicht äußern, die Integrationslehre auf die Diskussionsebene der politischen Theorie zu stellen? § 3 Die Stellungnahme Smends und seiner Interpreten zu unserem Vorhaben Die Frage an Smend ist eher reizvoll als erstrangig; denn es darf als unausgemacht anerkannter Interpretationsgrundsatz gelten, daß die erklärte Absicht des Schriftstellers selten Garant richtiger Texterschließung ist. Weniger zwiespältig bleibt die Befragung der Sekundärliteratur. Sollte sie uns ganz oder i n einigen Punkten zustimmen, könnte sie unser Verständnis der Integrationslehre auf Aspekte weisen, die i n dem als Interpretationsrahmen verwendeten ersten Teil unserer Arbeit nicht enthalten sind. Gerade dieser Gesichtspunkt ist aber auch für Smend sinnvoll. Äußert er sich negativ oder gleichgültig, mag das als Mahnung vor Überinterpretationen gelten. I m positiven Falle w i r d Smend helfen, einige Weichen zu stellen. I m folgenden stellen w i r kurz die Integrationslehre vor und gehen dann auf unser Thema ein (2. Abschnitt). Der dritte Abschnitt sichtet die interpretierende Literatur. 1

Die Integrationslehre ist eine Theorie von Staat und Verfassung, die i n mehreren Ansätzen konzipiert wurde und nach der Erklärung ihres Autors als ein der Weiterentwicklung harrender Entwurf zu gelten hat 1 . Dies bei der inhaltlichen Betrachtung der Integrationslehre zu wissen, ist insofern von einiger Bedeutung, als der Betrachter i m vorhinein daran gemahnt wird, einkreisende Formulierungen nicht für bündige Definitionen zu halten, die jenseits des eigenen Vollzugs abgeschlossene Aussagen bieten. 15 1

Meynaud

(o. J.), 27 (sympathisierende Wiedergabe Eastons).

Smend (1956), 302.

§ 3 Die Stellungnahme Smends und seiner Interpreten

23

Smend hat seine Lehre i n mehreren Schriften entwickelt 2 , von denen die wichtigste 1928 unter dem Titel „Verfassung und Verfassungsrecht" erschien. Integration ist das überempirisch aufgegebene, aber empirisch überschaubare Wesen der staatlichen Einigung. Es bleibt unklar, i n welchem Verhältnis die drei Grundbegriffe „Staat", „Verfassung" und „Integration" zueinander stehen. Ähnliches gilt für offensichtlich korrelative Begriffspaare wie „überempirisch" und „empirisch", „Verfassung" und „Verfassungsrecht" usw. Angesichts des Entwurfscharakters der Hauptschrift 3 hätte man eine zweite und verbesserte Auflage erwarten können, zumal es an fruchtbarer und ermutigender K r i t i k nicht fehlte. Statt dessen äußerte sich Smend erst 1956 i n einem nicht übermäßig langen, als „Integrationslehre" überschriebenen Lexikon-Artikel zu seiner Lehre 4 , indem er ein Resümee vorträgt, ihren problemgeschichtlichen Ort i n der staatstheoretischen Literatur präzisiert und ihre Vorzüge und Mängel abwägt, ohne jedoch eine sachliche Korrektur vorzunehmen. W i r haben uns daher, entgegen der Vorsicht anderer Interpreten 5 , dazu entschieden, wichtige Gedanken, die i n den eigentlichen Schriften zur Integrationslehre nur angedeutet werden, durch deutlichere Formulierungen i n einigen späteren Aufsätzen als ergänzt anzusehen 6 . Dieses Verfahren scheint uns überall dort legitim zu sein, wo der spätere und thematisch zur Integrationslehre selbständige Aufsatz den Sinn scheinbar widersprüchlicher Textstellen transparent machen hilft 7 . 2 Historisch ist das Anliegen Smends eindeutig. I m politischen Chaos der zwanziger Jahre war die traditionelle Lehre von Staat und Ver2 I m engeren Sinne zählen zu den Schriften zur Integrationslehre die Aufsätze: Die politische Gewalt i m Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform (1955 d); Das Recht der freien Meinungsäußerung (1955 e); die Hauptschrift: Verfassung und Verfassungsrecht (1955 f); der A r t . Integrationslehre (1956). 3 Smend (1955 f), 120. 4 'Smend (1956). 5 So zuletzt Bartlsperger (1964), 1 f. (Gerade dadurch ist aber B. genötigt, einen „ U m w e g " über Nicolai Hartmanns Lehre v o m objektiven Geist zu machen, was die Exploration des Smendschen Ansatzes zugunsten einer eigenwilligen, wenngleich geistvollen Veränderung unterläuft.) 6 Hier gemeint sind vor allem: Bürger u n d Bourgeois i m deutschen Staatsrecht (1955 g); Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtslehre des 19. Jahrhuderts auf das Leben i n Verfassung u n d V e r w a l t u n g (1955 h); Politisches Erlebnis und Staatsdenken seit dem 18. Jahrhundert (1955 i); Staat u n d P o l i t i k (1955 k ) ; A r t . Staat (1959); Das Problem der I n stitutionen u n d der Staat. Staat als Beruf (1962). 7 Denn uns liegt nichts daran, Smends Lehre durch den Nachweis einer i n der Tat manchmal etwas problematischen Handhabung des Satzes v o m Widerspruch zu diskreditieren, sondern w i r wollen seinem Gedanken soweit w i e möglich nachgehen.

24

Einleitung

fassung m i t ihren i n der Anschauung anderer politischer Verhältnisse konzipierten Begriffen, ihrem retrospektiv orientierten Problembewußtsein und ihrem parzellierenden, dem Diktat der Methode unterworfenen neukantianischen Wissenschaftsverständnis — alle diese Probleme werden uns unter verschiedenen Gesichtspunkten noch sehr genau beschäftigen 8 — großteils überfordert. Unter der Fassade scharfsinniger Gelehrsamkeit ging das Verständnis der eigenen Gegenwart verloren. Smends Theorie* ist der Versuch einer Neubesinnung. I n einem nicht leicht aufzudröselnden Ineinander von geisteswissenschaftlichem Denken, historischer Anschauung, soziologischem Erkenntniswillen und den einem Staatsrechtslehrer vertrauten Kenntnissen von Verfassungsrecht und Verfassungsgeschichte distanziert er sich von der herrschenden Staatstheorie seiner Z e i t 1 0 , analysiert deren Krisenlage i n ihren Voraussetzungen 11 und sucht „ i n der zunehmend kritischen Lage der Weimarer Verfassung deren eigentlichen Sinn zu bestimmen" 1 2 i n einer das Wesen von Staat und Verfassung ergründenden Reflexion. Die Frage, ob die Integrationslehre i n erster Linie als Lehre von der Verfassung oder als Lehre vom Staat zu verstehen sei, möge bis zur näheren Klärung einstweilen zurückgestellt bleiben. (Smends eigene Formulierung bleibt i n „Verfassung und Verfassungsrecht" schwankend 13 .) 8

Vgl. §§6 ff. W i r werden einstweilen für Smend die Begriffe „Theorie", „Lehre" u. ä. synonym gebrauchen. Ebenso werden w i r relativ undifferenziert von einer Lehre, Theorie usw. von Staat und Verfassung, Staat und Politik sprechen, w e i l die Schriften zur Integrationslehre keinen sauberen Sprachgebrauch kennen. Eine präzisere Terminologie ist erst nach sorgfältiger Interpretation möglich (vgl. §§ 31 ff.). 10 I m einzelnen greift er durch Jellinek, Kelsen, M a x Weber, Friedrich Meinecke und andere vertretene Positionen an, denen er v o r w i r f t , sie ließen die hermeneutische Grundsituation, aus der heraus alle sozialwissenschaftliche Aussage ihren Bezug zur sozialen Wirklichkeit erhalte und damit der verfremdenden Abstraktion entgehe, außer acht. 11 Die „Staatstheoretische Grundlegung" von „Verfassung u n d Verfassungsrecht" beginnt m i t einem Abschnitt über „Die Krisis der Staatslehre" (1955 f), 121 ff. 12 Smend (1956), 301. 13 Smend beginnt „Verfassung und Verfassungsrecht" m i t einer schon erwähnten „Staatstheoretischen Grundlegung" (1955 f, 121 fï.), schließt daran „Verfassungstheoretische Folgerungen" an (187 ff.) und gelangt i n einem abschließenden T e i l zu „Positivrechtlichen Folgerungen" (233 ff.), die w i r i m übrigen i m Rahmen unserer Themenstellung nicht diskutieren werden. Smend bezeichnet es als „eigentliche These" seiner Arbeit, daß Staatslehre, Verfassungslehre und Staatsrechtslehre untrennbar zusammengehörten und insbesondere durch das Band der „geisteswissenschaftlichen Methode" geeint seien (119 f.). Andererseits sei Integration das „Sinnprinzip . . . nicht . . . des Staates..., sondern das seiner Verfassung" (120), eine Behauptung, die er aber schon wenige Seiten weiter (136) umzukehren scheint. Da die Begriffssetzungen w e i t e r h i n oszillieren, können w i r erst nach erfolgter Interpretation eindeutiger argumentieren. 9

§ 3 Die Stellungnahme Smends und seiner Interpreten

25

Das hier interessierende Problem, wie weit eine (Be-)Deutung der Integrationslehre als politische Theorie zulässig ist, kann durch folgende Belege entschieden werden. 1. Smend erinnert wiederholt daran, daß er einen ganz bestimmten Begriff des Politischen entwickelt habe, der Grundlage seiner Argumentation sei 14 . Wie der Begriff der Integration als Begriff des Politischen zu verstehen ist, zeigt er u. a. i n der Diskussion des Staatsformenproblems 1 6 . Staatsformen definiert er als „Typen von Kombinationen der Integrationsfaktoren" 1 6 , also als politische Gesamtkonstellationen, deren Strukturanalyse diejenigen politischen Einzelgehalte verdeutlicht, zu denen sich der Begriff des Politischen i n historischer Ausfaltung differenziert. Somit gibt Smend einen unübersehbaren Hinweis darauf, daß der Begriff der Integration als Begriff des Politischen zu gelten hat und daß er i h n verstanden wissen w i l l als ein Kompositum, dessen heuristische Potenz sich sozusagen erst i n der konkreten Gesamtanschauung einer gegebenen politischen Ordnung erschließt 17 . 2. Man kann daraus den Schluß ziehen, daß logisch eine Theorie, die sich aufbaut auf den Begriff aus einer bestimmten (hier: politischen) Anschauung, kaum anders zu fassen ist als eine Theorie eben dieser begrifflich intendierten Wirklichkeit. Aber auch jenseits solcher Skrutinie macht Smend immer wieder deutlich, daß die Integrationsvorgänge, m i t denen er befaßt ist, politische Vorgänge sind. Hinzutritt, daß er gelegentlich dort von politischer Theorie mittelbar oder unmittelbar spricht, wo er die eigene theoretische Leistung andeutet 1 8 . M i t diesen wenigen Hinweisen ist objektiv über die Valenz der Integrationslehre als politische Theorie nichts ausgesagt. Dazu bedarf es der Uberzeugung ihres Autors entzogener Maßstäbe, die noch zu entwickeln sind. Außerdem kann über die politikwissenschaftliche Relevanz des Integrationsbegriffes und seiner Theorie erst geurteilt werden nach einer ausführlichen inhaltlichen Darstellung. Immerhin dürfen w i r dem Bisherigen entnehmen, daß das Anliegen dieser Arbeit mit dem Anliegen der Integrationslehre ganz oder teilweise kongruent ist und daß die Richtung, i n der w i r nach einer politischen Theorie suchen, nämlich die Zusammengehörigkeit von System und System-Begriff, durch die entsprechende Ausführung bei Smend legitimiert wird. 14 15 16 17 18

Smend Smend Smend Smend Smend

(1955 d), (1955 f), (1955 f), (1955 f), (1955 f),

82, 84; (1955 f), 1281, 219, 257; ähnlich (1956), 300. 218 ff. 220; vgl. auch 222 f. 220. 157, 171; (1955 i), 359; (19551), 380 ff.; hier: 380.

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Einleitung

3 Die Stellungnahme der Sekundärliteratur ist bei aller Nuancierung und aller unterschiedlichen Bewertung ihrer eigenen Feststellungen eindeutig 1 9 . Allerdings w i r d die Sicherheit des Urteils oft durch die mangelnde Kenntnis dessen getrübt, was Politik ist, so daß man den immer wieder gegen Smend erhobenen Vorwurf der begrifflichen Unklarheit 2 0 m i t einiger Berechtigung — zumindest unter der Thematik dieses Abschnittes — an die meisten seiner Interpreten zurückgeben kann. Wenngleich es daher wenig sinnvoll ist, die Äußerungen i m Detail abzuwägen, so heben sich aus ihnen doch zwei interessante Gesichtspunkte ab. 1. Sigmund Rohatyn w i r f t die grundsätzliche Frage des Wissenschaftsverständnisses auf: „Wer innerhalb des wissenschaftlichen A r beitens auf die politische Gestaltung des Staates hinzielt, hat den die abendländische K u l t u r beherrschenden Wissenschaftsbegriff eines zweckfreien Zusammenhangs verlassen 21 ." Was Rohatyn als Zweck ansieht, hatte schon vorher Kelsen polemisch gegen Smend als Politik gebrandmarkt: „die Tendenz..., den Staat als solchen zu bejahen" 2 2 . Konsequent w i r d er dann zu dem Schluß gelangen, der Begriff der Integration trage ein politisches Werturteil 2 3 . 2. Carl Bilfinger weist auf die Verschränkung des Staatlichen und des Politischen i n der Integrationslehre hin: „Die Integrationslehre Smends ist gedacht als die Lehre vom Sinn des Politischen, durch welches allein der Staat sich verwirklichen kann. Das Politische ist so stets auf den Staat bezogen, es gibt außerhalb dieser Relation nichts Politisches 24 ." Damit sind der Frage nach der Bedeutung der Integrationslehre für die politische Theorie zwei Hinweise gegeben, deren w i r uns später noch zu erinnern haben: die Reflexion über Staat und Politik erfolgt bei Smend aus einer engagierten Haltung, welche das moderne Wissenschaftsideal, wertfrei bloße Fakten zu referieren, ablehnt und — auch und vor allem i m wissenschaftlichen Urteil — verantwortlich für 19 Vgl. u.a.: Waldecker (1928), 145; Tatarin-Tarnheyden (1928 b), 6 f.; Hensel (1929), 178 ff.; Koellreuter (1929), 11; Mayer (1931), 32; Wohlgemuth (1933), 22 f., 36, 49; Zech (1934), 58; Kaegi (1945), 142; Hennis (1963), 17; Krüger (1964), 679; vgl. a u d i die unmittelbar folgenden Anmerkungen. 20 Kelsen (1930), bes. 2, 3, 16. Der S t i l k r i t i k Kelsens sind die meisten der späteren Interpreten gefolgt. Auch w i r halten sie prinzipiell für berechtigt und werden uns i m Laufe der weiteren Arbeit noch mehrfach dazu äußern. 21 Rohatyn (1930), 262. 22 Kelsen (1930), 30. 23 Kelsen (1930), 77. 24 Bilfinger (1928), 286.

