Modernisierung als Amerikanisierung?: Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945-1960 [1. Aufl.] 9783839406151

Die kulturwissenschaftlich orientierten Beiträge dieses Bandes beschäftigen sich anhand weit gefächerter Analysen mit de

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Modernisierung als Amerikanisierung?: Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945-1960 [1. Aufl.]
 9783839406151

Table of contents :
Cover Modernisierung als Amerikanisierung?
INHALT
Modernisierung als Amerikanisierung? Anmerkungen zur diskursiven Dynamik einer Analysekategorie
Zur so genannten Amerikanisierung in der frühen Bundesrepublik – einige Differenzierungen
„Swing, Film, Hemingway, Politik: stinkt mich an.“ Die Neupositionierung der westdeutschen Literatur zwischen 1945 und 1960
Beschützer kritisiert man nicht – oder vielleicht doch? Zum Bild Amerikas in der westdeutschen Publizistik der späten 1940er und 1950er Jahre
Zwischen Kontinuität und Innovation: Der westdeutsche Spielfilm 1945-1960
Das Fernsehen – Vehikel der Amerikanisierung oder Agentur der Modernisierung?
Adorno – Gehlen – Plessner. Medien-Anthropologie als Leitdiskurs der 1950er Jahre
Zur Relationierung von Medialisierung/Amerikanisierung und Globalisierung/Lokalisierung in Mediendiskursen des 20. Jahrhunderts
Unterhaltung – Verstörung – Orientierung. Zur Funktionsbestimmung des Theaters in der Nachkriegszeit (bis 1960)
Deutsche Leitkultur Musik und neues Leitbild USA in der frühen Bundesrepublik
„Die Welt schmeißt mit Farben“ – Abstraktion und Amerikanisierung auf der documenta 2 (1959)
Design und modernistische „Formgebung“ der jungen Bundesrepublik im Fokus deutsch-amerikanischer Beziehungen
Massenkultur, Demokratie und verordnete Verwestlichung. Bundesdeutsche und amerikanische Kulturdiagnosen der 1950er Jahre
Zu den Autoren

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Lars Koch (Hg.) Modernisierung als Amerikanisierung?

2007-10-23 15-55-18 --- Projekt: T615.kumedi.koch / Dokument: FAX ID 01f0161128034496|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 161128034504

2007-10-23 15-55-18 --- Projekt: T615.kumedi.koch / Dokument: FAX ID 01f0161128034496|(S.

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) T00_02 vak.p 161128034512

Lars Koch (Hg.) Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945-1960 unter Mitarbeit von Petra Tallafuss

2007-10-23 15-55-18 --- Projekt: T615.kumedi.koch / Dokument: FAX ID 01f0161128034496|(S.

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) T00_03 innentitel.p 161128034520

Gedruckt mit Unterstützung der Rijksuniversiteit Groningen.

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2007-10-23 16-04-33 --- Projekt: T615.kumedi.koch / Dokument: FAX ID 01f0161128589696|(S.

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) T00_04 impressum.p 161128589704

INHALT

Modernisierung als Amerikanisierung? Anmerkungen zur diskursiven Dynamik einer Analysekategorie Lars Koch/Petra Tallafuss (Berlin)

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Zur so genannten Amerikanisierung in der frühen Bundesrepublik – einige Differenzierungen Axel Schildt (Hamburg)

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„Swing, Film, Hemingway, Politik: stinkt mich an.“ Die Neupositionierung der westdeutschen Literatur zwischen 1945 und 1960 Sabine Kyora (Oldenburg)

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Beschützer kritisiert man nicht – oder vielleicht doch? Zum Bild Amerikas in der westdeutschen Publizistik der späten 1940er und 1950er Jahre Waltraud >Wara< Wende (Groningen)

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Zwischen Kontinuität und Innovation: Der westdeutsche Spielfilm 1945-1960 Lars Koch (Berlin)

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Das Fernsehen – Vehikel der Amerikanisierung oder Agentur der Modernisierung? Knut Hickethier (Hamburg)

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Adorno – Gehlen – Plessner. Medien-Anthropologie als Leitdiskurs der 1950er Jahre Andreas Käuser (Siegen)

129

Zur Relationierung von Medialisierung/Amerikanisierung und Globalisierung/Lokalisierung in Mediendiskursen des 20. Jahrhunderts Irmela Schneider (Köln)

155

Unterhaltung – Verstörung – Orientierung. Zur Funktionsbestimmung des Theaters in der Nachkriegszeit (bis 1960) Erika Fischer-Lichte (Berlin)

181

Deutsche Leitkultur Musik und neues Leitbild USA in der frühen Bundesrepublik Albrecht Riethmüller (Berlin)

215

„Die Welt schmeißt mit Farben“ – Abstraktion und Amerikanisierung auf der documenta 2 (1959) Sabiene Autsch (Kassel)

233

Design und modernistische „Formgebung“ der jungen Bundesrepublik im Fokus deutsch-amerikanischer Beziehungen Friedhelm Scharf (Kassel)

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Massenkultur, Demokratie und verordnete Verwestlichung. Bundesdeutsche und amerikanische Kulturdiagnosen der 1950er Jahre Kaspar Maase (Tübingen)

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Zu den Autoren

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MODERNISIERUNG ALS AMERIKANISIERUNG? ANMERKUNGEN ZUR DISKURSIVEN DYNAMIK EINER ANALYSEKATEGORIE

Lars Koch (Berlin)/Petra Tallafuss (Berlin) Die 1950er Jahre haben im Lichte der zeit- und kulturhistorischen Forschung der letzten rund 15 Jahre ihr Image als Jahrzehnt der Restauration und der leicht staubigen Kleinbürgerlichkeit ablegen können. Betonten ältere Forschungen vor allem das politische System „Adenauer“ als Signum der Nachkriegsdekade und konzentrierten sie sich in der Darstellung der Zeitläufte daneben auf die Installierung der ebenso erfolgreichen wie „langweiligen“ sozialen Marktwirtschaft, so haben jüngere Studien im Zuge des „cultural turn“ vor allem die sozial-habituellen und kulturellen Neuformatierungen untersucht, die sich in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft nach dem Rahmenbruch der Kriegsniederlage vollzogen haben. Dieser Prozess, der in soziologischer Hinsicht als Beschleunigung der gesellschaftlichen Differenzierungstendenzen innerhalb des sich neu definierenden Staates bei gleichzeitig intensiver Verflechtung von Politik, Ökonomie und Technologie gedeutet werden kann, wurde dabei in einschlägigen Studien zunächst immer wieder unter dem Schlagwort der „Amerikanisierung“ verortet. Gemeint ist damit – so könnte eine Kurzdefinition lauten – die Adaption und Übertragung amerikanischer Modelle der politischen Verfasstheit sowie der ökonomischen und kulturellen Produktion, die von den USA ausgehend, einen Lebens-, Denk- und Politikstilwandel von Gesellschaftsformationen hin auf das amerikanische Vorbild projektieren. Schwierig an dieser Definition, die wissenschaftliche Prominenz vor allem in der Kulturkritik und der zeithistorischen Forschung zur westdeutschen Nachkriegsgesellschaft gefunden hat, ist ebenso die Frage der Operationalisierbarkeit des Amerikanisierungstheorems im Hinblick auf belegbare Analyseergebnisse, wie auch dessen diagnostische Aufladung mit normativen Implikationen. Wenn von „Amerikanisierung“ die Rede war, 9

Lars Koch/Petra Tallafuss

wurde oftmals – vor allem mit dem während der 1920er und 1930er Jahre gebrauchten Fahnenwort des „Amerikanismus“ verknüpft1 – wertende Zeitdiagnostik betrieben, die den kulturkritischen Ort ihres Sprechens hinter vermeintlicher Sachlichkeit zu verstecken trachtete. Heute hingegen ist „Amerikanisierung“ dank zahlreicher Definitionen und einer verstärkten Arbeit am Begriff zu einer solideren Forschungskategorie herangereift, deren Analysewert nicht nur für die Beschäftigung mit der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, sondern auch im Zusammenhang mit dem Phänomen der Globalisierung und der möglichen Einebnung kultureller Unterschiede diskutiert wird.2 Die amerikanische Kultur, so etwa das Fazit der Globalisierungskritiker im Anschluss an George Ritzer, sei dabei, weltweit zur Leitkultur aufzusteigen. Eine „McDonaldisierung“ der Weltgesellschaft müsse befürchtet werden.3 In der deutschen Wissenschaftslandschaft erfreut sich der Begriff der Amerikanisierung vor allem im Zusammenhang mit der Debatte um die „geglückte Demokratie“ (Edgar Wolfrum) und den „langen Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) einiger Beliebtheit. Als Beleg für die Richtigkeit der These von der Amerikanisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft wurde in den 1980er und 1990er Jahren unter der Perspektive einer „dreifachen Zeitgeschichte“ (Hans Günter Hockerts) vor allem angeführt, dass vor dem Hintergrund der Systemkonfrontation seit 1945 verstärkt Anstrengungen seitens der westlichen Alliierten unternommen wurden, Deutschland von seinem vermeintlichen Sonderweg abzubringen und auf dem Wege der gezielten Implementierung von demokratischen Strukturen und des Transfers „amerikanischer Hochkultur“ (z.B. durch die Arbeit der Amerika-Häuser) eine Integration der BRD in die westliche Wertegemeinschaft zu gewährleisten. In den nachfolgenden Jahren differenzierte sich das Bild in der zeithistorischen Forschung weiter: Die Amerikanisierungsthese er1 2

3

Adolf Halfeld: Amerika und Amerikanismus. Kritische Betrachtungen eines Deutschen und Europäers, Jena 1928. Vgl. hierzu Kaspar Maase: „Amerikanisierung der Gesellschaft. Nationalisierende Deutung von Globalisierungsprozessen“. In: Konrad Jarausch/ Hannes Siegrist (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 219-238. Vgl. George Ritzer: Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997.

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Modernisierung als Amerikanisierung?

fuhr eine begriffliche Feinjustierung, so wurde in Arbeiten von Axel Schildt, Anselm Doering-Manteuffel und anderen Zeithistorikern zwischen einer „offiziellen“ und einer „informellen“ Amerikanisierung unterschieden,4 denen dann im Weiteren die Kategorie der „Westernisierung“ zur Seite gestellt wurde.5 In der Binnendifferenzierung des Amerikanisierungsparadigmas spiegelte sich die Einschätzung, dass von amerikanischen Kulturoffizieren nicht explizit geplante Einflussquellen, wie z.B. die von dem Sender AFN gespielte Musik, eine große Faszination auf Teile der deutschen Bevölkerung ausübten und sich so auf dem Wege „wilder“ Aneignung subkutane interkulturelle Transferprozesse ergaben. Die amerikanische Populärkultur, die weniger staatlich organisiert, als vielmehr – verstärkt seit Mitte der 1950er Jahre – über den Markt vermittelt in Westdeutschland Resonanzen erzeugte, wurde als wichtiges Medium zur Konstruktion zivilgesellschaftlicher Rollenmuster und Lebensstile identifiziert, welche den Aufbau einer stabilen Demokratie in der BRD begleiteten und die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz der Marktwirtschaft förderten. Parallel zum begrifflichen Splitting der Amerikanisierungskategorie erfuhr auch die zunächst starre Fixierung auf die USA als dominante Weltmacht der Nachkriegsjahrzehnte eine Erweiterung: Sukzessive wurde in Frage gestellt, inwieweit die Implementierung demokratischer und marktwirtschaftlicher Strukturen monokausal mit dem Einfluss der USA verbunden werden darf und ob nicht ein weiter gefasstes Konzept der Situation in Westdeutschland besser gerecht werden könnte? Hieraus resultierte die Westernisierungsthese, die im engeren Sinne vor allem den Transfer politischer Ideen bezeichnet, der sich seit dem „18./19. Jahrhundert als ein zirkulierender Austausch“6 zwischen Nordamerika und Europa vollzogen und die Herausbildung einer „gemeinsamen Werteordnung in den Gesellschaften diesseits und jenseits des Nordatlantiks“7 befördert habe. In wissenschaftsdisziplinärer Sicht wurde zudem für einzelne kulturelle Felder in Abgrenzung zu der gesellschaftsgeschichtlich 4

5 6 7

Vgl. hierzu etwa Anselm Doering-Manteuffel: „Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft“ In: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. 35 (1999), S. 3-12. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 13.

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orientieren Amerikanisierungsthese betont, dass der Einfluss personeller, ästhetischer und philosophischer Traditionslinien der Weimarer Republik und der NS-Zeit sehr viel höher einzuschätzen ist, als zunächst angenommen wurde und zudem insgesamt zwischen „realen“ politischen Entwicklungen und Momenten kultureller und diskursiver Eigenlogik unterschieden werden muss. Gleichzeitig erfuhr auch das Bild der anfänglich noch zu homogen gezeichneten bundesrepublikanischen Gesellschaft eine genauere Differenzierung: Studien, wie etwa der von Heinz Bude und Bernd Greiner herausgegebene Sammelband Westbindungen8, kamen zu der Einsicht, dass der Prozess der Amerikanisierung verschiedene soziale Gruppen in unterschiedlicher Weise betraf und zudem nach generationellen Aspekten und hieraus abzuleitenden Adaptionsintensitäten Ausschau gehalten werden müsse. Insgesamt trat das Motiv einer amerikanistischen bzw. modernisierungs-theoretisch imprägnierten Überbietungsdynamik sukzessive in den Hintergrund und räumte das Feld für diskurs- und ideenorientierte Argumentationen, die nachweisbare Transferbemühungen sehr viel stärker kontextabhängig bewerteten, nach Beharrungspotenzialen in den einzelnen kulturellen Sektoren fragten und das Paradigma der amerikanischen Kulturhegemonie durch ein solches der diskursiven und symbolischen Mischung ersetzten.9 Orientierungsmaßstab war nunmehr nicht mehr allein der mögliche amerikanische Kulturimport, sondern – der Begriff der „Westernisierung“ deutet eine ähnliche Umkodierung für den Bereich der Politik bereits an – die Durchsetzung der kulturellen Moderne, die mit Phasenverschiebungen und nationalspezifischen Akzentuierungen in vielen Ländern der westlichen Welt für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist.10 Hierbei spielte die informelle Anreicherung der Alltagswelt mit Elementen der amerikanischen Populärkultur sicher eine Rolle, wie genau aber das Verhältnis von Fremdimport, nationalspezifischer Tradition und gegen8 9

10

Heinz Bude/Bernd Greiner (Hg.): Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999. Vgl. Georg Bollenbeck/Gerhard Kaiser: „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik III, Oplanden 2000, S. 7-17. Vgl. Georg Bollenbeck: „Die fünfziger Jahre und die Künste: Kontinuität und Wandel“. In: Ders./Kaiser (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre, a.a.O., S. 190-208.

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Modernisierung als Amerikanisierung?

wartsbezogener Hybridkultur bestimmt werden kann, bleibt in der Beschäftigung mit einzelnen symbolischen Zusammenhängen zu ermitteln. Die wissenschaftliche Perspektive auf die ersten fünfzehn, zwischen „Modernisierung und Wiederaufbau“11 osszilierenden, Nachkriegsjahre ist somit komplexer geworden. An die Stelle eindimensionaler Forschungsparadigmen ist – vor allem für den Bereich der Kulturgeschichte zutreffend – die Sensibilität für gegenläufige Bewegungen und historische Ungleichzeitigkeiten getreten, aus deren Analyse nicht exakte Feldvermessungen, sondern in erster Linie kontextabhängige Trendaussagen abgeleitet werden können, die gegebenenfalls selbst wiederum am Einzelfall überprüft werden müssen. Die in diesem Band versammelten Texte argumentieren in die gleiche Richtung. Konzentriert auf verschiedene Teilsektoren des kulturellen Felds untersuchen sie entlang der Leitfrage nach „Kontinuität, Wandel und Normalität der westdeutsche Kultur 19451960“ die Mischungsverhältnisse, die die symbolische Ordnung der BRD in den eineinhalb Jahrzehnten nach 1945 bestimmt haben. Die hier zu Wort kommenden Verfasser haben sich dabei zur Aufgabe gestellt, in thematischen Einzelstudien den diskursiven Ermöglichungszusammenhang der Jahre 1945-1960 zu rekonstruieren und nach möglichen Leitdiskursen, diskursiven Angelpunkten und Amalgamierungen der zwischen Kontinuitätslinien und Elementen einer neuen Modernität changierenden, kulturellen Gemengelage der 1950er Jahre zu suchen. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage gewesen, welche interkulturellen Resonanzen zu beobachten sind: Welche Elemente des anglo-amerikanischen Kulturimports wurden in die semantische wie symbolische Ordnung Nachkriegsdeutschlands bewusst aufgenommen, welche wurden (schleichend) integriert und welche zurückgewiesen? Quasi als Hintergrundrauschen dieser verschiedenen diskursiven Praxen und symbolischen Re- bzw. Neukonfigurationen muss dabei berücksichtigt werden, dass das Bild von Amerika als dem vermeintlichen Exporteur von Hoch- und Populärkultur nicht statisch bestimmt werden kann. Neben tradierte Antiamerikanismen, die vor allem bei den Vertretern der herkömmlichen deutschen 11

Vgl. hierzu überblickshaft das Standartwerk von Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der fünfziger Jahre, Bonn 1993.

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„Hochkultur“ weiterhin gepflegt wurden, trat gerade bei jüngeren Jahrgangskohorten ein wachsendes Interesse an der transatlantischen Besatzungsmacht, die sukzessive als starker politischer Partner und Garant des Wiederaufbaus wahrgenommen wurde. So boten die USA nach 1945, begünstigt durch das Klischee ihrer kulturellen und technologischen Überlegenheit, weiten Raum für Wohlstandsprojektionen, die den Nachkriegswillen zur gesamtgesellschaftlichen Normalisierung und Erlangung privater Prosperität beflügelten. Dass die USA so zu einer Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte werden konnten, führt Axel Schildt (Hamburg) in seinem Beitrag über die Anwendbarkeit des Amerikanisierungskonzepts auf die westdeutsche Gesellschaft 1945-1960 auf den Umstand zurück, wonach die USA bis in die 1960er Jahre für den Großteil der Deutschen eine terra incognita und damit einen frei zu besetzenden Wertraum darstellten. Die mit dem Wohlstandswachstum in der Ära Adenauer einsetzende Modernisierung und die u.a. durch die zunehmende Verbreitung elektronischer Massenmedien geförderte Massenmobilisierung sei dabei unter den Vorzeichen konservativer Werthaltungen vonstatten gegangen. Unter dem Stichwort „Amerikanisierung von oben“ weist Schildt auf die Entstehung von Amerika-Häusern und die Initiierung von Besucherprogrammen hin, die Informationsreisen ins „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ boten, das vor allem durch seine begehrten Waren – dem materiellen Fundament der „Amerikanisierung“ – auf das deutsche (Konsum-)Bewusstsein einwirkte. Die Bedeutung dieser Mediatisierung und damit der real oder medial, z.B. in der Werbung, präsenten Symbolgüter ist aufgrund der sehr begrenzten Kommunikationsfähigkeiten – nur 3-4% der Bevölkerung verfügten über englische Sprachkenntnisse – als besonders prägend einzustufen. Vor dem Hintergrund einer „äußerst dynamischen Gesellschaftsentwicklung“ setzte daneben Mitte der 1950er Jahre eine „Amerikanisierung von unten“ ein, deren äußere Ausdrucksformen besonders von der jüngeren, sich nach dem „Duft der großen, weiten Welt“ sehnenden Generation adaptiert wurden. Diese zeigte sich jedoch ebenso empfänglich für die britische Beatund Popkultur, was, so Schildt, der Stringenz des Amerikanisierungsparadigmas widerspreche und nahe lege, die Amerikanisierungsthese als Modernisierungsthese zu reformulieren. Den fortgesetzten Bedeutungswandel, den das Bild vom „Amerikaner“ in der Nachkriegszeit erlebte, vollzieht Waltraud >Wara< Wende (Groningen) anhand der öffentlichen Reflektion

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Modernisierung als Amerikanisierung?

über die Luftbrücke nach, mit der die Westalliierten zwischen Juni 1948 und Mai 1949 die Versorgung West-Berlins gewährleisteten. Im Kontext der Luftbrückenaktion, die auch für die Amerikaner einen beachtlichen Wirtschaftsfaktor darstellte, setzte fast überall im Westen des Landes ein Sympathiewachstum der amerikanischen Besatzungsmacht ein, die ihre Legitimation aus der massenmedial kommunizierten Evidenz der veränderten Aufgabenwahrnehmung bezog: Aus den feindlichen Bomber-Fliegern, die bis ins Frühjahr 1945 hinein deutsche Städte in Schutt und Asche gelegt hatten, wurden nun – nicht zu letzt dank medialer Promotion – tugendhafte Helfer, denen man den Verbleib in der freiheitlichen Welt zu verdanken vermeinte. Das Deutungsmuster der Besatzungsmacht wurde in der westdeutschen Publizistik so vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Systemkonkurrenz mehr und mehr von dem der Schutzmacht verdrängt. Wie Wende weiter darstellt, verstummten in den medialen Kommentaren der Mehrheitsmeinung die antiamerikanischen Ressentiments, in denen sich nach wie vor die Angst vor einem kulturzersetzenden Kapitalismus artikulierte, weitgehend erst gegen Ende der 1950er Jahre. In der Beobachtung der fortgeschrittenen „Cola-boration“ mit dem American Way of Life entwickelte sich, unterstützt durch einen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, ein neues populärkulturelles Alltagskonzept, das sich immer weniger an den hergebrachten Deutungsmustern von „Bildung“ und „Kultur“ orientierte. Sabine Kyora (Oldenburg) befasst sich in ihrem Beitrag „‚Swing, Film, Hemingway, Politik: stinkt mich an‘. Die Neupositionierung der westdeutschen Literatur zwischen 1945 und 1960“ unter anderem am Beispiel von Arno Schmidts Roman Brand’s Haide (1951) mit den – in intellektuellen Kreisen partiell weiter gepflegten – literarischen Gegentendenzen zur vermeintlichen „Amerikanisierung“ deutscher Kultur. Bezugspunkt ist bei allen Positionierungsstrategien in erster Linie die bis in die späten 1950er Jahre tonangebende Literatenvereinigung Gruppe 47 um Alfred Andersch, die zwar geschichtspolitisch durch die Aufarbeitung der NS-Zeit eine thematische wie welt- und eigenperspektivische Neuorientierung anstrebte, dabei aber – wie in Rückgriffen auf das Realismuskonzept des 19. Jahrhunderts und in der Beibehaltung alter Stilvorbilder (Thomas Mann) ersichtlich – ein Fortwirken kultureller Werthaltungen der Weimarer Republik implizierte. Diese Realismusprogrammatik wie auch die von Walter Höllerer, Helmut Heißenbüttel und eben auch Arno Schmidt propagierten Ansätze

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zur Wiederaufnahme der europäischen Avantgarde sollten – so Kyora – als Versuch der „Konstruktion von Kontinuität“ verstanden werden, deren Ziel der selbstbewusste Weg in die stilistische Pluralität gewesen sei: Nicht Restauration um der Verherrlichung vergangener Literaturen willen, sondern das Bemühen um einen Orientierung stiftenden Anschluss an die literarische Moderne. Die Ablehnung Hemingways – des amerikanischen Kulturimports schlechthin – versteht Kyora vor diesem Hintergrund primär als distinktionsstrategische Konsequenz aus der nach 1945 postulierten Forderung nach einer „ideologiefreien Ästhetik“. Markiert damit das literarische Feld der Nachkriegszeit ein erstes Gegengewicht zur vermeintlichen diskursiven Dominanz eines angloamerikanischen Kulturtransfers, so kann Lars Koch (Groningen) in seinem Aufsatz „Zwischen Kontinuität und Innovation: Der westdeutsche Spielfilm 1945-1960“ auch für das Segment des Spielfilms zur Amerikanisierungsthese gegenläufige Bewegungen festmachen. Zwar sei durchaus von einer „Amerikanisierung“ des Filmmarktes qua Masse der aufgeführten Spielfilme aus den USA zu sprechen, zugleich seien es aber gerade die deutschen Eigenproduktionen gewesen, die den identitätsverbürgenden Zuspruch des bundesrepublikanischen Publikums erhalten haben. Auf die Genres „Trümmerfilm“, „Kriegsfilm“, „Heimat-“ und „Straßenfilm“ fokussiert, weist Koch nach, dass der deutsche Nachkriegsfilm vor dem Hintergrund von außenpolitischer Systemkonkurrenz und innenpolitischem Wirtschaftswunder einen auf konservative Werthaltungen ausgerichteten Normenkanon ästhetisch aufbereitete, der – Hand in Hand mit einer implizit propagierten Konsumorientierung – dazu beitrug, die sukzessive Eingewöhnung in eine als angstfrei erlebte Moderne zu ermöglichen. Im Mittelpunkt von Knut Hickethiers (Hamburg) Beitrag steht die in den 1950er bis 1970er Jahren in der Entwicklung des Fernsehens zum Leitmedium sich abzeichnende Spannung zwischen Traditionsvermittlung und gesellschaftlicher Modernisierung. Das Fernsehen, das im Wirtschaftswunderdeutschland zum „Transmissionsriemen sozialer Veränderung“ wurde, war gleichsam als charakteristisches Produkt der amerikanischen Gesellschaft konnotiert. Anders als sein Vorgänger, das „NS-TV“, ideologisch entschlackt, entdeckte das deutsche Fernsehen die Unterhaltung als neues Paradigma eines sorgenfreien und konsumfreudigen Alltags. Fernsehfilme, so Hickethier im Einklang mit den Thesen Kochs, trugen zur Schaffung einer „konsumistischen Moderne“ bei

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und wirkten auf den Betrachter unterschwellig verhaltensformierend und -normierend. Die in den medial konstituierten Öffentlichkeiten beobachtbaren Ausdifferenzierungsprozesse markierten dabei die Tendenz weg vom holistischen Gesellschaftsbild und hin zu einer Pluralisierung von Werthaltungen und Lebensstilen. Andreas Käuser (Siegen) hingegen kann in seinem Beitrag über die „medienanthropologischen Leitdiskurse der 1950er Jahre“ den Nachweis führen, dass die Modernität der massenmedialen Innovationen der 1950er Jahre im Diskurs der gesellschaftsdeutenden Soziologie – im Rekurs auf anthropologische Denkfiguren – als Moment des regressiven Rückschritts umgedeutet wurde. Namentlich bei Adorno, Gehlen und Plessner erkennt Käuser diskursive Traditionslinien, die dem kulturkritischen Denkstil der 1920er Jahre entstammen, in der Beobachtung aktueller Medienverhältnisse in wissenschaftshistorischer Hinsicht gleichwohl aber zum medienund gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisgewinn beizutragen vermögen. In ihrem Beitrag über das in Mediendiskursen reflektierte Spannungsfeld „Medialisierung/Amerikanisierung – Globalisierung/ Lokalisierung“ beschreibt Irmela Schneider (Köln) den Amerikanisierungsbegriff als Prozesskategorie, deren zentrale Bedeutung in der Organisation von Zusammenhängen zwischen unterschiedlichen Diskursen zu sehen sei. „Amerikanisierung“ im soziologischen Sinne des „othering“ aufgefasst, verweise auf eine identitätsversichernde Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Wie Schneider verdeutlicht, dominierten bis in die 1970er Jahre hinein kritische Reflektionen über „Massenkultur“ und „Massenkonsum“ die deutschen Mediendiskurse. Die dabei als „typisch amerikanisch“ verorteten Phänomene fungierten als Leitmotive der orientierungsstiftend wirkenden Kulturkontraste, die im sich zusehends beschleunigenden gesellschaftlichen Veränderungsprozess fundamentale Ordnungskategorien bereitstellten. Erst in den 1980er Jahren wurde die inhaltlich weitgehend entleerte Amerikanisierungskategorie vor dem Hintergrund medientechnologischer Veränderungen und dem Entstehen der Netzwerkgesellschaft durch einen neuen Begriff abgelöst: das ebenso pejorative und konsum- wie modernekritische Globalisierungsparadigma. Einen Schritt zurück von der in den Beiträgen von Käuser und Schneider eingenommenen Beobachterperspektive 3. Ordnung – der Beschreibung der zeitnahen Beobachtungspraxis der kulturellen Transformationsprozesse in den 1950er Jahren – hin zu zeitnahen

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symbolischen Übersetzungsleistungen geht Erika Fischer-Lichte (Berlin) in ihrem Beitrag über das westdeutsche Nachkriegstheater. Den Theaterboom der Nachkriegszeit (bis zur Währungsreform) charakterisiert ihr Beitrag über die „Funktionsbestimmung des Theaters in der Nachkriegszeit“ als Reflex einer „geistigen Wiedergutmachung“. Die neue Berücksichtigung jüdischer Theaterautoren wie auch Spielplanveränderungen hin zu neuen amerikanischen und französischen Stücken seien keineswegs Indiz eines Traditionsabbruchs gewesen, sondern bildeten eine Erweiterung der durch die verstärkte Klassikeraufführung hergestellten Kontinuität. Ingesamt konstatiert Fischer-Lichte eine Tendenz des Nachkriegstheaters zur „Reprivatisierung der Geschichte“, die thematisch mit einer Fokussierung auf humanistisches Gedanken- und Geschichtsgut und äußerlich mit der Intensivierung des Verhältnisses zwischen Publikum und Theaterleuten einhergegangen sei. Im Hinblick auf die in allen hier versammelten Texten zu konstatierenden diskursiven Eruierungsbemühungen um die kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungstendenzen der 1950er Jahre führt Albrecht Riethmüller (Berlin) in Rekurs auf Adornos/Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947) die Theoreme des „Kulturraums“ und der „Kulturindustrie“ ein. Die Verbindung zwischen der „deutschen Leitkultur Musik“ und dem „neuen Leitbild USA“ in der frühen Bundesrepublik verfolgend, stellt Riethmüller fest, dass die weltweit hochgeachtete deutsche Musikkultur in der Nachkriegszeit – vor allem für die ältere Generation – als mentaler Stabilitätsanker fungierte und zugleich indirekt die Schieflage der Kulturbewertung – amerikanische Hot-Dog-Kultur vs. Bach und Beethoven – zu kreieren half. Die Musik, ganz besonders die hochkulturelle, wurde in der Nachkriegszeit – so Riethmüller – als eine Domäne deutscher Überlegenheit konstruiert, die gegen re-education ebenso immun zu sein schien wie gegen Tendenzen kultureller „Überfremdung“. Im Fortgang der 1950er Jahre errang die amerikanische Musik als differenzierendes Medium im Generationenkonflikt dann doch – vor allem in den Genres Jazz, Musical und Rock’n’Roll – die Herrschaft über die Ohren der jüngeren Generationen. Überalterte Formen der Populärkultur wie die Operette blieben im Zuge dieser Verjüngung und Popularisierung nahezu auf der Strecke. Friedhelm Scharf (Kassel) setzt sich mit dem in den 1950er Jahren neu aufkeimenden und sich in ästhetisiertem Konsum von Nierentischen und „Schneewittchensärgen“ äußernden Design-Be-

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Modernisierung als Amerikanisierung?

wusstsein der Deutschen auseinander. Die wechselvolle Geschichte der 1953 in Ulm gegründeten Hochschule für Gestaltung (HfG) rekapitulierend, umreißt Scharf die Trendwendungen im Ästhetikideal der 1950er Jahre in ihrer Fluktuation zwischen Organischer Gestaltung, Modernismus und Funktionalismus. Hinter der von Scharf beschriebenen Suche nach einer zeitgemäßen Oberfläche, die mit dem auf Initiative des Deutschen Bundestages 1953 gegründeten Rat für Formgebung sogar zur Staatssache erklärt wurde, verbarg sich dabei auch die hoffende Absicht, die angesichts des Systembruchs 1945 irritierte deutsche Geisteshaltung möge mit der Entwicklung einer zeitgemäßen, funktional-modernen Form, wieder ganz zur alten Emsigkeit und Selbstsicherheit zurückfinden. Einmal mehr ein Beispiel für die Zählebigkeit tradierter Deutungsmuster, die – wie etwa in der Reformbewegung der 1910er und 1920er Jahre – behaupteten, durch die Gestaltung der äußeren Wirklichkeit Einfluss auf die Selbst- und Fremdbilder der Menschen nehmen zu können. In ihrem medienanthropologisch geprägten Beitrag „‚Die Welt schmeißt mit Farben‘ – Abstraktion und Amerikanisierung auf der documenta 2 (1959)“ zeigt Sabiene Autsch (Paderborn), dass die documenta 2 in einen spezifisch kunstpolitischen und kunstideologischen Kontext eingebunden war, der sich durch mediale und künstlerische Konfigurationen auszeichnete. „Abstraktion“ und „Amerikanisierung“ bildeten hier zwei zentrale, im Wesentlichen auch durch die zeitgenössische Kunstkritik geprägte Topoi, die eine Politisierung im Sinne der Rhetorik des „Kalten Krieges“ auf der einen Seite und eine enorme Popularisierung hin auf eine tendenzielle Einebnung der diskursiven Trennung von Hoch- und Massenkunst auf der anderen Seite bewirkten. Autsch weist dabei den Amerikanisierungsbegriff mit Blick auf die von ihr diskutierten gestisch-medialen Prozesse und Neu-Konfigurationen in seinem analytischen Potenzial als zu unspezifisch zurück, da er in diesem Kontext nur „Oberflächenphänomene“ zur Anschauung bringen könne. Abschließend kehrt Kaspar Maase (Tübingen) in seinem Beitrag über die „Kulturdiagnosen der 1950er Jahre“ noch einmal zur Beobachterebene 3. Ordnung zurück und geht dabei der Frage nach, mit welchen begrifflichen Strategien und semantischen Implikationen der Modernisierungsschub der 1950er Jahre in Amerika und Deutschland beobachtet und bewertet wurde. Obgleich – so Maases These – die diskursive Begrifflichkeit von „mass culture“

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bzw. „mass society“ und deren deutsche Pendants „Massenkultur“ und „Massengesellschaft“ auf den ersten Blick große thematische Schnittmengen aufweisen, so nehmen sie im jeweils spezifischen Kommunikationszusammenhang doch verschiedene Funktionen wahr. Während amerikanische Akteure sich trotz individueller Unterschiede im Grundsatz darüber einig waren, dass es kein „außerhalb“ der „mass culture“ geben könne, man mithin über Differenzen innerhalb des Systems stritt, wurden die Begriffe der „Masse“ und der „Massenkultur“ in deutschen Kulturdiagnosen immer wieder dazu herangezogen, um grundsätzliche Zweifel an der Demokratiefähigkeit des modernen „Massenmenschens“ und seiner kulturellen Ausdrucksformen zu artikulieren. Summa summarum liefern die hier versammelten Texte – so die Hoffnung des Herausgebers – einen Beitrag zur Diskurs- und Kulturgeschichte der 1950er Jahre. Dass die hier vorgetragenen Einsichten keinen Anspruch auf vollständige Repräsentation des faszinierenden Ineinanders verschiedener kultureller Trends der einstmals als langweilig verschrienen Nachkriegsjahre erheben wollen, liegt auf der Hand. Klar geworden sein sollte jedoch, dass das Amerikanisierungsparadigma zu einseitig an nationalstaatlichen Perspektiven festhält und damit im Hinblick auf die Verwerfungen und Phasenüberlappungen verschiedener symbolischer Ordnungen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht genügend Beachtung schenkt. Ein Modernisierungsbegriff, der sich nicht teleologisch als „Projekt der Moderne“12 begreift und zugleich eine Sensibilität für gegenläufige Dynamiken, Verzögerungen, Beschleunigungen und Brüche entwickelt, scheint besser geeignet, dem vielgestaltigen Erscheinungsbild der 1950er Jahre gerecht zu werden, das nach wie vor zwischen Kontinuität und Wandel changiert. *** Der vorliegende Sammelband resultiert aus der Tagung, „Zwischen Kontinuität, Wandel und Normalität: Die westdeutsche Kultur 1945-1960“, die der Herausgeber im Jahre 2006 an der Rijksuniversiteit Groningen veranstaltet hat. Zuvorderst danke ich daher allen 12

So Jürgen Habermas: Die Moderne, ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990, Leipzig 2001.

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Modernisierung als Amerikanisierung?

ReferentInnen, die zu diesem Projekt beigetragen haben. Möglich gemacht wurde die Tagung durch die Unterstützung der Instituut voor Cultuurwetenschappelijk Onderzoek der Universiteit Groningen (ICOG). Ihrem damaligen Leiter, Prof. Dr. Martin Gosman, gebührt auf Grund dessen ebenso mein Dank, wie dem Duitsland Instituut Amsterdam, das sich freundlicherweise an den Tagungskosten beteiligte. Hans-Jörg Schmidt danke ich für die Bereitschaft zur Mitarbeit an der Korrektur der Manuskripte. Petra Tallafuss sei herzlich dafür gedankt, dass sie die Nachbreitung der Tagung mit getragen und sich um die redaktionelle Mitarbeit an der Herausgabe des vorliegenden Buches verdient gemacht hat. Berlin, im September 2007 Lars Koch Literatur Bollenbeck, Georg/Gerhard Kaiser: „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik III, Opladen 2000, S. 7-17. Bollenbeck, Georg: „Die fünfziger Jahre und die Künste: Kontinuität und Wandel“. In: Ders./Kaiser (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre, a.a.O., S. 190-208. Bude, Heinz/Bernd Greiner (Hg.): Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999. Doering-Manteuffel, Anselm: „Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft“ In: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. 35 (1999), S. 3 -12. Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Halfeld, Adolf: Amerika und Amerikanismus. Kritische Betrachtungen eines Deutschen und Europäers, Jena 1928. Maase, Kaspar: „Amerikanisierung der Gesellschaft. Nationalisierende Deutung von Globalisierungsprozessen“. In: Konrad Jarausch/Hannes Siegrist (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 219-238.

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Lars Koch/Petra Tallafuss

Habermas, Jürgen: Die Moderne, ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990, Leipzig 2001. Ritzer, George: Die McDonaldisierung der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997. Schildt, Axel/Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der fünfziger Jahre, Bonn 1993.

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ZUR SO GENANNTEN AMERIKANISIERUNG IN DER FRÜHEN BUNDESREPUBLIK – EINIGE DIFFERENZIERUNGEN1

Axel Schildt (Hamburg) Als sich die „alte“ Bundesrepublik in den 1980er Jahren, kurz vor ihrem Ende, einer kritischen Selbstanerkennung näherte, verschwanden überkommene schematische Wertungen, die den Kalten Krieg im Medium der Zeitgeschichtsschreibung spiegelten, im Säurebad geschichtswissenschaftlicher Kritik. Dies galt nicht nur für die politischen Sonntagsreden von der Stunde Null und dem strahlenden Sieg der Demokratie (nicht nur im institutionellen Sinn), die ihren Siegesflug wie Phönix aus der Asche direkt nach 1945 oder zumindest mit dem Grundgesetz angetreten habe. Auch das polemische Narrativ der „Restauration“, das zunächst von publizistischen Zeitgenossen geprägt und dann nicht zuletzt von der DDR-Propaganda weidlich genutzt worden war, wurde als Legende, die den Blick auf die Nachkriegsgesellschaft eher verstellte als erhellte, verworfen. Dies gilt zumindest für die professionelle Zeitgeschichtsschreibung, die stattdessen die 1950er Jahre als epochale kulturhistorische Zäsur, als Phase „aufregender Modernisierung“ (Hans-Peter Schwarz) entdeckte. Diese Modernisierung und vor-

1

Der folgende Text fasst Überlegungen zusammen, die zum Teil bereits an anderer Stelle publiziert, aber hier ergänzt und aktualisiert werden; vgl. Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und ‚Zeitgeist‘ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 398-423; Ders.: „Sind die Westdeutschen amerikanisiert worden? Zur zeitgeschichtlichen Erforschung kulturellen Transfers und seiner gesellschaftlichen Folgen nach dem Zweiten Weltkrieg“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament), B 50/2000 vom 08. Dezember 2000, S. 3-10; Ders.: „Vom politischen Programm zur Populärkultur: Amerikanisierung in Westdeutschland“. In: Detlef Junker (Hg.): Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990. Ein Handbuch. Bd. I: 1945-1968, Stuttgart/München 2001, S. 955-965.

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zugsweise ihre alltagskulturellen Phänomene2 – die bunte Plastikwelt der stromlinienförmigen Toaster und lasziven Hedonismus ausstrahlenden Hollywood-Schaukeln, der Jeans, Petticoats, Hollywood-Filme mit James Dean und Rock’n’Roll-Größen wie Bill Haley und Elvis Presley – galten nun als die wahren Insignien der 1950er Jahre.3 Die Charakterisierung als „Amerikanisierung“ lag nahe – war von amerikanischer Seite im ersten Nachkriegsjahrzehnt nicht einmal ungewollt gewesen4 – und ließ sich sogar noch von der zeitgenössischen Kulturkritik bestätigen, die eine Kolonisierung bis ins Unterbewusstsein der Deutschen beklagte.5 Die Hinweise einiger Zeithistoriker, dass die Frühzeit der Bundesrepublik zwar nicht als Reich der Restauration, aber auch nicht als ungebrochene Progressivität zu beschreiben, sondern in ihren Brechungen und Widersprüchen einer „Modernisierung unter konservativen Auspizien“ (Christoph Kleßmann), als in ihrem Verhältnis zueinander sich wandelnde „Modernisierung im Wiederaufbau“ zu analysieren sei,6 haben das historische Bild der Öffentlichkeit kaum geprägt. Immer noch stehen weithin unreflektiert Vorstellungen einer damals heilen Welt traditioneller Werte und einer umfassenden „Amerikanisierung“ als Signum von Fortschritt und Modernität in Kultur und Gesellschaft nebeneinander.

2 3 4

5 6

Vgl. Bernhard Schulz (Hg.): Grauzonen – Farbwelten. Kunst und Zeitbilder 1945-1955, Berlin 1983; Paul Betts: The Authority of Everyday Objects. A Cultural History of West German Industrial Design, Berkeley u.a. 2004. Vgl. für den Kontext die Zusammenfassung von Edgar Wolfrum: Geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 154-169. Vgl. Robert H. Haddow: Pavilions of Plenty. Exhibiting American Culture abroad in the 1950s, Washington D.C./London 1997; sowie neuerdings den informativen Aufsatz von Greg Castillo: „Domesticating the Cold War: Household Consumption as Propaganda in Marshall Plan Germany“. In: Journal of Contemporary History, Bd. 40 (2005), S. 261-288. Vgl. Bernd Greiner: „‚Test the West‘. Über die ‚Amerikanisierung‘ der Bundesrepublik Deutschland“. In: Heinz Bude/Bernd Greiner (Hg.): Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999, S. 16-54. Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993 (Studienausgabe 1998).

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Zur so genannten Amerikanisierung in der frühen Bundesrepublik

I.

Angst und Faszination der „Amerikanisierung“ – Traditionelle Amerikabilder

Nur wenige Historiker sprechen deshalb noch von „Amerikanisierung“, wenn sie das erste Jahrzehnt in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg begrifflich charakterisieren sollen.7 Die alltagssprachliche Konnotation erscheint einfach übermächtig. Mit dem Begriff der „Amerikanisierung“, der bereits seit der Jahrhundertwende in Deutschland Verwendung findet,8 verbindet sich im allgemeinen Sprachgebrauch die Vorstellung einer unaufhaltsamen sozialen und kulturellen Angleichung an die zivilisatorischen Standards der Gesellschaft der USA, und hinter dieser Vorstellung steht wiederum gemeinhin die Annahme des simplen Modells einlinigen Kulturtransfers, bei dem die warenförmigen US-Produkte und der diesen anhängende spirit die deutsche Gesellschaft überschwemmen und zum amerikanischen Way of life modeln würden. Eben dies bildete nach dem Zweiten Weltkrieg den Kern des Schreckbildes moderner Zukunft, spiegelte die Ängste konservativer Bildungseliten und wurde zugleich zeitweise von politisch ganz anderer, nämlich kommunistischer, Seite in das Zentrum der Propaganda gestellt. Die unterschiedlichen Ausgangspunkte vermischten sich, etwa in der Architekturdiskussion um 1950 bis zur Ununterscheidbarkeit, wenn im Lehrbuch Organische Stadtbaukunst von Hans Bernhard Reichow die US-Städte schlicht als Phänomene der „Vermassung“ ins Bild gesetzt wurden,9 während sich kommunistische Invektiven gegen die „Amerikanisierung des Stadtbildes“10 im westdeutschen Wiederaufbau richteten. Solche zwischen 7

8 9 10

Vgl. allerdings Volker Berghahn: The Americanization of West German Industry, 1945-1973, New York 1986, der von seinen materialreichen Analysen des amerikanischen Einflusses auf die deutsche Wirtschaft und des Transfers amerikanischer Leitbilder ausgehend diesen Begriff vor dem Hintergrund der Annahme eines „amerikanischen Jahrhunderts“ benutzt; Ders.: „Deutschland im ‚American Century‘ 1942-1992. Einige Argumente zur Amerikanisierungsfrage“ In: Matthias Frese/Michael Prinz (Hg.): Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 789-800. Benutzt hat diesen Begriff als einer der ersten der englische Publizist William Thomas Stead: Die Amerikanisierung der Welt, Berlin 1902. Vgl. Bernhard Reichow: Organische Stadtbaukunst, 2 Bde., Braunschweig 1948/1949, Bd. 1, Abb. 9 und Bd. 2, Abb. 30. Edmund Collein: „Die Amerikanisierung des Stadtbildes von Frankfurt“. In: Deutsche Architektur (DDR), Jg. 1 (1952), S. 101-115; vgl. dazu An-

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nationalistischer und europäisch-abendländischer Tonart wechselnden Interpretationen einer Überwältigung durch amerikanische Einflüsse kumulierten zwar zu Beginn der 1950er Jahre, bildeten aber insgesamt ein Dauerthema des gesamten 20. Jahrhunderts. Dabei wurden nicht allein die Warenschwemme aus Amerika und die schicksalhafte Angleichung der europäischen bzw. deutschen an die US-Gesellschaft angesprochen. Zugleich findet sich in den einschlägigen Diskursen stets eine deutliche Trennung: Hinsichtlich des allgemeinen zivilisatorischen Standes seien die USA überlegen, als seelenlose pure Erwerbsgesellschaft aber der europäischen und speziell der deutschen Kultur unterlegen.11 Als angebliche psychosoziale Folgen der steten Rationalisierung und Homogenisierung wurden vor allem immer wieder die Verweichlichung und Feminisierung (Autoritätsverfall des Mannes) sowie die Vermassung und Auslöschung der Individualität beklagt. Die Amerikaner seien hilfsbereit und freundlich, aber naiv und konformistisch, bis hin zum oberflächlichen amerikanischen Flirt und der standardisierten Sexualität. Schon in der Zwischenkriegszeit wurde allerdings vermehrt darauf hingewiesen, dass es sich bei der damit verbundenen Vorstellungswelt um eine Projektion handle und dass sich in der Kritik der „Amerikanisierung“ lediglich die Ängste vor der modernen Zukunft der eigenen Gesellschaft ausdrückten. Bei der „Amerikanisierung“ gehe es nicht um einen Kulturtransfer aus einer völlig andersgearteten, sondern aus einer lediglich technologisch und zivilisatorisch weiter entwickelten Gesellschaft, die aber auf dem gleichen Fundament ruhe und insofern dem eigenen Gemeinwesen nur den Spiegel der drohenden Zukunft vorhalte. Die stereotypen Vorstellungen eines „entfremdeten“ und seelenlosen Schicksals blieben von dieser Einsicht im Kern nicht nur unberührt – sondern erhielten damit eine zusätzliche Eindringlichkeit. Zu erwähnen ist allerdings, dass es – als minoritäre Linie – in der deutschen Geschichte immer wieder Konjunkturen eines positiven Verständnisses von „Amerikanisierung“ gab, assoziiert als eine technologisch-soziale Befreiung aus traditionellen Hierarchien

11

dreas Schätzke: Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussion im östlichen Deutschland 1945-1955, Braunschweig/Wiesbaden 1991, S. 127-145. Vgl. Hinweise auf die Literatur in der Einleitung der Herausgeber von Alf Lüdtke/Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hg.): Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996.

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Zur so genannten Amerikanisierung in der frühen Bundesrepublik

und als größere Unvoreingenommenheit und Ungezwungenheit der Menschen untereinander – solche positiv umgewerteten Klischeevorstellungen waren schon in der Zwischenkriegszeit nicht selten anzutreffen. Zudem artikulierten sich nicht nur feindliche und skeptische oder positive Stimmen im Blick auf die amerikanische Gesellschaft. In der Regel zeichneten sich Berichte darüber gerade durch eine vielfältige Mischung von Passagen angstvoller Faszination, euphorischer Begeisterung, wehmütiger Stimmungen, hochmütiger Kritik und geradezu phobischer Abwehr aus. Weithin einig schien man sich jedenfalls bereits in der Öffentlichkeit vor 1933, dass die USA nicht nur politisch und militärisch, sondern auch wirtschaftlich und kulturell eine Großmacht waren, deren Lebensstil von Europa zunehmend importiert werde.12 Auch im „Dritten Reich“ waren diese Einflüsse nicht einfach gekappt worden, sondern wirkten fort im Spannungsfeld von anstößigem Ärgernis liberaler Freiheit bis zur Faszination angesichts fortgeschrittener Technik, die bekanntlich sogar die Spitzen des NSRegimes einschloss.13 Die Einflüsse populärer amerikanischer Musik in den deutschen Metropolen der 1930er Jahre, das Bild vom Coca-Cola trinkenden Hitler-Jungen, die Beliebtheit von Hollywood-Filmen und andere irritierende Phänomene amerikanischer Massenkultur im „Dritten Reich“ wurden bisher allerdings eher illustriert als analysiert und eingeordnet. Zeitgeschichtliche Veröffentlichungen transportieren – bisweilen in ihrem Titel – das Bild eines amerikanischen Kulturimperialismus in Europa noch in jüngster Zeit14 und geben damit wiederum Historikern und Publizisten die willkommene Gelegenheit,

12 13

14

Vgl. neuerdings die Arbeit von Egbert Klautke: Unbegrenzte Möglichkeiten? Amerikanisierung in Deutschland und Frankreich 1900-1933, Stuttgart 2003. Philipp Gassert: Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung 1933-1945, Stuttgart 1997; zu den Grenzen der Imagination einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft unter partieller Adaption amerikanischer Muster vgl. Wolfgang König: Volkswagen, Volksempfänger, Volksgemeinschaft. „Volksprodukte“ im Dritten Reich. Vom Scheitern einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft, Paderborn 2004. Reinhold Wagnleitner: Coca-Colonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, Wien 1991 (Nachdruck in englischer Sprache Chapel Hill 2003).

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eine Geschichte des „Antiamerikanismus“ zu schreiben, der in der Tat als Ideenstrang durch das 20. Jahrhundert zu verfolgen ist.15 Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum möglich, „Amerikanisierung“ als für die wissenschaftliche Zeitgeschichtsschreibung tragfähigen Begriff von den skizzierten landläufigen Vorstellungen wenigstens analytisch zu trennen, transportieren diese doch durchaus tradierte und medial vielfältig vermittelte Erfahrungselemente. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass das begriffliche Konstrukt der „Amerikanisierung“ hauptsächlich die pejorative Linie der Stigmatisierung beleuchtet, aber kaum die Ambivalenz von Ablehnung und positiver Faszination einschließt, die das Kennzeichen europäisch-amerikanischer Beziehungen – auch auf dem Feld der Kultur – in unterschiedlichen Mischungen und Konjunkturen gewesen war.16 II.

Ende des Zweiten Weltkriegs – Stunde der „Amerikanisierung“?

Die eigentliche Stunde der „Amerikanisierung“, so wird in der Regel betont, habe erst nach dem Zweiten Weltkrieg geschlagen. Eine mittlerweile gängige Erzählung der Geschichte des westlichen Teils Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg lautet, dass dieser in immer stärkerem Maße als sogar andere westliche Länder „amerikanisiert“ worden sei, nachdem die nationalistische Hybris eines deutschen Sonderwegs in der „deutschen Katastrophe“ ihr Ende gefunden habe. Diese Erzählung ist nicht falsch und bezieht ihre Eindrücklichkeit und Plausibilität ebenso aus den Erinnerungen von Zeitzeugen an die Nachkriegszeit und aus der literarischen Darstellung jener Jahre – etwa in Wolfgang Koeppens Roman Tau15

16

Vgl. aus der umfangreichen Literatur als neuere Beispiele Dan Diner: Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland. Ein historischer Essay, Frankfurt a.M. 1993; Gesine Schwan: Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945, BadenBaden 1999; einen Überblick bietet Philipp Gassert: „Amerikanismus, Antiamerikanismus, Amerikanisierung. Neue Literatur zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des amerikanischen Einflusses in Deutschland und Europa“. In: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 39 (1999), S. 531561. Vgl. den kursorischen Überblick von Karl-Heinz Füssl: Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert. Bildung – Wissenschaft – Politik, Frankfurt a.M./New York 2004.

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ben im Gras (1948) – wie aus aktuellen Phänomenen der Welt des „Business“, der Moden, der Kommunikation, die als Steigerung der „Amerikanisierung“ bis in die Gegenwart erscheinen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass die Geschichte kulturellen Transfers aus den USA nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus nicht widerspruchsfrei verlief und verschiedene Ebenen zu differenzieren sind. Die Geschichte der öffentlichen Wahrnehmung der USA und der politisch-kulturellen Amerika-Diskurse ist mittlerweile in ihren Grundzügen erforscht, aber damit ist die Frage des Grades der Eindringtiefe amerikanischer Einflüsse in die westdeutsche Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht geklärt. Ausgangspunkt ist das Jahr 1945 selbstverständlich insofern, als die USA seither zur unumstrittenen Führungsmacht der westlichen Welt wurden und direkten administrativen Einfluss auf die Entwicklung im Westen Deutschlands nehmen konnten.17 Die politische Option der deutschen Politiker für den Westen im Gründungsprozess der Bundesrepublik ist des Öfteren detailliert nachgezeichnet worden. Aber wie vor einer Vermengung des Unterschieds von öffentlichen Amerika-Diskursen und materieller Elemente amerikanischen Einflusses auf die westdeutsche Gesellschaft ist ebenso vor einer Gleichsetzung von realpolitischer Option und einem Wandel der Werthaltungen in der – auch demoskopisch ermittelten – Meinung der Bevölkerung zu warnen. Noch bis in die 1960er Jahre hinein war es in bundesdeutschen Zeitschriften für das Bildungsbürgertum und in einschlägigen Feuilletons18 selbstverständlich, das wirtschaftliche, politische und militärische Bünd17

18

Vgl. U.a. Hermann-Josef Rupieper: Der besetzte Verbündete. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1949-1955, Opladen 1991; Jeffry M. Diefendorff u.a. (Hg.): American Policy and the Reconstruction of West Germany 1945-1955, Washington D.C. 1993. Vgl. Marcus M. Payk: „Der ‚Amerikakomplex‘. ‚Massendemokratie‘ und Kulturkritik am Beispiel von Karl Korn und dem Feuilleton der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ in den fünfziger Jahren“. In: Arnd Bauerkämper u.a. (Hg.): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschland 1945-1970, Göttingen 2005, S. 190217; Gudrun Kruip: Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags. Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen, München 1999; zur allmählichen Liberalisierung und Pluralisierung der westdeutschen Medienöffentlichkeit vgl. Daniela Münkel: Willy Brandt und die „vierte Gewalt“. Politik und Massenmedien in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt a.M./New York 2005; Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006.

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nis mit dem Westen und eine enge Partnerschaft mit den USA zu bejahen, aber gleichzeitig die „Amerikanisierung“ als Aushöhlung humanistischer Kultur zu stigmatisieren.19 Weiterführend ist deshalb der Vorschlag, die gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse als „Amerikanisierung“ begrifflich vom Transfer westlicher, insbesondere amerikanischer Ideen zu unterscheiden, die als „Westernisierung“ (bzw. „Westernization“) zu kennzeichnen wären.20 Während nämlich die „Amerikanisierung“ im Fluss von warenförmigen Gütern einlinig von Westen nach Osten, von den USA nach Europa verlaufen ist und verläuft, wären bei den Ideen für das gesamte 20. Jahrhundert europäisch-amerikanische Kreisläufe, gegenseitige Beeinflussungen, Dialoge und Netzwerke zu berücksichtigen. Lediglich in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war der Transfer liberaler Ideen ebenso einlinig aus den USA nach Europa bzw. in die Bundesrepublik erfolgt wie der Import amerikanischer Konsumgüter und Massenkultur, so dass sich eine Gleichsetzung von „Amerikanisierung“ und „Westernisierung“ – nicht nur als historische Spezifik, sondern eben als prinzipieller Trend der Moderne – suggestiv aufgedrängt hat. Erst die notwendige analytische Trennung, so lässt sich folgern, öffnet dann wieder den Blick auf Zusammenhänge zwischen amerikanischen Einflüssen auf die Gesellschaft und dem Transfer liberalen Gedankenguts aus den USA sowie dessen „transatlantische Mittler“21 in der Frühzeit der Bundesrepublik. Aber auch die methodischen Fragen für die Untersuchung der „Amerikanisierung“ in diesem engeren Sinne sind schwer zu lösen. 19

20 21

Vgl. Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999; Philipp Gassert: „Die Bundesrepublik, Europa und der Westen. Zu Verwestlichung, Demokratisierung und einigen komparatistischen Defiziten der zeithistorischen Forschung“. In: Jörg Baberowski u.a.: Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, München 2001, S. 67-89; Wilfried Mausbach: „Erdachte Welten. Deutschland und der Westen in den 1950er Jahren“. In: Manfred Berg/Philipp Gassert (Hg.): Deutschland und die USA in der internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Detlef Junker, Stuttgart 2004, S. 423-448; zum säkularen Kontext vgl. Axel Schildt: „Westlich, demokratisch. Deutschland und die westlichen Demokratien im 20. Jahrhundert“. In: Anselm Doering-Manteuffel (Hg.): Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhundert, München 2006, S. 225-239. Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Siehe den Untertitel von Bauerkämper u.a.: Demokratiewunder, a.a.O.

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Zum einen wären verschiedene Bereiche zu unterscheiden, so etwa – ganz wesentlich – der wirtschaftliche und der Bereich der Massenkultur. Zum anderen müsste dabei jeweils das Mischungsverhältnis von US-Import, amerikanischem Einfluss auf einheimische Produkte und Verhaltensmuster, von Nachahmung oder Parallelentwicklung beachtet werden. Kultureller Transfer gelingt immer nur soweit, wie er sich den nationalen Gegebenheiten anzupassen vermag. Und hier müsste sehr genau hinsichtlich gesellschaftlicher Gruppen, Regionen und Zeiträume unterschieden werden. Jugendliche „Halbstarke“, die sich Mitte der 1950er Jahre für Bill Haley erwärmten, und ältere Studienräte an Humanistischen Gymnasien werden von amerikanischen Konsumgütern und Leitbildern unterschiedlich angesprochen worden sein. Und es markierte sicherlich eine tiefe Differenz, ob jemand im Rhein-Main-Gebiet, in der Pfalz oder einigen anderen Regionen in der Nähe einer US-Garnison aufwuchs oder aber in einem schleswig-holsteinischen Dorf, wo man in den Nachkriegsjahren keinen Amerikaner jemals zu Gesicht bekam. Schließlich ist zu fragen, ob die Annahme einer fortschreitend immer intensiveren „Amerikanisierung“ einer näheren Überprüfung standhält. III. Zwei zeitliche Phasen amerikanischen Einflusses Es erscheint deshalb zunächst sinnvoll, zwei zeitliche Phasen des amerikanischen Einflusses zu unterscheiden. Die Rahmenbedingungen für amerikanische Einflüsse auf Deutschland hatten sich 1945 grundlegend verändert, waren die USA doch nicht nur eine der Siegermächte, die übereingekommen waren, Deutschland in den Kreis der „Völkerfamilie“ zurückzuführen, sondern im Zuge der Entwicklung des Kalten Krieges wuchsen die USA im westlichen Teil Deutschlands sehr rasch auch in die Rolle der konzeptionell richtungsweisenden Siegermacht hinein. Für die Betrachtung der Besatzungszeit empfiehlt sich die erwähnte analytische Trennung von „Westernization“, dem Transfer vornehmlich amerikanischer liberaler Ideen, und einer „Amerikanisierung von unten“ (Kaspar Maase) in alltagsgeschichtlicher Perspektive. Die Bemühungen zur reeducation zielten zunächst auf die Veränderung von Werthaltungen und Einstellungen. Die Basis für eine durchgreifende „Entnazifizierung“, „Entmilitarisierung“ und „Demokratisierung“ sollte vor allem durch eine personelle Säuberung – Grundlage

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waren in der US-Zone bereits in der Kriegszeit erstellte „weiße“, „graue“ und „schwarze Listen“ – geschaffen werden. Neben dem Bildungsbereich und der Jugendpolitik erhielten dabei die Massenmedien die höchste Aufmerksamkeit, wussten die Planer doch schon aus der Anschauung der amerikanischen Gesellschaft um die wachsende Rolle der massenmedialen Öffentlichkeit für die politische Meinungsbildung.22 Wichtige überregionale Zeitungen, vor allem die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Rundschau, konzipiert als pluralistische Organe, die sich auch in der späteren Bundesrepublik auf dem Markt behaupten konnten, verdankten ihre Existenz einer amerikanischen Lizenz. Allerdings achtete die amerikanische Besatzungsmacht sehr darauf, nicht etwa durch Angehörige des deutschen Exils in den USA demonstrativ eine dominante Gegenelite zu installieren23, und auch bei der Formulierung des Grundgesetzes gab es kein amerikanisches Diktat, sondern ein kompliziertes Gemenge deutscher Traditionen und amerikanischer Anregungen.24 Mit dem Heraufziehen des Kalten Krieges verschob sich das Spektrum des Pluralistischen bekanntlich. Nicht nur kommunistische Herausgeber von Zeitungen oder Redakteure in Rundfunksendern wurden entfernt, auch einige nonkonformistische Intellektuelle, etwa in der Redaktion der Zeitschrift Der Ruf, bekamen Schwierigkeiten. Darüber hinaus aber wäre noch näher zu erkunden, in welchem Ausmaß die Massenmedien in der US-Zone überhaupt Leitbilder des amerikanischen Liberalismus vermittelten und wie sie sich mit dem Bild deutscher Demokratietradition verschränkten. Dies ist hinsichtlich der amerikanischen Einflüsse auf die westdeutsche Staatsgründung seit geraumer Zeit thematisiert, kaum hingegen für das weitere Feld der politischen Öffentlichkeit untersucht worden. Jedenfalls ist es interessant, dass eine nähere Analyse der Tätigkeit der Amerikahäuser als einem wichtigen Ins22 23 24

Jessica C.E. Gienow-Hecht: Transmission Impossible. American Journalism as Cultural Diplomacy in Postwar Germany, 1945-1955, Baton Rouge 1999. Vgl. verschiedene Beiträge in: Claus Krohn/Axel Schildt (Hg.): Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit, Hamburg 2002. Claus Krohn/Martin Schumacher (Hg.): Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, Düsseldorf 2000; Edmund Spevack: Allied Control and German Freedom. American political and ideological influences on the framing of the West German Basic Law (Grundgesetz), Münster 2001.

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trument der „amerikanischen Kulturoffensive“ zeigt, in welch starkem Maße sich die US-Behörden bemühten, neben der Vermittlung amerikanischer Hochkultur deutsche Traditionslinien in die Programmgestaltung einzubeziehen, um überhaupt Resonanz beim Publikum zu erzielen.25 Um 1951, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, erreichte das Netz der Amerikahäuser und DeutschAmerikanischen Institute seine größte Ausdehnung, die nun auch über die US-Zone hinausreichte. Etwa fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung in den deutschen Städten, in denen es solche Einrichtungen gab, zählten nach amerikanischen Erhebungen durchschnittlich zum Besucherkreis. Der Transfer von amerikanischen Ideen basierte nach 1945 in starkem Maße auf der materiellen Präsenz der USA im westlichen Teil Deutschlands selbst. Immer wieder ist beschrieben worden, wie fasziniert die deutsche Bevölkerung, nicht zuletzt die Kinder und Jugendlichen, von der Wohlgenährtheit der einrückenden USTruppen, ihrer technisch überlegenen Ausrüstung, ihren mitgeführten Nahrungsmitteln und ihrer souveränen Lässigkeit war. Abgesehen davon, dass selbst in der US-Zone nur ein kleinerer Teil der deutschen Bevölkerung unmittelbaren Kontakt mit amerikanischen Militärangehörigen hatte, ist allerdings nicht ausgemacht, ob jene Gefühle nur positiver Natur waren – zu denken ist etwa an rassistische Dünkel gegenüber farbigen GIs – und wie lange die Faszination anhielt.26 Eine legendäre Wirkung entfalteten in der Nachkriegszeit angesichts von Hunger und Armut jedenfalls die CARE-Pakete privater amerikanischer Hilfsorganisationen. Ihr Inhalt, vor allem Genussmittel wie Schokolade, Kaffee und Zigaretten, wurden im Rückblick zum Inbegriff des wunderbaren amerikanischen Konsumangebots, obwohl rechnerisch nicht einmal jeder zehnte deutsche Haushalt jemals ein solches Paket erhielt.27 Die 1947/48 einsetzende amerikanische Unterstützung in Form des European Recovery Programme (ERP), meist als „Marshall-Plan“ 25 26 27

Maritta Hein-Kremer: Die amerikanische Kulturoffensive. Gründung und Entwicklung der amerikanischen Information Centers in Westdeutschland und West-Berlin 1945-1955, Köln u.a. 1996. Vgl. Maria Höhn: GIs and Fräuleins. The German-American Encounter in 1950s West Germany, Chapel Hill 2002. Karl-Ludwig Sommer: Humanitäre Auslandshilfe als Brücke zu atlantischer Partnerschaft. CARE, CRALOG und die Entwicklung der deutschamerikanischen Beziehungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs, Bremen 1999.

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bezeichnet, demonstrierte dann im großen Maßstab den engen Zusammenhang von wirtschaftlicher Hilfe, politischer Symbolik – hier sei nur die von „Rosinenbombern“ beflogene „Luftbrücke“ nach Berlin erwähnt – und kultureller Einflussnahme. Im Wiederaufbaugeschehen verdichtete sich dieser Zusammenhang, wenn etwa die mit ERP-Mitteln geförderte Errichtung von Modellsiedlungen begleitet wurde von viel beachteten Ausstellungen amerikanischer Küchentechnik. In Architekturdebatten, aber auch in Diskursen über die Bildende Kunst, wurde die Moderne in den frühen 1950er Jahren häufig mit Amerika bzw. den USA identifiziert.28 Die Wertschätzung amerikanischer Kultur-Leitbilder konzentrierte sich auf einen zwar einflussreichen Teil der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit, der aber nicht die Mehrheit ausmachte. Es waren vor allem jüngere Vertreter der Funktionseliten, darunter Politiker, Kommunalbeamte, Journalisten, Richter, Gewerkschafter, Geistliche, Funktionärinnen von Frauenorganisationen, die im Rahmen großzügiger mehrwöchiger oder mehrmonatiger Besuchsprogramme die USA kennen lernten, etwa 10.000 Personen zwischen 1948 und 1953. Im gleichen Zeitraum erlebte auch das von amerikanischen Stellen lebhaft geförderte Intellektuellen-Netzwerk um den „Kongreß für Kulturelle Freiheit“ und die Zeitschrift Der Monat seinen öffentlichkeitswirksamen Höhepunkt. Hier versammelten sich – neben wichtigen Repräsentanten der nichtkommunistischen Linken innerhalb und außerhalb der Sozialdemokraten und Liberalen mit USA-Erfahrungen bereits aus der Zeit des Exils nach 1933 – jüngere Publizisten und Wissenschaftler, die nationalistische Dünkel überwinden und liberale westliche Ideen aufnehmen wollten. Man wird die Prägekraft und die mit dem Generationenwechsel am Ende des westdeutschen Wiederaufbaus steigende Bedeutung solcher Netzwerke nicht unterschätzen dürfen, aber eine generelle Bilanz des amerikanischen Einflusses gegen Ende des ersten Nachkriegsjahrzehnts wird doch eher zwiespältig ausfallen. Dieser Eindruck beherrschte auch die amerikanischen Stellen, die mit zahlreichen demoskopischen Erhebungen seit dem Kriegsende die Einstellung der Bevölkerung sehr genau registriert hatten. Die 28

Walter L. Hixson: Parting the Curtain. Propaganda, Culture and the Cold War, 1945-1961, New York 1998; vgl. dazu die Druckfassung meines Vortrags auf dem Historikertag in Konstanz: „Amerikanische Einflüsse auf den Wiederaufbau westeuropäischer Städte nach dem Zweiten Weltkrieg“. In: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (IMS), H. 1 (2007), S. 48-62.

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Deutschen waren zwar den Besatzungsangehörigen gegenüber durchweg freundlich gestimmt, revidierten aber nicht ihr Bild von Amerika als zivilisatorisch führender und zugleich kulturell tief stehender Nation. Und die parlamentarische Demokratie begegnete noch längere Zeit weitgehendem Desinteresse oder sogar Misstrauen als oktroyierter Verfassung. Der Blick zurück bestimmte mehrheitlich die Wunschbilder der Bevölkerung, Monarchismus und deutschnationale Symbole standen hoch im Kurs. Die Deutschen mochten sich nach der Kriegswende von Stalingrad allmählich vom NS-Regime abgewandt haben, das sich als Versager erwiesen hatte, aber dies tangierte nicht tiefer liegende Mentalitätsmuster, die sich erst im Generationenwechsel und vor dem Hintergrund des andauernden „Wirtschaftswunders“ allmählich veränderten. In den frühen 1950er Jahren war das Scheitern der amerikanischen Reformbemühungen im Bildungswesen zu konstatieren, und es dominierte gerade in den Feldern der Kultur und Öffentlichkeit wieder jene Mehrheit, die nach einer meist kurzen Unterbrechung an ihre Karriere der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen vermochte. Die Namen in den „schwarzen“ und „grauen Listen“ der amerikanischen Besatzungsmacht über jene, die keinen oder keinen erheblichen Einfluss mehr erlangen sollten, lesen sich geradezu wie das „Who’s Who“ der publizistischen Meinungsträger der frühen 1950er Jahre. Allerdings hatte sich auch die amerikanische Sicht zwischenzeitlich verändert. Die US-Regierung war zum einen zufrieden, dass sich die Bundesrepublik stabilisierte, so dass eine Einschränkung der Kosten für die politisch-kulturelle Arbeit möglich schien. Zudem gerieten die linksliberalen vormaligen Protagonisten der reorientation nun – für kurze Zeit – in das Visier der hysterischen „Kommunistenjäger“ der McCarthy-Ausschüsse. Ein spektakuläres Beispiel: Im Frühjahr 1953 wurden die Bibliotheken der deutschen Amerika-Häuser inspiziert, wobei angeblich 30.000 kommunistische Schriften aufgefunden worden seien – ein groteskes Fehlurteil. Mitte der 1950er Jahre zeigte sich ein ambivalentes Bild. Zum Teil schien der amerikanische Einfluss in mancher Hinsicht zurückzugehen, in manchen Bereichen stieg er nach Wahrnehmung der Zeitgenossen an. Die Besucherprogramme für westdeutsche Funktionseliten liefen allmählich aus, etliche Amerikahäuser wurden geschlossen, und deren Service – etwa englischer Sprachunterricht – wurde nicht selten von lokalen Volkshochschulen übernommen; von amerikanischer Seite betreute Jugendzentren gingen

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in die Hände deutscher Stellen über, mancherorts mit einer Rückkehr zu autoritärer Reglementierung verbunden – „Gesellschaftstanz“ zu amerikanischen Platten wurde dort untersagt, deutsche Volksmusik erhielt zum Unwillen vieler Jugendlicher wieder das Monopol; die von den Rundfunkstationen der ehemaligen USZone zwangsweise auszustrahlenden Propagandasendungen von Voice of America, beim deutschen Publikum besonders unbeliebte so genannte „Auflagensendungen“, liefen bis zum Ende der 1950er Jahre aus. Ein neues deutsches Selbstbewusstsein legten auch manche Soziologen, etwa Helmut Schelsky, an den Tag, die darauf hinwiesen, dass Begriffe wie human relations und public relations im Kern Konzepte kennzeichneten, die deutschen Unternehmern schon in der Zwischenkriegszeit geläufig gewesen seien. Gerade die Entwicklung der Wirtschaft zeigt eben, dass man am Phänomen der „Amerikanisierung“ vorbeizielen würde, wenn man einzelne Sektoren und Momente getrennt betrachten würde, denn je nach Perspektive der Betrachtung käme man zu konträren Aussagen. So verfünffachte sich die Höhe des in der Bundesrepublik investierten US-Kapitals im Laufe der 1950er Jahre, und die Zahl der US-Firmen verachtfachte sich von 1954 bis 1968 auf ca. 420, davon zwei Drittel im Rhein-Main-Gebiet. Aber zugleich halbierte sich der Anteil der US-Importe am gesamten Import von 1950 bis zur Mitte der 1970er Jahre auf ca. 8 Prozent. Wer in der „Wirtschaftswunder“-Konjunktur der Bundesrepublik erfolgreich verkaufen wollte, musste die Erzeugnisse häufig als deutsche (und das hieß solide und langlebig) erscheinen lassen und auf deutsche Art (und das hieß eher sachlich als witzig) dafür werben. Dies passte zur Mentalität des bürgerlich-kleinbürgerlichen Rückbezugs auf das Gehabte und wieder zu Erreichende, und zeitgenössische Experten unterschieden noch sehr lange strikt zwischen deutschen bzw. westeuropäischen und amerikanischen Konsummustern. Die Organisation der Werbekampagnen für deutsche Waren selbst bzw. ihre Weiterentwicklung in Richtung von Marketing-Strategien erhielt aber wiederum wichtige Anregungen aus den USA.29 Ähnliche Beobachtungen sind auch hinsichtlich der politi29

Harm Schröter: „Die Amerikanisierung der Werbung in der Bundesrepublik Deutschland“. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1997) H. 1, S: 93-115; Clemens Zimmermann: „Marktanalysen und Werbeforschung der frühen Bundesrepublik: Deutsche Traditionen und US-amerikanische Einflüsse, 1950-1965“. In: Berg/Gassert: Deutschland und die USA in der internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts, a.a.O., S. 473-491; zu län-

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schen Kultur bereits festgestellt worden. In den Wahlkämpfen der 1950er Jahre überwogen im medialen Stil Momente deutscher Tradition, aber zugleich bemühten sich die Parteien, die Strategien der Präsidentschaftswahlen in den USA genau zu studieren, den Einsatz der Meinungsforschung ebenso wie Formen der politischen Werbung.30 Der entscheidende Schub, der dem amerikanischen Einfluss Massenpopularität verlieh, vollzog sich mit dem Übergang von der kargen Nachkriegsgesellschaft des Wiederaufbaus zur prosperierenden Konsumgesellschaft seit dem letzten Drittel der 1950er Jahre. Während die erste Welle einer Westernisierung bzw. Amerikanisierung „von oben“ noch versandet und an der Mauer deutscher Traditionen gebrochen worden war, wenngleich eine subkutane Wirkung auf viele jüngere Intellektuelle später erhebliche Folgen zeitigte, unterspülte diese zweite Welle einer massenkulturellen Amerikanisierung „von unten“ alle publizistischen Widerstandsversuche, ob aus kirchlich-konservativem oder sozialistischem Antrieb. Umstritten bleibt allerdings nach wie vor, inwiefern die Übernahme von Elementen der Lebensweise der weißen Mittelschichten der amerikanischen Ostküste – hinsichtlich der Wohnstile im Grünen, der Massenmotorisierung, des Fernsehkonsums – in erster Linie als „Amerikanisierung“ oder als Modernisierung zu deuten ist, die vor allem aus eigenen gesellschaftlichen Antriebskräften gespeist wurde.31 Zu bedenken ist auch, dass die USA inzwischen näher gerückt waren. Die Zunahme von touristischen Möglichkeiten ließ Erzählungen von Amerika als gänzlich anderer Welt im gleichen Ausmaß verblassen, in dem sich der Strom massenkultureller Güter erweiterte. Vorbote dieser massenkulturellen Welle bildete die Halbstarken-Rebellion in der Mitte der 1950er Jahre. Sie erfasste zwar direkt nur eine kleine Minderheit von männlichen Arbeiterjugendli-

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geren Linien vgl. Susann Strasser/Charles Mc Govern/Matthias Judt (Hg.): Getting and Spending. European and American Consumer Societies in the 20th Century, Cambridge 1998. Vgl. Thomas Mergel: „Der mediale Stil der ‚Sachlichkeit‘. Die gebremste Amerikanisierung des Wahlkampfs in der alten Bundesrepublik“. In: Bernd Weisbrod (Hg.): Die Politik der Öffentlichkeit – Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003, S. 29-54. Erica Carter: How German Is She? Postwar West German Reconstruction and the Consuming Woman, Ann Arbor 1997.

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chen der Großstädte, wurde aber als Seismograph für kommende Entwicklungen empfunden. Die damit einhergehende Vorliebe für Produkte aus den USA – von den Jeans bis zu Hollywood-Filmen mit James Dean und vor allem die Begeisterung für den Rock‘n‘Roll und dessen Heroen Bill Haley und Elvis Presley – verbreitete sich sehr rasch und führte zu einer Vielzahl besorgter Zeitungsartikel. Die zivile Lässigkeit und demonstrative Vulgarität in Kleidung, Umgangsstil und Musik provozierten Eltern, Jugendpfleger, Lehrer und Geistliche, während sich die Unterhaltungsindustrie zum Bündnispartner und Sprecher jugendlicher Sehnsüchte nach kultureller Selbstbestimmung machte, etwa in der überaus erfolgreichen Zeitschrift Bravo, die schon Anfang der 1960er Jahre von einem jungen Millionenpublikum gelesen wurde. Unter den Teenagern wurde zu dieser Zeit „Amerika“ weithin als Chiffre für größere Freiräume und Liberalität verstanden.32 Die Massenmedien sind generell als Einfallstor für amerikanische Einflüsse zu beachten.33 Schon in den 1950er Jahren galt z.B. das Nachrichtenmagazin Der Spiegel als Trendsetter für die „Amerikanisierung“ der Sprache, und in der 15. Auflage des Duden (1961) fanden sich zahlreiche neue Anglizismen und Amerikanismen, z.B. „Comics“, „Fan“, Hobby“, „Job“, „o.k.“ oder „Quiz“. Ein entscheidender Faktor für die amerikanische Einflussnahme war in diesem Zusammenhang die rasante Verbreitung des Fernsehens, das Anfang der 1960er Jahre in einem Viertel, zehn Jahre später dagegen schon in drei Vierteln aller Haushalte vorhanden war. Allerdings muss unterschieden werden zwischen direkten Programmimporten aus den USA, die sich um 1960 noch auf wenige Vorabendserien beschränkten, und einer „indirekten Amerikanisierung“ als Orientierung an populären Mustern der Unterhaltung.34 Dabei entsteht wiederum das Problem, amerikanische Einflüsse und deutsche Traditionen, die in die Zwischenkriegszeit zurückreichen, in ihrer Gewichtung zu bewerten. Und dieses Problem gilt

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Kaspar Maase: BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur in der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992; nachdrücklich hinzuweisen ist jetzt auf die perspektivreiche zeitgeschichtliche Habilitationsschrift von Detlef Siegfried: Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006. Vgl. zum Folgenden Schildt: Moderne Zeiten, a.a.O., S. 398ff. Irmela Schneider: Amerikanische Einstellung. Deutsches Fernsehen und US-amerikanische Produktionen, Heidelberg 1992.

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für zahlreiche massenkulturelle Phänomene, vom Camping bis zum Design technischer Gebrauchsgüter. Der Wirkungszusammenhang von neuer Konsumgesellschaft, Herausbildung einer jugendlichen Teilkultur und Ausbreitung der Massenmedien ließ in den 1960er Jahren verschiedene Varianten amerikanischen Einflusses ineinander übergehen: Sie drückten sich aus in der generellen Aufwertung der Massenkultur gegenüber der traditionellen Hochkultur, in einer Auffassung vom American Way of Life als umfassender Lebenserleichterung und Luxus für alle und in einer demonstrativen Herausstellung amerikanischer Güter, die Prestige verhießen – zu illustrieren etwa mit der populären Hollywood-Schaukel auf der Bungalow-Terrasse. Es war kein Zufall, dass das Kanzleramt für den „atlantisch“ argumentierenden „Volkskanzler“ Ludwig Erhard 1964 im Bungalow-Stil errichtet wurde. Die Implantierung von mehr und mehr amerikanischen Elementen in die konsumistische Praxis der Bevölkerung vollzog sich zunächst in einem Zeitraum, als allgemein das Ansehen der USA – ausweislich demoskopischer Erhebungen – anstieg. Die vom amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy nach der Kuba-Krise angeregte Flexibilisierung der NATO-Strategie inspirierte die Befürworter einer Entspannungspolitik in der Bundesrepublik, in den Debatten um eine deutsche „Bildungskatastrophe“ (Georg Picht) galten die amerikanischen Comprehensive Schools weithin als anzustrebendes Vorbild einer Schulreform. Umso größer war die Irritation, die durch den Vietnamkrieg bewirkt wurde. Die Kritik an der amerikanischen Politik wurde vor allem durch Bilder und Kommentare des Fernsehens transportiert, handelte es sich doch um den ersten telemedialen Krieg. Dies hatte insofern eine ironische Note, als gerade das neue Medium als Einfallstor für die „Amerikanisierung“ fungierte. In diesem Zusammenhang wäre die immer wieder kolportierte These zu diskutieren, dass die westdeutsche Jugend- und Studentenbewegung antiamerikanisch gewesen sei. Zwar wird man in der antiautoritären Revolte von 1968 ideologische Anklänge an Traditionen des Antiamerikanismus entdecken können, aber prägend war gerade das Spannungsverhältnis von Faszination durch amerikanische – und in den 1960er Jahren noch mehr britische – Massenkultur und Agitation gegen ein establishment, gegen das man sich im Generationenkampf auch mit der amerikanischen Jugend vereint sah.