§ 3 Die Stellungnahme Smends u n d seiner Interpreten

27

Existenz und Gestaltung des Gemeinwesens zeichnet; zweitens: Aussagen über das Politische sind an die Erkenntnis des Staates geknüpft. Wie suspekt das von Smend eingenommene Wissenschaftsverständnis auch dem gegenwärtigen staatstheoretischen Denken vorkommt, läßt Badura erkennen, der von einer „Politisierung der Staatslehre" spricht 2 5 . Ohne an dieser Stelle diesem oder anderen Vorwürfen nachzugehen, kann jedenfalls abschließend festgestellt werden, daß auch die interpretierende Literatur den politischen Charakter der Integrationslehre seit Jahrzehnten betont.

25

Badura (1959), 199; ähnlich spricht auch Klinghoff einer „Verquickung von Staatstheorie u n d P o l i t i k " .

er (1929/30, 430) von

Erstes Kapitel Politikwissenschaft und Theorie-Denken § 4 Die wissenschaftstheoretische Aporie der modernen Politikwissenschaft Wer sich heute für eine wissenschaftliche Politik interessiert, w i r d Mühe haben, seine Intention zu präzisieren. Kann er den Gegenstand seines Interesses überhaupt nennen? Kennt denn die wissenschaftliche Politik selbst ihr Objekt? Oder wenigstens die Richtung seiner approximativ möglichen Aneignung? Die innerdisziplinären Antworten seitens der Politologen fallen nüchtern und illusionslos aus 1 . Sie wurden unlängst faktisch unterstützt durch den mühevollen Versuch einer Bestandsaufnahme der gegenwärtigen politischen Forschung i n Deutschland 2 . Denn auch wer die Unterscheidung zwischen der politischen Wissenschaft als Einzelfach und den politischen Wissenschaften vorläufig noch zugunsten der ersteren mangels eindeutiger literarischer Topoi und Vorbilder 3 großzügig behandelt, w i r d i n Alfred Webers Kultursoziologie, Eugen Kogons Darstellung des SS-Staates und Ernst Fraenkels Sammlung deutscher Äußerungen über Amerika 4 — u m nur drei Themen aus der angeführten Literatur zu nennen — nicht die Einheit einer i n ihrem Gegenstand betroffenen akademischen Disziplin erkennen können. Der naheliegende Einwand, daß v. d. Gablentz sich durch unreflektierte Kriterien den Blick für die genauere und richtigere Auswahl und damit für die Analyse selbst getrübt habe, ist rasch entkräftet durch den Hinweis auf die analog diffuse Situation i n der Thematik der politikwissenschaftlichen Vorlesungs- und Seminarpraxis an den Hochschulen oder den bunten Inhalt der Fachjournale 5 . Ist dies die unvermeidliche Begleiterscheinung einer Wissenschaft i n statu nascendi? Oder fehlt der mögliche Gegenstand einer Politik, weil 1 Dazu Hennis · (1960), 203; Maier (1962), 232; Burdeau (1959); Schmitz (1965), 19; sehr scharf schon Heller (1957), 207. 2 von der Gablentz (1960). 3 Vgl. außer Burdeau die vorzügliche kurze Einführung von Prélot (1963). 4 A l f r e d Weber (1950); Kogon (1948); Fraenkel (1959). 5 M a n vergleiche n u r einmal die Inhaltsverzeichnisse der hier i n Frage kommenden Zeitschriften sowie Vorlesungsverzeichnisse.

§ 4 Wissenschaftstheoretische Aporie der Politikwissenschaft

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er so allgemein ist, daß er sich nicht i n konkreter Substanz fassen läßt 6 ? 1

M i t einem Ja zur ersten Frage hätte man noch vor wenigen Jahren mutlose Erstsemester trösten können. Inzwischen wissen w i r , daß sie falsch gestellt ist 7 . Die Politikwissenschaft verfügt (in Deutschland) über eine jahrhundertealte Tradition i n den und außerhalb der Universitäten, welche trotz ihres institutionellen Zusammenbruches seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 8 zumindest literarisch nie ganz abgebrochen ist. Was die politischen Soziologen vom Range Max Webers, Historiker wie Friedrich Meinecke (und seine Schule!) oder die Außenseiter des öffentlichen Rechts und der Wirtschaftswissenschaften hier an literarischem Gut dem 20. Jahrhundert i n die Scheuer gebracht haben, ist aus der Warte der u m ihr Eigenverständnis ringenden Politikwissenschaft längst noch nicht ausgewertet. Schließlich darf derjenige, der sich auf die Neuheit des Faches i n Deutschland beruft, nicht übersehen, daß maßgebliche Vertreter der Disziplin (deren Einfluß ja übrigens kaum abzusehen war durch ihr zeitweiliges Ausbildungsoligopol für den wissenschaftlichen Nachwuchs) an der ehrwürdigen und ohne Bruch tradierten angelsächsischen „divine science of Politics" — wie John Adams das Fach i n Aristotelischer Überlieferung nennt 9 — geschult sind, so daß die für Frankreich von Alfred Grosser getroffene Feststellung, die gegenwärtigen Lehrstuhlinhaber seien praktisch Autodidakten 1 0 und hätten damit ex ovo etwas Neues zu schaffen, für die deutsche Situation nicht oder nur m i t sorgfältiger Differenzierung zutrifft 1 1 . 2 Die zweite Frage nach dem möglicherweise amorphen Gegenstand der Politik ist ungleich ernster zu nehmen, impliziert sie doch die schonungslose Forderung nach der für alle neuzeitliche Wissenschaft konstitutiven Objektivation. 6

Vgl. etwa Schmitt (1940), 140; Heller (1957), 208. Grundlegend Maier (1962) u n d (1966); ferner Hennis (1960) u n d (1963); Prélot (1963); Schindler (1961); Kaiser (1962). 8 Vgl. A n m . 7. 9 Vgl. die schöne Übersicht von Crick (1959). 10 Grosser (1960), 40. 11 Burdeaus ähnliche Bemerkungen (1959, 171) über die Neuheit des Faches müßte man i n einer entsprechenden deutschen Einführung als glatte Ignoranz bezeichnen. 7

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1. K a p i t e l : Politikwissenschaft und Theorie-Denken

Sehen w i r an dieser Stelle einmal von wenigen und ob ihrer mangelnden Anerkennung isolierten Lösungsversuchen ab, so bietet die Durchsicht der deutschen Fachliteratur kaum Hilfe für die Antwort. Man w i r d i n ihr unschwer eine Verbindung verschiedener Betrachtungsweisen erkennen können, ein — methodologisch oft unkontrolliertes — Ineinander von philosophischen, historischen, soziologischen, j u r i dischen, wirtschaftswissenschaftlichen usw. Hin-Sichten. Selten spürt man etwas typisch Politikwissenschaftliches 12 , wobei w i r nicht zögern zu behaupten, daß ,spüren' das noch bei weitem präziseste Verb für die beurteilende Deskription des i n der Regel Vorliegenden ist. Es gäbe ungezählte Beispiele dafür, daß der „politologische" Charakter einer politikwissenschaftlichen Publikation nur noch deutlich erkennbar ist an der verwaltungsrechtlich bestimmten Fachzugehörigkeit seines Autors! Daß die sachlich oft vorzügliche Hin-Sichten-Literatur schlechterdings Unpolitisches beschreibe, w i r d niemand ernstlich behaupten wollen. I n dem Wunsch aber, den Gegenstandsbereich des Faches i m Spezifischen der politikwissenschaftlichen Betrachtung zu finden, hilft sie nicht weiter. W i r werden uns i n einigen Stufen an eine sinnvolle Antwort auf die Gegenstandsfrage herantasten, ohne freilich schon an dieser Stelle mehr vorführen zu können als die ratio der für die folgenden beiden Kapitel gewählten Perspektive. 3

1. Carl Schmitt hat i n seiner oft angegriffenen Schrift „Der Begriff des Politischen" 1 3 dargelegt: Politik ist kein abgegrenzter Sektor der sozialen und/oder staatlichen Wirklichkeit, sondern eine Qualität, die bestimmten sozialen Akten zukommt, genauer gesagt: eine Qualität, die situationsspezifisch bestimmt ist 1 4 . Ähnlich sagt auch Herbert K r ü ger: „Man spricht durchweg" auf der Suche nach dem Begriff des Politischen „nicht von dem Substantiv ,Politik', sondern von dem Adjekt i v politisch' vielleicht deswegen, u m zum Ausdruck zu bringen, daß der Terminus nicht einen Sachbereich, sondern eine Eigenschaft bezeichnet, und zwar eine Eigenschaft, die jeder Sachbereich zu jeder Zeit unter gewissen Umständen anzunehmen vermag 1 5 ." 2. Dieter Oberndörfer zieht aus der qualitativen Grundbefindlichkeit aller Politik die wissenschaftstheoretische Konsequenz: „Nicht allein 12 Ritter (1959) hat hier i n seinen Angriffen gegen die Politikwissenschaft durchaus recht, sofern man freilich sein U r t e i l nicht als quaestio juris, sondern als quaestio facti n i m m t . 13 Schmitt (1963); zur inhaltlichen K r i t i k vgl. Schmitz (1965). 14 Schmitt (1963). 15 Krüger (1964), 679.

§ 4 Wissenschaftstheoretische Aporie der Politikwissenschaft

31

der Gegenstand, sondern die spezifische Weise seiner Befragung konstituiert wissenschaftliche Disziplinen." Er fährt fort: „Demgemäß kann sich die Frage nach dem Gegenstand der Wissenschaft von der Politik nicht zunächst auf diesen selbst, sondern muß sich vielmehr auf den für sie konstitutiven Fragehorizont richten 1 6 ." Popper drückt den gleichen Tatbestand ähnlich aus: Erkenntnis beginnt nicht m i t Daten und Fakten, sondern m i t Problemen 17 . Die Probleme oder der Fragehorizont der Politikwissenschaft lassen sich i m Rahmen der auch von uns vertretenen Grundüberzeugung der Freiburger Schule (deren Beleg sich gleichsam durch diese ganze Arbeit hinzieht) relativ eindeutig benennen: Was ist konstitutiv für das geordnete, durch immer neues Handeln zu verwirklichende Zusammenleben von Menschen 18 ? Reicht aber die so i n ihr richtiges Verhältnis zurückgestellte Gegenstandsfrage schon aus, u m a) den „Gegenstand" der Politikwissenschaft zu erhalten, bzw. um b) das Problem der zunehmenden Heterogenität politisch-wissenschaftlichen Denkens und Forschens zu überwinden? 4 Herbert Krüger schreibt i n seiner Staatslehre: „Es gibt eine ganze Reihe von Phänomenen der Staatlichkeit, deren Deutung nur dann befriedigt, wenn man sie aus der Idee des Systems erklärt 1 9 ." Der dem neuzeitlichen politischen Denken bis weit ins 19. Jahrhundert vertraute Gedanke des Systems bedeutet operativ, daß ein Einzelnes nur erklärbar ist aus seinem Stellenwert i n einem Ganzen und daß das Ganze nur ist durch den Beitrag des Einzelnen. Man könnte sich nun dieses Ganze als Summe des Erfragten vorstellen. Entsteht es aus der Einheit eines Fragehorizontes, bildet es selbst eine Einheit, und zwar i m optimalen Falle eine Phänomenales repräsentierende Einheit, welche konstitutiv, herausfordernd, korrigierend auf die Wissenschaft zurückwirkt. Wer nur nach dem Gegenstand sucht, geriete bald — u m ein plastisches B i l d Oberndorfers aufzugreifen — „ i n die Lage eines Octopus, der sich durch die dunklen Wasser der Tiefsee hindurchtastet und dabei nur das greifen kann, was gerade zufällig i n den Bereich seiner Fangarme k o m m t " 2 0 . Der Frage16

Oberndörfer (1962), 10. Popper (1962). Der f ü r einen Einzelaspekt erfolgte Hinweis auf Popper bedeutet nicht die Übernahme seiner Wissenschaftstheorie (vgl. §8). 18 Vgl. Oberndörfer (1962), 19. 191 Krüger (1964), 83. 20 Oberndörfer (1962), 9. 17

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1. K a p i t e l : Politikwissenschaft und Theorie-Denken

horizont schaltet den Zufall aus, aber er fordert mehr die Einheit einer Disziplin, als daß er sie herstellt. Denn der A k t des Fragens und die vorhergehende Exploration eines Fragehorizontes garantieren für sich allein noch kein richtiges und relevantes Ergebnis. Wissenschaft ist immer unabgeschlossen, vorläufig, unterwegs 2 1 , aber gerade i n einer „praktischen" Wissenschaft muß die vorhin propagierte Frage nach den Konstitutionsbedingungen menschlichen Zusammenlebens (die für sich genommen mehr spekulativer als empirischer A r t ist) ausgehen von historisch gewissen Konstellationen der politischen Daseinsgestaltung. Das heißt, das Ganze (unter bestimmten historischen Bedingungen „Staat" genannt, obwohl der Hinweis an dieser Stelle nicht verpflichten, sondern nur erläutern soll) verdankt zwar dem richtigen Fragen Präsenz und Verfügbarkeit i m wissenschaftlichen Bewußtsein, ist aber zugleich auch als Phänomen selbständig (denn, u m bei unserem Beispiel zu bleiben, „Staat" gibt es natürlich auch, wo man von keiner Staatswissenschaft weiß). Damit sind aber die eben geschilderten Impulse der Rückkoppelung ungleich komplizierter: sie werden ausgelöst durch unser (wissenschaftliches) Bewußtsein des intendiert Phänomenalen wie durch dieses selbst. Uns scheint daher die von Oberndörfer richtiggestellte Gegenstandsfrage einer weiteren Ergänzung zu bedürfen. Das zu Befragende, das Fragen und das Erfragte stehen i n einem Verhältnis der begründenden Wechselbedingung, das w i r fortan i n seinem phänomenalen Bezug System, i n bezug auf die wissenschaftliche Diszip l i n (hier: Politikwissenschaft) Theorie nennen werden. 5

Das Selbstverständliche ist der Gegenwart verloren gegangen. Wenn Hegel schreibt: „Die wahre Gestalt, i n welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein" 2 2 , wenn Goethe ausführt: „ K e i n Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur viele, zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, das für Theorie gelten könnte" 2 3 , so steht die zeitgenössische Sozialwissenschaft dieser wissenschaftstheoretischen Forderung relativ hilflos gegenüber. Der Verlust des Theorie-Denkens ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen des philosophischen Bewußtseinswandels der Neuzeit. Er w i r d getragen vom enzyklopädischen Wissenschaftsdenken der Aufklärung 2 4 , für die, i n ihrer (neu-)kantianischen Prägung, die zweite 21

Vgl. die Präzisierung dieses Gedankens i n den Kap. I I u n d I I I . Hegel (1952), 12. 23 Goethe (1960), 434 (Maximen u n d Reflexionen 500). 24 Dempf (1955, 23) sagt dazu sehr schön: „1750 organisierte Diderot die Encyklopädie, d. h. er w o l l t e die Gesamtheit der Wissenschaften i n einer 22