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Während der politische Antiamerikanismus der Protestbewegung der 1960er Jahre eine Episode bildete, erreichte der Stand amerikanischen massenkulturellen Einflusses an der Schwelle zu den 1970er Jahren eine neue Qualität. US-Produkte, die zuvor als Instrument im symbolischen Kampf der Generationen gedient hatten wie z.B. blue jeans und rock music, waren seither keine Sache der Jugend mehr, sondern wurden zu selbstverständlichen Konsumgütern für breite Teile der Bevölkerung. Die auf dieser Grundlage erfolgende weitere Entfaltung amerikanischer Einflüsse ist bisher allerdings noch nicht in den Horizont zeitgeschichtlicher Betrachtung gerückt worden, so dass auch die Frage offen bleibt, inwiefern, in welchem Ausmaß und von wem diese überhaupt noch als „Amerikanisierung“ wahrgenommen werden. Literatur Berghahn, Volker: The Americanization of West German Industry, 1945-1973, New York 1986. Berghahn, Volker: „Deutschland im ‚American Century‘ 19421992. Einige Argumente zur Amerikanisierungsfrage“. In: Matthias Frese/Michael Prinz (Hg.): Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 789-800. Betts, Paul: The Authority of Everyday Objects. A Cultural History of West German Industrial Design, Berkeley u.a. 2004. Bude, Heinz/Bernd Greiner (Hrsg.): Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999. Carter, Erica: How German Is She? Postwar West German Reconstruction and the Consuming Woman, Ann Arbor 1997. Castillo, Greg: „Domesticating the Cold War: Household Consumption as Propaganda in Marshall Plan Germany“. In: Journal of Contemporary History, Bd. 40 (2005), S. 261-288. Collein, Edmund: „Die Amerikanisierung des Stadtbildes von Frankfurt“. In: Deutsche Architektur (DDR), Jg. 1 (1952), S. 101-115. Diefendorff, Jeffry M. u.a. (Hg.): American Policy and the Reconstruction of West Germany 1945-1955, Washington D.C. 1993. Diner, Dan: Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland. Ein historischer Essay, Frankfurt a.M. 1993.

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„SWING, FILM, HEMINGWAY, POLITIK: STINKT MICH AN.“ DIE NEUPOSITIONIERUNG DER WESTDEUTSCHEN LITERATUR ZWISCHEN 1945 UND 1960

Sabine Kyora (Oldenburg) „Swing, Film, Hemingway, Politik: stinkt mich an“: Der Ich-Erzähler in Arno Schmidts 1951 erschienener Erzählung Brand’s Haide ist es, der sich hier dezidiert gegen Tendenzen der westdeutschen Gegenwartskultur äußert, Tendenzen, von denen man zumindest zwei, nämlich Hemingway und Swing, auch unter dem Stichwort „Amerikanisierung“ verbuchen könnte. Gegenübergestellt wird diesen Tendenzen die Kontinuität der deutschen literarischen, philosophischen und musikalischen Tradition: „Als junger Mensch: 16 war ich, bin ich aus Euerm Verein ausgetreten. Was Euch langweilig ist: Schopenhauer, Wieland, das Campanerthal, Orpheus: ist mir selbstverständliches Glück; was Euch rasend interessiert: Swing, Film, Hemingway, Politik: stinkt mich an.“1 Da der Leser weiß, dass der Ich-Erzähler zum Zeitpunkt der Geschichte – sie spielt 1946 – 32 Jahre ist, bedeutet das, dass der Austritt aus der Gegenwartskultur 1930 stattfand. Man könnte nun aus der Äußerung des Schmidt’schen IchErzählers ein Fortwirken kulturkritischer Stereotype aus der Weimarer Republik in der BRD der 1950er Jahre konstatieren. In der Weimarer Republik wurde unter dem Stichwort „Amerikanismus“ die „städtisch-industrielle Massenkultur, welche mit Film und Unterhaltung neue Wertvorstellungen und andere Maßstäbe des Sozialverhaltens anbot“, verknüpft und meist abgelehnt.2 Diesen semantischen Gebrauch des Terminus greift der Ich-Erzähler dann hier in seiner Distanznahme zum amerikanischen Kulturimport ak1 2

Arno Schmidt: „Brand’s Haide“. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe, Bd. I/1, Zürich 1987, S.116-199, hier S. 165. Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 30.

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tualisierend auf und stellt der amerikanischen Populärkultur die deutsche kulturelle Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts gegenüber. Allerdings geht die Kulturkritik des Ich-Erzählers in dieser relativen groben Einordnung nicht ohne Weiteres auf: Der amerikanische Schriftsteller James Fenimore Cooper wird als großer Mann gefeiert, die oben zitierten Werke und Autoren entsprechen nicht dem bildungsbürgerlichen Kanon, von dem aus üblicherweise gegen die Verflachung der Kultur durch amerikanische Einflüsse polemisiert wird. Schließlich muss man wohl auch wegen des Zeitpunktes des „Austrittes“ aus der Gegenwartskultur hellhörig werden, behauptet der Ich-Erzähler doch, er sei von der nationalsozialistischen Herrschaft zumindest im Bereich der Kultur nicht berührt worden, zudem hätte ihn die „Politik“ nicht interessiert. Darüber hinaus verweist die auffallende Erwähnung von Hemingway – der einzige Name, der auf der „Gegenseite“ genannt wird – auch auf eine Gegenposition zur in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren neu entstehenden westdeutschen Literatur der so genannten „jungen Generation“, die sich auf Hemingway als Vorbild berief. Schmidts Ich-Erzähler ist also ein gutes Beispiel für das komplizierte Ineinander von Kontinuität und Neupositionierung der westdeutschen Literatur nach 1945. Um diese Melange aus Neuanfang und Anknüpfung an bestimmte literarische Traditionen nachzuzeichnen, wird es zunächst um die Programmatik unterschiedlicher literarischer Gruppen gehen; im zweiten Teil wird dieselbe Frage auf literarische Texte bezogen, die zwischen 1945 und 1960 entstanden sind. I.

„Deutsche Literatur in der Entscheidung“: Literarische Programmatik zwischen 1945 und 1960

Bis zur Mitte der 1950er Jahre ist der Literaturbetrieb in Westdeutschland geprägt durch die Kontinuität von Personen und Themen aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Weimarer Republik, bei den Schriftstellern geben die Vertreter der „inneren Emigration“ den Ton an, Emigranten sind im literarischen Feld meist nur als Randfiguren repräsentiert. Gegen diesen dominanten literarischen Trend der Kontinuität werde ich im Folgenden nur jenen sehr kleinen Bereich innerhalb der westdeutschen Nachkriegsliteratur betrachten, in dem eine programmatische Neuorientierung vor-

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Die Neupositionierung der westdeutschen Literatur zwischen 1945 und 1960

angetrieben wurde und in dem sich auch in den literarischen Formen erste Neuansätze zeigen.3 Herauszugreifen ist hier sicher die lose Versammlung von Autoren rund um die Zeitschrift Der Ruf und die Gruppe 47. Sieht man sich deren Auseinandersetzung mit der Literatur der Weimarer Republik, der inneren Emigration und der westlichen, vor allem englischsprachigen und französischen Literatur an, so kann man hier durchaus erste Ansätze erkennen, eine westdeutsche, nach 1949 BRD-spezifische Nationalliteratur zu begründen. Zwei Konstruktionen sind in den ersten Nachkriegsjahren für diese Ansätze notwendig: Die eine ist die Vorstellung von einer „jungen Generation“, die nun erst in die Öffentlichkeit tritt, und die andere die Konstruktion des „Nullpunktes“, von dem aus der literarische Neuanfang möglich ist. Das Schlagwort von der „jungen Generation“ meint die Generation derjenigen, die unter dem Nationalsozialismus zu jung waren, um bereits zu veröffentlichen. So schreibt etwa Hans Werner Richter 1946 im Ruf im Namen der „jungen Generation“, die bisher geschwiegen hat. Man kann hier von einer Konstruktion dieser Gruppe sprechen, weil sie nach dem Verständnis der Beteiligten nicht etwa nur die Autoren umfasste, die ab etwa 1920 geboren worden waren, sondern auch Richter, Jahrgang 1908, und z.B. Günter Eich, Jahrgang 1907, der zudem während des NSRegimes veröffentlich hatte. Richter bezeichnet diese Generation der 20- bis 40-jährigen als „verlorene Generation“4 in Anlehnung an die „lost generation“, also an jene US-amerikanischen Autorinnen und Autoren, die sich in der Zwischenkriegszeit in Paris aufgehalten haben – diese Parallelisierung bringt einerseits etwas auf den Punkt, was sich in autobiographischen Äußerungen dieser Jahrgänge durchaus wieder finden lässt, das Gefühl, vor allem durch den Krieg Lebens- und kreative Arbeitszeit ebenso verloren zu haben wie die Möglichkeit, öffentlich gehört zu werden. Gleichzeitig verdeckt die Analogie, die Richter hier etabliert, pauschal alle Beteiligung am NS-Regime und erklärt auch etwaige Veröffentlichungen für irrelevant. Die Anlehnung an die US-amerikanische Bezeich3 4

Karl Esselborn: „Neubeginn als Programm“. In: Ludwig Fischer (Hg.): Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München 1986, S. 230-243, hier S. 230f. Hans Werner Richter: „Warum schweigt die junge Generation?“ In: Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift, hg. v. Hans Schwab-Felisch. München 1962, S. 29-33, hier S. 31 (im Original: Der Ruf, H. 2, Sept. 1946).

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nung bedeutet also weniger eine Öffnung und Einordnung der deutschen Kultur in den westlichen Zusammenhang als den Versuch, eine Generation zu konstruieren, die zwar kriegstraumatisiert ist, aber ohne Verantwortung für die NS-Verbrechen neu anfangen kann.5 Der Behauptung, die neue deutsche Literatur entstehe durch einen Generationswechsel, korrespondiert die Vorstellung des Nullpunkts, von dem aus jetzt nahezu voraussetzungslos mit dem literarischen Neuanfang begonnen werden kann. Alfred Andersch (geb. 1914) trägt 1947 beim zweiten Treffen der Gruppe 47 einen programmatischen Text mit dem Titel „Die deutsche Literatur in der Entscheidung“ vor, in dem er davon spricht, dass „die junge Generation vor einer tabula rasa [steht], vor der Notwendigkeit, in einem originalen Schöpfungsakt eine Erneuerung des deutschen geistigen Lebens zu vollbringen.“6 Dass genau diese von Andersch beschworene Tabula-rasa-Situation nicht vorhanden, sondern eine Konstruktion war, macht schon sein eigener Text deutlich, der zu großen Teilen die seit 1918 entstandene deutsche Literatur sichtet, um das Zukunftsweisende vom „Veralteten“ zu trennen. So erklärt er nicht nur Thomas Mann zum „größten lebenden Autor deutscher Sprache“ und hält Brecht für zukunftsweisend7, sondern auch die innere Emigration pauschal für nicht faschistisch und damit durchaus für anknüpfungsfähig.8 Das Verhältnis zur so genannten inneren Emigration ist auch bei anderen Autoren rund um den Ruf und die entstehende Gruppe 47 widersprüchlich: Zwar fordert Gustav René Hocke (geb. 1908) schon 1946 die Abkehr von der „Kalli5

6

7 8

Vgl. Klaus Briegleb, der die Ausschlusskriterien der Gruppe 47 so benennt: Keine Nazis, keine „Alten“, keine Autoren der inneren Emigration und darauf aufmerksam macht, dass diese Kriterien benutzt werden, um die eigene Verwicklung in das NS-Regime und zum Teil auch die eigene Zugehörigkeit zur inneren Emigration zu verdecken. Vgl. Klaus Briegleb: „Die Gruppe 47 in den Jahren 1947-1951“. In: Stefan Bräse (Hg.): Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47, Berlin 1999, S. 35-63, hier S. 49f. Alfred Andersch: „Die deutsche Literatur in der Entscheidung (1947)“. In: Ders.: Essayistische Schriften. Bd. I, Zürich 2004, S. 187-218, hier S. 210; zu Andersch’ Essay siehe auch: Volker Christian Wehdeking: Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945-1948), Stuttgart 1971, S. 97 -104. Andersch: „Die deutsche Literatur in der Entscheidung (1947)“, a.a.O., S. 203 und S. 209. Ebenda, S. 191f.

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graphie“, das heißt für ihn, von der Konzentration auf die Innerlichkeit und die Formalismen, die seiner Meinung nach eine Auswirkung der Zensur unter dem NS-Regime waren9, und behauptet Richter, dass neue Literatur nur von Autoren zu erwarten ist, die während des „Dritten Reiches“ geschwiegen haben.10 Wolfgang Weyrauch (geb. 1907) aber, dessen Nachwort zu seiner ProsaAnthologie Tausend Gramm mit dem Titel „Kahlschlag“ gelegentlich als Synonym für die Literatur der ersten Nachkriegsjahre benutzt wird, sieht zwar die These des Neuanfangs gerechtfertigt, bei den Autoren, die er als Beispiel für diesen Neuanfang nennt, stehen allerdings unkommentiert Autoren, die bereits vor 1945 veröffentlicht haben, neben tatsächlichen „Newcomern“ wie Wolfdietrich Schnurre.11 Die entschiedene Absetzung von der Literatur der Weimarer Republik und der Literatur, die zwischen 1933 und 1945 entstanden ist, findet also nicht über die Personen statt – dann hätte man sich rigoros von Thomas Mann, Ernst Jünger, Erich Kästner und Bertolt Brecht, aber auch von Kolbenhoff und Kreuder als Vorbildern oder Mitstreitern trennen müssen –, sondern über den geforderten Stil, welcher der Tabula-rasa-Situation angemessen sein sollte. Denn an die Stelle der verbrauchten Schreibweisen soll nun – da sind sich alle einig – ein neuer Realismus treten. Dieser Realismus wird eingeordnet in die europäische und US-amerikanische Literaturgeschichte der Realismen: Heinrich Böll (geb. 1917) nennt 1952 Charles Dickens als den Urvater der „Trümmerliteratur“12, Andersch bezeichnet William Faulkner und Gustave Flaubert als vorbildliche Realisten, Henry Miller, Albert Camus, Ignanzio Silone und Arthur Koestler als Maßstäbe für die junge, deutsche Literatur.13 Für Siegfried Lenz (geb. 1926) ist Hemingway ein Vorbild.14 9 10 11 12 13 14

Gustav René Hocke: „Deutsche Kalligraphie oder: Glanz und Elend der modernen Literatur“. In: Der Ruf (1946) H. 7, S. 203-208. Richter: „Warum schweigt die junge Generation?“, a.a.O., S. 33. Wolfgang Weyrauch: „Kahlschlag. Nachwort zu Tausend Gramm (1949)“. In: Ders.: Mit dem Kopf durch die Wand, Darmstadt/Neuwied 1977, S. 45-53, hier S.48f. Heinrich Böll: „Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952)“. In: Ders.: Zur Verteidigung der Waschküchen. Schriften und Reden 1952-1959, München 1985, S. 27-31, hier S. 28. Andersch: „Die deutsche Literatur in der Entscheidung (1947)“, a.a.O., S. 205f. und S. 213. Siegfried Lenz: „Mein Vorbild Hemingway“. In: Ders: Beziehungen. Ansichten und Bekenntnisse zur Literatur, Hamburg 1970, S. 50-63.

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Die von Böll, Andersch und Lenz genannten Autoren können selbstverständlich nicht alle im selben Maße als Realisten bezeichnet werden, ihre Nennung zeigt aber den Versuch, die deutsche Nachkriegsliteratur in einen Kontext zu stellen, der sie aus der Isolation herausholt, in die sie durch den Nationalsozialismus geraten war. Gleichzeitig zeigt sich in dieser frühen Phase auch die Ablehnung der realistischen Konzepte aus der deutschen Zwischenkriegszeit zugunsten der internationalen Realismen. So spielt Andersch Faulkner gegen Arnold Zweig aus, den er zusammen mit Döblin, Heinrich Mann und Franz Werfel dem Verdikt „realistische[r] Tendenzkunst” unterwirft, welchem er dann wiederum sein eigenes Realismuskonzept gegenüberstellt: „Realistische Literatur ist Literatur aus Wahrheitsliebe; die Wahrheit aber spricht immer für sich, sie hat keine Tendenz und keine Predigt nötig.“15 Diesem Verständnis von Realismus liegt sicher die Angst vor ideologischen Verzerrungen zugrunde, wie sie als Kennzeichen der nationalsozialistischen Ideologie galten, gleichzeitig zeigt sich hier ein Konzept, das zu einem spezifisch westdeutschen werden sollte. Trotz Anderschs Sympathie gegenüber den „proletarischen Schriftstellern“ wie Brecht, Seghers und Plivier – Pliviers Roman Stalingrad bezeichnet er als erstes großes Kunstwerk der Nachkriegszeit –, sieht er auch hier die Gefahr der „allzu starken Bindung an eine erklärende Dogmatik“.16 Andersch entwickelt also ein RealismusVerständnis, das dabei ist, sich vom „sozialistischen Realismus“ abzugrenzen. Dabei liefert die Bindung an die westeuropäische, also vor allem die französische und britische, und die US-amerikanische Literatur erste Hinweise darauf, dass hier eine spezifisch westdeutsche Nationalliteratur begründet wird. Ähnliche Formulierungen zum Realismus wie bei Andersch finden sich auch bei Hocke, der die Übereinstimmung von Wirklichkeit und Aussage ohne dazwischen geschaltete Ideologie proklamiert17, bei Weyrauch, der von den Dichtern den Röntgenblick auf die Wirklichkeit fordert, um die Wahrheit zu zeigen18, bei Böll, der von den Trümmerliteraten richtiges Sehen verlangt.19 Diese 15 16 17 18 19

Andersch: „Die deutsche Literatur in der Entscheidung (1947)“, a.a.O., S. 205. Ebenda, S. 208. Hocke: „Deutsche Kalligraphie“, a.a.O., S. 207. Weyrauch: „Kahlschlag“, a.a.O., S. 51. Böll: „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“, a.a.O., S. 30f.

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Vorstellung von wertfreier und transparenter Abbildung der Wirklichkeit, die aber gleichwohl Wirklichkeit nicht „photographiert“, sondern mit metaphysischer Dignität versieht, sie als Wahrheit erscheinen lässt, sie durch den Humor filtert, zeigt eine deutliche Nähe zu Realismus-Konzepten des 19. Jahrhunderts, vor allem aus dem bürgerlichen oder poetischen Realismus, ohne dass diese Kontinuität von den Autoren reflektiert würde. Wenn dieses Konzept etwas weniger traditionell verstanden wird, also metaphysische Deutungen zwar fordert, aber gleichzeitig als problematisch ansieht, befinden sich die Autoren dagegen eher in der Nähe von Positionen der zwanziger Jahre, eine Kontinuität, die von den Schriftstellern selbst entweder nicht explizit genannt oder abgestritten wird.20 Die Programmatik des Kreises um den Ruf und die Gruppe 47 konstruiert also einen Nullpunkt, von dem aus die deutsche Literatur sich durch Aufnahme westeuropäischer und US-amerikanischer Positionen in den westlichen Realismus integrieren kann, die ästhetischen Konzepte, die mit diesem Realismus verbunden werden, greifen aber implizit auf den deutschsprachigen Realismus der Zwischenkriegszeit oder den bürgerlichen Realismus nach 1848 zurück. (Nicht erkannte) Kontinuität und (gewünschter) Wandel sind in dieser Hinsicht untrennbar miteinander verbunden. In der literarischen Programmatik tauchen über die Forderung nach angeblich ideologiefreiem Realismus hinausgehende ästhetische Konzepte erst um 1955, also zehn Jahre nach Kriegsende, wieder auf: Als Beispiele seien hier Walter Höllerers (geb. 1922) Vorwort zu Lyrik-Anthologie Transit 1956, Helmut Heißenbüttels (geb. 1921) Essay „Reduzierte Sprache“ von 1955 und Arno Schmidts (geb. 1914) Überlegungen in den „Berechnungen“, veröffentlicht 1959, genannt. Was in allen drei Texten am auffallendsten ist, ist die Wiederaufnahme der modernen europäischen Avantgarden, von Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus. An die Stelle der Konstruktion einer Tabula rasa, eines Nullpunktes, tritt die Konstruktion von Kontinuität, die dort ansetzt, wo die deutschsprachige Literatur mit den europäischen AvantgardeBewegungen in den 1910er Jahren verbunden war. Zwar erscheint

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Blamberger und Wehdeking machen ebenfalls auf die deutlichen Bezüge dieser Gruppe von Autoren zur Neuen Sachlichkeit aufmerksam: Volker Wehdeking/Günter Blamberger: Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit (1945-1952), München 1990, S. 48 und S. 54.

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auch bei Höllerer das Jahr 1945 noch als „moment createur“21 der neuen Literatur, also als eine Art Nullpunkt, gleichzeitig wird aber klar, dass nach seinem Verständnis ein modernes Gedicht ohne Kenntnis der europäischen Avantgarde-Tradition nicht entstehen kann. Darüber hinaus weist er in seinem Vorwort auch auf die Wichtigkeit der Subjektivität hin, einen Faktor, der vom RealismusKonzept der Jahre 1945 bis 1952 eher ausgeschlossen wurde. Wie man bei Hocke sehen kann, galt Introspektion als Kennzeichen der inneren Emigration, als Zeichen für die Beschränkung des Blicks durch den Nationalsozialismus. Für Höllerer ist dagegen bei der Auswahl der Gedichte das Kriterium entscheidend gewesen, „welche Gedichte, vielleicht halb erschlossene erst, weiterdeuten, über unsere gegenwärtige Situation hinaus, indem sie unserem Selbst Ausdruck geben mit gemäßen neuen Mitteln.“22 Dem Anschluss an die Avantgarden bei Höllerer entspricht in Heißenbüttels Aufsatz die Berufung auf Gertrude Stein. Er grenzt sich mit Stein von der Literatur des 19. Jahrhunderts ab, die für ihn eine Literatur des Inhalts ist – gemeint ist hier genau jene realistische Tradition, wie sie von Andersch, Böll und Richter wieder aufgenommen wird. Gegen diese Literatur setzt Heißenbüttel die Literatur des 20. Jahrhunderts, für die Stein steht und die auf der Suche nach „einer neuen Sprechmöglichkeit“ ist. „Diese neue Sprechmöglichkeit wird gesehen in der Rückführung und Rückbesinnung der Sprache auf sich selbst.“23 Auch das reflexive Moment literarischen Schreibens wurde von den Realismus-Konzepten zunächst ausgeschlossen, weil es für Hocke und Andersch mit der „Kalligraphie“, mit dem Ausweichen auf Formalia zuungunsten des Inhalts während des NS-Regimes, verbunden war. Sowohl Höllerer wie Heißenbüttel erweitern also die Möglichkeiten der Nachkriegsliteratur, indem sie sich auf die Vorkriegsavantgarde berufen. Das Plädoyer für Gertrude Stein, das auch bei Wolfgang Köppen zu finden ist24, geht dabei mit der Ablehnung des allgegenwärtigen Vorbilds He21 22 23 24

Walter Höllerer: Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte, Frankfurt a.M. 1956, S. X. Ebenda, S. Xf. Helmut Heißenbüttel: „Reduzierte Sprache. Über einen Text von Gertrude Stein (1955)“. In: Ders.: Über Literatur, Olten 1966, S. 11-22, hier S. 11. „Das Rezept stammt von Gertrude Stein, es wurde für die Best-SellerKüche bearbeitet.“ schreibt Wolfgang Koeppen in seinem Nachruf auf Hemingway: „Wie David vor Saul (1961)“. In: Ders.: Die elenden Skribenten, Frankfurt a.M. 1981, S. 175-178, hier S. 175.

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mingway einher, wie wir es etwas unverblümter schon zu Beginn aus dem Mund von Schmidts Ich-Erzähler gehört haben. Die Art der Einbindung der westdeutschen Gegenwartsliteratur in den zeitgenössischen literarischen Kontext bleibt dabei bei Höllerer und bei Heißenbüttel erhalten, sie geht eindeutig in Richtung Westeuropa bzw. USA, nur die Literaturkonzepte werden pluraler, vielleicht auch weil der tatsächliche Lektürekanon sich erweitert, so dass auch für die deutsche Nachkriegsliteratur andere Möglichkeiten als nur die Anknüpfung an die westlichen Realismen produktiv erscheinen. Schmidts programmatische Äußerungen am Ende der 1950er Jahre lassen sich denn auch in vielerlei Hinsicht als Gegenmanifest zu Andersch „Die deutsche Literatur in der Entscheidung“ lesen. Während Andersch die deutsche Literatur in den westlichen Realismus einzuordnen versucht und die deutsche Romantik und den Expressionismus dezidiert ablehnt, stellt Arno Schmidt dem eine Position entgegen, die für die (deutsche und englischsprachige) Romantik und für den Expressionismus votiert und damit, wie Höllerer und Heißenbüttel, den Anschluss an Avantgardepositionen sucht. Gleichzeitig versucht Schmidt, Prosaformen zu entwickeln, die Bewusstseinsvorgängen entsprechen25, ein Ziel, das parallel zu Höllerers Vorstellung von zeitgemäßer Lyrik gesehen werden kann und das ebenfalls das Realismus-Konzept der unmittelbaren Nachkriegszeit konterkariert. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre tauchen also Konzepte auf, die über den westlich geprägten Realismus als Moment der Neupositionierung der westdeutschen Literatur hinausweisen. An die Stelle der Konstruktion eines Nullpunktes tritt dabei die programmatische Berufung auf die westlichen Avantgarden. Diese Einbindung und Anknüpfung an die europäische Avantgarde vor allem der 1910er Jahre sollte dabei nicht als Moment der Restauration verstanden werden, sondern als Beginn des Pluralismus der Schreibweisen, der in die Postmoderne führt.26

25 26

Arno Schmidt: „Berechnungen (1959)“. In: Ders.: Aus Julianischen Tagen, Frankfurt a.M. 1979, S. 234-255, hier S. 235. Diese Ansicht vertritt vor allem Ludwig Fischer in dem von ihm herausgegebenen Band Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, a.a.O.

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II.

Inventur: literarische Texte zwischen 1945 und 1960

Die Literatur der Zeit von 1945 bis 1960, die versucht literarisch den Neuanfang zu wagen, lässt sich durchaus auf die vorgestellten programmatischen Positionen beziehen: Also auf die These im Namen der „jungen Generation“ realistisch zu schreiben, auf die literarische Konstruktion des Nullpunktes und auf die Anknüpfung an Positionen der europäischen Avantgardebewegungen. Die Texte, die die Erfahrung der jungen Generation mitteilen wollen, schildern in den allermeisten Fällen die Kriegserfahrung und die unmittelbare Nachkriegszeit. Auch durch diese Gegenstände entstand so etwas wie der Beginn der westdeutschen Nachkriegsliteratur: Der Erfahrung der „jungen Generation“, die dem Nationalsozialismus nicht an die Macht verholfen hatte, weil sie zum Wählen noch zu jung war, entsprachen Geschichten, die die jungen Soldaten als Opfer des von den Nationalsozialisten verursachten Krieges zeigten. Bekannte Beispiele für diese Art von Darstellung sind Wolfgang Borcherts (geb. 1921) Drama Draußen vor der Tür von 1947 und Kurzgeschichten von Böll wie etwa Wanderer, kommst du nach Spa von 1950. Hier entwickelt sich in der Literatur parallel zur gesellschaftlichen Sicht auf den Nationalsozialismus und den Krieg eine Opfernarration, die besagt, dass die Deutschen Opfer der Machenschaften des NS-Regimes geworden sind, das den Krieg verursacht hat, unter dem dann alle leiden mussten.27 Gerade das von der USamerikanischen Literatur übernommene Genre der Kurzgeschichte mit seiner ausschnitthaften Wirklichkeitsdarstellung, die nur die Konzentration auf wenige Personen und ein bestimmtes Geschehen zulässt, macht es möglich, die Einbindung des Soldaten oder auch anderer Figuren in das „System“ des NS auszublenden, während die konkrete Kriegssituation, in der auch der Soldat zum Opfer werden kann, im Vordergrund steht. Die immer wieder gefor27

Vgl. Norbert Frei: 1945 und wir. Das dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2006, S. 7-22; Frei hält diese Narration für spezifisch für die Funktionseliten des NS und bindet sie damit an die Generation der 1905 Geborenen, weist aber auch auf die weite Verbreitung in den 1950er Jahren hin (S. 11f.); siehe hierzu auch Thomas Kühne: „Die Viktimisierungsfalle. Wehrmachtverbrechen, Geschichtswissenschaft und symbolische Ordnung des Militärs“. In: Michael T. Greven/Oliver von Wrochem (Hg.): Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik, Opladen 2000, S. 183-196.

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derte „Wahrheit“, die hinter dieser Wirklichkeit hervortreten soll und die literarisch zu vermitteln ist, ist dann meist die Botschaft, dass Krieg nur Opfer fordert und deswegen verwerflich ist. Dadurch dass die realistische Darstellung auf eine Wahrheit ausgerichtet werden soll, diese aber nicht ideologisch, d.h. politisch sein durfte, versuchte sie Werte wie Humanität einzufordern, die gleichermaßen für den deutschen Soldaten wie für die Opfer der deutschen Kriegsführung gelten konnten. Die Vorstellung, ebenfalls Opfer gewesen zu sein, die sogar in den programmatischen Texten auftaucht – Andersch behauptet, die deutschen Intellektuellen wären die bevorzugten Opfer des Regimes gewesen28, und Böll zählt als Sujets für den Trümmerliteraten den Vater auf, der seinen Sohn im Krieg verloren hat, und das Mädchen, deren Mutter durch eine Bombe umgekommen ist29 –, macht nicht nur deutlich, dass man sich programmatisch und literarisch gegen die Kollektivschuldthese wendet, sondern auch, dass man ihr die Opfernarration entgegensetzt. Bezieht man diese Konzeption auf die politische Lage, könnte man von einem Tauschgeschäft sprechen: Einerseits beharrt man auf dem Opferstatus der meisten Deutschen und verlangt die Akzeptanz dieser Behauptung, gleichzeitig demonstriert man programmatisch die Westbindung, indem man die westdeutsche Literatur in westliche Literaturkonzepte einordnet. Als Beispiel für die zweite Position, für die Konstruktion des Nullpunkts, kann Günter Eichs 1945 oder 46 entstandenes Gedicht „Inventur“ gelten, das 1947 in einer Anthologie mit Lyrik von Kriegsgefangenen mit dem Titel Deine Söhne, Europa veröffentlicht wurde: Inventur Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen. Konservenbüchse: Mein Teller, mein Becher, ich hab in das Weißblech den Namen geritzt.

28 29

Andersch: „Die deutsche Literatur in der Entscheidung“, a.a.O., S. 200. Böll: „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“, a.a.O., S. 29.

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[...] Die Bleistiftmine lieb ich am meisten: Tags schreibt sie mir Verse, die nachts ich erdacht. Dies ist mein Notizbuch, dies ist meine Zeltbahn, dies ist mein Handtuch, dies ist mein Zwirn.30

Noch konsequenter als in der Form der Kurzgeschichte findet in Eichs Gedicht die Verengung des Wahrnehmungshorizonts statt, sowohl das Gefangenlager wie der Kriegszusammenhang werden ausgeblendet. Was stattdessen inszeniert wird, ist der Moment des Nullpunkts: Der Anfang des Schreibens als Einritzen des Namens und die Notierung von Versen in das Notizbuch. Das lyrische Ich ist mit sich und den wenigen geretteten Gegenständen allein, seine Schöpferkraft ist aber so groß, dass es aus dieser – und hier ist der Ausdruck angebracht – Tabula-rasa-Situation Verse gewinnen kann. Dabei wird jeder Anklang an lyrisches Pathos Rilke’scher oder auch expressionistischer Prägung vermieden. Gleichzeitig kann man das Gedicht auch lesen als Wiederherstellung von Ordnung durch die Bestandsaufnahme, denn das Ich benennt die Dinge, die ihm gehören, und schafft so eine geordnete Welt mit sich selber als Zentrum.31 Das Gedicht Eichs zeigt also den Ton der nüchternen Bestandsaufnahme, so wie Andersch, Weyrauch, Hocke und Böll ihn sich wünschen, ebenfalls typisch für die Nachkriegszeit ist das Sujet des Kriegsheimkehrers. Seine psychische Befindlichkeit wird nicht formuliert, denn der Blick ist nach außen gewendet und schildert die Umgebung und die Habseligkeiten des lyrischen Ichs. Gleichzeitig sehen wir aber auch den Dichter bei der Arbeit, der Bleistift und das Notizbuch sind ihm geblieben, und im Gedicht reflektiert er die Entstehung von Gedichten. In der vollständigen 30 31

Günter Eich: „Inventur“. In: Hans Werner Richter (Hg.): Deine Söhne, Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener, München 1947, S. 17. Vgl. hierzu Gerhard Kaiser: „Günter Eich: Inventur. Poetologie am Nullpunkt“. In: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein: Gedichte und Interpretationen, Köln 2003, S. 269-285.

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Ausblendung des Kontextes wird nicht nur die Opfernarration unmöglich, darüber hinaus lässt die Bilanzierung der Situation ebenfalls eher ein aktives Ich erkennen, das die Welt um sich herum ordnet und seine Fähigkeit zur Schöpfung von Gedichten bekräftigt. Einerseits findet sich hier also die Kargheit der Nachkriegssituation inszeniert auch als Ästhetik der Kargheit, andererseits liegt in dieser Situation die Möglichkeit des Neuanfangs durch die Kreativität des Subjekts. Eine ähnliche Situation des „Nullpunkts“ stellt Arno Schmidt in Brand’s Haide dar. Auch in der Ausblendung der NS-Vorgeschichte, wie am Zitat zu Beginn erkennbar, ähnelt Schmidts Erzählung Eichs Gedicht: Gerade aus der Kriegsgefangenschaft entlassen notiert der Icherzähler, beginnend am „21. 3. 1946: auf britischem Klopapier“, seine Wahrnehmungen und Assoziationen. Dabei zeigt sich sprachlich das Gegenbild zur Kargheit von Sprache und Kontext bei Eich: (there is much gold – as I am told – on the banks of sacramento; irgend was muß man ja dudeln. – [...]) Aß flink und häßlich noch ein Stück Brot: hol der Teufel die Heringe! (Und den Käse.) Wie Junker Toby. Gab noch eins zu: ‚Höret die Musik/singét mit uns im Chore... ‘ (ein Kanon, mit dem uns das Nachbarzelt im Camp A schier wahnsinnig machte, bis wir Deputationen aussandten. [...]). Drei Buchruinen holte ich aus dem Mantel: Stettinius, Lend-lease; Smith, Topper und den armen Spielmann (der hatte in Luthe in einem Zelt gelegen [...]: eingesteckt hab ichs. Und würds nochmal tun; da sieht man, was Grillparzer konnte, dämonisch! Jedenfalls mehr als ich; est cui per mediam nolis occurere noctem. Dostojewskis ‚Idiot‘ ist eigentlich dasselbe Thema, wie?)32

Der innere Monolog des Ich-Erzählers ist gekennzeichnet durch Sprunghaftigkeit, aber auch durch das Springen zwischen den Sprachen – Englisch, Latein und Deutsch – und den Literaturen: Junker Toby spielt auf Shakespeares Komödie Was ihr wollt an, Dostojewski und Grillparzer werden verglichen. Der Nullpunkt, wie er hier inszeniert wird, ist einer, der sich bewusst in die literarische Tradition stellt, allerdings in die ältere und zudem vom Krieg beschädigte, nur „Buchruinen“ sind übrig geblieben. Der Neuanfang des IchErzählers ist dann möglich, weil es zeitgenössisch keine adäquaten Ausdrucksformen gibt, schließlich „stinkt“ ihn „Hemingway“ nur an. Die Bedingung, unter der dieser Neuanfang stattfindet, ist al32

Schmidt: „Brand’s Haide“, a.a.O., S. 127f.

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lerdings eine grundlegend andere als bei den Autoren um die Gruppe 47: Bei Schmidt ist von vornherein klar, dass realistische Prosa keineswegs auf irgendeine hinter der Realität liegende Wahrheit zielen sollte, er versucht keine „Werte“ zu vermitteln, sondern Perspektiven auf die Realität zu konstruieren. Deshalb ist seine Prosaform vom inneren Monolog geprägt und knüpft wie Köppens Nutzung der „Stream of Consciousness“-Technik in seinem Roman Tauben im Gras an die Literatur der Zwischenkriegszeit an. Nicht umsonst erweist Schmidt 1953 in „Seelandschaft mit Pocahontas“ Alfred Döblin seine Referenz, in dessen Berlin Alexanderplatz diese Erzähltechnik bereits 1929 erprobt worden war. Schmidts Neuanfang – auch derjenige Koeppens – versteht sich also als Wiederherstellung der Kontinuität der literarischen Entwicklung, dabei wird die Zeit des NS als nicht relevant für die literarische Entwicklung ausgeblendet. Neben den Versuchen, die Realismusvorstellung der frühen Gruppe 47 zu erweitern – zu diesen Erweiterungsversuchen kann man die Prosa Schmidts und die Romane Koeppens zählen –, zeigen sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zunehmend experimentelle Schreibweisen.33 Diese experimentellen Gedichte verbinden die Ästhetik der Kargheit, wie sie in Eichs Gedicht zu finden ist, mit der Rezeption der Avantgarde-Bewegungen der 1910er Jahre, vor allem mit Futurismus und Dadaismus. Durch diese Verknüpfung tritt die Materialität der Sprache hervor, die Gedichte etwa von Eugen Gomringer oder Helmut Heißenbüttel sind insofern „karg“, als sie nicht nur lyrisches Pathos verweigern, sondern auch versuchen, in den Gedichten die semantischen Aspekte zugunsten von Klang oder Materialität der Schrift zu reduzieren. Auch diese Formen experimenteller Lyrik versuchen in gewisser Weise – durch die Reduktion sprachlicher Ebenen – einen Nullpunkt zu schaffen, von dem aus eine neue dichterische Sprache möglich ist. Erst Ende der 1950er Jahre erscheint dann im Literaturbetrieb tatsächlich eine „junge Generation“ mit Autoren wie Walser, Grass, Johnson und Rühmkorf, die alle nicht vor den späten 1920er Jahren geboren sind. Vor allem Grass’ Roman Die Blechtrommel (1959) bringt die Revidierung des Konzeptes von Andersch, Böll und Richter. Der Realismus bekommt hier phantastische Elemente – der „Gnom“ Oskar Matzerath, der beschließt, nicht mehr zu wach33

Vgl. dazu Jörg Drews (Hg.): Vom ‚Kahlschlag‘ zu ‚Movens‘. Über das langsame Auftauchen experimenteller Schreibweisen in der westdeutschen Literatur der fünfziger Jahre, München 1980.

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sen –, vor allem aber wird die Ausrichtung des Geschehens auf eine „Wahrheit“ verweigert. Damit ineins geht die Abkehr von der Opfernarration: Bei Grass steht schließlich eine Figur im Mittelpunkt, die sich während der NS-Zeit unter dem Mantel infantiler Verantwortungslosigkeit versteckt, gleichzeitig aber durch das Paktieren mit dem Regime Familienmitglieder zugrunde richtet. Die Neupositionierung der westdeutschen Literatur zwischen 1945 und 1960 ist also – so könnte man argumentieren – in dem Moment abgeschlossen, in dem sie beginnt, sich auf sich selbst (und die BRD-Gesellschaft) zu beziehen: So wie Schmidts „Berechnungen“ lesbar sind als Gegenentwurf zu Anderschs Essay „Die deutsche Literatur in der Entscheidung“, kann man Grass’ Blechtrommel lesen als Reaktion und Revidierung der frühen westdeutschen Literatur, also der Erzählungen von Böll und Borchert. Die grundlegenden Orientierungen, die die 1950er Jahre gebracht haben, die Einordnung in den westlichen Realismus oder die Anknüpfung an die europäischen Avantgarde-Bewegungen, werden aber auch die Literatur der 1960er Jahre bestimmen. Literatur Andersch, Alfred: „Die deutsche Literatur in der Entscheidung (1947)“. In: Ders.: Essayistische Schriften. Bd. I, Zürich 2004, S. 187-218. Böll, Heinrich: „Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952)“. In: Ders.: Zur Verteidigung der Waschküchen. Schriften und Reden 1952-1959, München 1985, S. 27-31. Briegleb, Klaus: „Die Gruppe 47 in den Jahren 1947-1951“. In: Stefan Bräse (Hg.): Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47, Berlin 1999, S. 35-63. Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Drews, Jörg (Hg.): Vom ‚Kahlschlag‘ zu ‚Movens‘. Über das langsame Auftauchen experimenteller Schreibweisen in der westdeutschen Literatur der fünfziger Jahre, München 1980. Eich, Günter: „Inventur“. In: Hans Werner Richter (Hg.): Deine Söhne, Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener, München 1947, S. 17.

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Esselborn, Karl: „Neubeginn als Programm“. In: Ludwig Fischer (Hg.): Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München 1986, S. 230-243. Frei, Norbert: 1945 und wir. Das dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2006. Heißenbüttel, Helmut: „Reduzierte Sprache. Über einen Text von Gertrude Stein (1955)“. In: Ders.: Über Literatur, Olten 1966, S. 11-22. Hocke, Gustav René: „Deutsche Kalligraphie oder: Glanz und Elend der modernen Literatur“. In: Der Ruf (1946) H. 7, S. 203208. Höllerer, Walter: Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte, Frankfurt a.M. 1956. Kaiser, Gerhard: „Günter Eich: Inventur. Poetologie am Nullpunkt“. In: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein: Gedichte und Interpretationen, Köln 2003, S. 269-285. Koeppen, Wolfgang: „Wie David vor Saul (1961)“. In: Ders.: Die elenden Skribenten, Frankfurt a.M. 1981, S. 175-178 Lenz, Siegfried: „Mein Vorbild Hemingway“. In: Ders: Beziehungen. Ansichten und Bekenntnisse zur Literatur, Hamburg 1970, S. 50-63. Kühne, Thomas: „Die Viktimisierungsfalle. Wehrmachtverbrechen, Geschichtswissenschaft und symbolische Ordnung des Militärs“. In: Michael T. Greven/Oliver von Wrochem (Hg.): Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik, Opladen 2000, S. 183-196. Richter, Hans Werner: „Warum schweigt die junge Generation?“ In: Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift, hg. v. Hans Schwab-Felisch. München 1962, S. 29-33. Schmidt, Arno: „Berechnungen (1959)“. In: Ders.: Aus Julianischen Tagen, Frankfurt a.M. 1979, S. 234-255. Schmidt, Arno: „Brand’s Haide“. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe, Bd. I/1, Zürich 1987, S.116-199. Wehdeking, Volker Christian: Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945-1948), Stuttgart 1971, S. 97 -104. Wehdeking, Volker/Günter Blamberger: Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit (1945-1952), München 1990.

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Weyrauch, Wolfgang: „Kahlschlag. Nachwort zu Tausend Gramm (1949)“. In: Ders.: Mit dem Kopf durch die Wand, Darmstadt/Neuwied 1977, S. 45-53.

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BESCHÜTZER KRITISIERT MAN NICHT – ODER VIELLEICHT DOCH? ZUM BILD AMERIKAS IN DER WESTDEUTSCHEN PUBLIZISTIK DER SPÄTEN 1940er UND 1950er JAHRE

Waltraud ›Wara‹ Wende (Groningen) Das deutsch-amerikanische Verhältnis ist – spätestens seit dem Beginn des Irak-Krieges – weder unkompliziert noch problemlos. Vorbehalte gegenüber der amerikanischen Irak-Politik, Infragestellen der amerikanischen Sicherheitspolitik und Kritik am amerikanischen Militäreinsatz haben das bei der überpwiegenden Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung seit der sowjetischen Berlin-Blockade der Jahre ’48 und ’49 eindeutig vorherrschende Bild von der so genannten ‚Schutzmacht‘ Amerika grundlegend korrigiert und den deutsch-amerikanischen Freundschaftsdiskurs erheblich irritiert: Ein Freundschaftsdiskurs, der trotz vieler Vorbehalte gegenüber der amerikanischen Außenpolitik seit nunmehr Dezennien das deutsch-amerikanische Verhältnis dominiert, der weder im Kontext des Vietnam- noch im Kontext des Irak-Krieges1 korrigiert wird und der historisch zurückdatiert werden kann bis in die Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland. Voraussetzung für das positive Amerikabild der Deutschen ist freilich ein grundlegender Bewusstseins- und Einstellungswandel: Ehemalige Kriegsgegner müssen zu Freunden werden. Datiert werden kann dieser Bewusstseins- und Einstellungswandel in die Zeitspanne zwischen der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands im Mai 1945 und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland vier Jahre später. In dieser Zeitspanne mutierten die ehemaligen ‚Feinde‘, ‚Sieger‘ und ‚Besatzer‘ Deutschlands in der öffentlichen Wahrnehmung zu ‚Verbündeten‘, ‚Freunden‘ und ‚Beschützern‘ vor der ‚kommunistischen Gefahr‘. Die politische Westbindung wird nicht 1

Kritiker der amerikanischen Außenpolitik lehnen nicht Amerika an sich ab, sondern lediglich die politische Führung.

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nur in den Augen der politischen Entscheidungsträger und ökonomischen Eliten, sondern auch in den Augen der überwiegenden Mehrheit der ‚normalen‘ Bevölkerung zur mentalen und emotionalen Ordnungskategorie. Ein wichtiger Etappen-Schritt ist dabei die im Kontext des Kalten Krieges zwischen West und Ost von den Amerikanern von Juni 1948 bis Mai 1949 mit britischer Unterstützung eingerichtete Luftbrücke – von den Amerikanern auch Operation Vittles genannt. Durch diese Luftbrücke sollte die von der sowjetischen Besatzungsmacht verhängte Blockade des Land- und Wasserstraßenverkehrs nach West-Berlin bezwungen werden und sollte darüber hinaus über Dezennien hinweg eine „special relationship“ zwischen den Bewohnern der Viersektorenstadt und ihren ‚amerikanischen Freunden‘ fundiert werden. Stichtag für die Luftbrücke ist der 24. Juni 1948: An diesem Tag beginnt die sowjetische Militärbehörde – als Reaktion auf die am 22. Juni 1948 in den Westsektoren separat von der Ostzone durchgeführte Währungsreform, die nichts anderes ist als die Entscheidung für ein kapitalistisches Wirtschaftssystem – den Zugverkehr nach West-Berlin zu blockieren. Das Ergebnis dieser Blockade ist, dass die Inselstadt – und zwar ohne jedwede Vorwarnung – von einem Tag auf den anderen in der Güter-Versorgung augenfällig behindert ist. Auch wenn die Blockade der Sowjets – entgegen weit verbreiteter Mythen des Kalten Krieges – niemals eine wirklich vollständige ist,2 und darüber hinaus die vom englischen Außenminister Ernest Bevin entwickelte Idee einer Luftversorgung der Berliner zunächst sowohl im State Department wie im Pentagon als ein – möglicherweise den Weltfrieden bedrohendes – gefährliches Abenteuerspiel interpretiert und mit viel Skepsis und viel Vorbehalten diskutiert wird, starten die ersten Douglas-Transportflugzeuge der US Airforce bereits zwei Tage nach dem Beginn der Berlin-Blockade vom Flughafen Frankfurt am Main in Richtung Berlin-Tempelhof. 2

So verzichten die Sowjets z.B. darauf, die drei Westsektoren der Stadt vom Ostsektor abzuriegeln, und ermöglichen den West-Berlinern darüber hinaus; sich trotz der Blockade im Umland mit Lebensmitteln und anderen Artikeln des täglichen Lebens zu versorgen, genauso wie auch der Postweg zwischen Berlin und Westdeutschland keinerlei Behinderung erfährt, so dass jedermann so genannte ‚Fresspakete‘ nach Berlin schicken kann. Kurzum: Die Blockade ist alles andere als undurchlässig. Vgl. hierzu: David Clay Large: Berlin – Biographie einer Stadt, München 2002, S. 378ff.

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Mit dem Beginn dieser Luftnummer ist der Startschuss für eine humanitäre, logistische und auch symbolische Großunternehmung gefallen, die ihresgleichen sucht. Das ESSO-Magazin z.B. berichtet in einer seiner ersten Ausgaben seiner Leserschaft über die BerlinBlockade und ihre personellen und logistischen Auswirkungen auf das Unternehmen ESSO: Als man erkannte, daß die Luftbrücke nicht nur eine Improvisation für ein paar Wochen sein würde, wurde das Personal vermehrt. 15 neue Tankfahrer und Beifahrer wurden sofort ausgebildet. Sehr viele sind ihnen seitdem gefolgt. Die Zusammenarbeit [zwischen Boden- und Luftpersonal] ist so exakt, dass alle 50 Sekunden eine Maschine in Berlin Tempelhof landen kann. Um die Tankzeit herabzusetzen wurde jedes Flugzeug von zwei Tankwagen mit je zwei Schläuchen betankt.3

Luftbrücke und CARE-Pakete halten den Lebensnerv der eingekesselten Millionenstadt während der Berlin-Blockade über Monate hinweg am Leben. Das Ganze ist zweifelsohne sowohl logistisch als auch humanitär als eine Glanzleistung anzusehen, darüber hinaus aber ist das Ganze vor allem eine eindeutige und unmissverständliche Botschaft in Richtung Moskau: Die Amerikaner demonstrieren dem Kreml gegenüber Entschlossenheit und Stärke. In mehr als 270.000 Flügen bringen die Flugzeuge der Westalliierten – und hier in erster Linie die Flugzeuge der USA – 1,83 Millionen Tonnen Versorgungsgüter nach Berlin, davon 63% Kohle, 28,9% Lebensmittel und 9 Prozent Industriegüter.4 Das Unternehmen beginnt mit etwa 500 Flügen im Juni 1948, durch die 1.273,6 Tonnen Versorgungsgüter nach Berlin transportiert werden; im August desselben Jahres sind es dann bereits 18.075 Flüge und im Mai des Folgejahres, dem letzten Blockademonat, wird schließlich die Rekordzahl von 27.718 Flügen erreicht.5 Die Kosten der Luftbrücke tragen die Westalliierten, wobei die möglichen Endkosten – so berichtet Der Monat seinen Lesern – weder zu 3 4 5

Esso-Magazin, zitiert nach: Bernd Polster: „Amerikas Autopie – Ein konsumistisches Manifest“. In: Ders. (Hg.): WestWind – Die Amerikanisierung Europas, Köln 1995, S. 60. Berlins Schutzmächte. Bericht 1, hg. v. Presse- und Informationsamt des Landes Berlin, Berlin 1983, S. 2. Angaben in Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Berlin; Schriftenreihe: Informationen zur politischen Bildung (H. 205), Bonn 1984, S. 15.

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Beginn der Unternehmung noch in den Folgemonaten auch nur annähernd abzuschätzen sind: Nach Berechnungen der amerikanischen Luftwaffe betrugen die unmittelbaren Kosten des air lifts zu einem bestimmten Zeitpunkt 150.000 Dollar pro Tag. Die mittelbaren dagegen lassen sich kaum errechnen. Im weiteren Verlauf dieser Operation ist es sehr gut möglich, daß sich die täglichen Ausgaben auf 500.000 Dollar, das sind monatlich 15 Millionen, erhöhen. Aber die tatsächlichen Kosten werden sich nicht allein auf Dollarbeträge beschränken.6

Trotz aller Kosten bleibt freilich festzuhalten: Die Investitionen haben sich für die Amerikaner zweifellos ausgezahlt. Der „Big Lift“ – wie die Amerikaner die Luftbrücke auch nennen – ist eine vor den Augen der gesamten Weltöffentlichkeit stattfindende gelungene Hilfsaktion und gleichzeitig – auf der Symbolebene – eine brillante PR-Kampagne, die den Sowjets demonstrativ vor Augen führt, zu was man gegebenenfalls entschlossen ist: Hatte Moskau den Versuch unternommen, „mit dem Hunger der Berliner“7 Politik gegen die westliche Währungsreform zu treiben, so hat die Luftbrücke den Ost-West-Gegensatz moralisch zugunsten der Amerikaner gepolt. Die Luftbrücke, durch die „Berlin am Leben gehalten“ wird, hinterlässt – so die Broschüre des German Information Center New York – „einen unauslöschlichen Eindruck amerikanischer Freundschaft bei der Berliner Bevölkerung“.8 Dass die Luftbrücke – so ganz nebenbei – natürlich auch ein gutes und lukratives Geschäft für die amerikanische Wirtschaft ist, sei an dieser Stelle zumindest vermerkt: Der ESSO-Konzern beispielsweise liefert immerhin gut eine halbe Millionen Tonnen Treibstoff für die Unternehmung, und dies natürlich nicht zum Nulltarif. Doch wie auch immer, beeindruckend ist die generalstabsmäßig durchorganisierte – durch drei mit den Sowjets fest vereinbarte Flugkorridore durchgeführte – Luftbrücke, bei der in Minuten6 7 8

Charles J.V. Murphy: „Die Konstruktionen der Luftbrücke“. In: Der Monat. Eine internationale Zeitschrift. Jg. 1 (1948/49), H. 1, S. 27-29, hier S. 27. Max Frisch: Tagebuch 1946-1949, Frankfurt a.M. 1950, S. 266. Zitiert nach Bernhard Lilienthal: „Wie wir (wieder) Freunde wurden – Anmerkungen zur Berlin-Blockade“. In: Dollars & Träume. Studien zu Politik, Ökonomie, Kultur der USA, hg. v. der Joseph-WeydemeyerGesellschaft für USA-Forschung, Berlin 1984, S. 7.

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abständen Maschinen in den Westsektoren der Stadt landen, zunächst in Tempelhof, auf der Havel und später in Tegel. Die Piloten der von den Deutschen auch als „Rosinenbomber“ bezeichneten Maschinen leisten harte und präzise Arbeit, teils aus Pflichtgefühl, teils aus Abenteuerlust, teils aber auch aus dem Gefühl heraus, einfach nur helfen zu wollen. Dass bei diesen Hilfsleistungen – trotz aller Präzision und trotz aller logistischen Höchstleistung – nicht immer alles glatt geht, ist zu erwarten: Flugzeugabstürze kosten vierzig Briten, einunddreißig Amerikanern und fünf Deutschen das Leben. Auch dies ist natürlich ein Grund für die Bevölkerung West-Berlins dankbar zu sein, so Ernst Reuter, der spätere Bürgermeister der Stadt, am glücklichen und erfolgreichen Ende der Berlin-Blockade in einer öffentlich gehaltenen Rede: „Wir gedenken in diesen Stunden der Piloten, die für die Bevölkerung Berlins ihr Leben gelassen haben. Sie waren nicht mehr als Feinde zu uns gekommen, sondern als Freunde. Das gemeinsame Erlebnis dieser Monate hat uns mit ihren Völkern und ihre Völker mit uns verbunden. Die jungen Piloten, die sich für uns geopfert haben, sollen in dieser Stadt niemals vergessen werden.“9 Und weil man sich auch in Zukunft stets an die „Bedrohte Freiheit“10, an die Luftbrücke und an die für die Berliner Bevölkerung gestorbenen Piloten erinnern will, wird man ein Luftbrückendenkmal errichten, auf dem die Namen der Verunglückten eingraviert werden. Dass in Berlin das enorme Engagement der Piloten nicht erst am erfolgreichen Ende, sondern gleich zu Beginn der Blockade zu würdigen gewusst wird, belegt ein Artikel in der Berliner Zeitschrift Der Abend, der am 26. Juli 1948 – als Reaktion auf den Absturz einer Versorgungs-Maschine über Friedenau – unter der Überschrift „Sie starben für unsere Freiheit“ in emotionalster Tonlage und mit besonderem Nachdruck darauf setzt, dass die überwiegende Mehrheit der Berliner Bevölkerung sich dem gewaltigen Ausmaß des humanitären Einsatzes voller Dankbarkeit bewusst sei: Am Samstag wallfahrten die Berliner zur Unglücksstelle. Die Anteilnahme und Verbundenheit mit den Opfern des Unglücks, den noch unbekannten Piloten der amerikanischen Luftwaffe, die im Dienst der Humanität bei der Versorgung Berlins den Tod fanden, trieb sie dorthin. […] Die Berliner, die es oft nur als allzu verständlich hinnahmen, dass sie trotz Blockade ihre 9 10

Zitiert nach: Informationen zur politischen Bildung, a.a.O., S. 15. Wilhelm Röpke: „Bedrohte Freiheit“. In: Der Monat. Eine internationale Zeitschrift. Jg. 1 (1948/49), Heft 5.

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gewohnten Lebensmittelrationen bekamen, werden jetzt, wenn sie über sich das Brummen der Flugzeuge hören, an die Männer denken, die im pausenlosen Einsatz ihre Verbündeten und ihre Helfer gegen Terror und Diktatur sind.11

Und emotional und voller Emphase äußert sich auch Theodor Heuss in einer Rede vor dem Kongress in Washington über die Bedeutung der Luftbrücke, in der er die humanitäre Aktion der Amerikaner nicht nur auf das politische „Schicksal“ Berlins, sondern darüber hinaus auch auf das politische „Schicksal“ ganz Europas bezieht: „Wir werden nie, nie vergessen, daß Präsident Truman mit der so genannten Luftbrücke unter Zustimmung des ganzen amerikanischen Volkes 1948/49 Deutschlands alte Hauptstadt Berlin gerettet hat, ja wirklich gerettet, und damit ein europäisches Schicksal entschieden hat.“12 Die Luftbrücke ist in der Wahrnehmung der West-Berliner, aber auch in den Augen der übrigen westdeutschen Bevölkerung weitaus mehr als „eine staunenswerte technische und organisatorische Leistung“13, sie wird – wie Rudolf Pechel, ein konservativer Zeitgenosse von Theodor Heuss, überaus wahrnehmungssensibel registriert – zu dem entscheidenden Impuls „einer starken Selbstbesinnung“14, sie ist ein Anlass für die WestDeutschen, ihre Beziehung zu den Westalliierten grundlegend zu überdenken und fundamental zu korrigieren: Mit Beginn der Luftbrücke werden „die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich prinzipiell nicht mehr als das kleinere Übel angesehen, sondern als Völker, die eigene Tugenden“ haben. Die Luftbrücke neutralisiert viele der in den Tagen des Luftkrieges entstandenen „ungünstigen Einstellungen gegenüber den USA und Großbritannien“15. Mit dem für den Westen erfolgreichen Ende der BerlinBlockade verändert sich die politische Stimmung, und mit der politischen Stimmung verändert sich natürlich dann auch die Begrün-

11 12 13 14 15

Ebenda. Zitiert nach Gerhard H. Wilk: „Der Berlin-Appeal“. In: Berliner Forum, Jg. 1983, Heft 4, S. 98f. Ernst Reuter: Schriften, Reden, hg. v. Hans E. Hirschfeld und Hans J. Reinhardt, Berlin 1972, S. 492. Rudolf Pechel: „Zwischenbilanz“. In: Schweizerisches Kaufmännisches Zentralblatt, 05. November 1948. Zitiert nach: Lilienthal: „Wie wir (wieder) Freunde wurden“, a.a.O., S. 12.

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dung für die weitere Anwesenheit der Westalliierten in der nach wie vor besetzten Stadt: „Aus den Besatzern wurden Schutzmächte, aus ehemaligen Gegnern echte Freunde.“16 Und das, obwohl doch zwischen dem Beginn der Berliner-Luftbrücke und den noch nicht vergessenen alliierten Bombenangriffen auf die Zivilbevölkerung Nazi-Deutschlands nur etwas mehr als drei Jahre vergangen sind: Alliierte Piloten, die während der Luftbrücke Versorgungsgüter nach West-Berlin fliegen, haben nur wenige Jahre zuvor Sprengund Brandbomben auf deutsche Zivilbevölkerung geworfen und tausende Zivilisten getötet, verletzt und/oder obdachlos werden lassen. Dabei spielen für die Veränderung der Einstellung gegenüber den Westalliierten vor allem die Medien – Presse und Rundfunk – eine entscheidende Rolle, die Medien, die geradezu eine Hymne auf die Luftbrücke singen und die nicht müde werden, die humanitären Aspekte der Hilfeleistungen herauszustellen. Immer wieder tauchen Formulierungen wie „Die Welt tut alles“ und „Alles für Berlin“17 auf, mit dem Effekt, dass mit der Dauer der Blockade zunehmend ein Wir-Gefühl, ein Gefühl des gemeinsamen Schulterschlusses gegen die sowjetische Blockadepolitik entsteht. Der Einstellungswandel gegenüber den Alliierten betrifft in erster Linie das Bild, das die West-Deutschen von den Amerikanern haben: Vor allem die Amerikaner werden in der Wahrnehmung der West-Deutschen von Siegern und Besatzern zu Beschützern und Freunden, wobei die Massenmedien nicht nur als mentaler Seismograph modifizierter Einstellungen und veränderter Gefühle zu sehen sind, sondern gleichzeitig immer auch als gewichtiger Generator für die Festigung oder den Wandel von Freund- und Feindprojektionen, Urteilen und Vorurteilen, Ängsten und Hoffungen agieren. So veröffentlicht beispielsweise Der Abend, eine von der amerikanischen Militärregierung lizenzierte „unabhängige und unzensierte“ Berliner Tageszeitung, nicht nur täglich – fettgedruckt und eingerahmt – die Anzahl der alliierten Luftbrückenflüge und betont dabei immer wieder, was alles für die Berliner Bevölkerung getan werde, sondern erzeugt auch emotionale Stimmungslagen, indem er die Luftbrücke als Beginn einer „unzerbrechli-

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Amerikaner in Berlin. Bericht 2, hg. vom Presse- und Informationsamt des Landes Berlin, Berlin 1983, S. 2. Beispielsweise in Der Abend, 28. Juni 1948.

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chen Freundschaft“18 zwischen den Deutschen und den Amerikanern interpretiert.19 Ein erstes Fundament für die pro-amerikanische Einstellung der Berliner ist freilich bereits lange vor der Luftbrücke gelegt worden. Als im Frühjahr des Jahres 1945 die entscheidenden Luftkämpfe über Berlin toben, werden diese – aufgrund einer Entscheidung Eisenhowers – weder von amerikanischen noch von britischen Flugzeugen durchgeführt, und es sind sowjetische Soldaten, die am 2. Mai die Reichshauptstadt erobern. Bis zur Durchsetzung der alliierten Vereinbarungen, in denen dann der Viermächtestatus Berlins festgelegt werden wird, vergehen circa zwei Monate, Monate, in denen zahlreiche Berliner schlechte Erfahrungen mit den russischen Soldaten machen. Die Sowjets, die den Angriffskrieg der deutschen Wehrmacht noch gut im Gedächtnis haben, sind in ihrem Umgang mit dem ehemaligen Aggressor nicht gerade zimperlich, es kommt zu Erschießungen, Vergewaltigungen, Verschleppungen und Plünderungen. Diese unmittelbaren Nachkriegserfahrungen der Deutschen – in Verbindung mit der jahrelangen Hetze der Nazis gegen den Bolschewismus – fundieren ein nachhaltiges Negativbild von der sowjetischen Besatzungsarmee, das nicht zuletzt auch durch die Berichte der von der Ostfront zurückkehrenden Kriegsgefangenen noch weiter stabilisiert wird. Im Kontrast hierzu müssen vor allem die amerikanischen Soldaten, als sie gemeinsam mit den englischen und französischen Soldaten in den ersten Junitagen die ihnen zugewiesenen Sektoren besetzen, als das weitaus kleinere Übel empfunden werden. Margaret Bourke-White, eine amerikanische Journalistin, die die amerikanischen Truppen in den ersten Besatzungsmonaten begleitet, gibt einen eindrücklichen 18

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Vgl. hierzu: „Währungsreform und Berlinblockade“. In: Als der Krieg zu Ende war. Literarisch-politische Publizistik 1945-1950. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum in Marbach a.N., Ausstellungskatalog hg. v. Bernhard Zeller: Ausstellung und Katalog von Gerhard Hay/Hartmut Rambaldo/Joachim W. Storck unter Mitarbeit von Ingrid Kußmaul und Harald Böck, Stuttgart 1973, hier S. 343352. Die erste Nummer von Der Abend ist im Übrigen am 10. Oktober 1946 erschienen. Wie allen anderen lizenzierten Zeitungen, so ist auch dem Abend zunächst jede Kritik an den Besatzungsmächten – einschließlich der Sowjetunion – untersagt, ab 1947 wird dann den westlichen Medien jedoch gestattet, „den Kommunismus als solchen anzugreifen“. Vgl. hierzu Lucius D. Clay: Entscheidung in Deutschland. Frankfurt a.M. o.J., S. 319.

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Stimmungsbericht. Vor allem deutsche Mädchen und Mütter seien begeistert von den GIs und ihren Manieren. Englischkurse, die überall angeboten würden, seien hoch willkommen und nicht wenige der Mädchen würden auf eine gute Partie hoffen: „Amerikanische Boys waren so angenehm zu haben, immer wollten sie in der Küche beim Abwasch helfen und erledigten auch sonst alle möglichen Kleinigkeiten im Haushalt.“20 Obwohl noch Ende 1946 immerhin 76% der Bewohner der amerikanischen und englischen Sektoren Berlins angeben, sie hätten noch keinen persönlichen Kontakt mit den Besatzungssoldaten gehabt, überwiegt spätestens ab dem Frühjahr 1948 eine eher positive Stimmung gegenüber ‚den‘ Amerikanern.21 Zur kollektiven und individuellen Erfahrungsgeschichte im direkten und indirekten Kontakt mit Russen und Amerikanern kommt hinzu, dass man in den deutschen Massenmedien spätestens seit Beginn der Berliner Luftbrücke das Leben jenseits des großen Teiches als überaus verlockend darstellt. So wird man nicht nur nicht müde, die gewaltigen technischen Leistungen und den Einsatz aller mit Blick auf die Luftbrücke zu feiern, sondern man verknüpft – wie z.B. Ernst Reuter in einer am 30. Juni 1948 im Berliner RIAS gesendeten Hymne auf die Luftbrücke – das Lob auf die Transportmaschinen mit einer generellen Verherrlichung des technischen Fortschritts: „Dem Kleinbürger mag das Donnern der Flugzeugmotoren über unseren Köpfen ein Beweis dafür sein, daß die furchtbare Entwicklung der Technik nicht nur Zerstörung mit sich bringen kann, daß sie auch Gutes bedeuten kann. Diese Flugzeuge bringen von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde mehr Lebensmittel nach Berlin.“22 Dabei wird der technische Fortschritt untrennbar mit Amerika und dem amerikanischen Lebensstandard – dem American way of life – assoziiert. So kann man etwa am 13. Mai 1948 in Der Abend die folgende Schlagzeile lesen: „Amerika kocht mit Fernsteuerung“. Technik wird zum Indikator für die hohe Qualität des amerikanischen Lebensstandards: „Während die Neuheiten unserer Industrie die harte Nachkriegsgegenwart in Deutschland widerspiegeln, steigern die Amerikaner mit ihren Erfindungen die Annehmlichkeiten des Lebens.“23 Und dabei ver20 21 22 23

Margaret Bourke-White: Deutschland, April 1945, München 1979, S. 154f. Lilienthal: „Wie wir (wieder) Freunde wurden“, a.a.O., S. 10. Reuter: Schriften, Reden, a.a.O., S. 413. Der Abend, 13. Mai 1948.

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spricht das Modell Amerika nicht mehr, aber auch nicht weniger als: Wohlstand für alle! Ein viel versprechender Imperativ, der zwar weit entfernt von jeder Realität ist, der aber gleichwohl als argumentative Wunderwaffe nicht zuletzt auch gegen die ‚kommunistische Gefahr‘ eingesetzt werden kann. Mit anderen Worten: Konsumismus gegen Kommunismus – das ist der eigentliche West-OstKonflikt der späten 40er und dann vor allem der 1950er Jahre. Der American way of life, das ist – nach Jahren der Entbehrung – ein Synonym für die den Deutschen als Verlockung erscheinenden Freuden des unbeschwerten Konsums, für Wohlstand und für die kleinen Annehmlichkeiten eines sorgenfreien Lebens. Dabei sei es – glaubt man den Deutungsmustern der Zeitschrift Der Abend – dem Marshall-Plan, der den so genannten MorgenthauPlan abgelöst hat, zu danken, dass die Deutschen weder mit Bitterkeit noch mit Neid oder gar mit Missgunst nach Amerika schauen müssen, denn der Marshall-Plan – so eine Artikelüberschrift vom 8. April 1948 – stehe für eine neue, überaus „konstruktive Deutschland-Politik“24 der Amerikaner. Der mit dem Marshall-Plan verbundene Politikwechsel bedeute nichts Geringeres als eine „Bluttransfusion für [die] deutsche Wirtschaft“25. Und in der Tat, der Marshall-Plan signalisiert eine gravierende Umorientierung in der amerikanischen Deutschlandpolitik, Finanzhilfen sollen WestDeutschland an den Westen binden und zu einem sicheren Bollwerk gegen den Kommunismus im Osten machen: Abnehmende Ängste und Aufbruchstimmung, Wiederaufbau und wachsender Fortschrittsoptimismus stehen ganz oben auf der Agenda. Nicht Pessimismus, sondern Zuversicht, nicht Defätismus, sondern Vertrauen in die Zukunft, nicht vergangene Untergangsstimmung, sondern moderne Daseinsfreude und beschwingtes Lebensgefühl sind angesagt, und genau darum sind viele Deutsche von Amerika fasziniert, wobei für den American way of life vor allem die Kurzweil und Spaß, Genuss und Vergnügen versprechende amerikanische Freizeit- und Unterhaltungsindustrie steht, auf die nicht wenige Nachkriegsdeutsche mit unverhohlener Sehnsucht blicken: „Glückliches Amerika. Man dreht dort Filme, die ohne Probleme und Tragik nur der Unterhaltung und dem Vergnügen dienen“26.

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Der Abend, 8. April 1948. Der Abend, 9. April 1948 Der Abend, 3. Mai 1948.

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Die von Amerika ganz offenkundig ausgehenden ökonomischen und kulturellen Faszinationen – bunte Warenträume, attraktive Konsumangebote und verlockende Freizeitvergnügungen – werden dabei flankiert durch die enthusiastische Begeisterung für die im ‚Dritten Reich‘ verschütt gegangene und nunmehr mit Amerika und dem American way of life assoziierte so genannte ‚Freiheit‘. So fordert beispielsweise Paul Hoffmann, Administrator für die Europahilfe, am 7. Juni 1948 ebenfalls in Der Abend dazu auf: „Die Liebe des amerikanischen Volkes für freiheitliche Einrichtungen und für die Freiheit selbst [muss] über die Ozeane hinaus wirksam werden“. Hoffmanns Lobrede auf das hohe Gut der in der ‚neuen Welt‘ gelebten geistig-kulturellen ‚Freiheit‘ lässt sich freilich erst richtig verstehen, wenn man seine Äußerungen auf den politischen Kontext des Kalten Krieges rückbezieht, und dann ist der Hinweis auf die von der amerikanischen Wertegemeinschaft gelebte Freiheit vor allem als antibolschewistische Abwehrstrategie in einem argumentativen Kreuzzug der Systeme zu verstehen: In dieser Sichtweise ist zwar die Hitler-Diktatur, nicht aber der Bolschewismus überwunden, der Bolschewismus ist nicht nur geblieben, sondern er ist vor allem zu einer Bedrohung der gesamten Welt geworden, und nur die Supermacht Amerika kann Deutschland, ja kann ganz Europa vor der Gefahr aus dem Osten schützen. Dass bei all dieser Begeisterung des publizistischen Mainstreams für die Leistungen der amerikanischen Schutzmacht einerseits und für die ökonomischen, politischen und geistig-kulturellen Verhältnisse in den USA andererseits der kulturkritische Blick über den Ozean durchaus nicht immer zu kurz kommt, davon zeugt – im Kontrast zu den zuvor skizzierten Amerika freundlich gesinnten Positionsbestimmungen – das von deutschen Intellektuellen und Eliten im gleichen Zeitraum wiederholt und nachdrücklich artikulierte, lautstarke Infragestellen von „Amerikanisierung“ und „Verwestlichung“, die Problematisierung von technischer Fortschrittgläubigkeit und materialistischer Lebenseinstellung, die Verurteilung von Entfremdung und Konsumorientierung, die Kritik an Vermassung und Vergnügungssucht genauso wie immer wieder artikulierte „manifeste Überlegenheitsgefühle gegenüber der zivilisatorisch weit entwickelten, dafür allerdings geistig-kulturell zurückgebliebenen ‚neuen Welt‘; traditionelle Dünkel der Gegenüber-

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stellung von Kultur und Zivilisation prägen zumindest noch das erste Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg.“27 Dabei hat die Idee, einer Amerika überlegenen Kulturgemeinschaft anzugehören – verbunden mit einer ausgesprochen negativen Einstellung aller mit Amerika assoziierten Vorstellungsbilder –, eine durchaus lange Tradition, die zurückreicht bis an das Ende des 18. Jahrhunderts: „Positive Sichtweisen bildeten eine Ausnahme. Die Dichotomie von Deutschlands ‚Kultur‘ und Amerikas ‚Zivilisation‘ bezeichnet den Gegensatz, Idealismus, Nobilität und Tiefgang auf der einen und Materialismus, Vulgarität und Seichtheit auf der anderen Seite. Beginnend mit Hegel bemäkelten praktisch alle deutschen Beobachter die politische Unreife der Vereinigten Staaten“28. Friedrich Nietzsche hasst die Vereinigten Staaten als Gestaltwerdung einer Moderne, die unausweichlich auch den europäischen Kontinent erobern werde, und für Sigmund Freud verkörpert Amerika all das, was er an der modernen Zivilisation verachtet: Es ist für ihn ein Ort, an dem nichts anderes als der Mammon zählt, an dem nichts anderes als der allmächtige Dollar regiert. Und selbst so unterschiedliche Denker wie Oswald Spengler und Hermann Hesse sind sich in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts darin einig, das ein sich selbst entfremdetes Deutschland nichts anderes als ein ‚zweites Amerika‘ sei. Dass auch die Nationalsozialisten Amerika und die amerikanische Lebensart verabscheuen, liegt auf der Hand, steht doch Amerika für all jene kulturellen, sozialen und politischen Werte, die die Nazis als konträr zu ihrem eigenen Wesen empfinden: Die Nazis sahen in Amerika eine mittelmäßige, von Mischlingen geprägte Massengesellschaft, regiert von einer jüdisch dominierten Plutokratie, die ihre Mission in der Erlangung der allumfassenden Weltherrschaft sah, politisch, wirtschaftlich, kulturell. Welche Attraktivität von der populären amerikanischen Kultur auf die europäischen Massen ausging, zeigt der Umstand, daß sogar die Nationalsozialisten es für nötig erachteten, während des Krieges Jazz, Swing und Ragtime im Radio zu spielen, damit die eigenen Soldaten nicht auf Sender der US-Armee umschalteten.29

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Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, S. 15. Andrei S. Markovits: Amerika, dich haßt sich’s besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa, Hamburg 2004, S. 82. Ebenda, S. 93.

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Und auch nach 1945, nach der Berlin-Blockade, im Kontext des Kalten Krieges, lösen Amerika und der American way of life in der zeitgenössischen Diskussion – und genau das macht die Janusköpfigkeit jener Jahre aus30 – durchaus nicht nur positive Denkbilder, Urteile, Assoziationen und Gefühle aus. Die pro-amerikanische Einstellung, die in den 1950er Jahren bei weiten Teilen der deutschen Bevölkerung dominiert, ist durchaus nicht unumstritten. Das zeitgenössische Stichwort „Amerikanisierung“ hat besonders bei den Intellektuellen31 der Zeit häufig eine eher kulturkritische Konnotation im Sinne von: ‚nicht-europäisch‘, ‚Fehlen einer Hochkultur‘, ‚der eigenen nationalen Kultur unterlegen‘, ‚niveauloser Oberflächlichkeit‘, ‚kalter Technisierung‘, ‚profaner Säkularisierung‘, ‚verarmter Seelenlosigkeit‘, ‚entindividualisierter Vermassung‘, ‚egalitärer Massenkultur‘, ‚flachem Materialismus‘ und ‚brutalem Profitdenken‘. „Amerikanisierung“ verweist einerseits auf konkrete Einflussnahmen und strukturelle Veränderungen im Kontext von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – erinnert sei hier nur an den Marshall Plan – es bezieht sich vor allem aber auf Kategorien der Wahrnehmung und Deutung: Man deutet bzw. interpretiert bestimmte Phänomene als „amerikanisch“ und empfindet bestimmte Entwicklungen der Nachkriegsgeschichte wenn nicht als Kolonialisierung, so doch als Anpassung an die westliche Führungsmacht, bei der es darum gehe, das Land „amerikanisch zu machen“, es „zu veranlassen, den American way of life zu adoptieren“32 und amerikanische Wertvorstellungen zu übernehmen. Damit aber wird die Frage der „Amerikanisierung“ zugleich auch zum Schauplatz der Auseinandersetzung über deutsche Identität. Und selbst Konrad Adenauer, an dessen pro-amerikanischer Einstellung kein Zweifel 30 31

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Vgl. hierzu: Georg Bollenbeck/Gerhard Kaiser (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik III, Wiesbaden 2000. Diese Amerika-kritische Einstellung ist „unter französischen Intellektuellen genauso verbreitet wie unter britischen Labourabgeordneten, skandinavischen Sozialdemokraten oder Gewerkschaftlern.“ Vgl.: HansJosef Rupieper: „Amerikanisierung in Politik und Verwaltung Westdeutschlands. Ein problematisches Konzept“. In: Konrad Jarausch/Hannes Siegrist (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 49-66, hier S. 59. Konrad Jarausch/Hannes Siegrist: „Amerikanisierung und Sowjtisierung. Eine vergleichende Fragestellung zur deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte“. In: Dies. (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, a.a.O., S. 11-49, hier S. 21.

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besteht und dessen Ausrichtung an der amerikanischen Führungsmacht in neueren Untersuchungen herausgearbeitet worden ist, will trotz engster politischer und ökonomischer Bindung an die USA kein „amerikanisiertes“ Deutschland.33 Mit anderen Worten: Der Begriff „Amerikanisierung“ hat in den 1950er Jahren Konjunktur, er avanciert zum Kampfbegriff, mit dem Neues, Unbekanntes und Unliebsames in Namen eines als gefährdet angesehenen deutschen bzw. europäischen Kulturerbes abgewehrt werden soll. Um 1948 entwirft Carl Schmitt eine bittere „Prognose für den konsequenten Amerikanismus“, und der Anthroposoph Zeylmans van Emmichoven zetert: „Auch bei uns findet der Amerikanismus immer mehr Eingang und bedeutet hier eine viel größere Gefahr als in Amerika selbst.“34 Ja, selbst in Romanen wird der amerikanische Lebensstil zum Thema gemacht, in Leonard Franks Roman Links wo das Herz ist (1952) beispielsweise lässt der Autor seinen Protagonisten Michael hoffen: „Möge die Menschheit davor bewahrt bleiben, daß der American way of life sich über die Erde verbreitet“35. Das Thema bewegt ganz offensichtlich die Gemüter der Intellektuellen und noch zehn Jahre später – als das Wirtschaftswunder längst eine Art von Normalisierung bewirkt hat – wird der Freiburger Politologe Arnold Bergstraesser – wenn auch mittlerweile etwas vorsichtiger – fragen: „Werden wir wirklich amerikanisiert?“36 Die kulturkritische Auseinandersetzung mit der „Amerikanisierung“ Deutschlands bzw. mit der katastrophalen Lage der gesamten westlichen Zivilisation wird dabei in den 1950er Jahren keineswegs nur von konservativen – jedwede Form von Modernisierung fürchtenden – Denkern gesucht, sondern an ihr beteiligen sich Denker der unterschiedlichsten politischen Couleur: Auf der rechten Seite befanden sich Alt-Nazis, frühere Radikalkonservative und ‚Tat‘-Männer wie Carl Schmitt, Hans Zehrer, Arnold Gehlen, Hans

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Vgl. Rupieper: „Amerikanisierung in Politik und Verwaltung Westdeutschlands“, a.a.O., S. 60. Vgl. hierzu auch: Michael Ermarth: „Amerikanisierung‹ und deutsche Kulturpolitik 1945-1964. Metastasen der Moderne und hermeneutische Hybris“. In: Jarausch/Siegrist (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, a.a.O., S. 315-334, hier S. 317. Leonard Frank: Links wo das Herz ist, München 1952, S. 156. Arnold Bergstraesser: „Werden wir wirklich amerikanisiert?“ In: Christ und Welt, Jg. 15 (1962) H. 34, S. 4-8, hier S. 6.

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Grimm, Giselher Wirsing, Eugen Diesel, Karl Korn, Ernst von Salomon und Heinrich Hauser. Auf der linken Seite sammelten sich Sympathisanten der Frankfurter Schule, Stefan Heym, Robert Jungk, Erich Kuby, Günther Anders, L.L. Matthias, Gerhard Zwerenz und andere. In der Mitte gab es auch differenziertere Betrachtungsweisen bei Willy Hellpach, Jean Amery, Alfred Weber, Karl Jaspers, Joachim Besser, Alexander Rüstow, Klaus Mehnert und Arnold Bergstraesser. Als ästhetisch-metapolitische Kommentatoren schlossen sich Ernst und Friedrich Jünger, Martin Heidegger und Gottfried Benn der Debatte an.37

Eine der weitsichtigsten Visionen entwirft Robert Jungk, dessen Buch Die Zukunft hat schon begonnen (1952) in nur zwei Jahren neun Auflagen erlebt. Jungk setzt sich bei seinem kultur-kritischen Blick in die Zukunft mit dem amerikanischen Machbarkeitswahn auseinander, der als „Griff nach der Allmacht“ nichts anderes sei, als der Versuch, Gott selbst zu übertrumpfen, mit der bitteren Konsequenz freilich, dass nichts anderes als Technizismus, Totalitarismus, Nihilismus und Inhumanität das Ergebnis sein werden: Denn fast jeder von uns hat auf irgendeine Weise bereits den Einfluß des ‚Amerikanismus‘ erfahren, bevor er je den Boden der Vereinigten Statten betritt. […] Amerika bemüht sich darum, die Macht über das All zu gewinnen, die vollständige, absolute Herrschaft über das Universum der Natur in allen seinen Erscheinungen. […] Es geht um Gottes Thron. Gottes Platz zu besetzen, seine Taten zu wiederholen, einen eigenen menschengemachten Kosmos nach menschengemachten Gesetzen der Vernunft, Vorhersehbarkeit und Höchstleistung neuzuschaffen und zu organisieren, das ist das wirkliche Fernziel Amerikas. […] Nichts bleibt unberührt, nichts unbenützt. Selbst das Innerste von Himmel und Stoff, von Lebensquell und Seele muß sich öffnen. Es gibt keinen Halt mehr vor dem Tod, keinen Respekt mehr vor der Zeit. Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft sind Jongleurbälle, die durcheinandergewirbelt werden. Welch zahmer Stümper war Prometheus, verglichen mit seinen fernen amerikanischen Nachfahren! […] Der unsichere Faktor Mensch [muß] durch einen möglichst zuverlässigen ersetzt werden. […] Der verlässliche lenkbare Durchschnittsmensch wird zum neuen Pionierideal. […] Das Morgen ist

37

Ermarth: „‚Amerikanisierung‘ und deutsche Kulturpolitik 1945-1964“, a.a.O., S. 321.

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schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und verlarvt sich hinter dem Gewohnten.38

Dass Jungk mit seiner Diagnose einen zentralen Nerv der Zeit getroffen hat, dokumentiert sich nicht nur in den hohen Verkaufszahlen seines Buches, sondern auch auf einer Wandtafel des deutschen Pavillons bei der Brüsseler Weltausstellung, wo ein Ausspruch von Carl Friedrich von Weizsäcker – „Nicht alles darf der Mensch tun, was er kann“ – in anti-faustischer Geste TechnikSkepsis zum Ausdruck bringt. Die deutsche Wandtafel der Weltausstellung verweist darüber hinaus noch auf einen anderen Diskurs, der die Gemüter in den 1950er Jahren erhitzt: Dabei geht es um die Frage der Atombewaffnung. Seit 1954 berichten amerikanische, britische und französische Zeitungen, dass die USA planen, Atomraketen auf westdeutschem Boden zu stationieren. Die Amerikaner sehen die Bundesrepublik – die bereits in den ersten Jahren des Kalten Krieges auf Anregung der USA remilitarisiert wird und dann im Jahr 1954 mit dem Aufbau einer eigenen Bundeswehr beginnt39 – als letzte Bastion des Antikommunismus, die es deshalb nachdrücklich zu verteidigen gilt. Ab Dezember 1955 lancieren dann Vertreter der Bonner Regierung, allen voran Konrad Adenauer und der frisch ernannte Verteidigungsminister Franz-Josef Strauss, in regelmäßigen Abständen Pressemeldungen, in denen die Ausstattung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen angekündigt wird. Anfang 1957 erklärt Adenauer: „Wir Deutschen können die Entwicklung nicht stoppen.“40 Nach gewonnener Bundestagswahl 1957 beschließt die Adenauer-Regierung am 25. März 1958 die Atom-Ausrüstung der Bundeswehr, ein Beschluss, der freilich in krassem Widerspruch zum Willen der Bevölkerung steht; Meinungsumfragen aus dem

38 39

40

Robert Jungk: Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht, Stuttgart 1952, S. 13ff. Vgl. hierzu auch Waltraud ›Wara‹ Wende: „Leiden an Deutschland – Zum politischen Engagement von Stefan Andres“. In: Michael Braun/Georg Guntermann/Birgit Lermen (Hg.): Stefan Andres – Zeitzeuge de 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Bern/New York 1999, S. 53-71. Zitat in: Hans Karl Rupp: Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer – Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung in der BRD, Köln 1970, S. 37.

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Jahr 1957 dokumentieren, dass rund 72% der Bevölkerung gegen die Atombewaffnung sind.41 Bleiben die von 1954 bis 1956 veröffentlichten Pressemeldungen über die Atomwaffenpläne der USA und der Bundesregierung zunächst ohne viel Resonanz in der deutschen Bevölkerung, so formiert sich ab Frühjahr 1957 ein lautstarker Protest der Atomwaffengegner. Zu den Aktivitäten, die am meisten Aufmerksamkeit erzielen, gehört die am 12. April 1957 veröffentlichte Göttinger Erklärung der 18 Atomwissenschaftler. Otto Hahn, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker und fünfzehn ihrer Kollegen sind sich darin einig, dass „ein kleines Land wie die Bundesrepublik […] sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet.“42 Die Pressereaktionen auf diese Erklärung sind gespalten, sie reichen von Zustimmung bis zur Unterstellung, die Unterzeichner würden damit allein der Sowjetunion einen Dienst tun. In erster Linie aber ist die Göttinger Erklärung der Auftakt der ersten großen Protestbewegung der Bundesrepublik. Die Kritik an der Atomaufrüstung vereint Vertreter der unterschiedlichsten Gruppen: Vor allem Angehörige der Kirchen, Gewerkschaften und Universitäten sowie Künstler und Schriftsteller engagieren sich in Reden und Aufrufen, Manifesten und Resolutionen, Aufsätzen und Zeitungsartikeln aktiv im Widerstand gegen die Atombombe. Am 4. September 1957 – genau elf Tage vor der dritten Bundestagswahl – veröffentlichen zwanzig Schriftsteller einen Appell, in dem sie die amtierende Adenauer-Regierung warnen: „Je mehr Staaten Atomwaffen herstellen, besitzen oder einlagern, desto näher rückt die Katastrophe.“43 Die Ergebnisse der Bundestagswahl sind jedoch eindeutig: Obwohl die oppositionelle SPD die Ablehnung der Atomwaffenpolitik – der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung entsprechend – zu einem ihrer Wahlkampfthemen gemacht hat, verliert sie die Wahl; die Mehrheit der Bevölkerung stellt ihre Bedenken gegenüber den Atomwaffenplänen der Adenauer-Regierung beim Gang 41 42 43

Ebenda, S. 89. „Göttinger Erklärung der 18 Atomwissenschaftler (1957)“. In: Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945, hg. v. Klaus Wagenbach, Berlin 1975, S. 139f. Zitiert nach Rupp: Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer, a.a.O., S. 95.

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zur Wahlurne zurück und votiert für die Partei des ‚Wirtschaftswunders‘. Nach dem Wahlsieg Adenauers findet dann jedoch – beginnend im Frühjahr 1958 – eine Vielzahl von ‚Anti-AtomProtesten‘ statt, und am 10. März 1958 wird der Presse in Bonn ein Aufruf mit dem Titelslogan Kampf dem Atomtod übergeben. Der zwei Wochen vor dem Parlamentsbeschluss zur Atomaufrüstung an zahlreiche Plakatwände geklebte Aufruf ist unterzeichnet von Wissenschaftlern, Politikern und Schriftstellern. Die Unterzeichnenden erklären: „Das deutsche Volk diesseits und jenseits der Zonengrenze ist im Falle eines Krieges zwischen Ost und West dem sicheren Atomtod ausgeliefert. Einen Schutz dagegen gibt es nicht.“ Deshalb fordern sie „Bundestag und Bundesregierung auf, den Rüstungswettlauf mit atomaren Waffen nicht mitzumachen, sondern als Beitrag zur Entspannung alle Bemühungen um eine atomwaffenfreie Zone in Europa zu unterstützen“44. Der Appell Kampf dem Atomtod wird – obwohl das Presseecho im Vergleich zur Göttinger Erklärung der 18. Atomwissenschaftler erheblich schwächer ist45 – zur Devise einer ganzen Reihe von Kampf dem Atomtod-Ausschüssen, die sich über die gesamte Bundesrepublik erstrecken. Die Aktivitäten der Ausschüsse umfassen Plakat- und Flugblattaktionen sowie die Organisation von Protestkundgebungen. Der Historiker Hans Karl Rupp geht davon aus, dass allein im April 1958 „in mindestens der Hälfte aller Städte über 200.000 Einwohner Kundgebungen“ gegen die Atom-Aufrüstung stattfinden.46 Gesprengt wird die Einheit der überparteilich agierenden Atomwaffengegner durch den am 3. und 4. Januar 1959 in Berlin stattfindenden Studentenkongresses gegen Atomrüstung. Anlass für die Spaltung der Atomwaffengegner ist die Verabschiedung einer Wiedervereinigungs-Resolution, die von Studenten aus dem Umkreis der linksgerichteten Studentenzeitschrift konkret durchgesetzt wird. In der Resolution wird gefordert, die bisherige Maxime „Mit Pankow wird nicht verhandelt“ aus der „politischen Argumentation“ zu streichen und die Möglichkeit einer „interimistischen Konföderation zu prüfen“. Die Presse-Reaktionen sind ein44 45 46

„Kampf dem Atomtod“ (1958). In: Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945, a.a.O., S. 144. Die Tageszeitungen berichten erst auf der zweiten oder dritten Seite über den Auftakt der ‚Kampf-dem-Atomtod‘-Bewegung. Rupp: Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer, a.a.O., S. 156. Ebenda., S. 182.

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deutig, man spricht von einem „Betrugsmanöver der Ostagenten“47, und die SPD – für die das Atomwaffenthema bereits nach dem verlorenen Wahlkampf des Jahres 1957 an Priorität verloren hatte – zieht sich nunmehr endgültig aus der ‚Anti-Atom-Bewegung‘ zurück. Dieser Rückzug lähmt das nationale Tun der ‚Kampf-demAtomtod‘-Aktivisten erheblich. Für das rasche Ende der gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr gerichteten Aktivitäten gibt es jedoch noch eine weitere Erklärung: Im Februar 1959 gründet die Regierungsseite unter dem Slogan Rettet die Freiheit ein ‚AntiAnti-Atomwaffen‘-Komitee. Das Konzept dieses Komitees besteht darin, Atomwaffengegnerschaft mit „kommunistischer Unterwanderung“48 und mit Amerikafeindlichkeit gleichzusetzen – und damit als Staatsgefahr zu denunzieren. Das Programm hat Erfolg, das Bonner Kampf dem AtomtodKomitee beendet seine Aktionen gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr. Stattdessen verstärkt man die bereits im Sommer 1958 begonnenen Aktivitäten auf internationaler Ebene. Ziel dieser internationalen Bewegung ist die weltweite Ächtung aller Kernwaffenversuche. Der Bonner Kampf dem Atomtod-Ausschuss versendet Telegramme, in denen die Regierungschefs der USA und der UdSSR sowie die Regierungschefs von Kanada, Großbritannien, Frankreich, Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei aufgefordert werden, alle Kernwaffenversuche zu beenden. Zu Beginn der 1960er Jahre beginnt dann die so genannte ‚Ostermarsch‘-Bewegung. Vorbild für den ersten ‚Ostermarsch‘ in der Bundesrepublik (Ostern 1960) ist die seit 1958 stattfindende englische ‚Ostermarsch‘-Bewegung. Die internationalen Aktivitäten der Atomwaffengegner genauso wie der Eklat auf dem Berliner Studentenkongress machen deutlich, dass es der Anti-Atomkraft-Bewegung – anders als von der Gegenseite verfälschend unterstellt – zu keinem Zeitpunkt um anti-amerikanische Kritik an der Außen-Politik der USA geht. Das Bild von der amerikanischen Schutzmacht gegen die Gefahren des Bolschewismus hat sich im politischen Diskurs fest etabliert, und lediglich die Angst vor dem Machbarkeitswahn ist es, die die Proteste der Atomwaffengegner begründet. Wenn Amerika in den 1950er Jahren kritisiert wird, dann ist es nicht die Außenpolitik, die Politik des Kalten Krieges, die im Visier der Kritik steht, sondern dann geht es stets um den American way 47 48

Ebenda, S. 157. Ebenda, S. 182.

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of life, den Kritiker als nicht kompatibel mit dem europäischen Kulturerbe sehen. Neben der Kritik am amerikanischen Machbarkeitswahn ist dabei vor allem die Orientierung an Konsum und Massengeschmack das Thema, das wieder und wieder im Visier der kulturkritischen Anklage steht. Der Soziologe Erich von Kahler beispielsweise klagt über die latenten Gefahren materialistischer Konsumfreuden. Er fürchtet um das Niveau des geistigen Lebens und um die Werte der kulturellen Sinnstiftung, wenn hoher Lebensstandard ausschließlich mit technischen Errungenschaften, der Verbesserung praktischer Gebrauchsgegenstände und mit materiellem Wohlstand verknüpft werde: Aber was versteht man heute unter einem höheren Lebensstandard? Meint man etwa ein höheres kulturelles Niveau, meint man noch Hebung, Verbreitung von Geist und Humanität? Meint man höhere Lebensfreuden und Lebenseinsicht, durch verstandenen, persönlichen Sinn des Lebens? Nein, man versteht darunter nurmehr die Zentralheizungen und Waschmaschinen, die Kühlschränke und Rasierapparate, die Automobile und Flugzeuge.49

Kritik an Wohlstandsdenken und Konsumorientierung findet sich auch bei Giselher Wirsing, der dem ‚kleinen Mann‘ vorwirft, er sei zum ‚normal-normalisierten Massemensch‘ geworden, dem es nurmehr um ein komfortables Konsumleben gehe: Der ‚Homo Americanus‘ sei nicht mehr ‚ante portas‘, sondern längst tief in die ‚deutsche Seele‘ eingedrungen.50 Und auch Carl Schmitt lamentiert über den am amerikanischen Lebensgefühl orientierten ‚Konsum-Terror‘ seiner im kosmetisch verschönten ‚Konsumparadies‘ lebenden Zeitgenossen: Die Menschen „wollen: ‚to live and have a fun‘ [sic], gut leben und ihr Späßchen haben. […] ‚Panem et circenses‘ wäre zu substantiell für diese ‚massa perditionis‘. Sie brauchen ‚carrionfun‘ [sic].“51 Ab Ende der 1950er Jahre ändert sich die Stimmung dann jedoch grundlegend, die Warnrufe der intellektuellen Kultur- und Amerika-Kritiker haben kaum mehr eine Chance einen fruchtbaren Resonanzboden zu finden. Wirtschaftsliberale wie Ludwig Erhard, der ‚Vater des Wirtschaftswunders‘, gewinnen an Einfluss und Macht, und Konservative wie der Bundeskanzlers Konrad Ade49 50 51

Zitiert nach: Schildt: Zwischen Abendland und Amerika, a.a.O., S. 91. Giselher Wirsing: Schritt aus dem Nichts, Düsseldorf 1951, S. 192ff. Carl Schmitt: Glossarium, hg. v. Ernst. von Medem, Berlin 1991, S. 251.

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nauer und sein Familienminister Franz-Josef Würmeling, die trotz aller Amerikafreundlichkeit ihrer Politik „keine Experimente“ machen wollen und die einseitige Orientierung an Konsum und materiellen Gütern als eine ernsthafte Bedrohung für die abendländische Kultur ansehen, haben ausgedient. Wohlstand für alle, das ist nicht nur der Titel eines Buches, das Ludwig Erhard im Jahr 1957 veröffentlicht, sondern „Wohlstand für alle“, das wird auch das politische Programm, das CDU und SPD – die mit dem Godesberger Programm ihre Bindung an den Marxismus aufgegeben hat – einander annähert. Konsum wird ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zunehmend zum festen Bestandteil der bundesrepublikanischen Identität und gleichzeitig zur argumentativen Hauptwaffe der noch jungen Demokratie im ideologischen Kampf gegen den Kommunismus. Elektrische Haushaltsgeräte, Fernseher und Autos werden selbst für Arbeiterhaushalte erschwingliche Prestigeobjekte, und Fernsehabende, Unterhaltungsangebote und lange Wochenenden bringen eine neue Unterhaltungs-, Freizeit- und Reisekultur. Mit der Folge, dass kulturelle Eliten, die sich auf Geistigkeit, Humanismus und die Kultur des Abendlandes berufen, schnell zu einem marginalen Schwundphänomen werden. Im gleichen Jahr, in dem Ludwig Erhard sein Buch Wohlstand für alle52 veröffentlicht, erscheint noch ein zweites, für das damalige Denken bedeutendes Buch, die soziologische Studie Die skeptische Generation53 von Helmut Schelsky, der – genauso wie Erhard – vorbehaltlos die mittlerweile längst soziale Wirklichkeit gewordene Konsumgesellschaft befürwortet. Im Versuch, die Bundesrepublik Deutschland nicht nur von der Weimarer Republik und dem Dritten Reich abzusetzen, sondern gleichzeitig auch einen Kampf gegen den Kommunismus zu führen, interpretiert Schelsky die Bundesrepublik als eine neue, angeblich klassenlose – nivellierte – Mittelstands-Gesellschaft, in der alle Ideologie überwunden sei, wobei er mit Blick auf die Jugendlichen der 1950er Jahre hervorhebt, dass diese – im Unterschied zur ‚politischen‘ Jugend der Jahre vor 1945 – in ihrem Denken nicht politisch, sondern ‚skeptisch‘ orientiert sei. Die deutsche Jugend der Nachkriegszeit sei eine Generation, die ihr Leben tolerant, realistisch und erfolgreich gestalte und die

52 53

Ludwig Erhard: Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957. Helmut Schelsky: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 1957.

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nicht den Weg ins Politische, sondern den Weg ins Private eingeschlagen habe.54 Im Schlusskapitel seines Buches über Die skeptische Generation setzt sich Schelsky dann noch mit dem Phänomen der so genannten ‚Halbstarken‘ auseinander. Versammelt Benno Wundshammer in seiner Deutschen Chronik 1954 unter dem Titel Die goldene Pest noch sämtliche rassistischen Vorbehalte gegen schrille, schwülsinnliche „Niggermusik“55, die er bei einem Besuch in einem amerikanischen Klub zu hören bekommen habe, so betont Schelsky im Hinblick auf die ‚Halbstarken‘ nunmehr, dass „die rauschhafte Hingabe an die vitale Musik der Jazz-Sessions [und] an die akrobatisch aufgelösten modernen Tanzformen“ als „neue Formen der Vitalgefühle“ und keineswegs als politische oder moralische Gefahr verstanden werden müsse. Schelsky verbindet zwar das rebellische Verhalten der ‚Halbstarken‘ mit dem Einfluss der amerikanischen Kulturindustrie, er spricht sich aber ausdrücklich dagegen aus, das Verhalten dieser Jugendlichen, die sich an rebellischen Außenseitern wie James Dean oder Elvis Presley orientieren, als irgendwie primitiv oder gar unmoralisch anzusehen. Dies freilich muss dem Soziologen um so leichter erscheinen, ist doch der deutsche Rock’n’-Roll, repräsentiert von Conny Froboess und Peter Kraus, und die deutsche Teenagerkultur, mit weißem Petticoat und schwarzem Anzug, lediglich eine kleinbürgerliche, nivellierte Variante ihrer amerikanischen Vorbilder. Betrachtet man abschließend den gesamten Zeitraum zwischen dem Sieg über Hitler-Deutschland und dem Ende der 1950er Jahre, dann kann – mit Blick auf das Amerika-Bild der Nachkriegspublizistik – festgehalten werden, dass die Rede über „Amerikanisierung“ stets eine ambivalente Haltung gegenüber den USA impliziert. Erlebt man Amerika spätestens seit dem Kalten Krieg im politischen Diskurs als Garant der so genannten ‚Freiheit‘, so wird die ‚Neue Welt‘ als Paradigma der industriekapitalistischen Moderne und als Vorreiter der damit verbundenen Verhältnisse und Verhaltensweisen überaus ambivalent wahrgenommen. Was man von 54

55

Wobei der Soziologe darüber hinaus betont, dass auch die Elterngeneration mittlerweile eine skeptische geworden sei. Eine Argumentation, mit der Schelsky, der selbst zu dieser Elterngeneration gehört, den Versuch unternimmt, sich und seine Generation als innerlich befreit von den Schatten der Vergangenheit zu beschreiben. Benno Wundshammer: Deutsche Chronik 1954, Frankfurt a.M. 1955, S. 115f.

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der vermeintlich unaufhaltsamen „Amerikanisierung“ Deutschlands und der Welt zu erwarten hat, erweckt zwar Faszinationen und Hoffnungen, aber auch Abwehrreaktionen und Ängste. Dabei ist der Begriff „Amerikanisierung“ kein politischer Kampfbegriff mit Rechts-Links-Feindbildern, sondern die partielle Kritik an der schillernden Veränderung der eigenen Welt. Klagen gegenüber dem American way of life, Vorbehalte gegenüber Machbarkeitswahn, Fortschrittsgläubigkeit, Konsumorientierung und Massengeschmack kommen vor allem aus den Reihen bildungsbürgerlicher Eliten, die im Kontext von Wirtschaftswunder und Fortschrittsoptimismus der Ludwig-Erhard-Ära zunehmend verhallen. Literatur Als der Krieg zu Ende war. Literarisch-politische Publizistik 19451950. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum in Marbach a.N.; Ausstellungskatalog hg. v. Bernhard Zeller: Ausstellung und Katalog von Gerhard Hay/Hartmut Rambaldo/Joachim W. Storck unter Mitarbeit von Ingrid Kußmaul und Harald Böck, Stuttgart 1973. Amerikaner in Berlin. Bericht 2, hg. v. Presse- und Informationsamt des Landes Berlin, Berlin 1983. Bergstraesser, Arnold: „Werden wir wirklich amerikanisiert?“ In: Christ und Welt, Jg. 15 (1962), H. 34, S. 4-8. Berlins Schutzmächte. Bericht 1, hg. v. Presse- und Informationsamt des Landes Berlin, Berlin 1983. Bollenbeck, Georg/Gerhard Kaiser (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik III, Wiesbaden 2000. Bourke-White, Margaret: Deutschland, April 1945, München 1979. Clay, Lucius D.: Entscheidung in Deutschland, Frankfurt a.M. o.J. Conze, Eckart/Gabriele Metzler (Hg.): Deutschland nach 1945. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart, München 1945. Conze, Werner/Rainer M. Lepsius: Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983. Diner, Dan: Verkehrte Welten. Anti-Amerikanismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1993. Erhard, Ludwig: Wohlstand für alle, Düsseldorf 1957.

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Frank, Leonard: Links wo das Herz ist, München 1952. Frisch, Max: Tagebuch 1946-1949, Frankfurt a.M. 1950. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Berlin; Schriftenreihe; Informationen zur politischen Bildung (H. 205), Bonn 1984. Jarausch, Konrad/Hannes Siegrist: Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt a.M./New York 1997. Jungk, Robert: Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht, Stuttgart 1952. Large, David Clay: Berlin – Biographie einer Stadt, München 2002. Lilienthal, Bernhard: „Wie wir (wieder) Freunde wurden – Anmerkungen zur Berlin-Blockade“. In: Dollars & Träume. Studien zu Politik, Ökonomie, Kultur der USA, hg. v. der JosephWeydemeyer-Gesellschaft für USA-Forschung, Berlin 1984, S. 7-29. Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M. 1997. Markovits, Andrei S.: Amerika, dich haßt sich’s besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa, Hamburg 2004. Murphy, Charles J.V.: „Die Konstruktionen der Luftbrücke“. In: Der Monat. Eine internationale Zeitschrift. Jg. 1 (1948/49) H. 1, S. 27-29. Pechel, Rudolf: „Zwischenbilanz“. In: Schweizerisches Kaufmännisches Zentralblatt, vom 05. November 1948. Polster, Bernd: „Amerikas Autopie – Ein konsumistisches Manifest“. In: Ders. (Hg.): WestWind – Die Amerikanisierung Europas, Köln 1995, S. 55-65. Reuter, Ernst: Schriften, Reden, hg. v. Hans E. Hirschfeld und Hans J. Reinhardt, Berlin 1972. Röpke, Wilhelm: „Bedrohte Freiheit“. In: Der Monat. Eine internationale Zeitschrift. Jg. 1 (1948/49), H. 5. Rupp, Hans Karl: Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer – Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung in der BRD, Köln 1970. Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 1957. Schmitt, Carl: Glossarium, hg. v. Ernst von Medem. Berlin 1991. Schildt, Axel: Moderne Zeiten, Freizeit, Massenmedien und Zeitgeist in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995.

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Schildt, Axel: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1999. Schildt, Axel: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999. Trommler, Frank (Hg.): Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte, Opladen 1986. Wagenbach, Klaus (Hg.): Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945, Berlin 1975. Wende, Waltraud ›Wara‹: „Leiden an Deutschland – Zum politischen Engagement von Stefan Andres“. In: Michael Braun/ Georg Guntermann/Birgit Lermen (Hg.): Stefan Andres – Zeitzeuge de 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Bern/New York 1999, S. 53-71. Wende-Hohenberger, Waltraud: Ein neuer Anfang? Schriftstellerreden zwischen 1945 und 1949, Stuttgart 1990. Wilk, Gerhard H.: „Der Berlin-Appeal“. In: Berliner Forum, Jg. 1983, H. 4. Winter, Rolf: Little America. Die Amerikanisierung der Deutschen Republik, Hamburg 1995. Wirsing, Giselher: Schritt aus dem Nichts, Düsseldorf 1951. Wundshammer, Benno: Deutsche Chronik 1954, Frankfurt a.M. 1955. Zank, Wolfgang: „Adenauers Schachspiel mit Atomwaffen. Wie der Kanzler widerspenstige Professoren und seine furchtsamen Wähler hinters Licht führte“. In: Die Zeit, vom 25. April 1997, S. 9-11.

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ZWISCHEN KONTINUITÄT UND INNOVATION: DER WESTDEUTSCHE SPIELFILM 1945-1960

Lars Koch (Berlin)

Man kommt sich zuweilen vor, als wäre man hundertfünfzig Jahre zurückversetzt, in die Zeit der Frühromantik, als man ein so unpopuläres Buch wie die Wissenschaftslehre Fichtes allgemein zu den großen Ereignissen des Zeitalters rechnete und als die Einzelwissenschaften sich bis ins Innerste bewegt zeigten von den Motiven der großen spekulativen Systeme. […] Der Stand des Bewusstseins wird bezeichnet durch den Mangel an Sprengkraft, an Abenteuerlust, selbst an Neugier. Die Macht des Daseienden, seiner Einrichtungen nicht anders als seiner Trümmer, über die Menschen ist derart ausgewachsen, daß sie es nicht wagen, aus sich heraus dem Bestehenden das darüber hinausweisende Element entgegenzusetzen. Der Nachkriegsgeist, in allem Rausch des Wiederentdeckens, sucht Schutz beim Herkömmlichen und Gewesenen. 1

Diese Einschätzung Theodor W. Adornos, formuliert im Jahre 1950, steht in ihrer Klage über die Konventionalität und Rückwärtsgewandtheit der deutschen Gegenwartskultur paradigmatisch für eine kulturkritische Sichtweise der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die bis in die 1980er Jahre hinein vor allem deren restaurativen und an konservativen Wertvorstellungen orientierten Charakter betont hat. Die „boring fifties“, so die zeitnahe These, seien bestimmt gewesen von einer Atmosphäre des Wiederaufbaus und des Wirtschaftsaufschwungs, die, grundiert vom Drang der Menschen nach einer spießig-kleinbürgerlichen Normalität, das kulturelle Leben mit einer gewissen Dumpfheit und provinziellen Enge belegt habe. Gerade der hier zur Debatte stehende deutsche Nachkriegsfilm wurde dabei als Zeitgeistdokument herangezogen und von der zeitgenössischen Kritik in der Nachfolge von Adornos

1

Theodor W. Adorno: „Auferstehung der Kultur in Deutschland?“ In: Frankfurter Hefte Jg. (1950) H. 5, S. 469-477, hier S. 473.

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und Horkheimers Thesen zur „Kulturindustrie“2 scharf attackiert. Angesichts der künstlerischen Ambitionslosigkeit vieler Produktionen in einen „Kummer über soviel Schlechtes“3 verfallen, betonte man die personalen und ästhetischen Kontinuitäten zur Filmproduktion des Dritten Reiches und vermutete eine übergreifende Kooperation von politischer Klasse und Filmwirtschaft mit dem Ziel der politischen und gesellschaftlichen Restauration. Das Publikum, so argumentierte man, begreife das Kino vor allem als exotistischen Fluchtraum, dessen Betreten es ermögliche, die Traumata der Vergangenheit zu verdrängen und die Probleme der Gegenwart zu ignorieren. Den in Westdeutschland produzierten Filmen attestierte man –nachzulesen etwa in Wolfdietrich Schnurres 1950 veröffentlichter Streitschrift Rettung des deutschen Films – „primitivstes Mittelmaß“ und „kläglichste Aufbaupathetik“4. Man sah im deutschen Film, in der ihm unterstellten programmatischen Fixierung auf harmoniesüchtige Unterhaltung, in seiner Tendenz zur Entpolitisierung und Konfliktscheue, ein echtes Hemmnis für einen möglichen gesellschaftlichen Neuanfang, und kam – wie etwa der Filmpublizist Joe Hembus 1961 – in vielfachen Variationen zu dem Ergebnis: Der deutsche Film, „er ist schlecht. Es geht ihm schlecht. Er macht uns schlecht. Er wird schlecht behandelt. Er wird auch weiterhin schlecht bleiben.“5 Viele Aspekte der Kritik am westdeutschen Nachkriegsfilm haben auch heute noch ein hohes Maß an Berechtigung. Zutreffend ist nach wie vor die Betonung der Entschuldungs- und Enthistorisierungstendenzen im Umgang mit der NS-Vergangenheit, die Hervorhebung des oftmals in dichotomischen Freund-FeindBildern argumentierenden Anti-Kommunismus und der ablehnende Verweis auf die in vielen Fällen erzkonservativen Repräsentationsmuster der Geschlechterverhältnisse. Genauso, wie sich in der deutschen Zeitgeschichtsforschung insgesamt in den letzten zwanzig Jahren viele Bewertungen verändert und neue Forschungsper2 3

4 5

Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947), Frankfurt a.M. 1998, S. 128-176. So der Filmkritiker Rolf Becker in einem Rundumschlag zum deutschen Film im Jahre 1959, zitiert nach Knut Hickethier: „Film in der Bundesrepublik 1950 bis 1962“. In: Ders. (Hg.): Medien in den fünfziger Jahren, Marburg 2007 (noch nicht veröffentlichtes Manuskript). Wolfdietrich Schnurre: Rettung des deutschen Films. Eine Streitschrift, Stuttgart 1950, S. 9. Joe Hembus: Der deutsche Film kann gar nicht besser sein, Bremen 1961.

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Der westdeutsche Spielfilm 1945-1960

spektiven herauskristallisiert haben, man mithin die Geschichte der Bundesrepublik unter Stichworten wie „Modernisierung im Wiederaufbau“6, „deutsche Wandlungen“7 und „geglückte Demokratie“8 erzählt, so haben sich aber auch bezüglich der filmhistorischen Analyse der Jahre 1945-1960 neue Aspekte und andere Schwerpunktsetzungen ergeben, die den grundsätzlich negativen Trend der Bewertung des Nachkriegsfilms aufgebrochen und die Beschäftigung mit ihm um viele thematische, ästhetische und institutionsgeschichtliche Fragestellungen bereichert haben. Unterstrich man früher vor allem den kompensatorischen und geschichtsblinden Charakter des Nachkriegsfilms, so orientiert sich die Filmforschung nun vor allem auch an der Frage, welche spezifischen Leistungen der deutsche Film in seiner Eigenschaft als Massenmedium dem Projekt des gesellschaftlichen und kulturellen Wiederaufbaus zuführte, welche Reflexionsräume und Kommunikationsangebote im Umgang mit der realgeschichtlichen Modernisierung er eröffnete und welche individuellen und kollektiven Identitätsmuster er nach dem sozialen und kulturellen Rahmenbruch des Jahres 1945 bereit stellte. In den westlichen Zonen wurde das Kino nicht nur zur kulturindustriellen Oase einer von sozialen Wirrnissen, ökonomischen Problemen und moralischen Schuldgefühlen geplagten Zusammenbruchsgesellschaft, sondern sukzessive auch zu einem Ort der permanenten Selbstveränderung und Selbstvergewisserung, wo die sich vor dem Hintergrund von Wiederaufbau, Westintegration und Kaltem Krieg entwickelnden sozialen Spannungen in symbolischer Form artikuliert, durchgespielt und einer mal verzögerten, mal forcierten Lösung zugeführt werden konnten. Die Ordnungen der Dinge, die der Nachkriegsfilm präsentierte, waren ästhetischer Widerschein der – um mit Siegfried Kracauer zu sprechen – „tiefenpsychologische[n] Dispositionen“9 einer unter der Oberfläche immenser Geschäftigkeit nach wie vor tief verunsicherten Nachkriegsgesellschaft. Über die implizite wie explizite Artikulation von Orientierungslosigkeit und Zukunftsangst hinaus, 6 7 8 9

Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Studienausgabe, Bonn 1998. Konrad Jarausch: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995, München 2004. Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Ein Beitrag zur Geschichte des Films, Hamburg 1958, S. 8.

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stellten die Geschichten, die der Film erzählte, aber zugleich auch in konstruktiver Weise politische Argumentationsfiguren, soziale Handlungsrollen und kulturelle Deutungsmuster bereit, die, wie es Knut Hickethier vor einiger Zeit formuliert hat, zur „Restabilisierung und Eingewöhnung in eine zumindest im Film friedvoll entspannte Moderne“10 beitragen konnten. Die damit implizit angedeutete Charakteristik des Mediums „Spielfilm“, seine über materiale, soziale und mentale Codes determinierte Zeitgebundenheit bei gleichzeitiger semantischer und ästhetischer Perspektivierung auf fiktionale Möglichkeitswelten soll im Folgenden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Innovation, anhand von vier Genre-Mustern11 verdeutlicht werden. Durch die gewählten Genre-Muster, lassen sich in filmhistorischer Perspektive mögliche Entwicklungslinien markieren, zugleich aber lässt sich auch, indem in den Mustern zentrale Mentaleme und diskursiven Verschiebungen der Jahre 1945-1960 deutlich werden, Filmgeschichte als Gesellschafts- und Kulturgeschichte schreiben.12 I.

Der Trümmerfilm

Erstmals deutlich wurde die gesellschaftliche Funktion des Spielfilms nach 1945 im späterhin so genannten „Trümmerfilm“. Noch stark unter dem Eindruck des Endes des Dritten Reiches stehend, wurde er, nach der Auflösung der deutschen Filmindustrie von den Alliierten lizenzpolitisch kontrolliert, zu einer medialen Plattform auf der die Niederlage Deutschlands und die Zerstörungen und Opfer des Krieges zunächst beklagt und dann auch sinnhaft überformt werden konnten. Waren diese ersten Filme zunächst noch bestimmt von einer großen Realitätshaltigkeit, fand man in ihnen 10 11

12

Hickethier: „Film in der Bundesrepublik 1950 bis 1962“, a.a.O. Der Begriff des „Genres“ wird hier so verstanden, dass die Handschrift des Regisseurs zugunsten bestimmter Plot-Strukturen und ästhetischer Konventionen zurücktritt. Die Folge ist eine Standarisierung der Dramaturgien und eine Stereotypisierung von Handlungsmustern, die beim Zuschauer ein hohes Maß an Wiedererkennung erzeugen. Gerald Creeber: „What is Genre?” In: Ders. (Hg.): The Television Genre Book, London 2001, S. 1-7. Vgl. zum theoretischen Hintergrund einer solcherart akzentuierten „visual history“: Guenter Riederer: „Film und Geschichtswissenschaft. Zum aktuellen Verhältnis einer schwierigen Beziehung“. In: Gerhard Paul (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 96-113.

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Bilder von Stadtruinen, Flüchtlingsströmen und Schwarzmarkthandel, so wurde dieses Moment einer Bestandsaufnahme der grauen Alltäglichkeit des Überlebensnotstands dann allerdings sukzessive überblendet von einem in der politikfernen Privatheit angesiedelten Humanismusdiskurs, der ein für viele Menschen akzeptables Narrativ für den Umgang mit den Jahren der Naziherrschaft und der Frage nach dem eigenen Standpunkt in dieser Zeit lieferte. Filme wie Zwischen gestern und morgen (Braun, 1947) oder …und über uns der Himmel (von Baky, 1947) erzählten die zurückliegenden Jahre in Form von archetypischen Familienkonflikten die einer individuellen Lösung zugeführt werden, eine Perspektive die sich zeitgleich auch in der Literatur, so z.B. bei Alfred Döblin findet;13 Helmut Käutners unter britischer Lizenz hergestellter Film In jenen Tagen (1947) macht ein Auto zum Erzähler des Plots und präsentiert seine sieben ehemaligen Besitzer als mehr oder weniger unschuldige Opfer der Zeitläufte. Die an den expressionistischen Stil der 1920er Jahre anknüpfende Darstellung der Ruinenstädte, die dem Trümmerfilm seinen Namen gegeben hat, dient filmübergreifend als visuelle Markierung des Bruchs mit der Vergangenheit. Die zerstörte Welt, die der Film der ersten Nachkriegsjahre präsentiert, ist ein Raum des Transits, in dem die jeweiligen Protagonisten exemplarisch den Schritt aus Verzweiflung und Resignation in eine von Hoffnung und Aufbruch bestimmte Zukunft vollziehen. Gegenwart ist Übergang, Erinnerung an die Jahre der NS-Herrschaft kann bis weit in die 1950er Jahre hinein nur dann thematisiert werden, wenn sie dem Zuschauer in klar identifizierbaren Gut-BöseKonstellationen erscheint oder mithilfe deutlich aus der deutschen Nachkriegsgesellschaft herausgelösten Einzelfiguren zur Anormalität übersteigert dramatisiert wird. Die Schlussworte in Wolfgang Staudtes selbstkritisch intendierten Die Mörder sind unter uns (1946), der ersten DEFA-Produktion der Ost-Zone, die sich aber auch beim gesamtdeutschen Publikum großer Beliebtheit erfreute, geben in ihrer pathetischen und zugleich völlig unhistorischen Menschheitsemphase schon früh die Parole aus, die zur zentralen Argumentationsweise des ersten Nachkriegsjahrzehnts im Umgang mit der Vergangenheit werden sollte: „Wir haben die Pflicht An13

Vgl. hierzu Lars Koch: „Die Kriegsschuldfrage als existenzielle Erinnerungsarbeit – Alfred Döblin Roman ‚Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende“. In: Ders./Marianne Vogel (Hg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900, Würzburg 2007, S. 186-204.

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klage zu erheben und Sühne zu fordern im Auftrage von Millionen unschuldig hingemordeter Menschen.“ Nicht um die Bestrafung der Täter geht es in der appellativen Rede der Hauptfigur, sondern – ganz auf der Linie der alliierten Politik, die die juristische Aufarbeitung der NS-Diktatur ohne Beteiligung der Deutschen durchführen wollte14 – zuallererst um innere Selbstzerknirschung des deutschen Jedermanns. Der gesellschaftliche Standpunkt des von der Hauptfigur Mertens adressierten „Wir“, das macht die Dramaturgie des Films deutlich, schließt all jene Deutschen mit ein, die nicht dezidiert als Täter des NS-Regimes in Erscheinung getreten sind und nach 1945 ob des Geschehenen ein privates Gefühl der Scham empfinden. Die damit in Staudtes Die Mörder sind unter uns wie auch in vielen anderen Filmen vollzogene „Verlagerung des Blickwinkels vom Gesellschaftlichen aufs Individuelle“15 motiviert die Identifizierung mit der Opferrolle, entlastet von virulenten Schuldgefühlen und ermöglicht die symbolische Integration von Millionen kompromittierter Mitbürger auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze. Der deutsche Faschismus in seinen historisch-gesellschaftlichen Wurzeln, der rassenideologisch legitimierte Krieg und die Judenvernichtung als seine logischen Konsequenzen, werden, wenn überhaupt, nur als Bruchstücke individueller Biografien und privater Rückschläge erzählt, als Widernisse somit, wie sie in jenen Tagen jeder Deutsche erleben musste. Die omnipräsente Akzentuierung des Leids schließt die anonym bleibenden Verfolgten des NS-Regimes genauso mit ein wie auch die „normalen“ Deutschen. Behauptet wird eine Schicksalsgemeinschaft im Angesicht böser Mächte, die sich nach den sozialen Verwerfungen durch Krieg, Gewaltherrschaft und Teilung dazu aufgerufen sieht, den Neuanfang zu wagen. Die Deutschen werden zu Hitlers ersten Opfern, als Überlebende der Hölle des Krieges entkommen und nunmehr – beispielsweise in dem Film Nachtwache aus dem Jahre 1949 – im Namen der Erneuerung christlich-humanistischer Werte dazu berufen, den Aufgaben und Anforderungen des Wiederaufbaus mit Einsatzbereitschaft und Optimismus entgegenzutreten. 14

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Vgl. Thomas Brandmeier: „Von Hitler zu Adenauer. Deutsche Trümmerfilme“. In: Hilmar Hoffmann/Walter Schobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, Frankfurt a.M. 1989, S. 22-61, hier S. 39. Sabine Hake: Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 167.

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II. Kriegsfilm Zunächst auf den Umgang mit der Vergangenheit perspektiviert, ermöglichte das Humanismus-Narrativ des ab 1948 in den Kinos nicht mehr anzutreffenden Trümmerfilms mit seiner Rhetorik der Erneuerung eines westlich-abendländischen Kulturzusammenhangs zugleich auch einen argumentativen Brückenschlag in ein weiteres, hochsensibles und diskursiv umkämpftes Terrain: die gesellschaftliche und dann auch filmische Erörterung der militärischen Vergangenheit und die Diskussion um eine mögliche Remilitarisierung der westdeutschen Gesellschaft im Zuge des sich mit dem KoreaKonflikt akut verschärfenden Kalten Krieges. Das HumanismusPostulat, das bisher vorzugsweise dazu benutzt worden war, eine Differenz zwischen dem NS-System und der deutschen Bevölkerung zu konstruieren, entwickelte vor dem Hintergrund der eskalierenden Systemkonkurrenz nun auch als semantische Demarkationslinie zwischen West und Ost und den dort jeweils herrschenden politischen Bedingungen ein enormes legitimatorisches Potenzial. Unterstützt wurde die im Namen des Antikommunismus vollzogene kollektive Rehabilitierung der so genannten „anständigen“ Deutschen im Genre des Kriegs- und Widerstandsfilms dabei durch eine Personalisierungsstrategie, die, am Beispiel bedeutender Männer argumentierend, auch große Teile der staatlichen Institutionen, allen voran die Wehrmacht zu Opfern der NS-HerrscherClique stilisierte. Mit Curd Jürgens bzw. Otto Eduard Hasse prominent besetzte Filme wie Des Teufels General (Käutner, 1955) oder Canaris (Weidemann, 1954) bedienten einerseits die auch in der Popularität Adenauers anklingende Sehnsucht des Publikums nach einer mythologischen Vaterfigur und begründeten darüber hinaus ein neues kollektives Selbstbewusstsein, indem sie indirekt den militärischen Widerstand gegen Hitler als moralische Leistung aller Deutschen herausstellten und ihn mit dem Hinweis auf einen tradierten Wertekanon von Pflicht und Ehre legitimierten. Ab 1955, mit dem Aufbau der Bundeswehr und dem Eintritt der Bundesrepublik in die NATO, wurde der zurückliegende Krieg und damit verbunden der Mythos von der „sauberen Wehrmacht“ dann zu einem zentralen geschichtspolitischen und erinnerungskul-

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turellen Thema16, das in unterschiedlichen Genres, vom Historiendrama bis hin zur Militärkomödie, in einer spezifischen Mischung „aus nostalgischem Kriegsabenteuer, durchaus realistischer Schilderung des Kasernendrills, der Grausamkeit des Krieges und menschlich-besinnlicher, moralischer Momente“17 durchgespielt und gezielt von seinem politisch-historischen Entstehungshintergrund abgekoppelt wurde. Meist wurden dabei junge Kriegsteilnehmer – „echte Soldaten“18 im Sinne einer Aktualisierung wertkonservativer Bedeutungshierarchien in ein Szenario der individuellen Bewährung und des Durchhaltens gestellt, welches dem Zuschauer vor allem die Schicksalhaftigkeit und Unumgänglichkeit des Kriegsgeschehens vermitteln sollte. Paradigmatisch für eine damit implizit propagierte „Strategie der bauernschlauen Anpassung an das Unvermeidliche“19 war die 1954-1956 unter der Regie von Paul May entstandene Trilogie 08/15, die in einem oberflächlichen Plädoyer für Menschlichkeit und Kameradschaft einfache Soldaten und leitende Offiziere als den Nazis kritisch gegenüberstehende Gruppe auftreten lässt. Ästhetisch orientiert an amerikanischen Vorbildern wie All Quite on the Western Front (Milestone, 1931) oder The Desert Fox (Hathaway, 1951) gelang es in großen Publikumserfolgen wie Frank Wisbars Hunde wollt ihr ewig leben? (1958) oder der antirussische Stereotype aktualisierenden Simmel-Verfilmung Der Arzt von Stalingrad (von Radvanyi, 1958) ein Bild der reinen Wehrmacht zu tradieren, das es der Bundesrepublik in der politischen Konstellation der Gegenwart erlaubte, zumindest im Hinblick auf die bis in die 1960er Jahre hinein dominante Generation der Kriegsteilnehmer ein positives Selbstbild als wehrhafter Frontstaat im Kampf gegen den Kommunismus zu etablieren.

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Zur Geschichtspolitik im Kontext der westdeutschen Wiederbewaffnung vgl. Peter Reichel: Erfundene Erinnerung. Weltkrieg und Judenmord in Film und Theater, München/Wien 2004, S. 29-127. Helmut Korte/Werner Faulstich: „Der Film zwischen 1945 und 1960: ein Überblick“. In: Dies. (Hg): Fischer Filmgeschichte, Bd. 3: Auf der Suche nach Werten 1945-1960, Frankfurt a.M. 1990, S. 11-33, hier S. 26. Jörg Echternkamp: „Wut auf die Wehrmacht? Vom Bild der deutschen Soldaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit“. In: Rolf-Dieter Müller/Hans-Erich Volkmann (Hg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 1058-1080, hier S. 1073. Hickethier: „Film in der Bundesrepublik 1950 bis 1962“, a.a.O.

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Die Darstellung von Gewalt und Zerstörung, wie sie in den während der 1950er Jahre in Westdeutschland produzierten, rund 600 Kriegsfilmen geleistet wurde, hatte neben dem vordergründig ideologischen Aspekt zugleich aber auch eine wichtige sozialpsychologische Funktion. Indem immer wieder in Variationen auf handelnde Einzelpersonen fokussierte Storys in die Kinos gebracht wurden, wurde den Zuschauern ein Bündel von identifikatorischen Narrativen an die Hand gegeben, welche es ihnen qua Distanznahme ermöglichte, oftmals verdrängte und mit kollektivem Schweigen belegte Erlebnisse in abgewandelter Form zur Sprache zu bringen. Filme wie U47 – Kapitänleutnant Prien (Reinl, 1958) oder Haie und kleine Fische (Wisbar, 1957) führten den Krieg als heroisches Abenteuer vor und stifteten in der Retrospektive dort Sinn, wo in der Realität nur Tod und Verzweiflung vorgeherrscht hatten.20 Diese Form psychischer Entlastung machte das Genre des Kriegsfilms im Kino zu einem großen Erfolg. Nicht aus ihrer mehr oder minder dezidierten Kritik am Kriegsgeschehen als solchem gewannen sie an Attraktivität, sondern aus ihrer immer wieder aufs Neue versuchten Darstellung des guten Soldaten, der allen Befehlen zum Trotz in einem ehrenhaften Kampf seine Pflicht erfüllt. Ein anderer Ton kommt erst gegen Ende der 1950er Jahre im Genre des Kriegsfilms zum Tragen. Bernhard Wickis Die Brücke aus dem Jahre 1959 etwa stellt einen Konnex zwischen der Sinnlosigkeit des Krieges und dem eigenen Handeln der Protagonisten her. Eine Gruppe von Schüler-Soldaten, die in blindem Eifer mit aller Gewalt eine strategisch völlig bedeutungslose Brücke zu verteidigen versucht, wird von den angreifenden Amerikanern bis zum letzten Mann aufgerieben. Was eine pathetische Erzählung über heroische Erhabenheit im Angesicht des fatalen Schicksalszusammenhangs hätte werden können, wird zur genauen Fallstudie über ideologische Verblendung und unkritischen Gehorsam. Die Brücke nahm damit viele Argumente und Beobachtungen auf, die – anhand anderer historischer Konstellationen erzählt – in späterhin als Meisterwerke gefeierten Antikriegsfilmen wie etwa Stanley Ku20

Wie gut diese filmischen Narrative in die eigene Erinnerung und ins Familiengedächtnis integriert werden konnten, zeigen aktuelle Studien. So konnte z.B. Harald Welzer anhand von Familieninterviews nachweisen, dass den familiären Kommunikationsgemeinschaften bewusst ist, wie sehr vermeintliche Erinnerungsleistungen von filmischen Vorbildern beeinflusst werden. Vgl. hierzu Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2005, S. 185-206.

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bricks Paths of Glory (1957) thematisiert wurden. Kritisch ist gegenüber Wickis Film, der in der zeitgenössischen Presse euphorisch aufgenommen wurde, dennoch anzumerken, dass auch in Die Brücke die Täterfrage letztlich offen bleibt. Indem der auf der Vorlage des gleichnamigen Romans von Manfred Gregor produzierte Streifen in der Darstellung des Irrsinns der letzten Tage auf eine die Handlung kontextuierende politische Akzentsetzung verzichtet, eröffnet sich dem Zuschauer trotz der realistischen Bebilderung der Kriegsgewalt auch hier einen Ausweg entlastender Identifikation: Zwar werden die Zuschauer – so die Kritik der Stuttgarter Zeitung – „tief in den Krieg hineingezogen, in einen Krieg ohne Landserhumor, ohne Abenteuerallüren, ohne nationales Prestige“, doch bleibt das Kinoerlebnis, dem eine „plakatierte Anklage“, eine „pazifistische Phrase“21 fehlt, letztlich in den dominierenden Deutungsmustern der 1950er Jahre befangen. Die zeitgenössische Bewertung verweist in ihrer rundum positiven Würdigung des Films somit wiederum auf die zentrale Argumentationsfigur im Streben nach einer verbindlichen Verortung des Kriegsgeschehens im sozial-kommunikativen und kulturellen Gedächtnis der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. III. Heimat- und Ferienfilm Mit dem zunehmenden Wohlstand in der Bundesrepublik und der sukzessiven Konsolidierung des politischen Verhältnisses zu den westlichen Nachbarn traten das Projekt der filmischen Ausstellung gewünschter gesellschaftlicher Strukturen und die Kanonisierung von akzeptierten Verhaltens- und Wertvorstellungen in den Mittelpunkt des bundesdeutschen Themenkinos. Das Genre, das dies mit großem Publikumszuspruch leistete, war der mit 236 Filmproduktionen in den Jahren zwischen 1951 und 1958 boomende „Heimatfilm“.22 Zwar erscheint die oftmals formulierte Ansicht, das Heimatfilm-Genre sei das einzige Film-Genre gewesen, das man spezifisch mit Deutschland, seinen Menschen und seiner Kultur identifizieren könne, übertrieben, nichtsdestotrotz haben die 21 22

„Mai 1945. Bernhard Wickis Meisterwerk: der Kriegsfilm ‚Die Brücke‘“. In: Stuttgarter Zeitung, 13. November 1959. Zahlen nach Walter Uka: „Modernisierung im Wiederaufbau oder Restauration? Der bundesdeutsche Film der fünfziger Jahre“ In: Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der 50er Jahre, München 2002, S. 71-89, hier S. 82.

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filmischen Evokationen von Naturverbundenheit und ländlicher Idylle doch in nicht zu unterschätzendem Maße das Selbstbild der Westdeutschen in den 1950er Jahren geprägt. Der strukturelle Aufbau all dieser Heimat-Filme, die den beiden von Hans Deppe inszenierten Publikumserfolgen Schwarzwaldmädel – dem Archetyp des Genres aus dem Jahre 1950 – und Grün ist die Heide (1951) – dem Anschlusserfolg aus dem Jahre 1951 – in den bundesdeutschen Kinos nachfolgten, war im Hinblick auf die in ihm anzutreffenden Plot-Konstellationen und Personenensembles sehr ähnlich. Jeweils bestimmend war ein melodramatischer Handlungsverlauf mit einer Liebesgeschichte als motivierendem Element; die Figuren waren stereotyp gezeichnet, keine von ihnen hatte einen wirklich bösen Charakter, einige waren dafür immer an der einen oder anderen liebenswerten Marotte zu erkennen. Unterhalb der eigentlichen Story findet sich nahezu immer ein Binnendiskurs, der die Suche nach Echtheit und Authentizität in Zeiten des Umbruchs thematisiert. Im Zentrum der Erzählung steht durchgehend ein in sich stabiler Mikrokosmos – oft ein Dorf in der Alpen- oder Heideregion –, der durch einen Fremdling in seinen Grundfesten erschüttert wird, im Fortgang der Handlung aber wieder konsolidiert werden kann. Natur ist in trivialer Übersetzung als Rousseauscher Naturzustand konnotiert, sie wird – die eigentliche Synthetisierung nach kulturindustriellen Mustern überdeckend – als authentisches Idyll gefeiert, in dem der Mensch zu sich selber finden kann.23 Als literarische Vorlagen des Heimatfilms dienten dabei oftmals Stoffe von Ludwig Ganghofer, Ludwig Thoma und Hermann Löns, die, in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1900 geschrieben, ästhetisch und inhaltlich die virulenten Ambivalenzerfahrungen der gesellschaftlichen Moderne in sublimierter Weise aufzuheben trachteten. Konstitutiv für Filme wie z.B. auch Kreuz am Jägersteig (Kugelstadt, 1954) war der Gegensatz zwischen Stadt und Land und die mit dieser Topografie verknüpfte Motivkette Ursprünglichkeit, Tradition und Harmonie versus Moderne, Fortschritt und Dekadenz. Im Gegensatz zur Naturromantik der 1920er und frühen 1930er Jahre – man denke etwa an Ernst Lubitsch’s Komödie 23

So wird in der Populärgeschichtsschreibung berichtet, dass sich Deppe die Landschaftsaufnahmen für sein Schwarzwaldmädel aus allen Regionen des Schwarzwaldes zusammengesucht hat. Das Gasthaus, der zentrale Ort des Films, existiert gar nicht, sondern ist perspektivisch auf 5 bis 6 verschiedenen Häuserfassaden zusammengesetzt. Vgl. hierzu Hickethier: „Film in der Bundesrepublik 1950 bis 1962“. A.a.O.

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Kohlhiesels Töchter (1920) oder auch Leni Riefenstahls Film Blaues Licht (1932) – wird die vehemente kulturkritische Codierung dieser modernisierungsdynamischen Ungleichzeitigkeit nun aber nicht mehr im Sinne einer filmischen Anklage der Gegenwart weiter forciert, sondern vielmehr im Sinne einer Ausbalancierung gesellschaftlicher Spannungen entschleunigt. Ästhetisch dem Volkstheater und dem Bergfilm des „Dritten Reiches“ weiter verhaftet,24 kommt es in der Lösung der filmisch dargestellten Konflikte zu einer Neujustierung von als akzeptabel ausgegebenen Handlungsund Rollenmustern. Wie Georg Seeßlen gezeigt hat, trug der deutsche Heimatfilm damit integral zur Neuformierung der bundesrepublikanischen Nachkriegsordnung bei, indem die den Zuschauern nahe gebrachte Heimat-Mythologie den „Umbau einer Gesellschaft [unterstützte], die [… nicht] radikal mit ihrer Vergangenheit brechen […] konnte, statt dessen aber, hinter der Fassade einer leicht nebulösen konservativen Rhetorik, eine wirtschaftliche und kulturelle Umgestaltung mit sich geschehen ließ.“25 Das Deutschland, das der Heimatfilm im Dienste eines „Umbaus der Identitäten“ und einer „Modernisierung der Gesellschaft“26 präsentierte, ist eines der blühenden Wiesen und der unberührten Natur. In diesem Sinne stellt er einen imaginären Raum bereit, der jenseits von Trümmern und Zerstörung eine visuelle Vorstellung dessen liefern konnte, was idealisierend überzeichnet und zugleich massiv entpolitisiert als eine gemeinsame mental map der jungen Bundesrepublik projektiert wurde. Darüber hinaus rekonstruierte der Heimatfilm in seiner Zitation der Tradition, in der Aufführung der Historie gewachsener Dorfgemeinschaften und der wiederkehrenden thematischen Behandlung der Erbe-Frage ein kulturelles Archiv kollektiver Vergangenheitsbezüge, welches, die Jahre 19331945 ausblendend, seine Zuschauer – wenngleich auch nur als vorgestellte Erinnerungsgemeinschaft – zueinander finden ließ. Dergestalt auf Konsensfindung adressiert, war es dem Heimatfilm aber zugleich auch möglich, schwierige Themen der Gegenwart wie z.B.

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So sind nahezu alle Kameraleute der Fanck-Schule, die in den 1920er und 1930er Jahren den deutschen Bergfilm geprägt haben, in den Mitarbeiterlisten der Heimatfilmproduktionen der 1950er Jahre wieder zu finden. Georg Seeßlen: „Durch die Heimat und so weiter. Heimatfilme, Schlagerfilme und Ferienfilme der fünfziger Jahre“. In: Hoffmann/Schobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen, a.a.O., S. 136-163, hier S. 136. Ebenda, S. 137.

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die Vertriebenenproblematik,27 die Geschlechterfrage oder den sich seit Mitte der 1950er Jahre anbahnenden Generationenwechsel sinnstiftend in seine Geschichten zu integrieren. So wurden zwar zunächst noch Aufsteiger und – im besonders schweren Fall – selbstbewusste Frauen in Filmen wie Rosen blühen auf dem Heidegrab (König, 1952) oder Der Meineidbauer (Jugert, 1956) einer Praxis der Strafe unterzogen. Hingegen war es in Kurt Obermayers Die Landärztin aus dem Jahre 1958 dann schon möglich, den Status einer gemäßigten Karrierefrau mit den Vorstellungen einer funktionierenden Dorfgemeinschaft zusammen zu bringen. Insgesamt besehen war der Heimatfilm restaurativ in seiner Fixierung auf die harmonische Versöhnung aller Konfliktlinien und der Beglaubigung männlicher Autorität, zugleich, und das macht wohl seine Modernisierungsleitung aus, lieferte er aber auch fortschrittliche Bilder von Zugehörigkeit, die auf einem gemeinsam geteilten Optimismus und der Hoffnung auf Wohlstand und Sozialfrieden aufbauten. Unterstützt wird die These der sozialen Wirksamkeit des Heimatfilms durch die Beobachtung, dass Mitte der 1950er Jahre die dramatische Aufladung des Stadt-Land-Konflikts an Intensität abnahm. Korrespondierend zum wirtschaftlichen Aufschwung in Westdeutschland gewann das städtische Leben an Selbstverständlichkeit, so dass der Modus der Gegenüberstellung sukzessive durch einen des akzeptierenden – und damit modernisierungsfreundlicheren – Nebeneinanders ersetzt werden konnte. Damit veränderte sich der Status des medialen Raumes der ländlichen Oase: Nicht mehr von ihrer Bedrohtheit durch eine zügellose und technisch forcierte Modernität wurde gegen Ende der 1950er Jahre erzählt, vielmehr wurde sie nunmehr zunehmend in ihrer Kompensationsfunktion für den durch die ökonomische Dynamik stressbedingt in Mitleidenschaft gezogenen Städter herausgestellt. Damit erfährt die konservative Werthierarchie natürlicher Ursprünglichkeit, die seit der Romantik den Naturdiskurs in Deutschland be27

Paradigmatisch wird die Vertriebenenproblematik in Deppes Grün ist die Heide durchgespielt. Der Wilderer der in diesem Film den Förster in Atem hält ist ein aus Schlesien stammender, ehemaliger Gutsbesitzer, der auch in der neuen Heimat das Jagen nicht lassen kann. Nachdem aber im Verlauf des Films der junge Forstbeamte das Herz der Tochter des Wilderers erobert hat und dieser zudem einen Mörder im Wald gestellt hat, werden ihm seine illegalen Jagdtouren verziehen. Der Film endet damit, dass ihm ein Trachtenchor zur Versöhnung das Schlesier-Lied singt.

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stimmt hatte, auf dem Wege einer massenkulturellen Aufbereitung eine perspektivische Umkehrung. Beurteilte die deutsche Kulturkritik Gegenwartsphänomene immer in einer rückwärtsgewandten Argumentation als Verlust vergangener Harmonie, so konstruiert der Heimatfilm implizit den kollektiven Erwartungshorizont einer besseren Zukunft, die eigentlich schon begonnen hat und in der auf der Basis eines konsumorientierten Gesellschaftsideals das gemeinschaftliche Genießen urbaner und ländlicher Ressourcen zum identitätsstiftenden Grundkonsens erklärt wird. Eine Fortführung fand der Heimatfilm in seiner Einübung in die Sozialstandards der westlichen Konsumwelt neben dem von Stars wie Caterina Valente, Cornelia Froboess und Peter Alexander getragenen Schlagerfilm vor allem auch im Ferienfilm, der in der Frage der richtigen Gestaltung des Freizeit- und Konsumverhaltens sein programmatisches Thema fand. Mit sprechenden Titeln wie Ferien vom Ich (Grimm, 1963) erklärte der Ferienfilm seinen von den Anforderungen des Wiederaufbaus angestrengten Zuschauern wie man sich von den Zumutungen der Arbeitswelt gut erholt. Dabei ging es ihm nicht so sehr um die Erzeugung romantischen Fernwehs, als vor allem um die filmische Aufbereitung des Massentourismus mit seinen Verheißungen von biederem Glück und Entspannung. Die Deutschen wurden in Filmen, Zeitschriften und populären Schlagern wie etwa Peter Alexanders „Mandolinen und Mondschein“ dazu aufgemuntert, europäische Länder wie Italien, Frankreich und Ungarn wieder zu entdecken, dieses Mal allerdings im Reisebus. Gemäßigtes Geldausgeben macht Spaß, so war die Botschaft, die auf die Einübung eines zivilen und auf die Privatheit gerichteten Habitus abzielte. Wo früher Stahlhelme und Panzer die Szenerie bestimmt hatten, wurden nun Konsumgüter wie Autos, Kameras und Küchenmaschinen zu Objekten der Attraktion. Die Bundesrepublik mit ihrer politischen und ökonomischen Entwicklung erlaubt – zu beobachten ist diese leitmotivische Aussage des Ferienfilms etwa auch in der vergnügten Unbekümmertheit der sehr erfolgreichen Mädels vom Immenhof (Schleif, 1955) – ein sorgenfreies Leben, für das der Einsatz loht. Das Personal, das hier den Zuschauer in gegenwartsbewusster und zugleich zukunftsoptimistischer Weise unterhält, weist in seiner fröhlichen Geschichtsvergessenheit den Weg zu einem Habitus zupackender Aktivität, der auf der Seite der Individuen exakt jene Anforderungen abbildet, die in der sich formierenden Leistungs- und bald auch Freizeitgesellschaft der jungen BRD von großer Bedeutung waren.

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IV. Der Gegenwarts- und Zeitfilm Der deutsche Kriegsfilm lieferte in einem gezielten diskursiven Austausch mit den Genres des Heimat-, Schlager- und Ferienfilms ein optimistisches Deutungsmuster von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das – auf politischen Wertvorstellungen wie Antikommunismus, Privatheit bzw. Familie und Konsumorientierung fußend – die politische und kulturelle Integration der Bundesrepublik in die westliche Allianz förderte. Ein Genre, das, quasi eine Ebene unter diesem Level staatspolitischer Gesellschaftspflege angesiedelt war und sich neben der oftmals ironischen Darstellung von Alltagsproblemen im neuen Wirtschaftswunderland mit den nicht zuletzt durch die informellen Amerikanisierungseffekte der Jugend- und Populärkultur initiierten Generationenspannungen beschäftigte, war der so genannte Gegenwarts- und Zeitfilm. Transportierte der Heimatfilm seine Gesellschaftsbilder in einem jenseits der Großstadt angesiedelten Raum, so kehrt die große, zumindest in Teilen mittlerweile wieder aufgebaute Stadt gegen Ende der 1950er Jahre als Ort der Handlung zurück. Die komödiantische Variante des Themas „Leben im hier und heute“ lieferten unter anderem Filme mit Heinz Erhard, der sich, wohlgenährt und allein stehend, mit den nichtigen Problemen des Massenkonsums und des Massenverkehrs rumzuschlagen hatte. So musste er sich in Drillinge an Bord (Müller, 1959) mit den Nöten des alleinerziehenden Vaters auseinandersetzen und erprobte er in harmlosen Filmen wie Natürlich die Autofahrer (Engels, 1959) und Der letzte Fußgänger (Thiele, 1960) in humoristischer Manier mögliche Überlebensstrategien im geschäftigen Nachkriegsdeutschland. Gemeinsamer Nenner aller Erhard-Filme war ein Gestus putziger Hemdsärmeligkeit, der reale soziale Konflikte und hohe Arbeitsbelastungen eines großen Teils der deutschen Bevölkerung mit einem pausbübischen Lachen zu verharmlosen half und mit dieser alles andere als unpolitischen Bebilderung der bundesrepublikanischen Nachkriegswirklichkeit auf populäre Weise an der Vorstellung einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“28 partizipierte. Ein weiteres Subgenre, das in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts Strömungen der Zeit in Sujetform aufgriff, war der so ge28

So Helmut Schelskys Diktum in „Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft (1953)“. In: Ders.: Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düsseldorf 1965, S. 331-336.

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nannte „Straßenfilm“, der die Alltags-, Arbeits- und Generationenprobleme der bundesdeutschen Jugend in durchaus differenzierter Weise inszenierte und sich insgesamt durch einen neuen filmischen Realismus auszeichnete. Filme wie Georg Tesslers Endstation Liebe (1957), Gerhard Oswalds Am Tag als der Regen kam (1959) und Frank Wisbars Nasser Asphalt (1959) entwickelten, in einem harten Schwarz-Weiß oftmals an Originalschauplätzen gedreht, unter Anleihen an das Kriminalgenre einen direkten Wirklichkeitsbezug, der eine mögliche Tendenzwende im Hinblick auf das Kino der 1960er Jahre andeutete. Ist der Film der 1950er Jahre insgesamt auf Konsensfindung ausgelegt gewesen, so macht auch der Straßenfilm hier keine direkte Ausnahme, nichtsdestotrotz werden aber die Problemlagen, die ausgeglichen werden sollen, direkter angesprochen. Die Welt, die der Straßenfilm zeigt, erscheint wie ein „utopischer Raum für kleine Freiheiten, für gegenläufige, rebellische, anarchistische Phantasien“.29 Die Figuren, die den Möglichkeitsraum der Straßen, Cafés und Tanzlokale bevölkern und die unter den rigiden Normierungen der Adenauer-Zeit zu leiden scheinen, entwickeln in ihrer Mode, ihrer Musik und in ihren Gesten einen an der amerikanischen Populärkultur orientierten Habitus der Nonkonformität, der sie bewusst zu gewünschten Outsidern der bundesrepublikanischen Normalität werden lässt. Auf der Ebene des Plots drückt sich die höhere Spannungshaltigkeit des Straßenfilms dadurch aus, dass er seine Figuren immer wieder in Berührung mit dem Gesetz bringt und der gesellschaftliche Konsens somit zumindest für einen Moment ins Wanken gerät. Paradigmatisch kommt diese neue Konfliktsensibilität in dem Film Die Halbstarken aus dem Jahre 1956 zum Ausdruck, der Horst Buchholz zum Star machte und ihm die Titulierung eines deutschen James Dean einbrachte. Der Film erzählt eine Jugend-Biografie, in der die Herkunft aus kleinbürgerlichem Milieu mit dem aggressiv vorgetragenen Wunsch nach Ausbruch verknüpft wird. Konsequenz dieser Sehnsucht nach einem anderen Leben sind auf der Handlungsebene der nächtliche Einbruch in eine Villa und der sich hieran anschließende Mord an dem überraschten Besitzer. Wichtiger als diese Straftaten sind für den Film aber die vermuteten Emotionen, die zu

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Norbert Grob: „‚…es gibt keine bessere Kulisse als die Straße…‘. Berlinfilme von Gerhard Oswald und Gerhard Tressler in den fünfziger Jahren“. In: Hoffmann/Schobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen, a.a.O., S. 206-225, hier S. 209.

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den Handlungen geführt haben und die im Stile eines „poetischen Verismus“30 als Gegenwartsempfinden einer ganzen Generation gedeutet werden. Indem der Film Gewalt nicht als Medium der Befreiung, sondern als Moment der Verzweiflung begreift, entkräftet er zugleich den sozialanalytischen Gehalt der dargestellten Grundkonstellation. Nicht um grundlegende Kritik an einer von wenigen alten Männern dominierten und in wirtschaftlicher Saturiertheit behaglich eingerichteten Gesellschaft geht es ihm, sondern um die Beschreibung eines Lifestyles, der als Lebenspraxis abgelehnt, als Verkaufsmaschine aber zugleich herausgestellt wird. Auf der Handlungsebene berichten die Straßen- oder auch Halbstarkenfilme in diesem Sinne über einen Lebensstil, der sich – auch da hat der Nachkriegsspielfilm seine marktwirtschaftliche Lektion gelernt – vor allem über Konsumartikel definiert: Jeans, Lederjacken, Motorräder wurden zu Symbolen einer letztlich wiederum aber ziemlich naiven Protestbewegung, die ihre antagonistische Reibungsfläche nicht aus soziologischer Analyse oder politischer Programmatik bezog, sondern den Gegensatz von deutscher Hochkultur und amerikanischer Unterhaltungskultur zu ihrem Gegenstand machte. Das andere Dasein, das die Figuren auf der Straße in einer unbewussten Radikalisierung des kapitalistischen Marktprinzips zu verwirklichen trachten, ist immer ein vorläufiges, eine Phase des Übergangs, an dessen Ende, wie die Hauptfigur in Die Halbstarken erklärt, die Rückkehr in die Gesellschaft steht: Wenn Du weiterkommen willst im Leben, dann darfst Du Dich nicht unterkriegen lassen. Wenn ich dem nicht auf den Kopf trete, dann tritt er mir auf den Kopf. […] Warum das alles? Weil ich nicht so’n beschissenes Leben führen will, wie Du oder die anderen […] Ich dreh jetzt ein paar teure Dinger, und dann ist Feierabend. Und kein Mensch wird wissen, wie ich’s geschafft habe. Und dann, dann mach’ ich in Familie.31

Auf einer Subebene veranschaulichten die Halbstarkenfilme, indem sie die orientierungssuchenden Jugendlichen zu ihren Helden machten, die reale Krise einer vaterlosen Gesellschaft, die für die nachfolgende Generation keine über Konsum und die Befolgung von Sekundärtungenden hinausweisenden Sinnangebote bereitgestellt hatte. Wie in den großen amerikanischen Vorbildern On the 30 31

Ebenda, S. 220. Zitiert nach ebenda, S. 212.

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Waterfront (Kazan, 1954), The wilde One (Benedek, 1954) und Rebell without a Cause (Ray, 1955), so artikulierte sich auch im deutschen Film die Sehnsucht nach neuen Erfahrungen, nach neuen Intensitäten und einem neuen Lebenssinn. Anders als bei Marlon Brando und James Dean aber, sah man in Deutschland in Horst Buchholz’ renitenter Energie einen gefährlichen Angriff auf die bürgerliche Moral. Hatten die Adoleszenzkrisen im amerikanischen Kino als Selbstwertartikulation der nachfolgenden Generation einen legitimen Platz, so wurden sie im deutschen Straßenfilm sogleich wieder pädagogisch überformt und in das Korrektiv eines neuen Generationenvertrags überführt. So wie die Figur des Freddy in Die Halbstarken ihre letztendliche Erlösung in der verantwortungsvollen Rückkehr auf gesellschaftlich normiertes Gebiet findet und sich reumütig der Polizei stellt, so werden die dramatischen Rollenkonflikte des Straßenfilms zum Schluss immer wieder dadurch entkräftet, das die Protagonisten des Aufstands auf den rechten Weg zurückkehren und damit eben jene Werte der Privatheit, der Ordentlichkeit und der Strebsamkeit restituieren, die im Adenauer- und Erhard-Deutschland die Norm sozialer Wohlanständigkeit definierten. V. Fazit Die Frage, inwieweit das westdeutsche Kino „amerikanisiert“ wurde, ist nicht eindeutig zu beantworten. Was man sicher sagen kann, ist, dass der deutsche Kinomarkt seit 1945 mit einer enormen Menge amerikanischer Spielfilme überschüttet wurde. Wie Irmela Schneider belegt hat, kamen 50% der in den 1950er Jahren in den deutschen Kinos ur- und erstaufgeführten Spielfilme aus den USA, knapp 25% nur aus der BRD. Ab 1947/48 nahmen amerikanische Filme quantitativ den ersten Rang in deutschen Kinoprogrammen ein.32 Besonders Western, Abenteuer- und später dann Kriegsfilme standen hoch im Kurs und zeichneten vor dem Hintergrund des Kalten Krieges das Bild eines Amerikas der militärischen Stärke und der heldischen Tapferkeit. In Konkurrenz zu dieser kulturellen „Amerikanisierung“ qua Masse sind es aber vor allem die deutschen 32

Vgl. Irmela Schneider: Film, Fernsehen & Co. Zur Entwicklung des Spielfilms in Kino und Fernsehen. Ein Überblick über Konzepte und Tendenzen, Heidelberg 1990, S. 32ff.

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Produktionen gewesen, die die Menschen ins Kino gelockt haben. Erfolgsranglisten belegen, dass der westdeutsche Film ab 1951/52 in den Spieltagen des Kinos besser abschneidet als der amerikanische: er erreicht eine Quote von knapp 40%, während Hollywood mit einem doppelt so großem Angebot auf nur knapp 30% in der Besuchergunst kam. Die „effektive Nachfrage des Publikums“33, zu diesem Schluss kommt auch Martin Loiperdinger, präferierte eindeutig den deutschsprachigen Film. Der dort vermittelte Wertekanon der Privatheit und Konsumorientierung, des Antikommunismus und der Bündnistreue hat es der Generation der Kriegsteilnehmer ermöglicht, sich auf der Ebene der symbolischen Verarbeitung in mittlerer Geschwindigkeit und weitestgehend frei von Modernisierungsressentiments mit den realen Veränderungsprozessen in den Feldern der Politik, der Ökonomie und der Kultur auseinanderzusetzen. Darin war natürlich eine, wenn auch nicht programmatisch intendierte, Annäherung an den amerikanischen Way of life und die ihm eigenen Affinitäten zur westlichen Populärkultur inbegriffen. Amerika als positive Projektionsfläche für gesellschaftliche Zukunftsvorstellungen spielte für die in den 1950er Jahren Erwachsenen somit allerdings eine nur sehr vermittelte Rolle. Ganz anders sieht dies für die Generation der um 1940 Geborenen aus, die sich ab etwa 1960 sehr viel intensiver von den kulturellen Möglichkeitswelten Amerikas in dem eigenen Lebensgefühl inspirieren ließ. Für diese so genannte „skeptische Generation“ entwickelte die amerikanische Populärkultur eine enorme Faszination.34 James Dean, Elvis Presley und Marlon Brando wurden zur Ikonen jugendlicher Selbstbilder, Mode und Musik wurden zu Medien der Identitätsbildung und der generationsspezifischen Abgrenzungsbemühungen. Ende der 1950er Jahre begann ein Trend, der bis heute die Freizeit- und Jugendkultur bestimmt. Dies aber ist ein anderes Thema.

33 34

Martin Loiperdinger: „Amerikanisierung im Kino? Hollywood und das westdeutsche Publikum der Fünfziger Jahre“. In: TheaterZeitSchrift, (1989) H. 28, S. 50-60, hier S. 58. Vgl. hierzu Kaspar Maase: BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, Hamburg 1992.

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DAS FERNSEHEN – VEHIKEL DER AMERIKANISIERUNG ODER AGENTUR DER MODERNISIERUNG?

Knut Hickethier (Hamburg) I.

Mediengesellschaft und Fernsehen

Spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs formierten sich die nationalen Gesellschaften in Europa, und damit auch in Deutschland, zu Mediengesellschaften, weil die Medien zu einem zentralen Faktor gesellschaftlicher Kommunikation und Organisation wurden. Waren dies anfangs, in den 1950er Jahren, neben der Presse vor allem der Rundfunk (als Hörfunk) und der Film, kam schon in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre das Fernsehen hinzu und spielte von da ab in der Herausbildung der Mediengesellschaft eine zunehmend zentrale Rolle. Zwar blieb der Hörfunk (übrigens bis heute) das zeitlich am umfangreichsten genutzte Medium, doch rückten vor allem jene Medien in den Mittelpunkt, die dem Publikum die Gesellschaft, ja die Welt insgesamt, zur audiovisuellen ‚Anschauung‘ darboten. Sie taten dies mit einem den Medien impliziten Anspruch auf direkte Realitätsabbildung, der im kulturellen Selbstverständnis der Fotografie seit dem 19. Jahrhundert gründet und diesen Realitätsanschein vor allem noch durch das verstärkende audiovisuelle filmische Bild steigerte. Deshalb stieg auch die Nutzung des Films bzw. des Kinos in den 1950er Jahren stark an, bis auf 814 Mio. Kinobesucher im Jahre 1956, Nutzungszahlen, wie sie vergleichbar schon während des Zweiten Weltkriegs erreicht worden waren. Doch mit der zunächst langsamen, dann immer schnelleren Durchsetzung des Fernsehens musste das Kino seine Funktion als Institution der Veranschaulichung der gesellschaftlichen Verhältnisse an das Fernsehen abtreten. 1957 wurde die erste Million angemeldeter Fernsehgeräte in den bundesdeutschen Haushalten erreicht (es gab damit etwa 4-5 Mio. das Fernsehen regelmäßig nutzende Bundesbürger), und die

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Teilnehmerzahlen stiegen nun bis Beginn der 1970er Jahre jedes Jahr um etwa eine bis anderthalb Millionen angemeldete Geräte. Der Niedergang des Kinos Anfang der 1960er Jahre wurde viel weniger durch das Oberhausener Manifest einiger Jungfilmer besiegelt als vielmehr durch den Zusammenbruch der gerade erst 1956 mit viel Geld und staatlicher Unterstützung neu gegründeten Filmkonzerne der Ufa und der Bavaria. Die zentralen Studiobetriebe der Bavaria in München und der Realfilm in Hamburg waren schon 1959/60 an das Fernsehen verkauft worden. Die bundesdeutsche Filmwirtschaft war Mitte der 1960er Jahre zu einer FilmFernsehwirtschaft geworden. Das Fernsehen erwies sich für die Kommunikation der Gesellschaft mit und über sich selbst als effizienter, weil es eine andere Konstruktion als Mediendispositiv besaß. Fünf Elemente, die das Fernsehdispositiv im Besonderen auszeichnen, seien hier kurz genannt: –









Es beharrte nicht auf der Veranstaltungsform in spezifischen öffentlichen Räumen (wie das Kino), sondern traf den Zuschauer in dessen Privaträumen; es konnte sich damit tendenziell zeitlich unabhängig von bestimmten Veranstaltungszeiten in seinem Angebot zeitlich ausdehnen; es war gegenüber dem Filmmedium aufgrund seiner elektronischen Ausstrahlung (und auch der elektronischen Produktion von audiovisuellen Bildern) sehr viel schneller und konnte deshalb rascher über das aktuelle Geschehen informieren; es trat mit einem sehr viel größeren Spektrum an Darbietungsformen auf und konnte deshalb dem Anspruch genügen, die Welt in ihren Vielteiligkeiten und in ihrer Differenziertheit auch in unterschiedlichen Darstellungsmodi und Appellationsformen dem Zuschauer zu präsentieren. Das Fernsehen hatte nicht nur die Distributionsformen, sondern auch die Darbietungsformen des Rundfunks mit denen des Films, des Theaters, der Presse und anderer Medien (etwa des Zirkus, des Variétes und des Kabaretts) verbunden. dem Fernsehen fiel deshalb auf ungefragte Weise zu, die Welt in totum zu repräsentieren, dies und wurde schon in den frühen 1950er Jahren zu seinem zentralen Etikett („Fenster zur Welt“).

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Das Fernsehen trat dabei nicht nur als neue Instanz der gesellschaftlichen Selbstverständigung auf, sondern infiltrierte auch den Alltag der Menschen und richtete diesen neu aus. Weil es den Menschen nicht im öffentlichen Raum begegnete, sondern in deren Privatsphäre, löst es diese langsam quasi von innen her auf, umgriff sie und strukturierte damit die Subjekte in ihrer Wahrnehmung und Erfahrung von Welt in ganz neuer Weise. Indem das Fernsehen, anders als das Kino, das immer eine Besonderheit blieb, zum Alltag der Menschen gehörte, durchsetzte es unauffälliger und gleichzeitig nachhaltiger das Bewusstsein der Menschen, prägte es selbst dort, wo sich die Menschen explizit gegen die Dominanz des Fernsehens zur Wehr setzten. In der Darstellung von Welt war das Fernsehen optimal eingerichtet, weil es nicht nur wie das Kino die Geschichten der großen und kleinen Emotionen präsentierte, sondern die Welt in immer wieder neuen und wechselnden Momentausschnitten in ihren alltäglichen Dimensionen scheinbar nüchtern und neutral zeigte. War das Fernsehen in den 1950er Jahren auch noch nicht jederzeit zugänglich, so wurde es dies doch in einem täglich wachsenden Umfang. Vor allem die leichte Zugänglichkeit seiner Angebote stellte kulturell eine völlig neue Qualität dar. In der bundesdeutschen Gesellschaft wurde die gewachsene Dominanz des Fernsehens erst Ende der 1960er Jahre wirklich erkannt. Anfang der 1970er Jahre, sprach man vom Fernsehen als ‚Leitmedium‘, und fasste nun Presse, Radio und Fernsehen, gelegentlich auch den Film, unter dem Begriff der ‚Medien‘ zusammen. Denn – auch dies war Kennzeichen der neuen Mediengesellschaft – die einzelnen Medien traten nun immer weniger zueinander in Konkurrenz, wie dies noch vor dem Ersten Weltkrieg in den Debatten zwischen Theater und Kino der Fall war, oder in der Weimarer Republik im Verhältnis von Rundfunk und Presse. Es kam nun zu Medienverbünden, in denen sich die Medien gegenseitig stützten. Durch Ausdifferenzierung und Vervielfältigung der Angebote entstand eine Medienverdichtung, vor allem in Verbindung mit dem Fernsehen. Das Fernsehen präsentierte das Theater, Zirkus, Kabarett, Variéte, adaptierte Literatur, zeigte Kinofilme, auch solche, die schon längst nicht mehr in den Kinos liefen, die anderen Medien profitierten wiederum von der dadurch erzeugten Bekanntheit. Die Presse lebte von den Ankündigungen des Fernsehprogramms, von ihrer Kritik und Reflexion und zog damit auch wiederum das Leseinteresse der Fernsehzuschauer auf sich.

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Dabei kam dem Fernsehen seine mediale Angebotsform zugute, nämlich ein Programm anzubieten, zu dem es anfangs keine Konkurrenz gab, wie auch sein besonderer Status als eine ‚öffentlich-rechtliche‘ Institution. Bot die Zeitung z.B. unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt, die dann jeweils noch regional unterschiedlich profiliert waren, war auch der Hörfunk nach 1945 nicht zentral, sondern föderal organisiert und auf verschiedene Sendegebiete mit unterschiedlichen (UKW-)Programmen verteilt, und konnte auch der Film ganz unterschiedlich lokal und regional präsentiert werden, so stellte das Fernsehen spätestens seit dem 1. Oktober 1954 eine übergreifende nationale Instanz dar, die sich als eine Integrationsinstanz der verschiedenen föderalen Teilbereiche verstand. Der öffentlich-rechtliche Status des Fernsehens in der Bundesrepublik ließ dessen Angebote als über den verschiedenen Interessengruppen stehend erscheinen, als nicht staatlich, aber auch nicht kommerziell in Dienst genommen, sondern als Weltdarstellung einer unabhängigen Instanz. II. „Deutschtum“ oder „Amerikanisierung“? Im historischen Prozess der 1950er Jahre übernahm das Fernsehen für die bundesdeutsche Gesellschaft die Aufgabe, Modernisierungsprozesse der Gesellschaft zu begleiten und zu fördern. Es wurde zu einem Agenten des sozialen Wandels und betrieb in dieser Funktion die kulturelle Modellierung der Zuschauer, es war ein Instrument von Anpassungsprozessen und gleichzeitig eine Institution des Widerspruchs.1 Dies war durchaus nicht selbstverständlich, hatte doch das Fernsehen im ‚Dritten Reich‘ noch ganz andere Funktionen erfüllt, war dort mehr oder weniger ein Aushängeschild staatlicher Technikpotenz, bei einer gleichzeitigen Präsentation mäßiger, ideologisch eingefärbter Unterhaltung. Axel Schildt hat für die 1950er Jahre von einer konservativen Modernisierung gesprochen2. Das Fernsehen selbst erschien bei seinem Wiederbeginn nach 1945 nicht als Institution der Revolutionierung der Gesellschaft, sondern trat bei allen emphatischen Feiern einiger Zeitungsmacher – wie z.B. Eduard Rhein, dem Chef1 2

Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart/Weimar 1998, S. 1. Vgl. Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und ‚Zeitgeist‘ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995.