§ 4 Wissenschafts theoretische Aporie der Politikwissenschaft

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Phase des deutschen Idealismus nur ein retardierendes Element bleibt; er w i r d gefördert durch den Verlust des philosophischen Ganzheitsdenkens zugunsten selbstquälerischer Dichotomien, wobei man für die Politik an die Destruktion einer materialen Ethik durch K a n t denken w i r d 2 5 ; er w i r d kritizistisch abgesichert durch die i m Banne der Naturwissenschaften alle ontologische Diskussion paralysierende moderne Erkenntnistheorie 2 6 . Die eingangs bemängelte Heterogenität der Politikwissenschaft hängt nur zu einem Teil m i t der erst nach 1945 wieder begonnenen Institutionalisierung i n den Universitäten zusammen. Die Klage von der Gablentz': „Es fehlt heute i n der deutschen politischen Wissenschaft eine durchgeführte Theorie" 2 7 , und eine ähnliche Äußerung Finers, „Interest i n political theory has been at a very low ebb and is only now showing signs of a revival" 2 8 , lassen sich wesentlich durch den Verlust des System-Denkens erklären. Jetzt verdeutlicht sich, was m i t dem harten Urteil: „wissenschaftstheoretische Aporie" der gegenwärtigen Politikwissenschaft gemeint ist. Es fehlt ein notwendiges Element i m wissenschaftstheoretischen Vorverständnis der Disziplin 2 9 . Hier liegt der Schlüssel für die Überwindung der bisherigen politikwissenschaftlichen Heterogenität i n Forschung und Lehre. Daß man dies bisher beharrlich bei einem modernen Staatslehrer übersehen hat, dem i n einem glücklichen Wurf eine weitgehende Entsprechung des theoretischen Postulats gelungen ist, scheint uns die beste Bestätigung der These dieses einleitenden Kapitels zu sein. Gewiß, w i r sind uns dessen bewußt, daß der Ruf nach einem System des Politischen, welches zugleich den Gegenstandsbereich der wissenschaftlichen Politik eingrenzen soll, nicht mehr unbedingt originell ist angesichts der vielversprechenden Bemühungen u m das, was der dem Behaviorismus nahestehende Zweig der amerikanischen PolitikwissenOrdnung . . . zusammenstellen. Er brachte die Wissenschaften i n die alphabetische Ordnung, w e i l es nicht mehr u m Systematik ging, sondern die Systematik i m Hintergrund des Forschungs- und Leistungswerkes entschwand." 25 Dempf (1955), 151: F ü r die mathematisch-empiristisch orientierten Naturwissenschaftler g i l t : „Der Verzicht auf abschließende u n d zusammenfassende Erkenntnis ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Forscherethos wegen der erkannten Gefahr der Weltanschauungsmache. Der tiefste Ernst der Voraussetzungslosigkeit liegt i n der Beschränkung auf das Teilgebiet." Die sozialwissenschaftliche Entsprechung ist dann die Furcht v o r der P o l i t i sierung (vgl. Dempf 152), die dann bei einem so hochbegabten Staatstheoretiker w i e Jellinek alle Ansätze zugunsten einer gekünstelten Begrifflichkeit zerstört. 26 Vgl. § 8. 27 von der Gablentz (1960), 173. 28 Finer (1960), 21. 29 Vgl. außer den von Burdeau, Duverger u n d Pi'élot. zitierten Arbeiten Meynaud (1959). 3 Mols

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1. K a p i t e l : Politikwissenschaft u n d Theorie-Denken

schaft Systemanalyse nennt 3 0 . Wobei freilich noch zu prüfen wäre, ob die Systemanalyse tatsächlich ihren Impetus neuzeitlichem Scientismus oder wiederentdeckten Impulsen älteren Denkens verdankt 3 1 . Hier soll nur an eine Schwierigkeit erinnert werden, die systematischem Denken immer zugrunde liegt — zugrunde liegt namentlich i m Horizont unseres „gegenständlichen" modernen Wissenschaftsverständnisses, welchem zugunsten älterer oder gar utopischer Epistemologien zu entweichen ebenso töricht wie wirkungslos w ä r e 3 2 : Was i m System als Gesamt eingefangen wird, ist i m einzelnen analytisch definierte A b straktion, oder anders: der Vollständigkeit systematischen Abdeckens entspricht die W i l l k ü r eines systemrelevanten Vorentscheides über das, was dazugehört. W i l l k ü r der Abstraktion zur Bestimmung der ja immer nur analytisch faßbaren Systemelemente (soll der Begriff des Systems nicht zur bloßen Metapher und Beschwörungsformel entwertet sein) — und dennoch deren Synopse zur Anschauung höchst konkreter Lebensverhältnisse, so etwa läßt sich die Aufgabe systematischen Denkens für den Bereich der Politik postulieren. 6

Man könnte gegen unsere These vom Zusammenhang der innerdisziplinären Heterogenität der Politikwissenschaft und gewisser Verengungstendenzen i m modernen Wissenschaftsverständnis den Einwand vorbringen, daß der Verlust des System-Denkens dann auch die übrigen Sozialwissenschaften hätte treffen müssen. Uns scheint i n der Tat das Phänomen der Heterogenität kein „Privileg" der Politikwissenschaft zu sein, wenngleich es i n den Nachbardisziplinen aus historischen Gründen latenter bleibt. Schon 1930 schrieb Johannes Sauter: „Eine schlichte Betrachtung der Soziologie hat uns aber gezeigt, daß die ersten und letzten Gedanken i n allen Richtungen der Windrose auseinanderlaufen 33 ." Hat sich daran etwas geändert? Was heißt dann aber, die Heterogenität sei dort latenter als i n der Politikwissenschaft? Vielleicht darf man zur Untermauerung der Hypothese drei gewichtige Phasen der zeitlichen Abfolge i n der Soziologie unterscheiden: Die Phase der Systeme, die Phase der Begriffe und die Phase der empirischen Forschung i m engeren Sinne. Die erste sei durch Namen wie 30

Z u r Übersicht vgl. Netti (1966); Rapoport (1967); Lehmbruch (1967). Vgl. etwa Almond/ Powell (1966), 12 A n m . 10; Deutsch (1966); zur t r a d i tionellen Komponente bei Easton vgl. Narr (1967). 31

32 33

Vgl. Eulau (1966). Sauter (1930 b), 413.

§ 4 Wissenschaftstheoretische Aporie der Politikwissenschaft

35

Comte, Marx oder Spencer repräsentiert, die zweite charakterisiert durch den wissenschaftstheoretischen Bewußtseinswandel von Marx zu Weber. Was jener primär durch Systematik leistet, kompensiert dieser durch eine ungemein schärfere Begrifflichkeit, die aber wiederum nur möglich ist i m Rahmen des durch die Systematiker erschlossenen gesamtgesellschaftlichen Apriori. Die disziplinäre Sicherheit der heutigen dritten Phase ist eine Scheinsicherheit, w e i l sie sich, auch i n der Korrektur, auch i m Widerspruch, auch i n der Abkehr, auf die Leistung des Vorherigen stützt. Der durch die Großvätergeneration gesetzte Überlieferungsrahmen hält Divergierendes zusammen 34 . Das skeptische Urteil bezieht sich allerdings primär auf die deutsche Soziologie, die sich i m Schnitt eine Entwicklung versagte, welche i m konzeptuellen Bezugsrahmen des sogenannten „Struktur-Funktionalismus" zu außerordentlichen Leistungen der Verbindung von sozialer Mikro- und Makro-Ebene gelangt ist 3 5 . Könnte man Ähnliches nicht auch für die Rechtswissenschaft sagen? Carl Schmitt erklärt, nicht ohne den leisen Unterton der Überlegenheit: „Die Zeit der Systeme ist vorbei 3 6 ." Welcher Systeme denn? Jener, die aus einem reduktiven Prinzip logische Gedankengebäude deduzierten und konstruierten 3 7 , denen schließlich die Erfahrung widersprach. Man w i r d aber auch hier fragen müssen, ob die Einheit der Forschung (zumindest i m Staatsrecht und den unmittelbar angrenzenden Teildisziplinen) nicht eine gewisse Garantie erhält durch die systembildende Leistung des 19. Jahrhunderts m i t ihrer bis i n die dreißiger Jahre hineinreichenden Entwicklung 3 8 . Und dies ebenfalls trotz oder wegen aller Neubesinnung. Die gegenwärtigen Versuche, i n der Rückbesinnung auf die ehrwürdige Tradition der T o p i k 3 9 das rechtswissenschaftliche Denken wieder 34

Vgl. die Übersichten bei Bottomore (1962) u n d Schoeck (1952). M a n würde hierzulande w o h l vergeblich nach einer als Lehrbuch aufbereiteten Bestandsaufnahme w i e dem Buch v o n Johnson (1966) suchen. I m übrigen läßt unser einschränkendes U r t e i l über die Soziologie A u s nahmen zu, etwa die Arbeiten von Luhmann, z. B. der Aufsatz von (1964) oder die Antrittsvorlesung von (1967); interessant ist auch, daß die w i c h tigsten Arbeiten, die i n dem vorzüglichen Beitrag von Roghmann (1967) aufgeführt werden, gerade nicht deutschen Ursprungs sind, so daß m a n k a u m fehl geht i n dem U r t e i l : Die deutsche Soziologie verhält sich i n ihren theoretischen Bemühungen weitgehend rezeptiv. Diese Feststellung t r i f f t allerdings nicht die dialektisch-hermeneutische Richtung, vgl. Fijalkowski (1967) u n d die dort aufgeführte L i t e r a t u r ; ferner § 12. 36 Schmitt (1963), 17. 37 Vgl. §§9, 41. 38 E r w ä h n t sei n u r das auch heute noch vielbeachtete Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Anschiitz / Thoma (1930/1932); zur Darstellung u n d K r i t i k der hier aufgeworfenen Fragen Radbruch (1958). 391 Vgl. Viehweg (1953); Ehmke (1963); Bäumlin (1961); f ü r die P o l i t i k wissenschaft auch: Hennis (1963); Maier (1964). 35

3*

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1. K a p i t e l : Politikwissenschaft und Theorie-Denken

unmittelbar an das vorliegende konkrete Phänomen zu binden, scheinen uns i n doppelter Weise erwähnenswert zu sein. Einmal versucht die „Techne des Problemdenkens" (Viehweg), vergessene Modi der (rechts-)wissenschaftlichen Reflexion i n ihrer Fruchtbarkeit für aktuelle Problemlagen nachzuweisen 40 . Der Nicht-Jurist w i r d sich des Urteils über den Erfolg der erneuerten Forschungsrichtung zu enthalten haben, ihre Intention jedoch, zumal wenn er aus der Perspektive einer „empirischen" Wissenschaft argumentiert, uneingeschränkt bejahen. Anstoß nehmen kann man aber, und das ist der erwähnte zweite Punkt, an einem Teil der mitgegebenen Rechtfertigung. Bäumlin hat überzeugend den Entwurf- und Aufgabencharakter von Staat und Recht vorgeführt. I n diesem Zusammenhang gibt er der Topik als „ S t i l der Jurisprudenz" eine interessante Begründung: Was sich als Versuch qualifiziert, ist . . . nicht verwirklichte Fülle u n d Einheit. So können die verschiedenen, v o m geschichtlichen Recht (im Nacheinander oder i n der Gleichzeitigkeit) aufgestellten Regelungsiansprüche zusammen nicht ein axiomatisches System bilden, innerhalb dessen einfach zu deduzieren u n d zu subsumieren wäre. Das geschichtliche Recht ist zu jeder Zeit ein Inbegriff v o n kontingenten, je entwurfshaften Teilantworten. D a m i t ist der Jurisprudenz das Systemdenken verwehrt. Seine Einheit findet das Recht nicht i n der logischen Einheit seines Normenbestandes, sondern allein i n der einen Frage, auf die die bruchstückhaften Regelungen antworten, also i n seiner Grundaporie 41.

I n den von uns nicht zitierten weiteren Sätzen stellt Bäumlin wegen der oben beschriebenen Qualität des Rechts die Topik an die Stelle des System-Denkens. Schließt aber wirklich das eine das andere aus? Wenn System-Denken deshalb abzulehnen ist, weil es die Axiomatik an die Stelle der Anschauung und die Logik an die Stelle der Geschichtlichkeit setzt, Topik aber wegen der „Unabgeschlossenheit und Offenheit" 4 2 der geschichtlichen Situation des Menschen statt abstrakter Syllogistik erfahrungsgesättigte und darum brauchbare Teilantworten finden hilft, besteht kein Anlaß zum Einspruch. Wie aber, wenn das System selbst hermeneutisch konzipiert wird, wenn es ausdrücklich als ein Vorläufiges i n der Geschichte und als ein Konkret-Empirisches i n allen seinen Momenten gedacht wird? Der m i t dem Gedanken der Topik ausgedrückte Protest innerhalb der Rechtswissenschaft greift eine Position an, die auch uns nicht haltbar zu sein scheint. Es ist hier nicht der Ort zu zeigen, wieviel verwässerter oder besser: durch falsche (exaktwissenschaftliche) Vorbilder 40 Von Viehweg bes. f ü r die Z i v i l i s t i k , von Ehmke für das Verfassungsrecht vorgeschlagen. 41 Bäumlin (1961), 26 f.; vgl. auch 45; ferner Hennis (1963), 115. 42 Maier (1964), 260.

§ 5 Das Problem der politischen Theorie

37

erstarrter deduktiver Schematismus i n den großen Systemen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steckt. W i r können auch nicht entscheiden, ob das von uns geforderte System speziell i n der Rechtswissenschaft überhaupt möglich ist. Jedenfalls können w i r i n Verweis auf Hegel eine weitere Möglichkeit andeuten, zu Systemen zu gelangen — zu Systemen, die nicht axiomatisch konstruierend verfahren und dennoch den Vorzug der Topik kennen. W i r meinen jene Einheit von System und System-Begriff, die w i r oben (§ 1) schon andeuteten und die uns bei Smend paradigmatisch vorgezeichnet zu sein scheint.

§ 5 Das Problem der politischen Theorie

Uber politische Theorie zu schreiben, gleicht der Abfassung eines phantastischen Romans. Was ist eine „Theorie"? Was bedeutet „politisch"? (Was wäre vollends ein „System-Begriff"?) Hier ist zur Stunde so gut wie alles strittig. W i r beginnen m i t einigen typischen ( = repräsentativen) Äußerungen über „politische Theorie" i n der Politikwissenschaft, u m sodann zu überlegen, welche Hilfe von der zeitgenössischen Philosophie für die epistemologischen Grundkonzepte „Theorie" und „Begriff" zu erwarten ist. 1

„Die Politische Theorie hat die Aufgabe, i n die Geschichte der politischen Ideen einzuführen und den Studenten m i t den großen politischen Ordnungskonzeptionen vertraut zu machen" 1 , beginnt Hans Maier i m Fischer-Lexikon „Staat und Politik" die Bestimmung unseres Themas. I n einer solchen, wahrscheinlich als unanstößig empfundenen Formulierung (insofern Maier die üblich gewordene Position referiert 2 ) w i r d man nur zum Teil den gerade i n Deutschland teuer gewordenen Einfluß des Historismus sehen dürfen, ist doch auch die angelsächsische Politikwissenschaft, die uns zu Recht i n vielen Aspekten als Vorbild gilt, von diesen Auffassungen nicht frei 3 . Gewiß, es gibt Gegenstimmen diesseits und jenseits des Ozeans, aber sie bestimmen noch keineswegs das, was man als herrschende Lehre bezeichnen könnte. Versucht man einmal, die hinsichtlich ihres Gegenstandes unterschiedlichen Positionen 4 der Politikwissenschaftler auf den kleinsten gemeinsamen 1 2 3 4

Maier (1964), 270. Hermens / Wildenmann (1964), 387; Lepsius (1961), 81. Vgl. Jenkin (1955); Glaser (1955); Easton (1953), 233 ff.; Rapoport Statt vieler Rapoport (1967); Charlesworth (1966).