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redakteur der Hörzu – eher unauffällig auf, es schlich sich in die Gesellschaft ein. Selbst die Intendanten der Landesrundfunkanstalten, die sich von Hause aus mit diesem zweiten Rundfunkmedium beschäftigen mussten, waren durchaus nicht alle der Meinung, dass hier etwas Bedeutendes die öffentliche Bühne betrat. Hans Hartmann, zunächst im Funkhaus Köln des NWDR tätig, und ab Mitte der 1950er Jahre Intendant des WDR, gab z.B. deshalb in den frühen 1950er Jahren freiwillig keine Mark für das Fernsehen aus, und selbst Adolf Grimme, der NWDR-Generaldirektor in Hamburg war anfangs eher skeptisch. Man wollte – ohnehin noch mit der teuren Einführung des UKW-Radios beschäftigt – sich erst auf der Radioebene konsolidieren, bevor man sich – unter dem Dach des Rundfunks – in das Wagnis eines neuen Mediums stürzte. a) Die Vergangenheit eines deutschen Fernsehens vor 1945 Zudem befand sich das Fernsehen in einer ambivalenten Situation: Es war einerseits ja nicht wirklich neu, sondern hatte eine Vorgeschichte. Zwischen 1935 und 1944 gab es in Deutschland bereits ein Programm, das allen Erinnerungen der Mitarbeiter zum Trotz, natürlich eine ideologisch ausgerichtete Formatpalette bot und das NS-Propaganda ausgestrahlt hatte. Deshalb (aber nicht nur deshalb) hatten die Alliierten auch die Wiederaufnahme des Fernsehbetriebs den Deutschen bis Mai 1948 untersagt. Es gab also eine nationalsozialistische Tradition und die Propagierung des Mediums, sein fortgesetzter Betrieb auch während des Zweiten Weltkriegs sowie seine Programminhalte sprachen dafür, dass die Nationalsozialisten dieses Medium nach einem gewonnenen Krieg auch als Instrument einer „reaktionären Modernisierung“3 eingesetzt hätten. Die gesellschaftlichen Funktionen des Fernsehens vor und nach 1945 waren zwar inhaltlich divergierend, strukturell in der Funktion einer Mobilisierung der Bevölkerung für Veränderungsprozesse, wurden die Aufgabenstellungen jedoch ähnlich gesehen. So wurde in den 1950er Jahren das Fernsehen – allerdings dann unter anderen politischen Vorzeichen – zu einer Agentur einer ‚konservativen Modernisierung‘. Von den Mitarbeitern des NS-Fernsehens hatten sich viele 1945 von Berlin aus, wo das Fernsehprogramm „Paul Nipkow“ im 3

Zum Begriff der „reaktionären Modernisierung“ vgl. Jeffrey Herf: Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1998.

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Umkreis der Stadt ausgestrahlt wurde, in die westlichen Besatzungszonen abgesetzt, insbesondere in den Hamburger Raum. Die ehemaligen Mitarbeiter hatten auch viele technische Geräte des Fernsehsenders mitgenommen, die ihnen allerdings die Briten zum großen Teil wieder abnahmen. Dennoch warteten viele von ihnen in Hamburg und Umgebung darauf, dass der NWDR bald mit dem Wiederaufbau eines Fernsehbetriebs begann. Hinzu kam, dass sie Verbündete innerhalb des Senders hatten. Werner Nestel, vor 1945 mit dem Fernsehen bei Telefunken beschäftigt, war jetzt Technischer Direktor des NWDR geworden, Hans Joachim Hessling, auch er mit Fernseherfahrung aus der Zeit des „Dritten Reichs“, saß in der NWDR-Verwaltung, viele Techniker waren beim Hamburger Sender untergekommen, ebenso Programmmitarbeiter wie Hans Farenburg, Heinz Riek und nicht zuletzt Werner Pleister, der dann im neu aufgebauten Sender Fernsehintendant (heute würden wir sagen Fernsehdirektor) wurde. Daneben waren auch Publizisten wie Kurt Wagenführ und Gerd Krollpfeiffer mit Fernseherfahrungen aus der Zeit vor 1945 in Hamburg präsent. Und im Verwaltungsrat des NWDR mischte der konservative Publizistikprofessor Emil Dovifat mit, vor 1945 Ordinarius an der Berliner Universität, auch er mit Kenntnissen des damaligen Fernsehens. Es gab hier also ein personell starkes Bestreben nach einem Wiederaufleben des NS-Fernsehens, etwas ideologisch entschlackt, aber doch in etwa so, wie es damals erprobt worden war. Wir müssen uns vor allem Werner Nestel als einen sehr rührigen Mann vorstellen, der rasch seine Kontakte zur sender- und empfängerproduzierenden Wirtschaft wiederaufleben ließ und auch hier überall auf alte Kollegen stieß. Diese hatten sich im so genannten ‚Ettlinger Kreis‘ (der Ort, an dem die Fernseh AG saß) zusammengeschlossen. Sie planten die neuen Normen des Fernsehens und knüpften hier an die alten NS-Vorstellungen eines europaweiten Fernsehens unter Führung des NS-Regimes an. Auf diese Weise entstand die 625-Zeilen-Bildnorm, die dem Schweizer Walter Gerber von der Internationalen Fernmeldeunion schmackhaft gemacht wurde, so dass sie als neue europäische Fernsehnorm durchgesetzt werden konnte. b)

Die Suche nach einem neuen, modernen Fernsehen jenseits der NS-Vergangenheit Dass hier also Seilschaften, die sich aus der NS-Zeiten kannten, tätig waren, war für die entstehende Bundesrepublik nicht selten,

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dennoch trafen die Vertreter einer Ausrichtung des neuen Fernsehens an den alten Modellen auch auf Widerstand. Viele Rundfunkleute wollten ein anderes Fernsehprogramm machen und suchten nach neuen Wegen. Einer davon wies zur BBC nach London, der andere in die USA. Die ARD gründete deshalb eine Fernsehkommission, die die Fernsehsysteme vor allem in Großbritannien und in den USA studieren sollte. In ihr waren Werner Nestel als Technischer Direktor, Carl Haensel als SWF-Justitiar und Eberhard Beckmann, Intendant des Hessischen Rundfunks, vertreten. Die drei ergaben eine widersprüchliche, nichtsdestotrotz produktive Mischung: Nestel mit großen Kenntnissen und umfassenden Erfahrungen der NS-Zeit, Carl Haensel, der sich nach der AmerikaReise der Fernsehkommission als Amerika-Fan entpuppte. Beckmann als neutraler Dritter, war Vertreter einer der mittelgroßen Landesrundfunksanstalten, die sich gegen den übermächtigen NWDR halten wollten. Für Haensel wurde das Fernsehen zum Symbol einer neuen, modernen – und damit einer amerikanischen – Welt. Er schrieb ein Buch Fernsehen – nah gesehen, das 1952 erschien, und in dem er feststellte, dass man „dem Fernsehen nur näher auf den Leib rücken kann, wenn man [dem] Fernsehvolk, [den] Bewohner[n] der USA, auf den Leib rücken kann“4. Für ihn war das Fernsehen ein kulturelles Produkt der amerikanischen Gesellschaft. Und natürlich kamen alle wichtigen neuen technischen Entwicklungen des Fernsehens in den ersten Jahren nach 1945 aus den USA. Denn technisch war das Fernsehen dort durch die Weiterentwicklung während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit avancierter und ausgereifter als in dem auf dem Stand der 1930er Jahre stehen gebliebenen deutschen Fernsehen. Auch bei der Programmgestaltung schaute man darauf, welche Formen und Inhalte dort produziert wurden, ohne sich aber beim Aufbau des bundesdeutschen Fernsehens wirklich explizit am US-Fernsehen zu orientieren. Die Situation nach 1945 ging also in dem bloßen Antagonismus zwischen den alten ‚Fernseh-Nazis‘ als Traditionalisten einerseits und den Amerikagläubigen als den Modernisten andererseits nicht auf. Auf der einen Seite regte sich Widerstand gegen eine Ausrichtung an den Konzepten des NS-Fernsehens, auch verbot sich aus 4

Carl Haensel, Fernsehen – nah gesehen. Technische Fibel, Dramaturgie, Organisatorischer Aufbau, Frankfurt a.M. 1952, S. 7f.

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politischen Gründen eine direkte Bezugnahme zum Fernsehen vor 1945. Der Widerstand kam vor allem von jungen Mitarbeitern, die die NS-Zeit oft nur abwehrten und sich durch eine rasche Orientierung an das angelsächsische Vorbild auszeichneten. Jürgen Roland gehörte dazu, ähnlich auch die Redakteure wie Erich Kuby, Ernst Schnabel und andere. Auf der anderen Seite gab es auch Widerstand gegen drohende westliche, und vor allem amerikanische Einflüsse, insbesondere von Seiten der Kirchen. Sie sahen in den Rundfunkmedien Institutionen, die die traditionellen Werte und Anschauungen gefährdeten, sahen auch, dass hier eine gesellschaftliche Deutungsmacht im Entstehen begriffen war, die die eigenen Rolle als Sinninstanz in der Gesellschaft zu bedrohen schien. In der Gefahr der Entfremdung der eigenen Traditionen durch eine neue amerikanische Massenbzw. Populärkultur fand man im Fernsehen ein griffiges Bild jener befürchteten Erosion der Tradition. Auch die Rundfunkintendanten, die gleichzeitig den Aufbau der eigenen Fernsehabteilungen organisierten und – mit unterschiedlicher Intensität – vorantrieben, wehrten in ihren programmatischen Reden alles ab, was als amerikanisch im Sinne der neuen Unterhaltungs- und Popkultur erschien. Die Folge war eine merkwürdige Melange: Einerseits programmatische Reden der Intendanten, die in bekannter Semantik Bildung (und hier vor allem eine deutsche und europäische) im Fernsehen beschworen, andererseits in der Programmpraxis eine deutliche Orientierung auf Unterhaltung (und hier durchaus an aus dem Amerikanischen adaptierte Formen). Einerseits ehemalige Mitarbeiter des Fernsehens im „Dritten Reich“, andererseits junge, westlich orientierte Mitarbeiter. Einerseits das Anknüpfen an Programmformen und Sendungsinhalte der Vorkriegs- und Kriegszeit, andererseits Adaption von amerikanischen Sendeformen wie z.B. Quizspielen, Fernsehserien etc. c)

Fernsehen als Instrument der Verwestlichung der Bundesrepublik Gerade das Aufgreifen von amerikanischen Fernsehformen stand jedoch in einem größeren Zusammenhang einer dann doch sich verstärkt durchsetzenden westlichen Orientierung nicht nur des Fernsehens, sondern der Bundesrepublik insgesamt. Statt von einer „Amerikanisierung“ ist denn auch richtiger von einer „Westernisie-

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rung“5 zu sprechen. Dies gilt gerade auch für das Fernsehen. Denn vor allem im journalistischen Bereich kam es schon in den Anfängen des NWDR-Fernsehens zu einer verstärkten Ausrichtung auf das britische Fernsehen, das von seiner öffentlich-rechtlichen Konstruktion her ohnehin Vorbild für die Konstruktion der Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik gewesen war. Die Affinität Hamburgs (als Hauptsitz des NWDR) zu allem Britischen und der Einfluss der britischen Besatzungsmacht auf die Entstehung des NWDR führten zudem dazu, dass auch in Programmfragen die BBC vielfach die erste Adresse bei einer Orientierungssuche des Nachkriegsfernsehens darstellte. „Westlichkeit“ war eher eine Ausrichtung, die die gesamte Freizeitkultur betraf, „Westbindung“ die politische und soziale Orientierung, die der bundesrepublikanischen Politik eingeschrieben war. Die Fernsehmacher waren von Anfang an daran interessiert, dass ihre Sendungen nicht als bloße Derivate des amerikanischen oder britischen Fernsehens erschienen. Dass es für viele Sendungen britische Vorbilder gab, vieles auch einfach nachgebaut war, wurde im Erscheinungsbild der Sendungen eher kaschiert. Es ging darum, das Programm des „Deutschen Fernsehens“ als ein deutsches Angebot zu präsentieren und die in den USA oder England gesehenen und als verwendbar erachteten Ideen den deutschen Zuschauererwartungen anzupassen, sie in deutsche Präsentationsgewohnheiten zu integrieren. Selbst dort, wo das Fernsehen sich am deutlichsten auf amerikanische Vorbilder bezog – in der Unterhaltung der Quizspiele – standen die Moderatoren für eine Adaption der amerikanischen Vorbilder. Peter Frankenfeld konnte zwar als Showmaster mit seinem karierten Jackett durchaus für eine „amerikanisierte“ Form des Show-Business gelten, doch war er zugleich ein volkstümlicher Entertainer mit einem Hang zum derben Witz und stellte sich damit in eine kleinbürgerlich-proletarische deutsche Unterhaltungstradition. Eine deutliche und explizite Bezugnahme auf amerikanische und britische Formen erfolgte vor allem in einer anderen Pro5

Vgl. Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999 sowie Ders.: „Westernisierung: Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre“. In: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311-341.

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grammform: Im Kriminalgenre. Hier siedelte man zahlreiche Geschichten im amerikanischen, vorzugsweise auch im britischen Milieu an, selbst dann, wenn die Drehbuchautoren deutscher Herkunft waren. Der Krimi galt schon seit der Vorkriegszeit als ein angelsächsisches Genre, in Deutschland spielende Krimis galten als nicht spannend genug, als zu provinziell. Man mied nach 1945 die Darstellung deutscher Verbrechen aber auch aus einer gewissen Scheu, weil man sich selbst gern als friedfertig darstellen wollte, und im Hintergrund anderer deutscher Verbrechen eine Unterhaltung mithilfe deutscher Kriminalsujets problematisch erschien. Dabei war die dramaturgische Botschaft der amerikanischen und britischen Kriminalfilme und -serien, die dann vor allem in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ins Programm genommen wurden, denkbar klar: Die Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch Verbrechen wurde in den Storys der Filme und Serien immer konsequent bekämpft, am Ende wurde die Ordnung durch die dafür gesellschaftlich eingesetzten Kräfte (z.B. die Polizei) wieder hergestellt. Vor allem in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre entwickelte sich das Fernsehen zum Mittler amerikanischer Kultur und Weltanschauung. Es war nicht primär die Musik, über die amerikanische Kultur in die deutschen Fernsehprogramme kam, sondern über den Journalismus und Dokumentarismus. Der Amerika-Korrespondent der ARD, Peter von Zahn, berichtete z.B. von 1955 bis 1962 mit seiner Sendereihe Bilder aus der Neuen Welt vom American way of life, und schon in seiner ersten Sendung zeigte er den deutschen Fernsehzuschauern, wie europäisch Amerika einerseits war, andererseits wie technisiert eine amerikanische Küche, wie praktisch und rationell der Haushalt geführt wurde und wie schön und bequem der amerikanische Alltag aussah. Peter von Zahns Berichte wurden anfangs vom amerikanischen Presseamt (USIA) gesponsert, bis diesem von Zahns Berichte zu amerikakritisch wurden.6 Parallel dazu entstanden zahlreiche Sendungen, die für ein ‚modernes Leben‘ eintraten, wie Kochsendungen (z.B. mit Clemens Wilmenrod, der leichte Kost, schnell zubereitet empfahl), Mode- und Frauensendungen oder Kunst- und Kultursendungen, die die moderne Kunst propagierten. In zahlreichen anderen Sendungen wur6

Vgl. Peter Zimmermann: „Geschichte von Dokumentarfilm und Reportage von der Adenauer-Ära bis zur Gegenwart“. In: Peter Ludes u.a. (Hg.): Informations- und Dokumentarsendungen, München 1994, S. 213324.

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de die Moderne immer wieder alltagspraktisch im Sinne von ‚angemessen‘ und ‚nicht angemessen‘ thematisiert (z.B. in der ersten lang laufenden Serie Die Schölermanns – Unsere Nachbarn heute Abend). Ähnlich einflussreich wirkten sich auch Rüdiger Proskes Reportagereihen Auf der Suche nach Frieden und Sicherheit und Pazifisches Tagebuch 1956/57 auf das Amerikabild der Deutschen aus. Proske zeigte die amerikanischen Militärstützpunkte in der Welt, zeigte die gegen den ‚Ostblock‘ gerichtete Militärmaschinerie der USA, die letztlich auch dem Schutz der Bundesrepublik diente. Die Reihe lässt sich fortsetzen: Das Fernsehen lieferte in seiner Auslandsberichterstattung in weit überwiegender Zahl positive Amerikabilder – darin in Übereinstimmung mit der allgemeinen Haltung der Bundesregierung, aber auch dem kulturellen Mainstream der bundesdeutschen Gesellschaft. Das Bild der USA, aber auch der westlichen Welt insgesamt, wurde durch die Fernsehberichterstattung wesentlich geprägt. Gleichwohl kann von einer „Amerikanisierung“ des Fernsehens oder durch das Fernsehen nicht gesprochen werden. Denn grundsätzlich bildete die amerikanische Facette im Fernsehen eine zwar wesentliche, aber auch nur eine neben anderen Facetten des Angebots. Zwar gab es eine grundsätzliche Westorientierung, aber es gab auch viel kritische Distanz gegenüber kulturellen Erscheinungen Amerikas und viele Vorbehalte vor allem des Bürgertums gegen die amerikanische Freizeitkultur. Diese Widersprüche bildeten sich auch im Programm ab. Die Verwestlichung der Bundesrepublik durch das bundesdeutsche Fernsehen war also nicht Ergebnis direkter personeller Intentionalität, sondern entsprach einer mentalen Haltung, die moderne Technik (Fernsehen) mit modernem Leben (Alltag) und westlicher Kultur in Deckung gebracht hatte. Diese mentale Haltung vermittelte das bundesdeutsche Fernsehen in den 1950er Jahren.

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III. Die Modernisierungsleistungen des Fernsehens Die zentrale Funktion des Fernsehens bestand also nicht darin, deutsche Lebensverhältnisse zu „amerikanisieren“, sondern die Gesellschaft in ihren Lebenssituationen, ihren politischen und sozialen Konflikten, in ihren kulturellen Hervorbringungen darzustellen, die Zuschauer darüber zu informieren und gleichzeitig auch zu unterhalten. Da das Fernsehen von seiner medialen Konstruktion her auf Aktualität und steter Präsentation von neuem ausgerichtet war und ist, bestand auch in den Inhalten eine strukturelle Affinität zu neuen Themen, neuen Formen und Neuigkeiten schlechthin. ‚Veränderung‘ allgemein war letztlich das zentrale Sujet des Fernsehens und damit auch all jenes, was gesellschaftliche Innovation, gesellschaftliche Modernisierung bedeutete. Das Fernsehen wurde zum zentralen medialen Ort von Modernisierungsbemühungen.7 a) Die ‚Verflüssigung‘ von Kultur Das Fernsehen lieferte dem Zuschauer die Kulturangebote mehrerer, bis dahin getrennt wahrgenommener Medien und stellte sie in einen neuen Präsentationszusammenhang – den des Fernsehprogramms. Filme, wie sie der Zuschauer vom Kino her kannte, konnte er nun im Fernsehen sehen, ebenso Mitschnitte von Theateraufführungen, zu denen er vielfach keinen Zugang fand, aktuelle Berichte und Dokumentationen, wie sie die Presse und die Wochenschau im Kino lieferten, zusätzlich Ratgebersendungen, Sportberichte, Kinderprogrammangebote – und dies alles im Wohnzimmer, bequem und ohne soziale Zwänge. Für den Einzelnen bedeutete dies kulturell einen ungeheurer Vorteil und eine Bereicherung. Der einzelne Zuschauer konnte damit in ganz neuer Weise an der Gesellschaft und ihren Ereignissen teilhaben. Er erfuhr sehr viel mehr und schneller von der Welt, und dies immer in einer audiovisuell anschaulichen Form. Das Fernsehen griff dazu auf die bestehenden Kulturangebote zurück, nahm die tradierten Formen und Inhalte der anderen Medien auf und setzte sie in Fernsehsendungen um. ‚Umsetzen‘ hieß, es machte aus ihnen – egal was sie vorher waren – technische Pro7

Vgl. hierzu ausführlicher Knut Hickethier: „Medien-Modernisierung. Überlegung zur Programmgeschichte und Programmzukunft des Fernsehens anhand eines Stichwortes“. In: Ästhetik und Kommunikation Jg. 19 (1989) H. 72, S. 85-94.

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duktionen. Theater im Fernsehen war nicht mehr Theater, sondern Fernsehen. Das Medium löste die Aufführungen aus ihrer Ortsgebundenheit, technisierte sie und mobilisierte sie damit. Der Theatermitschnitt war nun überall, nicht mehr nur an diesem einen Theater präsentierbar, war damit zu einem verfügbaren ‚Medienprodukt‘ geworden. Diese ‚Verflüssigung‘ von kulturellen Produktionen war entscheidend, denn diese Entwicklung löste mittelfristig auch zahlreiche andere kulturelle Bindungen auf. Dabei griff das Fernsehen gerade in den kulturellen Angeboten besonders gern auf tradierte und bewährte Inhalte zurück, weil es sich damit eine Akzeptanz beim Publikum sicherte – von den in der Fernsehgeschichte mit Recht gerühmten, besonderen Wagnissen experimenteller und kritischer Beiträge im Fernsehen abgesehen. Doch das Publikum erhielt nicht wirklich das Alte, Traditionelle, z.B. die Aura des Theaterabends, sondern dieser war jetzt den Bedingungen des Fernsehens unterworfen mit Sendezeitbegrenzung, erhöhter Verständlichkeit usf. Das Publikum bekam etwas strukturell Neues. In diesem Transformationsprozess bestand ein wesentlicher Teil der Modernisierung, weil das Fernsehen kulturelle Positionen auf diese Weise relativierbar machte, sie als Programmbausteine nebeneinander gelten ließ. Dies erzeugte eine strukturelle Toleranz, die aber ebenso auch zu einer Gleichgültigkeit dem jeweils Einzelnen gegenüber führen konnte. b) Die Technisierung von Kultur Indem das Fernsehen Kultur zu einem technischen Vorgang machte (auch wenn sich der Fernseher gern hinter einem Gehäuse aus dem so genannten Gelsenkirchener Barock versteckte), bereitete es mit den Boden für eine Technisierung des Alltags, der Haushalte und mittelfristig auch der Arbeits-, Verkehrs- und Lebensverhältnisse. Das Ziel war nun die ‚Modernisierung‘ der Gesellschaft im Sinne einer Vereinfachung, Beschleunigung, Verkürzung von zeitlichen Abläufen und Darstellungsmustern bei einer gleichzeitigen Steigerung von Komplexität der Verknüpfungen, der inhaltlichen Differenzierung und der Eröffnung neuer Problembereiche. Der Anstieg der vor dem Fernseher verbrachten Freizeit gegenüber der außerhäusig verbrachten Zeit führte zu einer Verhäuslichung des Menschen. Die Vergesellschaftung des Individuums fand nun mehr und mehr durch das Fernsehen statt. Gleichzeitig kam es langfristig zu einer Ausweitung der genutzten Tageszeiten:

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Mit der sich Ende der 1950er Jahre vollziehenden Ausweitung des Programms bis in den Abend hinein setzte auch eine Ausbau und eine Dynamisierung der Zeitnutzungen ein, zunächst in der Freizeit, dann auch in anderen Lebensbereichen. In Korrespondenz damit steht die von den Sozialwissenschaften vielfach beschworene Flexibilisierung des Menschen. Die Technisierung der kulturellen Angebote im Fernsehen führte auf Dauer auch zu einer Beschleunigung der kulturellen Wahrnehmung. Die gewaltige Menge der wahrgenommenen Medienproduktionen, die sich nun sprunghaft kumulierte, und damit verbunden die wachsende Kenntnis medialer Angebotsformen und ihrer Präsentationsstrategien erzeugten Muster rascher Wiedererkennbarkeit. Noch hielt das Publikum in den 1950er Jahren auch bei langatmigen Produktionen geduldig aus; das begann sich jedoch in den 1960er Jahren bereits spürbar zu ändern. Beschleunigung wurde zu einem, anfangs noch uneingestandenen kulturellen Wert an sich. Diese neue Wertigkeit korrespondierte mit veränderten Anforderungen im sozialen Alltag und in den Arbeitsprozessen. c) Das ‚rewriting‘ von Kultur Das Fernsehen stellte durch seinen Charakter, mediale Teilhabe an gleichzeitig stattfindenden Ereignissen zu ermöglichen, ein kulturelles Forum, einen Ort der gesellschaftlichen Selbstverständigung dar, der selbst wiederum Veränderungen unterworfen war8. Auf diesem Forum werden Erzählungen der Erfahrungsgesellschaft vermittelt, an denen das Publikum teilhat und in der bei aller Meinungsverschiedenheit immer wieder ein Konsens des gesellschaftlichen Diskurses gestiftet wird. Das Fernsehen bildet auf diese Weise eine Institution des permanenten ‚rewriting‘ der bewegenden Probleme und Konflikte, der Befindlichkeiten und der wiederholten Durchbrechung und Erneuerung von Konventionen und Regelhaftigkeiten in der deutschen Gesellschaft. Die später häufige Klage, dass das Fernsehen doch immer nur dasselbe zeige, dass es sich ständig wiederhole, man schon alles gesehen habe, berührt einen wesentlichen Kern des neuen Mediums. Indem es viele Probleme immer wieder aus wechselnden Perspektiven präsentierte, immer wieder scheinbar die gleichen Geschichten 8

Vgl. hierzu Horace M. Newcomb/Paul M. Hirsch: „Fernsehen als kulturelles Forum“. In: Rundfunk und Fernsehen Jg. 34 (1986) H. 2, S. 177190.

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erzählte, trug es dazu bei, Neues und Ungewohntes zu integrieren, neue Situationen als gegeben akzeptierbar zu machen, neue Gewohnheiten, Verhaltensweisen, Anschauungen einzuüben. Fernsehen war gerade durch seine im Alltag etablierte Anwesenheit ein Instrument der ‚Normalisierung‘. Wenn von der ‚Mittelmäßigkeit‘ des Programms gesprochen wurde: Fernsehen konnte medial nicht ständig Sensationen und kulturelle Exaltationen bieten, durch seinen medialen Modus verstärkte und erzeugte es einen kulturellen Mainstream. Dies wiederum hatte Auswirkungen auf die soziale und kulturelle Psyche der Zuschauer. David Riesman sprach Anfang der 1950er Jahre (sein Buch erschien 1956 auf Deutsch), vom „außengeleiteten Menschen“.9 Dabei hatte er die amerikanische Gesellschaft im Blick. Allen kulturkritischen Beschwörungen zum Trotz, setzte sich dieses Modell auch in Deutschland durch: aber nicht als Element einer gezielten „Amerikanisierung“, sondern weil dies den modernen Industriegesellschaften westlicher Prägung entsprach. IV. Durchsetzung eines neuen kulturellen Paradigmas: Unterhaltung Die Programmeinbindung kultureller Produktionen von Kino und Theater bis zur Literatur und der Presse hatte einen weiteren Effekt; sie entwertete tendenziell das Einzelprodukt. Die Kritik an der ‚Vermassung‘ einer sich bisher solitär gebenden Kultur, wie sie z.B. von Günter Anders in seiner viel beachteten Schrift Die Antiquiertheit des Menschen formuliert wurde,10 war deshalb langfristig nicht unberechtigt. Der Blick auf Kunst und Kultur erfolgte nicht mehr als ein je gesonderter, sondern nur noch in Relation der Produkte zu einander. Bestimmend wurde ihr Attraktionswert, gleichzeitig wurden die Inhalte gegeneinander tendenziell gleichgültig. Die Bildungsansprüche, bislang auch vom Fernsehen hoch gehalten, reduzierten sich, stattdessen etablierte sich das neue Paradigma „Unterhaltung“. Das Fernsehen wurde – allen Intendantenreden zum Trotz – zu einem Medium, das vor allem Unterhaltung versprach. Alle Sendungen, egal ob sie mit volkspädagogischem Impetus oder mit dem Gestus, Weltliteratur szenisch vermitteln zu wol9 10

Vgl. David Riesman: Die einsame Masse, Reinbek bei Hamburg 1956. Vgl. Günter Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, München 1956.

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len, auftraten, hatten sich an der Unterhaltungserwartung messen zu lassen. Zwar konnte das Publikum bei nur einen Programm nicht auswählen, dennoch galt auch bei der Inszenierung der (vor allem westlichen) Weltliteratur, dass sie auf Verständlichkeit hin gestaltet wurde, dass sie letztlich auch von einem ‚breiten‘ Publikum verstanden werden sollten. Der Modus der Unterhaltung – in Sendungen mit Peter Frankenfeld, Hans Joachim Kulenkampff und anderen in besonderer Weise sichtbar – setzte sich in den folgenden Jahrzehnten als Fernsehstandard durch. Gerade deshalb gelang es dem Medium auch immer wieder, strukturelle Botschaften an die bei all ihrer Individualität in einer Gemeinschaft miteinander verbundenen Zuschauer zu vermitteln und Werte wie Mobilität, Beschleunigung, Effizienzerhöhung, Leistungsbereitschaft, aber auch Akzeptanz der Demokratie, politische Anpassung an westliche Standards, Friedfertigkeit, Verzicht auf ökonomische Teilhabe etc. durchzusetzen. Im Modus der Unterhaltung ließen sich – gerade in den Fernsehangeboten – auch Modelle des angemessenen und unangemessenen Verhaltens, richtiges und falschen Handelns trainieren. Darin liegt vielleicht die Hauptleistung des Mediums, dass es auf eine anschauliche und immer freiwillige Weise in Gesellschaftlichkeit einübt, und dass es sich als eine permanente Außeninstanz darstellt, die die Subjekte formt, indem sie ihnen immer wieder zeigt: So ist die Gesellschaft, und wenn ihr in ihr bestehen wollt, habt ihr euch letztlich anzupassen. Literatur Anders, Günter: Die Antiquiertheit des Menschen, München 1956. Doehring-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Doehring-Manteuffel, Anselm: „Westernisierung: Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre“. In: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 2000, S. 311341. Hickethier, Knut: „Medien-Modernisierung. Überlegung zur Programmgeschichte und Programmzukunft des Fernsehens an-

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hand eines Stichwortes“. In: Ästhetik und Kommunikation 19. Jg. (1989) H. 72, S. 85-94. Hickethier, Knut: Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart/Weimar 1998. Newcomb, Horace M./Hirsch, Paul M.: „Fernsehen als kulturelles Forum“. In: Rundfunk und Fernsehen Jg. 34 (1986) H. 2, S. 177-190. Riesman, David: Die einsame Masse. Reinbek bei Hamburg 1956. Schildt, Axel: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und ‚Zeitgeist‘ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995. Zimmermann, Peter: „Geschichte von Dokumentarfilm und Reportage von der Adenauer-Ära bis zur Gegenwart“. In: Peter Ludes u.a. (Hg.): Informations- und Dokumentarsendungen, München 1994, S. 213-324 (= Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland Bd. 3).

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ADORNO – GEHLEN – PLESSNER. MEDIEN-ANTHROPOLOGIE ALS LEITDISKURS DER 1950er JAHRE1

Andreas Käuser (Siegen) I. Moderne und Modernisierung, deren ökonomisch-technische Durchsetzung, sind in Deutschland durch einen Antimodernismus kontrastiert und konterkariert worden, der verschiedene Facetten angenommen hat. Dass die ästhetische Moderne bei zentralen Vertretern wie Franz Kafka oder Thomas Mann ästhetisch traditionelle Formen und Poetiken aufwies, die Stefan George als ästhetischen Fundamentalismus antimodern pointierte2, haben wissenschaftliche Arbeiten unter dem Label einer „anderen Moderne“ (Breuer), die wesentlich auch eine medien- „ästhetische Moderne“ (Lichtblau) ist, in den letzten Jahren nachgewiesen. Dieser „anderen Moderne“ sind reaktionäre, dem Nationalsozialismus vorarbeitende Bewegungen wie die „Konservative Revolution“ integriert.3 Lebensreform- oder Jugendbewegung haben dabei eine soziale und kulturelle Relevanz entfaltet, die ebenfalls seit geraumer Zeit in all ihren Formvarianten erforscht wird.4 Wird die Modernisierung der deutschen Kultur und Gesellschaft, die in verschiedener Intensität und Gradation seit 1900 fortschreitet, gerade auch von bildungsbürger1

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Der Aufsatz ist Teil eines größeren Vorhabens, das am Forschungskolleg „Medienumbrüche“ der Universität Siegen entsteht. Dass die fünfziger Jahre eine für Theorie und Geschichte des Medienumbruchs interessante Phase sind, wurde dort erörtert: vgl. Nicola Glaubitz/Andreas Käuser (Hg.): Medieninnovationen und Medienkonzepte 1950/2000, in: Navigationen, Jg. 6 (2006) H. 1. So Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München 2003, S. 132-152 oder auch Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995. Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. Vgl. Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2. Bde., hg. v. Kai Buchholz u.a., Darmstadt 2001.

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lichen Kreisen als Kulturkrise und Kulturverfall erfahren oder diagnostiziert,5 so etabliert sich ein ebenso vielgestaltiger kulturkritischer Diskurs, der seit Georg Simmel bis zu Theodor W. Adorno nicht nur publizistisch und da mitunter agitatorisch auftritt, sondern die Wissenschaften wie etwa die neu entstehende Soziologie mannigfach inspiriert.6 Oft in Personalunion wie bei Simmel oder Adorno steht hier eine publizistisch-feuilletonistische Kulturkritik neben „seriösen“ soziologischen oder kulturwissenschaftlichen Analysen, von denen der Aufschwung von Kulturwissenschaft im 20. Jahrhundert, der gerade auch von deutschen Intellektuellen und Wissenschaftlern maßgeblich getragen wird, vielfältig profitiert. Möglicherweise ist die kulturkritische, konservative Analyse von Moderne nur vordergründig und in reaktionären Fällen eine fehlgehende Analyse, die die Definition von Modernität als Gegenwärtig- und Zukünftigkeit durch vergangenheitsorientierte „Regression“7 zu verfehlen scheint. Produktiv gewendet könnte der antimoderne Diskurs, der selbst noch die im Nationalsozialismus weiterhin stattfindende ökonomisch-industrielle Modernisierung in einer reaktionären Variante begleitet, in anderen Formen eine eigentümliche theoretische Kreativität und Innovation entfalten, der die Kultur- und Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert einige ihrer hervorragenden Leistungen verdanken. Denn selbst bei Autoren wie Adorno oder Plessner, die für nationalsozialistische Ideologie unverdächtig sind, ist der kulturkritische Jargon unüberhörbar anwesend und verbindet sie mit Autoren, deren politische Integrität durchaus in Zweifel gezogen werden kann. In dem folgenden diskurshistorischen und diskursanalytischen Beitrag geht es darum, die produktiven Leistungen der antimodernen bzw. kulturkritischen Diskurse herauszuarbeiten, ohne die politisch-ideologischen

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Vgl. Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945, Frankfurt a.M. 1999. Vgl. Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt a.M. 1996, der die Soziologie in Deutschland maßgeblich aus kulturkritischen „Gegenströmungen“ (S. 60) einer „ästhetischen Moderne“ (S. 40) als das „andere Gesicht“ der Moderne (S. 59) entstehen sieht, wodurch die neue Wissenschaft aber einen gewissen konservativen, antimodernen Duktus erhält, der etwa bei Georg Simmel eine genaue Analyse für Besonderheiten der Moderne mit traditionellen ästhetischen oder politischen Positionen und Überzeugungen verbindet. Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus, a.a.O., S. 241.

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Verfehlungen zu übersehen, auch wenn diese nicht oder nur am Rande thematisiert werden. Dabei soll weniger das inhaltliche Element von antimoderner Kulturkritik profiliert werden, als vielmehr das gleichsam formale und diskursive Element des Sachverhalts kritisch rekonstruiert werden. Denn sind es Geistes- und Kulturwissenschaftler, die im Medium des Textes oder Diskurses auf die Modernisierung von Kultur und Gesellschaft, die seit 1900 fortschreitend stattfindet, konservativ oder „reaktionär“ reagieren, so sind formale sowie begriffliche Besonderheiten dieser Texte und Diskurse beschreibbar. Reagieren Geistes- und Kulturwissenschaften insbesondere in Deutschland restaurativ auf Modernisierung, so wird dafür der anthropologische Diskurs elaboriert; vor allem die Ausbreitung und Durchsetzung neuer Medien als wesentlicher Teilbereich dieser Modernisierung wird von der akademischen Wissenschaft nur vermittelt oder verspätet behandelt. Der anthropologische Diskurs dient dazu, eine Opposition zwischen Mensch und Medium zu errichten, um die Ausschließlichkeit von Wissenschaft und Medienkultur zu begründen. Insofern geraten wissenschaftlicher Diskurs und populäres Medium in einen mitunter aggressiven Widerstreit, dessen argumentationslogische und begriffshistorische Ausformungen hier im Mittelpunkt einer diskurshistorischen Analyse stehen, der es allerdings darum geht, die Produktivität dieses Widerstreits von Diskurs und Medium aufzuzeigen. Die konservativen Verarbeitungsweisen der Wissenschaftler und Diskursproduzenten folgen zwar auch publizistischen und propagandistischen Zielen, etwa im Umkreis der „Konservativen Revolution“; sie erreichen aber eine intellektuelle Kreativität und Seriosität, durch die Geistes- und Kulturwissenschaften gerade dadurch zu Spitzenleistungen gelangen, dass sie sich der Modernisierung verweigern oder diese nur indirekt in ihre Konzepte aufnehmen. Gerade in dieser vermittelten und indirekten Rezeption und Aufnahme einer im 20. Jahrhundert stattfindenden umfassenden kulturellen Modernisierung scheint die besondere Innovation des wissenschaftlichen theoretischen Diskurses zu liegen, die den antimodernen Denkgestus in einem zweiten Schritt durchaus zu positivieren, im Falle politischer Applikation allerdings nicht zu entschulden vermag. In jedem Falle wird beides als notwendig und erklärungsbedürftig zu erweisen sein: Zum einen die konservativ zurückweisende Stellungnahme der Geistes- und Kulturwissenschaften gegenüber medialer Modernisierung in Gestalt des anthropolo-

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gischen Diskurses, die aber andererseits gerade die Produktivität dieser „deutschen“ Geistes- und Kulturwissenschaften im 20. Jahrhundert auszumachen scheint; zum anderen die Art und Weise, der Modus dieser diskursiven Verarbeitung medialer Modernisierung, die abgesehen von ihrer sich durchsetzenden alltagskulturellen Normalität besondere wissenschaftliche Formen und Diskurstypen wie den hier zu skizzierenden anthropologischen Denkstil generiert und erforderlich macht. Den Gründen dieser Verspätung oder aber Verhinderung einer Theorie des medialen Umbruchs, der sich im 20. Jahrhundert vollzieht, nachzugehen, ist das übergeordnete Ziel der Untersuchung. Welche Diskursformen die intellektuelle Bearbeitung von medienkultureller Moderne annimmt, gerade dann, wenn diese Bewältigung in antimoderner Weise geschieht, scheint ein interessanter Untersuchungsansatz, weil der Diskurs auf eine zentrale Veränderung der Realität des 20. Jahrhunderts – ihre mediale Modernisierung – retardierend, ignorierend oder vermittelnd, also medialisierend reagiert. II. Die 1950er Jahre scheinen für die antimodernen Tendenzen in der wissenschaftlichen Verarbeitung von Modernisierung ein besonders geeignetes Untersuchungsfeld und Paradigma zu sein. Dieser Phase der Restauration in der bundesrepublikanischen Geschichte entspricht ein Diskurs, der die ebenfalls restaurativen Tendenzen in der Bewältigung und Defizitbilanzierung von Modernisierung, welche seit 1900 einen erheblichen und maßgeblichen Teil der Geistesund Kulturwissenschaften prägen, fortsetzt, und zwar unter Ausnützung und Anwendung der anthropologischen Denkfigur. Bücher wie Günther Anders Die Antiquiertheit des Menschen von 1956 oder Arnold Gehlens Die Seele im technischen Zeitalter von 1957 belegen bereits im Titel den erneuten Versuch der akademischen Wissenschaft und publizistischen Theorie, den Gegensatz von Mensch und Medium anthropologisch und kulturkritisch aufzuladen, um mediale Modernisierung als Gegenteil von humaner Entwicklung erscheinen zu lassen.8 Dass die Kulturindustrie Dehuma8

Diesen Gegensatz von Mensch und Medium, den der anthropologische Diskurs im 20. Jahrhundert etabliert, hat Stefan Rieger: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt a.M. 2002 sowie Ders.: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissen-

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nisierung fördere, ist Leididee der 1949, also zu Beginn unserer Dekade erschienenen und die Wirkung der Frankfurter Schule nachhaltig fördernden Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Gerade weil dieser Text sich auf die medienkulturelle Modernisierung, die in den USA weiter fortgeschritten war, bezieht, fällt der konservative Rückfall umso stärker auf als in den Texten von Gehlen, die nur widerwillig überhaupt von den Massenmedien Notiz nehmen oder von Anders, die im apokalyptischen Tonfall einen erneuten „Untergang des Abendlandes“ durch die Medialisierung heraufziehen sehen. Auch wenn gerade die sich konstituierende Frankfurter Schule diese medienkritisch gewendete Kulturkritik unter Anwendung des anthropologischen Denkstils weiter schreibt, ist die tatsächlich stattfindende Modernisierung als „Amerikanisierung“ und Ausbreitung der Massenmedien in der Etablierung und Anwendung empirischer, soziologischer Methoden unübersehbar und von nachhaltiger Wirkung. Durchaus geschickt versteht es Horkheimer, den Talar des deutschen Professors anzubehalten, aber gleichzeitig die Medien für eine wissenschaftspolitische Kampagne auszunutzen, die die Wirkung der Frankfurter Schule als intellektueller Gründungsagentur der Bundesrepublik festigt.9 Wenn die Dialektik der Aufklärung mit dem zentralen Kapitel über „Kulturindustrie“ von der dort stattfindenden „Anti-Aufklärung“10 handelt, dann verdankt sich dieser Nachweis auch einem konservativen Diskurs, an dem Adorno und Horkheimer partizipieren, noch unabhängig von der Richtigkeit oder Plausibilität der Analyse. Der konservative Duktus entsteht aus der Kombination eines auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts rückbezogenen Denkens, dessen oftmals selbst utopische Ziele wie Mündigkeit und Selbstbestimmung mit der Realität moderner Medienkultur kurzgeschlossen werden, die dann als Verfall gegenüber aufklärerischen Zielen erscheint. Problematisch

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schaften vom Menschen, Frankfurt a.M. 2000 wissenshistorisch rekonstruiert, um nachzuweisen, dass dieser Gegensatz „real“ in den Fachwissenschaften vom Menschen wie Medizin oder Psychologie nicht existiert oder unterlaufen wird. Vgl. Clemens Albrecht/Günter C. Behrmann/Michael Bock/Harald Homann/Friedrich H. Tenbruck: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M. u a. 1999, S. 203-246. Theodor W. Adorno: „Résumé über Kulturindustrie“. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I (= Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 10.1), Frankfurt a.M. 1997, S. 337-345, hier S. 345.

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ist insbesondere der Kurzschluss zwischen Theorie und Empirie, indem empirische Beobachtungen an aufklärerischen Idealen gemessen werden: „Abhängigkeit und Hörigkeit der Menschen, Fluchtpunkt der Kulturindustrie, könnten kaum treuer bezeichnet werden als von jener amerikanischen Versuchsperson, die da meinte, die Nöte des gegenwärtigen Zeitalters hätten ein Ende, wenn die Leute einfach prominenten Persönlichkeiten folgen wollten.“11 Man wird den „Kantischen [...] kategorischen Imperativ“ auch nicht an pietistischen oder mystischen Überzeugungen der Zeitgenossen und ihrer Alltagskultur von 1780 messen wollen oder können: Der Gesamteffekt der Kulturindustrie ist der einer Anti-Aufklärung; in ihr wird, wie Horkheimer und ich es nannten, Aufklärung, nämlich die fortschreitende technische Naturbeherrschung, zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewußtseins. Sie verhindert die Bildung autonomer, selbständiger, bewußt urteilender und sich entscheidender Individuen.12

Das anthropologische Ideal des „ganzen Menschen“ wird in seiner idealistischen Variante gemessen an den Verfallserscheinungen der durch Medien geprägten oder sogar erzeugten und von Medien beherrschten Menschen. Genauer: Adorno trennt zwischen einer technischen Modernisierung, der die Medien als technische Apparate unterworfen sind und in der sich der Fortschritt der Aufklärung manifestiert und einer doppelten Rückständigkeit diesem Fortschritt gegenüber. Diese doppelte Rückständigkeit oder Regression ist gekennzeichnet durch den Verfall aufklärerischer Anthropologie und den Verfall medialer Anthropologie. Diese realisiert nicht das Menschenbild von jener, jene sieht ihre Ziele nicht im medialisierten, radiohörenden und fernsehschauenden Menschen wirklich werden. Medienanthropologie versucht diesen paradoxen Widerstreit von Progression und Regression, die sich gleichwohl wechselseitig bedingen, zu fassen. Medienanthropologie ist zunächst die paradoxe Verschmelzung von konservativem Denkstil und Diskurs sowie medienkultureller Modernisierung und Innovation, welche das Verhältnis von Diskurs und Medium in tendenziell ausschließender Weise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt: Während der Diskurs 11 12

Adorno: „Résumé über Kulturindustrie“, a.a.O., S. 345. Ebenda, S. 343.

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vom „Wesen“ des „ganzen Menschen“ handelt und dabei dessen medial zerfaserte Realität nur indirekt oder widerstrebend kulturkritisch zur Kenntnis nimmt13, setzt sich Medienkultur in immer neuen Schüben durch.14 Zumal die akademische Wissenschaft mit kulturkritischer Retardierung oder Ignoranz auf diese Modernisierung als Entfremdung reagiert, so dass erst um 1950 in Deutschland Ansätze einer Kommunikations- und Medienwissenschaft, die zudem amerikanisch importiert ist, zu beobachten sind.15 Insofern dienen Zentralbegriffe dieses medienanthropologischen Diskurses wie „Regression“ oder „Reproduktion“ nicht nur der Beschreibung und Analyse von Sachverhalten und Gegenständen, sondern sind in demselben Maße auch Selbstbeschreibungen von Theorieformen, die sich den neuen Medien oder den avantgardistischen Künsten – zumeist kritisch – anzunähern versuchen. Adorno hat dementsprechend seine 1938 erschienene Schrift Regression des Hörens wissenshistorisch eingeordnet und dabei kritisiert, dass die Theorie hinterher hinke und abwehre, was an Modernisierung in Kultur und Gesellschaft sich ausbreite.16 Die Theorie, so wäre zu folgern, reagiert regressiv und restaurativ – anthropologisch auf die fortschreitende Modernisierung und Medialisierung von Gesellschaft und Kultur. „Regression“ oder „Reproduktion“ sind dann als Leitbegriffe aber nicht nur Beschreibungen des Gegenstandes Kulturindustrie, sondern auch Selbstbeschreibungen theoretischer Bearbeitungsformen, die eine Aussage machen nicht nur über die fortschreitende Medienkultur, sondern auch über die Art und Weise ihrer theoretischen Behandlung. Adorno, Plessner und Gehlen erfahren ihre intellektuelle Sozialisation maßgeblich in den 1920er Jahren der Weimarer Republik als einer kulturellen Durchsetzungsphase medialer Innovationen, die die Zeit der Avantgarden um 1910 begleiten wie Jazz oder Bau13 14 15 16

Vgl. zu dieser Polarität Josef Fürnkäs/Masato Izumi/K. Ludwig Pfeiffer/ Ralf Schnell (Hg.): Medienanthropologie und Medienavantgarde. Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen, Bielefeld 2005. Vgl. Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Opladen/Wiesbaden 2002. Vgl. zu dieser Verspätung Erhard Schüttpelz: „Die ältesten und die neuesten Medien. Folklore und Massenkommunikation um 1950“. In: Glaubitz/Käuser: Medieninnovationen, a.a.O., S. 33-47. Theodor W. Adorno: „Einleitung in die Musiksoziologie“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1997, S. 169-437, hier S. 425.

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haus, Rundfunk und Film. Dennoch wird diese Erfahrung von Modernität in der theoretischen Arbeit überlagert durch einen kulturkritischen und konservativen Denkstil, der als anthropologischer Diskurs zwischen den 1920er und den 1950er Jahren eine bemerkenswerte Kontinuität aufweist, die auch den Bruch des Nationalsozialismus relativ unbeschadet überlebt.17 Trotz vieler Differenzen wird dabei eine bemerkenswerte Übereinstimmung in theoretischen Einschätzungen bis zu begrifflichen Überschneidungen erreicht, so etwa zwischen Plessners Grundprinzip der „exzentrischen Positionalität“ und Gehlens „Plastizität des Menschen“. Beide Begriffe, die für mediale Phänomene Einlassstellen bieten und anschlussfähig sind, nehmen nichtsdestotrotz eine dezidierte und explizite Reflexion von Medialität gerade nicht oder nur indirekt vor. Insofern kommt es zu bemerkenswerten Verwerfungen zwischen Diskurs und Theorie einerseits sowie Praxis und Medium andererseits, die umso bedeutender sind, als „die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ durch diese Autoren maßgeblich stattfindet.18 Insbesondere die Spannung zwischen empirischer Sozialforschung, überhaupt der Etablierung von Soziologie als Universitätsfach mit Ambitionen einer Leitwissenschaft unter amerikanischer Beeinflussung nach 1945, die die Analyse medialer Veränderungen impliziert, sowie das Festhalten an philosophischidealistischen oder anthropologischen Denkstilen ist festzustellen, die indessen mediale Reflexion ausschließen oder nur implizit zulassen. 17 18

Vgl. zu Plessner Kersten Schüßler: Helmuth Plessner. Eine intellektuelle Biographie, Berlin/Wien 2000, S. 176-187; dort auch Hinweise zum Verhältnis zwischen Plessner und Adorno. Vgl. Albrecht u.a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik, a.a.O. Dass der hier zu skizzierende Diskurs auch gruppensoziologisch nachzuweisen ist, wird dort an vielen Beispielen deutlich, wie etwa der Freundschaft zwischen Gehlen, Adorno und Horkheimer oder der Parallele zum konservativen George-Kreis, mit dessen Gruppendynamik der „Kreis“ um Horkheimers Frankfurter Schule sich durchaus vergleichen lässt (ebenda S. 27-29), oder Horkheimers insgesamt eher an konservativen Gelehrten und Kollegen orientierte Hochschul- und Stellenpolitik. Dass eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule nur in engem Zusammenhang mit der politischen Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland geschrieben werden könne und nicht als „Theoriegeschichte“ (ebenda, S. 14f.), soll hier bestritten werden, indem die Aussagen und Denkstile der Theorie durchaus ernst und für analysenotwendig genommen werden, gerade weil der Diskurs „Brüche“ (ebenda, S. 55) enthält, die auch für seine soziale Einbettung relevant sind.

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Hatte Adorno in den USA sein Radio Research-Project in den medienkritischen Analysen der Kulturindustrie aus der Dialektik der Aufklärung zentriert19, so war die wesentlich durch Massenmedien hervorgerufene Depravierung und Konterkarierung von Grundsätzen der Aufklärung der Fokus der Analyse gewesen: das Umschlagen von Aufklärung in Mythos, die massenmedial verursachte Etablierung eines universellen Verblendungszusammenhangs, der vernünftige Selbstbestimmung und Autonomie sowie gesellschaftsverändernde Kritik verunmöglicht und damit die faschistischen Bewegungen nicht nur massenmedial begleitet, sondern geradezu hervorbringt. Ästhetisierung der Lebenswelt war, wie Benjamin feststellte, ja gerade an faschistischen Gesellschaften auszumachen. Aber auch Gehlen und Plessner stellen eine „Ästhetisierung“20 als Begleiterscheinung der kulturellen Medialisierung fest, worunter das Spiel mit sinnlichen aber abstrakten Formen ohne Wirklichkeitsbezug verstanden wird, eine durch Medien erzeugte Oberflächenwelt des schönen Scheins, die ohne Referenz auf die Realität selbstreferentiell und virtuell bleibt. Musikalisierung wird Plessner ergänzen, sei Kennzeichen der medienkulturellen und avantgardistischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts, die wegen fehlender Mimesis ästhetische Reflexionsbereitschaft freisetze. Wie für Adorno ist auch für Plessner die Musik das Leitmedium einer anthropologischen Medientheorie, die die eher an visuellen Leitmedien orientierte Moderne konterkariert und dadurch deren „Realität“ besser trifft: „[...] daß das ‚befreite‘ Sehen zu einer Art von Musizieren entbunden wird, die ein souveränes Schalten mit allem Visuellen oder [...] Visualisierbaren ermöglicht. [...] Die Ästhetisierung ist universal geworden, quasi una musica.“21 Ausdrücklich nimmt Adorno Benjamins Leitkategorie der Reproduktion zum Ausgangspunkt seiner Analyse der Kulturindustrie, in der allerdings stärker als bei jenem anderen Theorie-Setting die epistemologischen Innovationen und Brüche bedacht werden, welche für das moderne Phänomen umfassender Medialisierung 19 20 21

Vgl. jetzt die Neuausgabe aus dem Nachlass, Theodor W. Adorno: Current of Music. Elements of a Radio Theory, hg. v. Robert Hullot-Kentor, Frankfurt a.M. 2006. Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957, S. 33. Helmuth Plessner: „Anthropologie der Sinne“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Günter Dux u. a., Frankfurt a.M. 1980, Bd. III, S. 317394, hier S. 341f.

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anzuwenden sind. Denn Reproduktion bedeutet auf methodischer Seite, dass die Analyse von der Wirkung und nicht so sehr vom Produkt auszugehen habe. Wird die Kunst durch Medialisierung reproduzierbar und entauratisiert, dann impliziert dies eine Höherbewertung oder gar Dominantsetzung von Wirkung und Wirkungsanalyse, womit methodisch-theoretisch Medien- und Rezeptionsästhetik das angemessene Instrumentarium dieser medialisierten Kunst und Kultur werden: Zur Produktivkraft rechnet dabei nicht nur Produktion im engeren musikalischen Sinn, also das Komponieren, sondern auch die lebendige künstlerische Arbeit der Reproduzierenden und die gesamte, in sich inhomogen zusammengesetzte Technik: die innermusikalisch-kompositorische, das Spielvermögen der Reproduzierenden und die Verfahrungsweisen der mechanischen Reproduktion, denen heute eminente Bedeutung zukommt. Demgegenüber sind Produktionsverhältnisse die wirtschaftlichen und ideologischen Bedingungen, in die jeder Ton, und die Reaktion auf einen jeden, eingespannt ist. Im Zeitalter der Bewußtseins- und Unbewusstseinsindustrie ist, in einem Maß, das zu erforschen eine der zentralen Aufgaben von Musiksoziologie sein müßte, ein Aspekt der Produktionsverhältnisse auch die musikalische Mentalität und der Geschmack der Hörer.22

Wird die Produktion von Musik weitgehend und akzelerierend den Tontechnikern und Soundherstellern überlassen, dann wird dadurch die „Produktion im engeren musikalischen Sinn, also das Komponieren“23 zurückgedrängt, eine Tendenz der Elektronisierung der Musik, die sowohl die avantgardistische wie die populäre Musik maßgeblich prägt. Reproduktion zeigt sich auch am Vorherrschen der Interpretation der immergleichen klassischen Partituren sowie einer medientechnisch gesteuerten Hervorhebung des sinnlichen Hörens. Nicht mehr das Schreiben der Partitur als musikalisches Handwerk steht im Mittelpunkt, sondern verschiedene Weisen der Reproduktion von Musik, die deswegen kompositionstechnisch zur Serialität tendiert. Steht Musik unter den Bedingungen von Reproduktion, so ist Regression und „Simplifizierung“24 selbst der Avantgarde, also eine 22 23 24

Adorno: „Einleitung zur Musiksoziologie“, a.a.O., S. 422. Ebenda. Theodor W. Adorno: „Die Geschichte der deutschen Musik von 1908 bis 1933“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1997, Bd. 19, S. 620-630, hier S. 628.

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Anbiederung ans Publikum die Folge, die den anthropologischen Diskurs ins Spiel bringt. Um den „Kontakt mit Publikum wiederherzustellen“25, den die Neutöner zunächst bewusst provokativ in Frage gestellt hatten, indem Rahmenattacken auf das Verhältnis von Kunst und Leben beständig unternommen wurden und geradezu den Begriff von Avantgarde ausmachten, verzeichnet Adorno Versuche, diesen provokativen Akt der gezielten Erzeugung von Unverständnis zurückzunehmen. Das beginne bereits mit Arnold Schönbergs Wiener Verein für musikalische Privataufführungen oder dann den Donaueschinger Kammermusikfestspielen. Insgesamt wird diese Popularisierung der neuen Musik wesentlich durch die Zusammenarbeit mit Radioanstalten, also die „Rolle des Rundfunks“, gefördert, die der „Durchsetzung der neuen Musik“ dienen, dabei aber „Elemente des Paktierens in sich hatten“, also einer Popularisierung, die schließlich in Tendenzen der Regression mündet, wie sie für die kulturindustrielle Unterhaltungsmusik gleichfalls gelten: „Die Bedeutung der Rezeption der neuen Musik durch die großen Verlage, das Anschwellen der neuen Musik zu einer Massenpartei und zugleich damit die Keime der Mäßigung sind zu behandeln.“26 Musiksoziologie ist so in den 1950er Jahren ins Programm einer Modernisierung eingebunden, einer „Amerikanisierung“ und re-education der deutschen Wissenschaft, für die insbesondere die Remigranten Horkheimer und Adorno gewonnen werden, mit der Aufgabe die Soziologie zur Leitwissenschaft zu machen, um Demokratie in Deutschland zu etablieren.27 Andererseits sind die philosophisch-idealistischen Fundamente bei Horkheimer und Adorno so massiv, dass sie dieses Projekt der „Amerikanisierung“ signifikant konterkarieren, indem nicht Fortschritte, sondern Rückschritte, nicht Innovation, sondern Reproduktion den kulturkritischen Diskurs über Medien dominieren. Adornos Musikanalysen sind so immer auch Verfallsgeschichten der Avantgarde, mit dem Resultat, dass das Neue, das um 1910 sich bahnbrechend durch25 26

27

Ebenda, S. 628. Ebenda, S. 624-627; den weltweiten Erfolg der Avantgarden der 1910er Jahre auf allen Ebenen von Kunstbetrieb, Kunstproduktion und Kunstrezeption, durch den „Abstraktion zur Weltsprache“ wird (vgl. den Beitrag von Sabiene Autsch im vorliegenden Band), behandelt jetzt Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955, München 2005. Vgl. Albrecht u.a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik., a.a.O.

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setzte, durch den Ausverkauf an die Kulturindustrie zum stets Reproduzierten/Reproduzierbaren wird. „Die Werke wechseln durch ihre Reproduktion, die sie dem Markt zueignet, ihre Funktion; prinzipiell kann die ganze obere Musiksphäre, mit Ausnahme der widerspenstigen avantgardistischen Werke, zur U-Musik werden […]“28, heißt es 1967 im Nachwort zur Einleitung in die Musiksoziologie. Bedeutet Modernisierung bezogen auf Kunst und Kultur Auraverlust durch Reproduzierbarkeit, wie Benjamin gezeigt hatte, so ist dieser Funktionswechsel zur Medienkunst eine kulturindustrielle und massenmediale Transformation: „Musikalische Interpretation und Reproduktion bringt Musik an die Gesellschaft heran und ist daher musiksoziologisch besonders relevant.“29 Markiert dieser Medienumbruch des 20. Jahrhunderts zugleich auch einen epistemologischen Bruch, indem Musiksoziologie in der skizzierten Weise zur hervorgehobenen Theorie, zum maßgeblichen modernen Denkstil zu werden hat, dann ist deren Inhalt durch eine Problematisierung des Neuen zu kennzeichnen, das durch Reproduktion und Regression tendenziell verunmöglicht wird. Für die Geschichte der deutschen Musik von 1908 bis 1933, die Adorno 1955 skizziert, gilt: „Aber das eigentliche Thema muß doch das dialektisch vielfach verschränkte Verhältnis des Neuen und des Reaktionären im Umkreis der von der avant-guerre-Kunst sich absetzenden Bewegung bleiben.“30 Auf die erste Medienrevolution der Avantgarden sowie von Film und Rundfunk seit 1900 folgt als zweite Medienrevolution deren Vergesellschaftung zur Medienkultur, die neue soziologische Denkweisen herausfordert. Dem Medienumbruch um 1900, der die Musik durch Reproduktion medialisiert, folgt ein epistemologischer Bruch, der die Musik soziologischen Denkweisen aussetzt, wodurch die neue Leitwissenschaft der Soziologie akademisch und publizistisch etabliert wird. Die Einleitung in die Musiksoziologie soll „nicht nur in die Musiksoziologie sondern in die soziologische Konzeption der Frankfurter Schule einleiten.“31 Innerhalb einer Diskursgeschichte des medienanthropologischen Denkstils ist es von einiger Wichtigkeit, dass Adornos intellektuelle Sozialisation wie diejenige Horkheimers in die 1920er und 28 29 30 31

Adorno: „Einleitung in die Musiksoziologie“, a.a.O., S. 426. Ebenda. Adorno: „Die Geschichte der deutschen Musik von 1908 bis 1933“, a.a.O., S. 623. Adorno: „Einleitung in die Musiksoziologie“, a.a.O., S. 171.

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1930er Jahre fallen,32 einen Zeitraum mithin, der zugleich die entscheidende Durchsetzungsphase der neuen Medien wie der Avantgarden (eingeschlossen die Retrogarden) darstellt, an denen nun Adorno eher Verfallsgeschichten abliest, die er unter das Label „Kulturindustrie“ bzw. „Reproduzierbarkeit“ stellt. Adorno, der 1925 enthusiastisch nach Wien zu Alban Berg gepilgert war, um die Zwölftonmusik Schönbergs zu studieren, stellt im Nachhinein konsterniert die Entradikalisierung dieser Avantgarde durch ihre Medialisierung und Popularisierung fest. So ist die „Phase der Publizität der neuen Musik im Zusammenhang mit der deutschen Revolution 1918-1923“ folgendermaßen zu kennzeichnen: Hier sind die scheinbare Durchsetzung der neuen Musik und ihre Probleme zu behandeln. Es ist eine Geschichte des Wiener Vereins für musikalische Privataufführungen zu geben, der das Modell der späteren Organisationen für neue Musik [...] darstellt. Es ist weiter zu zeigen, in welcher Weise so entscheidende Organisationen von Anfang an Elemente des Paktierens in sich hatten. Dann ist die plötzliche Verbreiterung der Produktionsbasis der neuen Musik durch Schreker und seine Schule und durch Hindemith zu behandeln. [...] Die Bedeutung der Rezeption der neuen Musik durch die großen Verlage, das Anschwellen der neuen Musik zu einer Massenpartei und zugleich die Keime der Mäßigung sind zu behandeln.33

Für den Avantgardisten Adorno stellt es einen „Bruch“ dar, dass das Neue und Progressive der neuen Musik, an dem er ja entscheidend und zeitlebens fast apologetisch festhält, ins Regressive und 32

33

Vgl. Albrecht u.a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik., a.a.O., S. 68: „Ein weiteres Indiz für die überragende Bedeutung des Exils ist in der Tatsache zu sehen, daß Horkheimer nach 1950 nichts ‚Neues‘ mehr erarbeitet hat, sondern in kleinen Aufsätzen und Vorträgen das Erreichte ausspann.“ Vgl. auch Heinz Steinert: Adorno in Wien, Frankfurt a.M. 1993 sowie, Ders.: Die Entdeckung der Kulturindustrie oder: Warum Professor Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte, Wien 1990. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber auch die Tatsache, dass sowohl die 1920er wie die 1950er Jahre sowohl Durchsetzungsphasen neuer oder alter Medien (wie in Deutschland verspätet Fernsehen oder Rundfunk) sind, wie auch Phasen der Etablierung von Anthropologie, vgl. zu den 1920er Jahren und der zentralen Rolle der Anthropologie Plessners: Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994. Adorno: „Die Geschichte der deutschen Musik von 1908 bis 1933“, a.a.O., 626f.

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„Altern der neuen Musik“34 umschlägt, dass beides oft in demselben Werk anwesend ist oder durch die Weise, wie neue Musik reproduziert, aufgeführt und rezipiert wird, in dieses Werk hinein getragen wird: „Zu fragen wäre: wie ist musikalische Spontaneität gesellschaftlich überhaupt möglich?“35 Kulturindustrie und deren Analyse explorieren eher die „Wiederholung“ als die Neuerung, eher die Reproduktion als die Produktion.36 Medieninnovation hat als technischer Fortschritt anthropologisch Regression zur Folge und verkehrt die aufs Neue fokussierten Avantgarden ins konservative Gegenteil, etwa in Gestalt serieller Wiederholung. Insofern sind Reproduktion und Regression die Leitbegriffe dieser anthropologischen Kontrafaktur zur medialen Modernisierung, die immer auch Normalisierung ist. Entscheidend im vorliegenden Zusammenhang ist der wissenschaftstheoretische, epistemologische Bruch, den dieser Übergang vom Neuen zum Alten, vom Avantgardistischen zum Restaurativen auch bedeutet. Insofern nimmt in der Vorrede zu den Dissonanzen von 1963 dieser diskurshistorische, wissenschaftstheoretische Aspekt eine zentrale Stelle ein. Die dort enthaltene Studie Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens von 1938 entsteht vor dem Hintergrund sich ausbreitender Medienkultur in Amerika und „war der erste Niederschlag der amerikanischen Erfahrungen des Autors, als er den musikalischen Teil des Princeton Radio Research Projekt leitete“.37 Die Arbeit entdeckt an dieser Transformation von Kultur in Medienkultur „anthropologische Veränderungen“38, die das Hören von Musik gegen das Sehen von Filmen ausspielen, was eine wissenshistorische Differenz zu Benjamins Reproduktionsaufsatz markiert, dem gleichwohl der Leitbegriff der Reproduktion – erweitert um die anthropologische Dimension der Regression – entnommen wird.39 Während das Sehen mit den Leitmedien Film und Fernsehen teilhat am medientechnischen Fortschritt, partizipiert das Hören an der anthropologisch zu analysierenden Regression, insofern es der na34 35 36 37 38 39

Vgl. den Vortrag/Aufsatz von Adorno: „Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1979, S. 143-162. Adorno: „Einleitung in die Musiksoziologie“, a.a.O., S. 425. Ebenda. Adorno: „Dissonanzen“, a.a.O., S. 10. Ebenda. Ebenda.

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türlich zurückgebliebene Sinn ist: „Hören ist, verglichen mit dem Sehen, ‚archaisch‘, mit der Technik nicht mitgekommen. Man könnte sagen, daß wesentlich mit dem selbstvergessenen Ohr, anstatt mit den flinken, abschätzenden Augen zu reagieren, in gewisser Weise dem spätindustriellen Zeitalter und seiner Anthropologie widerspricht.“40 Dadurch, dass Adornos Analyse von Medienkultur beim Musik-Hören ansetzt, sind Affinitäten zur Anthropologie mit ihrer Betonung von Körperlichkeit, Natur, Ursprünglichkeit, Archaik und Primitivität begründet und wird somit ein Gegensatz zur medientechnischen Modernisierung mit ihrer Affinität zur Dominanz des Sehens als Leitsinn und -medium impliziert. Plessner kennzeichnet ebenso die medienkulturelle Entwicklung der Moderne durch eine „Musikalisierung des Sehens“ und bestimmt das Hören als archaisch-naturhaft, so dass auch er gegenläufige Tendenzen von Musikalisierung und Medialisierung beobachtet.41 Plessner und Adorno entwickeln somit einen an der Musik und weniger an Visualität orientierten Medienbegriff, der auch deswegen in den 1950er Jahren eine gewisse Dominanz erhält, weil eine vor allem an visuellen Medien orientierte Theorie noch fehlt und erst verspätet entwickelt wird. Dies mag auch am Radio als dem Leitmedium der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen, dem Adorno sein Radio Research Project in den USA gewidmet hatte. Doch erklärt dies den Sachverhalt nicht hinreichend, gerade auch in Hinsicht auf die weit ausgreifende These einer Musikalisierung des Sehens, die Plessner und Adorno aus der durch Abstraktion entsprungenen Überwindung von Mimesis begründen. Medien primär musikalisch zu definieren ist vielmehr auch Diskursnotwendigkeiten geschuldet, die dem anthropologischen Denkstil entstammen, der das Archaische und Ursprüngliche hervorhebt. Denn anders als das rationalisierte und damit den visuellen (Leit-)Medien ausgelieferte Sehen bleibt dem Hören ein irrationaler, archaischer Rest, so dass sich die Musik als nonverbales Körpermedium profiliert. Medien musikalisch zu definieren bedeutet, einen körperlich, gestisch, stimmlich sowie rhythmisch ausgezeichneten Medienbe40 41

Theodor W. Adorno/Hanns Eisler: „Komposition für den Film“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 15, Frankfurt a.M. 1997, S. 7-147, hier S. 29. Vgl. Andreas Käuser: „Musikalität und Medialität. Plessner und Adorno“. In: Joachim Grage (Hg.): Literatur und Musik in der klassischen Moderne. Mediale Konzeptionen und intermediale Poetologien, Würzburg 2007 (im Erscheinen).

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griff zu installieren, der weniger sprachlich, rational und vernünftig bestimmt ist, so dass Musik für die das Unbewusste steuernde und auf das Irrationale abzielende Unbewusstseinsindustrie der Kulturindustrie das geeignete Instrument und Medium ist: „Sie empfiehlt sich als das Medium schlechterdings, in dem man Irrationales rational betreiben kann.“42 Das für Adorno Neue dieser Kulturindustrie, das darin bestand, dass diese das Verhältnis von Musik und Gesellschaft auf eine qualitativ neue Stufe der medialen Industrialisierung hebt, ist die zentrale „Vermittlung“ – also Medialisierung –, die der theoretisch adäquaten Vermittlung bedarf: „Evident wird die Vermittlung von Musik und Gesellschaft in der Technik.“43 Weil die Kulturindustrie Musik in ganz neuer Weise vergesellschaftet und industrialisiert, muss, wer über Musik schreibt auch über Medien und Medialisierung schreiben. Die bereits erwähnten Verweigerungen gegenüber einer Medientheorie sind in Wahrheit Resultat eines alternativen Medienbegriffs, der körperlich und musikalisch gefasst wird, und sich dem Kommunikationsbegriff verweigert: „Schließlich zur Terminologie: was ich in der ‚Einleitung in die Musiksoziologie‘ Vermittlung genannt habe, ist nicht, wie Silbermann annimmt, dasselbe wie Kommunikation.“44 Kulturindustrie ist wesentlich musikalisch medialisiert und gerade nicht mit „kommunikativer Kompetenz“ ausgestattet.45 „[Die Abhandlungen] gelten dem, was der Musik in der verwalteten Welt widerfährt, unter Bedingungen planender, organisierender Erfassung, die der künstlerischen Freiheit und Spontaneität die gesellschaftliche Basis entziehen. Die Betrach42 43 44 45

Adorno/Eisler: „Komposition für den Film“, a.a.O., S. 31. Adorno: „Einleitung in die Musiksoziologie“, a.a.O., S. 418. Theodor W. Adorno: „Thesen zur Kunstsoziologie“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 10.1, Frankfurt a.M. 1997, S. 367-374, hier S. 374. Insofern ist es konsequent, wenn Jürgen Habermas: „Philosophische Anthropologie (ein Lexikonartikel 1958)“, in: Ders.: Kultur und Kritik, Frankfurt a.M. 1973, S. 89, 1958 als Zäsur setzt, die die Phase anthropologischer Medienreflexion beendet und den Siegeszug einer Medientheorie als wesentlich sprachlich gefasste Kommunikationstheorie beginnen lässt, etwa mit Strukturwandel der Öffentlichkeit von 1962. Dieser erfolgreiche Ausschluss anthropologischer Medientheorie wird erst mit der digitalen Revolution seit den 1980er Jahren beendet; dem nachzugehen wäre eine eigene Aufgabe. Plessner seinerseits konstatiert 1970 die akademischen Schwierigkeiten einer anthropologischen Theorie der Sinne (nicht der Medien). Vgl. Plessner: „Anthropologie der Sinne“, a.a.O., S. 317.

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tungsweise ist ästhetisch und soziologisch zugleich. Die Phänomene künstlerischer Rückbildung, die erörtert werden, haben ihren Grund im gesellschaftlichen Zug zur Erfassung des Menschen.“46 III. Was Adorno unter den Begriffen der „Regression“ und „Reproduktion“ fasst, nennt Arnold Gehlen „Primitivität“, so dass die reale Modernisierung des (medien-) technischen Fortschritts durch eine „gegenläufige Primitivisierung“ gekennzeichnet wird, in der neben den Fortschritt ein „kultureller Konservativismus“47 tritt, der sich mit Entwicklungen der Medienkultur verbindet. Die kulturellen Massenmedien, das Kino und der Rundfunk, sind nun einer von vielen Seiten kritisierten Primitivisierung gefolgt, die aber aus finanziellen Gründen kaum vermeidbar ist. [...] Die hier gemeinte Primitivität besteht eigentlich in dem niederen Durchschnitt des Anspruchs an sich selbst und an die Situationen, die man aufsucht, doch gibt es auch die sehr andersartige ‚zweite Primitivität‘ der Kultivierten, nämlich die Neigung zu überstarker Dosierung und zu krassen Erregungen. Der Einfluß der Neger- und Papua-Plastiken auf die Malerei, schon vor dem Ersten Weltkrieg, ist notorisch, und insbesondere der frühe Expressionismus wollte durchschlagende und schockierende Effekte. Kontrastreich stehen KLEES hypersensible, hauchzarte Träume neben KIRCHNERS schreienden Farbenschocks. Übrigens schließt dieser Neo-Primitivismus ebenso wie die Entsinnlichung und Abstraktheit die Kunst von der Popularität aus.48

Gehlen schlussfolgert, dass dies Entsprachlichung bedeute, womit ein nichtsprachlicher Medienbegriff installiert wird:

46 47

48

Adorno: „Dissonanzen“, a.a.O., S. 9. Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, a.a.O., S. 33; ein Buch, das, wie Adorno eigens vermerkt (Adorno: „Einleitung in die Musiksoziologie“, a.a.O., S. 171), in der auf Zeitungspapier gedruckten Rowohlts deutschen Enzyklopädie durchaus am medientechnischen Fortschritt teilnahm, indem erstmals Wissenschaft in Taschenbuchformat auf den Markt kam. Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, a.a.O., S. 34.

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Unter dem Stichwort Primitivisierung ist schließlich noch eine auffallende Erscheinung des modernen Kulturlebens zu beschreiben, nämlich der Verfall der subtilen Denkkultur im sprachlichen Bereich (nicht nur im mathematischen). Für andeutungsreiche, beziehungsvolle Denkfiguren, für den Ausdrucksreichtum des Nichtgesagten, für stilistische Feinheiten, für trennscharfe begriffliche Distinktionen mit ihren Obertönen fehlt es heute in sehr weiten Kreisen an Organen, alles muß eingängig, einprägsam und gestanzt geboten werden. [...] Das Zeitalter der Aufklärung ist zu Ende und mit ihm das des Glaubens an die Notwenigkeit von immer mehr und immer schärferer abstrakter Begrifflichkeit.49

Erinnert dies an die Diskussionen um eine Metaphorologie des Medialen50, die im Gefolge des digitalen Revolution die distinkte Begrifflichkeit von Theorie unterlaufe und konterkariere, indem das repräsentierende Zeichen durch die performative Aktion ersetzt wird, so prognostiziert Gehlen auch den hiermit in Zusammenhang stehenden Hang zum Bildlichen und Ikonischen. Aufklärung, die wie bei Adorno an den Text, die Schrift, den Begriff gekoppelt ist, wird von Medienkultur überwunden durch Bild, Klang, Geste und Rhythmus: „Damit steht der Selbstwert, das Selbstgeltungspathos der Wissenschaft in Gefahr [...] der Trieb nach Einfachheit, Bildhaftigkeit des Wißbaren, der damit zusammenhängende nach Anwendung und Praxis, das sind die Impulse, welche die stolze Selbstgenügsamkeit der begrifflichen Meisterschaft sozusagen unterlaufen und hinter sich lassen.“51 Moderne Kunst und Medienkultur verbinden sich in einer Tendenz zum Unbegrifflichen, welche einem Antiintellektualismus Vorschub leistet, der an die Stelle von theoretischer Komplexität und Reflexion die Einfachheit ikonischer Zeichen und lautlicher Gesten setzt, die einer „Hermeneutik des nichtsprachlichen Ausdrucks“ (Plessner) bedürfen.52 Gehlen spielt mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs „Primitivisierung“, dessen pejorative Bedeutung er kulturkritisch ausbeu49 50 51 52

Ebenda, S. 35. Vgl. Andreas Käuser: „Medienumbrüche und Sprache“. In: Ralf Schnell/ Georg Stanitzek (Hg.): Ephemeres. Mediale Innovationen 1900/2000, Bielefeld 2005, S. 169-191. Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, a.a.O., S. 35. Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Helmuth Plessner, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Günter Dux u. a., Bd. VII, Frankfurt a.M. 1979, S. 459- 478.

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tet, um gegen die „brutalen Vereinfachungen“ der Plastiken von Moore oder Brancusi zu wettern, deren Klobigkeit und Hässlichkeit er „Ausartung der Rasse“ vorwirft.53 Primitivität erhält aber andererseits eine begrifflich-theoretische Dignität, die das „Mängelwesen“ Mensch näher definiert, dass wegen seiner Mängelhaftigkeit kulturelle und damit auch mediale Entlastungen benötigt, um überhaupt lebensfähig zu sein.54 Erinnert diese Bestimmung von Medien durchaus an solche von McLuhan oder anderen, wonach Medien die menschliche Natur des Körpers und der Sinne ergänzen und/oder ersetzen, so greift Gehlens anthropologische Bestimmung des Sachverhalts weit aus, begründet aus der „unspezialisierten“ Primitivität die Medienabhängigkeit des Menschen, kulturell tätig sein und sich kommunikativ mit seiner Umwelt auseinandersetzen zu müssen. Von einiger Bedeutung für den diskursanalytischen Ansatz ist die doppelte Begriffsverwendung von Primitivität, die sowohl kultur- und medienkritisch wie auch substantiellanthropologisch bestimmt wird, also recht genau den kritischen medienanthropologischen Diskurs umschreibt, ebenso wie die Gegenbegriff der Regression und Reproduktion bei Adorno. Adornos und Gehlens mitunter harsche Abrechnung mit den Erzeugnissen der kulturellen Moderne kann doch die Produktivität dieses kulturkritischen Ausgangspunkts nicht verschleiern, der die tiefe Verankerung dieser Medienkultur in einer sich verändernden anthropologischen Beschaffenheit des Menschen als „anthropologische Verschiebungen“ (Adorno) nachweist und aufzeigt. Auch wenn die anthropologische Leitfrage nach der „Ganzheit“ oder dem „Wesen“ des Menschen als seiner „Gesamtauffassung“ aufrechterhalten wird, so erweisen sich die methodischen Probleme bei der Beantwortung eher als unüberwindlich.55 Der an53 54

55

Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, a.a.O., S. 35. „Wir müssen dabei die Ausdrücke gut bestimmen. Der Begriff ‚primitiv‘ ist gleichbedeutend mit dem Begriff ‚unspezialisiert‘, und er bedeutet in diesen Erörterungen niemals ‚niedrigstehend‘ oder ‚minderwertig‘, so wie man etwa einen Australierschädel gegenüber einem europäischen primitiv nennt. Vielmehr ist für diese ganze Problematik Primitiv = unspezialisiert = ursprünglich, entweder im ontogenetischen Sinne (embryonal) oder im phylogenetischen (archaisch).“ Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiebelsheim 2004, S. 86f. Dies stimmt natürlich so nicht; durchaus benutzt Gehlen die pejorative Bedeutung von primitiv in seinen kunstkritischen Attacken, trennt also diese publizistische von einer wissenschaftlichen Begriffsverwendung. Ebenda, S. 12f.

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thropologische Diskurs mit dem biologischen Ausgangspunkt des Vergleichs von Mensch und Tier wird gleichsam medienkulturell überformt, indem die entscheidende Zäsur der Begriff der „Entlastung“ markiert, der indessen von der biologisch-naturalen Mängelsituation des Menschen ausgeht, welche beständiger kulturellmedialer Entlastungen bedarf. Medien und Kultur bilden so die zentrale Ergänzung und Entlastung einer anthropologischen Bestimmung des Menschen als Mängel-Wesen, die dessen Natur beständig medienkulturell überformt bzw. konterkariert und aus dessen fragmentarisch-offener, „nicht festgestellter“ Konstitution die geforderte „Gesamtauffassung des Menschen“ erstellt und konzipiert werden müsste: „Wir haben jetzt dagegen den ‚Entwurf‘ eines organisch mangelhaften, deswegen weltoffenen, d.h. in keinem bestimmten Ausschnitt-Milieu natürlich lebensfähigen Wesens, und verstehen jetzt auch, was es mit den Bestimmungen auf sich hat, der Mensch sei ‚nicht festgestellt‘ oder ‚sich selbst noch Aufgabe‘ [...] und bedarf schon aus dieser elementaren Nötigung heraus der Zusammenarbeit, also der Verständigung. [...] Der Inbegriff der von ihm ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur heißt Kultur...“.56

Für diesen Vorgang der medialen Um- und Überformung sind „Reizüberflutung“ sowie eine konstruktivistisch als „Resultat menschlicher Eigentätigkeit“ strukturierte und selektierte „Wahrnehmungswelt“ kennzeichnend.57 Als „stellungnehmendes Wesen“, „zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehört, zu sich selbst Stellung nehmen zu müssen, wozu eben ein ‚Bild‘, eine Deutungsformel notwendig ist“58, benötigt der Mensch symbolisierende und gestaltgebende Medien, die indessen in der anthropologischen Perspektive Gehlens keineswegs auf semantisch-vernünftigen Sprachgebrauch kommunikativer Kompetenz eingeschränkt werden, sondern ausdrücklich die somatischen „sensomotorischen“ Kommunikationsleistungen körperlicher „Bewegungen“ des „vorsprachlichen Verhaltens“59 berücksichtigt oder sogar prämiert:

56 57 58 59

Ebenda, S. 36 und S. 38. Ebenda, S. 36 und S. 39. Ebenda, S. 9f. Ebenda, S. 47.