(1967).

38

1. K a p i t e l : Politikwissenschaft u n d Theorie-Denken

Hauptnenner zu bringen, so scheint uns dieser die Erkenntnis der staatlich-politischen Wirklichkeit des hic et nunc zu sein 5 — und dies zunächst unbeschadet der Ungeklärtheit von „Wirklichkeit", „Staat", „Politik" — vorläufig unbeschadet auch der Tatsache, daß Politikwissenschaft die (nationalstaatliche) Grenze der neueren Staatslehre längst überschritten hat 6 . Auch die politische Theorie sollte dann dieser W i r k lichkeit zugewandt sein, eine Auffassung, durch die w i r uns i n Übereinstimmung wissen m i t den großen politischen Denkern der Vergangenheit, die ja immer „one eye fixed on the forum" 7 hatten und daraus die Stärke ihres Argumentes empfingen. K e i n Physiker käme auf die Idee, die alte Phlogiston-These m i t theoretischer Physik zu verwechseln, genauso wie der Literaturwissenschaftler nicht Literaturgeschichte und Poetik vermengen wird. Daß man sich i n der Politikwissenschaft der Täuschung hingeben kann, i n der interpretierenden Tradierung von „topics" das auslösende Geschäft der theoretischen Bewältigung seines Gegenstandes zu sehen, hängt wesentlich m i t der Chance zusammen, mittels eines beliebigen, wenn nur immer geschickt gewählten heuristischen Prinzips ein gutes Stück politischer Wirklichkeit zu fassen 8 — und da man nicht gelernt hat, Metatheorie voranzustellen bzw. zur prüfenden Kontrolle anzuwenden 9 , hält man das Erreichte, steckt man noch ein schönes Stück verarbeiteter Literatur hinein, für recht ordentlich. Dennoch bleibt festzuhalten: „Solange die Theorie der Politik als bloß historisch-deskriptive Staatsformenlehre und Geschichte der politischen Ideen aufgefaßt wird, fehlt i n der Tat der spezifische Bezugsrahmen für eine Einzelwissenschaft von der P o l i t i k 1 0 . " 2. Zwei weitere Positionen mögen durch drei Aufsätze umrissen werden, die 1957 i n der „American Political Science Review" erschienen 1 1 . Während der Autor des ersten, David G. Smith, i m Ausgang von 5 Vgl. bes. die von Lepsius (1961) verfaßte Denckschrift; ferner Hermens/ Wildenmann (1964), 391. 6 Vgl. §40. Der Perspektivenausweitung der Politikwissenschaft (vgl. die vorzügliche Übersicht bei Eckstein (1963)) bedeutet aber nicht, daß der „Staat" als konzeptueller Referenzrahmen des politischen Geschehens seine hervorragende Bedeutung verloren hat. Siehe i. a. Pye (1966) oder überhaupt die zahlreiche L i t e r a t u r zu den politischen Strukturen der d r i t t e n Welt, etwa Gonzalez Casanova (1967). 7 Sabine (1939), 3. 8 Vgl. Van Dyke (1960), 61 ff. 9 Metatheorie soll heißen: allgemeine epistemologische Sätze, welche als Obligate des wissenschaftlichen Erkennens (vgl. Leinfellner (1965)) sowie als Postulate des i n Frage kommenden Bezugsrahmens Theorien bestimmen. I m engeren Sinn ist Metatheorie eine i n Syntax u n d Semantik definierte Symbolsprache zur sprachanalytischen Kontrolle von Theorien. Von sprachanalytischen Erwägungen sei hier jedoch abgesehen. 10 Lepsius (1961), 85 f. 11 Smith (1957); Apter (1957); Rogow (1957).

§ 5 Das Problem der politischen Theorie

39

einem modifizierten idiographischen Wissenschaftsbegriff für die politische Theorie System-Denken und implizierte Generalisierungen ablehnt und sie als „a comprehensive picture of political life that relates our l i v i n g together i n a common political entity w i t h our private and general ends and our final aims" 1 2 bezeichnet, lehnt David E. Apter i m folgenden Aufsatz diese A r t von „omnibus philosophy" 1 3 m i t Nachdruck ab. „Unless a question is made theoretically pertinent to a larger body of theory, a research enterprise remains at the level of satisfying idle curiosity or simple acceptance of disciplinary tradition 1 4 ." Die dam i t von Apter gestellte Relevanzfrage erfährt aber eine rein nomothetische Beantwortung: „We need . . . a greater clarification of the epistemologica! foundations of science. Too few political scientists get specific training i n theory construction, work on science qua science, and at the same time keep contact w i t h empirical problems which are manipulable by scientific means 16 ." Arnold A. Rogow überschreibt seinen abschließenden Kommentar m i t dem praktisch-politischen Einwand: „Whatever Happened to the Great Issues?" 16 , u m die es doch vornehmlich i n der Politikwissenschaft gehen sollte 1 7 . Auch diese Diskussion hinterläßt Unbehagen. Alle drei Autoren argumentieren relativ plausibel, so daß ein Außenstehender sicher ratlos bleiben würde. Bei Smith bleibt letztlich unklar, w o r i n sich Politikwissenschaft und die politische Theorie unterscheiden sollen, eine Position, die er m i t Kollegen von Rang und Namen t e i l t 1 8 . Apter sucht der Theorie nach naturwissenschaftlichem Vorbild eine vorbereitende Funktion für „generalizable patterns" zuzuweisen. Während der erste Autor unter bewußtem Einbezug der ethischen Tradition 1 9 i m politischen Denken schreibt, „the political scientist is more interested i n the particular content of events and institutions than their universal or generalized f o r m " 2 0 , möchte der andere diesen Satz am liebsten umkehren. W r haben es m i t zwei weitverbreiteten Positionen zu tun, die ihr Selbstverständnis übrigens nicht zuletzt i n der polemischen Ausrichtung am Gegner finden 21. 12

Smith (1957), 746. Apter (1957), 747. 14 Apter (1957), 754. 15 Apter (1957), 762. 16 Rogow (1957), 763. 17 Vgl. Rogow (1957), 769 ff. 18 Vgl. Catlin (o. J.); Field (1956), dazu die Bemerkung von Brecht (1959), 26; Jenkin (1955), 86f.; bes. aber §6 dieser Arbeit. 19t Vgl. Smith (1957), 739. 20 Smith (1957), 741. 21 Ä h n l i c h argumentiert Rogow (1957), 764: „ . . . there is a l i t t l e too much artificial dichotomy . . . i n both articles." 13

40

1. Kapitel: Politikwissenschaft und Theorie-Denken

3. Die idiographisch-nomothetische Zweiteilung ist nicht die einzige Dichotomie i m Streit u m politische Theorie. Verwässert man den Ansatz von Smith und entkleidet man ihn seiner implizit mitgegebenen Wertungen, kommt man zu einer Aufhäufung bloßer Daten, denen andere Theoretiker bewußt ein logisches Apriori gegenüberstellen. William A. Glaser erkennt den gefährlichen Gegensatz, der sich hier anbahnt: „ I f the study of theory and the study of fact do not fertilize each other, both w i l l be barren 2 2 ." Und i n der Tat ist die große Gefahr des gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Theorie-Denkens sowohl ein „gap between theory and f a c t " 2 3 wie auch, damit zusammenhängend, eine Orientierung an sozialwissenschaftlich völlig irrelevanten Beispielen (aus den Naturwissenschaften oder dem Bilderbuch), was Paul Lazarsfeld zu der bissig-ironischen Bemerkung veranlaßt: „Irgendwo zwischen der Nüchternheit der idealen Gase . . . und der Popularität des . . . Dachshundes w i r d die Sozialforschung . . . zerquetscht 24 ." Vielleicht, wahrscheinlich sogar, entgeht man der Gefahr der Irrelevanz i n der Anschauung und der Hilflosigkeit vor einem Schisma zwischen „theoretical system" und „empirical system" 2 5 i n der Suche nach einem phänomenalen Eigenbereich des Politischen. Denn das war ja auch das Fazit des vorhergehenden Paragraphen: Die politische Theorie soll sich m i t den Phänomenen befassen, die als politische erkennbar sind. Ein solches Postulat klingt so einleuchtend wie ein analytisches Urteil, und i n der Tat hat es seine (verbalen) Programmierungen gefunden. Die politische Theorie „darf — führt Hans Morgenthau aus — nicht an einem vorgegebenen abstrakten Prinzip oder an einem w i r k lichkeitsfernen Konzept gemessen werden, sie darf nur nach ihrem Zweck beurteilt werden, i n eine Fülle von Phänomenen, die ohne sie zusammenhanglos und unverständlich bleiben, Ordnung und Sinn zu bringen" 2 6 . Ähnlich, genauer: von den Phänomenen her, würden w i r eine Feststellung von Rainer M. Lepsius verstehen, die außerdem noch das Plazet führender Fachvertreter der Disziplin gefunden hatte: „Der K e r n der Politischen Wissenschaft ist die Theorie des politischen Prozesses, die auf der Analyse politischer Ordnungsvorstellungen, Institutionen und Verhaltensformen i n ihrer historischen Entwicklung gründet 2 7 ." Zumindest i n Deutschland ist dieser Satz bis zur Stunde nicht eingelöst worden, wenngleich er sich seit langem als Programm i n der Staatslehre findet 28. 22 23 24 25 26 27 28

Glaser (1955), 291. Glaser (1955), 291. Lazarsfeld (1966), 44. Dazu genauer §9. Morgenthau (1963), 48 u n d (1966), 63. Lepsius (1961), 82. Jellinek (1960), 19; Heller (1961), 3.

§ 5 Das Problem der politischen Theorie

41

4. W i r haben Morgenthau und Lepsius etwas ungenau interpretiert. „Politische Ordnungsvorstellungen", „Ordnung und Sinn" implizieren ja Vorstellungen, die über bloße Deskription hinausgehen. Entsprechend greift Gottfried-Karl Kindermann den Ansatz Morgenthaus auf: I m Mittelpunkt der politischen Theorie stehe ein „überwölbendes und integrierendes Erkenntnisinteresse", dessen „Gegenstand das eigentliche Wesen des Politischen (sei), insbesondere der politisch handelnde Mensch i n seiner Rolle als Subjekt und Objekt der P o l i t i k " 2 9 . W i r werden später noch einmal eine präzisere Formulierung Kindermanns aufgreifen und uns an ihr zu orientieren suchen 30 . I m .Grunde genommen referiert Kindermann eine der ältesten Positionen i m europäischen politischen Denken 3 1 , die Hans Maier so zusammenfaßt: Politische Theorie dient schließlich „als verbindende Klammer der einzelnen politischen Spezialdisziplinen, der methodischen Orientierung des gesamten Forschungsbereichs und der philosophischen Durchdringung des Forschungsmaterials, . . . indem sie nach dem Bezug der politischen Ordnung zum Daseinssinn des Menschen fragt und damit die politische Wissenschaft i n einer umfassenden Anthropologie fundiert" 3 2 . W i r wollen i m weiteren Gang unserer Untersuchung gerade diese Position nicht gering einschätzen. Doch versteckt auch hier die Plausibilität potentielle Einseitigkeiten. Dort, wo man den politisch handelnden Menschen allzu rigoros i n den Mittelpunkt der theoretischen Betrachtung stellt, besteht die Gefahr, daß man die politische Theorie aus der Prämisse einer einseitig gewählten philosophischen Anthropologie ableitet, eine Gefahr, der Morgenthau am wenigsten entgangen ist 3 3 . 5. Das Ergebnis ist eine verwirrende Zwischenbilanz. Irgendein Konsens i n der Politikwissenschaft hinsichtlich des Gehaltes der politischen Theorie besteht nicht. Wenngleich man m i t einiger Sicherheit gute Argumente dafür finden kann, bestimmte Perspektiven als i m Widerspruch zur Aufgabe der Politikwissenschaft befindlich auszuklammern — es sei denn, man deklariert diese zu einer abendländischen Geist (ver)hauchenden Bildungswissenschaft 34 —, gibt es andere, die zwar einleuchten und richtungweisend wirken, für deren Notwendig29

Kindermann (1965), 68. Vgl. § 12. 31 Statt vieler Maier (1964). 32 Maier (1964), 270. 33 Gemeint ist die Abhängigkeit Morgenthaus von der Geschichtstheologie Niebuhrs. Vgl. bes. Morgenthaus Buch: Scientific M a n versus Power Politics (1946); zur Darstellung der philosophisch-anthropologischen Grundlagen der sog. realistischen Schule Kindermann (1962) und (1963). 34 Vgl. Sontheimer (1963). 30

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1. K a p i t e l : Politikwissenschaft u n d Theorie-Denken

keit aber die eigentliche Beweisleistung, unerfüllten Versprechen gleichend, nicht getragen w i r d 3 5 . Vernon Van Dyke hat vor wenigen Jahren eine wissenschaftstheoretische Bestandsaufnahme der Politikwissenschaft versucht 36 . Was er dort an Theorievorstellungen zu referieren weiß, gleicht einem bunten Kaleidoskop unterschiedlichster Konzeptionen, die — das sei eingestandenermaßen etwas boshaft formuliert — nur dadurch ihre Zusammengehörigkeit ausweisen können, daß Van Dyke, was sich gewiß nicht gegen den Autor richtet, sie unter sein neuntes Kapitel subsumiert hat 3 7 . W i r brauchen hier keine Einzelheiten nachzuzeichnen, ist doch der Erweis dieses Abschnittes hinreichend deutlich erbracht. Die Politikwissenschaft ist ihres Gegenstandes nicht gewiß, weil sie i h n nicht systematisch zu gewinnen sucht. Sie kann i h n nicht systematisch begründen, w e i l sie sich der epistemologischen Reflexion nicht gestellt hat, die eigentlichem Theorie-Denken voraufzugehen hat. Dies etwa scheinen uns die Gründe der Fehlanzeige zu sein, die an dieser Stelle für die Politikwissenschaft zu melden ist. 2 Theorie und Begriff sind Grundelemente des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs. Daß Wissenschaft nur dann ist, wenn etwas i n Begriffen ausgedrückt und damit auf eine theoretische Ebene gehoben wird, ist unbestritten. Weiter freilich geht die Übereinstimmung nicht mehr; denn was Begriff und Theorie i m einzelnen bedeuten und weiter noch: zu leisten vermögen, ist eine Frage epistemologischer Überlegungen, wie man sie am ehesten von der Philosophie erwarten sollte. Allein, diese Hilfe w i r d nicht gewährt. W i r müssen den für deutsche Ohren geradezu ketzerischen Satz aussprechen, daß die Leistung der die politische Welt erfassenden Wissenschaften ihre eigentliche Hilfestellung mehr vom gesunden Menschenverstand 38 erhält als von einer Philosophie, die primär „der Tradierung und Verlebendigung ihrer eigenen Problemgeschichte dient, mehr den formalen Problemen des Denkens als Logistik oder Symboltheorie und der Interpretation metaphysischer Innenerlebnisse als Ontologie oder Existenzphilosophie zugewendet" 3 9 ist als daß sie sich nach dem ontologischen Bezug ihres 35 Dies u. a. gegen Kindermann (1965); vgl. auch Friedrich (1963), interessant die dort gewählte Einteilung der politischen Theorien i n „ m o r phological", „genetic" and „operational", welche v o r allem den instrumentalen Charakter der politischen Theorie unterstreicht. 36 Van Dyke (1960). 37 Van Dyke (1960), 89 ff. 38 Vgl. außer Rogow (1957), Butler (1959), etwa 19 ff. und Weldon (1962). 39 Schelsky (1959), 17.