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Es betrifft die fundamentale Kategorie der ‚Entlastung‘. Das Denken, Vorstellen und Phantasieren ruht, wie sich zeigen wird, auf einem breiten Unterbau ‚sensomotorischer‘ Funktionen, die über Hand, Auge und Sprache laufen. [...] Die hier einsetzende Kategorie der Entlastung meint nun, daß die Funktionen des Denkens und der Phantasie an den elementaren, mit Worten durchwobenen Tast- und Seherfahrungen ihre Beweglichkeit erhalten [....].60

Insofern besteht das anthropologische Apriori in der leiblichen, körperlichen Perspektive, als deren Entlastung oder Erweiterung Medien gelten, eine Definition, die indessen konträr zu rein geisteswissenschaftlichen oder idealistischen Konzepten steht: „Die vegetativen, sensorischen und motorischen Funktionen arbeiten offenbar sehr viel geistreicher, als der Idealismus zugeben wollte und der Materialismus zugeben konnte“, weswegen die organische, körperlich „Sonderstellung des Menschen“ im Mittelpunkt steht, dessen Beweglichkeit Basis seiner „Plastizität“ ist:61 „[des Menschen] Bewegungsskala ist unspezifiziert. Die unbegrenzte Plastizität der menschlichen Bewegungen und Handlungsformen ist also nur zu verstehen von der ebenso unbegrenzten Fülle von Tatsachen aus, vor die ein weltoffenes Wesen zu stehen kommt, und in denen es nun fähig sein muß, irgendwelche auszunützen und einzusetzen.“62 Zugespitzt könnte man sagen, dass der anthropologische Diskurs wegen seiner Körperorientierung, dem Hervorheben von Phänomenen wie Geste, Stimme oder Rhythmus, der geeignete Diskurs für eine Medientheorie ist, darin aber zugleich die konservativen idealistischen Geistkonzepte, denen Adorno und Gehlen nachhängen, transzendiert, ohne sie völlig aufzugeben. Andererseits relativiert ein solch körperorientierter oder -zentrierter Medienbegriff den an Sprache gekoppelten Medienbegriff der Kommunikation. Die Fortschrittlichkeit eines körperlich-archaisch grundierten Medienbegriffs ist daran ersichtlich, dass erst Medientheorien der letzten Dekade im Umfeld der digitalen Medienrevolution hier erneut haben ansetzen können und die Herrschaft eines sprachlich-kommunikativ orientierten Medienbegriffs, der die anthropologische Medientheorie um 1960 beendete und ablöste, ihrerseits haben revidieren können.

60 61 62

Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 42.

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IV. In diskurshistorischer und -analytischer Absicht und nicht in apologetischer oder applikativer Weise sollte gezeigt werden, wie die Anthropologie der Medien zum Leitdiskurs der fünfziger Jahre wird und welche Denkfiguren und Begriffskonstellationen dabei entfaltet werden, was zunächst dem Restaurativen und Regressiven der Epoche entspricht, insofern der anthropologische Diskurs den Rückgang zu den natürlichen Ursprüngen, denen ein Wesen des Menschen eingeschrieben sei, zu bewerkstelligen versucht. Wissenshistorisch ist die – noch weiter zu analysierende – Übereinstimmung zwischen einzelnen Autoren, wie Adorno, Plessner und Gehlen von Belang, die die sich in den fünfziger Jahren weiter durchsetzende Modernität von Medienkultur, ob nun im Fernsehen oder Radio, in der Rockmusik oder der bildenden Kunst, in regressive und restaurative Rückschritte umdeuten. Dabei wird ein Diskurs bemüht, der als anthropologischer seit 1900 – und verstärkt in den 1920er Jahren – die modernen Fortschritte kontrastiv und konterkarierend begleitet, und dabei durchaus zum Fortschritt geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse beizutragen vermag. Der kulturkonservative und kulturkritische Denkstil eröffnet Einsichten in moderne Medienkultur, wo diese als solche gar nicht zur Sprache kommt, gleichsam als Erkenntnis durch Vermittlung und aus Verweigerung. Geistes- und kulturwissenschaftliche Exzellenz entspringt einem antimodernen Denkstil und Duktus, der auch die Zäsur des Nationalsozialismus in ein sicher bedenklich relativierendes Licht abdunkelt. Denn Adorno und Gehlen, aber auch Plessner geben der Diskursform eine Kontinuität zwischen den 1920er und den 1950er Jahren, die sich an politischen Daten wie 1933 oder 1945 nur äußerlich orientiert.63 Einerseits hat der anthropologische Diskurs somit eine Tendenz zu überhistorischer Kontinuität, die sich von realhistorischen Zäsuren nur wenig beeindrucken lässt; andererseits ist der Diskurs in einer wissenshistorischen Perspektive sehr genau reflektiert oder sogar prädestiniert, um Brüche und „Diskontinuitäten“ (Adorno) zwischen Theorie und ihrer Darstellungsleistung sowie medienkultureller Realität aufzudecken. Gehlen und Plessner berufen sich auf Herder und 63

Vgl. Adornos Bemerkung zur Einheit seines Werks in „Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt“, a.a.O., S. 9 sowie Schüßler: Helmut Plessner, a.a.O., S. 176-187.

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verstehen ihre Projekte wie Adorno als Fortsetzung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, woran sich die kulturellen Veränderungen des 20. Jahrhunderts messen lassen müssten. Sie stellen dabei insbesondere eine Zäsur zwischen diesen älteren Ansprüchen der Theorie und den neueren Fortschritten der Medienkultur fest, der sich kulturkritisch als Widerstreit von antiintellektueller Medienentwicklung und antimoderner Theorie lesen lässt. Dass dieser Widerstreit durchaus eine produktive intermediale Konstellation der Diskontinuität und des Bruchs, etwa von überzeitlicher Natur und moderner Kultur sein kann, sollte gezeigt werden. Gerade durch die kulturkritische Weigerung, sich neusten Medienentwicklungen auszuliefern, entfaltet die Frankfurter Schule eine medial bewirkte Machtentfaltung und Wirkung, die sich der neusten Medien auch dort noch bedient, wo der Rundfunkvortrag diese als regressiv attackiert. Andererseits kittet der anthropologische Diskurs in seiner kontradiktorischen Anwendung auf mediale Modernisierung auch Probleme der Theorie und ihrer Darstellung, verschleiert den Bedarf einer Medientheorie durch Orientierung an traditionellen Denkmustern. Literatur Adorno, W. Theodor: „Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1979, S. 143-162. Adorno, Theodor W./Horkheimer: Max: Dialektik der Aufklärung. (= Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 3), Frankfurt a.M. 1979. Adorno, Theodor W./Hanns Eisler: „Komposition für den Film“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 15, Frankfurt a.M. 1997, S. 7-147. Adorno, Theodor W.: „Die Geschichte der deutschen Musik von 1908 bis 1933“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 19, Frankfurt a.M. 1997, S. 620-630. Adorno, Theodor W.: „Einleitung in die Musiksoziologie“ In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1997, S. 169-437. Adorno, Theodor W.: „Résumé über Kulturindustrie“. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I (= Ders.: Gesammelte Schrif-

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ten, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 10.1), Frankfurt a.M. 1997, S. 337-345. Adorno, Theodor W.: „Thesen zur Kunstsoziologie“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 10.1, Frankfurt a.M. 1997, S. 367-374. Adorno, Theodor W.: Current of Music. Elements of a Radio Theory, hg. v. Robert Hullot-Kentor, Frankfurt a.M. 2006. Albrecht, Clemens/Günter C. Behrmann/Michael Bock/Harald Homann/Friedrich H. Tenbruck: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M. u.a. 1999. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, 1956. von Beyme, Klaus: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955, München 2005. Bollenbeck, Georg: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945, Frankfurt a.M. 1999. Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995. Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1995. Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2. Bde., hg. v. Kai Buchholz u.a. Darmstadt 2001. Fürnkäs, Josef/Masato Izumi/K. Ludwig Pfeiffer/Ralf Schnell (Hg.): Medienanthropologie und Medienavantgarde. Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen, Bielefeld 2005. Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiebelsheim 2004. Habermas, Jürgen: „Philosophische Anthropologie (ein Lexikonartikel 1958)“. In: Ders.: Kultur und Kritik, Frankfurt a.M. 1973. Glaubitz, Nicola/Andreas Käuser (Hg.): Medieninnovationen und Medienkonzepte 1950/2000. In: Navigationen, Jg. 6 (2006) H. 1. Lichtblau, Klaus: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt a.M. 1996. Käuser, Andreas: „Medienumbrüche und Sprache“. In: Ralf Schnell/ Georg Stanitzek (Hg.): Ephemeres. Mediale Innovationen 1900/2000, Bielefeld 2005.

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Medien-Anthropologie als Leitdiskurs der fünfziger Jahre

Käuser, Andreas: „Musikalität und Medialität. Plessner und Adorno“. In: Joachim Grage (Hg.): Literatur und Musik in der klassischen Moderne. Mediale Konzeptionen und intermediale Poetologien, Würzburg 2007 (im Erscheinen). Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994. Plessner, Helmuth: „Hermeneutik des nichtsprachlichen Ausdrucks“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Günter Dux u.a., Bd. VII, Frankfurt a.M. 1979, S. 459- 478. Plessner, Helmuth: „Anthropologie der Sinne“. In: Ders.: Gesammelte Schriften hg. v. Günter Dux u.a., Bd. III, Frankfurt a.M. 1980, S. 317-394. Rieger, Stefan: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a.M. 2000 Rieger; Stefan: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt a.M. 2002. Schlaffer, Heinz: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München 2003. Schneider, Irmela/Peter M. Spangenberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Opladen/Wiesbaden 2002. Schüßler, Kersten: Helmuth Plessner. Eine intellektuelle Biographie, Berlin/Wien 2000. Schüttpelz, Erhard: „Die ältesten und die neuesten Medien. Folklore und Massenkommunikation um 1950“. In: Nicola Glaubitz/Andreas Käuser (Hg.): Medieninnovationen und Medienkonzepte 1950/2000. In: Navigationen, Jg. 6 (2006) H. 1, S. 3347. Steinert, Heinz: Adorno in Wien, Frankfurt a.M. 1993. Steinert, Heinz: Die Entdeckung der Kulturindustrie oder: Warum Professor Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte, Wien 1990.

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ZUR RELATIONIERUNG VON MEDIALISIERUNG/AMERIKANISIERUNG UND GLOBALISIERUNG/LOKALISIERUNG IN MEDIENDISKURSEN DES 20. JAHRHUNDERTS

Irmela Schneider (Köln) I.

Vorbemerkungen

Die zwei Begriffspaare „Medialisierung/Amerikanisierung“ und „Globalisierung/Lokalisierung“ spielen in Diskursen des 20. Jahrhunderts eine prominente und vielseitige Rolle. Die historische Semantik dieser Begriffe führt in die Anfänge der Moderne. Damals, um 1800, entstand eine Konstellation, die als Attraktor für das wirkte, was anfangs Vermittlung und Popularisierung, dann Massenkommunikation und „Amerikanisierung“ und schließlich „Medialisierung“ genannt wird. Eine ähnliche begriffliche Bewegung lässt sich für die Begriffe „Globalisierung/Lokalisierung“ nachzeichnen. In den folgenden Überlegungen geht es um jüngere Verwendungsweisen dieser beiden Begriffspaare, genauer: um die Frage danach, welches Bedeutungsspektrum sich in publizistischen Mediendiskursen des 20. Jahrhunderts rekonstruieren lässt. Die beiden Begriffspaare sind nicht symmetrisch, sondern asymmetrisch angelegt. Das heißt: „Medialisierung“ und „Amerikanisierung“ bezeichnen einen Perspektivenwechsel der Diskurse, wohingegen „Globalisierung“ und „Lokalisierung“ die Differenz einer Einheit markieren. Wann immer es um Globalisierung geht, wird Lokalisierung als Bezugsgröße vorausgesetzt et vice versa. Es gibt Diskusstränge, in denen „Medialisierung“ und „Amerikanisierung“ ebenfalls die Differenz einer Einheit in dem Sinne bezeichnen, dass, wann immer es um „Medialisierung“ geht, „Amerikanisierung“ als die zweite Seite mitthematisiert wird. Dieser Spezialfall spielt in meinen Überlegungen eine zentrale Rolle. Die beiden Seiten lassen sich aber nicht, wie im Begriffspaar Globalisierung/Lo-

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kalisierung, ohne weiteres austauschen. Wichtig ist, die differente Logik in der Paarbildung dieser Begriffe im Blick zu behalten. Der Begriff des Mediendiskurses, wie er hier eingesetzt wird, meint nicht ein gleichsam gewöhnliches, ein bloßes und folgenloses Reden über Medien. Diskurse werden vielmehr begriffen als performative Äußerungsakte, die Medien nicht nur beobachten, sondern diese immer auch formieren.1 Mediendiskurse bilden auf diese Weise einen konstitutiven Faktor in Prozessen der Subjektivierung, der Sozialität und Vergesellschaftung. Der Begriff der „Medialisierung“ bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Entwicklungen von Kommunikationsmedien allgemein und technischen Verbreitungsmedien im Speziellen. „Medialisierung“ referiert auf die zunehmende Formgebung von gesellschaftlicher Kommunikation durch technische Medien sowie auf die zunehmende Strukturierung gesellschaftlicher Organisationsformen durch Medien. Die Relationen von Medien und Gesellschaft sind dabei nicht als linear zu betrachten, sondern als ein wechselseitiger Prozess. Den Einstieg in die Fragestellung bietet ein kurzer Exkurs in die Mediengeschichte, der zeigt, dass sich Medienentwicklungen des 20. Jahrhunderts in ihren unterschiedlichen Dimensionen besser begreifen lassen, wenn man einen Einblick in ihre Vorgeschichten nimmt. So hat die Entwicklung, die mit den vier Begriffen insgesamt umrissen wird, einen ganz entscheidenden Anstoß erfahren durch den Auf- und Ausbau der Telegrafie. Dieser beginnt um 1800, und die Telegrafie formt im Laufe des 19. Jahrhunderts – nicht zuletzt durch die Entdeckung und Verbreitung der Elektrizität und ihrer Potenziale – die militärischen, politischen und ökonomischen Kommunikationsformen um. Einer ihrer nachhaltigsten Effekte sind Prozesse der Beschleunigung. Solche Prozesse der Beschleunigung verändern ihrerseits Konzepte von Raum und Zeit. Ein weiterer Aspekt ist in diesem Zusammenhang wichtig, weil er symptomatisch ist: Am Anfang stand die militärische, an zweiter Stelle die politische und ökonomische Nutzung der Telegrafie. Die private Nutzung der Telegrafie – zum Beispiel für Mitteilungen über Familienangelegenheiten – stand an letzter Stelle. 1

Zum Konzept des Mediendiskurses vgl. Irmela Schneider/Peter Spangenberg: „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre, Wiesbaden 2002 (Diskursgeschichte der Medien nach 1945 Bd. 1), S. 11-21.

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Diese Reihenfolge – militärisch, politisch, ökonomisch und erst dann privat – ist signifikant für die Etablierung der meisten Kommunikationstechnologien. Sie gilt zum Beispiel auch für die Kinematographie, das Telefon, die Satellitentechnik, die Videographie oder den Computer. An der Telegrafie zeigt sich als ein weiteres kennzeichnendes Merkmal der Medienentwicklung, dass derjenige, der über die neue Medientechnologie verfügen kann, strategisch in einer besseren Position ist, als derjenige, der auf langsameren Wegen seine Informationen erhält. Wer über Telegrafie verfügte – dies wurde bereits um 1800 deutlich – konnte, da er schneller informiert war, seine Truppen auf schnellere und damit effektivere Weise in Marsch setzen. Der erste, der die optische Telegrafie als militärisches und politisches Machtinstrument nutzte, war Napoleon Bonaparte, seit 1799 Erster Konsul Frankreichs. Davon handelt die folgende kleine, aber für Medienentwicklungen symptomatische Anekdote. Österreich hatte am 9. April 1809 Napoleon den Krieg erklärt und marschierte in Bayern ein. Durch eine optische Depesche, eine Nachricht also, die von einem in Straßburg aufgestellten Telegrafen aus gesandt wurde, war Napoleon frühzeitig über diese Neuigkeit informiert und konnte dadurch bereits am 12. April – für heutige Verhältnisse katastrophal spät, für damalige sensationell früh – telegrafisch Gegenmaßnahmen einleiten. Dadurch errang er rasch mehrere Siege und diese Siege machten es möglich, dass Bayernkönig Maximilan I., der München fluchtartig hatte verlassen müssen, innerhalb von 14 Tagen dorthin zurückkehren konnte. Maximilian I. war so beeindruckt, dass er sich eine ähnliche Einrichtung wie den optischen Telegrafen auch für sein Land wünschte.2 Bereits beim optischen und dann vor allem beim elektrischen Telegrafen war deutlich: Hier handelt es sich um ein Medium, das nicht nur neue Möglichkeiten der Kriegsführung hervorbrachte, sondern das auch neue Formen der Kommunikation etablierte. Der Telegraf führt zu einer „Medialisierung“ von Militär und Politik und verändert auf diese Weise das Verhältnis von global und lokal. „Globalisierung/Lokalisierung“, das zweite Begriffspaar also, das hier verhandelt werden soll, werden bereits mit dem Ausbau der Telegrafie und keineswegs erst im 20. Jahrhundert in ein rekursives 2

Vgl. Michael Reuter: Telekommunikation. Aus der Geschichte in die Zukunft, Heidelberg 1990, S. 37f.

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Verhältnis gerückt: was global passiert, muss lokal aufgenommen werden und diese lokale Operation wirkt zurück auf globale Prozesse. Der Telegraf generiert ein globales Netz. Er operiert nicht nur national und lokal, sondern über Grenzen hinweg und verändert auf diese Weise das Nationale und Lokale ebenso wie das Internationale und Globale. Fragen danach, wer welche Leitungen verlegt, wie Orte und Erdteile durch Verdrahtung und Verkabelung verbunden werden, gehören – wie deutlich sein dürfte – zur Vorgeschichte der heute so rege geführten Globalitäts-Debatte. „Medialisierung“, so zeigt bereits ein kurzer Exkurs in die Mediengeschichte, ist grundlegend an jenen Problemen beteiligt, die mittlerweile mit dem Begriffspaar der Globalisierung und Lokalisierung verhandelt werden. Schließlich eine Bemerkung zum Begriff der „Amerikanisierung“: Die folgenden Überlegungen richten sich auf jene Verbindungen, die publizistische Diskurse zwischen Medienentwicklungen und Prozessen der „Amerikanisierung“ herstellen. Also: In welchen Konstellationen werden Prozesse der „Medialisierung“ als „Amerikanisierung“ bezeichnet? Welche Diskursregeln lassen sich dabei ermitteln? Welche Leitdifferenzen strukturieren solche Diskurse? „Amerikanisierung“ ist in diesem Rahmen also eine Suchkategorie. Ermittelt werden sollen Orte und Effekte dieser Kategorie in Diskursen über Medien. Es geht nicht um Definitionsvorschläge für den Begriff oder um seine Verwerfung als zu vage oder ideologisch belastet. Es geht auch nicht um Fragen danach, ob er brauchbar, angemessen, beschreibungsadäquat ist, sondern es geht einzig um seinen Einsatz in Diskurspraktiken des 20. Jahrhunderts. Dabei wird sich zeigen, dass das Problem von Globalisierung/ Lokalisierung in Mediendiskursen von Beginn an eingeschrieben ist, auch wenn es – unabhängig von Mediendiskursen – eine je spezifische Semantik von „Amerikanisierung“ und „Globalität/Lokalität“ gibt. Hier geht es nicht um eine umfassende Semantik dieser Begriffe, sondern um ihre Bedeutung in solchen Diskursen, die Medien verhandeln. Wenn solche Diskurse bestimmte Phänomene als „Amerikanisierung“ beschreiben, so bereiten sie ein Stück weit jene Semantik von „Globalisierung“ vor, die ab den späten 1980er Jahren dominiert, wenn es um Medien geht. Von einem bestimmten Zeitpunkt an verliert der Begriff der „Amerikanisierung“ seine dominante Stellung in Mediendiskursen; seine Stelle besetzt jetzt zunehmend der Begriff der Globalisierung. Das heißt nicht, dass die „Amerikanisierungs“-Sorgen einfach verschwinden. Nach wie

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vor werden Metaphern entwickelt, die diese Sorgen benennen. Aber wenn es um Medien geht, geht es jetzt eher um Globalisierung als um „Amerikanisierung“. Diese Beobachtung ruft die Frage auf, wie sich die Diskursregeln ändern, wenn von „Amerikanisierung“ auf Globalisierung umgestellt wird. Was wird mit dieser Umschrift umgeschrieben? Die folgenden Überlegungen zur „Amerikanisierung“ konzentrieren sich auf die oben gestellte Frage nach den Effekten, die es hat, wenn Medienentwicklungen mit der Kategorie der „Amerikanisierung“ beobachtet werden. Diese Frage wird erstens mit Blick auf die Verhandlungen um das Kino in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts untersucht. An zweiter Stelle stehen Überlegungen zur Position des Begriffs der „Amerikanisierung“ in solchen Diskursen, die das damals noch junge Medium Fernsehen in seinen ersten Jahrzehnten formieren. Es geht also um jene beiden Massenmedien, an deren unterschiedlicher diskursiver Formation zentrale Aspekte der Subjektivierung, der Sozialität und der Vergesellschaftung im 20. Jahrhundert entschieden werden. Zur Rahmung der Überlegungen ein theoriegeleiteter Hinweis. In einem Aufsatz über Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy, der im Rahmen von GlobalisierungsDebatten breite Aufmerksamkeit gefunden hat, unterscheidet der Soziologe und Anthropologe Arjun Appadurai fünf Dimensionen, deren Beziehungen zueinander für die Beobachtung und Beschreibung globaler kultureller Ströme („global cultural flows“) wichtig sind. Diese fünf Bereiche oder Räume – Appadurai spricht von „-scapes“ und argumentiert damit zumindest am Rande auch raumtheoretisch – bezeichnen keine fixierbaren Landschaften („landscapes“), sondern fluide, irreguläre, mobile Bereiche. Appadurai unterscheidet (a) ethnoscapes, (b) mediascapes, (c) technoscapes, (d) financescapes und (e) ideoscapes.3 Kinofilm und Fernsehen sind Teil des „mediascape“. Der Begriff umfasst die Produktions- und Distributionswege wie auch die Images, die mit diesen Medien Verbreitung finden, und damit die Imaginationen, die sich mit der Nutzung dieser Medien bilden. Medien-Images bilden kein fixes Reservoir von Bildern und Szenarien, sondern sie konstituieren eine „machtvolle Instanz der Prä3

Arjun Appadurai: „Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy“. In: Shanti Kumar/Lisa Parks (Hg.): A Global Television Reader. Planet TV, New York/London 2003, S. 40-52, hier S. 41.

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gung sozialer Zeichensysteme“4, die sich in Imaginationen einzeichnen. Solche Imaginationen bilden sich nicht global aus den distribuierten Images, sondern lokal spezifisch. Es gibt eine globale Distribution und eine lokal spezifische Nutzung solcher Images. Es greift zu kurz, so eine mittlerweile weit verbreitete These, von Homogenisierung zu sprechen, wenn es einen dominanten Produktionsort solcher Images gibt. Die Einsicht, dass die Produktion und Distribution von Images nicht der Stimulus für die Formation von Imaginationen ist, ist längst vorhanden, aber ihre Tragweite wird häufig unterschätzt. II. Amerika und „Amerikanisierung“ in der Kino-Debatte am Beginn des 20. Jahrhunderts Für die Frage, welche Zusammenhänge zwischen „Medialisierung“ und „Amerikanisierung“ bestehen, beginne ich mit einer Überlegung, die sich auf Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz bezieht.5 Es hat schon immer, so Benjamin, Reproduktionen gegeben von dem, was von Menschenhand gemacht worden ist – bei den Griechen Guss und Prägung, im Mittelalter den Holzschnitt usw. Diese Form von Reproduktion unterscheidet Benjamin von der technischen Reproduktion, für die, folgt man Benjamin, die Erfindung der Lithographie eine Zäsur bedeutet. Die Bewertung der Lithographie als Zäsur setzende Erfindung erklärt sich durch Benjamins Interesse an Bildmedien, das er in seinem Kunstwerk-Aufsatz verfolgt. Blickt man auf die Schrift als Medium, so ist der wichtigste Einschnitt – vor dem Zeitalter des Computers – die Erfindung der Druckerpresse. Sie bildet eine Reproduktionstechnik, die die Schrift technisiert, standardisiert, rationalisiert. Das Wichtige an der Erfindung der Lithographie: sie erlaubt eine massenweise und vergleichsweise schnelle Reproduktion von Bildern; sie ermöglicht also die Illustrierung der Druckmedien, vor allem der Zeitungen und Zeitschriften, die in jenem Zeitraum als Massenmedien expandieren. Was mit der Lithografie beginnt, setzt sich in der Fotografie und im Film weiter durch: die massenweise Reproduktion und 4 5

Arjun Appadurai: „Globale ethnische Räume“. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a.M. 1998, S. 11-40, hier S. 21. Vgl. Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. In: Ders.: Abhandlungen, Frankfurt a.M. 1980 (= Gesammelte Schriften. Band I.2; Werkausgabe Band 2), S. 471-508.

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die Veralltäglichung von Illustrationen und Bildern, eine Entwicklung, die im Laufe des 20. Jahrhunderts zuerst als Bilderflut beklagt und schließlich, seit den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts, als pictorial turn verhandelt wird. Solche zeitlichen Entwicklungen geben Anlass zu der Frage, ob es Verbindungen zwischen der Entwicklung technischer Reproduktionsmedien und den Diskursen über „Amerikanisierung“ gibt. Eine solche Vermutung wird durch die Tatsache gestützt, dass in jener Phase, als das Reproduktionsmedium der Lithographie in der Geschichte der technischen Reproduktion eine Zäsur bildet, der Begriff der „Amerikanisierung“ gebildet wird. Von England ausgehend, wird dieser Begriff dann bald in ganz Europa verwendet. Eine ganz offensichtliche Verbindung zwischen der Entwicklung technischer Reproduktionsmedien und Diskursen über „Amerikanisierung“ lässt sich dann entdecken, als der Film entsteht und verhandelt wird. Die „Kinodebatte“, die in den ersten Jahrzehnten des neuen Reproduktionsmediums Film geführt wurde, konzentriert sich in weiten Teilen gerade auf diese Frage.6 Als sich der Film als Massenmedium durchzusetzen beginnt, wird dieser Prozess in öffentlichen Diskursen häufig als „Amerikanisierung“ beschrieben. Der Begriff der „Amerikanisierung“ markiert hier also eine Medienentwicklung. Amerikanisierung bezeichnet aber, wenn es um das neue Medium Film geht, nicht nur eine Medienentwicklung, sondern bezieht sich zugleich auf ein Konzept von Kultur als Massenkultur. Dass der Film zugleich als Massenkultur verhandelt wird, verweist darauf, dass er, im Unterschied zu anderen technischen Medien, zum Beispiel zur Fotografie, als technisches Reproduktionsmedium auf eine massenweise Reproduktion angewiesen ist, dass er überhaupt nur massenweise reproduziert überleben kann. Den Film als Sammlerobjekt kann es nicht geben; Filme erwirtschaften sich nur, wenn sie massenweise vertrieben werden, was meint: wenn sie eine große Zuschauerzahl finden. Der Film ist – so Benjamin – per definitionem Massenkultur, oder er ist nicht.

6

Zur Kategorie der Kindo-Debatte vgl. die Edition von Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929, Tübingen 1978.

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Ganz unterschiedlich fällt die Semantik von Massenkultur aus, je nachdem ob diese aus einer eher kulturkritischen oder aber aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive beobachtet wird. So fasst Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz aus den 1930er Jahren das „Massenhafte“ des Films als sein progressives Element auf. Für Kulturkritiker jener Jahre, die von einem klassischen Bildungskanon ausgehen, ist das Massenhafte des Films gerade ein entscheidender Grund, filmische Produktionen aus dem Kanon von Kunst auszuschließen. Als Massenkultur gehört der Film, so die kulturkritische Position, nicht zum System der Kunst. Die kulturkritischen Diskurse konstruieren am Beginn des 20. Jahrhunderts eine wirkmächtige Alternative zwischen Massenkultur und Kunstkultur. Ganz anders beobachtete Benjamin die durch den Film veränderte Situation. Er interessierte sich nicht dafür, ob dieses neue Medium zur Kunst gehöre oder nicht, sondern er fragte danach, wie sich der Code des Kunstsystems durch technische Reproduzierbarkeit verändert. Kulturkritische Diskurse unternahmen, im Unterschied dazu, große Anstrengungen, die alten Codes zu retten, auch wenn sie angesichts der veränderten Mediensituation nicht mehr funktionieren. Ein Verfahren, die Codes zu retten, bildet die Adressierung von Filmen als „amerikanisierte“ Produkte einer Massenkultur. Eine solche Beschreibung entschied in jener Zeit über Inklusion oder Exklusion, was das System der Kunst betrifft. Die kulturkritische Diskurslinie geht also von ganz anderen Fragestellungen und entsprechend anderen Leitdifferenzen aus als Benjamin. Entscheidend ist, dass eine systemische Differenz zwischen Kunst und Massenkultur bzw. Massenmedien hergestellt und auf diese Weise festgeschrieben wird, dass das, was zum einen System gehört, nicht gleichzeitig zum anderen gehören kann. Diese systemische Differenz ist also in einer Logik der Exklusion und Inklusion fundiert. Festzuhalten bleibt, dass der Begriff der „Amerikanisierung“ eine wichtige Rolle spielt, wenn es um Verfahren der Exklusion und Inklusion geht. Die Debatte um Exklusion und Inklusion, die am Beginn des Jahrhunderts mit dem Begriff der „Amerikanisierung“ erprobt wurde, spielt mittlerweile eine zentrale Position im „Globalisierungs“-Diskurs. Es bleibt zu fragen, inwieweit sich in diesen aktuellen Debatten Spuren jener Vorgeschichte aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts wieder finden lassen.

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In den Diskursen über das Kino und den Kinofilm geht es um Inklusion und Exklusion in erster Linie in Bezug auf Fragen nach der Zugehörigkeit zum Kunstsystem oder nach dem Ausschluss aus diesem System. Die Frage nach Inklusion und Exklusion, die mit Blick auf den Film als Produkt verhandelt wird, impliziert die Frage nach seiner Nutzung. Für die Filmrezeption werden unterschiedliche und zugleich unvereinbare kulturelle und soziale Zuschreibungen vorgenommen, wenn der Film dem Kunstsystem zugeordnet oder aus ihm ausgeschlossen wird. Diskurse lassen sich danach beobachten, ob sie das, was sie ihrerseits beobachten, jenem Bereich zuweisen oder nicht, dem öffentliches Prestige gehört, mit dem sich „kulturelles Kapital“ erwerben lässt.7 Ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeübtes Verfahren der Exklusion prozessiert diese über die Kategorie der „Amerikanisierung“. Die Verschiebung zur Kategorie der „Globalisierung“ kann vielleicht als eine diskursive Strategie gelesen werden, um Exklusion anders zu regeln. Das ergibt die zentrale Frage: Was wird mit der Beobachtungskategorie „Globalisierung“ inkludiert und was wird zugleich exkludiert? Wie wird das Verhältnis von Exklusion und Inklusion mit der Verschiebung von „Amerikanisierung“ zu „Globalisierung“ neu justiert? „Amerikanisierung“, so ein erstes Zwischenergebnis, gehört zu jenen Begriffen, die den Auf- und Ausbau neuer technischer Reproduktionsmedien formieren. Der Begriff der „Amerikanisierung“ wird damit anschlussfähig an mehrere Diskurse: an solche über Reproduktionsmedien und an Diskurse über Massenkultur und Massenkonsum. „Amerikanisierung“ organisiert einen Zusammenhang zwischen diesen Diskursen. Wenn, wie Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz vermerkt hat, Reproduktionsmedien aufs Engste verbunden sind mit der Beobachtung von Kultur als Massenkultur und Massenkonsum, so ist der Begriff der „Amerikanisierung“ der verbindende Faktor. Der Begriff der „Amerikanisierung“ besetzt zugleich jene Position, von der aus Massenkultur und Massenkonsum, auch wenn nicht explizit über Massenmedien gesprochen wird, genauer erfasst werden sollen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein werden beide, Massenkultur und Massenkonsum, in publizistischen und auch in wissenschaftlichen Diskursen als ein spezifisch amerikanisches 7

Zum Begriff des kulturellen Kapitals vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M. 1987.

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Phänomen beschrieben. Dieses amerikanische Phänomen, so eine Leitidee dieser Diskurse, schreibt sich in deutsche Verhältnisse als das Andere, das Fremde ein. Diese Fremdheit wird sprachlich gestützt, wenn Mediendiskurse bis gegen Ende der 1950er Jahre die amerikanischen Begriffe „mass culture“ und „mass communication“ in einem deutschen Text als Fremdkörper platzieren und diese erst allmählich durch deutschsprachige Versionen austauschen. Wenn dieser Austausch stattfindet, bleibt dies nicht ohne semantische Veränderungen. Denn die Begriffe „Massenkultur“ und „Massenkommunikation“ unterscheiden sich ihrerseits signifikant von der Semantik der entsprechenden amerikanischen Begriffe. Was lexikalisch als Übersetzung bezeichnet werden kann, weist diskursgeschichtlich unterschiedliche Genealogien auf. Die hier am Beispiel des Begriffs der „Amerikanisierung“ skizzierte Operationsweise von Inklusion und Exklusion ist symptomatisch für die Geschichte von Mediendiskursen und damit für die Medien und die Praktiken ihrer Nutzung generell. Sie wird aber gerade nicht – und das ist wichtig - als ein Verfahren von Beobachtung und Beschreibung aufgefasst, sondern wird eingesetzt als ein Verfahren, um das, wie es heißt, „Wesen“ einer Sache zu bestimmen und auf diese Weise einen Essenzkosmos aufzubauen. Aus Beobachterverhältnissen wird Ontologie. Auf diese Weise wird die Kontingenz der Beobachtungen, wird der – wie Luhmann sagt – „Geburtsfehler“ der Kultur unsichtbar gehalten.8 Es gehört zu den Regeln der Diskurse über das frühe Kino, dass sie eine Entscheidung über systemische Exklusion und Inklusion organisieren. Ein häufig eingesetztes Verfahren, eine – im Foucaultschen Sinne – Technik (technique) der Exklusion ist es, diese über die Zuschreibung als „Amerikanisierung“ laufen zu lassen. Wenn die Zugehörigkeit zum Kunstsystem oder der Ausschluss aus diesem System festgeschrieben wird, dann geschieht dies in Diskursen über den Film häufig mit der Kategorie der „Amerikanisierung“. Damit einher geht ein Konzept von Inklusion, das das Eigene, das Deutsche prämiert. „Amerikanisierung“ wird mit diesem Verfahren zur Praxis des „Othering“, des Aus8

Niklas Luhmann: „Kultur als historischer Begriff“. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Frankfurt a.M. 1995 (Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4), S. 31-54, hier S. 48: „Kultur entsteht [...] immer dann, wenn der Blick zu anderen Formen und anderen Möglichkeiten abschweift, und eben das belastet die Kultur mit dem Geburtsfehler der Kontingenz.“

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schlusses, der Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Dieses Verfahren lässt sich bis in Diskurse über das Lokale und Globale verfolgen. Neben der kulturkritischen Diskurslinie und einer gesellschaftstheoretisch fundierten, die, wie Benjamin, das sozialutopische Potenzial von neuen Medien wie des Films beobachtet, lässt sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine dritte Diskurslinie unterscheiden. Sie bildet sich aus den Beobachtungen des neuen Mediums Film aus der Sicht der Avantgarde. In dieser Diskurslinie wird das Plädoyer für den amerikanischen Film zum Imperativ der Innovation in der Kunst. Ein Plädoyer für „Amerikanisierung“ wird zum Plädoyer für das neue Medium Film und schließt eine Selbstverortung innerhalb der zeitgenössischen Avantgarde ein. Eine repräsentative Position innerhalb dieser Diskurslinie nimmt die Schriftstellerin Claire Goll ein, die 1920 ein Plädoyer für das Kino und zwar das Kino à la USA verfasst.9 Sie geht aus von der Differenz zwischen den USA und Europa. Dieses Beobachtungsschema führt Goll zu einer Kopplung von amerikanischem Film und neuer Welt und europäischem Film und alter Welt – ein bekannter Topos in der Konstruktion, im Phantasma des Verhältnisses von Europa und USA. Gleich im ersten Satz fällt Claire Goll das Urteil: „Noch immer hat der Kontinent nicht begriffen, daß Kino nicht verwandt ist mit Theater.“10 Und weiter heißt es: Während Berlin Balzac, Strindberg, Dostojewski verfilmt und in Gelatine verwandelt, wird in Paris Zolas ‚Travail‘ gemetert! [...] Während die alte Welt diesen Kitsch erduldet, hat der gesunde Wille Amerikas den wahren Film geschaffen. Im guten amerikanischen Film fällt zuerst einmal jeder literarische Einschlag fort. Das, was auf der Leinwand vor sich geht oder vielmehr vor sich rast, kann man nicht mehr Handlung nennen. Es ist eine neue Dynamik, ein atemloser Rhythmus, Aktion im unliterarischsten Sinn.11

Ein zweiter Repräsentant dieser Diskurslinie ist der Schriftsteller Ivan Goll. Sein kurzer Text mit dem Titel „Kinodram“ datiert, wie der Text seiner Frau, aus dem Jahre 1920: „Basis für alle neue 9 10 11

Vgl. Claire Goll: „Amerikanisches Kino“. In: Kaes (Hg.): Kino-Debatte, a.a.O., S. 146-148. Ebenda, S. 146. Ebenda.

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Kunst“, so Goll, „ist das Kino“. Das Kino, so Goll weiter, durchdringe die Malerei und das Theater, aus ihm entwickle sich eine neue Poesie: „Die Umwälzung war seit langem gespürt: Futurismus, Simultanismus. Picasso in der Malerei. Stramm in der Lyrik. Ahnungen. Aber es ist mehr geschehen. Die statischen Gesetze sind umgestoßen. Der Raum, die Zeit ist überrumpelt. Die höchsten Forderungen der Kunst: die Synthese und das Spiel der Gegensätze werden durch die Technik erst ermöglicht und erleichtert.“12 Abstrakte Malerei, Futurismus und Expressionismus bilden nur ein Vorspiel für das, was mit dem Film erreicht wird: es geht nicht mehr um Narrationen, um Handlungen oder um Inhalte, sondern es geht um die Lesbarmachung des Mediums selbst. Marshall McLuhan wird, geschult durch seine Studien zum Kubismus, in den 1960er Jahren daraus die berühmte Formel bilden: „The medium is the message“. Diese Formel ist in den Praktiken der Avantgarde und in den avantgardistischen Diskursen über den Film bereits auf den Weg gebracht. Anders formuliert: McLuhan universalisiert für Medien, was avantgardistische Praxis in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war. Das Plädoyer für den amerikanischen Film wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Plädoyer gegen die als bürgerlich bezeichnete Kunst und für Avantgarde und Innovation. Die zentrale Gestalt dieses Kinos ist für die Avantgarden Charlie Chaplin. Wodurch fasziniert er die europäische Avantgarde? Sicher auch durch seine künstlerische Kompetenz – die Verfahren der Fragmentierung, der Montage, des Reduktionismus. Hervorgehoben wird aber besonders seine weltweite Popularität. An Charlie Chaplin zeigt sich, so wird immer wieder betont, dass der Film nationale Grenzen überwindet. Der Film – ein Medium der Weltgesellschaft. Das sind Einschätzungen aus den frühen 1920er Jahren. Aufseiten der Avantgarde und ihrer Plädoyers für dem amerikanischen Film wie aufseiten der Kulturkritiker und ihrer Vorbehalte gegen diese Produkte als einen Effekt amerikanischer Massenkultur gibt es analoge Topoi, die mit je verschiedenen Vorzeichen ausgestattet werden, je verschieden programmiert sind: Wenn Europa als alt in den Blick genommen wird, gewinnt die neue Welt an Prestige; wenn Amerika als das ganz Neue ins Zentrum rückt, erhält die lange europäische Tradition das Privileg des Wertvollen. 12

Ivan Goll: „Das Kinodram“. In: Kaes (Hg.): Kino-Debatte, a.a.O., S. 136139, hier S. 137.

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Der Vergleich zwischen Amerika und Europa, zwischen Amerika und Deutschland wird, wie einst die „Querelle des Anciens et des Modernes“, als „Vorrangdiskussion“ geführt, und dies endet, wie am Ende des 17. Jahrhunderts, auch jetzt wieder in einer Sackgasse.13 Pro oder contra „Amerikanisierung“ – diese Argumentationsfigur erweist sich in den 1920er Jahren als ein probates Mittel, den Diskurs abzukürzen; die Formel wird zur Diskurs-Stopp-Regel. Pro oder contra „Amerikanisierung“ heißt nicht nur: pro oder contra amerikanischer Film, sondern häufig auch: pro oder contra Film im Allgemeinen. Ein Plädoyer für „Amerikanisierung“ ist ein Plädoyer für das neue Medium Film als Exemplum von Avantgarde und künstlerischer Innovation und gegen die Tradition der Kunst und ihre „Aura“, um Benjamins zentrale Kategorie aufzugreifen. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ändert sich die Lage ein weiteres Mal. Vorbehalte, Ressentiments, auch Resignation bestimmen jetzt zunehmend die Diskurse. Herbert Jhering, der große Theaterkritiker der Weimarer Republik, repräsentiert diese Bewegung vom Aufbruch zum Ressentiment. In mehreren Artikeln hatte Ihering zu Beginn der 1920er Jahre seine Sympathie für den Film und die Massenkultur zum Ausdruck gebracht. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre fällt sein Urteil entschieden distanzierter aus: „Die Zahl der Menschen, die Filme sieht und keine Bücher liest, geht in die Millionen. Sie alle werden dem amerikanischen Geschmack unterworfen, werden gleichgemacht, uniformiert. Der amerikanische Film ist der neue Weltmilitarismus.“14 Von den frühen 1920er zu den späten 1920er Jahren vollzieht sich eine diskursive Wende: der Film bleibt nicht länger ein Medium der Weltgesellschaft, sondern wird zum Medium des Weltmilitarismus. Amerikanischer Militarismus und Imperialismus sind Beobachtungsschemata, mit denen die so genannte Massenkultur der späten Weimarer Republik beschrieben wird. Diese Beobachtungsgrößen werden, allerdings mit gewichtigen Veränderungen, in den späten 1960er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland wieder aufgegriffen, als sich das neue Medium Fernsehen etabliert hatte.

13 14

Vgl. Luhmann: „Kultur als historischer Begriff“, a.a.O., S. 35. Herbert Jhering: „Ufa und Buster Keaton“. Zit. nach: Anton Kaes: „Einführung“. In: Ders. (Hg.): Kino-Debatte, a.a.O., S. 1-36, hier S. 15.

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In den späten 1920er und frühen 1930er Jahren scheinen sich auf den ersten Blick konservative kulturkritische Diskurse und Positionen der Avantgarde einander anzunähern. Allerdings, und das entfernt beide wieder voneinander, unterscheiden sich die Diskursregeln nach wie vor grundlegend: Der kulturkonservative Diskurs folgt der Regel von Exklusion versus Inklusion. Er programmiert Exklusion und Inklusion als Differenz von Tradition versus Traditionslosigkeit. Amerika repräsentiert das Traditionslose und wird auf diese Weise aus dem, was Gültigkeit beansprucht, ausgeschlossen. Die Diskurse jener Avantgardisten, die sich zugleich als linke Intellektuelle beschreiben, verlaufen nach einer anderen Regel. Sie beobachten Massenkultur unter dem Aspekt, welche Folgen sie für das soziale Bewusstsein der Menschen hat und operieren mit der Differenz von falschem versus richtigem Bewusstsein. Dieser ideologiekritische Ansatz und seine Leitdifferenz wurden in den 1940er Jahren vor allem in Adornos und Horkheimers Theorie der Kulturindustrie formuliert. Er entfaltete seine Wirkkraft in späteren Mediendiskursen, bis weit in die 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts. Eine Regel ist allerdings beiden Diskursen, dem kulturkonservativen und dem ideologiekritischen, gemeinsam. Sie betrifft das Apriori der Wirkung der Medien. Beide gehen von einem behavioristischen Wirkungskonzept aus, in dem es einen Stimulus gibt, der den Response determiniert. Das Publikum ist der Massenkultur hilflos ausgeliefert; der Mediennutzer wird zum Wachs, auf den die Massenkultur wie eine Prägemarke einwirkt. Diese Position gilt für beide Diskurslinien, trotz aller Kritik, die die Frankfurter Schule am Behaviorismus und an behavioristischen Lerntheorien vorgetragen hat. Wenn man „Amerikanisierungs“-Diskurse verfolgt, so fällt auf, dass sich dieses Wirkungskonzept zum Teil bis in die jüngste Zeit erhalten hat, auch wenn der Behaviorismus als Theorieentwurf längst verworfen worden ist. Seine Wirkkraft zeigt sich immer dann, wenn es um Sorgen und Befürchtungen vor einer so genannten Homogenisierung von Kultur geht. Zusammenfassend kann man für die Zeit der Weimarer Republik zwei Bedeutungen von „Amerikanisierung“ unterscheiden: Erstens eine technisch grundierte, an Rationalisierungsprozessen ausgerichtete Bedeutung und zweitens eine kulturell orientierte, die als Differenz das Konzept einer Nationalkultur mit sich führt, das entweder, wie bei den Avantgardisten, als eher restriktiv betrachtet

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wird oder aber, wie vor allem seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, als Ideal gesetzt wird. Diese Unterscheidung zwischen einer an Rationalisierungsprozessen ausgerichteten Bedeutung und einer kulturell fundierten, die implizit Bezüge aufweist zu Max Webers Metapher von der Rationalisierung als einem „stählernem Gehäuse“, trifft einen Kern der Mediendiskurse, wie sie bis heute strukturiert sind. Es ist jene Arbeitsteilung, in der neue Medien-Technologien von Marktanalytikern unter dem Gesichtspunkt geprüft werden, unter welchen Bedingungen sie Absatz und Gewinn versprechen. Die sozialen und kulturellen Effekte solcher Medientechnologien spielen dabei keine Rolle. Darüber nachzudenken – und eben dann häufig auch zu lamentieren – ist den kulturkritischen Diskursen überlassen. Und in deren Sicht wird das, was als Modernisierung beobachtbar ist, immer dann zu einem Problem von „Amerikanisierung“, wenn die Folgen unüberschaubar werden, wenn die Analyse durch eine Stopp-Regel beendet wird. Die unterschiedlichen Diskurslinien aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lassen sich in Diskursen über Kino und Kinofilm bis weit ins Jahrhundert hinein verfolgen. Sie wiederholen sich, werden variiert, zugespitzt oder verworfen. Ein Beispiel aus den 1970er Jahren soll einen kleinen Einblick in diese Prolongierung bekannter Diskursmuster vermitteln. Das Beispiel zeigt, wie aus Sicht der 1970er Jahre Filme der 1920er Jahre beobachtet werden. Der Schweizer Filmkritiker Pierre Lachat formuliert im Jahre 1973 über die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis Ende der 1920er Jahre eine Position, die stellvertretend für manche andere steht. Den Anlass gab eine thematisch auf jene Kinojahre bezogene Ausstellung in Zürich. Aus der Distanz von einem halben Jahrhundert lautet Lachats Einschätzung: „So datiert aus den zwanziger Jahren eine imperialistische Tradition der amerikanischen Filmindustrie, die wohl in fünfzig Jahren ihre Veränderungen gekannt hat, im großen und ganzen aber bis heute wirksam geblieben ist.“15 Hier zeigt sich nicht nur die einfache Prolongierung und Fortschreibung einer Diskurslinie, sondern zugleich eine signifikante Verschiebung bzw. Ineinanderschiebung zweier Diskurslinien: das Amerika der frühen 15

Pierre Lachat: „Kunst und Industrie in Hollywood. Zum amerikanischen Stummfilm vom Weltkrieg bis zur Depression.“ In: Filmproduktion der Stadt Zürich (Hg.): Stummfilme 1920-1929 aus Deutschland und Amerika, Zürich 1973, S. 12-22, hier S. 15.

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1920er Jahre, das avantgardistische Intellektuelle und Künstler begrüßten, war das demokratische, dynamische Land; das Amerika, das Kulturkritiker am Beginn des Jahrhunderts beobachteten, war ein Land der Massenkultur. In den 1970er Jahren wird das Amerika der 1920er Jahre als das imperialistische Land beschrieben, das mit seinen Filmen einen Machtanspruch erhebt und mit seinem Expansionsdrang die Entwicklung einer eigenen, einer nationalen Filmkultur behindert hat. Mit dieser Sichtweise vertritt Lachat eine damals populäre Diskurslinie. Dan Diner bezeichnet die 1970er Jahre als „die Hochphase eines die USA aller erdenklichen Untaten zeihenden Antiimperialismus“16. Der Film ist für Lachat ein hervorragendes Muster, um amerikanischen Imperialismus zu veranschaulichen. Wie nahezu alle Diskurse auf diesem Feld, so verkürzt auch diese Linie die notwendige Reflexionsstrecke. Die Reflexion darüber, ob etwas und wenn ja, was denn eigentlich, behindert worden ist, wird abgeblockt. Der diskursive Verlauf bereitet stattdessen einen Weg, auf dem der Film, wie die Literatur der Klassiker, in das Schema einer Nationalkultur eingezeichnet werden kann – nur eben einer durch Amerika gehinderten Nationalkultur. Ausgerufen wird die Differenz von nationaler versus „amerikanisierter“ Filmkultur, die in den Debatten über die Zukunft des Kinos und seiner Filme in den 1970er Jahre breiten Raum eingenommen hat. Zugleich wird, wenn wir von Lachat ausgehen, die amerikanische Filmkultur und amerikanische Filmpolitik dem Imperialismus gleichgesetzt. Mit dem Imperialismus-Vorwurf verbunden ist eine Verschwörungstheorie: die amerikanische Filmindustrie habe sich zusammengeschlossen, um gemeinsam den europäischen Filmmarkt zu erobern. Auf diese Weise wird die Debatte über Globalität/Lokalität in einer simplifizierenden und reduktionistischen Manier vorbereitet. Gefragt wird nämlich in einer solchen Diskursführung nicht nach der Globalität der Distribution amerikanischer Filme und ihrer lokalen Rezeption, gefragt wird auch nicht nach interkulturellen Beziehungen. Vielmehr werden historisch belegbare Wechselbeziehungen zwischen Europa und den USA in eine Verschwörungstheorie eingebunden, wenn es heißt, Regisseure wie Murnau, Lang oder Sternberg seien von der amerikanischen Filmindustrie abge16

Dan Diner: Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, München 2003, S. 147.

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worben worden, um ein entscheidendes Erstarken der europäischen Konkurrenz zu verhindern.17 Ich erwähne dies nicht, um eine Position wieder in die Debatte einzuführen, die man mittlerweile als angestaubte Ideologie ablegen kann. Ich rege lediglich an, darüber nachzudenken, ob und inwiefern sich Spuren dieser Position – und sei es invertiert – in aktuellen Diskursen über „Globalisierung“ oder über die USA wieder finden. III. Diskurse über Television und „Amerikanisierung“ in den ersten Jahrzehnten des bundesdeutschen Fernsehens Der folgende Überblick über Diskurspraktiken, die einen Zusammenhang zwischen Television und „Amerikanisierung“ aufbauen, konzentriert sich auf die Zeit von den 1960er bis in die frühen 1980er Jahre. Das neue Medium Fernsehen führt von Beginn an zu Vergleichen mit der Situation in den USA und in diesen Vergleichen zeigen die Diskurse Kontinuitäten ebenso wie Diskontinuitäten mit den 1920er und 1930er Jahren. Eine Zwischenbemerkung zu den 1950er Jahren, zum ersten Jahrzehnt bundesdeutschen Fernsehens. In dieser Zeit konstituieren sich allmählich, aber insgesamt eher zögerlich, in Fachorganen und Kulturzeitschriften, in Wochen- und Tageszeitungen Mediendiskurse, also jene Diskurse, die das Procedere der Medien reflektieren und in diesem Akt die Medien zugleich formieren. Nahezu von Beginn an spielt der Blick und Vergleich mit der Mediensituation in den USA eine prominente Rolle und zwar gerade auch im Hinblick auf Television. Folgende Diskursstränge sind in diesem Zusammenhang für die ersten Jahre signifikant: Regelmäßig hervorgehoben wird als eine fundamentale Differenz der Unterschied in der Organisationsstruktur des Fernsehens. Das bundesrepublikanische öffentlichrechtliche Fernsehen sei, so eine breite Diskurslinie, mit den privatwirtschaftlichen US-amerikanischen „Networks“ nicht vergleichbar. Schon bald, ab 1953 setzt sich die Frage nach dem Verhältnis von Werbung und Programm als ein zweites Thema fest. In diesem Zusammenhang werden Vergleiche mit der Werbepraxis der „Networks“ hergestellt und deren Praxis in aller Regel verworfen. 17

Vgl. Lachat: „Kunst und Industrie in Hollywood“, a.a.O., S. 15.

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Insgesamt auffällig ist, dass der Begriff der „Amerikanisierung“ in den 1950er Jahren in den beginnenden Mediendiskursen, in Zeitschriften wie Rundfunk und Fernsehen oder im Spiegel, so gut wie keine Rolle spielt. Mediendiskurse der 1950er Jahre sprechen nicht von „Amerikanisierung“, aber sie bestellen gleichwohl jenes semantische Feld, das ab den 1960er Jahren wieder den Namen „Amerikanisierung“ erhalten wird. Dies zeigt sich an den Leitdifferenzen, mit denen der Unterschied zwischen öffentlichrechtlich versus privat ausgehandelt und festgeschrieben wird. Diese lauten: Kultur versus Kommerz oder Kultur versus Konsum.18 Mit diesen Leitdifferenzen wird in den 1950er Jahren ein Risiko-Diskurs fortgesetzt, der mediengeschichtlich über eine lange Strecke geht. Das mediengeschichtlich breit verhandelte Risiko der Medien hieß seit Buch und Presse immer wieder, dass Medien süchtig machen. Zwar wird auch jetzt weiterhin die Sucht nach den Medien als Risiko verhandelt, aber als nicht minder riskant gelten Kommerzialisierung und Konsumismus. Wie die Sucht so verlangen auch diese Risiko-Phänomene Sicherheitsmaßnahmen. Die Diskurslinie, die in den 1950er Jahren um die Kategorien von Kommerz und Konsum zentriert ist, wird in den 1960er und 1970er Jahren in einen „Amerikanisierungs“-Diskurs überführt und spaltet sich in den 1980er Jahren in einen Strang, der die Kategorien „Globalisierung/Lokalisierung“ ins Zentrum rückt, und einen weiteren, der das Problem des Konsumismus fokussiert. Diese Spaltung in zwei Diskursstränge verläuft nicht trennscharf; immer wieder berühren, überschneiden und korrigieren sich beide wechselseitig. Eine weitere Diskurslinie, die in den 1950er Jahren eher unscheinbar beginnt, dann aber die folgenden beiden Jahrzehnte dominiert, bezieht sich auf die Produktionen, die televisuell verbreitet werden, also auf das konkrete Fernsehprogramm. Nahezu seit Beginn des Fernsehprogramms sind amerikanische Filme oder TV-Programme im deutschen Fernsehen ausgestrahlt und vom deutschen Fernsehen adaptiert worden. Gegen Ende der 1950er Jahre findet diese Praxis zunehmend die Aufmerksamkeit der Presse, zuerst sporadisch, dann regelmäßig. Vermerkt 18

Für diese Leitdifferenz von Bedeutung ist der Abdruck von Adornos „Prolog zum Fernsehen“ in der damals noch jungen Fachzeitschrift Rundfunk und Fernsehen, Jg. 1 (1953) H. 2, S. 1-8; Vgl. auch den Beitrag von Jürgen Habermas „Notizen zum Mißverhältnis von Kultur und Konsum“. In: Merkur, Jg. 5 (1956) H. 3, S. 213-228.

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wird z.B. im Spiegel in Artikeln aus den Jahren 1957 und 1958,19 dass die aus den USA adaptierten Unterhaltungssendungen – hier sind vor allem die lang laufenden Shows mit Hans Joachim Kuhlenkampff und Robert Lemke zu nennen – beim Publikum besonders beliebt sind. Von „Amerikanisierung“ ist aber noch keine Rede. Es geht in diesem Zusammenhang vorerst noch nicht um eine Vorrangdiskussion, sondern – so der Terminus – um ein „Spannungsfeld“. So situiert ein Bericht über eine Unesco-Tagung, die 1954 in London stattgefunden hat, die Medien im „Spannungsfeld“ zwischen einem internationalen und einem nationalen Fokus.20 In den frühen 1980er Jahren dominieren andere Sprachspiele, auch auf Unesco-Tagungen. Ab Mitte der 1960er Jahre führen Mediendiskurse zunehmend das Thema ein, das zum Leitthema der folgenden Jahre avancieren wird: Ins Blickfeld genommen wird jetzt die Tatsache, dass USamerikanische Serien nicht nur ein gewichtiges Programmformat des deutschen Fernsehens bilden, sondern auch für die Zuschauer attraktiv sind. Schnell war das Urteil über dieses Format gefällt. Es lautete bei der publizistischen Fachkritik nahezu durchgängig: „Von Grund auf dumm“ – so die Überschrift einer Serien-Kritik, die 1980 in der Funk-Korrespondenz erschienen ist. Die bekannteste Serie der 1980er Jahre, die Prime Time Soap Dallas, wurde – so ein on dit, das dem früheren Intendanten des Senders Freies Berlin, Wolfgang Haus, zugeschrieben wird – als „Kaugummi fürs Gehirn“ bezeichnet. Es gab in jenen Jahrzehnten US-amerikanische Serien, die nahezu um die Welt gingen. Das prominenteste Beispiel für die 1960er und 1970er Jahre ist Bonanza, ein vielfach beschriebenes Genremix aus Western- und Familienserie.21 Ben Cartwright und 19 20 21

Vgl. z.B. „Importe aus Übersee“. In: Der Spiegel, Jg. 11 (1957) H. 33, S. 51-53; „Die kleinen Unterschiede“. In: Der Spiegel, Jg. 12 (1958) H. 4, S. 46-47. Vgl. den Kurzbericht unter der Überschrift „Nationales Fernsehen – internationale Ergebnisse einer Londoner Fernseh-Tagung der Unesco“. In: Rundfunk und Fernsehen, Jg. 2 (1954) H. 3/4, S. 321-323. Die Serie lief in den USA von 1959 bis 1973 und erreichte 359 Episoden. Noch 1978 konnten mehr als 400 Millionen Zuschauer in 90 Ländern diese Serie sehen. Im deutschen Fernsehprogramm lief sie ab 1962 und gehörte bis Ende der 70er Jahre zum Sonntagnachmittagsprogramm, zuerst in der ARD, dann im ZDF. Vgl. Irmela Schneider: „Alles Bonanza – Serie und Sozialisation“. In: Bernd Polster (Hg.): WestWind. Die Amerikanisierung Europas, Köln 1995, S. 221-231.

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seine drei Söhne wurden als erste globale Fernsehfamilie beschrieben, die Ranch der Familie ist in die Literatur als „global Ponderosa“ eingegangen und manche Fernsehhistoriker bezeichnen die 1960er Jahre als das „Bonanza-Jahrzehnt“22. Diese Bezeichnung trifft aber nur das Nachmittagsprogramm. Wenn man ins Abendprogramm schaut, so könnte man den Zeitraum von Mitte der 1960er Jahre bis Mitte der 1970er Jahre auch als das Jahrzehnt des Freitagskrimis bezeichnen.23 Die FreitagsKrimis – allesamt US-amerikanische Produktionen – liefen im Ersten Fernsehprogramm. Ab Mitte 1965 stand die mittlerweile legendäre Serie The Fugitive (Auf der Flucht) mit David Janssen als Richard Kimble auf dem Programm. Diese Serie hatte 1965, im selben Jahr also, als sie im deutschen Programm startete, in den USA den begehrten Emmy-Award erhalten und zwar als best drama series. In der Serie steht mit dem Arzt Richard Kimble eine zeitgenössische Variante der Odysseus-Gestalt im Zentrum. Kimble steht unter dem Verdacht, seine Frau ermordet zu haben. Er lebt ständig auf der Flucht vor seinen Verfolgern und vollbringt gleichzeitig jede Menge guter Werke. Als die letzten beiden Folgen, in denen der wahre Täter gefunden und die Flucht beendet wird, im Oktober 1967 im Abstand von einer Woche gezeigt wurden, erreichten sie mit 73 bzw. 79 Prozent die bis dahin höchste Zuschauerquote aller Freitags-Krimis. Das Medium Fernsehen ermöglichte seinerzeit tatsächlich noch die Option einer allen gemeinsamen Realität, um mit Niklas Luhmann zu sprechen, die allerdings damals bereits nicht „kosenspflichtig“ war.24 Amerikanische Krimi-Serien, die in den 1960er und 1970er Jahren zum Fernsehritual gehörten, erzählen in der Regel – im Unterschied zu späteren Soap Operas – in einer Folge eine abgeschlossene Episode: ein Verbrechen geschieht und ist am Ende gelöst. Die einzelnen Handlungsschritte sind kausal oder temporal motiviert. Der Zuschauer kann sicher sein, dass es eine Lösung geben wird – unabhängig davon, ob er sie bereits im Verlauf erraten kann oder ob sie als Überraschung am Ende steht. Der Mechanismus 22 23 24

Vgl. Andrew R. Horowitz: „The Global Bonanza of American TV”. In: James Monaco (Hg.): Media Culture. Television, Radio, Books, Magazines, Newspapers, Movies, New York 1978. Vgl. zu den Freitagskrimis die Dissertation von Ulrich Brandt: KrimiStandards. Motive, narrative Strategien und Standard-Situationen der Freitags-Krimis 1962-1978, Heidelberg 1995. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1995, S. 71.

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von Konflikt und Konfliktlösung – später das Grundmuster der daily soap – funktioniert in jedem Falle. Krimiserien machen die Television erstmals zu einem gigantischen Konflikt- und Konfliktlösungs-Apparat. Das, was es ganz sicher nicht gibt, ist ein Konflikt ohne Lösung. Das Serienprogramm ist ebenso konflikt- wie lösungsfixiert. Tertium non datur – das ist die Regel, für die sich erst in den 1990er Jahren allmählich auch Ausnahmen finden lassen. Eine solche Narration kann nur unter bestimmten Bedingungen funktionieren, und diese Bedingungen gehören zum kollektiven und interkulturellen Wissen der erfahrenen Krimi-Seher: Konflikte und Delikte entstehen durch Normverletzungen, die ihrerseits einen Katalog von Normen voraussetzen. Normverletzungen wie Mord, Diebstahl, Drogenhandel oder Betrug sind nur die eine Seite. Ebenso prägend sind auch jene Normen und vor allem Normierungen, die über Symbolisierungen verlaufen und dem Zuschauer erlauben, einen Akteur in das Spektrum von gut und böse, ehrlich und unehrlich einzuordnen, ohne dass dieser durch Aktion oder Psychologie profiliert werden muss. Gemeint ist jener Bereich von semantischen Kopplungen, in denen – um nur ein ganz einfaches Beispiel zu nennen – die brünetten Frauen immer auch warmherzig und unverdächtig, die blonden aber kalt und im Zweifel der Tat verdächtig sind. Solche Normierungen gehören zur narrativen Ökonomie von Serien wie die Normierungen in industriellen und militärischen Produktionen, wie DIN A4 und 08/15. Die Normierungen, die eine narrative Ökonomie konstituieren, sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass solche Serien eben nicht kulturspezifisch gebunden sind, sondern potentiell weltweit gesehen werden. Der narrative Duktus, die Profilierung von Protagonisten, das Setting – all dies ist sowohl spezifisch wie generalisierbar. Das Format der Serie, wie es in den USA entwickelt, ausdifferenziert und variiert wird, ist immer wieder zum Standard der westlichen Welt geworden,25 ist Teil des globalen Populären: global bereitgestellt, werden diesem Format lokal je spezifische Kommunikationsqualitäten zugeschrieben. Das Format ist global konzipiert und distribuiert und wird lokal rezipiert und respezifiziert. Im 25

Eine nahezu weltweit bekannt gewordene Variation bildet die Cliffhanger-Dramaturgie der Prime Time Soaps; die beiden bekanntesten Titel sind Dallas und Dynasty.

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„Amerikanisierungs“-Diskurs wird dieser komplexe Sachverhalt verkürzt, indem sowohl Produktion wie Rezeption als determiniert durch die Herkunft von Programmen gedacht werden. Ihre narrative Ökonomie, die Profilierung ihrer Protagonisten und ihr Setting, so kann vermutet werden, ist ein Grund dafür, dass solche Serien potentiell weltweit angeschaut werden. Diese Serien konstituierten ganz maßgeblich Appadurais „mediascape“. Das Format der Serie, wie es in den USA entwickelt und zum Standard der westlichen Welt geworden ist, ist zwar Teil des globalen Populären, aber die globale Konzeption und Distribution besagt noch nichts über die Imaginationen, die sich bei den Zuschauern bilden. Diese Imaginationen zeigen sich nur in ihrer jeweiligen lokalen Re-Spezifizierung. Die Differenz zwischen Images und Imaginationen ist entscheidend, wenn es um Mediennutzung geht. Es gehört zu den Merkmalen der Mediendiskurse der 1960er und 1970er Jahre, dass diese Differenz ausgeblendet wird. Die Argumentation folgt der Logik, wonach die mediale Wahrnehmung amerikanischer Formate eine „Amerikanisierung“ nicht nur des Fernsehprogramms, sondern auch der Wahrnehmungsmuster, der Imaginationen der Zuschauer zur Folge habe. Hier zeigt sich noch einmal, dass behavioristisch geprägte Wirkungskonzepte auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Argumentation bestimmt haben. Die Differenz zwischen Images und Imaginationen, die Unterscheidung zwischen globaler Distribution und der Zuschreibung von lokal je spezifischer Kommunikationsqualität gewannen erst ab den späten 1980er Jahren an Gewicht. Das waren jene Jahre, als der Begriff der „Amerikanisierung“ in den Mediendiskursen – und nur auf diese beziehe ich mich – an Rang und Bedeutung verlor. IV. Zur diskursiven Umstellung von „Amerikanisierung“ auf „Globalisierung“ seit den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beobachten Diskurse die Medien allgemein und die Television im speziellen stärker unter dem Aspekt der zunehmenden „Globalisierung“; sie beschreiben Medien als Faktor der globalen Welt. Motive und Gründe für diese semantische Verschiebung liegen, so meine These, in einer veränderten diskursiven Strategie, die sich im Laufe der

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1980er Jahre durchsetzte. In gewisser Weise vorbereitet wurde die Umstellung durch eine – zumindest vorerst – letzte Steigerung des Risiko-Diskurses um „Amerikanisierung“. Diese Steigerung entzündete sich an den beiden Prime Time Soaps Dallas und Dynasty, die seit Beginn der 1980er Jahre in der ARD und im ZDF liefen. Sie lösten eine hitzige Debatte aus, die von der Befürchtung getragen wurde, US-amerikanische Programme würden die westliche Welt beherrschen. In den Diskursen wurden diese Programme zu einer Art von Kolonialherren Europas. Sie wurden Repräsentanten der modernen Kolonialisierung, die den Namen „McDonaldisierung“ erzeugte. Die Steigerung des Risiko-Diskurses zeigt sich besonders markant an der imperialen und kolonialen Begrifflichkeit, die oben am Beispiel von Lachats Argumentation in Bezug auf das Kino bereits angezeigt wurde und die jetzt beherrschend wird. Sie grenzt das Amerikanische nicht als das Andere, das Fremde und das Bedrohliche aus, als eine Macht, bei der Gegenmacht immer mitgedacht wird. Amerika wird jetzt vielmehr als mediale und koloniale Herrschaft gefasst, die Gewalt ausübt. Was 1954 in London als Spannungsfeld von internationalem und nationalem Fokus diskutiert worden war, wurde auf der Weltkonferenz der Unesco im Jahre 1982 als akutes Kolonial-Problem auf die Agenda gesetzt. Während dieser Tagung vertrat Jack Lang, der damalige französische Kulturminister, die These, Europa stehe unmittelbar vor einer kulturellen Kolonialisierung durch die USA. Die These von der kulturellen Kolonialisierung durch die USA hat, so meine Vermutung, die Umstellung von „Amerikanisierung“ auf „Globalisierung“ zwar nicht ausgelöst, aber sie hat einen eigenen Beitrag dazu geleistet. Die Metapher der Kolonialisierung verknüpft den „mediascape“ mit der Figur der Herrschaft und setzt auf diese Weise Diskurse still. Ein solcher Stillstand, oder auch: eine solche Sackgasse, schafft einen Leerraum, der wie ein Attraktor für eine diskursive Verschiebung wirkt. Diese diskursive Verschiebung lässt sich ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre feststellen, wenn es immer weniger um Medien und Kolonialismus geht. Medien werden jetzt zunehmend als ökonomischer Faktor in einem globalen Markt beobachtet und beschrieben. Jetzt kommt es zu einer Kopplung von „mediascape“ und „financescape“, die in dieser Formation für Mediendiskurse neu ist.

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Die Kopplung von media- und financescape ist nicht allein durch Mediendiskurse entstanden oder ausgelöst worden; hier spielen viele Faktoren eine Rolle. Festzuhalten bleibt aber, dass Mediendiskurse aufgrund der beschriebenen Sackgasse, in die die frühen 1880er Jahre geführt hatten, für eine thematische Verschiebung und Veränderung offen, disponiert waren. So wie der globale ökonomische Faktor am Ende des 20. Jahrhunderts in Mediendiskursen zunehmend an Gewicht gewinnt, verliert die Kolonialismus-Metapher ihren Rang. Im Zuge dieser Gewichtsverschiebung kommt es zur Umstellung von „Amerikanisierung“ auf „Globalisierung“. Die Kategorien vermischen sich nicht,26 wie manche meinen, sondern bezeichnen unterschiedliche semantische Felder. Dass Medien zunehmend als Größe des globalen Marktes, als ökonomischer Faktor der Weltgesellschaft beobachtet werden, lässt sich nicht ablösen von Entwicklungen innerhalb der Medientechnologie und der Medienökonomie. Die mit der Einführung des dualen Systems verbundene Vervielfachung der Kanäle verändert die von Manuel Castells so genannte McLuhan-Galaxis und bereitet die Netzwerkgesellschaft vor.27 Mit dieser Umstellung im medialen Haushalt der Gesellschaft verliert die Leitdifferenz von Eigenem und Fremdem zunehmend an Beschreibungskraft. Es sind also insbesondere drei Faktoren mit je unterschiedlichem Gewicht an der Umstellung von „Amerikanisierung“ auf „Globalisierung“ beteiligt. 1. Der soeben beschriebene Leerraum, den die Diskurse produziert haben und der als Attraktor für Neues wirkt. 2. Die medientechnologischen und medienstrukturellen Veränderungen, die die Zahl der Fernsehkanäle vervielfachen. 3. Die entstehende Netzwerkgesellschaft, deren Mediennutzer zugleich global und lokal operieren, mit der es also zu einem re-entry der Differenz von global/lokal auf der Seite der „Globalisierung“ kommt. Diese medialen Umbrüche sind ausschlaggebend dafür, dass am Ende des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts Mediendiskurse semantisch umstellen von „Amerikanisierung“ auf „Globalisierung“.

26

27

Vgl. Uta G. Poiger: „Amerikanisierung oder Internationalisierung?“ In: Das Parlament, 03. November 2003, S. 17-24. Poiger spricht von einer „Verwischung der Grenzen von Amerikanisierung und Globalisierung“ (S. 24). Vgl. Manuel Castells: Das Informationszeitalter 1. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001, S. 378ff.

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Mediendiskurse des 20. Jahrhunderts

Auch hier gilt freilich: keine Regel ohne Ausnahme. Als der Leiter der französischen Nationalbibliothek, Jean-Noel Jeanneney, im März 2006 in der französischen Botschaft in Berlin sein Buch Googles Herausforderung vorstellte, sprach er, wie die Frankfurter Rundschau berichtete, von „kultureller Hegemonie [...], von der ewigen Dominanz der Amerikaner über die Europäer“.28 Franzosen, so könnte man daraus schließen, denken entweder nationalkonsistent oder sind nachtragend. Doch vielleicht geben sie auch das Startsignal für neue und zugleich alte Sprachspiele. Gründe genug, die Diskursentwicklung weiter zu beobachten. Literatur Adorno, Theodor: „Prolog zum Fernsehen“. In: Rundfunk und Fernsehen, Jg. 1 (1953) H. 2, S. 1-8. Appadurai, Arjun: „Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy“. In: Shanti Kumar/Lisa Parks (Hg.): A Global Television Reader. Planet TV, New York/London 2003, S. 4052. Appadurai, Arjun: „Globale ethnische Räume“. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 11-40. Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. In: Ders.: Abhandlungen, Frankfurt a.M. 1980 (Gesammelte Schriften, Bd. I.2), S. 471-508. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M. 1987. Brandt, Ulrich: Krimi-Standards. Motive, narrative Strategien und Standard-Situationen der Freitags-Krimis 1962-1978, Heidelberg 1995. Castells, Manuel: Das Informationszeitalter I. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001. Diner, Dan: Feindbild Amerika. Über die Bestätigung eines Ressentiments, München 2003. Goll, Claire: „Amerikanisches Kino“. In: Anton Kaes (Hg.): KinoDebatte. Texte zum Verhältnis von Literatur & Film 1909-1929, Tübingen 1978, S. 146-148.

28

Zit. nach: Martina Meister: „Folgen der Digitalisierung. Google und das Print-Projekt“. In: Frankfurter Rundschau vom 18. März 2006.

179

Irmela Schneider

Goll, Ivan: „Das Kinodrama“. In: Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur & Film 1909-1929, Tübingen 1978, S. 136-139. Habermas, Jürgen: „Notizen zum Mißverhältnis von Kunst und Konsum“. In: Merkur, Jg. 5 (1956) H. 3, S. 213-228. Horrowitz, Andrew R.: „The Global Bonanza of American TV“. In: James Monaco (Hg.): Media Culture. Television, Radio, Books, Magazines, Newspapers, Movies, New York 1978. Kaes, Anton (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur & Film 1909-1929, Tübingen 1978. Lachat, Pierre: „Kunst und Industrie in Hollywood. Zum amerikanischen Stummfilm vom Weltkrieg bis zur Depression“. In: Filmproduktionen der Stadt Zürich (Hg.): Stummfilme 19201929 aus Deutschland und Amerika, Zürich 1973, S. 12-22. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1995. Luhmann, Niklas: „Kultur als historischer Begriff“. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Frankfurt a.M. 1995 (Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4), S. 3154. Meister, Martina: „Folgen der Digitalisierung. Google und das Print-Projekt“. In: Frankfurter Rundschau, 03. März 2006. Poiger, Uta G.: „ Amerikanisierung oder Internationalisierung?“. In: Das Parlament, 03. November 2003, S. 17-24. Reuter, Michael: Telekommunikation. Aus der Geschichte in die Zukunft, Heidelberg 1990. Schneider, Irmela: „Alles Bonanza – Serie und Sozialisation“. In: Bernd Polster (Hg.): WestWind. Die Amerikanisierung Europas, Köln 1995, S. 221-231. Schneider, Irmela/Peter M. Spangenberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre, Wiesbaden 2002 (Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 1).

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UNTERHALTUNG – VERSTÖRUNG – ORIENTIERUNG. ZUR FUNKTIONSBESTIMMUNG DES THEATERS IN DER NACHKRIEGSZEIT (BIS 1960)

Erika Fischer-Lichte (Berlin) I.

Gab es eine „Stunde Null“?

Nach dem 20. Juli 1944 ordnete Dr. Joseph Goebbels als „Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz“ die Schließung aller Theater in seinem Machtbereich zum 1. September 1944 an. Ihre künstlerischen, technischen und administrativen Mitglieder wurden in die Rüstungsindustrie oder an die Front geschickt. Zurück blieb nur die so genannte „Wotan-Reserve“ von zehn Sängern. Sie waren bis zuletzt vom Kriegsdienst befreit, um bei der aus Anlass der nationalsozialistischen Siegesfeier geplanten Meistersinger-Aufführung voll einsatzfähig zu sein. Als der Krieg zu Ende ging, war das Theater im Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches unter seinen Trümmern begraben. Die Ensembles waren aufgelöst, in alle Winde zerstreut und zum Teil gefallen. Für das Theater schien dies in der Tat die „Stunde Null“ zu bedeuten. Dies sah man auch im benachbarten Ausland nicht anders. In der Schweiz und vor allem am Zürcher Schauspielhaus, dem Refugium deutschsprachigen Theaters, ging man in dieser Situation davon aus, dass es in Deutschland für lange Zeit kein ständiges Theater mehr geben werde. Leonard Steckel, Bühnenvorstand und Regisseur, stellte am 6. Mai 1945 in seinen „Notizen zum ideellen Neuaufbau des Theaterwesens im freien Deutschland“ der Lage entsprechende Überlegungen an: Es wird aller Wahrscheinlichkeit nach in Deutschland in der ersten Nachkriegszeit keine ständigen Theater geben. Gastspieltruppen, zum Teil von den Besatzungsmächten zusammengestellt und umhergeschickt, werden in den Ortschaften auf improvisierten Bühnen spielen [...], mögen Verwal-

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Erika Fischer-Lichte

tung und Zensur der Besatzungsmächte erkennen, daß das Theater eine gewichtige Stimme für den demokratischen Staatsgedanken zu sein vermag [...], dann wird sich in nicht ferner Zeit irgendwo zwischen den Trümmern der deutschen Städte der Vorhang heben, und ein Festspiel wird eine neue, freiheitliche Spielzeit eröffnen.1

Und im August 1945 setzte der Regisseur Leopold Lindtberg derartige Überlegungen fort, als er notierte: Dem kulturellen Aufbau stellt sich ein einziges, ein brennendes Problem: die Erziehung. Nie war die sittliche Aufgabe des Theaters bedeutsamer. [...] Wir können nicht einmal sagen: nun geht der Vorhang wieder auf. Wenn die Theater wieder spielen werden, werden keine Vorhänge da sein. Eine Armut, die wir uns nicht vorstellen können, wird alles Leben beherrschen. Wir werden im wahrsten Sinne aus der Not eine Tugend machen müssen.2

Doch es kam ganz anders. Die Lust, Theater zu spielen, schien allenthalben geradezu explosionsartig hervorzubrechen. Anfang Februar 1946 leitete Friedrich Luft seine sonntägliche Theaterkolumne im Drahtfunk im amerikanischen Sektor (DIAS) mit folgendem Bericht ein: Gestern hatte ich Gelegenheit, einmal im Wagen durch die ganze Breite der Stadt zu fahren. Es war gespenstisch. Man ist an die Trümmer seiner Umwelt, seines Weges zur Arbeit, seines Bezirks gewöhnt. Aber da wurde mir einmal bewußt, wie wenig von Berlin noch da ist. Ich fragte mich, ob wir uns nicht eigentlich nur etwas vormachen. Ich fuhr an einer Litfaßsäule vorbei, die beklebt war mit unzähligen Ankündigungen von Theatern, Opern, Konzerten. Ich sah nachher im Inseratenteil der Zeitung: an fast 200 Stellen wird Theater gespielt. Tatsächlich. Überall. Täglich finden mindestens ein halbes Dutzend Konzerte statt. In allen Bezirken. Zwei Opernhäuser spielen ständig – welche Stadt der Welt hat das noch? Ob da nicht eine ungesunde Hausse in Kunst ausgebrochen ist – ob es nicht nötiger ist, Handfestes zu tun – ob der Drang vor die Bühnen und in die Lichtspielhäuser nicht etwas Leichtfertiges und Frivoles an sich hat? Nein, Kunst ist kein Sonntagsspaß und Schnörkel am Alltag, kein Nippes auf dem Vertiko. Kunst ist notwendig, gerade jetzt in der Not.3 1 2 3

Zitiert nach Hans Daiber: Deutsches Theater seit 1945, Stuttgart 1976, S. 8. Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 26.

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Unterhaltung – Verstörung – Orientierung

Was Friedrich Luft hier für Berlin feststellt, gilt im Prinzip für alle vier Besatzungszonen: Ob in Großstädten oder in Kleinstädten, in Kreisstädten oder in eher ländlichen Gemeinden, ob im Norden oder im Süden, im Westen oder im Osten – überall wurde Theater gespielt. In Berlin eröffnete als erstes das Renaissance-Theater die Theatersaison mit Schönthans Schwank Der Raub der Sabinerinnen am 27. Mai 1945, einer Inszenierung aus dem Winter 1943/44. Einen Monat später folgte das Deutsche Theater mit einer ebenfalls alten Inszenierung von Schillers Der Parasit. Wenn wir der offiziellen Statistik glauben können, so fanden zwischen Juni und Dezember 1945 in Berlin 120 Premieren des Schauspiel- und Musiktheaters statt. In anderen Städten war es ähnlich. In Hamburg begann die Saison am 28. August 1945 mit einer Aufführung des Jedermann in der Eppendorfer Johanneskirche. Es folgten Iphigenie auf Tauris und Nathan der Weise. Auch in der Provinz wurde der Spielbetrieb bald wieder aufgenommen. In Trier wurde die Spielzeit am 6. Oktober 1945 mit einer Nummernfolge aus Tanz, Gesang und Spiel unter dem Titel Auftakt eröffnet. In Koblenz begann die Spielzeit am 19. Oktober 1945 mit dem Kabarett-Programm Die Unentwegten. Gespielt wurde nicht nur in nicht vollständig zerstörten Theatern, sondern wo immer sich ein Raum finden ließ – in Kirchen und Gemeindesälen, in Gaststuben und Schulen, in Kirchen und Hörsälen. Die Lust, Theater zu spielen, war keineswegs auf die Professionellen, auf die Theaterkünstler im engeren Sinne beschränkt. In den Kriegsgefangenenlagern bildeten sich Ensembles aus Berufsschauspielern und Laien, die zum Teil – wie das im Herbst 1945 gegründete Ensemble Die Optimisten des Kriegsgefangenenlagers Bretzenheim/Nahe – mit Erlaubnis des Kommandanten auch in umliegenden Ortschaften auftreten durften. Außerdem wurde sowohl in den Städten als auch in ländlichen Regionen – meist unter (An-)Teilnahme der ganzen Gemeinde – von Laien Theater gespielt – in Gesangs- und Sportvereinen ebenso wie von der evangelischen oder katholischen Jugend. In Mainz beispielsweise schlossen sich im September 1945 katholische junge Männer zu einer Schauspielgruppe, der so genannten Bardo-Gilde, zusammen. Im März 1946 debütierten sie mit Max Mells Apostelspiel, das sie nicht nur in Mainz, sondern in vielen ländlichen Gemeinden bis 1948 mehr als vierhundert Mal aufführten. Der Lust, Theater zu spielen, entsprach auf der anderen Seite die Lust, Theater zu erleben. Obwohl es mehr Aufführungen gab

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als vor dem Krieg, fanden sie bis zur Währungsreform mühelos ihre Zuschauer. Das Publikum strömte in die Theater, auch wenn es Nägel und Baumaterial oder in den eiskalten Wintern Holz und Kohle mitbringen musste. Diese explosionsartige Theatereuphorie oder auch -manie verweist nun keineswegs auf eine „Stunde Null“. Im Theater zumindest sucht man sie vergebens. Es gab einen Wiederanfang, kein Zweifel – jedoch einen Wiederanfang, der kein Neuanfang war. Allenthalben zeigte sich Kontinuität, wurde auf „Bewährtes“ zurückgegriffen – auf beliebte Schwänke und Lustspiele, auf die Klassiker, auf die Regisseure der Vorkriegs- und Kriegszeit, ja, sogar auf alte Inszenierungen. Kontinuität war angesagt, nicht aber Bruch und radikaler Neuanfang. Dies wurde durchaus von der Theaterkritik bemerkt – und keineswegs immer beifällig. So hielt der Kritiker der Trierischen Volkszeitung, Wilhelm Desch, den Theatermachern immer wieder Versäumnisse vor, die aus seiner Sicht unverzeihlich waren. Am Ende der ersten Spielzeit 1945/46 beklagte er, dass „nach Zahl der Abende Schwank und Lustspiel überwiegen. Es gibt auch ohne eine unmittelbare Gegenwartsdichtung die Möglichkeit, das Theater in unsere Zeit zu stellen. Es kann nicht das Richtige sein, wenn von einem Spielplan gesagt wird: Genauso hätte er 1942 gespielt werden können“4. Vom Theater wurde entsprechend verlangt, die Zäsur deutlich zu markieren, die mit dem Kriegsende und der Befreiung vom Nationalsozialismus eingetreten war, nicht aber weiter zu spielen, als wenn nichts geschehen wäre. Rückblickend fasste Wilhelm Desch aus Anlass seiner Rezension einer Inszenierung von Anouilhs Antigone noch einmal die Forderungen zusammen, die das Theater der ersten Nachkriegsspielzeiten seines Erachtens zu erfüllen gehabt hätte: [...] das ist die eigentliche Aufgabe des Theaters: Die geistige Entwicklung der Zeit zu zeigen, eine Stadt wie Trier in sie hineinzustellen, in die Auseinandersetzungen einzugreifen, ihr Wesen zu deuten, ihre Stoffe zur Debatte zu stellen, kurz: das nach vielen Jahren unserer geistigen Absperrungen so Notwendige zu tun, was wir an dieser Stelle schon lange forderten und einmal auf den Gesamtnenner geistiger Wiedergutmachung brachten (wobei wir Wiedergutmachung an uns selbst meinten).5

4 5

Wilhelm Desch, Trierische Volkszeitung, 14. Juli 1946. Wilhelm Desch, Trierische Volkszeitung, 14. März 1949.

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Unterhaltung – Verstörung – Orientierung

Eine solche „geistige Wiedergutmachung“ wurde zum Beispiel von einem Spielplan erwartet, „der die ausgetretenen Bahnen verlässt“ und „neue Ideen“ verwirklicht (11. Juli 1947), einem Spielplan, der vor allem zeitgenössische Autoren berücksichtigt, die in den Jahren des Dritten Reiches nicht auf den deutschen Bühnen zu sehen waren – wie die neuen Dramen der Amerikaner, Briten, Franzosen, Russen oder die verbotenen Stücke deutscher Dramatiker. Theater sollte zu einem öffentlichen Forum werden, zu einer „moralischen Anstalt“, die auf die Zuschauer einwirkte. Dies mag vereinzelt durchaus geschehen sein. So fällt auf, dass Lessings Nathan der Weise vielerorts in der ersten Spielzeit zur Aufführung kam, in Berlin sogar bereits im September 1945. Dieses Faktum für sich bürgt allerdings kaum für Aktualität. So ist in einer Kritik zu eben dieser Aufführung zu lesen: Summt es – knistert es? Spürt man im Deutschen Theater die grimmige Aktualität? Hört man die zornige Mahnung, die uns über mehr als hundertfünfzig Jahre hinweg mitten ins Zentrum unseres Gewissens trifft? Ein-, zweimal geht es wie ein Ruck durch die Zuschauer: Scham schlägt sich rot ins Gesicht nieder bei dem schauerlichen Refrain ‚Der Jude wird verbrannt‘, oder bei Nathans erschütternder Schilderung von der Hinschlachtung ganzer Familien. Doch im großen Ganzen ist die Aufführung unter Fritz Wistens sauberer Regie auf mildes Märchenspiel gestellt.6

Die neuen Dramen der „Amerikaner, Briten, Franzosen, Russen“, die Desch einklagt, fanden auch vor der Währungsreform durchaus ihren Weg auf deutsche Bühnen. Das Deutsche Theater Berlin brachte Thornton Wilders Unsere Kleine Stadt bereits im Sommer 1945 heraus. Auf Betreiben des sowjetischen Kommandanten musste es diese Inszenierung jedoch wieder aus dem Spielplan nehmen. „Der Stellungskrieg war auf“, wie Friedrich Luft schrieb7. Er wurde in den nächsten Jahren anlässlich der Inszenierungen von Konstantin Simonows Die russische Frage im Deutschen Theater (1947), Jean-Paul Sartres Die Fliegen im Hebbel-Theater (1948) und Die Schmutzigen Hände im Renaissance-Theater (1949) fortgesetzt. Die Erstaufführung von Thornton Wilders Wir sind noch einmal davongekommen in der Regie von Karl Heinz Stroux im Hebbel-Theater (1946) schien davon ausgenommen – vielleicht 6 7

Werner Fiedler, Neue Zeit, 11. September 1945. Friedrich Luft: 25 Jahre Theater in Berlin. Premieren 1945-1970, Berlin 1972, S. 15.

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weil das Stück als „eiskalte Konstruktion, im besten Sinne intellektuelle Akrobatik, geistiges Seiltänzertum auf spinnwebfeinen Seilen“ aufgenommen wurde, nicht aber als ein „Appell an die Herzen, [ein...] Schrei, der bis in die verschütteten Gewölbe unserer Seele dringt“8. Anlässlich von Jürgen Fehlings Inszenierung der Fliegen brach der „Stellungskrieg“ jedoch mit voller Schärfe aus. Während das Publikum dem Regisseur und den Schauspielern wahre Ovationen entgegen brachte – der Vorhang musste mehr als fünfzig Mal hochgehen – und Friedrich Luft die Inszenierung als „endlich wieder ein Theater, wie es jeder Stadt der Welt neidvoll anstehen würde“9 feierte, machte Wolfgang Langhoff aus seinem Abscheu keinen Hehl. Er erblickte in der Inszenierung die ungesunde Dekadenz und die Ratlosigkeit einer intellektuellen Schicht, die den Führungsanspruch endgültig verloren hat. Diese Inszenierung war, wenn auch in sich meisterhaft, ein Beispiel für gerade jenes Theater, dem wir entrinnen müssen. Übermenschen – keine Menschen, Fratzen – keine Gesichter, Abnormitäten, Orgien des Bluts und der Triebe – aber keine klaren geistigen Auseinandersetzungen. Aufgepeitschte, über die menschlichen Grenzen gezeichnete Figuren, dick und barock. Der Mensch als formloser Urstoff eines Regisseurs, der seine Phantasmagorien verwirklichen will, ohne die Menschen zu lieben. Und darauf kommt es heute an: die Menschen zu lieben.10

Der für Berlin charakteristische publizistische Schlagabtausch zwischen West und Ost vermag allerdings kaum darüber hinwegzutäuschen, dass die Inszenierung der im Dritten Reich verbotenen ausländischen Stücke keineswegs einen radikalen Neuanfang bedeutete, sondern vielmehr im Zeichen der Kontinuität vorgenommen wurde. So ist sich ein großer Teil auch der West-Berliner Presse in der Ablehnung des Sartre’schen Stückes durchaus einig. Was Luft in seiner Kritik lobend hervorhob, betraf nicht das Stück, sondern „die Sensation [...], den spröden, fragwürdigen, besonders zu Beginn sich in philosophischen Expektorationen gefallenden und keineswegs fleischigen Text unter Jürgen Fehlings genialischer Hand

8 9 10

Walter Lennig, Berliner Zeitung, 07. Juli 1946. Neue Zeit, 10. Januar 1948. Wolfgang Langhoff: „Orgien des Blutes und der Triebe.“ In: Berliner Zeitung, Januar 1948.

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aufblühen zu sehen. Diese Wiederkehr eines Regisseurs war wie ein Gewitter für unsere Bühne. Zum ersten Mal wieder Atem.“11 Es ist die „Wiederkehr“, das Anknüpfen an das Theaterleben der 1930er Jahre, das im Krieg und vor allem in den letzten Kriegsjahren schmerzlich vermisst wurde, was hier genossen und gefeiert wird. Das zeigte sich auch bei Gustaf Gründgens’ Rückkehr auf die Bühne. Nach seiner Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft stand er am 3. Mai 1946 in seiner Paraderolle des Christian Maske in Sternheims Der Snob in der Regie von Fritz Wisten (Deutsches Theater) zum ersten mal seit Schließung der Theater wieder auf einer Berliner Bühne. „Parkett und Ränge stampften und klatschten Beifall und verzögerten den Beginn des Stücks bedeutend [...]. Premierenkarten wurden auf dem Schwarzen Markt der Unredlichkeit bis zum Hundertfachen ihres Preises gehandelt.“12 1947 übernahm Gründgens als Intendant das Düsseldorfer Schauspielhaus, wo er durchaus an den Stil seiner Inszenierungen am Staatlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt anknüpfte und in diesem Sinne seine Arbeit aus den 1930er und frühen 1940er Jahren fortsetzte. Die Zeit zwischen Kriegsende und Währungsreform im Juni 1948 stellt sich also keineswegs als „Stunde Null“, als radikaler Bruch mit dem Vorhergehenden und völligen Neubeginn dar. Im Vordergrund stand vielmehr das Bemühen, Kontinuität herzustellen. Das schloss keineswegs eine Erweiterung des Repertoires um bisher verbotene ausländische und deutsche Stücke oder auch ganz neue deutsche Stücke aus. Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür, das 1946 geschrieben und am 21. November 1947 in den Hamburger Kammerspielen (Regie Wolfgang Liebeneiner) seine Uraufführung erlebte und anschließend an vielen Theatern nachgespielt wurde, oder Carl Zuckmayers Des Teufels General lassen sich gar als Erfolgsstücke der Nachkriegszeit bezeichnen. Zuckmayer hatte das Stück bereits 1942/43 als Reaktion auf Absturz und Staatsbegräbnis des mit ihm befreundeten Fliegergenerals Ernst Udet geschrieben. Es wurde im November 1947 im ehemaligen Frankfurter Börsensaal unter der Regie von Heinz Hilpert uraufgeführt und erlebte bis 1950 3.238 Vorstellungen. Während Borcherts Stück die Zuschauer zu bewegen vermochte, ohne, durchaus an die Tradition des Expressionismus anknüpfend, eine direkte politische 11 12

Neue Zeit, 10. Januar 1948. Friedrich Luft, Die Neue Zeitung, 06. Mai 1946.

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Aussage zu machen, galt Des Teufels General den einen als „Blankoscheck zur moralischen Entschuldigung hoher nazistischer Würdenträger“ (Carl Rilla) und den anderen als „eine Elegie, die schweren Herzens Abschied nimmt von Idealen, die dem deutschen Volk teuer gewesen sind, bevor sie in den Abgrund führten. Ich sah das Stück in Köln und überzeugte mich davon, dass seine theatralische Wirkung tiefer und wahrer ist, als ich bei der Lektüre gedacht hatte.“13 Als eine kritische Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Krieg lassen sich beide Stücke nicht betrachten. Wie wenig eine solche erwünscht war, zeigt sich in der Reaktion auf Max Frischs Nun singen sie wieder, das Ostern 1945 in Zürich seine Uraufführung erlebte. Das Stück setzt sich am Beispiel von Karl, der auf Befehl seines Vorgesetzten Herbert 21 Geiseln hat erschießen lassen, parabelhaft mit der Erscheinung des Faschismus, dem Krieg und seinen Folgen auseinander. Anders als in Des Teufels General gibt es hier keine „Helden“. Vielmehr wird unabweisbar die Schuldfrage an jeden Einzelnen gestellt. Das Stück löste nach seiner Inszenierung überall in Deutschland heftige Diskussionen aus. Anlässlich der Inszenierung im Mainzer Theater am Pulverturm schrieb der Rezensent des Neuen Mainzer Anzeigers: Der Mangel an Überzeugung dieses Requiems, der Mangel an Wirkung und erschöpfender Glaubwürdigkeit wurde durch die wenig starke Vermittlung durch die Mainzer Bühne (Spielleitung: Joachim Klaiber) unterstrichen. [...] Packen konnte die Szene im Luftschutzkeller, packen das zur Apotheose gesteigerte Bild, das dem Abendmahl Christi mit den Jüngern glich, packen konnte vieles, aber irgendein leeres Gefühl blieb zurück. Vielleicht sollte man von der Ursache auf die Wirkung schließen, vielleicht – und die Ursache ist dies, daß ein Dichter Erlebnisse geschildert, die er selbst nur am Rande gestreift hat. Vielleicht braucht auch dieses Spiel Zeit, heilende, helfende Zeit, um zu einem wirklichen ‚requiem aeternam‘ zu werden.14

Zur Erklärung des „leeren Gefühls“ wird eine doppelte Argumentationsstrategie eingeführt. Auf der einen Seite wird es dem Dichter angelastet, dem vorgeworfen wird, dass er ja selbst nicht dabei war, nicht selbst in den von ihm geschilderten Situationen gestanden hat – also letztlich eigentlich gar nicht das Recht habe, 13 14

Berthold Viertel, zitiert nach Daiber: Deutsches Theater seit 1945, a.a.O., S. 72. Neuer Mainzer Anzeiger, 23. Juni 1948.

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über derartige „Erlebnisse“ zu schreiben und zu urteilen. Auf der anderen Seite wird jedoch indirekt eingestanden, dass das Stück durchaus einen Nerv getroffen hat – denn wie anders ist der Hinweis auf die „heilende, helfende Zeit“ zu verstehen? Mit „packenden“ Szenen versuchte die Inszenierung, im Zuschauer Anteilnahme zu erwecken und ihn so dazu zu bewegen, sich selbst die Schuldfrage zu stellen. Aber diese mögliche Wirkung wurde abgeblockt – zumindest bei diesem Rezensenten –, stattdessen ein „leeres Gefühl“ vorgeschützt, die geforderte Auseinandersetzung auf eine ferne Zukunft verschoben: dem Theater als öffentlichem Forum und als wahrhaft moralischer Anstalt eine Absage erteilt. Kontinuität zu den dreißiger Jahren bestand auch darin, dass Brechts Stücke weiterhin Anathema blieben. Zwar brachte Wolfgang Langhoff am 30. Januar 1948, dem 15. Jahrestag der Machtergreifung der Nationalsozialisten, am Deutschen Theater Berlin sieben (von 24) Szenen von Furcht und Elend des Dritten Reiches heraus. Aber erst mit seiner eigenen Inszenierung von Mutter Courage im Januar 1949 wurde Brecht auf den ostdeutschen Bühnen heimisch. Friedrich Luft bezeichnete die Aufführung als den „positivsten Theaterabend von einem zeitgenössischen Dichter seit langem Gedenken [...]. Hier ist eine Prägnanz der Arbeit am Werke, die neu war und oft genug den Atem benahm“15. Dies Neue blieb allerdings im Zuge des Kalten Krieges von den westdeutschen Bühnen weitgehend ausgeschlossen. Zwar gab es vereinzelt BrechtInszenierungen (wie Albert Lipperts Inszenierung des Puntila am Deutschen Schauspielhaus Hamburg im November 1948). Den Durchbruch brachte allerdings erst Harry Buckwitz’ Inszenierung von Der gute Mensch von Sezuan im November 1952 in Frankfurt. In den ersten drei Nachkriegsjahren fand auf dem Theater weder eine Auseinandersetzung mit den vorausgegangenen zwölf Jahren statt, noch eine künstlerische Erneuerung. Brechts Wutausbruch nach einer Aufführung von Max Frischs Santa Cruz in Konstanz im August 1948, den Max Frisch überliefert hat, erscheint daher mehr als berechtigt: „Das Vokabular dieser Überlebenden, wie unbelastet sie auch sein mochten, ihr Gehabe auf der Bühne, ihre wohl gemeinte Ahnungslosigkeit, die Unverschämtheit, dass sie einfach weitermachten, als wären bloß ihre Häuser zerstört, all

15

Die Neue Zeitung, 15. Januar 1949.

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dies war schlimmer als befürchtet.“16 Das alte Theater war, so schien es, zurückgekehrt. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die nicht nur auf die Professionellen beschränkte Lust, Theater zu spielen, und die Lust noch breiterer Kreise, Theater zu erleben, neue Phänomene darstellten, die zwar dem professionellen Theater keine neuen Impulse zu geben vermochten, für alle Beteiligten jedoch wie eine therapeutische Maßnahme wirkten. Die Teilnahme an einer Aufführung enthob sie für zwei, drei Stunden den Trümmern, dem Hunger, der Kälte, kurz: dem ganzen Elend ihres Nachkriegslebens, das als eine Befreiung zu empfinden, die wenigsten imstande waren. Theater wurde zum Surrogat für ein besseres Leben. Die Währungsreform, die in den drei Westzonen am 20. Juni 1948 und in der Ostzone am 23. Juni 1948 in Kraft trat, machte dem Theaterboom abrupt ein Ende. Während es in der Spielzeit 1947/48 in allen vier Besatzungszonen zusammen 419 Bühnen gab (sogar eine mehr als im „Großdeutschen Reich“ in der Spielzeit 1943/44), konnten in der Spielzeit 1949/50 nur noch 104 Theater den Spielbetrieb aufnehmen. Das große Theatersterben hatte vor allem zwei Gründe: Auf der einen Seite stellten die Gemeinden, Städte und Länder nach der Währungsreform die bisherigen Haushaltsprioritäten zur Disposition, sodass über jegliche finanzielle Unterstützung der Theater durch die öffentliche Hand neu verhandelt werden musste. Streichungen oder zumindest substantielle Kürzungen der Zuschüsse waren in der Regel die Folge. Auf der anderen Seite blieb den Theatern nun schlagartig das Publikum weg. In den Läden gab es plötzlich wieder alles zu kaufen (die Besitzer von Waren und Rohstoffen hatten bis zu diesem Termin so viel wie möglich zurückgehalten) – die Theaterkarte sank zu einer Ware neben anderen – zum Teil begehrenswerteren – Gütern herab, für die einen Teil seiner kostbaren Umtauschquote (40,- DM pro Kopf am 20. Juni und weitere 20,- DM im Verlauf der nächsten zwei Monate) auszugeben, man sich genau überlegte. Der Theaterbesuch ging rapide zurück – im Durchschnitt auf 10% bis 15% der verfügbaren Plätze. Und auch nachdem sich die finanzielle Situation der Bürger allmählich gebessert hatte, stieg die Anzahl der verkauften Theaterkarten nur sehr langsam wieder an. Ein besseres Leben – es konnte nun auch außerhalb des Theaters geschaffen werden. Das Theater schien dem Bürger nicht mehr viel zu bedeu16

Zitiert nach Daiber: Deutsches Theater seit 1945, a.a.O., S. 112.

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ten. War dies eine Herausforderung, die dem alten Theater ein Ende zu bereiten vermochte? II.

Auswege aus der Krise: Zimmertheater, Studiobühnen und Festspiele

Als Auswege aus der Krise, in welche die Währungsreform die Theater gestürzt hatte, wurden unter anderem zwei einander entgegen gesetzte Strategien eingeschlagen. Zum einen wurden Zimmertheater und Studiobühnen eingerichtet, welche die Bedürfnisse eines relativ kleinen, intellektuell anspruchsvollen Publikums befriedigen sollten. Zum anderen wurden im Sommer Festspiele für ein Massenpublikum abgehalten. In Hamburg unternahm Helmut Gmelin die ersten Versuche mit einem Zimmertheater noch vor der Währungsreform. Seine Pläne für eine solche Theaterform reichten bis in die frühen 1930er Jahre zurück. Den ersten Versuch stellte eine Schüler-Aufführung von Ibsens Gespenstern vor fünfzig Zuschauern im Juli 1947 dar. Die Wahl des Stückes scheint kein Zufall gewesen zu sein. Denn der Vorläufer des Zimmertheaters, das bereits von August Strindberg propagierte Intime Theater, das Max Reinhardt mit dem Bau der Kammerspiele des Deutschen Theaters verwirklichte, wurde im November 1906 mit Reinhardts Inszenierung der Gespenster begründet. Wie aus den Kritiken hervorgeht, hatten hier einige Zuschauer das Gefühl, sich einer Indiskretion schuldig zu machen, weil sie auch in den hinteren Reihen noch jedes Mienenspiel, jedes Zucken eines Gesichtsmuskels wahrzunehmen vermochten. Am 24. März 1948 erfolgte die offizielle Eröffnung des Theaters im Zimmer in einer Biedermeier-Villa an der Alsterchaussee mit Hebbels Maria Magdalena. Es folgte Raskolnikov, eine Bearbeitung von Dostojewskis Schuld und Sühne. „Die Wirkung auf die Zuschauer, die diesmal in dem kleinen Raum im Halbkreis saßen, muß so packend gewesen sein, als wohnten sie gerade einem Unfall auf offener Straße bei oder würden durch ein Schlüsselloch beobachten, wie ein Mord passiert. Weinkrämpfe und Ohnmachten im Zuschauerraum waren an der Tagesordnung.“17 Das Repertoire der 17

Aus den Erinnerungen von Wera Liessen, der ersten Dramaturgin, und von Christoph Röthel, zunächst Assistent, dann Hausregisseur bis 1971, zitiert nach Daiber: Deutsches Theater seit 1945, a.a.O., S. 77f.

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ersten Jahre schloss Die Erniedrigten und Beleidigten nach Dostojewski, Gerhart Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt und Michael Kramer, Stig Dagermanns Der zum Tode Verurteilte, Cocteaus Orphée, Strindbergs Ostern, O’Neills Vor dem Frühstück, Wilders Glückliche Tage ein. Gmelins Zimmertheater war durch eben die Merkmale gekennzeichnet, die es nach der Währungsreform als ein nachahmenswertes Beispiel erscheinen ließen. Es hatte vom Spielplan her ein klares Profil, das eine ganz bestimmte Zielgruppe ansprach. Die Beschränktheit des Raumes erlaubte keine große Distanz zwischen Darstellern und Zuschauern; die Zuschauer fühlten sich unmittelbar am Geschehen beteiligt und erlebten es so besonders intensiv. Als wichtigste Stilelemente lassen sich Konzentration auf die im Raum erklingenden Worte, Verzicht auf Souffleur, Rampe, aufwendige Dekorationen und Kostüme, sparsame Gestik, zurückhaltende Mimik, dezente Schminke, Zimmerlautstärke benennen. Sie bedurften zu ihrer Verwirklichung keines großen finanziellen Aufwandes – das Zimmertheater hatte den unbestreitbaren Vorteil, relativ geringe Kosten zu verursachen. Es nimmt daher kaum wunder, dass nach der Währungsreform Gmelins Modell in den drei westlichen Besatzungszonen vielfach übernommen wurde. In Mainz zum Beispiel etablierten sich 1949 die „Mainzer Zimmerspiele“, die bis 1960 bestanden. Ihr Leiter, Rudolf Jürgen Bartsch, sah ihren wichtigsten Vorzug in dem besonderen räumlichen Arrangement: „Das Zimmer ist der szenische Gesamtraum. Oder anders gesagt: es gibt nur noch die Szene, auf der auch die Zuschauer sitzen. Eigentlich ‚spielt‘ man überhaupt nicht. Man lebt Geschehnisse nach, die der Dichter in seiner Imagination erblickt hat. [...] Hier fühlt sich noch jeder einzelne Zuschauer als Individuum angesprochen.“18 In der inzwischen abgerissenen Alten Wache eröffneten die „Mainzer Zimmerspiele“ mit der Uraufführung des Fragments Der Gruftwächter von Franz Kafka. Mit dieser Inszenierung gastierten sie, als erstes deutsches Schauspielensemble nach dem Kriege, auch in Paris. Mit Blick auf das überwiegend akademisch-studentische Publikum wurde durchgehend ein literarischer Spielplan verwirklicht. Dem Gruftwächter folgten weitere Uraufführungen von literarischen Raritäten und Kostbarkeiten wie Walter Bauers Dramolett 18

Ebenda, S. 76.

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Die Grenze, Gottfried Benns Die Stimme hinter dem Vorhang und C.F. Vauchers Ual-Ual oder Der kleine Grenzzwischenfall. Man spielte Ein Phönix zuviel von Christopher Fry, Das tägliche Leben von Rainer Maria Rilke, Juana und Glückliche Reise von Thornton Wilder, Der schöne Gleichgültige und La voix humaine (in französischer Sprache) von Jean Cocteau, Der arme Mensch von Wolfgang Altendorf, Der Schlachtenlenker von George Bernhard Shaw, Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen von Friedrich Dürrenmatt, Die Stimme des Toten von Frank Thieß, Der Wettlauf mit dem Schatten von Wilhelm von Scholz, Gläubiger von August Strindberg, Keiner wird genug geliebt von François Mauriac und – als deutsche Erstaufführung – Ionescos „komisches Drama in einem Akt“ Die Unterrichtsstunde. Nicht gespielt, sondern nur gelesen wurden Thomas Manns Firenze, Hans Henny Jahnns Armut, Reichtum, Mensch und Tier, Egon Viettas Monte Cassino und Hugo von Hofmannsthals Der Turm. Pro Jahr wurden acht Produktionen herausgebracht. Die ersten drei Jahre wurden die „Mainzer Zimmerspiele“ von der französischen Stiftung pro iuventute unterstützt, später dann von der Mainzer Volkshochschule mit je DM 500,- pro Spielzeit. Außer in Paris gaben sie Gastspiele in Wiesbaden, Frankfurt, Darmstadt, Ingelheim und im Weserbergland. Indem die Zimmerspiele eine deutlich fühlbare Lücke füllten, verstanden sie es bis zum Ende der 1950er Jahre, sich ihr Publikum zu sichern (seit 1956 veranstaltete das Ensemble außerdem als „arche nova“ unter Hans Dieter Hüsch auch ein Kabarettprogramm).19 Um die enge Beziehung zu ihrem Publikum noch weiter zu vertiefen, luden die Gründer der Zimmerspiele, einer Anregung aus dem Publikum folgend, zu Beginn dieser Spielzeit „ihre Freunde ein, sich zu einem Kreis der Freunde der Zimmerspiele zusammenzuschließen. Es soll nicht ein neuer Verein sein, [...] wohl aber eine stärkere Verbindung der Freunde aus dem Publikum mit der Sache der Zimmerspiele im Haus am Dom.“20

19

20

Zur „Vorgeschichte“ dieser Kabarettgründung seit der kabarettistischen Revue „Der Regiefehler“ im Februar 1947 vgl. Reinhard Hippen: „Wir sind so frei. Kabarett in Rheinland-Pfalz“. In: Franz-Josph Heyen/Anton Maria Keim (Hg.): Auf der Suche nach neuer Identität. Kultur in Rheinland-Pfalz im Nachkriegsjahrzehnt, Mainz 1996, S. 185- 224. Theaterwoche, H. 42 (11.-18. Oktober 1953), Mainz 1953.

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Den „Mainzer Zimmerspielen“ gelang es also nach der Währungsreform, ein intellektuell anspruchsvolles und aktives Publikum, das vom Theater nicht in erster Linie unterhalten, sondern geistig herausgefordert werden wollte, zu gewinnen und sich zu erhalten. Dies lässt sich insgesamt von den Zimmertheatern sagen, die bis zum Ende der 1950er Jahre als Ort der Experimente, des Neuen und Ungewöhnlichen im deutschen Theaterleben eine wichtige Rolle spielten. Hier konnte unter bestimmten Bedingungen erfolgreich experimentiert und einer neuen, ein breiteres Publikum eher verstörenden Dramatik der Weg geebnet und bereitet werden. Insofern erscheint es symptomatisch, dass die Mainzer Zimmerspiele mit Kafkas Der Gruftwächter eröffneten. Galt Kafka doch in gewisser Weise als Vorläufer des absurden Theaters. Mit der Aufführung von Kafkas Schloß im Juni 1950 im Berliner Schlossparktheater wurde „offiziell“ die Ära des absurden Theaters auf deutschen Bühnen eingeläutet. Die – aus heutiger Sicht – Klassiker des absurden Theaters gelangten überwiegend in Zimmertheatern, auf Studiobühnen, in Malersälen und „Werkstätten“ oder in relativ kleinen Häusern wie dem Berliner Schlossparktheater zur Aufführung. Zur Eröffnung der Saison 1953/54 inszenierte Karl Heinz Stroux im Schlossparktheater Becketts Warten auf Godot, das nach der Uraufführung im Pariser Théâtre de Babylone Anfang Januar von zwanzig deutschen Bühnen vorgebucht war. Wie in Paris zeigte sich nach der Premiere lediglich eine Minderheit begeistert – die Mehrheit der Kritiker und der Zuschauer war entsetzt. Während Stroux seine Inszenierung ernst angelegt hatte, brachte Fritz Kortner mit seiner Münchner Inszenierung im März 1954 das komische Potenzial des Stückes zur Entfaltung – Heinz Rühmann spielte Estragon und Ernst Schröder Wladimir. 1957 wurde im Schlossparktheater Becketts Endspiel aufgeführt und 1959 in der Werkstatt des Schillertheaters Das letzte Band mit Bernhard Minetti. Die 1950er Jahre lassen sich in gewisser Hinsicht durchaus als die Hoch-Zeit des absurden Theaters in Deutschland betrachten. Außer Becketts Stücken kamen Texte von Ionesco, Adamov, Arrabal, Boris Vian, Jacques Audiberti, Jean Tardieu, James Saunders, Edward Albee, Arthur Kopit zur Aufführung sowie die ebenfalls dieser Richtung zuzurechnenden Stücke von Günter Grass und Wolfgang Hildesheimer. Vor allem die Aufführungen von Ionescos Stücken verursachten immer wieder Theaterskandale. Es wurde gepfiffen, gebuht und

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mit bösartigen Kommentaren nicht gespart wie „So ein Mist!“ oder „Nieder mit Sellner!“ anlässlich der Aufführung von Opfer der Pflicht 1957 in Darmstadt. Sellner konterte in einem Interview, dass Ionescos Werk „zu den eindringlichsten, großen Warnungszeichen“ der Zeit gehöre; es biete jedoch „eine äußerst vergnügliche Arbeit, wenn man es einmal über sich gebracht hat, den ganzen Ballast aus konventionellen und intellektuellen Ordnungen von sich zu werfen“21. Wiederholt wurde kritisiert, dass es sich bei Ionesco um eine Diagnose ohne Therapie handele. Zwar hatten die Zimmertheater und Studiobühnen aufgrund ihrer spezifischen Publikumsstruktur und ihres neuen sparsamen Schauspielstils dem absurden Theater den Weg gebahnt. Gegen Ende der 1950er Jahre wurden seine Stücke jedoch auch auf den großen Bühnen gespielt. Am 31. Oktober 1959 fand am Düsseldorfer Schauspielhaus die Uraufführung von Ionescos Die Nashörner in einer Inszenierung von Karl Heinz Stroux statt. Sie wurde ein rauschender Erfolg. „Alle Potentaten des westdeutschen Theaters fanden sich bei Karl Heinz Stroux ein, um die Welturaufführung [...] zu feiern. Der Erfolg war im Voraus entschieden, doch als der Vorhang fiel, übertraf die Ekstase des Jubels jegliche Erwartung“, wie Ivan Nagel in der Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung vermeldete.22 Ob dieser Erfolg der besonderen Struktur des Stückes zu verdanken war, das eine verständliche Fabel enthielt, oder der Inszenierung, die den Spielcharakter betonte, oder ob er darauf zurückzuführen ist, dass das absurde Theater sich inzwischen soweit eingebürgert hatte, dass es sich „genießen“ ließ, ist schwer zu entscheiden. In jedem Fall traten Die Nashörner von Düsseldorf aus ihren unaufhaltsamen Siegeszug über die deutschen Bühnen an, den Friedrich Luft mit den Worten kommentierte: „Diese Parabel hat Epoche gemacht.“23 Insofern das absurde Theater aus dem Westen kam, zunächst und hauptsächlich aus Frankreich, aber auch aus England und den Vereinigten Staaten von Amerika, lässt sich seine Übernahme in das Repertoire zuerst der Zimmertheater, Studiobühne, Werkstätten etc. und dann zunehmend auch der großen Häuser als einen Trend zu einer allmählichen „Westernisierung“ des westdeutschen Theaterrepertoires interpretieren. Dies gilt auch, wenn man be21 22 23

Zitiert nach Daiber: Deutsches Theater seit 1945, a.a.O., S. 172. Ebenda, S. 178. Zitiert nach ebenda.

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rücksichtigt, dass das absurde Theater eine gesamteuropäische Erscheinung war und vor allem in Polen – im Anschluss an Witold Gombrowicz – und der Tschechoslowakei, aber auch in Russland eigene Ausprägungen gefunden hat. Zwar wurde Slawomir Mrozeks Die Polizei bereits 1959 im Kleinen Theater am Zoo in Frankfurt erstaufgeführt. Im Wesentlichen fanden die polnischen und tschechischen absurden Stücke jedoch erst in den 1960er Jahren ihren Weg auf die deutschen Bühnen und wurden eher im Zusammenhang mit dem neuen politischen Theater des Dokumentarstücks rezipiert. Die Aufnahme des absurden Theaters in den 1950er Jahren dagegen stellte einen Anschluss an neuere Entwicklungen des westlichen, vor allem des französischen Theaters dar. Ein ganz anderer Weg zur Überwindung der Krise, welche die Währungsreform den Theatern beschert hatte, wurde mit der Einrichtung von Festspielen eingeschlagen. Festspiele an sich waren nichts Neues. So eröffneten die Bayreuther Festspiele bereits im Jahre 1872. Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden zum Beispiel in Darmstadt und München Festspiele generell als Ausweg aus der Kulturkrise um 1900 als ein Heilmittel gegen den Kult des Individuums auf der einen und die Anonymität der Massen auf der anderen Seite propagiert. An verschiedenen Orten wie Darmstadt, Hellerau, München wurden entsprechende Versuche unternommen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Salzburger Festspiele inauguriert, die ähnlich wie die Bayreuther Festspiele sehr schnell ein internationales Publikum anzogen. Die Salzburger Festspiele, die sogar in den Kriegsjahren mit einem Ersatz- und Notprogramm weitergeführt wurden, „normalisierten“ sich bereits im Sommer 1946 mit Wiederaufführungen von Reinhardts Inszenierungen des Jedermann und des Diener zweier Herren von Goldoni. In der Bundesrepublik Deutschland wurden die Münchner und die Wiesbadener Festspiele 1950 wieder eröffnet. Ein Jahr später folgten die Bayreuther Festspiele. Die 1950er Jahre standen ganz und gar im Zeichen der Wiedereröffnungen und Neugründungen von Theaterfestspielen. Bereits 1949 wurden die Ruhrfestspiele in Recklinghausen begründet. Mit ihnen hatte es eine besondere Bewandtnis. Im katastrophal kalten Winter 1946/47 gelang es einigen Hamburger Theaterleuten durch Zufall und persönliche Beziehungen, die Zeche „König Ludwig 4/5“ zu einem Schwarzmarktgeschäft zu überreden. Ohne dass die britische Militärregierung Wind davon bekam, lieferte die Zeche aus ihren stillen Reserven den Hamburger Theatern einige

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Lastwagen voll Kohle. Im Sommer 1947 revanchierten sich das Deutsche Schauspielhaus, das Thalia Theater und die Staatsoper mit einem vom Hamburger Senat finanzierten Gastspiel. Im Anschluss an das von den Recklingshausenern gefeierte Gastspiel überzeugte Hamburgs Bürgermeister Brauer den Deutschen Gewerkschaftsbund und die Stadt Recklinghausen, dass es für alle Beteiligten eine gute Sache wäre, die Gastspiele fortzusetzen. Im Sommer 1948 wurde die „Gesellschaft zur Durchführung der Ruhrfestspiele“ gegründet. Im folgenden Jahr eröffnet sie mit einer ersten eigenen Inszenierung von Goethes Faust mit Bernhard Minetti als Faust, Elfriede Kuzmany als Gretchen und Wilfried Seyerth als Mephisto. Zur Eröffnung erschien der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen mit seinem Kabinett; seit 1951 sogar der jeweilige Bundespräsident. In diesem Jahr zogen die Festspiele bereits 100.000 Besucher an. Die Gewerkschaft vertrieb bzw. verteilte einen großen Anteil der Karten: 1951 waren es 59,7%, 1954 gar 76% (von 133.000 Besuchern). Sie übernahm auch 70% der Karten. Das heißt, die Festspiele stellten in gewisser Weise eine Ausnahme dar. Wie aus der Festschrift, die zum zehnjährigen Bestehen der Ruhrfestspiele 1959 herausgegeben wurde und ihren Wert „für die Bildung eines staatsbürgerlichen Bewusstseins“ hervorhob, stand bei diesen Festspielen die Idee im Vordergrund, die von Klassengesellschaft und Kapitalismus geschaffenen Gegensätze, wenn nicht aufzuheben, so doch zu versöhnen. So hieß es in der Festschrift: „Solche Gegensätze überwindende, von Toleranz getragene Zusammenführung der Geister im Rahmen von Kunst und Kultur arbeitet [...] gewiß und entschieden mit an der Entstehung und Festigung der Linien eines neuen deutschen Gesellschaftsbildes.“24 Die meisten Festspiele, die in den frühen 1950er Jahren gegründet wurden, verfolgten sehr viel weniger hehre Ziele. Dies gilt vor allem für Festspiele, die in der Tat als Ausweg aus der Finanzkrise konzipiert waren, wie die 1950 gegründeten Koblenzer Festspiele. Es ging um die Kommerzialisierung von Theater – und zwar in möglichst großem Stil. Die von den Koblenzer Stadtverordneten eingeforderte Wirtschaftlichkeit von Theater ließ sich nur mit theatralen Veranstaltungen nachweisen, die ein großes, am besten ein Massen-Publikum anzuziehen vermochten. Und da es in Koblenz auch bei günstigsten Berechnungen für das Theater keine Massen 24

Zitiert nach ebenda, S. 152.

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zu mobilisieren gab, machte sich der Intendant über einen Veranstaltungstyp Gedanken, der Massen nach Koblenz zu bringen imstande sein würde. Er verfiel auf die Idee von Sommer-Festspielen, die darüber hinaus den Vorteil haben würden, die im Sommer 1950 drohende dreimonatige Arbeitslosigkeit vom Ensemble abzuwenden. Die „Landesbühne Rheinland-Pfalz“ hatte bereits im Sommer 1949 Freilichtaufführungen erprobt: In den Rheinanlagen neben dem neuen Stammhaus (einem ehemaligen Bootshaus) zeigte sie in der Inszenierung von Niedecken-Gebhardt Goethes Iphigenie und Shakespeares Sommernachtstraum (mit der Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy, gespielt von der „Rheinischen Philharmonie“/Koblenz). 1950 veranstaltete sie hier Karl-May-Spiele mit Old Shatterhand und in den folgenden Jahren Sommerfestspiele auf der Burg in Altwied sowie auf den Burgen in Kirn, Dillenburg, Limburg, Diez und Andernach, u.a. mit einer Aufführung des Jedermann. Man dachte zunächst an „Festspiele auf dem Ehrenbreitstein“, wo vor Gemäuer und Holunderbüschen Fidelio und das Käthchen von Heilbronn zur Aufführung gebracht werden sollten. „Wie aber sollte kulturinteressiertes und erwünschtermaßen zahlreiches Publikum auf den nur umständlich erreichbaren Felsen kommen?“25 Das Vorbild der Bregenzer Operetten-Festspiele auf dem Bodensee gab dann den Ausschlag. Man entschied sich für Spiele auf dem Wasser und wählte als Spielort die hafenartige Rheinlache zwischen der südlichen Vorstadt und der ehemaligen Insel Oberwerth aus, deren Ufer mit hohen Pappeln und Ulmen bestanden war und eine romantische Hintergrundkulisse abzugeben versprach. Die Koblenzer Stadtverwaltung genehmigte das Projekt nur zögernd. Sie ließ sich zunächst lediglich auf einen einmaligen Versuch ein, der außerdem unter der Verantwortung des Fremdenverkehrsamtes durchgeführt werden sollte. Dieser „einmalige Versuch“ verlief so erfolgreich, dass er nicht nur im Sommer 1950 verlängert werden musste, sondern auch dazu führte, dass das Fremdenverkehrsamt künftig die Sommerspielzeit fest einplante und die Operetten-Festspiele seinem eigenen Ressort zuschlug. Die jährlich erwirtschafteten Überschüsse kamen so hauptsächlich dem Verkehrsamt zugute. 25

Fritz Bockius: 1787-1987. 200 Jahre Theater Koblenz, Koblenz 1987, S. 203.

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Die Festspiele waren so erfolgreich, dass sie bis weit in die sechziger Jahre jährlich abgehalten wurden. Im Sommer 1950 wurde noch auf einer ausgeliehenen Autofähre gespielt; im nächsten Sommer wurde dann eine 30 m breite schwimmende Drehbühne verwendet, „die völlig frei und unverankert innerhalb von im Kreis eingerammten Stahlpfählen durch reine Menschenkraft bewegt werden konnte“.26 Die Zuschauertribüne wies ab 1953 4.500 Plätze auf, vermochte jedoch durchaus auch 5.000 Zuschauer zu fassen. 1950 wurde Eine Nacht in Venedig von Johann Strauß gegeben, 1951 Indigo, Märchen aus 1000 und einer Nacht – eine Ausstattungs-Inszenierung auf der Grundlage der ersten Johann StraußOperette mit allen möglichen Einlagen aus „exotischen“ Musiktheaterstücken (wie Geisha, Der Barbier von Bagdad, Die Afrikanerin, Fürst Igor) –, 1952 Benatzkys Im weißen Rössl, 1953 Florentinische Nächte nach Franz von Suppés Boccaccio, 1954 Jessel/Neidhardts Schwarzwaldmädel und 1955 noch einmal die Nacht in Venedig. Die Sommerfestspiele 1951 wurden bereits von circa 100.000 Zuschauern besucht; 1952 nahmen mehr als 200.000 an ihnen teil. Im Sommer 1953 sanken wegen des schlechten Wetters die Besucherzahlen auf circa 150.000, stiegen im folgenden Jahr jedoch wieder auf das Niveau von 1952 an. Es war also in der Tat gelungen, mit den Operetten-Festspielen ein Massenpublikum nach Koblenz zu bringen. Worauf ist der Erfolg zurückzuführen? Einer der Gründe liegt zweifellos in der zwei Jahre nach der Währungsreform einsetzenden Reisewelle. Ein erster, wenn auch meist noch bescheidener Wohlstand erlaubte es den Deutschen, wieder an Urlaubsreisen zu denken. Der Fremdenverkehr fing an, sich zu einem bedeutsamen wirtschaftlichen Faktor zu entwickeln. Die Städte und Gemeinden begannen, um Touristen zu werben und zu wetteifern. In dieser Situation erwiesen sich die Sommerfestspiele als eine touristische Attraktion ersten Ranges. Sie wurden als kulturelle Ereignisse begangen, in deren Mittelpunkt erklärtermaßen die Aufführungen standen. Der Reiz bestand gerade darin, an diesem kulturellen Ereignis teilzunehmen, dabei zu sein. Während die meisten der bekannten Festspiele – wie die Wiesbadener, Münchener, Bayreuther – ihre Karten zu unerschwinglich hohen Preisen verkauften, waren die Eintrittspreise zu den Koblenzer Festspielen durchaus zivil: 1955 26

Ebenda, S. 207.

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kostete die billigste Karte für die Operettenaufführung DM 2,- und die teuerste DM 6,-. Koblenz bot entsprechend auch für Leute mit kleinerem Einkommen die Gelegenheit, während ihres Urlaubs an einem kulturellen Ereignis teilzunehmen oder eigens zu diesem Ereignis anzureisen. Es machte sozusagen Festspiele für jedermann möglich. Das Fremdenverkehrsamt begriff das allmählich: 1952 enthielt das Programmheft außer dem Geleitwort des Bürgermeisters, des Finanz- und Verkehrsdezernenten sowie des GeneralIntendanten eine ausführliche Inhaltsangabe der Operette. Ab 1953 wurde die Inhaltsangabe gar in vier Sprachen geliefert – außer in Deutsch in Englisch, Französisch und Holländisch. Die Koblenzer Festspiele wurden international (1952 kamen 40% der Besucher aus dem Ausland). Und so enthielt der Prospekt für 1954 nicht nur einen Hinweis auf die Operette Schwarzwaldmädel (in vier Sprachen), sondern auch Pressestimmen zu den bisherigen Festspielen von der Deutschen Diplomatischen Mission Washington DC („Im Heimatland von Bach, Beethoven und Brahms tönt Musik aus allen Straßen und Winkeln. Es gibt eine lange Reihe musikalischer Festspiele, angefangen bei den schon klassischen Aufführungen der Wagner-Opern von Bayreuth, bis zu den neu eingeführten Operettenfestspielen auf einer schwimmenden Bühne“) über die Kölner Rundschau („Wer einmal in lauer Sommernacht die Operettenfestspiele auf dem Rhein in Koblenz erlebt hat, den wird es immer wieder dorthin ziehen“) bis zum Kreuznacher Öffentlichen Anzeiger („Von nah und fern strömten die Menschen mit Sonderzügen und Omnibussen, mit Auto und Motorrad, mit Schiffen und zu Fuß nach Koblenz, um dieses einmalige Erlebnis – Theater auf dem Rhein – anzusehen“)27 sowie Hinweise auf Preise, Vorverkauf und Quartiervermittlung. Ein weiterer Faktor lag in den eigenartigen landschaftlichen Gegebenheiten und ihrer besonderen Nutzung durch das Theater. Die künstliche, auf der schwimmenden Bühne aufgebaute Szenerie war eingebettet in eine natürliche Szenerie, die konstant mitspielte. Die Operetten waren so ausgesucht, dass das Wasser und die es umgebende Landschaft jeweils wichtige Funktionen übernehmen konnten. Dadurch ergab sich ein besonderer Reiz: In die natürlich gegebene und in diesem Sinne „wirkliche“ Landschaft wurde entweder eine „unwirkliche“ Welt – auf der schwimmenden Bühne – hineingebaut, in der ein ganz und gar „unwirkliches“, „märchenhaf27

Öffentlicher Anzeiger, 02. Juli 1950.

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tes“ Spiel sich zutrug (wie in Eine Nacht in Venedig, Märchen aus 1001 Nacht, Florentinische Nächte), sodass die Zuschauer daran zweifeln konnten, ob sie sich in Koblenz befanden oder nicht doch in Venedig oder Florenz oder gar im Orient. Oder aber die natürliche Rheinlandschaft wurde mit bekannten Haustypen – wie einem Tiroler Haus oder einem Schwarzwaldhaus (im Weißen Rössl bzw. im Schwarzwaldmädel) – bebaut, sodass die fiktive Operettenhandlung sich in „der Wirklichkeit“ zuzutragen schien. In jedem Fall verwischten sich die Grenzen zwischen natürlicher Landschaft und Bühnenwelt, zwischen „Wirklichkeit“ und fiktiver Welt. Eben diese Wirkung wird immer wieder von den Kritikern herausgestrichen. Anlässlich der ersten Nacht in Venedig schreibt die Rhein-Zeitung: Man tritt ans weit vorab gesperrte Ufer, mehr freilich auf Verzauberung gestimmt als auf Verwünschung in diesem Märchenland der Melodien. Und da, mitten in der Wasser Flut steht ein Palast mit Brücken und Pavillons, an der breiten Treppe zum Wasser hin die bunten Pfähle, an denen die Gondeln anlegen werden! Dämmerung muß sich tiefblau in die Bucht senken, bis das Spiel beginnen kann.28

Und nach der Premiere des Weißen Rössl berichtet dieselbe Zeitung: Im dritten Jahr ersteht in diesen Sommermonaten allabendlich aus der Dunkelheit der Rheinlandschaft eine Operetteninsel, märchenhaft und unwirklich in ihrem von den dunklen Wellen zurückgeworfenen Lichterglanz [...]. In diesem Jahr ist der Ort der Handlung zwar weniger exotisch, aber nicht weniger reizvoll. ‚Das weiße Rössl‘ vom Wolfgangsee auf der schwimmenden Drehbühne der Rheinlache weckt ebenso starke Illusionen wie die Schlösser und Wasserburgen seiner musikalischen Vorgänger. Ja, es ist prächtigste Illusionskunst.29

Was die Zuschauer bei den Koblenzer Sommerfestspielen suchten – und offensichtlich auch fanden –, war, so lässt sich aus den Kritiken schließen, das Erlebnis einer Traum- und Scheinwelt, die sich grundlegend von ihrer eigenen realen Alltagswirklichkeit unterschied und dabei doch völlig real erschien, die perfekte Illusion eines Wirklichkeit gewordenen Märchens. Und der Zuschauer, der sich in einer natürlichen Landschaft wusste, sich 28 29

Rhein-Zeitung, 04. Juli 1950. Ebenda, 30. Juni 1952.

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„wirklichen“ Menschen gegenüber sah, wurde am Ende selbst Teil dieser Märchenwelt, wenn er im Anschluss an die Aufführung des Sommernachtstraums sich selbst ganz real auf dem Wasser bewegte, auf dem er eben noch die dramatischen Figuren hatte agieren sehen. Das Theater wurde hier zur traumhaften Gegenwelt, die wenigstens für kurze Zeit eine Abkehr von der rauen Wirklichkeit des Alltags und der Arbeitswelt im Wirtschaftswunderland gestattete, ein schöner Tagtraum für jedermann, der sich die Fahrt nach Koblenz und die paar Mark für eine Eintrittskarte leisten konnte. Diese Qualität der Operetten-Festspiele wollte der Rezensent der Rhein-Post nicht als „Volksbelustigung und Massenunterhaltung“ bewertet wissen und auch nicht lediglich als „Überbrückung einer arbeitslosen Zeit“. Für ihn waren sie vielmehr „tragende Substanz unseres kulturellen Lebens“ (29. Juni 1953). Die kulturellen Bedürfnisse, die das Theater hier befriedigen sollte, hatten mit denen der ersten Nachkriegsjahre kaum mehr etwas gemein. Was mit der Währungsreform begann, hatte bereits Mitte der 1950er Jahre zu einem einschneidenden Mentalitätswandel geführt. III. Klassiker-Inszenierungen in neuen/alten Häusern Anfang der 1950er Jahre begann überall in der Bundesrepublik die allmähliche Rückkehr der Theater aus ihren provisorischen Spielstätten in die wieder aufgebauten und zum Teil – wie in Bochum (1953) oder Münster (1956) – neu errichteten Theaterhäuser. Zwar stellte man sich durchaus auch die kritische Frage, ob „der Zwang der Gewohnheit oder ein frisches Bedürfnis nach Kunst [...], die Suche nach einem sinnvollen Erleben oder der Wunsch nach gesellschaftlicher Repräsentation maßgebend“30 sei. An diese Rückkehr knüpften sich jedoch in der Regel hochgespannte Erwartungen. Denn die nach dem neuesten Stand der Technik ausgerüsteten, perfekt ausgestatteten Häuser ließen selbst hochfliegende und phantastische Pläne der Theatermacher prinzipiell realisierbar erscheinen. Eine neue Ära der deutschen Theatergeschichte sollte beginnen. Sie nahm allerdings erst in den sechziger Jahren ihren Anfang und ging häufig mit einem Auszug aus eben diesen in den 1950er und 1960er Jahren wieder aufgebauten bzw. neu errichteten Thea-

30

Das Schönste (1957), S. 11.

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tergebäuden einher. Die in sie gesetzten Erwartungen hatten sich offenbar nicht erfüllt. Dies lässt sich keineswegs darauf zurückführen, dass bei den Wiederaufbauten in den 1950er Jahren nur denkmalspflegerisch oder restaurativ vorgegangen wurde. Vielmehr wurden gerade im Inneren der Theater bedeutende Änderungen vorgenommen. Ein gutes Beispiel dafür stellt das Mainzer Stadttheater dar, das zu den ersten wieder aufgebauten Theatern gehörte. Der Intendant des Städtischen Theaters, Hermann Dollinger, stellte 1949 im Hinblick auf die immer wieder diskutierte Möglichkeit eines baldigen Aufbaus grundsätzliche Überlegungen zum Theaterbau in der Gegenwart an. Er warnte nachdrücklich vor einer gedankenlosen Rückkehr zu den alten Theatergebäuden. Denn er bezweifelte ernsthaft, ob die Voraussetzungen, die durch pompöse und auf filmähnliche Wirkungen bedachte Opernaufführungen sowohl hinsichtlich der Abmessungen und Einrichtungen der Bühne wie auch der Größe des Zuschauerraums gefordert werden – die aber andererseits erfahrungsgemäß ein schweres Handicap für die Pflege jeder intimeren dramatischen Gattung, vor allem des Schauspiels sind –, das richtige Maß für einen zeit- und zukunftsgemäßen Theaterbau in einer mittleren deutschen Stadt sind.31

In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass „die Oper die bei weitem zuschuß-bedürftigste aller dramatisch-theatralischen Gattungen und daher seit ihren Anfängen recht eigentlich die Kunstform für Repräsentationsbedürfnis und Repräsentationsvermögen ist“. Andererseits gab er zu bedenken, dass das „gewohnte Logenhaus“ nicht mehr den soziologischen Strukturveränderungen unseres Jahrzehnts Rechnung trage. Er artikulierte entsprechend seine eindeutige Ablehnung gegenüber jedweden Plänen, „jetzt noch immer als den Prototyp des ‚Stadttheaters‘ einen Bau ‚für Oper und Schauspiel‘ von 1.000 bis 1.300 Plätzen an- und vorzusehen.“32 Der Stadtrat dagegen favorisierte in seiner Mehrheit ein repräsentatives Stadttheater, das sowohl Oper als auch Schauspiel beherbergen sollte. Die Erfahrungen des Intendanten mit dem Thea31 32

Hermann Dollinger: „Mehr Überlegung bei Bühnenbauten!“ In: Kulturarbeit. Monatsschrift für Kultur und Heimatpflege, Nr. 8 (1949), S. 173175, hier S. 173f. Ebenda, S. 174.

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ter am Pulverturm machte man sich nicht zu Nutze. 1950 beschloss der Stadtrat den Wiederaufbau des Theaters am Gutenbergplatz und beauftragte den Stadtbaurat Richard Jörg mit der Planung und Durchführung. Zwar erklärte Jörg sich bereit, in seinem Wiederaufbau möglichst viel von den Mollerschen Raumgedanken zurück zu gewinnen, die der 1910 von Adolf Gelius durchgeführte Umbau bis zur Unkenntlichkeit verwischt hatte. Völlig neu konzipierte Jörg jedoch das Innere des Theaters. Er ging davon aus, dass wir heute „wieder mehr gezwungen“ sind, „das Spiel dem Zuschauer so nah und unmittelbar wie möglich zu bringen“. Entsprechend vermied er die Raumkonzeption des Guckkastens: Unsere neue Bühne tritt mit der Anlage der Vorbühne aus dem Guckkasten heraus, und das Spiel kann sich sowohl im Zuschauerraum selbst, vor einer geschlossenen Öffnung, als auch im Rahmen dieser ohne Schwierigkeiten entfalten. Eine architektonische Trennung dieser beiden Bühnenflächen vor und hinter der Öffnung ist mit allen Mitteln vermieden. Das frühere Proszenium ist verschwunden und die Wände des Zuschauerraums sind mit der Öffnung der Bühne so zusammengefügt, daß bei geschlossenem Vorhang die Einheit des Raums verbleibt.33

Die zweite wichtige Neuerung betraf den Zuschauerraum, der jetzt nur noch 960 Sitze umfasste. Jörg ließ den bisherigen IV. Rang wegfallen und zog den II. und III. Rang zusammen. Er erläutert diese Veränderungen folgendermaßen: Der Zuschauer selbst ist in seinem Blick frei. Der ehemalige säulengetragene Kuppelbau des Mollerschen Theaters ist ein Amphitheater geworden. Es ist kein Zufall, daß das Steigungsverhältnis des II. Ranges genau dem des antiken Theaters entspricht. Ich bekenne hierzu noch, daß diese klare Disposition des Raumes bewußt durch eine höchste Einfachheit gestaltet wurde, um allein dem Spiel selbst zu dienen.34

Bei seinem Wiederaufbau hatte Jörg also offenbar – wenn auch in einem stark vergrößerten Maßstab – Prinzipien zu Grunde gelegt, wie sie für die vom Theater am Pulverturm entwickelte Ästhetik Gültigkeit besaßen, die vor allem auf eine enge Beziehung, eine Wechselwirkung zwischen Schauspielern und Zuschauern abzielte. 33 34

Das Programm Jg. 1 (1951/52), S. 7f. Ebenda.

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Umso mehr mag der Zusammenhang überraschen, in den einerseits die Geleitworte des Oberbürgermeisters und des neuen Intendanten Karl Maria Zwißler (1950-1955) und andererseits der im „Programm“ abgedruckte Leitartikel des Kritikers Max Geisenheyer, „Ein neues Theater“, den Wiederaufbau des Theaters stellten. In der Vorschau auf die erste Spielzeit im neuen Haus schließt der Oberbürgermeister sein Geleitwort mit dem Satz: „Möge es [das neue Theater] geweiht sein und bleiben dem Schönen, Wahren, Guten!“35 Und der Intendant schreibt: Liebe Mainzer! Liebe Rheinhessen! Ein zweites Mal habt Ihr mich zum Leiter Eures Theaters gewählt. Ich bin glücklich über Euer Vertrauen. Es zeigt mir, daß ich den rechten Weg gehe. Ich bin aus der gleichen Landschaft wie Ihr, ich spreche Eure Sprache. So wird die Haltung unseres Theaters, unbeirrt von Sensationen, dem Menschen unserer Landschaft, unserer Art entsprechen, unser Theater nur das Wahre, Schöne, Gute zu Wort kommen lassen, das Wort unseres Landsmannes Goethe Geltung haben: Ältestes bewahrt mit Treue, aufgeschlossen für das Neue.36

Zunächst lässt die zweimalige Berufung auf das „Schöne, Wahre, Gute“ beziehungsweise das „Wahre, Schöne, Gute“ stutzen. Diese Formel pflegte man im Kaiserreich im Fries der Musentempel anzubringen, in denen (Theater-)Kunst als eine Art Ersatzreligion zelebriert wurde. Der betonte Rückgriff auf diese Formel scheint auf eine entsprechende neue/alte Funktionsbestimmung für das Theater zu deuten, die das Theater als Stätte der Bildung und Erbauung begreift, fernab von den Niederungen des alltäglichen Lebens. In dieselbe Richtung weisen auch Formulierungen in Geisenheyers kurzem Aufsatz. Hier spricht er dem Theater am Gutenbergplatz „jenseits aller täglichen Sorgen und Bedürfnisse seine Bedeutung“ zu, nennt es eine „feierliche“ und eine festliche Stätte für Jeden [...], der neben den Bedrängnissen der Tage einen Ausgleich sucht, damit er empfinde, er sei nicht nur ein Objekt der kalten Nützlichkeit, sondern habe auch eine Forderung an jene andere Seite des Daseins, die ihn den schönen Rausch des Lebens empfinden läßt, im ernsten und heiteren Wort, in der großen Musik und der ihn leicht davontragenden Tonkunst. Er gibt an der Garderobe nicht nur seinen Mantel ab, sondern so zu sagen sich selber, denn wenn er den festlichen Raum betritt 35 36

Theater und Konzerte im neuen Haus (1951/52). Ebenda.

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und Platz genommen hat, ist er einbeschlossen in eine Gemeinschaft, die von der Bühne her ihre Bedeutung empfängt.

Derartige Formulierungen machen deutlich, warum die Theaterkultur der 1950er Jahre häufig als Restauration derjenigen des Kaiserreiches begriffen wurde – eine Theaterkultur, der die Neoavantgarde der 1960er Jahre ebenso den Garaus machen sollte wie zu Beginn des Jahrhunderts die historischen Avantgardebewegungen der Kultur des Bildungsbürgertums. Aber diese Oberflächenähnlichkeit täuscht. Die Worte und Sprachgesten des Kaiserreichs werden hier nur als Masken ausgeliehen, mit denen man versucht, seine eigenen neuen, noch nicht bündig artikulierten Erfahrungen auszudrücken, die eine veränderte Arbeits- und Lebenswelt verursacht hatte. Gegen sie, die sich „Tag für Tag im gleichen Trott abhaspelt“, gegen die mit ihr einhergehende Anonymisierung ebenso wie gegen die „mechanischen Künste des Films“, wird die Welt des Theaters als Gegenwelt beschworen: denn da oben hinter dem Souffleurkasten ist das Leben gleichnishaft zu sehen, in Menschen, die keine gespenstischen Abbilder der Kamera sind, sondern in Maske und Kostüm unmittelbar Spiegelerscheinungen darstellen. Spiegelerscheinungen der Theaterbesucher, die da lauschen und schauen, von der ersten Parkettreihe bis hoch hinauf in die Galerie. Sie alle werden hineingerissen in diese zweite Welt und empfinden, daß das was sich da oben begibt, ihr eignes Leben erweitert, erhöht, durchleuchtet.37

Der drohenden Anonymisierung in Lebens- und Arbeitswelt tritt im Theater die Gemeinschaft von Zuschauern und Schauspielern entgegen, den zweidimensionalen Abbildungen menschlicher Körper auf der Leinwand – und künftig auf der Mattscheibe – die tatsächliche physische Präsenz der Schauspieler auf der Bühne, der scheinbaren Bedeutungslosigkeit des eigenen, auf „kalte Nützlichkeit“ und der Technik angepasstes Funktionieren ausgerichteten, immer gleichen Lebens „bedeutende Schicksale“. Was in den Geleitworten von Oberbürgermeister und Intendant sowie in einigen Formulierungen des Kritikers zunächst wie ein Bekenntnis zur Restauration des bürgerlichen Bildungs- und Erbauungstheaters des ausgehenden 19. Jahrhunderts anmuten mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen – zumindest was den Kritiker betrifft – als 37

Ebenda, S. 7.

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ein tastender Versuch, die Funktion des Theaters in einer sich wandelnden Welt neu zu bestimmen. In diesem Zusammenhang kam den Aufführungen von Klassikern eine besondere Bedeutung zu. Denn die Klassiker, die Flagschiffe des Bildungstheaters im Kaiserreich, standen für Kontinuität, erlaubten an Traditionen jenseits der zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reiches“ anzuknüpfen. Zugleich eröffneten sie Möglichkeiten, durch immer neue Akzentsetzungen, Bedeutungsverschiebungen oder auch ganz neue Interpretationen auf die gegenwärtige, die aktuelle Situation zu reagieren, im historischen Gewand die eigenen Probleme auszuagieren. Dies hatte sich bereits nach der Währungsreform abgezeichnet, unter anderem auch in den Inszenierungen des Mainzer Theaters am Pulverturm. An den Klassiker-Inszenierungen, die hier in den Jahren 1948/1949 herausgebracht wurden, lassen sich drei Modelle unterscheiden, die in unterschiedlichen Variationen überall auf den Bühnen der Bundesrepublik in den 1950er Jahren zu finden waren. Im ersten Modell werden die Klassiker als ein der Zeit enthobenes, quasi mythisches Exempel für archetypische menschliche Konstellationen inszeniert, deren Allgemeingültigkeit durch eine abstrakt gehaltene Bühne und „zeitlose“ Kostüme oder auch Gegenwartskleidung, die den Bezug zum Heute herstellt, sinnfällig gemacht und hervorgehoben wurde. Dies Modell scheint Eberhard Müller-Elmaus Inszenierung der Troerinnen verwirklicht zu haben. Über sie schreibt der Kritiker der Allgemeinen Zeitung: In dieser Hebuka sammelt sich, wie in einem Brennglas, alles Leid der Mütter. Sie zieht alles Interesse des Zuschauers auf sich. [...] Das Stück spielt ebenso 1948, wie es 1200 v. Chr. und um des Euripides Zeit gespielt hat. Diese Zeitlosigkeit wollte man uns zeigen. Darum durfte auch der Sprecher (Rolf Sebastian) – ein antiker Chor in Miniaturausgabe – selbst im Straßenanzug das Stück erläutern und sogar gelegentlich eingreifen. – Der Gewinn der zustimmend und respektvoll aufgenommenen Aufführung war ein doppelter. Die ungeheure Achtung vor dem Geist und Atem des gewaltigen Griechen (und auch seines Nachdichters) und eben jenes Nachdenken über das Phänomen ‚Krieg‘ und ‚Leid‘, das uns, die Vorderen und die nach uns kommenden, immer wieder bedroht.38

38

Allgemeine Zeitung, 18. März 1948.

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Dies Modell wurde bis weit in die 1950er Jahre hinein verfolgt, besonders prominent von Gustav Rudolf Sellner in Darmstadt und im Musiktheater von Wieland Wagner in Bayreuth. Das zweite Modell stellte das einzelne Individuum mit seinem je besonderen Charakter und Schicksal in den Mittelpunkt. Es wurde als dezidierte Antithese gegen die vom Faschismus propagierte und brutal durchgesetzte Auslöschung des Individuums in der Volksgemeinschaft entwickelt. Es lag offenbar auch der Hamlet-Inszenierung von Bruno Heyn zugrunde, welche „die HamletTragödie ganz stark auf die Person Hamlets“ konzentrierte: Orf Leo Betz hat uns einen neuen Hamlet gezeigt, neu eben darum, daß er selbst auf seine Weise sich mit seiner Abgründigkeit auseinandersetzte und ihn uns glaubhaft nahe brachte. [...] Er steigerte von Szene zu Szene seine Leistung zu eindringlicher und überzeugender Wirkung. Wie er im Gespräch mit Ophelia zum Beispiel den gespielten Wahnsinn zu erschütternder Echtheit verdichtete, das war groß und gekonnt. So blieb er im Mittelpunkt mit einer abgerundeten Leistung.39

Dies scheint das populärste Modell gewesen zu sein. Es ließ sich bei der Inszenierung der meisten klassischen Dramen ohne größere Schwierigkeiten realisieren. Das dritte Modell strebte nach einer dezidierten Entpolitisierung und Reprivatisierung von Klassikern, die in den 1920er und 1930er Jahren als politisch galten und entsprechend inszeniert wurden. Dies betraf insbesondere das beliebte Repertoirestück des Schillerschen Don Carlos. Leopold Jessner hatte mit seiner in die Theatergeschichte eingegangenen Inszenierung des Don Carlos im Staatstheater Berlin (1922) das Drama ausdrücklich als ein politisches Stück inszeniert. Hier lag der Akzent auf der faktischen Machtlosigkeit Philipps, der zwar wähnt, Herrscher zu sein, jedoch nur als Instrument in den Händen des totalitären Systems der Inquisition agiert. In der Schlussszene „kniete der König vorn nieder [...] und rückwärts auf erhöhtem Piedestal (hauchte) der blinde Großinquisitor auf zwei stumme Mönche gestützt (brennendes Rot düster geflankt) seine tyrannische Gesinnung wie Orakel eines Flammenreiches herüber“40. Ebenfalls als ein politisches Drama, jedoch der Zeit entsprechend mit anderer Stoßrichtung, inszenier39 40

Ebenda, 12./13. November 1949. Emil Faktor, Berliner Börsen-Courir, 14. Februar 1922.

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te Jürgen Fehling den Don Carlos 1935 im Schauspielhaus Hamburg. Er fand den aktuellen politischen Bezug im Motiv der Rebellion, des Widerstandes des Einzelnen gegen eine ihn zermalmende Staatsgewalt. Im Mittelpunkt der Inszenierung stand die Figur des Marquis Posa: Das große Freiheitsplädoyer vor dem König wird zu einer Forumsrede, deren innere Spannkraft die ganze Welt umfaßt. Werner Hinz [...] spielt die Audienzszene mit solch geistiger Besessenheit und so elementarem Feuer, daß auf dem Höhepunkt minutenlanger Beifall die Aufführung unterbricht. Dieser Posa ist kein Schönredner, sondern ein Prophet seines Glaubens.41

Der Don Carlos, den Hermann Dollinger zu Beginn des Jahres 1949 im Theater am Pulverturm herausbrachte, leistete eine radikale Reprivatisierung des Dramas. Im Mittelpunkt stand die Familientragödie, vor allem die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Wie die Kritik hervorhob, war es gerade die Reprivatisierung, die das Publikum zu bannen wusste. „Wie fremd, überholt und phrasenhaft komisch, wie im ‚elfenbeinernen Turm‘ geredet, mutet uns heute im Atomzeitalter die Forderung der Gedankenfreiheit aus dem Munde des Weltverbesserers Posa an!“ Die Neuinszenierung, der die „zahlreiche Besucherschaft [...] mit spürbarem Interesse“ folgte und „in Zwischenakten wie am Schlusse mit regem, viele Hervorrufe erzwingenden Beifall“ dankte, habe deshalb Erfolg, weil sie uns nicht so sehr das dramatische Gedicht von Schiller, sondern einen Don Carlos nach Schiller zum Ueberdenken vorsetzt. Nicht eine ‚Interpretation‘, sondern eine aus eigener geistiger Verantwortung gewagte Bühnenfassung hatte sich Dr. Dollinger zur Aufgabe gemacht. Da ist nichts mehr von Humanitätsduselei und kultivierter Erbaulichkeit für Zitatenjäger und unbeirrte Verehrer einer schon museal gewordenen ‚Klassik‘. Entschieden hat Dollinger das Stück im Ausmaß und im Gestrüpp der Intrigen und Staatsberatungen beschnitten (und dennoch kam eine Aufführungsdauer von nahezu vier Stunden zustande). Der Nimbus des politischen Trauerspiels und der Posa-Welt wurde zurückgedämmt, die Tragik der Charaktere und des Vater-Sohn-Konfliktes ist eindrucksvoll in den Vordergrund gerückt, insofern Dollinger den Hauptgestalten ein fesselndes psychologisches Relief zu geben verstand. Der Charakter des In41

Karl-Heinrich Ruppel, Kölnische Zeitung, 04. März 1935.

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fanten wurde durch nervöse und psychologische Züge differenziert, vor allem aber erschienen Charakter und Schicksal Pilipps II. durch den Ausdruck des Mißtrauens und einer erschütternden Vereinsamung vermenschlicht und intensiviert.42

Alle drei Modelle stimmten darin überein, dass sie jeglichem aktuellen politischen Bezug eine dezidierte Absage erteilten. Gerade darin ist im gesellschaftlichen Kontext ihre eminent politische Akzentuierung zu sehen. Sie entsprachen ganz und gar den Bedürfnissen des Publikums. Und so nimmt es kaum wunder, dass der Remigrant Fritz Kortner für seine Inszenierung des Don Carlos im Berliner Hebbel-Theater 1950, mit der er auf die Tradition eines Jessner und damit eines erklärtermaßen politischen Theaters der 1920er Jahre zurückgriff, ausgepfiffen und von der west- wie ostdeutschen Kritik fast einmütig zerrissen wurde. Fritz Kortner hatte [...] den Konflikt der verhärteten, der weitgehend gewissenlosen Macht gegen den humanitären Idealismus herausgestellt, den politisierenden Klerus gegen die offene Christlichkeit des Malteserritters Posa. Es sollte offenbar eine zeitgemäße Fanfare gegen jedwedes System der unverrückbaren Gewissensdiktatur werden, gleichviel, ob sie sich nun religiös oder philosophisch dialektisch gebärdet.43

Als nach Albas Worten „Unterdessen geb ich Madrid den Frieden“ an der Rampe Albas Truppen aufmarschierten und eine Salve ins Publikum feuerten, wurden „der Schrecken und der Protest im Zuschauerraum so laut, dass Rufe nach Beendigung ertönten und mehrere Frauen in heftige Zustände gerieten“44. Es war der größte Theaterskandal der Nachkriegszeit. Kortners Inszenierung stellte sich dem herrschenden Zeitgeist entgegen. Anstatt das klassische Werk zu privatisieren, aktualisierte sie sein politisches Potenzial. Schlimmer noch, sie stellte es in einen politischen Zusammenhang, den das Publikum als aktuell anzuerkennen, unter keinen Umständen bereit war. Und nicht zuletzt arbeitete sie mit Verfahren der Aktualisierung, die aus den 1920er Jahren stammten und dem Publikum fremd geworden waren. Dollingers Inszenierung dagegen präsentierte den Don Carlos so, wie das Publikum ihn sehen wollte – als eine private, als eine 42 43 44

Ebenda, 28. Januar 1949. Friedrich Luft, Die Neue Zeitung, 06. Dezember 1950. Ebenda.

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Familientragödie. Diese für die 1950er Jahre gültige Lesart wurde 1962 noch einmal von Gustaf Gründgens’ Inszenierung des Stücks am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, seiner letzten Inszenierung, aktualisiert. Hier war nun allerdings nicht mehr zu übersehen, welche politischen Züge einer derartigen Privatisierung anhafteten. Als Identifikationsfigur erschien König Philipp, den Gründgens selbst spielte. Philipp, so urteilte die Kritik, sei die „(einzige?) wahrhaft anrührende, menschlich bewegende und unausdeutbar reiche Figur des Dramas, die all seine Wahrheit in sich versammelt“45. Gründgens stellte die Identitätskrise des alten Mannes in den Mittelpunkt, die sich zuerst in der Eifersucht manifestiert. Er gab die Figur entsprechend [...] – wie realistisch ist das! – zuvörderst als eifersüchtigen, alten Mann (der, zum Beispiel, in der großen Begegnung mit Posa dessen Aufwallungen immer wieder unterbricht, indem er hartnäckig auf seine familiären Sorgen zurückkommt). Er zeigt ihn dann als einen zuinnerst Unsicheren, dessen schwankendes Gemüt – gramvoll mal, dann umschlagend in eiserne Härte – langsam in tragisch wissende Einsamkeit aufwächst in jene kalte Höhe, in der Naturen wie die seine erst zu sich selbst finden.46

Dieser Philipp „rührte“, wie der Zuschauer Fritz Kortner bissig bemerkte, „Publikum und Presse zu Tränen“47. Man weinte mit ihm und um ihn, weil er, anstatt sich am Ende seines Lebens noch einmal zu schöner Menschlichkeit aufschwingen zu dürfen, durch Posa, den „Weltfremden, Gescheiten, Sektiererhaften“48, und seinen „Verrat“ in „Kälte“ und „Einsamkeit“ zurückgestoßen wird. „Von diesem König fühlt man sich bedroht und möchte ihn doch trösten“49. Das Publikum war bereit, diesem alten Mann alle Verbrechen, die er als König begangen hatte, um der Qualen willen zu vergeben und zu vergessen, die er als Mensch litt. Diese Inszenierung, die jeden aktuellen politischen Bezug mied und von der Kritik geradezu als „Modellaufführung“ gefeiert wurde, in der „ein Werk Schillers [...] eine Wiedergeburt aus der Schauspielkunst erfahren“ (Wendt) habe, erscheint aus heutiger 45 46 47 48 49

Ernst Wendt, Deutsche Zeitung, 26. November 1962. Ebenda. Fritz Kortner: Letzten Endes, hg v. Johanna Kortner, München 1971, S. 41. Joachim Kaiser, Theater heute (1963) H. 1, S. 8-17. Siegfried Melchinger, Stuttgarter Zeitung, 22. November 1962.

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Sicht durch und durch politisch. Die Abwertung von Posas Freiheitsideen zu menschenverachtender Ideologie; der verächtlichunwillige Blick auf eine Jugend – Carlos –, die den durch harte Arbeit, eiserne Pflichterfüllung und permanente Triebunterdrückung angehäuften Besitz (Flandern) missachtet und sich den bestehenden Verhältnissen nicht anpassen kann oder will; und nicht zuletzt die Zentrierung auf die Figur des alten Vaters und Königs, der nicht nach seinen Verbrechen – das heißt dem Leid, das er anderen zugefügt hat – beurteilt werden darf, sondern nur nach dem Leid, das er selbst erlitten hat – diese Aspekte verweisen ganz unmissverständlich auf das gesellschaftliche Klima der späten 1950er Jahre zurück. Es war Gründgens gelungen, durch seine Darstellung die Figur des Philipp zu einer Art mythischen Gestalt zu verdichten, in der die Altmännergesellschaft der Bundesrepublik am Ende der Adenauer-Ära sich selbst, zu einem Kunstwerk verklärt, nur allzu gern wieder erkannte. Gründgens’ Carlos-Inszenierung markiert insofern in mehrfacher Hinsicht das Ende der 1950er Jahre. Zu Beginn der 1960er Jahre wurde mit der Entwicklung eines dokumentarischen Theaters ein neues politisches Theater ausgerufen. Es fand seine ersten Realisierungen in Erwin Piscators Inszenierungen von Hochhuths Der Stellvertreter (1963), Kipphardts In der Sache J.R. Oppenheimers (1965) und Peter Weiss’ Die Ermittlung (1965) an der Freien Volksbühne Berlin. Das Verhältnis zwischen Darstellern und Zuschauern wurde in Happenings – wie dem von Wolf Vostell zusammen mit dem Ulmer Theater im November 1964 veranstalteten Happening „In Ulm, um Ulm und um Ulm herum“ –, Aktionen – wie der FLUXUS-Veranstaltung „Actions/ AgitProp/Decollage/Happening/Events/Antiart/L’autrisme/Art total/Refluxus-Festival der neuen Kunst“, die am 20. Juli 1964 (also zum 20. Jahrestag des Attentats auf Hitler) in der Technischen Hochschule Aachen stattfand – oder auch auf der ersten Frankfurter Experimenta (Juni 1966) neu ausgehandelt. Neue Standards setzen in Frankfurt etwa Uraufführungen von Bazon Brock und Claus Peymann, wobei der erstere mit seinem Theater der Position und der letztere mit der Publikumsbeschimpfung eine Theateratmosphäre initiierten, in der einzelne Zuschauer sich zum Mitspielen animiert fühlten. Mit den Happenings und Aktionen begann auch der Auszug des Theaters aus den Theatergebäuden – Schlachthöfe, Tiefgaragen, Fabrikgebäude, Straßenbahndepots, Hörsäle, Kinos, Messehallen, Straßen und Plätze avancierten zu bevorzugten Auf-

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führungsorten. Klassiker-Inszenierungen sollten nicht mehr der Selbstvergewisserung und Identitätsfindung eines bürgerlichen Publikums dienen, sondern, als so genannte Klassiker-Zertrümmerung, wie sie zuerst Peter Zadek mit seinen Bremer Inszenierungen von Schillers Räubern (1966) und Shakespeares Maß für Maß (1967) praktizierte, seiner Irritation und tiefen Verstörung. Die in der unmittelbaren Nachkriegszeit und den 1950er Jahren überwiegend von Theaterleuten der 1930er und frühen 1940er Jahre und einem Publikum, welches wie sie Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg durchlebt hatte, mühsam errungene Normalität wurde von einer neuen Generation grundsätzlich in Frage gestellt. Die Nachkriegszeit war auf dem Theater zu Ende gegangen. Ein fundamentaler Wandel nahm seinen Anfang.

Literatur Bockius, Fritz: 1787-1987. 200 Jahre Theater Koblenz, Koblenz 1987. Daiber, Hans: Deutsches Theater seit 1945, Stuttgart 1976. Dollinger, Hans: „Mehr Überlegung bei Bühnenbauten!“ In: Kulturarbeit. Monatsschrift für Kultur und Heimatpflege, Nr. 8 (1949), S. 173-175. Hippen, Reinhard: „Wir sind so frei. Kabarett in Rheinland-Pfalz“. In: Franz-Joseph Heyen/Anton Maria Keim (Hg.), Auf der Suche nach neuer Identität. Kultur in Rheinland-Pfalz im Nachkriegsjahrzehnt, Mainz 1996, S. 185- 224. Kortner, Fritz: Letzten Endes, hg. v. Johanna Kortner, München 1971. Langhoff, Wolfgang: „Orgien des Blutes und der Triebe.“ In: Berliner Zeitung, Januar 1948. Luft, Friedrich: 25 Jahre Theater in Berlin. Premieren 1945-1970, Berlin 1972.