§ 5 Das Problem der politischen Theorie

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Fragens umsieht 4 0 . Hier läge die Schwierigkeit darin, einen verlorengegangenen „Erfahrungskontakt 4 1 erkenntniskritisch verbindlich aufzubereiten — eine Aufgabe, die nicht das Geschäft einer sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplin sein kann. Desgleichen w i r d sich die Politikwissenschaft für unzuständig erklären müssen, gegebene erkenntniskritische Systeme auf den Grad ihrer Rationalität h i n durchzurechnen. Sie kann weder den Universalienstreit richten noch die wesentlich schwierigeren Implikationen eines Kampfes Kant contra Hegel. Obwohl dies von einiger Bedeutung für jede politisch-staatstheoretische Erkenntnispotenz wäre 4 2 . Heißt das nun, i m Sinne einer eklektischen Unentschiedenheit hier und dort einen Gedanken rauben? U m die Situation noch einmal zu erinnern: Der Eklektizismus würde vor der Philosophie nicht haltmachen, sondern i n analoger Weise Gedanken aus der Theorie-Diskussion i n der Politikwissenschaft zu rauben haben. 3 Versichern w i r uns nochmals unseres Anliegens! Es besteht darin, eine theoretische Relation zwischen dem Werk Rudolf Smends und der heutigen Politikwissenschaft herzustellen. Soll dabei nicht Unvereinbares verglichen werden, bedarf es des gemeinsamen Hauptnenners, einer Brücke, die von beiden Seiten zu bauen ist. Diese Brücke ist ihrem Inhalt wie ihrem wissenschaftstheoretischen Konstruktionsrahmen nach: die politische Theorie. Der von uns angestrebte Vergleich w i r d sinnlos bleiben, wenn es nicht gelingt, diese allgemeine Form der politischen Theorie zu finden. Nun kann man keine Theorie aus dem Nichts oder aus dem bloßen Wunsch nach i h r definieren. Das Dilemma verstärkt sich durch die unzureichende Hilfe seitens der zeitgenössischen Philosophie und der primären Wissenschaftstheorie u m ihrer selbst willen treibenden Theoretiker i n den Sozialwissenschaften. I n dieser Situation bieten sich zwei methodisch gangbare Wege an. Einmal könnte man die Politikwissenschaft und Smends Werk gleichsam zurückprojizieren auf einen für beide einflußreichen politischen Denker und Theoretiker. Während der Vorteil einer solchen Reproduktion auf der Hand liegt und zunächst eine Frage der Geschicklichket i m historisierenden Rückgriff ist, offenbart sich der Nachteil nicht minder offenkundig, bleibt man doch auf die wirklich gleichen Grö40

Vgl. Heinemann (1959); Dempf und X . 41 Schelsky (1959), 17. 42 Vgl. Binder (1926/27).

(1955), 10 f.; Stegmüller

(1960), Kap. I X

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1. K a p i t e l : Politikwissenschaft und Theorie-Denken

ßen, Problemstände usw. beschränkt. Die vorzunehmende Operation würde auf das gemeinsame Interpretationsgut von Textaussagen eingeengt, wo doch die Freiheit der Reflexion von der Sache her — eben der politischen Wirklichkeit (wie unspezifiert diese Vokabel hier auch vorerst hinzunehmen ist) — gewährleistet sein müßte. Der zweite, ungleich schwierigere Weg, soll hier beschritten werden. W i r fragen nach Stufungen eines theoretischen Bewußtseins i n der Politikwissenschaft bzw. ihrer wichtigsten Nachbardisziplin, der Soziologie 4 3 . Dabei möge der Ausdruck „Stufungen" nicht irreführen. Gesucht w i r d keine hierarchische Rangordnung zu entwickelnder TheorieStufen, sondern es w i r d abgehoben auf unterscheidbare Modi des Selbstverständnisses von Politikwissenschaft/Soziologie m i t darauf basierendem theoretischem Anspruch. Ein solcher Weg enthebt uns der Pflicht, voreilig für einen gegebenen Ansatz i m politikwissenschaftlichen Theorie-Denken zu optieren. Er bietet außerdem den Vorteil, nicht überall ängstlich zwischen einem inhaltlichen (politischen) und einem epistemologischen Moment trennen zu müssen. Auch bleiben w i r vorerst weitgehend davon entbunden, Kriterien der Relevanz für Theorie i n allgemeinen Epistemologien zu suchen. Eingestandenermaßen w i r d keine der Theorien befriedigen. Doch i n jeder der Theorie-Stufen glauben w i r Probleme aufgegriffen und Lösungsvorschläge vorgeführt zu sehen, die i n die Diskussion gehören, wobei man angesichts des noch unreifen Diskussionsstandes über politische Theorie ihr Verhältnis nicht exklusiv, sondern komplementär begreifen sollte 4 4 . W i r wissen, daß w i r m i t diesem Vorgehen und seiner Konsequenz i n dem Kapitel über den Begriff des Politischen Weichen stellen, die zu mehr kritischen Fragen als zu befriedigenden Antworten führen werden. Allein, auch Problemstände, i n ihrer wechselseitigen Bedingung aufgereiht, haben ihren Ort i m Gang der wissenschaftlichen Entwicklung. W i r d somit die Notwendigkeit der Gesichtspunkte begründet, die beim Bau der künftigen politischen Theorie Bedachtnahme verdienen, ist das Ergebnis schon positiv zu nennen. U m es zu wiederholen: Die i m folgenden entwickelte Einteilung ist nicht auf dem natürlichen Baum einer a priori festgelegten Erkenntnis 43 Die Soziologie w i r d hier nicht wegen ihrer häufigen thematischen Übereinstimmung m i t der Politikwissenschaft erwähnt, sondern wegen des gleichen epistemologischen Ansatzes, der nach der S t r u k t u r v o n sozialer Wirklichkeit u n d deren — hier scheiden sich i n beiden Lagern die Geister an der gleichen Stelle — manipulierbaren Veränderung i m Lichte von Normen fragt. 44 Vgl. die ähnliche H a l t u n g bei Rogow (1957), 764 f.

§ 5 Das Problem der politischen Theorie

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gewachsen. Sie ist nach Überlegungen der Nützlichkeit und i n der Weise konzipiert, daß auf eine möglichst eindeutige Weise der Gesamtbereich des politikwissenschaftlichen Selbstbewußtseins von Theorie erfaßt werden kann (was ausdrücklich nicht ein besseres und ein weniger oder mehr abgestuftes Einteilungsprinzip ausschließen soll!). Schematisch und idealtypisch lassen sich i n der heutigen Politikwissenschaft die vier folgenden Auffassungen von Theorie unterscheiden: 1. Die (uneigentliche) Abstraktionstheorie 2. Die transzendentallogische Theorie 3. Die heuristisch-systematische Theorie 4. Die normative Ordnungstheorie und die ordnungspolitische Theorie. (Wohlgemerkt, es handelt sich dabei u m i m Selbstverständnis von Politikwissenschaft bzw. Soziologie gründende Bewußtseinsebenen von Theorie. Eine Einteilung nach inhaltlichen Problemständen würde „konkrete" Themengruppen vorziehen — wie ζ. B. Staatstheorie, Systemtheorie, Entscheidungstheorie, Spieltheorie, Makro-Verhaltenstheorie u. a. mehr 4 5 .)

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Vgl. Literaturangaben zu Deutsch, Rapoport,

Netti u. a.

Zweites Kapitel V i e r Bewußtseinsstufen von Theorie i n der gegenwärtigen politik-sozialwissenschaftlichen Diskussion § 6 D i e (uneigentliche) Abstraktionstheorie

Das Trennende zwischen doxa und theoria läßt sich unter anderem als der Graben zwischen Meinen und Wissenschaftlichkeit fassen. Modern gesprochen würde etwa der gehobene Journalismus i n der Mitte stehen. Der Übergang von diesem (politischen) Journalismus zur (politischen) wissenschaftlichen Aussage ist geknüpft an die Einhaltung von Spielregeln, denen w i r das Sammelprädikat „theoretisch" oder — und das Bewußtsein von der Üblichkeit dieses Oder ist hier entscheidend — „begrifflich" zusprechen. Das damit Gemeinte betrifft nicht weniger als zwei Drittel der sozialwissenschaftlichen Arbeit i n Forschung und Lehre. 1

I m Jahre 1959 erschien i n den USA ein schon an äußerem Umfang gewichtiges Buch m i t dem anspruchsvollen Titel: „Political Theory, The Foundations of Twentieth-Century Political Thought" 1 , welches inzwischen i n revidierter und ergänzter Fassung auch i n deutscher Sprache erschienen ist 2 . Der deutsche Klappentext verweist auf Rezensenten, die Arnold Brechts „Politische Theorie" an Bedeutung dem Werke des Thomas Hobbes gleichsetzen. Der aufmerksame Leser w i r d vieles lernen; nur, was denn eine politische Theorie sein soll, bleibt unausgeschöpft. Zwar verweist Brecht auf literarische Gattungen wie: Staatstheorie und Allgemeine Staatslehre 3 , aber der Hinweis auf die literarische Spezies w i r d von einer A r t historischen Zufalls diktiert, welche aus sich noch keine Erklärung i m Range einer Definition (d. h. Abgrenzung von ähnlichen Versuchen, i m Namen der Wissenschaft von Theorie zu sprechen) bedeutet. Denn 1 2 3

Brecht (1959). Brecht (1961). Brecht (1961), 1.

§ 6 Die (uneigentliche) Abstraktionstheorie

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immer geht i n den Wissenschaften, anders als i n den Künsten, die Intention der Aussage der zu wählenden Form voraus, w i l l man nicht ohne Not Traditionen pflegen, für deren Existenz man die ausdrückliche Zwecksetzung vermißt 4 . Wenn Theorie, und natürlich auch politische Theorie, so etwas beinhaltet wie eine geordnete und kontrollierbare größere Akkumulation von Sachwissen irgendwelcher A r t einschließlich der Weisen des Erwerbs und eines Schlüssels für ergänzende Korrekturen, Weiterentwicklungen und Verbesserungen (was i m nächsten Abschnitt genauer vorgeführt werden soll) — und w i r müssen annehmen, daß auch Brecht an so etwas denkt, w e i l er sich auf Staatstheorie und Staatslehre beruft — dann w i r d der Augenblick immer die Gefahr ihrer Destruktion m i t sich bringen, wenn sich der Akzent von Sachwissen (qua materialer Aussage) und seiner Ordnung einseitig auf deren Kontrollierbarkeit wendet. Diese Akzentverschiebung ist, anders und genauer ausgedrückt, der die erste Hälfte unseres Jahrhunderts auszeichnende Anspruch der Methode, dessen Genesis der Wille zur Ebenbürtigkeit m i t der kontrollierbaren Sprache der Naturwissenschaften ist. Wäre Brecht konsequent, müßte er die auch von ihm bedauerte Auflösung der Theorie aus der von i h m sorgfältig analysierten Methodenk r i t i k folgern. Da er aber i n der bewußten Reflexion keinen materialen Theorie-Begriff mehr als den einer bloßen Formal-Kategorie zu erkennen vermag — Theorien sind „Sätze", welche „ i n allgemeiner und abstrakter Form" Phänomene erklären 5 — sieht er den einzig möglichen Ansatz einer Neubegründung des theoretisch-politischen Denkens i n einer umfassenden Diskussion des Wissenschaftscharakters politischer Erkenntnis. Damit haben w i r auch das Anliegen Brechts genannt: i m pro und contra des wissenschaftlichen Schrifttums des 20. Jahrhunderts über die politischen Zentralfragen einen unabdingbaren Maßstab der Wissenschaftlichkeit zu setzen. Ausgangspunkt seiner Reflexion ist die logische K l u f t zwischen Sein und Sollen, die aber für die Politik nicht absolut bleibt: „Nicht Logik zwar, doch Fakten verknüpfen Sollen und Sein 6 ." Wahrheit und Gerechtigkeit sind Leitideen, die als regulative Forderungen aller menschlichen Existenz mitgegeben sind 7 . Die Einsicht i n die ,faktisch-anthro4 Van Dyke (1960), V I I I , geißelt diese A r t der i n t u i t i v e n Zweckbestimmtheit i n den Sozialwissenschaften v ö l l i g zu recht. 5 Brecht (1961), 15; vgl. auch 603 f. 6 Brecht (1961), 441. 7 Brecht (1961), 442; m a n sieht sogleich, daß hier der Kantische Begriff einer praktischen Vernunft gemeint ist, auf den sich auch Brecht ausdrücklich beruft.

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2. Kapitel: Vier Bewußtseinsstufen von Theorie

pologische' Grundsituation des Menschen 8 bestimmt die A r t der politikwissenschaftlichen Rationalität. Wo Politikwissenschaft praktisch wird, d. h. zu zählenden Ergebnissen für die Politik selbst gelangt, w i r d sie ihre Sätze hypothetisch formulieren 9 , wobei die Glieder der Hypothese in einem streng logico-empirischen Verfahren, das er „Wissenschaftliche Methode" 10 nennt, gewonnen werden. Der Gedanke der „Wissenschaftlichen Methode" steht bei weitem i m Mittelpunkt des Brechtschen Buches. Das m i t ihrer Hilfe gewonnene Wissen ist an jeder Stelle logisch überwacht und empirisch belegbar, es ist „intersubjektiv transmissibel". Der politischen Theorie kommt die Funktion zu, Sätze politischen Inhalts m i t wissenschaftlichem Anspruch durch das Filter der „Wissenschaftlichen Methode" passieren zu lassen. Theorie ist sonach eine dem Erkenntnisprozeß zugewandte Stufe der Verifizierbarkeit. 2

W i r haben Brecht als Beispiel gewählt, um eine für das politikwissenschaftliche Denken typische Bewußtseinsstufe von Theorie zu verdeutlichen. Während eine nicht geringe Zahl von Autoren Theorie als einen größeren Zusammenhang für etwas n i m m t 1 1 , fällt bei Brecht sofort die restriktive Verwendung auf. „Den Begriff ,Theorie' habe ich hier ausschließlich für Sätze benutzt, die etwas zu erklären versuchen 12 ." Hierbei enthüllt sich die Bedeutung von „erklären" am schnellsten i n einer Vergegenwärtigung des wissenschaftlichen Programms Brechts: Der Weg der Wissenschaft „leitet uns zurück zu immer größeren Bemühungen u m die Verfeinerung unserer Beobachtung von Tatsachen und ihren Zusammenhängen und um die Klärung der Konsequenzen, die die Haltungen und Handlungen für sie selbst und für andere auf kurze und auf lange Sicht haben" 1 3 . Die politische Theorie ist identisch m i t den mittels der „Wissenschaftlichen Methode" akzeptierten Weisen politischen Denkens 14 . Dieses Denken ist insofern explikativ, als die es vollziehenden Sätze den „ S i n n " 1 5 ihrer Aussagen einordnen i n den kontextuellen Zusammenhang der wissen8 „ W i r haben es m i t einer Frage der allgemeinen faktischen A n t h r o pologie zu tun." (Brecht 1961), 501. 9 Brecht (1961), 492. 10 Brecht (1961), 3 1 1 ; ausgeführt 36—138. 11 Vgl. Rapoport (1967); Deutsch (1966). 13 Brecht (1961), 579; vgl. auch 22. 13 Brecht (1959), 579; vgl. auch 22. 14 Vgl. Brecht (1961), 591. 15 „Sinn" ist hier nicht hermeneutisch gemeint; dazu Brecht (1961), 63, insbes. auch Anm. 1.

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§ 6 Die (uneigentliche) Abstraktionstheorie

schaftlichen politischen Reflexion 16 , welche unbeschadet der dahinterstehenden problematischen ontologischen Qualität 1 7 kausal Konjunktionen verbindet und/oder aus gegebenen Konstellationen Voraussagen ableitet und/oder Ereignisfolgen instrumental bewertet 1 8 . Von besonderer Bedeutung sind innerhalb des Schemas der „Wissenschaftlichen Methode" die logischen Schritte der Induktion und der Deduktion. „Es ist ein wichtiger Schritt der Wissenschaftlichen Methode, daß wir, nachdem w i r versuchsweise eine Generalisierung beobachteter Tatsachen vorzunehmen gewagt haben, deutlich zum Ausdruck bringen, was logisch 19 i n dieser generalisierten Behauptung implicite enthalten ist, weil das uns ermöglicht, die Richtigkeit der Generalisierung zu kontrollieren, indem w i r einzelne Beispiele, auf die sie anwendbar sind, nachprüfen 20 ." Aus der eben geschilderten Wissenschaftskonzeption ist kaum zu entnehmen, w o r i n sich Theorie von einer allgemeinen, methodenkritisch bewerteten Entwicklungsstufe für Wissenschaft unterscheidet. Theorie ist ein Sammelprädikat für i n einem angebbaren und komplizierten Verfahren gewonnene Sätze. Wobei zu beachten bleibt, daß die generalisierende Induktion die epistemologische Basis bleibt, auf der so etwas wie wissenschaftliche Erstinformation möglich ist 2 1 . Einen analogen Tatbestand meint auch Schelsky, wenn er anläßlich der innersoziologischen Diskussion u m Empirie und Theorie feststellt, „daß das ,induktive' Denken von einer niemals näher bestimmten Grenze 22 der steigenden Abstraktion ab von der wissenschaftlichen Meinung als theoretisch' bezeichnet w i r d " 2 3 . Denkt man diesen Satz einmal zu Ende, dann w i r d es schwierig, zwischen Theorie und Begriff unterscheiden zu können, sind doch auch Begriffe Aussagen mit eigenem Stellenwert i m Verfahren der unvermeidbaren Abstraktion des wissenschaftlichen Arbeitens. U m es ein wenig paradox zu formulieren: Begriff ist dann das i n theoretischer (das w i l l hier sagen: abstrakter!) Sprache Ausgedrückte und Theorie das begrifflich Erfaßte. 10 17

87 ff.

Vgl. Brecht (1961), 77 f., 86. Z u Brechts Auseinandersetzung m i t Hume

18

u n d Kant:

Brecht

(1961),

Dazu bes. Brecht (1961), 85 ff. „logisch" ist hier zu verstehen i m Sinne des oben angedeuteten E r klärungsschemas. 20 Brecht (1961), 108. 21 Vgl. Brecht (1961), 109. 22 Die „niemals näher bestimmte Grenze" gilt für Brecht insofern nicht, als er i m Rahmen der „Wissenschaftlichen Methode" ja nicht bei der I n duktion stehen bleibt. 23 Schelsky (1959), 79. 191

4 Mols

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2. K a p i t e l : Vier Bewußtseinsstufen von Theorie

Gewiß, das alles gilt nicht mehr für Brecht, bei dem die Induktion ja nur ein operationaler Schritt i n einer Verfahrenskette ist, die sozusagen das gesamte neopositivistische Methodenbewußtsein des 20. Jahrhunderts auswertet. Aber es möge zum Zwecke der Theorie-Kritik für erlaubt erachtet werden, sich die Umsetzung der „Wissenschaftlichen Methode" Brechts i n die Praxis (des Bücherschreibens, Diskutierens, Lehrens usw.) des modernen neopositivistischen Wissenschaftsverständnisses vorzustellen. Brecht weiß genügend von der Funktion einer praktischen Vernunft i m Sinne Kants 2 4 , also um die regulativen Prinzipien der Gerechtigkeit, Wahrheit usw. Wo jedoch nur noch die „Wissenschaftliche Methode" Richtschnur des wissenschaftlichen Selbstverständnisses ist, maßt sich der Zufall an, Regisseur der Wissenschaft zu sein. Denn der „Sinn", der sich i m Kontext wissenschaftlicher Sätze ergibt, hebt an m i t jeweils ausgewerteten „Tatsachen", und Präferenzen für deren Auswahl lassen sich m i t den Kriterien der „Wissenschaftlichen Methode" nicht mehr bestimmen. Bleibt man vollends bei der Induktion stehen, wie Schelsky es vermutet, dann verschenkt man sogar die Chance einer explikativen Sinngebung, die für Brechts Theorie-Denken maßgeblich ist. W i r sind dann nicht mehr sehr weit von dem entfernt, was Dieter Oberndörfer „deskriptiv-analytische Wissenschaft von der Politik" genannt h a t 2 5 . 3 Warum haben w i r hier eine „Theorie" untersucht, die keine ist? Weil w i r es, einmal, m i t einer weitverbreiteten Auffassung zu t u n haben, nach der Methodenbeachtung schon zu Theorie führt, und zweitens, weil w i r der früher erklärten Absicht nach 2 6 Theorie nicht aus metatheoretischen Obligaten und Postulaten ableiten wollen, sondern aus definierbaren Ebenen eines i n der Politikwissenschaft selbst faßbaren Theorie-Verständnisses. Aus solchem Verständnis steht natürlich Brecht gleichsam erst an der Pforte eines gelobten Landes, was w i r durch den Ausdruck „(uneigentliche) Abstraktionstheorie" anzuzeigen suchen. Immerhin ist auch für unser Verständnis Theorie nur möglich unter vollster Berücksichtigung der beiden wichtigsten Komponenten der „Wissenschaftlichen Methode"; i m permanenten Ausweis an der Empirie und unter gewissenhafter Beachtung logischer Deutlichkeit. Politikwissenschaft w i r d sich immer auf i h r voraufliegende Erkenntnisund Wissenschaftstheorie stützen, auf das, was i h r die Philosophie ver24 25 26

Vgl. Forkosch (1954). Oberndörfer (1962), 12 ff. Vgl. § 5.

§ 7 Die transzendentallogische Theorie

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mittelt oder zu dem philosophisches Denken anregt. Der Hinweis auf Brecht soll daher nicht als ein Präjudiz für eine bestimmte Konzeption von Empirie und Logik verstanden werden. Jede begründete und intersubjektiv transmissible Entscheidung, die diese beiden Momente berücksichtigt, würde heute sorgfältige Aufmerksamkeit verdienen, bleibt doch die gegenwärtige politik-/sozialwissenschaftliche Theorie bei exponierten Vertretern von den beiden prinzipiellen Forderungen der „Wissenschaftlichen Methode" entfernt. Wo die Logik i n eine geschichtsphilosophische transzendente Rationalität einmündet (wie bei Voegelin), oder wo die soziale Lebenswelt zugunsten rein formaler Schlüsse bestenfalls Baukastenbeispiele abgibt (wie i n der Wissenschaftslogik) — und es gibt noch mehr als eine der bekannten Positionen, die diesen Polen der Irrationalität und der Irrelevanz zugeordnet werden könnten — überschreitet Wissenschaft entweder ihre (in der Moderne!) selbstgesetzte Grenze der Kommunizierbarkeit, oder sie vergißt, daß der logische K a l k ü l und die soziale Erfahrung zweierlei Ding sind. Vielleicht versuchen w i r noch deutlicher anzuzeigen, w a r u m Brecht kein Theoretiker ist. Weil für uns — dies als Programm verstanden — Theorie eine begrifflich repräsentierte phänomenale Einheit ist, ein System interpretierend, das dem wissenschaftlichen Erkennen a priori ist. (Womit freilich keiner naiven Abbild-Ontologie das Wort geredet werden soll!) Dabei bleibt Theorie immer die (im weitesten Sinne: methodische) Leistung der Wissenschaft, einer Wissenschaft allerdings, die i h r Objekt, die Politik und ihre motivierenden und/oder institutionellen und/oder funktionellen Manifestationen, als Momente der Auslösung und des Widerstandes einschließt. Nicht das neuzeitliche M i t teilungsproblem 2 7 soll für die politische Theorie i m Vordergrund stehen, sondern die Politik, aber diese darf umgekehrt nicht durch Deutungen erschlossen werden, die jener Grundforderung des Wiener Kreises zugunsten einer wie immer gewählten historisch relativen Metaphysik Hohn spricht. Einzelheiten gehören i n die folgenden Abschnitte. § 7 D i e transzendentallogische Theorie

Der Ausdruck erinnert an die Kantische Erkenntniskritik. „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl m i t Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt 1 ." Diese Begriffsfixie27

Vgl. Stegmüller (1960), 359. K R V Β 25; vgl. auch Prolegomena (1957), 144 Fußnote: „transcendental . . . bedeutet nicht etwas, das über alle Erfahrung hinausgeht, sondern 1

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2. Kapitel: Vier Bewußtseinsstufen von Theorie

rung durch Kant ist maßgeblich für das von uns als transzendentallogisch Bezeichnete. Es geht u m das kategoriale Erkennen, welches die methodologisch kontrollierte Objektivation als die i h m eigene Funktion versteht. Wilhelm Szilasi hat den Ansatz der kritischen Philosophie präzisiert, indem er das konstitutive Komplementärverhältnis zwischen subjektiver Transzendenz und dem auf diese Weise gewonnenen transzendentalen Objekt betont. „Transzendentale Subjektivität und transzendentale Objektivität s i n d . . . nicht Gegensätze, sondern aufeinander gegenseitig bezogene Momente der subjektiven Transzendenz . . . Weil die Forschung auf die Transzendenz des Verstehens gerichtet war und w e i l Verstehen i m allgemeinsten Sinn Logos bedeutet, betrachtet sich die klassische philosophische Forschung als transzendentale Logik 2 ." Welche Beziehung hat die so bezeichnete philosophische Position zu den Sozialwissenschaften? 1

Die (uneigentliche) Abstraktionstheorie nimmt den Vorteil wahr, i n einem offenen Universum der empirischen Welt zu arbeiten. Sie kann sich m i t beliebigen „Daten" befassen. Ihre Grenzen sind ihr durch logische Induktion, Deduktion als Kontrolle 3 und die Erklärungsweisen der „Wissenschaftlichen Methode u gesetzt. Dabei stehen — und ihre besten Vertreter, wie Brecht, geben davon ein schönes Zeugnis ab — Logik und Empirie i n einem ausgewogenen Verhältnis. Die transzendentallogische Theorie konzentriert sich auf „Definitionen" 4 durch Erkenntniskategorien. Sie geht nicht mehr m i t einem wachen methodologischen Bewußtsein an die Empirie, sondern sucht einen begrenzten (nämlich den transzendentallogisch erfaßbaren!) Bereich der Empirie durch ein Netz prädefinierter Kategorien, Verfahrensweisen, kurz: m i t einem der Empirie vorausgehenden methodischen Vorentscheid über Konzeptuelles zu erfassen 5. Damit ändert sich zugleich die Auffassung von Wissenschaftswürdigkeit, die Perspektive der Betrachtung, die intendierte Forschungs- und Erkenntnisrichtung. Das „legitime" Interesse wendet sich dem methodologisch Erfaßbaren zu, das Uberhaupt-Erfaßbare, der eben bezeichnete Horizont eines umgreifenden Universums der sozialen Daseinserfahrung, verengt sich auf das, was i m Erkenntnisprozeß bewältigt werden soll oder kann. was vor i h r (a priori) zwar vorhergeht, aber doch zu nichts Mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen." 2 Szilasi (1945), 16. 3 Vgl. auch Brecht (1961), 108 ff. 4 Z u m Definitionsproblem Stenzel (1925). 5 Vgl. Reiniger (1923), 46.

§ 7 Die transzendentallogische Theorie

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Und das ist ein materialer, fixierter, letztlich limitierter Bereich, ein genau angebbarer Sektor von Wirklichkeit. Der letzte Satz hat in unserer Entwicklung der transzendentallogischen Theorie, die auch mit den beiden gleich zu nennenden Positionen noch nicht abgeschlossen ist, spezifischen Stellenwert: ein genau eingegrenzter Wirklichkeitssektor kann bedeuten a) zulässige Erfahrungsgehalte i m theoretischen Verfahren (wir werden als Beispiel die Wissenschaftslogik diskutieren), b) zulässige Erkenntnisgehalte i n einem theoretischen Zusammenhang (wie er etwa von Parsons vorgeführt wird). Eigentliche Theorie ist nur die zuletzt genannte Position. Der Einbau der sprachanalytisch operierenden Wissenschaftslogik rechtfertigt sich aus ihrem paradigmatischen Rang i m Rahmen einer i m methodologischen Apriori verfahrenden Theorie-Stufe sowie aus ihrer Bedeutung für die gegenwärtige TheorieDiskussion. Doch zuvor gilt es, die transzendentallogische Theorie weiter vorzustellen. Wo i m folgenden von „zusammenhängender Erkenntnis" gesprochen wird, denken w i r an theoretische Systeme einer der zweiten Position entsprechenden kategorialen Struktur (!). 2

Der Satz „Es liegt i m Wesen aller Erkenntnis, nicht auf sich selbst, sondern auf ihren Gegenstand gerichtet zu sein" 6 , klingt nur für denjenigen banal, der den intentionalen A k t der Wendung vom transzendentalen Subjekt zum transzendentalen Objekt zugunsten eines naiven Realismus der vorgegeben affizierenden Welt übersieht. Was hier als ein gleichsam erkenntnistheoretisches Akzidens erscheint, ist i n Wahrheit der Kern des Erkennens. Nicolai Hartmann hat die i m Begreifen vorwaltende Zuordnung von Erkenntnis- und Seinskategorien so beschrieben: Erkenntniskategorien sind zwar die ersten Bedingungen unserer E r k e n n t nis — u n d zwar speziell des apriorischen Elementes i n ihr, das j a auch i m naiven Welterfassen nirgends fehlt —, aber sie sind nicht das erste Erkannte i n ihr. Sie sind zwar nicht unerkennbar, w o h l aber n u r m i t t e l bar erkennbar, nämlich vermittelt durch die einfache Erkenntnis der Gegenstände, die auf ihrer F u n k t i o n beruht 7 .