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DEUTSCHE LEITKULTUR MUSIK UND NEUES LEITBILD USA IN DER FRÜHEN BUNDESREPUBLIK

Albrecht Riethmüller (Berlin) Es ist ein spezielles Thema und ein Fass ohne Boden, wenn von den Deutschen und der Musikkultur die Rede ist bzw. wenn es um die Welt und die deutsche Musikkultur geht. Insbesondere gilt das in der hier behandelten zeitlichen Spanne, in der sich Amerikanistisches und Antiamerikanisches vermischen und nicht einfach zu trennen sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es wenige Musiker, die nach Deutschland remigriert sind, obwohl es nach Ostdeutschland einige mehr zog als in den Westen, wie zum Beispiel aus dem Brecht-Umkreis Hanns Eisler oder Paul Dessau, der dann auf seine späteren Tage Ruth Berghaus heiratete. Andere widerstanden den Verlockungen, nach Ostberlin bzw. in die DDR zu gehen, wie etwa Paul Hindemith, der sich ebenso wie Thomas Mann nach dem Exil in den USA in der Schweiz ansiedelte. Großer Widersacher des aus Hanau gebürtigen Hindemith und einer der Wenigen, die nach Westdeutschland zurückkehrten, war der aus Frankfurt stammende Theodor W. Adorno. 1944 überraschten er und Max Horkheimer mit der Dialektik der Aufklärung, die zwar erst 25 Jahre später voll wirksam wurde, doch in dem Kapitel über die Kulturindustrie trifft er genau den Nerv der hier zu verhandelnden Situation: die selbstverständliche Unterscheidung zwischen einem Kulturraum, in dem es authentische Kunst gibt, und einem Kulturraum, in dem es authentische Kulturindustrie gibt. Das wird übrigens damals wie heute gerne gehört und tut der Befindlichkeit Einiger wohl; die Konsequenzen daraus wie auch die eigentliche Intention Adornos werden fraglos akzeptiert. Im Folgenden wird es uns um den Zusammenprall dessen zu tun sein, was als Musikkultur hierzulande nach 1945 übrig geblieben ist und den neuen Orientierungen, die vor allem von Nordamerika ausgingen – eine brisante Mischung, die leicht und immer wieder unter den Teppich gekehrt wird. Denkt man an die Leitsterne der deutschen Musikkultur jener Zeit, etwa

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Wilhelm Furtwängler, Richard Strauss oder Herbert von Karajan, wird die Situation deutlich: Obwohl er sich gegen eine Emigration gesträubt hatte, setzte sich Furtwängler schließlich doch noch Ende 1944 in die Schweiz ab – im Gegensatz zu seinen Volksgenossen hatte er so spät noch die Möglichkeit dazu. Die Schweiz blieb auch eine beliebte Anlaufstelle für all die übrig gebliebenen Deutschen, die nach dem 8. Mai 1945 nicht mehr so deutsch sein wollten. Schon während seines Entnazifizierungsverfahrens wegen doppelter Parteimitgliedschaft baute Karajan über die Schweiz seine Kontakte nach London auf und begann mit der Planung des Imperium Karajani. Diese Konstellationen sind für die Musik besonders interessant, weil man gerade hier trotz des Zweiten Weltkriegs zweifellos davon ausging, dass die deutsche Musik die Musik schlechthin sei. „Entnazifizierung“ und re-education waren Fremdwörter und blieben es hierzulande auch. Außerdem spürte man, dass die Amerikaner, die Briten, die Franzosen, die Sowjets große Hochachtung vor der deutschen Musik hatten. Diese Faktoren begünstigten sich gegenseitig und das Dilemma schaukelte sich immer höher. Musiker oder generell Menschen, die mit Musik beschäftigt waren, verstanden eigentlich nicht, worum es dabei wirklich ging. Um es zuzuspitzen, sei folgendes Beispiel für die daraus entstehenden schiefen Dialoge erwähnt: Die im Deutschen stigmatisierte „HamburgerKultur“ Amerikas – übrigens zweifelsfrei ein deutscher Name – vergleicht man nicht etwa mit der „Bouletten-Kultur“, die deutsch ist, auch wenn sie einen französischen Namen trägt. Genau so wenig stellt man den Hot Dog der Berliner Bockwurst an die Seite. Stattdessen stehen McDonalds, Hamburgers und Hot Dogs der Musik von Bach und Beethoven gegenüber. In solch unsinnigen Vergleichen liegt die Differenz, die festsitzende Klischees weiter befördert. Setzt man sich damit auseinander und versucht man, diese Melange zu verstehen, so spürt man, dass sich – drastisch ausgedrückt – nicht mehr als Konfusion in den Köpfen befindet. In manchen Kulturdialogen, auch wissenschaftlichen, scheint dieses durchaus die Geschäftsgrundlage zu sein. I.

Typisch Bayreuth

Bei der Frage nach Kontinuität, Wandel und Normalität im Hinblick auf die Musik der Zeit zwischen 1945 und 1960 fallen einem

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sogleich die Bayreuther Festspiele ein. Dazu sollte daran erinnert werden, dass Richard Wagner – wie er es selbst beschrieb – die Festspiele in den 1870er Jahren in Anlehnung an die Turnfestspiele des Turnvaters Jahn inaugurierte. Demzufolge wollte Wagner anfänglich Volksfestspiele und keine Elitekultur, zu der sie später (vorgeblich) geworden sind, nicht im Sinne von proletarisch, wohl aber als bürgerliche Spiele, wie auch Jahn Bürger, nicht Proletarier im Sportanzug war. Wagners Festspiele waren mithin als Volksfest gedacht, als popular culture. Hintersinnige Stimmen wie die von Ernst Bloch behaupteten, Karl May und Richard Wagner seien potentiell amerikanische Kunst. Ob man dem zustimmt oder nicht, es bleibt ein möglicher Gedanke wie auch der ernsthafter durchzuführende und ebenfalls von Bloch reklamierte Aspekt, dass Wagners Musik genuin Filmmusik sei, denn ein halbes Jahrhundert nach Wagners Tod war die Saat in Hollywood aufgegangen und wurde weltweit ertragreich. Rasch nach der Gründung der Bundesrepublik wurden die Bayreuther Festspiele 1951 wieder eröffnet, und zwar durchaus in Kontinuität, aber mit einer auffälligen Diskontinuität, die an einer Person festzumachen ist, an einem Menschen, nicht an Theorien oder Inszenierungen. Diese Person war Winifred Klindworth, eine Engländerin, Schwiegertochter von Richard Wagner, in den 1930er Jahren die Witwe von Richards Sohn Siegfried Wagner, die Freundin von Richard Strauss, die sehr gute Freundin von Adolf Hitler und die Geliebte des omnipotenten Berliner Generalintendanten Heinz Tietjen, der auch in den Bayreuther Nazifestspielen Regie führte. Die Diskontinuität ergab sich daraus, dass sich Winifred Wagner in ihrer Bewunderung und Begeisterung für Hitler nach 1945 zu wenig zurücknahm, so dass sie aus dem Verkehr gezogen werden musste, bevor Bayreuth seine Tore wieder öffnen konnte. Den Wandel führten ihre beiden Söhne, Wieland und Wolfgang, herbei. Um das Familienunternehmen Bayreuth besser einzuschätzen, bedenke man, dass hier der Enkel Wolfgang Wagner, dessen Großvater Richard 1813 geboren wurde, heute immer noch den Betrieb aktiv leitet – eine fast übermenschlich anmutende Streckung der Generationen über beinahe 200 Jahre hinweg. Der Wandel wiederum vollzog sich in den 1950er Jahren mit abstrakteren Inszenierungen von Wieland Wagner, die als Kontrastprogramm zum alten Wagner-Bild gelten sollten, so dass sich traditionalistische Wagnerianer von Bayreuth abzuwenden begannen und bis heute authentischere und traditionellere Schenk-Inszenierungen etwa an der Me-

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tropolitan Opera bevorzugen. Bemerkenswert ist dabei, dass die Met noch in der Spielzeit 1944, mitten in der Endphase des Krieges und noch zu Invasionszeiten in der Normandie, Wagner-Inszenierungen auf ihrem Spielplan hatte, die vor einem mitunter jüdischen Publikum gegeben wurden. Im Gegensatz dazu hatte Stalin in seinem Einflussbereich Wagner damals unter Bann gestellt. In Israel erheben sich selbst heute breite Proteste gegen zaghaft beginnende Wagner-Aufführungen. In Bayreuth hatte man es mit komplizierten Verwerfungen zu tun, wobei der Wandel am ehesten mit Wieland Wagner beschrieben werden kann, aber die Normalität bleibt das Schwierigste von allem. Als die Zeiten für Wolfgang und Wieland noch glücklich waren, Mitte und Ende der 1930er Jahre, als man um 1940 noch vom Endsieg träumte, traf Onkel Wolf – wie Freunde ihn nennen durften – die beiden zum Gespräch im Haus Wahnfried wo man über die Theaterzeit nach dem Endsieg sinnierte und schnell zur Lösung kam, dass der eine die östliche, der andere die westliche Hemisphäre der Theaterwelt als Bühnen-Diadoch bekommen sollte. Die Frage nach Normalität impliziert, welche Art von Normalität wir uns hätten erträumen, ob wir uns den Endsieg hätten wünschen sollen. Die Fragen verdichten sich in den Jahren und Jahrzehnten danach und aus den Ideen und Ideologien Mitte des 20. Jahrhunderts werden dann die nötigen und praktischen Konsequenzen gezogen. Die Auswirkung sieht man an dem sehr geschickten Verhalten vor allem von Wieland Wagner, aber auch seinem Bruder Wolfgang. Sie versuchten das Stigma, das während des Dritten Reichs über das Unternehmen gekommen ist und auch von Mutter (und Großmutter) über die Familie gebracht worden war, so zu neutralisieren, dass der Schatten der Vergangenheit möglichst rasch verschwindet. Der Schachzug beispielsweise, die schwarze Sängerin Grace Bumbry als Venus in den frühen bundesrepublikanischen Jahren in Bayreuth anzustellen, war dabei ein kleines Steinchen in einer Reihe von geschickten Kniffen. Hinzu kommt, dass jüdische Musiker, die in Israel keine Gelegenheit bekamen, Wagner zu dirigieren, in Bayreuth vor dem Pult Schlange standen. Auffällig ist zudem, dass fast alle relevante Literatur über Wagner von jüdischen Autoren geschrieben wurde trotz der zahlreichen antisemitischen Ausfälle von Wagner und insbesondere seiner Frau Cosima.

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II. Musik und Kulturindustrie Wenn man die westdeutsche Musikkultur der frühen Bundesrepublik betrachtet, dann ist das Bayreuther Phänomen nur ein typisches Beispiel für die gesamte Musikkultur, die sich aus den verschiedensten Komponenten wie dem Opern- und Konzertbetrieb, dem Avantgardebereich und der umfänglichen Unterhaltungsmusikbranche zusammensetzt. Hinsichtlich der Amerikanisierungsdebatte spielten außerdem neue Distributionsformen der Musik durch Medien wie Radio, Film und das beginnende Fernsehen keine geringe Rolle, wie auch das Transportmittel Flugzeug, mit dem es nach dem Krieg möglich wurde, ganze Opernhäuser bzw. ihre Aufführungen samt Besetzung und Requisiten in Windeseile an einen anderen Ort zu einem Gastspiel zu bringen.1 Ein in der frühen Bundesrepublik vorherrschender Grundzug waren die Vorbehalte gegenüber einer Kultur, die man als inferior begriff. Unabhängig davon, welche Konflikte zwischen Schwarzen und Weißen in den USA selbst bestanden, fühlte man sich – keineswegs alle, wenig die Jugend, viel jedoch die bildungsbürgerliche kulturelle Elite – von den Schwarzen und ihrer Musik bedroht; schließlich hatte man in der Nazizeit gelernt, von welcher Kultur man sich bedroht fühlen sollte. Merkwürdigerweise hat sich die mitteleuropäische Musik schon in den 1920er Jahren durch die Wurlitzer-Orgel bedroht gefühlt und hat diese mit einigem Dünkel als Fall der Regina instrumentorum zum Strichmädchen angesehen. Die Musik schien speziell als kulturelles Bollwerk geeignet, denn zwar war der Krieg verloren, aber man war doch das Land von Bach und Beethoven, in dem der Holocaust ein unerklärlicher Betriebsunfall bleiben musste. Die Kultur glaubte man auf seiner Seite zu haben und wollte somit nicht belehrt werden. Aus dieser Friktion entstanden die Spannungen im Musikleben, die im Westen Deutschlands anders waren als im Osten, zwar nicht im Prinzip, aber in ihrer Artikulation. Schon der Hitler-Stalin-Pakt hatte zu einigen Verwerfungen im Bereich der Musik geführt, denn weil zuvor keine russische Note mehr in Deutschland gedruckt wurde, war mit dem Pakt plötzlich die Nachfrage nach Rimski-Korsakow und Tschaikowsky wieder vorhanden und das bisherige Gerede von 1

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat übrigens noch Mitte der 1950er Jahre den Professoren aus Kostengründen untersagt, mit dem Flugzeug in die USA zu reisen; als DFG-Reisebewilligter musste man mit dem Schiff fahren.

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slawischer „Untermenschenmusik“ wie weggeblasen, kehrte aber spätestens mit Hitlers Feldzug gegen Russland wieder. Nach 1945 musste dann das Sowjetvolk bzw. die russische Kultur in Ostdeutschland bewundert werden. Soweit es sich überblicken lässt, hat sich das Problemfeld von Kulturkritik und Kulturindustrie im Osten milder als im Westen ausgewirkt, vielleicht auch aufgrund der unterschiedlichen Klientel oder weil die Kulturbetriebe generell anders funktionierten. Allerdings war der Hass der Ostzone auf die imperialistische US-Kultur unvergleichlich stark. In jeder Zone herrschten auch kulturell eigene Freund- und Feindbilder. „Kulturindustrie“ wurde zu einem feinen Schmähwort im Westen. Ein im Englischen schon in den 1930er Jahren gängiges Wort wie „film industry“ wurde ins Deutsche als Kulturindustrie reimportiert. Bis in die 1970er Jahre hinein hatte man eine ganz klare Vorstellung von den Banausen, die der Kulturindustrie angehören und „uns Deutschen“, denen die Kunst gehört: Die einen haben eben Kunst, die anderen Kulturindustrie – das muss einfach gelernt sein, wie andere Codes auch. Man sieht dabei leicht darüber hinweg, dass die besonders erfolgreichen Anwender der Kulturindustrie in der Musik die deutschen Notenverleger des 19. Jahrhunderts waren – eine Kulturindustrie par excellence. Doch das ist dann keine Kulturindustrie, das war Kunstgeschichte, die deshalb selbstverständlich nie und nimmer ein kommerzielles Interesse gehabt haben konnte. So einfach ist die Welt an und für sich gestrickt in der Einbildung einer angeblich bloß kommerzialisierten Kultur dort und einer Kunst hier, die vom Kommerz nie angekränkelt war. Furtwängler war übrigens in den 1930er Jahren ein Großverdiener; Apologeten der musikalisch inkarnierten deutschen Leitkultur wie Adorno freilich wurden nicht müde, sich und anderen weis zu machen, dass nur die ausländische dirigierende Konkurrenz, nicht aber jemand wie Furtwängler unter kulturindustriellem Stern steht. In Deutschland werden bis heute Spitzengagen für Dirigenten bezahlt, so dass die Weltmarktpreise für Dirigenten etwas gestört sind. Die deutsche Kulturindustrie ist hoch entwickelt und durch Subventionierung staatskapitalistisch nebenbei. Nach 1945 führte diese Haltung mannigfach zu Rastrierungen, die der Positionierung der deutschen Kulturindustrie gegen Fremdkultur und kulturelle Überfremdung diente. Inzwischen mag sich das geändert haben. Umgekehrt nutzten die Besatzungsmächte ihre Einflussbereiche zur Propagierung und Implementierung ihrer Kulturindustrien in Deutschland.

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III. Weiße Weste der Musik 1944 konnte der 81-jährige, weltberühmte und erfolgsverwöhnte Richard Strauss gerade noch ein Malheur abwenden. Die bayerische Parteileitung wollte auch ihm ausgebombte Familien in sein Haus in der Zoepperitzstraße in Garmisch-Partenkirchen einquartieren. Er fand es der Inspiration eines Genies nicht förderlich, dass Obdachlose in seiner schönen Villa Unterschlupf finden sollten, und hatte dazu hin wohl auch ein wenig Angst; denn seine beiden geliebten Enkel waren wie seine Schwiegertochter jüdisch. Trotzdem hatte er in den 1930er Jahren Hitler kräftig bewundert, der dem Alter nach sein Sohn hätte sein können (der Sohn war trotz seiner jüdischen Frau den Nazis gewogen). Nun aber waren es die Tage, in denen Leni Riefenstahl in Garmisch-Partenkirchen die Außenaufnahmen der Verfilmung einer der Lieblingsopern des Führers, Tiefland von Eugene d’Albert, drehte, da der so weit gediehene Kriegsfortgang keine Aufnahmen an den originalen Stätten in Spanien mehr zuließ; die Komparsen zur Herstellung der Illusion eines spanischen Ambiente bildeten Sinti und Roma aus Internierungslagern der Nazis (ohne anschließend vor den Vernichtungslagern verschont zu sein). Kurz danach, im Frühjahr 1945, kündigte sich bei Strauss neuer Besuch an, den er dieses Mal jedoch nicht mehr abwehren konnte. Es waren Amerikaner. Einer davon war ein junger Soldat und Musiker, ungefähr 20 Jahre alt, namens John Delancy, der später Solooboist des Philadelphia Orchestra werden sollte. (Sein Sohn wiederum wurde durch die Mitwirkung an der Serie Star Trek bekannt.) Delancy wurde geschickt, um auf Strauss aufzupassen, der gelangweilt war, nicht wusste, was er mit seinem Leben noch anfangen sollte, düstere Gedanken über den Weltuntergang hatte und den Tod in Venedig sterben wollte. In jenen Tagen war Strauss nach eigenen Angaben davon überzeugt, dass der Untergang des Deutschen Reiches notwendig geworden sei, nachdem die deutsche Musik sich in Richard Wagner erfüllt habe. Er sagte zwar Richard Wagner, meinte aber wohl sich selbst. Die Tatsache, dass fast alle Opernhäuser des Landes in Schutt und Asche lagen, mag den Opernkomponisten hohen Alters zu solcher Maßlosigkeit der historischen Betrachtung gebracht haben. Immerhin schrieb er für den jungen Amerikaner Delancy ein Oboenkonzert, das rasch zu einem Repertoirestück wurde. Strauss’ zweiter Gast war ein paar Jahre älter als Delancy, ungefähr Ende 20, ein US-Offizier namens Alfred Mann, der noch nicht wissen konnte, dass er eine große

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Karriere als Händel- und Straussforscher vor sich hatte. Alfred Mann musste also an dem 81-jährigen Strauss re-education betreiben. Diese Konstellation führte zum Resultat, dass der Belehrende ein Straussianer wurde – kein außergewöhnlicher Fall in solchen Situationen. Es war keine Seltenheit, dass diese jungen Kulturoffiziere, die aus Amerika anreisten, um im Bereich der Kunst nach dem Rechten zu sehen, selbst in Deutschland gebürtig waren. Gut zehn Jahre vor seiner Begegnung mit Strauss war Alfred Mann mit seinen Eltern aus Hamburg geflohen. Diese merkwürdige Melange ist nicht zu vernachlässigen, wenn man sich überlegt, was die amerikanische von der deutschen Kultur unterscheidet und in wie weit der Atlantik Europa von seiner Kolonie drüben trennt. Die Entnazifizierungsverfahren veränderten das Musikleben in Deutschland nach 1945 weniger, als man vermuten könnte. Der Musikbonus kam vielen – selbst Karajan mit seiner doppelten Parteimitgliedschaft – zu Gute. In einer nach 1945 bald auch kommerziell nutzbar gemachten Rivalitätssituation zwischen den USA und der Bundesrepublik – man könnte sie fast Kulturkampf nennen – bestand insofern eine Schieflage, als die Siegermächte zunächst diktieren konnten, was musikalisch zu geschehen hatte (wobei die Sowjets anders als die Westmächte mit der Situation umgingen), die Unterlegenen aber von dem Bewusstsein getragen waren, die wahren Hüter der Musikkultur zu sein. Die Hürde zwischen Entnazifizierung und re-education musste genommen werden, doch diejenigen, die ihr Leben, ihren Unterhalt mit Bach und Beethoven bestritten, blieben weitestgehend unangetastet. Wozu sollte man dort entnazifizieren, wo es noch nie Nazis gab? Die Entnazifizierung fiel hier entsprechend harmlos aus und ohne sie gab es auch keine re-education. Mit anderen Worten: Außer einem gewissen lipservice, den man bezeugt hat, blieb auf dem Gebiet der klassischen bzw. der Musik als bildungsbürgerlicher Kultur ideologisch gesehen alles beim Alten. Nicht übersehen werden darf es, dass in der Zwischenkriegszeit insbesondere während der Nazi-Jahre sich das amerikanische Musikleben gründlich verändert hatte. Es erfuhr eine Erstarkung hauptsächlich durch die dortigen Spitzenorchester, in denen übrigens auch Frauen eine Anstellung fanden. Musikerinnen in Deutschland hingegen mussten darauf meist noch jahrzehntelang warten – die Wiener Philharmoniker waren bis vor kurzem ein reines Männerorchester. Tatsächlich wurden die großen Klangkörper der USA zu ernsten Konkurrenten der europäischen Orchester.

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Aber noch bis in die 1950er und 1960er Jahre hinein wurden sie in Europa weniger ernst genommen und mit Klischees überzogen, die man andernorts vielleicht antisemitisch nennen würde. „Rein perfektionistisch“, „bloß technisch versiert“, „oberflächlich“ und „virtuos“, „unmusikalisch“, „nicht tief“, „nicht innig“ konnte man in jeder Zeitungskritik lesen, wenn die New Yorker Philharmoniker oder ein anderes Orchester aus den USA nach Europa kamen. Sogar heute operieren diese Klischees, wenn die Kluft zwischen den kapitalistischen Technokraten und den wahren Musikern herauf beschworen wird, die im Wald sitzen und durch die Tiefe des Humusbodens direkt am Busen von Beethoven hängen. Dabei spielten seit den 1930er Jahren viele deutsche Emigranten in amerikanischen Orchestern und seit den 1950er Jahren manche Amerikaner in deutschen. Die Diskussion um die Konkurrenz der amerikanischen Orchester wirkte Jahrzehnte weiter. Die angesammelten Klischees, dass die Amerikaner nur perfekt und virtuos, nicht aber musikalisch seien, blieben hartnäckig und wurden der damaligen Orchesterlandschaft aufgedrückt. Etwas an ihnen war zu perfekt, so dass man sie irrationaler Weise nicht einfach als gute Orchester wahrnehmen konnte. Hinzu kam der Aspekt, dass alle großen amerikanischen Orchester von Europäern geleitet wurden bis Leonard Bernstein als erster amerikanischer Dirigent 1957 die New Yorker Philharmoniker übernahm. Bis dahin waren die Dirigenten entweder Emigranten oder Entrepreneurs, die seit den Zeiten von Anton Dvořák und Gustav Mahler nach Amerika gegangen sind, um dort Orchester aufzubauen, mit denen sie gutes Geld verdienten. Der große jüdische Dirigent Pierre Monteux zum Beispiel ging bald nach der Erstaufführung des Sacre du Printemps 1913 in Paris nach Amerika, um dort das San Francisco Symphony Orchestra aufzubauen. Anfang der 1960er Jahre ereignete sich in Frankfurt am Main etwas in der E-Musik in Deutschland damals so Auffälliges wie Unerwartetes. Im Unterschied zu den USA leistet man sich hierzulande bis heute den Luxus von Rundfunksymphonieorchestern, deren fast beamtete Mitglieder zu den Spitzenverdienern gehören, aber nicht zur internationalen Spitzengruppe in der Orchesterlandschaft. Beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt engagierte das Orchester 1961 einen schwarzen Dirigenten, Dean Dixon aus den USA, der bis zu seinem Tod 1974 Chefdirigent blieb. Zu diesem guten Willen gesellte sich der Umstand, dass der Sendesaal des Rundfunks, in dem die Konzerte stattfanden, von besonderer Pro-

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minenz war. Er wurde 1949 als Plenarsaal des Deutschen Bundestages geplant, in der Hoffnung, dass Frankfurt zur Bundeshauptstadt werden könnte. (Ob ein hochrangiges Orchester in den USA damals einen schwarzen Chefdirigenten hatte, bleibe dahingestellt.) IV. Osmotische Prozesse Rasch nach 1945 kam es unter den Vorreitern auf dem Gebiet der musikalischen Avantgarde zu einem regen transatlantischen Austausch. Bedingt durch das Abwarten der Staatsgründung hatten die Westdeutschen nach dem Krieg allerdings eine längere Anlaufzeit als etwa die Franzosen. Pierre Boulez zum Beispiel konnte sich sofort nach 1945 mit John Cage austauschen. Luciano Berio und Luigi Nono beteiligten sich wie viele ihrer Kollegen an dem transatlantischen Bestreben in den USA und Kanada. Zu Brennpunkten für Amerikaner entwickelten sich in Europa Frankreich, Italien und die Bundesrepublik. Stockhausen etwa drängte bald nach New York, während amerikanische Komponisten nach Paris, Rom, Darmstadt, Donaueschingen oder Köln gingen. Legendär wurden Cages Auftritte in der frühen Bundesrepublik. Mitunter waren sie ein Grund für den Aufbruch zu neuen Ufern die technischen Entwicklungen, die sich die neue elektronische Musik zu Nutzen machte. Weniger an den Universitäten in den USA als vielmehr in den Telekommunikationsunternehmen wie den Bell Laboratories wurden die technischen Neuerungen erforscht. Von dort kamen die Ingenieure, die sich selbstständig machten und bis heute zu den bedeutenden Komponisten elektronischer Musik gehören. Die Neugier und der personelle Austausch waren vorhanden wie auch die Mobilität. So konnte György Ligeti auf der Flucht nach dem Ungarnaufstand 1956 ins elektronische Studio nach Köln kommen und Mauricio Kagel war es durch den DAAD möglich, von Argentinien über Berlin ebenfalls nach Köln zu gelangen. Dies spielte sich allerdings nur in einem begrenzten Bereich ab, der vom Publikum relativ abgeschnitten war. Die Akzeptanz zwischen Deutschland und den USA blieb selbst in diesem Rahmen schwierig. Fußfassen im anderen Kontinent blieb beiderseits die Ausnahme. Man wollte wohl nicht so viele Hot Dogs in der Komposition hier, zu viel Sauerkraut dort. Jenseits der elektronischen Musik stellten sich der musikalischen Avantgarde sogar höhere Hindernisse in den Weg. Doch war es ei-

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ne Frage der Positionierung: Trotz des Nachholbedarfs wegen der Isolation und Selbstisolation Deutschlands während der NS-Jahre bestand im Bereich der elitären Kunstmusik nach ausländischer Musikware, gerade auch aus den USA, keine gesteigerte Nachfrage. Erstaunlicherweise aber blieb der erwünschte Erfolg in der Musik gering oder ganz aus, insbesondere was die Bemühungen der Deutschen in den USA anbelangt. Die Gründe dafür mögen vielfältig gewesen sein; antideutsches Ressentiment spielte möglicherweise eine Rolle. Man könnte es auch einfach mit Platzhirschverhalten erklären, das Eindringlinge abwehren wollte, insbesondere in einer Zeit, in der sich das Kunstleben mit all seinen art forms in den 1950er und 1960er Jahren von London, Paris und Berlin nach New York verlagert hatte. Die größte Neugier gegenseitig war nicht in der klassischen Musik zu finden, sondern in der Kommunikation im avantgardistischen Bereich. V.

Jazz, Musical und Film

Hauptsächlich in zwei Bereichen der amerikanischen Musik gab es offene Türen in der Bundesrepublik, zumal bei der jüngeren Generation: dem Jazz und dem Musical. Der Jazz, der auch während des Dritten Reichs im Untergrund weiter wirkte, kam nach dem Weltkrieg in seiner zweiten Welle explosionsartig ans Licht. Während der 1930er Jahre hatte er sich so sehr weiter entwickelt, dass er mittlerweile in viele andere Bereiche eingeflossen war, wie zum Beispiel in die Filmmusik, die mehr und mehr von einem Jazzidiom grundiert wurde. Anfang der 1950er Jahre vollzog sich ein regelrechter Paradigmenwechsel bei jungen intellektuellen Gruppen, Studenten, Juristen, Ärzten, die sich nicht mehr zusammenfanden, um Streichquartette zu spielen, sondern ihre Freizeit dem Jazz widmeten. Ohne große Diskurse über die verfehlte Politik der Jahre seit 1933 zu führen, gründeten sie unzählige Jazzensembles, die eine echte Alternative zu einer Kultur waren, die man seit dem Ersten Weltkrieg und mehr noch seit dem Holocaust kontaminiert sah. Im diesem Licht ist auch das Wirken von Joachim-Ernst Behrendt zu sehen, der durch seine Bücher und als einflussreicher Radioredakteur beim Südwestfunk in Baden-Baden zum Promoter des Jazz in der Bundesrepublik wurde. Er hat in seinen Schriften immer betont, dass sein Einsatz für den Jazz eindeutig auch vor jenem politischen Hintergrund entstanden ist.

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Im Gegensatz dazu hat die Musikgeschichte bzw. Musikwissenschaft nach 1945 extrem konservativ und traditionalistisch agiert. Das Fach Musikwissenschaft ist während der Nazizeit unverkennbar erstarkt, eine Entnazifizierung fand freilich auch hier nur höchst marginal statt. Die damaligen Musikhistoriker haben sich so gut wie nicht um Zeitgeschichte gekümmert. Für sie war fast nur die Musik bis Ende des 18. Jahrhunderts interessant. Jugendbewegt, wie die meisten Vertreter in Deutschland waren, erschien ihnen schon Mozart quasi als der erste Décadent der Musikgeschichte und danach setzte deren Verfallsgeschichte vollends ein. Diese Position findet man unter anderen bei Arnold Schering Anfang der 1930er Jahre und selbst nach 1945 hielt man hier ein Umdenken für nicht notwendig, ganz im Gegenteil: Die aktuelle und letztvergangene Musik wurde von den Musikhistorikern gar nicht wahrgenommen. So nimmt es nicht wunder, dass plötzlich Persönlichkeiten eine Rolle spielten, die mit der musikhistorischen Zunft nichts zu tun hatten, die aber kulturpolitisch von großer Bedeutung waren. So setzte sich Marcel Pravi aus Wien dafür ein, ins Deutsche übersetzte Musicals aufzuführen, um die Schatten der Vergangenheit zu bannen – die Intention war durchaus vergleichbar mit der, die Behrendt mit dem Jazz verfolgte. Im Bereich des Jazz und des Musicals findet man den politischen Akt der reeducation, im Klassikbereich (E-Musik) nicht. Die Blütezeit der großen Musicals war in den 1950er Jahren in vollem Gange und erreichte mit der Bühnenfassung von Leonard Bernsteins West Side Story 1957 sowie dem darauf folgenden Film von 1961 eine Art Höhepunkt. Mit den frischen Musicals wurde eine etwas lahm gewordene, sein überaltertes Publikum verlierende Operettenkultur abgelöst. Zwar versuchte man noch Anfang der 1950er Jahre die Operettentheater zu erhalten, doch wurden sie nach und nach scharenweise geschlossen. Das Interesse an der Operette fehlte und wurde eben durch Filme, Musikfilme, Film Musicals ersetzt, die im Kino und nun auch vermehrt am Fernseher zu sehen waren. Die Zeit der Bauten speziell für Musical-Produktionen, wie sie mittlerweile in größeren Städten zu finden sind, setzte kaum vor 1990 ein. Lief der Siegeszug der Musicals damals auch hauptsächlich über die Leinwand und den Bildschirm, so konnte man Paradestücke wie Cole Porters Kiss me, Kate dennoch an subventionierten Theatern erleben, beispielsweise am Staatstheater in Stuttgart oder an der Volksoper in Wien, wo sie, übersetzt in die Landessprache, erfolgreich aufgeführt wurden. Erfolge

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in der Kunstmusik blieben hingegen weitgehend aus. Es hat lange gedauert, bis sich die amerikanische Avantgarde in der Bundesrepublik durchsetzte; nur Charles Ives – immerhin gleichaltrig mit Arnold Schönberg, also 1874 geboren – wurde einigermaßen rasch bekannt. Jazz, Musical und in ihrem Gefolge die Filmmusik hatten es sehr viel einfacher. In der Filmmusik spielte sich etwas Eigenartiges ab. Bis zum Kriegsausbruch 1939 wurden in Deutschland noch amerikanische Filme gezeigt. Obwohl die Nazis, soweit sie es identifizieren konnten, Musik von Schwarzen und Juden verboten, war sie in den Filmen noch präsent. Denn die Filmmusik stammte zu einem noch höheren Prozentsatz von jüdischen Komponisten, als Schauspieler und Regisseure jüdisch waren. Im Nazi-Kino hatten die deutschen Volksgenossen wahrscheinlich zum letzten Mal Gelegenheit, offiziell toleriert Musik von jüdischen Komponisten zu hören, die aus dem Musikleben schon verbannt war. Auch wenn die Möglichkeit bestanden hätte, den Vorspann wegzustreichen, so wäre die Musik nach wie vor zu hören gewesen – Filmmusik von jüdischen Komponisten war sozusagen die Lücke im System. Das folgende Beispiel kann die in der frühen Bundesrepublik geführten Diskurse über Musik bezüglich Chauvinismus und Rassismus im Film erhellen. Eine DVD des Filmes Carmen Jones, den der jüdische Regisseur Otto Preminger 1954 in Hollywood gedreht hat, wurde von 20th Century Fox 2005 als Home Video veröffentlicht. Der Film basiert auf einem Broadway-Musical, das zehn Jahre zuvor mitten in Kriegszeiten entstanden ist und Bizets Carmen in das Südstaatenmilieu überträgt. Preminger hat das Musical ausschließlich mit schwarzen Darstellern verfilmt, wie es seit den ersten Tonfilmen gelegentlich gebräuchlich war (Hallelujah! von King Vidor, 1928). Das Musical besteht im Wesentlichen aus einem raffinierten musikalischen Arrangement von Stücken aus Bizets Oper bzw. ihrer Transformation in Musical-Nummern. Sowohl das Bühnenstück als auch der Film waren in ihrer Zeit sehr erfolgreich; heute ist die Carmen-Adaptation kaum mehr bekannt, es sei denn durch Premingers Filmklassiker noch etwas im Gedächtnis. Das Plättende an der besagten DVD geschieht gleich zu Beginn des Films. In der deutschen Version der Sprachauswahl gibt es einen Kommentar gleich zur ersten Einstellung, in dem es zur Verpflanzung der so berühmten Oper heißt:

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Dieser Film ist der Versuch, ein weltberühmtes Meisterwerk auf das Schicksal unserer Zeit zu übertragen. Die Darsteller sind Angehörige einer Rasse, die wegen ihrer triebhaften Urwüchsigkeit dazu berufen erscheint, dem urewigen Thema von Liebe und Eifersucht eine neue, lebendige Ausdrucksform zu geben.

Im Jahre 2005 wird ein alter Film neu aufgelegt, auf der ein für die frühe Bundesrepublik typischer Kultur-Text konserviert ist. In den anderen auf der DVD enthaltenen Sprachen fehlt dieser Text, vor allem natürlich in der englischen Originalsprache. Mit Erleichterung ist allerdings festzustellen, dass am Beginn des 21. Jahrhunderts bei der Vorführung dieses Filmausschnitts im Hörsaal vor jungen Leuten Gelächter ausbrach. 1953 dürfte niemand darüber gelacht haben, denn die Übertragung der Carmen in das andere Milieu wurde wohl als frivole und daher erklärungsbedürftige Tat erachtet. Nicht in der Wortwahl, wohl aber in den Gedanken gleicht der Kommentar dem, was Adorno in seiner Kritik am Jazz (stabil zwischen den späten 1920er Jahren und dem Aufsatz Zeitlose Mode von 1953) und über Carmen vorträgt. Adorno hat, nebenbei bemerkt, in den 1930er Jahren seinem nun am Broadway erfolgreichen Mitemigranten Kurt Weill sehr zu dessen Verdruss den Vorschlag unterbreitet, die Dreigroschenoper nur mit schwarzen Darstellern zu besetzen, so hätte sie vielleicht eher Erfolg in Amerika. Die Rede von der Triebhaftigkeit von Schwarzen und Zigeunern hatte, wie man sieht, auch in der frühen Bundesrepublik Konjunktur. Der Erfolg der Amerikaner und Sowjets in Deutschland bestand weniger in einer re-education, die rebus sic stantibus auf dem Felde der Kunstmusik kaum möglich schien, als vielmehr im Versuch einer Repertoireerweiterung, bei der zwar auch Musik der eigenen amerikanischen und russischen Kultur Berücksichtigung finden konnte, das Hauptziel aber eine Internationalisierung des durch die Nazizeit noch nationaler gewordenen musikalischen Repertoires blieb. Die Filmmusik hat sich in Deutschland schnell adaptiert, nicht nur im Hinblick auf das Jazzidiom in den 1950er Jahren. Man denke an Peter Kraus oder Peter Alexander und die Versuche, deutsche Schnulzen durch jazzige Einschläge aufzufrischen, wie überhaupt die Heimat- und Musikfilme der frühen Bundesrepublik stets wieder um den Konflikt zwischen älterer Volksmusik und neuer Unterhaltungsmusik kreisten. Bei der Diskrepanz zwischen alter und neuer Populärmusik ging es hingegen nicht um die Gegenüberstel-

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lung von Hochkultur und Unterhaltungsmusik bzw. Volksmusik. Die Musik wurde in diesen Filmen in den Generationenkonflikt zwischen Jung und Alt hinein genommen. Auch in den Filmdialogen wird wieder und wieder zur Sprache gebracht, dass die Jugend jetzt ihre eigene Musik haben möchte. Ob diese neue Musik nun amerikanisch oder „amerikanisiert“ genannt werden sollte oder nicht, oder ob es einfach nur heißere Rhythmen waren, bleibe dahin gestellt. In diese Nachkriegs-Musiksphäre, die für die Frage der Jugendkultur eine wichtige Rolle spielt, kommt es auch zu Umformungen des Bildes und des Selbstverständnisses der jungen Frau (Stichworte: „Fräulein Wunder“, Fraternisierung). Es ging nicht nur darum, dass man es auf verschiedene Weise mit den Siegern eingelassen hat. Vielmehr wird dabei deutlich, dass so manches Fräulein ohne darüber reden zu müssen, dem braunen Mief von zu Hause entkommen wollte, wohin war egal. Tanz und neue Populärmusik boten während der Besatzungszeit und in der frühen Republik für junge Leute dazu die besten Gelegenheiten. Jazz, Musicals und vor allem die Schlager- und später Rockmusik beförderten eine Anglifizierung der Musik (insbesondere durch die Texte, wo sie nicht übersetzt waren), die der in Deutschland durch die Vergangenheit kontaminierten Volkslied- und Liedsphäre zu Leibe rückten. Heute gibt es eine ganz anders gelagerte neue Welle der Verwendung von Landessprache in der Unterhaltungsmusik, die international erstmals bemerkenswert erfolgreich ist (voran der deutsche Rap). Aktuelle deutsche Schlagermusik war während der ganzen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kein Exportschlager und blieb international marginal. Hingegen waren Eindeutschungen internationaler Hits sehr verbreitet, oft war den Hörern nicht bewusst, dass es sich um Adaptationen handelte. Daneben waren angelsächsische, auch schwarze Interpreten, die auf Deutsch sangen, beliebt, beispielsweise Roberto Blanco und Bill Ramsey. Blanco scheint der Letzte zu sein, der von dieser Woge übrig geblieben und noch im deutschen Schlagergeschäft ist. Teenager in der frühen Bundesrepublik bevorzugten es, für ihre musikalischen Bedürfnisse keine heimischen Radiosender zu hören: Zum einen gab es Kanäle, die Klassik spielten und von denen gehört wurden, die die Fragen „Lieben Sie Brahms? Lieben Sie Bach?“ bejahten. Aus den anderen deutschen Stationen, die keine Elitemusik sendeten, plärrten nach wie vor „Hoch auf dem gelben Wagen“ und „Schwarzbraun ist die Haselnuss“, zusammen mit Soldatenliedern, also das gleiche Programm wie die Jahre zuvor. Es verwundert, dass

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diejenigen, die damals als junge Leute nichts mit dieser Art Volksmusik zu tun haben wollten, heute die dankbaren Abnehmer des „Musikantenstadls“ sind. Damals kamen für sie nur zwei Sender in Frage, nämlich American Forces Network (AFN), der seine Zentrale in Köln hatte, und Radio Télévision Luxembourg (RTL), der über Mittelwelle direkt aus dem Nachbarland zu empfangen war. Diese beiden Sender lagen im Streit um die Gunst des jungen Publikums, wobei AFN von Haus aus die Militärs bedienen musste und außerdem klassische Musiksendungen im Programm hatte (RTL wiederum verfügte über ein Symphonie Orchester). RTL strahlte vor allem nach Deutschland aus, war aber auch an seine luxemburger Hörerschaft gebunden. Die Teenager entschieden sich zwischen diesen beiden, um irgendwie zur Welt zu gehören, um ein wenig über den eigenen Tellerrand hinausschauen zu können. VI. Die Trapps in den USA, Elvis in der BRD 1956 kam ein Film auf die Leinwand, der zunächst bloß ein weiterer Heimatfilm zu sein schien, bei dem es sich aber bald herausstellte, dass er etwas Neues in das Genre hinein brachte. Die TrappFamilie (mit Ruth Leuwerik und Hans Holt, Regie: Wolfgang Liebeneiner) samt Folgefilm Die Trapp-Familie in Amerika (1958) wurden von jungen Leuten weniger gut angenommen als von der mittleren Generation, die zu Tränen gerührt war. Die Trapps waren eine adlige katholische Familie, die als Musikensemble auftraten und dann emigrieren musste. In der Musicalschmiede von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein wurde der Film von 1956 für den Broadway adaptiert und 1959 unter dem Titel The Sound of Music auf die Bühne gebracht. Sechs Jahre später ging aus dem Musical wiederum der gleichnamige amerikanische Filmhit hervor (mit Julie Andrews, Regie: Robert Wise). Bei dem deutschen Zweiteiler waren übrigens mit dem Regisseur Liebeneiner und dem Komponisten Franz Grothe zwei erfahrene Filmleute am Werk, die schon unter Goebbels Gelegenheit hatten, ihre Künste für die Volksgenossen unter Beweis zu stellen. Die Trapp-Familie und The Sound of Music waren vielleicht die ersten Filme, die ernste Fragen über Emigration und den Umgang mit der deutsch-österreichischen Vergangenheit verhandelten und gleichzeitig die Genres Heimatund Musikfilm bedienten. Es ist wohl kein Zufall, dass bei der Verfilmung von The Sound of Music durch Robert Wise das gleiche

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Personal beteiligt war, das kurz danach 1967 für Mel Brooks Film The Producers tätig war – jene musikalische Filmkomödie über Hitler, die Jahrzehnte später, 2001, als Broadway-Musical Furore machte. Eine Szene am Ende des Films von 1956 zeigt die Familie Trapp, wie sie unter dem Druck der Nazis aus dem Salzburger Land flieht. Angekommen auf dem anderen Kontinent, zeigt die nächste Szene die Familie zu leicht jazzigen Klängen in der Einwanderungsbehörde auf Coney Island. Unmittelbar vor der relativ harten Schnittstelle von einer Welt zur anderen wird ein Klangsymbol eingebaut in einer Instrumentation, die sehr an Mahler und Weill erinnert und die Grothe fünfzehn Jahre zuvor sicherlich nicht so gewählt hätte. Seine Version von „Muss i denn zum Städtele hinaus“ ist zu hören. Die Volkslied-Takte stehen quasi für den Abschied von der deutschen Musikkultur. In den auf 1956 folgenden Jahren gab es einen jungen amerikanischen Soldaten, der mit demselben Volkslied erfolgreich in Deutschland aufgetreten ist. Elvis Presley hat nicht nur in einem seiner Filme diese Melodie aufgegriffen und einen englischen Text darauf gesungen. Schlimmer war, dass er dieses Lied später auch auf Deutsch zum Besten gab. Für die ältere Generation war es nur schwer zu ertragen, dass ein so unschuldiges deutsches Lied wie „Muß i denn zum Städtele hinaus“ von einem Besatzungssoldaten, der zu all dem auch noch der Jugend- und Rock’n’Roll-Kultur angehörte, derartig verhunzt wurde. Für sie war Presleys Ständchen das Ende der Kultur – nicht etwa die Zeit zwischen 1933 und 1945. In jener abenteuerlich verschrobenen Zeit meinten manche, und es ging ihnen nahe, dass das Ende der deutschen Kultur mit Elvis Presleys Version eines Volksliedes gekommen war. Man stelle sich einmal eine zeitgeschichtliche Momentaufnahme mit zugleich Adenauer, Presley und Ulbricht vor. Ironischerweise zeigt das Lied eine eigenartige Ambiguität, denn es wird nicht klar, wer von wem verlassen wird bzw. wer wen oder was verlässt. Eigentlich ist es bloß ein Soldatenlied, bei dem der Mann in den Krieg zieht und seinen Schatz zu Hause lässt. In dem Film von 1956 aber bleibt undeutlich, wer der Schatz sein soll. Denn hier wird kein menschliches Wesen verlassen, sondern ein Anwesen, die Villa einer der reichsten Familien aus dem Salzburger Land, eben die der Trapps, wird als Schatz zurückgelassen. Spricht man die Zeile ein wenig anders aus, wird die Sache prekärer: „Muss i denn zum Städele hinaus“? Aus dem Städel bzw. Schtetl gab es aber nicht immer ein Entrinnen. Das Schöne an Musik ist, dass

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man an so vieles denken darf und so vieles denken kann und an manches auch immer wieder denken soll. Im Unterschied zu der nimmermüden Hypertrophierung der deutschen Kunstmusik als Musik schlechthin bestand eine reeducation im Bereich von Musik, wenn es denn eine gegeben hat, in der Anglifizierung der Populärmusik. Die traditionelle Zunft hegte tiefes Misstrauen dagegen.

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„DIE WELT SCHMEISST MIT FARBEN“ – ABSTRAKTION UND AMERIKANISIERUNG AUF DER DOCUMENTA 2 (1959)

Sabiene Autsch (Siegen/Paderborn) „Abstraktion als Weltsprache“ – Konstellationen „[...] Documenta 2, die gigantische Aussicht auf die heutige Kunst [...] Die Welt schmeißt mit Farben [...] Tausend Kunstwerke, die ‚nichts darstellen‘, ist vom Abstrakten zuviel.“1 Mit diesen polemischen Worten beginnt eine Ausstellungsrezension über die documenta 2 (1959), abgedruckt im Amsterdamer De Volkskrant vom 29. August 1959. Die Rezension bündelt zugleich all jene Aspekte anspielungsreich, die stellvertretend sind für eine Reihe von internationalen Kunstkritiken aus jener Zeit: Gigantomanie, Gegenwartskunst, Diktatur, Willkür und Konformismus des Abstrakten – dies sind nur einige Stichworte, mit denen sich die zeitgenössischen Kunstkritiker in einer nie zuvor gekannten, stark polarisierenden Weise an Konzept, Kunst und Logistik der documenta 2 nahezu „abarbeiteten“ und dadurch zugleich zwei Wesenszüge dieser Ausstellung in den Mittelpunkt rückten: Gemeint ist die zeitliche Komprimierung und damit eine Historisierung einerseits und die geografische Ausweitung, d.h. die Internationalisierung und Politisierung andererseits, durch die die documenta 2 im Wesentlichen ihr Profil erhielt. Beides kann zurückgeführt werden auf Werner Haftmann, Kunsthistoriker und Herausgeber des 1955 erschienenen Standardwerks Malerei im 20. Jahrhundert und sein Konzept für die Ausstellung, das sich im kompletten Titel widerspiegelt: „II. documenta ’59. Kunst nach 1945. Internationale Ausstellung“. Der Zeitraum war, im Vergleich zur ersten documenta vier Jahre zuvor, jetzt deutlich verkürzt, d.h. auf die Nachkriegsjahre und damit auf die Kunst der Gegenwart konzentriert. Diese umfasste jene Spielar1

documenta Archiv, d2, Mappe 23a.

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ten der so genannten Abstrakten Kunst, die sich in Auseinandersetzung mit ihren Vorläufern herausgebildet hatte und sich in Art Informel, Tachismus, Art Brut, Action Painting, Abstraktem Expressionismus usw. ausdrückte. Statt Gruppen und Tendenzen standen jetzt die Werke einzelner Künstler im Zentrum der Ausstellung, durch die der Weg „von einer das Sichtbare abbildenden zu einer das Unsichtbare sichtbar machenden Kunst“ (Kimpel) dokumentiert werden sollte. Mit der allgemeinen Bezeichnung „peinture d’action“ wird sodann deutlich, dass der Schwerpunkt dieser eng miteinander verzweigten Kunstrichtungen auf dem Prozesscharakter der künstlerischen Produktion gelegt wurde, die zugleich einen neuen Betrachter verlangte.2 Die ungewöhnlich vehemente Kritik an der documenta 2 steht im Kontext kulturkonservativer Angriffe gegen die Deformationsund Abstraktionstendenzen der Moderne, die mit Hans Sedlmayers Streitschrift Verlust der Mitte (1948) eine immer noch nachhaltige Wirkung zeitigte. Äußerungen über das „entfesselte Chaos“ der Kunst, den verlorenen Stil, die Zerspaltung der Künste oder auch Begriffe wie „Gefährdung“, „Verfall“ oder das „Gottlose“ erinnern an die negativ-polemische und polarisierende Lesart der Kunst seit der Französischen Revolution.3 Grund zur Kritik lieferte neben allgemeinen gesellschaftlichkritischen Argumenten vor allem die Grundthese, mit der Werner Haftmann das Ausstellungskonzept der documenta 2 zu legitimieren suchte und dadurch eine Reihe von Unstimmigkeiten auslöste: Versucht man in dem so verwirrend erscheinenden Panorama der zeitgenössischen Kunst die großen Gliederungen zu erkennen, so stellt man überrascht fest, dass die überreiche Fülle der Argumente, Vorschläge und Experimente, die die Entwicklung und Entstehung der modernen Kunst 2 3

Als Überblick siehe Monika Wagner (Hg.): Moderne Kunst 2. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, 2. erw. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1996, besonders S. 513. Vgl. hierzu Martina Dobbe: „Malerei im Bilderstreit. Eine Revision aus Anlass des Rubenspreis-Jubiläums“. In: Gundolf Winter/Martina Dobbe (Hg.): 10 x Malerei. Rubenspreis der Stadt Siegen in Werken der Sammlung Lambrecht-Schadeberg, Museum für Gegenwartskunst Siegen 2002, S. 1934. Zur bibliografischen Vollständigkeit: Hans Sedlmayer: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948. Siehe auch Werner Hofmann: „Zu einer Theorie der Kunstgeschichte“. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte (1951), S. 118-123.

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begleitet haben, sich wie in einem Brennspiegel zu wenigen Leitgedanken verdichtet hat. Eines ist sogleich festzustellen, dass die ganze Domäne der Auseinandersetzung mit den optischen Erscheinungsbildern der Gegenstandswelt nur noch schwache Impulse herzugeben vermag. Die Kunst ist abstrakt geworden. [...] Seit etwa 1950 hat dieser neue abstrakte Expressionismus sich mit verblüffender Schnelligkeit über die ganze Welt ausgebreitet.[...] Lagen in den Jahren, die dem Kriegsende unmittelbar folgten, noch alle bildnerischen Gedanken vom expressiven Realismus über den Surrealismus bis hin zur konkreten Kunst im Spiel, so mündeten all diese einzelnen Richtungen schließlich – und als ungefähres Stichjahr lässt sich 1950 annehmen – in der abstrakten Kunst.4

Abstraktion, so Haftmann, könne als „schrittweise Ausmerzung und Ersetzung der Wirklichkeitsbilder“ betrachtet werden. Abstraktion, so heißt es weiter, lebe aus dem Grundimpuls der Freiheit und der Liebe.5 In diesem Sinne habe sie zur Alleinherrschaft angesetzt und verwirkliche die westliche Unabhängigkeit. Sie mache außerdem eine Kommunikation über alle Kontinente hinweg möglich und beanspruche dadurch Weltgeltung. Haftmanns provozierendes Diktum von der Abstraktion als einer international verbindlich gewordenen Weltsprache repräsentierte über die Ausstellung hinaus ein Kunstprogramm, das in dieser Lesart vielfach als rigoristisch, ja „diktatorisch“, auf jeden Fall doktrinär und regressiv empfunden wurde und so gesehen im Widerspruch zu allen freiheitlich-demokratischen Äußerungen stand. Trotz eines umfassenden historischen Vorspanns konzentrierte sich die documenta 2 auf die Gegenwartskunst, womit eine Ausweitung des geografischen Radius’ korrespondierte, d.h. neben Künstlern aus Europa sollten Israel, Japan, Südamerika, Kanada und vor allem die USA in ein „freies Spiel der internationalen Kräfte“ integriert, ihre Stimmen in die „Weltsprache Abstraktion“ eingebracht werden.6 Letztlich diente die intendierte Internationalisierung aber auch der Rehabilitierung des immer noch als beschädigt 4 5 6

Werner Haftmann: „Malerei nach 1945, documenta-2-Katalog“. In: Manfred Schneckenburger: documenta. Idee und Institution. Tendenzen, Konzepte, Materialien, München 1983, S. 53. Werner Haftmann: „Vortrag anlässlich der Eröffnung der 2. documenta am 11. Juli 1959“. In: Schneckenburger: documenta, a.a.O., S. 54. Sigrid Ruby: „Have we an American Art?“ Präsentation und Rezeption amerikanischer Malerei im Westdeutschland und Westeuropa der Nachkriegszeit, Weimar 1999, hier S. 223.

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empfundenen nationalen wie künstlerischen Selbstverständnisses. Genauer: Internationalisierung sollte dazu beitragen helfen, die deutsche Kunst vom Vorwurf des Provinzialismus wie auch von der Aus- bzw. Abgrenzung vom internationalen Kunstgeschehen aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit zu befreien. In diesem Zusammenhang spielen Intentionen und Ziele der documenta (Querschnitt und Dokumentation), stärker aber noch Auswahl und Präsenz der (ungegenständlichen) Kunst und der Künstler (vorwiegend Künstler aus den USA) mit Blick auf das eindeutig eurozentrisch geprägte Konzept der Ausstellung eine sicherlich nicht unerhebliche Rolle. „Abstraktion als Weltsprache“ wurde in erster Linie durch das europäische Informel, stärker aber noch durch die amerikanischen Abstrakten Expressionisten etabliert. Dass die Kunst abstrakt geworden sei, wurde auf der einen Seite beispielhaft durch Ernst Wilhelm Nays Freiburger Bild (1956) und auf der anderen Seite durch Jackson Pollocks Number 32 im Kontext der documenta visualisiert (vgl. Abb. 1 und 2).

Abb. 1 und 2

Abstraktion und Amerikanismus stehen in dieser Begriffskonstellation synonym für Liberalisierung, Bindungslosigkeit und Subjektivismus und letztlich für einen künstlerisch adaptierten Freiheitsbegriff, der sich zur Angriffsfläche für eine über die Ausstellung hinausgehende allgemeine Politisierung geradezu anbot.7 Beispielhaft hierfür sind u.a. die Äußerungen Werner Haftmanns anlässlich der 7

Serge Guilbaut: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, Dresden 1997 [= orig. How New York stole the idea of modern art (1983)]; Gerda Breuer (Hg.): Die Zähmung der Avantgarde. Zur Rezeption der Moderne in den 50er Jahren, Frankfurt a.M. 1997.

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Eröffnung der documenta 2 am 11. Juli 1959, die im zeitgeschichtlichen Kontext, d.h. zwei Jahre nach der Formulierung der Hallstein-Doktrin und zwei Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer, so Kurt Winkler, deutlich antikommunistisch interpretierbar sind: Im Nazi-Deutschland wurde die moderne Kunst 12 Jahre lang gerade deshalb verfolgt, weil in ihr die Gegenäußerung des freien Menschen, der auf seiner Selbstverwirklichung bestand, vorlag und natürlich in Gegensatz geriet zu den Anweisungen der totalitären Massenführung. [...] Heute ist es so, dass die Zonen der menschlichen Freiheit und Unfreiheit, die die politische Welt mit ihren Drahtverhauen markiert, viel genauer bestimmt und geistig ausgelotet werden, durch die Einstellung zur Freiheit des schöpferischen Menschen, deren auffallendes Indiz die Einstellung zur modernen Kunst ist. Wo Unfreiheit herrscht, Totalitarismus in allen seinen Spielarten, da steht auch die moderne Kunst immer weiter unter Verfolgung.8

„Amerikanisierungs“-Diskurs und die auf eine formale Abstraktion verkürzte Moderne-Debatte bilden in der Geschichte der documenta feste Bestandteile, die sich als weitestgehend zäh in der Konstruktion und Legendenbildung des „deutschen Ausstellungswunders“ (Schneckenburger) gehalten haben, das bis heute nichts von seiner Ausstrahlungskraft als Kunstvermittlungsunternehmen mit allen positiven wie negativen Begleiterscheinungen eingebüßt zu haben scheint. Ein Grund für diese Resistenz kann u.a. in einer vergleichsweise dogmatischen Kunstgeschichtsschreibung gesehen werden, die stets stark personen- und institutionenorientiert argumentiert und damit der Legendenbildung Vorschub geleistet hat – dadurch aber auch innovative, d.h. intermediale und kontextuelle Perspektiven und Analysen gleichsam verzögerte. Die vielfältigen Abhandlungen über die documenta machen, wie Harald Kimpel betont, immer wieder die mit der documenta eng verbundene Parallelentwicklung von Institution und Kunstbetrieb sowie ihre vielfältigen Verflechtungen mit dem Kunsthandel und der Wirtschaft, mit kultur- und regionalpolitischen Lenkungsinteressen und individuellen Profilierungsbestrebungen deutlich. Aus diesem Grund ist für die folgende Betrachtung der documenta 2 bewusst eine stärker kunst- und medienanthropologische Perspektive eingenommen worden, die mit Begrifflichkeiten und Deutungsmustern 8

Vgl. Werner Haftmann, „Vortrag anlässlich der Eröffnung der 2. documenta am 11. Juli 1959“, a.a.O., S. 54.

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operiert, die die documenta in ihrer Zeitgebundenheit selbst hervorgebracht hat.9 So rekurriert der Satz „Die Welt schmeißt mit Farben“ auf den betont körperlichen Einsatz und das gestische Potenzial bei der Produktion zeitgenössischer Kunst aus dem Umfeld des motorisch und gestisch argumentierenden Abstrakten Expressionismus (vgl. Abb. 3). Angeführt werden können in diesem Zusammenhang jene fotografischen Aufnahmen von Hans Namuth, die Jackson Pollock in seinem Scheunen-Atelier bei East Hampton im Jahr 1950 darstellen.10 Die Momentaufnahmen machen aufgrund der Unschärfe, Verwischungen und Wackler zugleich die ungeheure Vitalität, Schnelligkeit und Performance bei der Herstellung der Action Paintings oder auch „Dripple“-Paintings deutlich. Diese versetzen den Künstler in eine geradezu tänzerische Haltung mit dem Bildträger, wie Carolyn Kinder Carr es treffend beschreibt: „As Pollock danced about his huge canvases and articulated their surfaces with dripped and thrown paint, Namuth captured the kinesthetic essence of the artist’s work.“11 Die dafür eingeführte Bezeichnung „the artist as actor“, ferner das Maltempo und die damit verbundene und vielfach lapidar formulierte „Fußbodenpraxis“ stehen für völlige (körperliche) Freiheit, zugleich aber auch für jene künstlerisch-mediale Transgression, die kennzeichnend wird für die Kunst der ausgehenden 1950er, stärker aber noch der 1960er Jahre. Insbesondere die Fotografien machen auf die Verbindung von Körpermotorik und Musik (Jazz) aufmerksam, worin sich die für die differenzierte medienästhetische Malerei der 50er Jahre charakteristische „Geste des Überschreitens“ manifestiert.12 Der körperlich-aktionistischen Bildproduktion ist 9 10

11 12

Harald Kimpel: documenta. Mythos und Wirklichkeit, Köln 1997. Der in Essen/Deutschland geborene und 1933 in die USA emigrierte Fotograf Hans Namuth (1915-1990) trug mit seinen ab 1950 begonnenen Porträtaufnahmen von Jackson Pollock entscheidend zur Etablierung der Künstlerfotografie/Arbeitsszenen bei. Die „Konservierung von Bewegungsabläufen“ (Michael Klant) lässt in dieser Weise eine enge Beziehung zur Technik und Dynamik der Futuristen erkennen, ab 1950 tritt sie verstärkt in den zahlreich produzierten Künstlerfilmen erneut in Erscheinung. Carolyn Kinder Carr: „Portraits“. In: Dies./Hans Namuth: Portraits, Washington D.C. 1999. Siehe auch unter www.npg.si.edu/exh/namuth (20. 07. 2006) Vgl. Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesell-

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zugleich eine spezifische Form der Medialisierung im Sinne einer Aufzeichnung inhärent, d.h. erst durch die fotografische Praxis werden jene künstlerischen Strategien erschließ- und vermittelbar und damit öffentlich, die gleichsam „außerhalb“ des Bildes liegen.13 Plötzlich waren das Geheimnis und das Rätsel des Schöpfungsaktes [...] für alle sichtbar. Es war, als ob Stammesgeheimnisse zum ersten Mal gelüftet würden, als die breite Öffentlichkeit zum Zeugen heiliger Riten wurde, zu denen sie nie zuvor zugelassen war [...]. Namuths Bilder von Pollock in Aktion veränderten die allgemeine Auffassung vom Künstler; sie haben aus diesem Grunde eine Bedeutung, die keine vorhergehende Dokumentation von einem Künstler jemals hatte. Die Konzentration auf die Tätigkeit – den Prozess des Kunstmachens – statt auf den Künstler änderte den Gang der Kunstkritik und sogar der Kunstgeschichte.14

Elemente des Aktionistischen und des Theatralen, des Körperlichen und der Bewegung, ferner der Improvisation und des (kalkulierten) Zufalls bilden integrale Bestandteile des künstlerischen Prozesses. Sie finden Ausdruck als „Geste des Überschreitens“ im Ausstellungskontext der documenta 2 mittels einer spezifischen Inszenierungspraxis, die demgegenüber das Monumentale und Singuläre betont und den Betrachter gleichzeitig einzubinden versucht in eine auratische Bild- und massenwirksame Erlebnissphäre. Ausgehend von der Überlegung, dass die documenta 2 von 1959 einem spezifisch kunstpolitischen und kunstideologischen Kontext entspringt, der gekennzeichnet ist durch mehrdimensionale Bildkonstellationen, soll im Folgenden eine neue Kartierung von Ausstellung, Abstraktion und „Amerikanisierung“ auf der Basis gestischer Konstellationen vorgenommen werden. Ausstellung, Abstraktion und „Amerikanisierung“ werden dabei als Dispositive verstanden, in die die Kunst- und Alltagspraktiken entsprechend materialisiert, ja „disponiert“ werden und aus der

13 14

schaft 1905-1955, München 2005, besonders S. 828. Diesen Bezug visualisiert trotz sehr eindrucksvoll der 2000 erschienene Film Pollock, USA, Regie: Ed Harris, nach dem Buch An American Saga von Steven Naigeh und Gregory White Smith. Die fotografischen Illustrationen etwa in der Zeitschrift ARTnews haben nicht nur viele Menschen erreicht, sondern auch das öffentliche Bild des Künstlers radikal verändert. Barbara Rose: Pollock Painting. Photographs by Hans Namuth, New York 1978, o.S.

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Performanzperspektive als Gesten, d.h. als Prozesse der Körperkonstitution beschreibbar werden.15 Beabsichtigt ist mit einer solcherart stärker an kunst- und medienanthropologischen Fragestellungen interessierten Lesart zu einer differenzierteren Konturierung der Epoche beizutragen, die über polare Positionierungen hinausweist.16 Profilierungstendenzen und Inszenierungswille Wieder ist es Kassel, eine der unscheinbaren, „wenig bekannten und besuchten Städte Deutschlands“, die infolge der katastrophalen Kriegszerstörung und aufgrund ihrer geografischen „Zonenrandlage“ stets mit dem Image der affirmativen Provinzialität zu kämpfen hat, die erneut zum Austragungsort der documenta wird und sich dadurch einreiht in das bestehende Spektrum von traditionellen und namhaften Großausstellungen. „Es ist Kassel gelungen, in diesem Sommer – nun es in Mailand keine Triennale und in Venedig keine Biennale gibt – die europäische Kunstwelt zu einer Reise nach einer kleinen Stadt zu verführen, deren Lage dicht beim eisernen Vorhang dieser Kunstmanifestation außerdem noch eine politische Bedeutung verlieh.“17

15 16

17

Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004. Diese Perspektive geht über sozial- und kulturgeschichtliche Arbeiten hinaus, die eine wertvolle Basis zur Epochen-Thematik geliefert haben. Vgl. grundlegend Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, Hamburg 1995; Georg Bollenbeck/Gerhard Kaiser (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik, Wiesbaden 2000. So das Amsterdamer Elseviers Weekblad vom 25. Juli 1959, zitiert nach: documenta archiv, d2, Mappe 23a. Vgl. auch Harald Kimpel: „Warum gerade Kassel? Zur Etablierung des documenta-Mythos“. In: Mythos documenta. Ein Bilderbuch zur Kunstgeschichte (Kunstforum International, Bd. 49), Köln 1982, S. 23-32.

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Abb. 3: Jackson Pollock

Wieder ist es ein architektonisches Provisorium, eine „öffentliche Ruine“, die zwar zum Präsentationsraum für zeitgenössische Kunst ausgewählt wird, stärker aber noch die Funktion eines Gedächtnisortes übernimmt. Kollektives Erinnern und ästhetische Erfahrung – materialisiert und begehbar. So repräsentiert der immer noch zerstörte Museumsbau des Fridericianums eine vielschichtige Historizität, die 1959 zusätzlich durch zwei weitere Bauten, die nahe gelegene Orangerie und das Bellevue-Schloss, ergänzt und in ihrer Geschichtsmächtigkeit entsprechend aufgeladen wird. Harald Kimpel weist auf die Kongruenz zwischen defekter Repräsentationsarchitektur der Vergangenheit und zeitgenössischer Kunst als Metapher für eine problematische Gegenwart hin. Auf diese Weise, so Kimpel, stoßen ein katastrophisches Geschichtsbild über die Architektur und ein wenig intaktes, da abstraktes Menschenbild über die Kunst aufeinander, was letztlich als Ausdruck für die allgemeine existenzialistische Grundstimmung der Zeit gedeutet werden kann. Die documenta-Ausstellung bildet somit eine Bühne auf der das „Drama des verletzbaren Menschen in einer verletzten Welt“ (Werner Haftmann) inszenierbar wird.18 „Der dramatische 18

Die räumliche Trilogie folgt im Wesentlichen dem Gedanken nach wissenschaftlicher Systematik und Abfolge (Malerei wird im Fridericianum, Plastik im Außenareal um die Orangerie und die Druckgrafik im Bellevue-Schloss präsentiert) und nachgeordnet der Varianz bzw. Abwechslung, was sich z.B. durch einen Wechsel von Außen- und Innenraum manifestiert. Mit dem traditionellen Ziel der musealen Erziehung und Bildung erscheint die Ausstellung im Bild des begehbaren Geschichts- und

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Charakter der modernen Malerei, der die pathetische Geste so nachdrücklich unterstreicht, findet Unterstützung und Widerklang bei der Einrichtung der Ausstellung. Professor Arnold Bode, der die räumliche Einteilung und den architektonischen Aufbau entworfen hat, hat die Szenerie der Ausstellung tatsächlich zu dramatisieren gewusst.“19 Dies nahmen auch viele Kritiker zum Anlass, einen Bezug von Malerei und Ausstellungsinszenierung herzustellen und von einer Ausstellungsregie zu sprechen, die zu „dramatisieren“ wusste und in dieser Weise an eine Theateraufführung erinnert. Und wieder ist es Arnold Bode, der als Leiter und kreativer Kopf eine Ausstellungsregie entwickelt, die das „Dialogische“ und das „visuelle Begreifen“ betont und damit jenes Potenzial freisetzt, das heute so selbstverständlich als „Kuratorische Praxis“ bezeichnet wird. Das dafür notwendige kreative Potenzial kann insbesondere in der Dialogsetzung von Raum und Malerei im Fridericianum, d.h. in einer labyrinthischen Raumfolge betrachtet werden, durch die die Malerei in ihre verschiedenen Ausdrucksformen aufgefächert wird und in dieser Weise die Systematik der Kunstgeschichtsschreibung fortsetzt. Dieses Raumprinzip folgt trotz spielerischer Akzentsetzung einem klaren Ordnungsprinzip im Sinne eines hierarchisch gegliederten Aufstiegmodells. Demzufolge wird der Ausstellungsbesucher zunächst im Untergeschoss durch die Kabinette der Klassischen Moderne mit ihren Hauptvertretern Kandinsky, Klee, Picasso u.a. geleitet, bevor der Weg weiter durch die Obergeschosse führt, die vorwiegend mit Arbeiten des amerikanischen Abstrakten Expressionismus bespielt sind. Diese didaktische Substruktion dient im Wesentlichen der Erinnerung und Vergegenwärtigung jener kunsthistorischen Wurzeln und bildnerischen Gedanken, die das gesicherte Fundament bilden, von dem aus die Kriterien für die Bewertung der Gegenwartskunst gewonnen werden sollten. Das heißt: um in die Räume der Obergeschosse zu gelangen, musste der Besucher den inszenatorisch gelenkten Weg durch die „Lehrmeister der Kunst des XX. Jahrhunderts“ und die „Argumente der Kunst des XX. Jahrhunderts“ gehen, so die Bezeichnung der beiden Themenräume im Untergeschoss.

19

Kunstbuchs. Vgl. Harald Kimpel/Karin Stengel (Hg.): II. documenta ’59. Kunst nach 1945. Internationale Ausstellung. Eine fotografische Rekonstruktion [= Schriftenreihe des documenta Archivs. Bd. 7], Bremen 2000. De Groene Amsterdamer, vom 25. Juli 1959. Zitiert nach: documenta Archiv, d2, Mappe 23a.

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Die Ausstellung gewinnt dadurch den Charakter eines wissenschaftlichen Lehrbuchs. Aufgrund ihres wandfüllenden Charakters entfalten die vornehmlich abstrakten Bilder auratische Präsenz und meditative Konzentration, wodurch das Paradigma der WeltkunstTheorie gleichsam inthronisiert wird (Kimpel). Bemerkenswert ist, dass es vor allem die deutschen Kritiker sind, die insbesondere hier Haftmanns These in einer vielfach übersteigerten Semantik eingelöst sehen: „Der erste Stock im Museum Fridericianum birgt in feierlicher Aufgelockertheit die Elite der europäischen Malerei [...].“20

Abb. 4

Trotz der überwältigenden Inszenierung der Malerei im Innenraum bildet jedoch die Präsentation plastischer Werke im Außenraum um die barocke Orangerie den eigentlichen kuratorischen Höhepunkt der documenta 2. Damit antizipiert Arnold Bode zudem jene Ent-Musealisierung der Skulptur, wie sie bis heute für dieses Areal kennzeichnend ist. Hier entfaltet sich ein System aus Gängen, partiell mit Glas überdacht, bestehend aus überdachten Räumen und langen Blickachsen. Die Symbiose zwischen Außen und Innen, zwischen architektonischer Ruinenkulisse und offener Parklandschaft, Abstraktion und Figuration, Schauen und Verweilen transformiert die Orangerie in einen spezifischen Wirkungsort, für den die „beredte Stimmung“ und der „erhabene Schauer“, ferner das 20

So Marieluise Franke in der Aachener Volkszeitung vom 05. August 1959. Zitiert nach: documenta Archiv, d2, Mappe 23a.

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„entwaffnend Vitale“ oder das „Titanische“, kurzum: das Atmosphärische kennzeichnend ist (vgl. Abb. 4).21 Bei allem Wiederkehrenden weist diese documenta aber auch Neues auf: So baut die documenta 2 auf dem ungeahnten Erfolg der ersten documenta von 1955 auf, gleichzeitig steht sie unter Erfolgszwang und ist gezwungen, sich inhaltlich und konzeptionell von dieser abzusetzen bzw. die Sensation der Vorgängerveranstaltung nach Möglichkeit zu übertreffen. Neu für die d2 ist zunächst eine Veränderung der Rahmenbedingungen, genauer gesagt der Rechtsform: Nachfolgeorganisation des zuvor gemeinnützigen Vereins wird ab 1958 eine GmbH, d.h. eine privatrechtliche Veranstaltungsgesellschaft, deren Aufsichtsrat Vertreter der Stadt Kassel dominieren.22 Aufgrund der personellen Erweiterung des Arbeitsausschusses durch „eine Handvoll ausgewiesener kompetenter Enthusiasten“ und eine „Gruppe kenntnisreicher und unabhängiger Geister“23 kann sich außerdem eine Ausstellungslogistik herausbilden, die dem Ganzen unternehmerischen Charakter verleiht (vgl. Abb. 5). Zugleich repräsentieren die insgesamt elf verantwortlichen Männer eine Generation, die insbesondere mit Arnold Bode (Jg. 1900) und Werner Haftmann (Jg. 1912) die so genannte „Aufbaugeneration“, die „Männer der ersten Stunde“ bzw. die „Vätergeneration“ repräsentieren, wie sich z.B. Manfred Schneckenburger, Leiter der documenta 6 (1977) und 8 (1987) erinnert: „In ihm [gemeint ist Bode, Anm. S. A.] steckt ein ewiger Jüngling und eine exemplarische Vaterfigur, ein übersprudelnder Plänespinner und energischer Realist, ein wuseliger Visionär und ein besessener Praktiker [...].“24 21

22

23 24

„Über uns ein weiter Sommerhimmel und um uns – zwischen grell-weiß getünchten improvisierten Mauern in den Ruinen der Orangerie – die Plastik der Welt. Gefährlich kühn in die Weite der Landschaft gestellt, die festlich mit dem Grün der Karlsaue die von einer bestürzenden Archaik bestimmten Plastik umschließt [...].“ So die Aachener Volkszeitung, zitiert nach documenta Archiv, d2, Mappe 23a. Damit wird eine juristische Konstruktion etabliert, die bis heute Gültigkeit besitzt – und damit zugleich auch einen Dauerkonflikt festschreibt: Gemeint ist die Interessenkollision zwischen individuellen Visionen und den Modalitäten ihrer öffentlichen Umsetzung, d.h. den administrativen Finanzierungs- und Kontrollinstanzen. Diese juristische Konstruktion bedeutet zugleich auch, dass der jeweilige Ausstellungsleiter beauftragt werden muss. Kimpel: documenta, a.a.O., S. 102. Arnold Bode: „Kassel und die Region – Lebenslauf“, zu finden unter:

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Abb. 5 und 6

So erhält die Generation um Arnold Bode aufgrund ihrer Prägungen und Erfahrungen einen „Macher-Bonus“ zugewiesen, der sie mit Führungsqualitäten, Durchsetzungskraft, Verantwortung und ästhetischem Urteilsvermögen auszeichnet – Eigenschaften, die offensichtlich für den Beruf des Ausstellungsmachers in besonderer Weise qualifizieren. Für die Wahl der beteiligten Künstler stand demgegenüber der individuelle künstlerische Werdegang im Vordergrund.25 Und für die Jugend, die Albert Schulze Vellinghausen von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als den eigentlichen „Adressaten dieser merkwürdigen ‚Olympiade‘“ bezeichnet, sollte das Ausstellungserlebnis und der Festivalcharakter im Vordergrund stehen.26 Aus dieser Perspektive lässt sich die documenta 2 auch als „Geschichte einer Generationenabfolge“, d.h. von Mentalitäten und Haltungen lesen, die drei Typen von Generationen umfasst: Da sind die Ausstellungsorganisatoren, ferner die ausgestellten Künstler und letztlich die Ausstellungsbesucher. Die drei Generationen repräsentieren zugleich unterschiedliche Mentalitäten, was sich letztlich ausdrückt in so genannten „Ausstellungshaltungen“. Diese Haltung ist entscheidend für die Teilnahme am Ausstellungsgeschehen sowie für das Verständnis von Gegenwartskunst; sie entscheidet somit über Ein- und Ausschlussverfahren.

25

26

www.kassel.de/cms02/kultur/documenta (20.07.2006). „Diesmal sollte das Schwergewicht auf den Generationsreihen der heute 35-60jährigen und ihren Weisen des Ausdrucks liegen. Nur in Fällen, in denen ein Alterswerk neue Akzente setzte und neue Impulse gab, waren wir bemüht, auch diese zu dokumentieren.“ Zitiert nach: Werner Haftmann: „Malerei nach 1945 (documenta 2-Katalog)“, a.a.O., S. 51. So Albert Schulze Vellinghausen in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.07.1959. In: documenta Archiv, d2, Mappe 23a.

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„Die Haltung zur documenta schien zur Scheidelinie zwischen den Ewig-Gestrigen und den Jung-Gebliebenen geworden zu sein. Jugendlich war, wer sich wenigstens bemühte, die Kunst der Zeit zu verstehen. [...] Für viele bot die scheinbare Nachbarschaft von abstrakter Malerei und industriellem Design die Möglichkeit, eine Kunst in den eigenen Alltag zu integrieren [...]“ (vgl. Abb. 6).27 Analog zur Konzentration auf die aktuelle Gegenwartskunst gab sich die documenta 2 als eine „junge“ bzw. als „jugendliche“ Ausstellung. „Sicher wird die documenta II gerade bei der Jugend ein starkes Echo finden. Aber auch sonst wird sich kaum ein Besucher ihren faszinierenden Wirkungen entziehen können.“28 Diese Aktualität ist darüber hinaus auch erkennbar in einer äußerst effektiven Pressearbeit (mehrsprachige Faltblätter, Informationsbroschüren, dreibändiger Katalog im DuMont Verlag), ferner in der Einführung eines documenta Signets mit hohem, wenngleich auch zweideutigem Wiedererkennungswert sowie in den bereits im Vorfeld in Berlin und München koordinierten Pressekonferenzen, auf denen kontinuierlich über den Stand der Vorbereitungen berichtet wurde. Sie trugen entscheidend mit dazu bei, dass die documenta 2 mit 137.000 Besuchern zum Erfolg wurde (vgl. d1: 130.000 Besucher). Zusätzlich sorgten ein umfassendes, wenngleich nur ansatzweise realisiertes Begleitprogramm, bestehend aus Vortrags-, Konzert- und Filmreihen sowie ein detailliertes Führungsprogramm für die Vermittlung der neuen Bildsprache und zur Etablierung eines neuen Ausstellungsprofils. Mit der documenta 2, die zugleich Kunstausstellung, Kunstmesse, Kulturfestival und Medienereignis ist, wird ein neuer Typus von Kunstausstellung kreiert, der unterschiedliche historisierende und mediale Konstellationen aufweist. So entwickelt die documenta 2 analog zur Theaterarbeit eine spezifische Ausstellungsregie und Ausstellungsdramaturgie, wodurch der Charakter von Bühne bzw. die Raumfolge im Sinne eines Labyrinths entsteht. Darüber hinaus findet, wie bereits bei der documenta 1 von 1955, ein Aufgreifen des synästhetischen Gedankens des Gesamtkunstwerks auch bei der zweiten documenta statt, was deutlich wird in der Integrierung unterschiedlicher Künste wie Theater, Film, Musik usw. 27 28

Zitiert nach Kurt Winkler: „II. documenta ’59 – Kunst nach 1945“. In: Stationen der Moderne, hg. v. Uwe M. Schneede, Berlin 1988, S. 427-435, hier S. 432. So Hanns Theodor Flemming in Die Welt vom 15. Juli 1959, zitiert nach: documenta Archiv, d2, Mappe 23a.

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In den Begriffen von Erlebnis und Atmosphäre entfaltet die documenta 2 letztlich eine hochgradig didaktisierende Wirkung, womit eine Bezugsebene zur Alltags- und Lebenswirklichkeit der 1950er Jahre hergestellt werden kann, worauf im Folgenden näher eingegangen wird. Abstraktion und „Amerikanisierung“ als „Habitualisierungen“ Der Leitgedanke der documenta 2, das globale Abstraktgewordensein der modernen Kunst als lückenlose Entwicklungslogik im Kontext einer Ausstellung zu konstruieren, fällt zusammen mit einer kunst- und kulturpolitischen Ideologie, wodurch die documenta-Ausstellung programmatischen Charakter erhält und den Boden der von ihr beanspruchten Objektivität und Neutralität verlässt. Abstraktion steht, worauf bereits verwiesen wurde, im Sinne Werner Haftmanns, für den logischen und konsequenten Weg vom „reproduktiven zum evokativen Bild“, d.h. der mit dem Beginn der Moderne einsetzenden Ersetzung von „Wirklichkeitsbildern“: „Das Bild ist nicht mehr Reproduktionsfeld einer wieder zu erschaffenden Außenwelt, es ist Evokationsfeld von Erscheinung.“29 Haftmanns evolutionäres Geschichtsmodell der Moderne, ferner die mit Abstraktion assoziierte ästhetische Autonomie und Gleichsetzung von Abstraktion, (künstlerischer) Freiheit und Weltgeltung sind, und darauf wurde bereits hingewiesen, nicht losgelöst zu sehen von der Verfemung der Kunst im „Dritten Reich“ einerseits und von der durch die so genannte „FormalismusDebatte“ diktierten Abbildungsnorm in der DDR beziehungsweise dem verschärften West-Ost-Konflikt andererseits. „Autonomie und Eingriff“, so betitelte Uwe M. Schneede seinen Beitrag zu einem Überblick über die Ausstellungskultur im 20. Jahrhundert, die immer auch politisch ist, sobald sie sich öffentlich macht. Öffentlichkeit, so mag man argumentieren, ist bei Ausstellungen nun immer der Fall; im Beispiel der documenta 2 tritt die Politisierung in einer eher verdeckten Weise auf und nutzt die kunsthistorisch deutlich gespaltene Argumentation zu den Begrifflichkeiten von Abstraktion und Figuration:

29

Haftmann: „Malerei nach 1945 (documenta 2-Katalog)“, a.a.O., S. 54.