Ohne damit ein Placet für den späteren Universalienrealismus Hartmanns auszusprechen, ist hier die Crux aller transzendentallogischen Erkenntnistheorie angesprochen. Es geht nicht ohne Erkenntniskategorien. Und zugleich sind diese ausgelöst durch den eindeutigen Bezug auf ein ontologisches Apriori. 6 Hartmann (1949), 15. Vgl. zu den obigen Ausführungen bes. die K a pitel I I , I I I u n d X I I I . Dieser Hinweis impliziert nicht die vorbehaltlose Bejahung der ontologischen Schichtentheorie Hartmanns·. 7 Hartmann (1949), 16.

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2. K a p i t e l : V i e r Bewußtseinsstufen von Theorie

W i r werden i m weiteren Verlauf dieser Arbeit den relativen Primat der Seinskategorien zu begründen suchen. Die Schwäche und Eigenart der transzendentallogischen Theorie besteht darin, aus einem vergleichsweise willkürlich gewählten ontologischen Apriori Erkenntniskategorien abzuleiten, die universell verwendbar sein sollen, jedenfalls über das ursprünglich gewählte anschauliche Substrat hinausgehen. Damit aber w i r d der Sinn der transzendentalen Subjektivität, wie w i r sie m i t den Zitaten von Wilhelm Szilasi und Nicolai Hartmann vorstellten, unzulässig umgebogen. Auch K a n t etwa fragte de facto nicht nach einer oder der schlechthinigen Erkenntnisart über die Beschaffenheit der Welt. Vielmehr ist der transzendentalen Hauptfrage erster und zweiter Teil gerichtet auf die konkreten Strukturen der Mathematik und der Naturwissenschaft (die für Kant i n diesen Zusammenhängen i m wesentlichen Physik ist 8 ), u m dann allerdings i n ihrem kategorialen Ergebnis eine generelle erkenntniskritische Valenz zu erhalten. E i n späteres Beispiel wäre Kelsens Identifizierung von (wissenschaftlich erfaßbarem) Staat und Recht 9 . Allgemeiner gesagt: Es gibt einen (rationalen?) Vorentscheid über Wissenschaftswürdigkeit, und das technisierte wissenschaftliche Verfahren ist eine Funktion dieser Voraussetzung. Das wäre zulässig und bliebe korrekt, bildete der Maßstab von Wissenschaft sich nicht an einseitigen (hier jedenfalls: trans-sozialwissenschaftlichen) Idealen: einem deduktive Verfahren bevorzugenden Scientismus. Wobei man i n der Umkehrung des Ranges von Induktion und Deduktion einen ganz entscheidenden Unterschied zum Vorgehen Brechts erkennen kann 1 0 . Setzt man sich damit aber nicht verhältnismäßig naiv über das traditionell bewährte Argument der Gegenstandsadäquanz hinweg 1 1 ? Norman Jacobson sagt nicht zu Unrecht: „Normally the sophisticated student of politics resists the imposition of institutions appropriate to one culture upon another culture where there appears little regard for the specific qualities of the second culture. Yet he does not hesitate to impose scientific institutions (methods and procedures) developed i n one ,culture 1 , say physics, upon an entirely different »culture 4, political theory 1 2 ." 3

Die transzendentallogische Theorie ist das neuzeitliche Wissenschaftsideal schlechthin. Der offene Blick für das Seiende i n seiner ganzen 8

Kant (1957). Kelsen (1922), (1925), (1960). 10 Vgl. Brecht (1961), 68. 11 Vgl. Aristoteles Eth. Nie. 1094 b. 12 Jacobson (1958), 115. 9

§ 7 Die transzendentallogische Theorie

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Fülle und die Bereitschaft, sich seiner durch vernünftige Erwägungen (phronesis) zu vergewissern, muß i n diesem Moment skeptischem Zweifel weichen, i n dem der Glaube an die (letztlich religiös begründete) Überzeugung von der ontologischen Harmonie der Welt schwindet. Hinfort gilt der Satz des Descartes: „ M a n sollte sich nur den Gegenständen zuwenden, zu deren klarer und unzweifelhafter Erkenntnis unser Geist zuzureichen scheint 13 ." Der Erkenntnisprozeß w i r d einfachen und einsichtigen Grundsätzen unterworfen, und die Gewißheit einer Erkenntnis hängt von der Sicherheit der sie erzeugenden Regeln ab. Der Gewinn des neuen Wissenschaftsverständnisses ist ebenso unzweifelhaft wie sein Nachteil. Größtmögliche Kommunizierbarkeit w i r d m i t dem Preis des Verzichtes auf solche Erfahrungsgehalte bezahlt, m i t denen die Methode nichts mehr anzufangen weiß. Daher der hohe Rang jener Wissenschaften, die es vorziehen, an Stelle einer komplizierten „Außen"-Erfahrung ihre Inhalte selbst zu bestimmen. Descartes liefert auch die Ausführungsbestimmungen 14 . Man beginne mit einfachen und selbst-evidenten Grundsätzen (Axiomen), zerlege den Untersuchungsgegenstand analytisch i n überschaubare Teile und ordne diese dann deduktiv nach den zuerst gefundenen Grundsätzen. „Die ganze Methode besteht i n der Ordnung und Disposition dessen, worauf sich der Blick des Geistes richten muß, damit w i r eine bestimmte Wahrheit entdecken. W i r werden sie exakt dann befolgen, wenn w i r die verwickelten und dunklen Sätze stufenweise auf die einfacheren zurückführen und sodann versuchen, von der Intuition der allereinfachsten aus uns auf denselben Stufen zu der Erkenntnis aller übrigen zu erheben 15 ." Selbstverständlich gilt dieses Kapitel nicht der entgegnenden Auseinandersetzung m i t dem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis, das uns ja, wie schon bei der Diskussion von Brecht durchklang, gar nicht unsympathisch erscheint. Es gilt, sich seiner prinzipiellen Schwierigkeiten für die Übernahme i n den Sozialwissenschaften, seiner Gefahren eines latenten, i m Exklusivitätsanspruch fundierten Irrationalismus, seiner Grenzen, aber auch seiner Fruchtbarkeit und für das Theorie-Denken wichtigen Impulse zu versichern. So gewiß einige i n i h m gewachsene Positionen überwunden werden müssen, sollen die Sozialwissenschaften Fortschritt zeitigen, so gewiß kann die vorsichtige A n deutung einer „Gegen"-Position immer nur eine partielle Korrektur i m Lichte sozialwissenschaftlicher Bedürfnisse sein. Darum geht es. 13

Descartes (1955), Regel I I ; vgl. auch Descartes

14

Vgl. bes. Descartes (1952), 15.

15

Regel V.

(1952).

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2. Kapitel: Vier Bewußtseinsstufen von Theorie

§ 8 Die Wissenschaftslogik 1 Die für die Sozialwissenschaften vornehmlich durch K a r l R. Popper und Hans Albert vertretene Wissenschaftslogik ist Reflexion über sozialwissenschaftliches Denken, Erkenntniskritik und Methode in einem. Sie betont besonders den Zusammenhang von Logik und Empirie, so daß nach unserer Darstellung der (uneigentlichen) Abstraktionstheorie zu erwarten wäre, hier werde das Anliegen der „Wissenschaftlichen Methode" verfeinert vorgetragen. De facto kann man sich aber kaum eine radikalere Trennung von Denken und Erfahrung vorstellen. Das soll i m folgenden näher begründet werden. 1

Philosophiegeschichtlich steht die Wissenschaftslogik auf dem i m Neopositivismus von Mach und Avenarius wurzelnden Empirismus des sog. Wiener Kreises, der sich vornehmlich um Moritz Schlick und Rudolf Carnap gruppierte 2 . Man stellte das Mitteilungsproblem entschlossen i n den Vordergrund des epistemologischen Bemühens, indem man gleichzeitig jeder „spekulativen" Metaphysik eine scharfe Absage erteilte. Popper und Albert 3 lösen das Kommunikationsproblem, indem sie strikt zwischen Entstehungs- und Begründungszusammenhang der wissenschaftlichen Aussage unterscheiden. Beides zu vermengen sei die typische Praxis der Geisteswissenschaften, weil diese den Erwartungshorizont ihrer Erfahrungen (der sich ja teilweise m i t der vorwissenschaftlichen Daseinserfahrung deckt) i n die theoretische Aussage hineinnähmen. Für Popper bleibt nur der allseitig kontrollierbare Begründungszusammenhang relevant, der als ein i n sich stimmiges semantisches System begriffen wird. Der Gang der Überlegung ist etwa folgender: W i r stoßen auf der Erklärung bedürftige Sachverhalte, auf Erscheinungen, die uns zum Problem werden. Die Wissenschaft sucht ein solches Problem durch Theorien zu erklären, welche formal aus „nomologischen Hypothesen" bestehen, und deren Richtigkeit dann logisch und empirisch kritisiert werden soll. Bezeichnet man 1 Vgl. die Diskussion auf der Arbeitstagung der deutschen Gesellschaft für Soziologie (Tübingen, Okt. 1961): Popper (1962); Adorno (1962); Dahrendorf (1962); die Kontroverse w i r d fortgeführt bzw. steht m i t folgenden Aufsätzen i n Zusammenhang: Albert (1958), (1960 a), (1960 b), (1962), (1964 a), (1964 b); Popper (1964 a), (1964 b); Topitsch (1966); Habermas (1963 a); (1963 b), (1964), (1967); vgl. auch Lieber (1957); Fijalkowski (1961) und (1967); Lazarsfeld (1966); Stegmüller (1960). 2

Stegmüller

3

Albert

(1960), 351 11; Stegmüller

(1963); Delius

(1963); Albert

ist i n diesem Zusammenhang vor allem Interpret Poppers.

(1962).

§ 8 Die Wissenschaftslogik

57

das zu erklärende Phänomen als Explikandum und die zur Erklärung dienenden Aussagen als Explikans, dann müssen gemäß der Forderung nach intersubjektiv einsichtiger Einheit des Begründungszusammenhanges Explikandum und Explikans semantisch kommensurabel sein. Um dies zu erreichen, schlägt Popper als Form für eine wissenschaftliche Hypothese die Deduktion vor, i n welcher singuläre Anfangsbedingungen (Prämissen) auf ihre logischen Konsequenzen hinsichtlich allgemeiner Gesetze (Explikans) befragt werden, so daß das Explikandum als Konklusion erscheint. Die deduktiv-hypothetischen Sätze der Erklärung werden nomologisch genannt, w e i l eine Erklärung allgemein zu sein hat, d. h. „eine essentielle Einschränkung auf ein bestimmtes Raum-Zeit-Gebiet ausschließt" 4 . Da die Politikwissenschaft eine Erfahrungswissenschaft par excellence ist, w i r d sie sofort nach den Relationsebenen von Erfahrung und Wissenschaftslogik fragen. Man w i r d etwa vier Gesichtspunkte anführen können. 1. Ihren offenkundigsten Erfahrungsbezug haben nomologische H y pothesen durch ihre Prämissen. Das bedarf keiner weiteren Erläuterung. 2. Sodann zählt der Erfahrungsgehalt der verwendeten semantischen Zeichen, denn schon das Problem der Anfangsbedingungen verbietet es, die erklärenden Sätze i n einen rein formalen K a l k ü l zu übertragen 5 . 3. Drittens trägt der Informationsgehalt des Explikandums. Da dies das besondere Kennzeichen der Wissenschaftslogik ist, lohnt es sich, etwas näher darauf einzugehen. Jedes induktive Verfahren würde nach dem Prinzip der Hypothesenwahrscheinlichkeit eine hinreichende Bestätigung durch konforme Fälle suchen. Die deduzierte Konklusion der Wissenschaftslogik ist jedoch durch einfache Verifikation nicht zu bestätigen; denn noch so viele hypothesenkonforme Fälle können nicht ausschließen, daß i n der Zukunft konträre Fälle auftreten. Und zweitens: Insofern die erklärenden Aussagen (Explikans) nomologisch als All-Sätze formuliert werden, geht jede Theorie „notwendig über den Gehalt der singulären Beobachtungssätze hinaus" 6 . Sie sind logisch und hinsichtlich ihres Informationsgehaltes inkommensurabel. 4 Albert (1964 b), 23; vgl. zum ebenfalls möglichen statistischen Charakter nomologisch er Hypothesen (26 f.). 5 Diese logische Konsequenz w i r d m i t solcher Deutlichkeit von den Vertretern der Wissenschaftslogik nicht gezogen. M a n erkennt leicht, daß sie den wesentlichen Angriffspunkt gegen die geisteswissenschaftliche Hermeneutik i n Frage stellen würde. Vgl. die etwas gewundenen Formulierungen bei Albert (1964 a), 238 und 248 sowie (1964 b), 22. 6 Albert (1962), 53.

58

2. K a p i t e l : Vier

ewußtseinsstufen von Theorie

Die Ablehnung, Wissenschaft durch Induktion abzugrenzen, schließt nun bei Popper nicht den Verzicht auf Erfahrungskontakt ein, der aber nicht die Funktion der Bestätigung, sondern der Kontrolle erhält. Und zwar überprüft man wissenschaftliche Theorien deduktiv, „indem man Konsequenzen aus ihnen ableitet, die an der Erfahrung scheitern können" 7 . A n die Stelle der generalisierten Erfahrung der Induktion t r i t t der durch generalisierte Deduktion bestimmte Ausschluß von Erfahrungseinheiten. Darum ist das Falsifikationsprinzip Poppers „nicht wie das positivistische Verifikationsprinzip als Sinn-Kriterium gedacht, sondern nur als Abgrenzungs-Kriterium" 8 . Popper nennt Falsifikatoren „Basissätze". Basissätze sind durch Beobachtung festgestellte und dam i t allgemein kommunikative singuläre Behauptungen der Existenz von Eigenschaften oder Ereignissen, die bereits aufgestellte Hypothesen empirisch und logisch 9 widerlegen können. Nomologische Hypothesen verbieten also bestimmte Klassen von Basissätzen. Treten sie dennoch auf, ist die Theorie entkräftet. Je mehr Basissätze eine Theorie enthält ( = potentielle Falsifikatoren), um so kleiner ist der Bereich des empirisch Ausschließbaren, aber m i t diesem größeren Informationsgehalt wächst wiederum das Risiko der Falsifikation. W i r bekommen, sagt Popper, „durch die Falsifikation unserer Annahmen . . . tatsächlich Kontakt m i t der ,Wirklichkeit'" 1 0 . Wenn es so etwas wie eine positive Erfahrung aus der Wirklichkeit gibt, dann ist es die Widerlegung unserer Annahmen. „Es führt kein Weg m i t Notwendigkeit von irgendwelchen Tatsachen zu irgendwelchen Gesetzen... Der Gang der Wissenschaft besteht i n Probieren, I r r t u m und Weiterprobieren 1 1 ." 4. Zum Schluß soll uns noch das Problem der Erfahrungsauswahl oder der bevorzugten Erfahrung interessieren. I n gewisser Weise verhalten sich Erfahrung und Hypothese wie Henne und Ei. Es ist sinnlos, hier nach einem essentiellen Primat zu fragen. N u r logisch müssen w i r Wissenschaft m i t der Hypothese beginnen lassen; denn „ w i r lernen ja erst von den Hypothesen, für welche Beobachtungen w i r uns interessieren sollen . . . die Hypothese w i r d 7

Albert (1960 a), 398. Albert (1960 a), 398. 9 Falsifikation ist nicht einfach ein Schema der positiven/negativen Subsumierbarkeit empirischer Fälle unter Hypothesen; den das würde eine grundsätzliche Transformierbarkeit von Beobachtungssprache i n theoretische Sprache bedeuten. Dies käme der unmittelbaren Transformation eines singulären Falles i n einen formalen Satz gleich. Die Möglichkeit der Falsifikation nomologischer Sätze beruht vielmehr auf der Zulässigkeit, die explikativen All-Sätze i n negative Existenzbehauptungen umzuwandeln von der Form: Es gibt n i c h t . . . 10 Popper (1964 b), 102 (im Original gesperrt). 11 Popper (1964 b), 101. 8

§ 8 Die Wissenschaftslogik

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zum Führer zu neuen Beobachtungsresultaten" 12 . Popper spricht i n diesem Zusammenhang von einer „Scheinwerfertheorie" 13 . Man muß Habermas zustimmen, daß durch eine „Definition der Prüfungsbedingungen der mögliche Sinn der empirischen Geltung von Aussagen i m vorhinein festgelegt i s t " 1 4 . Die Wissenschaftslogik sieht darin, gemäß des neukantianischen Primats der Methode, keine Schwäche. Sie antizipiert Erfahrung, aber nur solche Erfahrung, deren Erfassung allseitig methodologisch kontrollierbar ist. Erfahrung w i r d kategorial präformiert. N u r solche Phänomenzusammenhänge sind empirisch relevant, die nomologisch und begrifflich bewältigt werden können. Die selektive Leistung stellt sich heraus durch Bewährung, wenn und sofern sich Erfahrung definieren läßt als hypothesenkonform und/oder -nichtkonform. Faktisch bedeutet das die Nichtbeachtung ganzer Erfahrungshorizonte. Eine nicht wiederholbare, singuläre Erfahrung läßt sich z.B. nicht i n einen Basissatz übersetzen. Sie ist damit nicht einmal hypothesenkonträr, sie gilt überhaupt nicht. Wenn Popper und Albert den Informationsgehalt ihrer Hypothesen binden an die Chance der Falsifikation, werden sie einen Erfahrungstypus bevorzugen, der eine experimentelle Wiederholung grundsätzlich zuläßt 1 5 . Konsequent grenzt Albert die für die Wissenschaftslogik interessante Erfahrung ein: „Alle Aussagen der Sozialwissenschaften lassen sich letzten Endes als Aussagen über menschliches Verhalten interpretieren, und zwar vor allem über das gegenseitige Verhalten von Personen 16 ." Faktisch kann man hier weitgehend m i t der Logik der Naturwissenschaften arbeiten, i n denen i m Bereich mittlerer Ordnung beobachtete Reaktionen beschreibbar sind durch quantitative Größen, und i n denen die Möglichkeit der Bestätigung abhängt von der Reproduzierbarkeit der Reaktionssituation 1 7 . Die Grenze für diese Spielregeln ist erreicht bei M i k r o und Makrophänomenen 18 . Und zwar ebenso i n der Naturwissenschaft wie bei Popper und Albert. Der theoretische Geltungsbereich wiederholbarer Erfahrung ist der des „middle range" 1 9 . Bevor w i r darangehen, Schlüsse aus der dargestellten Theorie-Stufe zu ziehen, wenden w i r uns dem folgenden Abschnitt zu, der sich vornehmlich m i t Parsons beschäftigen wird. 12

Popper (1964 b), 91. Popper (1964 b), 91. 14 Habermas (1964), 637. 15 Albert (1964 b), 59. 16 Albert (1962), 40. 17 Vgl. allerdings Albert (1964 b), 35 ff. 18 Vgl. Heisenberg (1955). 19 Diese prinzipielle These Mertons scheint uns jedenfalls hier auch f ü r die Wissenschaftslogik zuzutreffen. 13

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2. Kapitel: Vier Bewußtseinsstufen von Theorie § 9 Talcott Parsons 1

A u f wenigen Seiten das gewaltige Werk des bedeutendsten lebenden Theoretikers der Soziologie vorzustellen, ist ein von vornherein hoffnungsloser Versuch. W i r beschränken uns füglich auf den erklärten Zweck dieses Kapitels, Einsichten i n die Epistemologie von Theorien zu erhalten. 1

Es ist Parsons' Ziel, beizutragen zu einer den gesamten Wissens- und Forschungsstand der Sozialwissenschaften umfassenden allgemeinen Theorie. Der zentrale Bezugspunkt ist das als Verhalten definierte Handeln 2 . Verhalten seinerseits ist psychologisch, kulturell-normativ und i m engeren Sinne soziologisch (Status und Rolle) bestimmt, so daß die allgemeine Verhaltenstheorie darzustellen ist als „personal system", „cultural system" und „social system" 3 . Die m i t dem Namen Parsons besonders verbundene „strukturell-funktionale" Theorie ist ein aus der allgemeinen Verhaltenstheorie resultierender spezieller „Beitrag zur soziologischen Theorie i m engeren Sinn" 4 . Man dringt am leichtesten i n das ungemein dichte und i n immer wieder neuen Anläufen differenzierte Begriffsgeflecht Parsons' ein, wenn man die oben angedeutete Aufgabe der Theorie genauer untersucht. Für die Wissenschaft selbst übernimmt die soziale Theorie drei Aufgaben: sie ist „codification of our existing concrete knowledge", „a guide to research" und „the control of the biases of observation and interpretation" 5 . Als Komplex von Wissen ist die soziale Theorie ein System, welches durch seine Kategorien bzw. Variablen Zustand und Veränderungstendenz des sozialen Prozesses i n allen seinen Komponenten freilegt. Dies ist die Stelle, an der die Klassifizierung der allgemeinen Verhaltenstheorie als „transzendentallogische Theorie" ihre Berechtigung erfährt. 2

Die systematische Theorie, u m die es Parsons und seinen Anhängern geht, ist „a body of logically interdependent generalized concepts of 1 Vgl. hier bes. die Arbeiten von (1951); (1961 a); (1961b); (1964a); (1964b); ferner Parsons, Shils u.a. (1962a); Parsons , Shils u.a. (1962b); vgl. auch Sheldon (1962). 2 Vgl. Parsons, Shils u. a. (1962 a), 4. 3 Vgl. Parsons, Shils u. a. (1962 a), 8. 4 Vgl. Dahrendorf (1961), 59. 5 Parsons, Shils u. a. (1962 a), 3.

§ 9 Talcott Parsons

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empirical reference" 6 . A n dieser Definition ist zweierlei interessant: erstens der Ausgang von einem Gefüge logisch streng verbundener Generalisierungen (die als „set of tools" oder/und als „analytical tools" 7 gebraucht werden) vor aller Erfahrung, zweitens die Zuordnung der Erfahrung als nachträgliche Referenz. Konsequenterweise muß Parsons daher zunächst zwischen einem „theoretischen" und einem „empirischen" System unterscheiden 8 . „The concept of system is essentially nothing but an application of the criterion of logical integration of generalized propositions. That is, theoretical propositions are scientifically useful i n so far as they are general and are related i n such ways that data accounted for by one proposition may, by logical inference, be shown to have implications for data that should fit into other propositions i n the set." Es folgt der aufschlußreiche Satz: „The difference between description and theoretical explanation is precisely that between the isolation of particular propositions and their integration w i t h each other i n such ways that logical inference is possible 9 ." Damit ist der Aufbau der Theorie durchsichtig, ohne daß w i r i n Einzelheiten zu gehen brauchen. U m einen Zentralbegriff (action) gruppieren sich deduktiv logisch aufeinander bezogene Variable, die alle wesentlichen Gesichtspunkte des Systems kodifizieren. Das theoretische System w i r d als Ganzes auf die Empirie angewandt und erweist sich dann als brauchbar oder unbrauchbar 10 . 6

Parsons (1964 a), 212.

7

Parsons (1964 a), 219, 220. Parsons , Shils u.a. (1962 b), 50 f.; Parsons (1961a), 32. Parsons (1961 a), 32.

8 9

10 Parsons bezeichnet — vgl. unsere Ausführungen i m T e x t weiter u n ten — das für seine Theorie notwendige Kategoriengeflecht als ein Begriffssystem m i t heuristischer Funktion. So betont auch Rüschemeyer den Werkzeugcharakter der Theorie Parsons' sehr entschieden (1964, 12): „Offensichtlich sind Begriffe nicht identisch m i t Aussagen. Der begriffliche Bezugs rahmen leitet und beeinflußt jedoch die H y p o t h e s e n b i l d u n g . . . Die E n t scheidung über die zentralen Begriffe ist . . . abhängig von der Bewährung der m i t ihnen formulierten Hypothesen: Begriffe oder Begriffssysteme w e r den nicht widerlegt oder bewiesen, sie erweisen sich als fruchtbar oder unfruchtbar" (Kursiv durch uns). Fürstenberg (1956, 624) macht auf die m e r k würdige Voraussetzung eines solchen K r i t e r i u m s für den Realitätscharakter des Sozialen aufmerksam: „ D i e Realität der sozialen Phänomene liegt (hier) . . . ganz i n einer die exakt erfaßbare Wirklichkeit transzendierenden Sphäre wesensbestimmender Ideen, soll sich aber erstaunlicherweise m i t Hilfe s t r u k tureller Kategorien objektivieren und wissenschaftlich erfassen lassen." Faktisch handelt es sich also u m eine a - p r i o r i - K o n s t r u k t i o n ohne empirischen Erweis. A u f diesen P u n k t werden w i r i m Hinblick auf Smend noch einzugehen haben. Bei Parsons zeigt sich gerade wegen der relativen V o l l kommenheit seines Systems der entscheidende Mangel aller transzendentallogischen Theorie: Ihre K o n s t r u k t i o n geht der Wirklichkeit voraus, so w i e epistemologisch die Formel des Fallgesetzes dem Fall vorausgeht.

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2. K a p i t e l : V i e r

ewußtseinsstufen v o n Theorie

3 Man w i r d einige Sätze über den spezifischen Wissenschaftscharakter der Theorie bei Parsons beifügen müssen. Ausgehend vom geschlossenen System der sog. klassischen Naturwissenschaft w i r d man etwa die Frage stellen: Was ist denn das Theoretische an der Physik Newtons? Die A n t w o r t erfolgt prompt: Das theoretische Element i n der klassischen Physik ist die Mathematik, welche i n ihrem Zusammenhang ohne die Beschreibung i n einem interdependenten abstrakten Kategoriensystem nicht zu erfassen wäre. „This shows quite clearly that what we need is . . . a science . . . w i t h the nearest possible approach to an equivalent of the whole of mathematical analysis i n physics 11 ." Daß solche Theorien heute tatsächlich möglich seien, beweise die hochentwickelte Wirtschaftswissenschaft, deren SystemGerüst „numerically quantitative continua" bildeten 1 2 . Denn das Ziel der Theorie sei die Vorhersage von Veränderungen i m empirischen System auf Grund von logischen Manipulationen i m theoretischen System 13 . Parsons nennt eine so beschaffene Theorie — „the longterm goal of scientific endeavor" 1 4 — ein „empirical-theoretical" System 15 . Damit ist zugleich der Punkt erreicht, wo man von Strukturen sprechen kann. Struktur ist das stabilisierende Gerüst von Systemen. „The concept of structure focuses on those elements of the patterning of the system which may be regarded as independent of the lower-amplitude and shorter time-range fluctuations i n the relations of the system to its external situation 1 0 ." Der Struktur-Gedanke impliziert eine Fülle m i t i h m verbundener Propositionen, wobei es gleichgültig ist, ob w i r mehr die theoretische oder mehr die empirische System-Ebene bei Parsons betonen. Die wichtigsten können so formuliert werden: 1. Wenn Strukturen von einer gewissen Dauer und Stabilität sein sollen, müssen die sie konstituierenden Elemente i n einem ausgewogenen Verhältnis stehen, so daß sich als Resultante ein Zustand des Gleichgewichts ergibt 1 7 . 2. Diese geordnete Interdependenz ist nur feststellbar und aufrechtzuerhalten unter der Voraussetzung einer teleologischen Deutung der Relation Konstitutionselemente-Struktur. 11 12 13 14 15 16 17

Parsons (1964 a), 224. Parsons (1964 a), 224. Parsons , Shilsi u. a. (1962 b), 50 f. Parsons , Shils u. a. (1962 b), 51. Parsons , Shils u. a. (1962 b), 51. Parsons (1961 a), 36. Vgl. zum folgenden den vorzüglichen Aufsatz von Buckley

(1957).

§ 9 Talcott Parsons

3. Jedes theoretische/soziale Strukturelement ist funktional Struktur als Ganzes beziehbar.

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auf die

Darüber hinaus hat die Kategorie der Funktion vor allem die Aufgabe, den durch bestimmte Variable als konstant angenommenen sozialen Prozeß 18 wieder offen und dynamisch zu halten. „The functional categories of social systems concern, then, those features i n terms of which systematically ordered modes of adjustment operate i n the changing relations between a given set of patterns of institutionally established structure i n the system and a given set of properties of the relevant environing systems 19 ." Parallel zu dieser strukturell-funktionalen Konzeption des sozialen Prozesses laufen zwei Aspekte für die Einordnung konkreten sozialen Handelns, die man als Positions- und Prozeßaspekt unterscheiden kann: Status und Rolle 2 0 . Damit w i r d zugleich der Handlungs- und Erfahrungstyp (!) definiert, m i t dem w i r es i n der Soziologie zu t u n haben: Die soziale Theorie interpretiert nicht Individualverhalten, sondern faßt ähnliches Verhalten vieler Handlungsträger i n ähnlichen Situationen zusammen. „These similar actions are said to be institutionalized if the actors expect them to occur and there are cultural sanctions opposing nonconformity w i t h expectations. I n the formal description of institutions the position of the actor is described by saying that he occupies a status. When he acts i n this status he is said to be acting out a role . Thus institutions are i n another sense systems of roles. Institutions, or systems of roles, are grouped into larger systems called social systems 21." 4 Vorzug und Schwäche des Theoriedenkens bei Parsons liegen so dicht beieinander, daß es, auch auf die Gefahr der Wiederholung hin, unumgänglich ist, noch ein wenig beim Problem der Erfahrung zu verweilen. Dabei kann getrost aus politikwissenschaftlichem Bedürfnis argumentiert werden, läßt Parsons doch keinen Zweifel an der politikwissenschaftlichen Bedeutung seines Ansatzes 22 . Theorien sind, unbeschadet eines (auch von uns eingenommenen) weiteren Anspruches, zunächst einmal Bestandsaufnahmen der empirischen Welt nach ordnenden Gesichtspunkten. Insofern ist folgender Satz Parsons' richtig: „Adequacy i n description is secured i n so far as 18 19 20 21 22

Z u m folgenden Dahrendorf (1961), 68 f. Parsons