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Haftmanns Verdienste um die Pflege der Moderne sind unbestritten, doch sein Geschichtsmodell war ein Konstrukt aus politischem Interesse. Verschreckt offenbar gleichermaßen von der Verfemung der Kunst im Dritten Reich wie von der Abbildungsnorm in der DDR, behauptete Haftmann in einer Gegendoktrin die Abstraktion als westliches Bollwerk gegen die Unfreiheit und verband damit den Anspruch auf Weltgeltung, als lebte man in Zeiten des Kolonialismus. Gezielt wurde eine unverbrüchliche Anbindung an die Westmächte, die ihrerseits die Ausschließlichkeit der Abstraktion als Hoheitszeichen der Demokratie zu gewährleisten hatten. [...] Was in den Ateliers als subjektiver Impuls sich verstreute, wurde in seiner massenhaften Versammlung zur Manifestation genutzt, die der intendierten und propagierten künstlerischen Autonomie gerade entgegengesetzt war: Bündnispolitik mit Kunst, und zwar mit der abstrakten [...].30

In diesem Gefüge muss die amerikanische Präsenz in der „Zonengrenzstadt“ wie ein militärischer Aufmarsch in der Unterstützung gegen die gegenständlich argumentierende Staatskunst, d.h. gegen den „Sozialistischen Realismus“ kommunistischer Prägung gewirkt haben. Die Integration des „Abstrakten Expressionismus“ in das Konzept der documenta 2, der Ende der 1950er Jahre, mit seinem wohl prominentesten Vertreter Jackson Pollock, der sein avantgardistisches Potenzial bereits überschritten hatte und damit aus der distanzierten Rückschau auch die These von Werner Haftmann als fragwürdig erscheinen ließ, verlieh dieser Perspektive dennoch zusätzlich entscheidenden Nachdruck.31 Aspekte von „Amerikanisierung“, „Westernisierung“ oder Kommerzialisierung, so eine Überlegung, lassen sich im Kontext der Ausstellung jedoch weniger festmachen an der zahlenmäßigen Dominanz oder an der immer wieder kritisierten, d.h. bevorzugten Hängung amerikanischer Kunst, geschweige denn am Prozess der im Wesentlichen über den amerikanischen Kunsthandel und damit durch Privatpersonen getroffenen und finanzierten Auswahl der abstrakten Malereien. Sie findet auch nicht ausschließlich in den von 30 31

Uwe M. Schneede: „Autonomie und Eingriff. Ausstellungen als Politikum. Sieben Fälle“. In: Stationen der Moderne. Ausstellungskatalog Berlinische Galerie, Berlin 1988, S. 34-42, hier S. 39. So resümiert Manfred Schneckenburger, dass der eigentliche Erfolg der documenta 2 auf einer kunsthistorischen Fehlprognose basiert, da bereits mit dem Abstrakten Expressionismus wieder gegenständliche Tendenzen in der Kunst aufkamen, die sich dann beispielhaft in den Materialcollagen, Assemblagen oder den so genannten Combine-Paintings (Rauschenberg) der Pop-Art zeigen.

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den Übergrößen dominierten Bilderkabinetten der Abstrakten Expressionisten statt. Entscheidender als diese quantifizierbaren Prozesse und rein optisch in einem vordergründigen Ungleichgewicht stehenden Erscheinungsformen im Ausstellungskontext sind m.E. viel stärker jene Haltungen und Habitualisierungen, durch die sich eine Ausstellungsatmosphäre formieren konnte, über die letztlich die Begegnung mit Kunst initiiert und erfahrbar wurde. Diese Habitualisierungen, die sich in Kleidung, Freizeitstil, Lebensgefühl, Haltung usw. manifestieren, weisen bei genauerer Betrachtung Merkmale amerikanischer Einflüsse auf. Sie wirken im Ausstellungskontext als „mental maps“ im Erkundungsgang und in der Begegnung mit abstrakter Kunst im Labyrinth der Ausstellung und helfen, das Ästhetische als Lebensstil vom Abstrakten als künstlerischer Ausdrucksform in der Ausstellung zu differenzieren (vgl. Abb. 7).

Abb. 7

Ausgehend vom kunstwissenschaftlichen Anspruch an eine Ausstellung, die sich in der Visualisierung der These von der Abstraktion als einer international verbindlichen Weltsprache ausdrückt, transformiert die documenta 2 mit Blick auf die Relevanz dieser Habitualisierungen vom elitären Bekenntnis zum massenwirksamen Event. Diese Transformation wird meines Erachtens nachhaltig durch den Charakter des Abstrakten selbst begünstigt, d.h. der Überlegung, dass Abstraktion im Ausstellungskontext nur bedingt visuell vermittelbar ist und gleichsam „transkribiert“, also übersetzt werden muss. Die eingangs erwähnte umfassende PR-Arbeit, wie die zahlreich durchgeführten Führungen, ferner Ausstellungskatalog, Bildlegenden und documenta-Film machen auf die Notwendig-

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keit von Übersetzung und Lesbarkeit des Abstrakten aufmerksam. Sie schaffen außerdem ein umfassendes didaktisches Reservoir, durch das die abstrakte Kunst kommunizier- und vermittelbar wird. Darüber hinaus bewirkt die Ausstellungsinszenierung, insbesondere die Hängung und Raumregie eine Mischung aus Bildungsanspruch und Festivalcharakter, aus Aura und Event. Das entscheidende dabei aber scheint zu sein, dass eine Kunst, die in der „Geste des Überschreitens“ argumentiert, ein räumliches Gefüge beansprucht, dass dem Gestischen adäquat ist: Im Durchschreiten, Flanieren und Verweilen im Außenareal um die Orangerie oder in der eingeforderten suchenden Bewegung durch das Ausstellungslabyrinth sowie in der retinalen, stärker aber noch der körperlichen Beanspruchung mit den abstrakten Arbeiten, die den Betrachter geradezu motivieren, aufgrund ihrer Unbestimmtheit Raumeindrücke affektiv zu entwickeln, wie es eine Ausstellungsbesucherin im folgenden Zitat zum Ausdruck bringt: „Ich bin Eisläuferin, mache ein bisschen Eiskunstlauf, und als ich das Pollock-Bild zum ersten Mal gesehen habe, hab ich dann nachher das nachvollzogen. Da bleiben ja auch Linien übrig, wenn man einen Bogen läuft. Da ist mir das so aufgefallen, diese Parallelität, die Bewegung hinterlässt Linien, wie beim Eislaufen auch.“32 Körperlichkeit und Aktivierung des Betrachters spielt sich in unterschiedlichen räumlichen Systemen ab, was die eigentliche Aktualität und Qualität dieser documenta-Ausstellung ausmacht und zugleich auch jene Kritiken verständlicher macht, in denen die Ausstellung zu neuen Formen der Alltagswirklichkeit in Beziehung gesetzt wird (Cocktail-Party, Barbecue, Swimming Pool usw., vgl. Abb. 8). Aus performativer Perspektive bemerkenswert ist, dass zur Beschreibbarkeit von Gesten als materialisierte Körperbewegungen ein räumliches Bezugsystem notwendig ist, in dem sich die Gesten artikulieren und überhaupt beschreibbar werden. Ob als 32

Zitiert nach Franz-Joachim Verspohl: „Die Moderne auf dem Prüfstand. Pollock, Wols, Giacometti“. In: Wagner (Hg.): Moderne Kunst 2, a.a.O., S. 513-532, hier S. 516. Verspohl weist auf den bestehenden Konflikt, den die Bilder von Jackson Pollock beim Betrachter auslösen, der aber nicht rational aufzulösen ist. „Denn der Maler bietet nicht mehr und nicht weniger als eine Vielzahl gleichwertiger Blickpunkte, da das Bild, selbst wenn man Farbkonzentrationen zu Bildzentren macht, keine Kompositionsstruktur enthält, die ein Zentrum nahe legt. Eher muss man von einer ‚dekompositionellen‘ Binnenstruktur sprechen, da sie einem folgerichtigen Bildaufbau entgegenarbeitet.“ Ebd. S. 517.

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Leinwand (Pollock), als Karte („Amerikanisierung“) oder als Ausstellungsgebäude (documenta): die Räumlichkeiten fungieren als eine spezifische Organisationsform von Kunst- und Alltagspraktiken. Gleichzeitig konstituieren sich diese Räume aber auch erst durch Subjekte, Körper und Interaktionen, so dass die documentaAusstellung von 1959 letztlich einer aktuellen Vorstellung von Raum als Medium des Austauschs entspricht.33

Abb. 8

Die documenta initiiert somit eine Begegnung mit der abstrakten Malerei, die aufgrund ihres gestisch-performativen Charakters im inszenierten Erlebnishorizont der Ausstellung vermittelbar wird. Dadurch transformiert sie zum „Schaufenster für Gegenwartskunst“, gleichzeitig ist sie eingeschrieben in die Rhetorik des „Kalten Kriegens“. Dieses Nebeneinander von unterschiedlichen Konstellationen, Zeithorizonten, Alltagswirklichkeiten, Lebenssphären, Haltungen usw. im Kontext einer Ausstellung kann somit als symptomatisch für die 1950er Jahre gesehen werden, die in dieser Weise zugleich auf solche Implikationen aufmerksam macht, die gegenwärtig unter dem Begriff des „Medienumbruchs“ gefasst und 33

Vgl. hierzu – mit Anknüpfung an den spatial turn – Sabine Damir-Geilsdorf/Angelika Hartmann/Béatrice Hendrich (Hg.): Mental Maps – Raum – Erinnerung. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung, Münster 2005.

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diskutiert werden. „Die Welt schmeißt mit Farben“ – daraus entsteht jene Nähe zum eigenen Lebensumfeld, das in Sprache und Mentalität der Zeit entsprechend ausgedrückt wird: Das junge Paar, das in einer modernen Bar vor einer abstrakt komponierten Wand seinen Eisbecher schlürft, die Frau, die sich einen modischen Kleiderstoff mit kühnen Farbflecken aussucht, der Ehemann, der sich für eine moderne Tapete entschließt, das Schulkind, das eine der abstrakten Skulpturen auf dem Schulhof als selbstverständliche Zutat seiner Spielpause erlebt – sie alle haben schon einen guten Teil des Weges zum Verständnis modernen Kunstschaffens zurückgelegt, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu werden. [...] Es ist nicht schlimm, wenn man nicht zu begreifen vermag, was alles in Kunstausstellungen und modernen Museen gezeigt wird. [...] Morgen oder übermorgen wird, was uns heute noch unbegreiflich erscheint, schon zu uns sprechen.34

Literatur von Beyme, Klaus: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955, München 2005. Bode, Arnold: „Kassel und die Region – Lebenslauf“. Im Internet unter: www.kassel.de/cms02/kultur/documenta (20. Juli 2006). Bollenbeck, Georg/Gerhard Kaiser (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik III, Wiesbaden 2000. Breuer, Gerda (Hg.): Die Zähmung der Avantgarde. Zur Rezeption der Moderne in den 50er Jahren, Frankfurt a.M. 1997. Damir-Geilsdorf, Sabine/Angelika Hartmann/Béatrice Hendrich (Hg.): Mental Maps – Raum – Erinnerung. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung, Münster 2005. Dobbe, Martina: „Malerei im Bilderstreit. Eine Revision aus Anlass des Rubenspreis-Jubiläums“. In: Gundolf Winter/Martina Dobbe (Hg.): 10 x Malerei. Rubenspreis der Stadt Siegen in Werken der Sammlung Lambrecht-Schadeberg, Museum für Gegenwartskunst Siegen 2002, S. 19-34. 34

So die Stuttgarter Nachrichten vom 10. Oktober 1959, zitiert nach: documenta Archiv, d2, Mappe 23a.

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„Die Welt schmeißt mit Farben“

documenta Archiv, d2, Mappe 23a. Fischer-Lichte; Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004. Guilbaut, Serge: How New York stole the idea of modern art (1983) in deutscher Übersetzung: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, Dresden 1997. Haftmann, Werner: „Malerei nach 1945, documenta-2-Katalog“. In: Manfred Schneckenburger: documenta. Idee und Institution. Tendenzen, Konzepte, Materialien, München 1983, S. 53. Haftmann, Werner: „Vortrag anlässlich der Eröffnung der 2. documenta am 11. Juli 1959“. In: Manfred Schneckenburger: documenta. Idee und Institution. Tendenzen, Konzepte, Materialien, München 1983, S. 54. Hofmann, Werner: „Zu einer Theorie der Kunstgeschichte“. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte (1951), S. 118-123. Kimpel, Harald: „Warum gerade Kassel? Zur Etablierung des documenta-Mythos“. In: Mythos documenta. Ein Bilderbuch zur Kunstgeschichte (Kunstforum International, Bd. 49), Köln 1982, S. 23-32. Kimpel, Harald: documenta. Mythos und Wirklichkeit, Köln 1997. Kimpel, Harald/Karin Stengel (Hg.): II. documenta ’59. Kunst nach 1945. Internationale Ausstellung. Eine fotografische Rekonstruktion. [= Schriftenreihe des documenta Archivs. Bd. 7]. Bremen 2000. Kinder Carr, Carolyn: „Portraits“. In: Dies./Hans Namuth: Portraits, Washington D.C. 1999. Rose, Barbara: Pollock Painting. Photographs by Hans Namuth, New York 1978. Ruby, Sigrid: „Have we an American Art?“ Präsentation und Rezeption amerikanischer Malerei im Westdeutschland und Westeuropa der Nachkriegszeit, Weimar 1999. Schneede, Uwe M.: „Autonomie und Eingriff. Ausstellungen als Politikum. Sieben Fälle“. In: Stationen der Moderne. Ausstellungskatalog Berlinische Galerie, Berlin 1988, S. 34-42. Schildt, Axel: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, Hamburg 1995. Sedlmayer, Hans: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948.

253

Sabiene Autsch

Wagner, Monika (Hg.): Moderne Kunst 2. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, 2. erw. Aufl., Reinbek 1996. Verspohl, Franz-Joachim: „Die Moderne auf dem Prüfstand. Pollock, Wols, Giacometti“. In: Monika Wagner (Hg.): Moderne Kunst 2. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst. 2. erw. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1996, S. 513-532. Winkler, Kurt: „II. documenta ’59 – Kunst nach 1945“. In: Stationen der Moderne. Ausstellungskatalog Berlinische Galerie, Berlin 1988, S. 427-435. Abbildungen dA

= documenta Archiv, Kassel

Abb. 1

Ernst Wilhelm Nay, „Das Freiburger Bild“ (1956) Documenta 2, Museum Fridericianum, Obergeschoss, Großer Saal (dA, Werner Lengemann)

Abb. 2

Jackson Pollock, „Number 32“ (1950) Museum Fridericianum, Obergeschoss, Pollock-Saal

Abb. 3

Hans Namuth: Jackson Pollock malt „Nr. 32“, Springs, Long Island, Sommer 1950. Fotografie (Nachlass des Fotografen, New York)

Abb. 4

Orangerie mit Café und Skulpturenabteilung Documenta 2, (dA, Herta Riechelmann)

Abb. 5

Arnold Bode und sein Team (1959) (dA) Museum Fridericianum, Treppenhaus, Rotunde (an der Wand: Fritz Winter, „Wirkteppich“ [1956/57]) (dA, Günter Becker)

Abb. 6

Abb. 7

Orangerie (im Hintergrund: Pablo Picasso, „Les Baigneurs“) (dA, Günter Becker)

Abb. 8

Besucherin vor dem Gemälde von Jackson Pollock (dA, Fotograf unbekannt, Agenturbild)

254

DESIGN UND MODERNISTISCHE „FORMGEBUNG“ DER JUNGEN BUNDESREPUBLIK IM FOKUS DEUTSCH-AMERIKANISCHER BEZIEHUNGEN

Friedhelm Scharf (Kassel)

Gegen Ende der 50er Jahre war Deutschland wieder ruinenfrei. Es herrschte Vollbeschäftigung und das Wort ‚Lebensstandard‘ machte auch für Normalverbraucher erstmals Sinn. Im ‚motorisierten Biedermeier‘, wie der Schriftsteller Erich Kästner das Wiederaufbau-Jahrzehnt nannte, hatte sich die Restauration wie Mehltau über die Kultur gesenkt und schwere ‚Stilmöbel‘ in Stil des Gelsenkirchener Barocks feierten fröhliche Urständ. Zugleich empfanden sich die Wirtschaftswunderdeutschen nun als Teil des Westens und wurden zu Musterknaben Amerikas. Von dort kamen chromverzierte Straßenkreuzer, aber auch Jeans und Rock’n’Roll und moderne Kunst.1

Diese Zuspitzung des Design Lexikon Deutschland mag viele Assoziationen wecken, zumal die 1950er Jahre heute nicht nur von unverbesserlichen Nostalgikern Wertschätzung erfahren. Das gilt gerade für die oft belächelten und – zu Recht oder Unrecht – als „spießig“ apostrophierten Produkte dieses Jahrzehnts. Häufig zitiert werden neben dem legendären Nierentisch das Liegesofa, der Cocktailsessel, die freischwingenden Sitzschalen, die Safaristühle oder die Tütenlampen. Entgegen aller Stereotype haben die 1950er Jahre auch einen großen Reichtum an Form und Phantasie hervorgebracht. Vielleicht ist die neuere Beliebtheit solcher Erzeugnisse ein Indiz dafür, dass wir mittlerweile soviel Abstand zur „Pubertät der Bundesrepublik“ gewonnen haben, dass uns deren Zeugnisse nicht mehr so peinlich erscheinen, wie noch vor einer Generation. Noch 1982 fiel der Nierentisch durch, als eine renommierte deutsche Wohnzeitschrift eine Repräsentativumfrage veranstaltete. Der Grund mochte darin gelegen haben, dass – wie der Design-Experte Albrecht Bangert in seiner einschlägigen Veröffentlichung vermu1

Marion Godau/Bernd Polster (Hg.): Design Lexikon Deutschland, Köln 2000, S. 71.

255

Friedhelm Scharf

tet – die Angst vor dem Nierentischzeitalter weit verbreitet gewesen ist.2 Die Befragten vor 25 Jahren waren ja vormals die Kinder, also mitunter „Traumatisierte“ des Nierentischzeitalters. In den Relikten bürgerlicher Lebensform mochten viele auch Symbole eines konfliktgeladenen Elternbildes sehen, womit sich ab den späten 1960er Jahren auch gesellschaftspolitischer Protest Bahn brach. Hingegen standen, und stehen natürlich auch heute noch, die 1950er-Jahre-Produkte Italiens, Skandinaviens und vor allem Amerikas bei Sammlern und Kennern hoch im Kurs, gerade wegen ihres entschieden avantgardistischen Zuschnitts. So macht sich am Thema des „Fünfziger-Jahre-Designs“ auch eine wichtige Fragestellung fest: inwieweit und warum ist die Internationale Moderne in der Frühphase der Bundesrepublik entweder auf Zustimmung oder auf Ablehnung gestoßen? Ein modernes Leitbild gab in der Nachkriegszeit zweifellos Amerika ab, und zwar nicht nur in Hinblick auf das Demokratieverständnis oder auf seine starke Wirtschaftskraft, sondern auch in Hinblick auf Lebensformen und vice versa auf dem Gebiet des Designs: Mentalität und Produkt erscheinen im Fokus deutschamerikanischer Beziehungen als dialektisches Verhältnis. Mit dieser Eingangsüberlegung möchte die vorliegende Betrachtung Schlaglichter vor allem auf zwei Gebiete der Design-Geschichte werfen: Einerseits soll die Ästhetik bzw. Formgebung der 1950er Jahre in der spannungsgeladenen Gegenüberstellung von Lebensformen versus Modernismus eingehender betrachtet werden. Darüber hinaus soll in einem zweiten Schritt Ethos und Institutionsgeschichte des Designs näher beleuchtet werden, wie sie sich am Beispiel der amerikanischen Bauhaus-Rezeption und der Gründung der Hochschule für Gestaltung Ulm ablesen lassen. In beiden Bereichen – dies sei hier schon angemerkt – spielte die USA keine ausschließliche, aber eine wichtige Rolle als Einflussgeber, Vorbild und Machtfaktor.

2

Albrecht Bangert: Die 50er Jahre. Möbel und Ambiente, Design und Kunsthandwerk, München 1983 (Reprint 1990), S. 27.

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Design und modernistische „Formgebung“ der jungen Bundesrepublik

I.

Die Ästhetik bzw. Formgebung der fünfziger Jahre: Lebensformen versus Modernismus

Die historischen Vorbedingungen der 1950er Jahre sind bekannt und brauchen in Hinblick auf die Produktgestaltung nur mit einigen Stichworten erinnert zu werden. Ab 1945 musste es im kriegszerstörten Deutschland vorrangig darum gehen, Industrien und Infrastrukturen wieder aufzubauen. In den ersten Jahren nach der „Stunde Null“ war es an der Tagesordnung, dass aus Kriegsgerümpel Dinge für den notwendigsten Bedarf hergestellt wurden. Die Nachfrage war enorm. Fahrzeuge, Werkzeuge, Maschinen wurden ebenso gebraucht wie Möbel, Suppenteller oder Bügeleisen. Der „Guten Form“ – einer der wichtigen Grundsätze im ästhetischethischen Bereich der jungen Bundesrepublik – konnte zunächst keinerlei Bedeutung zugemessen werden. Notgedrungen ging es zunächst allein um den Gebrauchswert. In der Konsequenz wirkte die Erfahrung des Mangels aber stilbildend. Aus der Not entstand im nächsten Schritt eine Designer-Tugend des Improvisierens, des Provisorischen bzw. der ephemeren Gestaltung. Billige und leicht zu verarbeitende Materialien wie Plastikbahnen und Plastikbezüge, Kunststofffolien, Schaumstoff, Resopal, Heraklit-Platten oder flach gewebte Möbelstoffe bestimmten folglich die Grundstoffe bzw. das Bild von Gebrauchsgütern, von Wohnkultur, von architektonischen Verkleidungen sowie von großräumigen öffentlichen Interieurs. Die Effekte konnten bei aller Billigkeit und allem Minimalismus der Mittel trotzdem beeindruckend sein, wie z.B. im Mannheimer Kino Alhambra, für das der Architekt Paul Bode eine wellenförmig geschwungene Empore entwarf und mit indirekter Beleuchtung für eine theatralisch anmutende, nachtblaue Atmosphäre sorgte.3 Sein Bruder, der Maler und Gestalter Arnold Bode, schrieb nicht zuletzt deshalb Kunstgeschichte, weil er mit seiner ersten documenta in Kassel 1955 ein wichtiges Zeichen dafür setzte, dass die Bundesrepublik auch im kulturell-künstlerischen Bereich wieder Anschluss an das die westlich orientierte kulturelle Moderne gefunden hatte. Dabei zeigte er eine ebenso symbolträchtige wie sensationelle Inszenierungsweise für die ausgestellten Exponate der modernen Kunst. In der Kriegsruine des Museums Fridericianum verwendete Bode nämlich zwei für den Wiederaufbau besonders 3

Ebenda, S. 42.

257

Friedhelm Scharf

zeitgemäße Materialien: Heraklith-Platten, einem sichtbar belassenen Baustoff für raumteilende Elemente, und die Göppinger Plastics, Kunststofffolien, die in langen Bahnen vor den Fensterläden das Tageslicht filterten und mit ihrem Faltenwurf die Wandflächen gleichsam auflösten.4 Vier Jahre zuvor (1951) hatte Arnold Bode seine Möbelentwürfe auf der Construkta in Hannover gezeigt. Es handelte sich um die erste bedeutende internationale Bauausstellung nach dem Krieg. Präsentiert wurden auf 60.000 qm eine Vielzahl von bauplanerischen Konzepten sowie eine Sonderschau Die neue Wohnung. Während in den ersten Nachkriegsjahren bei der Mehrzahl der Möbelproduzenten vornehmlich amerikanische Muster imitiert wurden, tendierten ab den 1950er Jahren immer mehr Firmen dazu, eigenständige Produktgestaltung zu betreiben. Und mit Blick auf Arnold Bode zeigt sich nochmals ein zeittypischer Synkretismus im westdeutschen Design. Sein Gleitkufensessel versuchte, wie die spätere Verballhornung „Mies van der Bode Sessel“ besagte, an die Tradition der großen Klassiker des Bauhauses anzuknüpfen.5

4

5

Vgl. Harald Kimple: documenta. Mythos und Wirklichkeit, Köln 1997, S. 301; Karin Stengel/Friedhelm Scharf: „Tableau I.: Geschichte documenta 1“. In: Karin Stengel/Michael Glasmeier (Hg.): 50 Jahre documenta – Archive in Motion, Göttingen 2005, S. 164. Vgl. Thomas Richter: „‚...Zweckbewußtes, phantasievolles Experimentieren!‘. Arnold Bodes Entwürfe für Möbel, Plastics und Tapeten“. In: Marianne Heinz (Hg.): Arnold Bode (1900-1977). Leben und Werk, München 2000, S. 32-34.

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Design und modernistische „Formgebung“ der jungen Bundesrepublik

Abb. 1

Doch verwendete Bode als Reminiszenz an deutsches Gemütlichkeitsempfinden dicke Schaumstoffpolster – was für Mies van der Rohes elegantes Ideal beim Barcelona Chair wohl ein Sakrileg dargestellt hätte. Die „Gute Form“, wozu es gerade aus der Moderne der Weimarer Republik hervorragende Vorbilder gab, vermischt sich teils aufgrund des biederen Konsumentengeschmacks, teils aufgrund wirtschaftlicher Notwendigkeit mit dem Gewöhnlichen und Dekorativen. Ein Designkritiker monierte diesbezüglich auf der Kölner Fachmesse von 1952, dass Wulstmöbel, d.h. dass „das Barock der Armen“ das Gesamtbild der Messe beherrscht hätte. So hätte man den „Eindruck gewinnen können, als ob die Möbelindustrie der Großmannsucht, also dem Geltungsbedürfnis einer großen Verbraucherschicht“ entgegengekommen wäre.6 Gegenüber solchen Stimmen wird aber oft übersehen, dass viele der zum Teil grotesken Kompromisse aus den frühen 1950er Jahre auch der schlechten wirtschaftlichen Situation von freien Gestaltern jener Zeit geschuldet sein konnten. Freie oder projektgebundene Verträge mit Firmen waren nur schlecht honoriert. Eine Lizenzbeteiligung an Produkten lag für die Entwerfer oft bei nur 1,5 bis 2% bei Serienab-

6

Zitiert nach Bangert: Die 50er Jahre, a.a.O., S. 53.

259

Friedhelm Scharf

schlüssen von 150 Stück.7 Zudem stieß eine künstlerisch freie Gestaltung an die Grenze von enorm beschleunigten Produktionsvorgängen. Bis 1952 wurden 1,5 Milliarden Dollar aus den Mitteln des „Marshallplans“ in die Westdeutsche Wirtschaft gepumpt. Schon 1950 hatte die frisch aus der Taufe gehobene Bundesrepublik den Stand der Produktivität aus der Vorkriegszeit erreicht. Das Wirtschaftswunder und die wieder gewonnene Kaufkraft versetzten viele Arbeitnehmer in die Lage, endlich in den Genuss lang begehrter Dinge zu kommen. Kofferradio, Motorroller, Haushaltsgeräte oder das Auto wurden zu greifbaren Konsumgütern. So geriet die Bundesrepublik zusehends in den Sog der amerikanischen Konsumkultur, womit auch das Zeitalter der „Wegwerfgesellschaft“ seinen Anfang nahm.8 Gemäß einer Anzeigenkampagne des renommierten amerikanischen LIFE-Magazines, in welcher der „Aufregende Boom des Lebens mit totaler Elektrizität“ gefeiert wurde, scheute man sich z.B. nicht, die euphemistische Devise von grenzenlosem Verbrauch auszugeben: „Toasten, hören, sehen, rasieren, heizen, kühlen, kochen, waschen, trocknen – alles elektrisch.“9 Im Zusammenhang des deutsch-amerikanischen Kräftevorführens im Energieverbrauch ist es eine bezeichnende Episode gewesen, dass 1959 beispielsweise die Neueröffnung des Hilton-Hotels in Westberlin wie ein Lichtpunkt inmitten des kalten Krieges auf dem Schlachtfeld des Designs gefeiert wurde – nämlich genau an dem Tag, an dem die sowjetische Note über den künftigen Status Westberlins aus Moskauer Sicht bekannt gegeben wurde (27. November 1959). Leuchtmittel der führenden deutschen Firmen, der verschiedensten Hersteller von Beleuchtungskörpern technischer und künstlerischer Prägung wurden zum Einsatz gebracht. Eine repräsentative Attitüde gegenüber dem amerikanischen Publikum sollte bei dieser Festbeleuchtung einerseits die Traditionsnote des Hauses erzielen – Tische, Stühle und Porzellan des französischen Klassizismus – sowie andererseits die modernen Erzeugnisse des Hauses Rosenthal mit

7 8 9

Richter: „‚...Zweckbewußtes, phantasievolles Experimentieren!‘“, a.a.O., S. 32. Vgl. Gert Selle: Design-Geschichte in Deutschland. Produktgestaltung als Entwurf und Erfahrung, Köln 1987, S. 243-245. Zitiert nach Bangert: Die 50er Jahre, a.a.O., S. 146.

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Design und modernistische „Formgebung“ der jungen Bundesrepublik

Hängeleuchten in zylindrischer Form, die ihr Licht als Strahl nach unten aussenden.10 Bereits in den frühen 1950ern war von den USA eine Obsession für modern gestalteten Luxus ausgegangen und die modisch gestaltete Schönheit bekam einen kommerziellen Wert, mit dem die Industrie Profit schöpfte. Je moderner ein Gegenstand aussieht, desto mehr unterliegt er aber dem Gesetz der Veralterung – folgert Albrecht Bangert. Damit wiederum würde der Fortbestand und die Erhöhung der Produktivität garantiert werden. Mithin war in Amerika die Zauberformel der ‚Obsolence‘ erfunden worden, d.h. die kalkulierte Veralterung des Modernen.11 Dieses amerikanische Wirtschaftsprinzip funktionierte gerade im von den Westmächten kontrollierten Deutschland, wo es zum legendären Wirtschaftswunder beigetragen hat. Sozialpsychologisch wurden, wie Gert Selle feststellt, mit diesem ästhetisierten Konsum kollektive Weichen gestellt: „Fast alle Neuanschaffungen sollten von nun an das Gefühl des ‚ersten Mals‘ vermitteln.“12 Hiermit korrespondiert ein Geschmacksinteresse an fantasievoll geschwungenen Linien, an frei geformten Möbeln, welche an die sinnlichen Rundungen der Skulpturen von Henry Moore oder Hans Arp erinnern.13 Und hiermit ist gleichermaßen das Ideal für Möbelentwürfe der 1950er Jahre überhaupt angesprochen: die ‚Organische Formgebung‘. Deutsche Gestalter erwiesen sich hiermit abermals als beflissene Schüler Amerikas. Das Vorbild der ‚Organischen Gestaltung‘ war Charles Eames, der 1940 gemeinsam mit Eero Saarinen den Wettbewerb „Organic Design in Home Furnishings“ des Museum of Modern Art in New York gewonnen hatte. Mit einem weiteren, 1948 ausgeschriebenen Wettbewerb des gleichen Hauses mit dem Titel „International Competition for Low Cost Furniture“ kreierte Eames sein Meisterstück: La Chaise, dessen eindrucksvoller und ungewöhnlicher 10

11 12 13

documenta-Archiv, Kassel: Aktenarchiv, documenta 1, Map. 20 (Autografen und Materialsammlungen Arnold Bodes: Artikel einer nicht identifizierbaren Design-Zeitung: „helles und gedämpftes Licht im HILTON“). Vgl. auch Peter Weininger: „Vom ersten Kontakt bis zur Eröffnung. Aus der vierjährigen Vorgeschichte des Hotels“. In: Der Tagesspiegel, 29. November 1958. Zitiert nach Bangert: Die 50er Jahre, a.a.O., S. 147. Selle: Design-Geschichte in Deutschland, a.a.O., S. 256. Christian Borngräber: „Die fünfziger Jahre. Kunst und Raumkunst“. In: Helmut Gsöllpointer/Angela Hareiter/Laurids Ortner (Hg.): Design ist unsichtbar (Katalog), Wien 1981, S. 223.

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Schalensitz bald auch in Deutschland Nacheiferer fand.14 Eames wichtigste Entwicklung waren die Kunststoffschalen, die meist in Verbindung mit Metallgestellen hergestellt wurden. Es spricht für die Weltgeltung, welche die USA im internationalen Möbeldesign erlangten, wenn in deutschen Bau- und Wohnzeitschriften der Name Charles Eames immer wieder genannt wurde.15 Man bestaunte, wie Eames gegensätzliche Materialien verband, z.B. Holz und Metall durch Gummipuffer oder wie er Sitzschalen in einem Arbeitsgang pressen ließ, um Volumen und Formanpassung von Polstermöbeln zu erreichen. Die Grundlage dieses neuen Formenreichtums im Alltag bestand in der Entwicklung synthetischer Grundstoffe. Diese bildeten in ihrer Formbarkeit, Widerstandsfähigkeit und Preisgünstigkeit erst die Grundlage einer neuen ästhetischen Freiheit für die Entwerfer. In dem Buch von Nikolaus Jungwirth Die Pubertät der Republik wurde anhand eines Fotos von der Innenausstattung einer westdeutschen Kleinfamilie dieser Zeit etwa aufgezeigt, dass sich immerhin ca. 30 Einrichtungsgegenstände aus Kunststoff in einem einzigen Raum befinden konnten: „angefangen bei den AcellaGardinen über das Brotkörbchen aus Lupolen bis zu den Cocktailsesseln, deren Schaumstoffunterlagen mit jenem beschwingt gemusterten Material bezogen waren, an dem man erstmals merkte, dass man auch am Hintern schwitzen kann.“16 Das zweite große Ästhetik-Ideal des Fünfziger-Jahre-Designs, welches mit der ‚Organischen Gestaltung‘ beinah friedlich zu koexistieren schien, hieß ‚Funktionalismus‘. In diesem Zusammenhang bemerkte die amerikanische Innenarchitektin Florence Knoll zur Eröffnung der Zweigniederlassung von Knoll International in Stuttgart, dass von der messbaren Größe eines Raumes abzusehen sei. Hingegen forderte sie Zweckmäßigkeit und Funktionalität für den deutschen Wohnraum. In der gleichen Ansprache äußerte Florence Knoll, dass es darum gehen solle, die Lebensführungen einfach durch die Anordnung der Gebrauchsgegenstände in vielfacher Weise zu vereinfachen. Beispielsweise könne man in einem Raum zugleich wohnen, essen und arbeiten. Das, was hier aufgrund eines 14 15 16

Ein Exponat findet sich im Neuen Museum Nürnberg. Vgl. www.dieneue-sammlung.de (15. März 2007). Bangert: Die 50er Jahre, a.a.O., S. 77. Nikolaus Jungwirth: Die Pubertät der Republik: Die fünfziger Jahre in Deutschland, Frankfurt a.M. 1978. Hier zitiert nach Selle: DesignGeschichte in Deutschland, a.a.O., S. 258f.

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rein wirtschaftlichen Pragmatismus gefordert wurde – denn Wohnraum war immer noch Mangelware – konnte auch in mehr idealistischer Weise verbrämt werden. Max Burchartz, der an der Volkwang-Schule Essen Professor für Gestaltung war und ebenso wie Arnold Bode für die Göppinger Kaliko Werke arbeitete, betonte: „[…] wir verabscheuen die kleinliche Winkeligkeit mit ihren muffigen Draperien, ihrer düsteren Enge, ihrer so genannten, uns sehr verdächtig gewordenen Gemütlichkeit.“ Vielmehr erstrebt der Gestalter „eine lichte Geräumigkeit, die in dem Menschen, der sich in solchen Räumen aufhält, ein aktivierendes Gefühl der Freiheit, des Nicht-Eingeschlossen-Seins erzeugt.“17 Hier sprach sich ein ästhetisch-ethisches Ideal aus, das typisch für Mitglieder des Rates für Formgebung war, einer staatliche Agentur, die am 13. Oktober 1952 auf Beschluss des Deutschen Bundestages gegründet worden war. Ihre Zielsetzung lautete: „Im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und des Handwerks und im Interesse der Verbraucher alle Bestrebungen zu fördern, die geeignet erscheinen, die bestmögliche Form deutscher Erzeugnisse sicher zu stellen.“18 Heute würde man anstelle von ‚Formgebung‘ – als Konnotation zur deutschen Wertarbeit – wohl von einer ‚Corporate Identity‘ sprechen. Als altmodisch erscheint uns Heutigen wohl auch, wenn Bundespräsident Theodor Heuss in der Hausbroschüre des Rats für Formgebung, Werk und Zeit, damals den Qualitätsbegriff für Produktgestaltung einfach folgendermaßen definiert: „Qualität ist das Anständige“.19 Eine solch urdeutsche Tugend war in der besagten Broschüre bezeichnenderweise in Nachbarschaft zu einer Abbildung platziert, die keineswegs eine deutsche Wertarbeit zeigte, sondern eine ebenso einfache wie brillante Idee aus den USA: es handelt sich um den 1950er-Jahre-Klassiker eines Rundstuhls von Harry Bertoia, welcher auf dem Raum-Gitter-Prinzip basiert.

17 18 19

Wend Fischer: „Göppinger Plastics. Werkbericht“. In: Werk und Zeit, Jg. 4 (1954), Sonderbeilage S. 4. Sonderbroschüre des Rates für Formgebung: Wend Fischer (Redaktion), in: Werk und Zeit, Jg. 1 (1953), S. 1. Theodor Heuss: „Was ist Qualität?“ In: Ebenda, S. 1.

263

Friedhelm Scharf

Abb. 2

Auch diese Sitzkorbidee wurde von dem größten und einflussreichsten US-amerikanischen Möbelhersteller produziert und dann in Deutschland vertrieben: nämlich von Knoll International. In der Hand des Normalverbrauchers mussten Altmodisches und Neues sich ergänzen. Der Unbändige Wille zum Modernen, welcher den 1950er Jahren für gewöhnlich nachgesagt wird, wurde zumindest im Alltag der Bundesrepublik trotz amerikanischer Starthilfe oftmals ausgebremst oder verwässert. Dies zeigt z.B. eine Umfrage des Instituts für Demoskopie aus dem Jahre 1955, bei welcher Frauen über ihren Wohngeschmack befragt wurden. Zum Großteil optierten sie zur gängigen Möbelkonfektion der Kaufhäuser alter Prägung mit solider Hochglanzpolitur und herkömmlicher Typologie, nämlich insgesamt 61% der Befragten, einen einfachen Werkstättenstil nach Art der Schwedenmöbel bevorzugten ca. 30%, aber nur 7% bekannten sich zu modernen Möbeln.20 Eine bürgerliche Conditio Humana geriet in Konkurrenz mit einem Modernismus, an dessen Durchsetzung noch für lange Zeit gearbeitet werden sollte – einerseits ein Modernismus der so genannten ‚Guten Formen‘, wie er von fortschrittlichen Gestaltern oder von Funktionären der Wirtschaft und Politik gefordert wurde, und anderseits ein Modernismus des ausgefallenen Stylings. Diese Antinomie blieb bei kulturkritischen Autoren der 1950er Jahre, wie Walter Kiaulehn, nicht unbemerkt:

20

Bangert: Die 50er Jahre, a.a.O., S. 47f.

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Verwirrt und unsicher […] blickten wir Deutschen in diese Welt. Wir sahen die Arrivierten der Moderne gefolgt von einem Troß gutverdienender Modernisten, die das Werk der Meister in modernistische Architektur, in Stühle und Tapeten, Autokarosserien, Zigarettenpackungen und Bügeleisen verwandeln. Der Nierentisch schien unser unabwendbares Schicksal, und das Proletariat und Kleinbürgertum der Kunst produzierten am laufenden Band seine ‚Durchbrüche ins Abstrakte’, die Moderne erschien in der Banalität der Konfektion zu ersticken.21

Schenkt man aber einem US-amerikanischen Zeitungsartikel aus dem Jahre 1964 Glauben, so müssen die transatlantischen Beeinflussungen des American way of life auf die noch junge Bundesrepublik durchaus erfolgreich gewesen sein. Denn anlässlich der documenta 3 in Kassel, d.h. der zyklisch wiederkehrenden Weltausstellung der modernen Kunst, war in der Sonntagsausgabe der Washington Post zu lesen: „Kassel ‚Americanize‘ Better Than We“. Mit fast beiläufigem Optimismus hieß es im gleichen Artikel: „Americanization, with it pitfalls and blessings of mass production and mass culture, now seems accepted as a fact of modern Life.“22 Wie als wenn es zu diesem Resumé noch eines augenscheinlichen Beweises bedurft hätte, tauchte im internationalen Presse-Echo zur documenta von 1964 immer wieder ein Agentur-Foto auf, das damals wie auch heute für einiges Schmunzeln sorgt: Eine junge Frau ist in Rückenansicht in Betrachtung eines amerikanischen Monumentalgemäldes der 1950er Jahre abgelichtet, nämlich dergestalt als hätte sich ihr modisch geschnittenes Kleid dem frech und dynamisch dahin geworfenen Flächenmuster des Bildes anverwandelt: es handelt sich um ein Gemälde von Jackson Pollock23, Number 32 (1950), das exemplarisch für den abstrakten Expressionismus war und später als Symbol dafür taugte, dass die Avantgarde Europas abgedankt hatte und die Welthauptstadt der modernen Kunst nunmehr New York hieß. In Anbetracht des Fotos scheint die 21 22 23

Walter Kiaulehn: „documenta. Fünfzig Jahre moderne Kunst“. In: Münchner Merkur, 30./31. Juli 1955. Wolf von Eckart: „Kassel ‚Americanizes‘ Better Than We“. In: The Washington Post, 23. Juli 1964. Vgl. im vorliegenden Band auch den Beitrag von Sabiene Autsch sowie die dortige Abbildung von Jackson Pollock. Vgl. auch die Anmerkungen zu Pollocks Gemälde im Ausstellungskontext in: Karin Stengel/Harald Kimpel (Hg.): documenta 3. Internationale Ausstellung. Eine fotografische Rekonstruktion, Bremen 2005, S. 8, S. 10 und S. 66.

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Moderne amerikanischen Zuschnitts gleichsam zur zweiten Haut des westlichen Menschen geworden zu sein. II. Der Ethos und die Institutionsgeschichte des Designs am Beispiel der deutsch-amerikanischen Bauhaus-Rezeption und der Gründung der HfG-Ulm Die Idee, eine Übertragung von bildender Kunst auf die Ästhetik von Produktgestaltung zu leisten, war indessen aus einer der bedeutendsten Schulen der Moderne hervorgegangen: aus dem Weimarer bzw. Dessauer Bauhaus der 1920er Jahre. Schon früh wurde die Bauhaus-Maxime, künstlerische Schöpfungen im großen Maßstab für wirtschaftlich verwertbares Design nutzbar zu machen, von der Industrie in den USA adaptiert. Viele der Protagonisten des Bauhauses (Weimar-Dessau-Berlin) waren ab den 1930er Jahren ja vor den Nazis in die Vereinigten Staaten geflohen: Walter Gropius, Lyonal Feininger, Josef und Anni Albers, Walter Peterhans, Marcel Breuer, Herbert Bayer, Ludwig Mies van der Rohe und László Moholy-Nagy. Die Emigration dieser kunsthistorischen Größen hat der Moderne in den USA wichtige Impulse vermittelt. Dabei zeigt sich, dass es schon frühzeitig Interessen gab, die Bauhausmeister für die USA zu gewinnen. Das Museum of Modern Art war selbst Triebfeder für eine amerikanische Bauhausrezeption, so dass Paola Antonelli hier sogar einen Ausgangspunkt für modernes Design in den USA sieht. Eine wichtige Etappe sei mit der Ausstellung „International Style“ erreicht gewesen, die 1932 im Museum of Modern Art stattfand.24 Zuvor schon hatte der erste Direktor des MoMa, Alfred Baar, im Jahre der Museumseröffnung (1929) einen Vortrag zum Bauhaus gehalten, womit nicht nur die Ambitionen des Sammlungsauftrags zum Ausdruck kamen, sondern sogar ein Interesse für die Integration der Bauhauserzeugnisse in die USamerikanische Kultur. Knapp zehn Jahre später (1938/39) wurde mit der Organisation von Walter Gropius im MoMa die bis dato größte Bauhaus-Ausstellung außerhalb Deutschlands veranstaltet, dies war freilich nur ein Jahr später nachdem die Moderne in

24

Paola Antonelli: „Stahl und Porzellan. Das Elementare und das Dialektische im Deutschen Design“. In: Godau/Polster (Hg.): Design Lexikon Deutschland, a.a.O., S. 9-11, hier S. 11.

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Deutschland als Entartete Kunst (München 1937) geächtet worden war. Es sei ein Weg gewesen, die Bauhaus-Künstler in die amerikanische soziokulturelle Struktur zu integrieren – so Margarita Tupitsyn, um damit einen Teil der europäischen Kunst von dem Etikett ‚ausländisch‘ zu befreien und diese stattdessen mit einem amerikanischen zu versehen. Die Deutschen Exil-Künstler und Intellektuellen suchten unter dem politischen Druck des Nazi-Regimes genau die Basis kultureller Akzeptanz, die ihnen in ihrer Heimat verloren gegangen war und die ihnen die USA bereitwillig gab. Die Lebenswege jener Bauhauskünstler, die sich Ende der 1930er Jahre und Anfang der 1940er in New York niederließen, zeigen, dass ihnen die Integration in die amerikanische Gesellschaft leicht gemacht wurde. Lyonel Feininger, Herbert Bayer und Xanti Schawinsky erhielten verschiedene Staatsaufträge, etwa Plakat- und Ausstellungsgestaltungen, die mehr gesellschaftliche als künstlerische Bedeutung besaßen. Zu diesen Produktionen gehörten auch die Beiträge der drei Künstler zum Amerikanischen Pavillion auf der New Yorker Weltausstellung 1939, Bayers Entwürfe im MoMa für die Antikriegsausstellungen „Road to Victory“ (1942) und „Airways to Peace“ (1943) sowie Bayers und Schawinskys Gestaltungen von Antikriegs- und Wohnungsplakaten.25 Der Bauhausgründer Walter Gropius erklärte kurz vor seiner Übersiedelung in die USA (1937) selbstbewusst, dass sich in seiner bevorstehenden Berufung zum Professor der Harvard University, einmal mehr die Fähigkeit der Amerikaner erweisen würde, „die unterschiedlichsten Menschen zusammenzubringen, um eine neue Form des Lebens typisch amerikanischer Prägung zu schaffen.“26 Tatsächlich avancierte Gropius in den Vereinigten Staaten zum Lehrer von gerühmten Architekten. Neben verschiedenen, höchst einflussreichen Schriften zur Architekturtheorie gehörten zu seinen wichtigen Projekten etwa sein eigenes Privathaus in Lincoln, Massachusetts, das Graduate Center in Harvard (1949) oder das Pan American World Airlines Building in New York (1958). Und Mies van der Rohe, der bereits in seiner Zeit als Bauhausdirektor Auftragsavancen aus Amerika erhalten hatte, leitete das Illinois In25 26

Margarita Tupitsyn: „Ablehnung und Akzeptanz des Bauhaus-Gedankens in Amerika“. In: Georg-W. Költzsch/Margarita Tupitsyn (Hg.): Bauhaus: Dessau – Chicago – New York, Köln 2000, S. 14-25, hier S. 20. Karen Koehler: „Walter Gropius und Marcel Breuer. Von Dessau nach Harvard“. In: Költzsch/Tupitsyn: Bauhaus, a.a.O., S. 70-81, hier S. 76.

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stitute of Technology und reüssierte weiterhin auf dem Feld moderner Architektur. In Chicago beschäftigte er sich mit der Planung und dem Bau von Hochhäusern, wobei seine Tätigkeit ihren triumphalen Höhepunkt in der Errichtung des Lake Shore Towers (19481951) fand. Ani und Josef Albers wurden wiederum zu wichtigen Lehrern des Black Mountain College in North Carolina. Dort untersuchte Josef Albers zusammen mit seinen Studentinnen und Studenten die Wechselwirkung der Farben („Interaction of Color“), deren komplexe additiven Effekte auf Tafeln festgehalten wurden, während Ani Albers ebenso mit ihren Studentinnen für ihre Bildgewebe mit zum Teil traditionellen Manufaktur-Techniken experimentierte. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass diese Schule als einzigartig charakterisiert wurde – wegen ihrer kreativen Synthese aus amerikanischer Progressivität und europäischer Moderne, die größtenteils auf den Idealen der Bauhauspädagogik basierte.27 Schließlich erhielt László Moholy-Nagy von der Association of Arts and Industries in Chicago das Angebot, eine neue DesignSchule zu übernehmen. Die besagte Institution war eine industrielle Vereinigung, die sich die Qualitätsverbesserung von Produkten zur Aufgabe gemacht hatte. Da das Bauhaus in den Vereinigten Staaten zum Begriff geworden war und eine Modellfunktion übernehmen sollte, hatte man sich zunächst an Gropius gewandt. Dieser schlug aber wiederum seinen ehemaligen Kollegen vor: László Moholy-Nagys wollte mit seiner Ernennung zum Direktor die Schule als New Bauhaus benannt wissen. Die Ziele des New Bauhaus bestanden laut Moholy-Nagy in einem transdisziplinären Projekt von Gestaltung und Forschung – eine Verbindung von Kunst, Wissenschaft und Technik. Hierzu sollten die Entwicklung von synthetischen Fasern, von Textildruck, Tapetendesign, Typografie, Werbe- und Porträtphotografie, Film, Auslagengestaltung und Architektur gehören. Zudem betonte Moholy-Nagy sein pädagogisches Prinzip, indem er in seinen Studenten den ganzen Menschen sah, dessen Sinne es zu kultivieren galt, indem seine Fähigkeiten zusammen mit den Ressourcen der Schule entwickelt werden sollten.28 27 28

Paul Betts: „Black Mountain College, NC“. In: Jeannine Fiedeler/Peter Feierabend (Hg.): Bauhaus, Köln 1999, S. 62-65, hier S. 62. Victor Margolin: „László Moholy-Nagy Odysee. Von Ungarn nach Chicago“: In: Költzsch/Tupitsyn (Hg.): Bauhaus, a.a.O., S. 198-207, hier S. 198f.

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Diese amerikanischen Karrieren besaßen Auswirkungen auf den Mythos Bauhaus, wie er in der Nachkriegszeit in der jungen Bundesrepublik bewusst befördert wurde. Die äußerst positive Bauhaus-Rezeption in den USA wurde durch einen Bumerangeffekt in die Prämissen des Wiederaufbaus und vor allem der Demokratisierung Westdeutschlands mit hineingetragen. Das Bauhaus eignete sich für eine kulturelle Brücke innerhalb der transatlantischen Partnerschaft gerade deshalb, weil diese berühmte Hochschule für Gestaltung in der Weimarer Republik für eine liberale, weltoffene und antifaschistische Haltung stand.29 Überdies kam dem vom Bauhaus aufgegriffenen Werkbund-Gedanken der ästhetischethischen Erziehung des Menschen mittels der Produktgestaltung großes Interesse zu. Gropius hatte im ersten Bauhausmanifest (1919) von der Einheit aller werkkünstlerische Disziplinen gesprochen: „Das letzte, wenn auch ferne Ziel des Bauhauses ist das Einheitskunstwerk.“ Mit dem zentralen Gedankenmotiv des „Baus“ im Manifest von 1919 lässt sich auch eine Metapher für den Bau der menschlichen Gesellschaft sehen. Viel später in seinem Leben schrieb er an den Direktor der Hochschule für Gestaltung Ulm, Tomás Moldonado, von seinem humanen Anspruch, der „den neuen Menschen in neuere Umgebung aufbauen und schöpferische Spontanität in allen auslösen“ solle.30 Ein ähnlich humanisierendes Gesellschaftsanliegen findet sich auch in einer der Maxime des Rates für Formgebung der Bundesrepublik von 1952/53 wieder: „Da es Menschen sind, die mit den Dingen und Geräten umgehen, mit ihnen leben und arbeiten, besitzt die gute Form bildende und prägende Funktion im humanen, sozialen, kulturellen Bereich.“31 Der ethisch-erzieherische Gesellschaftsanspruch, wie er in der Welt des Design bzw. der Produktgestaltung mit Verweis auf das Bauhaus geltend gemacht wurde, koinzidierte nach dem Krieg kurioserweise mit dem „Reeducation Programm“ der Amerikaner, d.h. mit dem Versuch der Siegermächte, die Deutschen von Nazis zu Demokraten umzuerziehen. In diesen Zusammenhang fällt die 29 30 31

Vgl. Claudia Heitmann: Die Bauhaus-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1968: Etappen und Institutionen, Berlin 2003, S. 29 und S. 46. Zitiert nach Nicole Colin: „Bauhaus philosophisch – Kulturkritik und soziale Utopie“. In: Fiedeler/Feierabend (Hg.): Bauhaus, a.a.O., S. 22-25, hier S. 25. Eduard Schalejew: „Rat für Formgebung“. In: Werk und Zeit, Jg. 1 (1953), S. 1.

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Entstehungsgeschichte der Hochschule für Gestaltung, Ulm (HfG Ulm 1955-1968). Die Einweihung der HfG als „Neues Bauhaus“ im Jahre 1955 ging mit einer Rede von Walter Gropius einher. Diese berühmte Hochschule für Gestaltung, an der außer Max Bill auch die Bauhäusler Josef Albers, Johannes Itten, Walter Peterhans und Helene Nonné-Schmidt unterrichteten, sollte aber keine bloße Kopie sein, sondern eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Bauhauses. Der Gründungsakt der HfG besaß innerhalb transatlantischer Beziehungen ein hohes Prestige, denn das Projekt wurde vom „American High Command of Germany“ sowie von der Bundesregierung unterzeichnet. Die Initiative hierzu kam von Inge Scholl, Schwester von Hans und Sophie Scholl, die als Mitglieder der Widerstandsgruppe Weiße Rose 1943 von den Nazis hingerichtet worden waren. Zu ihrem Gedenken setzte sich Inge Scholl vehement für die Etablierung einer Geschwister Scholl Hochschule in Ulm ein, die zunächst aus der Volkshochschule hervorgegangen war.32 Inge Scholl entwickelte aus diesen Gedanken zusammen mit den berühmten Grafiker und Gestalter Otl Aicher, ihrem späteren Ehemann, sowie mit Hans Werner Richter die Prämisse der Hochschule für Gestaltung. Sie sollte dazu beitragen, den von Inge Scholl als verhängnisvoll bezeichneten historischen Antagonismus von „technischer Zivilisation“ und „deutscher Kultur“ zu überwinden. Mithin sollte ein neuer „Kristallisationspunkt für ein besseres Deutschland“ geschaffen werden, an dem der „Geist von Freiheit und Frieden“ eine antifaschistische europäische Kultur fördern sollte.33 Doch das Projekt bedurfte einer finanziellen und organisatorischen Anschub-Unterstützung der Amerikaner. Daher trug Inge Scholl ihre Gedanken zusammen mit einem Exposé bei einem Treffen im November 1950 John Mc Cloy vor, welcher der Hohe Kommissar des „High Command of Germany“ war. Der Eindruck, den Inge Scholl auf John Mc Cloy machte, war so stark, dass er in den Vereinigten Staaten bei einem Vortrag in Boston engagiert für die Sache von Inge Scholl und Otl Aicher eintrat. Die schon sichtbaren, hoffnungsvollen Ansätze sollten zum Aufblühen gebracht werden: 32 33

Eva von Seckendorf: Die Hochschule für Gestaltung in Ulm: Gründung (1949-1953) und die Ära Max Bill (1953-1957), Marburg 1989, S. 17. Zitiert nach: Paul Betts: „Hochschule für Gestaltung, Ulm“. In: Fiedeler/Feierabend (Hg.): Bauhaus, a.a.O., S. 74.

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[...] to succeed, however, we Americans must now redouble our efforts to solve the German problem. [...] In particular, we need your support in the field of education and the spiritual developement of the country.” Und weiter führte er über Inge Scholl aus: „[…] she had little or no money, there were no rooms available in that badly damaged city, there were no teachers. But the girl had an idea and she never gave up. [...] By the power of her example and spirit she is able to find lectures and teachers.34

Das Programm von Inge Scholl und Otl Aicher sah vor, dass eine zeitnahe kulturelle und politische Erziehung an die Stelle der akademischen Ausbildung treten sollte. Der Jugend sollte ein Vorbild gegeben werden, so dass die Haltung der Geschwister Scholl für die Bewältigung der aktuellen Aufgaben fruchtbar gemacht werden könne. Ein Ziel war die Erziehung von Menschen zu einer „geschlossenen, geistigen und menschliche Haltung“. Hierzu sollten die Fächer Publizistik, Politik, Soziologie, Städteplanung und industrielle Formung unterrichtet werden. Werkstätten, Studios und Ateliers sollten an die Hochschule angegliedert werden.35 Unter dem Einfluss des Bildhauers und Gestalters Max Bill, der schon um 1949 zum Gründungsgremium hinzu gestoßen war und ab 1955 der erste Direktor der HfG werden sollte, wurde der Schwerpunkt aber vom gesellschaftspolitischen Gebiet auf das Feld des Industriedesigns verlagert. Der demokratisch-politische Ethos und eine interdisziplinäre Ausrichtung zwischen Geisteswissenschaft und Technik blieb somit – im Geist der Schulgründer – weiterhin betont und im Klima der Schule immer spürbar, bis sie 1968 aufgrund von Finanzkürzungen, starken Divergenzen innerhalb des Lehrkörpers sowie auch aufgrund einer allgemeinen Krise des funktionalistischen Designs geschlossen wurde. Es war im Sinne des ersten Direktors Max Bill, dass der Gestalter eine soziale und kulturelle Verantwortung übernehmen müsse. Sein erklärtes Ziel bestand in nichts weniger als darin, Kulturindustrie und Industriekultur zu einer Einheit zu bringen. Vorausgesetzt wurden hierfür eine aufgeschlossene Haltung der Studentinnen und Studenten, eine unkonventionelle Denkweise und eine geistige Mobilität, wie es in einer Selbstdarstellung der HfG im

34 35

Zitiert nach René Spitz: hfg ulm. der blick hinter den vordergrund. die politische geschichte der hochschule für gestaltung, Köln 2001, S. 75. Ebenda, S. 71.

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Rahmen einer Ausstellung von 1964 hieß.36 Ein Vorbild in der Pädagogik des HfG spielte, stärker noch als das Bauhaus selber, das Chicagoer New Bauhaus zu Zeiten von László Moholy-Nagys. Die Selbstdefinition der HfG wurde dabei auch formuliert als „internationales Zentrum für Lehre, Entwicklung und Forschung im Bereich der Gestaltung industrieller Erzeugnisse“37. Die Abteilungen bestanden schließlich in Produktgestaltung, Bauen, Visuelle Kommunikation und Information. Dabei wurden Entwicklungsund Forschungsaufgaben in konkreter Zusammenarbeit mit der Industrie durchgeführt. Eine berühmte Etappe der Designgeschichte bestand in der Symbiose der HfG mit der Firma Braun, dem berühmten Hersteller für Elektro- und Hifi-Geräte. Die Zusammenarbeit wurde zum Synonym für funktionsgerechtes Design: „[…] die Inkarnation der ‚Guten Form‘“, wie das Design Lexikon Deutschland definiert.38 Artur Braun sah in den Ulmer Grundsätzen die ideale Basis für sein Produktprogramm, so dass mehrer Dozenten der HfG mit der Firma zusammen arbeiteten, darunter Fritz Eicher, Otl Aicher, Hans Gugelot und Dieter Rams. Von dem beiden letztgenannten wurde ein für die funktionalistische Gestaltung bahnbrechendes Produkt entwickelt: die Kombination des Radio-Plattenspielers Phonosuper SK 4, der wegen seines Plexiglasdeckels auch mit den Spitznamen Schneewittchensarg bedacht wurde.

36 37 38

Hochschule für Gestaltung (Hg.): Hochschule für Gestaltung Ulm: 11. Mai bis 17 Juni 1964, Die Neue Sammlung München (Ausstellungskatalog), München 1964, S. 4. Ebenda. Vgl. Godau/Polster (Hg.): Design Lexikon Deutschland, a.a.O., S. 146.

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Abb. 3

Wegweisend war dieses Produkt deswegen, weil mit ihm der Abschied vom klobigen Radiomöbel hin zum Hifi-Stereozeitalter eingeläutet wurde. Produkte der HfG zeichnen sich oftmals durch eine bestechende mathematische Knappheit und Präzision aus, ihr Aufbau ist klar konturiert und gegliedert. So sind die Produkte der HfG nicht nur im Braun-Elite-Design auf dem Markt erfolgreich geworden, sondern auch in Kombination mit Firmen wie Junghans, Kodak oder nicht zuletzt der Lufthansa, deren ‚Corporate Identity‘ von Otl Aicher gestaltet wurde. Mithin wurde den Arbeiten der HfG nachgesagt, dass sie bereits die emotionslose Nüchternheit und kühle Eleganz des Computer-Designs vorweggenommen hätten. Mit dem Neo-Funktionalismus bzw. einer neuen TechnikÄsthetik von HfG-Produktgestaltung soll schließlich darauf hingewiesen werden, dass diese Institution auch darin zukunftsweisend war, dass sie wie keine andere Hochschule der frühen Bundesrepublik ihre Produktivität und Kreativität internationalen Synergien zu verdanken hatte. Durch den hohen Anteil an Gastdozenten und vor allem an ausländischen Studenten (zwischen ca. 30 – 50%) kam es bei der HfG zu einem hohen Einfluss von unterschiedlichsten Theorien und Ansätzen, die sowohl von den Dozenten als auch den Studenten rege diskutiert wurden.39 Dieser Sachverhalt weist auf das internationale Interesse an der HfG hin, sowie an das Ansehen der HfG in der Welt. Und für das internationale Flair mag 39 Vgl. Spitz: hfg ulm, a.a.O., S. 19.

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auch eine Anekdote signifikant sein, an die kürzlich der Kunstwissenschaftler Sarat Maharaj auf einer Tagung erinnert hat: Die Studenten der HfG, darunter der berühmte Pop-Art Künstler Richard Hamilton, hatten ihren Professor und nachmaligen Direktor, den Argentinier Tomás Maldonado, den „Spitznamen ‚Blue Jinx-Philosoph‘ [to jinx – verhexen, mit einem Fluch belegen, F.S.] gegeben. Sie bezogen das auf seine ‚coole‘ Art, sich mit Denim Jeans und Jacke zu bekleiden. Sie besuchten ihn auch später in London, als er sich mit $HE (Tate, 1958-63) beschäftige, eine Arbeit, die hochgestochene expressionistische Malereien mit glatten, sexy Pop-Medien-Bildern verband. Sie brachten ihm ein plastiklaminiertes Auge, das ganz frech zwinkerte, wenn man daran vorbei ging – genau der richtig schräge Pop-Touch, um das Ganze perfekt abzurunden.40

Mit dem Rektorat von Maldonado trat eine Verwissenschaftlichung des Design-Gedankens ein, so dass er die Idee des Gestalters als schöpferische bzw. künstlerisches Aktivität verabschiedete und statt dessen das Programm verfolgte, dass der Designer zusammen mit Projektgruppen der Wissenschaft oder der Industrie zu objektivierbaren Formlösungen kommen sollte. Die eben zitierte Anekdote illustriert in menschlicher Sichtweise, wie wir mit der Geschichte der HfG Ulm im Kern schon die Verbindung zwischen Deutschland und der globalen Welt antizipiert finden, in der es bis zum heutigen Tag zusehends um die Vernetzung, besser gesagt um die Transmedialität von unterschiedlichsten Gebieten der Gestaltung geht. Literatur Antonelli, Paola: „Stahl und Porzellan. Das Elementare und das Dialektische im Deutschen Design“. In: Marion Godau/Bernd Polster (Hg.): Design Lexikon Deutschland, Köln 2000, S. 911. Bangert, Albrecht: Die 50er Jahre. Möbel und Ambiente, Design und Kunsthandwerk, München 1983 (Reprint 1990). 40

Sarat Maharaj: „Merz-Denken: Zur Auslotung des documenta-Prozesses zwischen Kritik und Spektakel“. In: Heike Radeck/Karin Stengel/Friedhelm Scharf (Hg.): documenta zwischen Inszenierung und Kritik, Hofgeismar 2007, S. 11-43, hier S. 22.

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Betts, Paul: „Black Mountain College, NC“. In: Jeannine Fiedeler/Peter Feierabend (Hg.): Bauhaus, Köln 1999, S. 62-65. Paul Betts: „Hochschule für Gestaltung, Ulm“. In: Jeannine Fiedeler/Peter Feierabend (Hg.): Bauhaus, Köln 1999, S. 74-79. Borngräber, Christian: „Die fünfziger Jahre. Kunst und Raumkunst“. In: Helmut Gsöllpointer/Angela Hareiter/Laurids Ortner (Hg.): Design ist unsichtbar (Katalog), Wien 1981, S. 223-258. Colin, Nicole: „Bauhaus philosophisch – Kulturkritik und soziale Utopie“. In: Jeannine Fiedeler/Peter Feierabend (Hg.): Bauhaus, Köln 1999, S. 22-25. Eckart, Wolf von: „Kassel ‚Americanizes‘ Better Than We“. In: The Washington Post, 23. Juli 1964. Fischer, Wend: „Göppinger Plastics. Werkbericht“. In: Werk und Zeit, Jg. 4 (1954), Sonderbeilage S. 4. Godau, Marion/Bernd Polster (Hg.): Design Lexikon Deutschland, Köln 2000. Heitmann, Claudia: Die Bauhaus-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1968: Etappen und Institutionen, Berlin 2003. Heuss, Theodor: „Was ist Qualität?“ In: Werk und Zeit, Jg. 1 (1953), S. 1. Jungwirth, Nikolaus: Die Pubertät der Republik: Die fünfziger Jahre in Deutschland, Frankfurt a.M. 1978. Kiaulehn, Walter: „documenta. Fünfzig Jahre moderne Kunst“. In: Münchner Merkur, 30./31. Juli 1955. Kimple, Harald: documenta. Mythos und Wirklichkeit, Köln 1997. Koehler, Karen: „Walter Gropius und Marcel Breuer. Von Dessau nach Harvard“. In: Georg-W. Költzsch/Margarita Tupitsyn (Hg.): Bauhaus: Dessau – Chicago – New York, Köln 2000, S. 198-207. Maharaj, Sarat: „Merz-Denken: Zur Auslotung des documentaProzesses zwischen Kritik und Spektakel“. In: Heike Radeck/Karin Stengel/Friedhelm Scharf (Hg.): documenta zwischen Inszenierung und Kritik, Hofgeismar 2007, S. 11-43. Margolin, Victor: „László Moholy-Nagy Odysee. Von Ungarn nach Chicago“: In: Georg-W. Költzsch/Margarita Tupitsyn (Hg.): Bauhaus: Dessau – Chicago – New York, Köln 2000, S. 198-207. Richter, Thomas: „‚...Zweckbewußtes, phantasievolles Experimentieren!‘. Arnold Bodes Entwürfe für Möbel, Plastics und Tape-

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ten“. In: Marianne Heinz (Hg.): Arnold Bode (1900-1977). Leben und Werk, München 2000, S. 32-34. Schalejew, Eduard: „Rat für Formgebung“. In: Werk und Zeit, Jg. 1 (1953), S. 1. Seckendorf, Eva von: Die Hochschule für Gestaltung in Ulm: Gründung (1949-1953) und die Ära Max Bill (1953-1957), Marburg 1989. Selle, Gert: Design-Geschichte in Deutschland. Produktgestaltung als Entwurf und Erfahrung, Köln 1987. Spitz, René: hfg ulm. der blick hinter den vordergrund. die politische geschichte der hochschule für gestaltung, Köln 2001. Stengel, Karin/Friedhelm Scharf: „Tableau I.: Geschichte documenta 1“. In: Karin Stengel/Michael Glasmeier (Hg.): 50 Jahre documenta – Archive in Motion, Göttingen 2005, S. 164. Stengel, Karin/Harald Kimpel (Hg.): documenta 3. Internationale Ausstellung. Eine fotografische Rekonstruktion, Bremen 2005. Tupitsyn, Margarita: „Ablehnung und Akzeptanz des BauhausGedankens in Amerika“. In: Georg-W. Költzsch/Margarita Tupitsyn (Hg.): Bauhaus: Dessau – Chicago – New York, Köln 2000, S. 14-25. Weininger, Peter: „Vom ersten Kontakt bis zur Eröffnung. Aus der vierjährigen Vorgeschichte des Hotels“. In: Der Tagesspiegel, 29. November 1958. Abbildungen Abb. 1

Arnold Bode: Gleitkufensessel (1952); Foto aus dem Arnold Bode Nachlass im documenta Archiv; © documenta Archiv.

Abb. 2

Harry Bertoia: Raum-Gitter-Stuhl (ca. 1950); Foto aus: Werk und Zeit, Jg. 1 (1953), S. 1.

Abb. 3

Hans Gugelot und Dieter Rams: Phonosuper SK 4 (1956); Foto aus: Godau, Marion/Bernd Polster (Hg.): Design Lexikon Deutschland, Köln 2000, S. 147/Rat für Formgebung.

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MASSENKULTUR, DEMOKRATIE UND VERORDNETE VERWESTLICHUNG. BUNDESDEUTSCHE UND AMERIKANISCHE KULTURDIAGNOSEN DER 1950er JAHRE

Kaspar Maase (Tübingen) Zeitgeschichtsforschung wie öffentliche Meinung der Bundesrepublik gehen heute weithin davon aus, dass beim Arrangement der Westdeutschen mit den Lebensformen der massendemokratischen Industriemoderne und für die Durchsetzung einer vergleichsweise liberalen bürgerlichen Gesellschaft nach 1945 die Aufnahme USamerikanischer Ideen eine wesentliche Rolle gespielt habe. Der vorliegende Aufsatz vergleicht deutsche und amerikanische Kulturdiagnosen der 1950er Jahre daraufhin, ob die allgemeine These auch für diesen Gegenstand zutrifft. „Kulturdiagnosen“ – der Begriff zielt nicht auf akademische Konzepte von Kultur in der Literaturwissenschaft, Volkskunde, Soziologie oder Völkerkunde der ersten Nachkriegsperiode; die wären sinnvoll nur im Kontext der einzelnen Fächer zu behandeln. Gemeint ist die gehobene intellektuelle Debatte auf Tagungen und bei Akademiegesprächen, in Abendstudios und anspruchsvollen Sachbüchern – an der Professoren ebenso Anteil hatten wie Publizisten und Künstler. In den Diskussionen ging es um nichts weniger als den Zustand der deutschen Gesellschaft: geistig, moralisch, historisch, nicht selten betrachtet im europäischen oder globalen Rahmen. Ob Titel und Überschriften nun Technik oder Abendland, Vermassung, „den Menschen“ oder schlicht „unsere Zeit“ ansprachen – stets ging es um wesentliche Linien einer aktuellen Kulturanalyse, und zwar durchaus im Sinne eines weiten, sozialwissenschaftlichen Verständnisses von Kultur. Das ergab sich auch aus dem zeitgenössischen Verständnis von „Kulturkritik“. Deren Gegenstände waren – das zur Frage der Modernität des deutschen Diskurses – ziemlich breit gefasst. Sie gingen deutlich über das enge Gleichsetzen von Kultur mit Hoch-

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kunst plus Philosophie hinaus; sie fügten sich zu einer Art idealistischer Gesellschaftsdiagnose, in der Ordnung und Entwicklung des sozialen Lebens vor allem von Wertorientierungen (und deren Verlust!) bestimmt schienen. Man gewinnt den (empirisch noch zu prüfenden) Eindruck: Wo Zeitverhältnisse unter dem Aspekt „Kultur“ in den Blick genommen wurden, da regierte das modernitätsskeptische Paradigma deutscher Kulturkritik. Wo konkret „Freizeit“ oder „Städte“, „Fernsehen“ oder „Jugend“ im Titel standen, da herrschte eher eine positive Perspektive auf Modernisierung, Demokratie, Wohlstandssteigerung, USA.1 Anders im Bereich der „öffentlichen Gegenwartsreflexion“. Der Begriff stammt von Axel Schildt,2 und er hat auch die bislang gültige, auf breiter Quellengrundlage sorgfältig und differenziert gezeichnete Karte der Diskurslandschaft vorgelegt. Ein zentraler Befund lautet, dass um 1950 „Weltschmerzgefühl und Kulturpessimismus“3 dominierten. Die Angst, man bewege sich am Abgrund eines dritten, atomaren Weltkriegs, prägte die Grundstimmung einer Debatte, die dominierende Denkansätze der europäischen Zwischenkriegszeit fortführte und – in ganz konträren weltanschaulich-politischen Zusammenhängen! – radikalisiert zur Gegenwartsdeutung nutzte: Herrschaft der Technik, Massengesellschaft, Entfremdung.4 Diese Theoriebezüge lieferten das geistige Instrumentarium zur Erörterung jener Entwicklungen, die als die mächtigsten Kräfte sozialkulturellen Wandels galten: der massive Einfluss von Konsum, Freizeit und Massenmedien auf Lebensführung und Alltagseinstellungen, Selbst- und Weltbild der Bevölkerung. Für die folgenden Überlegungen fasse ich den Befund so zusammen, dass die Frage nach Qualität und Auswirkung der Mas1

2 3 4

Ausgeblendet bleibt in diesem Aufsatz die Ebene, die den Empirischen Kulturwissenschaftler eigentlich am meisten interessiert, die der relativ alltagsnahen Verwendung kulturdiagnostischer Wissenselemente: in Gymnasien und Schulaufsätzen, Predigten und Volkshochschulkursen, Gemeindeblättern und Bibliotheksempfehlungen, Parteiversammlungen und Reden auf Weihnachts- oder Jahresfeiern von Jugendorganisationen, Sport- und Kleingartenvereinen. Hier stellen sich bekanntlich erhebliche Quellenprobleme; und ohne die Mühsal solcher Recherche als intellektuelles oder historiographisches Argument zu akzeptieren, kann man doch verstehen, wieso sich hier weithin terra incognita erstreckt. Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und ‚Zeitgeist‘ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 324. Ebenda. Vgl. ebenda, S. 326.

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Massenkultur, Demokratie und verordnete Verwestlichung

senkultur (der Begriff war damals noch nicht zentral) das Gravitationszentrum der kulturdiagnostischen Diskussion bildete.5 Die Entwicklung im Laufe des Jahrzehnts kennzeichnet Schildt vor allem durch drei Faktoren: den Aufstieg eines „technokratischen ‚modernen‘ Konservatismus“ zur Dominanz, während Autoren aus dem Feld der „Kritischen Theorie“ die entscheidenden Stichworte für ‚pessimistisch‘ getönte Interpretationen lieferten;6 ein Nachlassen des antitotalitär formulierten antikommunistischen Drucks, das die offenere Thematisierung von „Defizite[n] an Demokratie, Liberalität und Toleranz im eigenen ‚Lager‘“ ermöglichte;7 schließlich verloren drastisch ausgemalte Niedergangsszenarien Widerhall zugunsten von Überlegungen, die (ohne Aufgabe kulturkritischen Instrumentariums) die Verantwortung zum Eingreifen und zum Meistern der Herausforderungen betonten und konkrete Maßnahmen erörterten.8 Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden einige Linien des Vergleichs zwischen der Massenkultur-Debatte in den USA und in der Bundesrepublik gezogen. Aus den grundlegenden Übereinstimmungen, die dabei aufscheinen, ergeben sich zwei Thesen. Zum einen: Intellektuelle Kritik an passiv-konformistischen Massen, ihren Konsum- und Vergnügungspraktiken sowie an kommerziellen Kulturangeboten war kein Spezifikum deutscher Tradition; die hiesige Debatte war vielmehr auch ohne massiven Ideenimport kompatibel mit grundlegenden ‚westlichen‘ Mustern des Diskurses über die Kultur der Industriegesellschaft. Zum zweiten: Das demokratiekritische Potenzial deutscher Massen(kultur)kritik wurde 5

6 7 8

Vgl. dazu Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg: „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Band I, Wiesbaden 2002, S. 11-21, hier S. 13f.; Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 1994, hier S. 302-306. Zum Einfluss der Kritischen Theorie vgl. Clemens Albrecht u.a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M. 1999. Schildt: Moderne Zeiten, a.a.O., S. 349f. Ein Beispiel dafür aus der zweiten Generation der Frankfurter Schule ist Jürgen Habermas. In seinem Aufsatz zur „Dialektik der Rationalisierung“ von 1954 wird das Entfremdungskonzept hegelianisch-marxistischer Herkunft verknüpft mit der kritischen Industrie- und Arbeitssoziologie aus den USA und Frankreich. Aus Kulturkritik erwuchs so ein analytisches Instrumentarium, das konkrete Veränderungen der Arbeitswelt auf die Tagesordnung setzte.

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Kaspar Maase

neutralisiert und umgepolt durch ‚politisch korrekte‘ Rahmung der Debatten infolge verordneter „Verwestlichung“. I.

Massenkultur und „mass culture“

Beim Einstieg in den Vergleich – und um mehr kann es sich hier nicht handeln – stütze ich mich für die Bundesrepublik auf die Befunde Schildts und eigene Quellenlektüre, für die USA auf den 1957 erschienen Sammelband Mass Culture. The Popular Arts in America.9 Er fand starke Resonanz; ich benutze die 1966 erschienene dritte Auflage der Paperback-Ausgabe von 1964. Mit 49 Beiträgen zu Populärliteratur, Film, Rundfunk/Fernsehen, Unterhaltung, Werbung sowie zu allgemeinen Perspektiven der Massenkultur trägt das Kompendium Handbuchcharakter. Im Wesentlichen sind Aufsätze und Buchkapitel aus der Nachkriegszeit zusammengestellt – nicht nur von führenden amerikanischen Intellektuellen, sondern auch von wichtigen europäischen Kulturanalytikern. Neben dem obligaten Tocqueville finden wir Ortega y Gasset, Leo Löwenthal, George Orwell, Siegfried Kracauer, Günter Anders und Theodor W. Adorno. Vor dem Inhaltlichen müssen einige Probleme des Vergleichs angesprochen werden. Die US-Autoren sind zu ihrer Zeit als Liberals einzuordnen; während – in amerikanischer Terminologie – radical liberals dominieren, fehlen wichtige Stimmen aus dem Zentrum wie Daniel Bell oder David Boorstin. Gar nicht vertreten sind konservative und dezidiert christliche Positionen – die in Deutschland nun gerade hegemonial waren. Das mag nach den Maßstäben der Ideengeschichte vielleicht sogar eine adäquate Paarung sein, da die US-amerikanische Zeit- und Gesellschaftsdiagnostik im 20. Jahrhundert bis zu den 1960ern im Wesentlichen von liberalen Stimmen getragen wurde.10 Mit Blick auf Resonanz und Aneignung 9 10

Bernard Rosenberg/David M. White (Hg.): Mass Culture. The Popular Arts in America, Glencoe, Ill., 1957. Politische Liberalität und Engagement für soziale Gleichheit waren allerdings häufig verbunden mit moralischen, teilweise ‚puritanischen‘ Vorbehalten gegen Wohlstand, Massenkonsum und Massenkultur. Vgl. hierzu Daniel Horowitz: The Morality of Spending. Attitudes toward the Consumer Society in America, 1875-1940, Baltimore 1985; Ders.: The Anxieties of Affluence. Critiques of American Consumer Culture, 1939-1979, Amherst 2004.

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Massenkultur, Demokratie und verordnete Verwestlichung

bei Lehrern, Politikern, Journalisten, Klerikern aber ist die soziale Repräsentativität der amerikanischen Liberalen sicher geringer einzuschätzen als die der bundesdeutschen Konservativen. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus unterschiedlichen Bedeutungshorizonten der Texte selbst dort, wo sie scheinbar identische Begriffe verwenden. Das berührt den Kern der Aussagen. So meinten „mass society“ und „mass culture“ in den 1950ern etwas deutlich anderes als „Massengesellschaft“ und „Massenkultur“.11 Dem amerikanischen Verständnis der Begriffe fehlte weitgehend der aristokratisch-oberschichtliche Beiklang, gemischt aus Verachtung, Aggression und Angst gegenüber Pöbel, Plebs, gefährlichen Unterschichten.12 Ebenso fehlte die Le Bon’sche Linie der irrationalen, manipulierbaren, zu grenzenloser Gewalt fähigen Menge, der Canettischen „Hetzmeute“; da wären Wörter wie crowd oder mob angemessen, und die vermied die mass cultureDebatte fast ganz. Umgekehrt kannte die deutsche Kulturkritik die urdemokratische Sympathie mit den Vielen nicht, die wir etwa in Walt Whitmans Leaves of Grass finden oder in den berühmten Zeilen von Emma Lazarus auf dem Sockel der Freiheitsstatue: „Give me your tired, your poor, your huddled masses yearning to breathe free.“ In den 1950er Jahren lag hierzulande vielmehr die Assoziation mit den braunen Massen des NS nahe. Da hat es seine Logik, dass es zu den deutschen Schlüsselbegriffen der Ver- und Entmassung keine amerikanischen Gegenstücke gab.

11 12

Hinweise zum jeweiligen semantischen Umfeld in Johann Knobloch u.a. (Hg.): Europäische Schlüsselwörter. Band III: Kultur und Zivilisation, München 1967. Im deutschen Textkorpus steht dafür etwa Max Horkheimers beiläufige Formulierung vom „Ressentiment der schlecht gebändigten Instinkte der sich Duckenden“; vgl. Ders.: „Philosophie als Kulturkritik“. In: Untergang oder Übergang. 1. Internationaler Kulturkritikerkongress in München 1958, München 1959, S. 9-34, hier S. 12. Allgemeiner zum bürgerlichen Massendiskurs in Deutschland vgl. Nori Möding: Die Angst des Bürgers vor der Masse. Zur politischen Verführbarkeit des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Berlin 1984; Helmuth Berking: Masse und Geist. Studien zur Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1984; Helmut König: Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek 1992; John Carey: Hass auf die Massen. Intellektuelle 1880-1939, Göttingen 1996. – Zum Versuch, Funk und Fernsehen einen Beitrag zur Entmassung zuzuschreiben, vgl. Christina Bartz: „Die Masse allein zu Haus. Alte Funktionen und neue Medien“. In: Schneider/Spangenberg: Medienkultur, a.a.O., S. 109-121.

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Solche konnotativen Differenzen, Obertöne und semantischen Nuancen sind historisch durchaus erstrangige Faktoren. Beim Vergleich der argumentativen Struktur von deutscher und amerikanischer Debatte sollte man sich bewusst sein, dass die über Generationen herausgebildete Bedeutungsaura der Schlüsselbegriffe – und das waren in Deutschland Masse und alle ihre Ableitungen – eine zumindest ebenso starke wertende Wirkung in die Gesellschaft hinein entfaltete wie die konkreten Argumente. Eine Wortschöpfung wie die im Untertitel des US-Bandes, Popular Arts, konnte in Deutschland erst in den 1990er Jahren Fuß fassen; noch heute bildet die Rede von populären oder Massenkünsten hierzulande eine fremd klingende Ausnahme.13 Ich betone die Unterschiede der historischen Semantik, weil der erste Befund die weitgehende Übereinstimmung deutscher und amerikanischer Kulturdiagnosen ist. Gleichgerichtet erschienen die Auswirkungen von Industrialisierung, steigendem Lebens- und Konsumstandard, allgemeiner kultureller Partizipation, Etablierung von Massenmedien und ubiquitärem und vielfältigem Unterhaltungsangebot als problematisch bis gefährlich. Gleichermaßen galten Entpersönlichung, Uniformierung, Konformismus und Passivität des „Massenmenschen“ als die bedrohlichste Folge. Übereinstimmend schließlich widmete man besondere Aufmerksamkeit der Hochkultur und ihrer Trägerschicht als Garanten von Kritikfähigkeit und autonomer Persönlichkeit. Widerstand gegen deren Marginalisierung erhoffte man einzig von geistigen Eliten; für deren Unterstützung kam gerade in den Augen amerikanischer Autoren nur die reiche und mächtige Oberschicht in Frage – die allerdings der Verantwortung immer weniger gerecht werde. In der deutschen Debatte der 1950er Jahre spielten Stimmen aus den Vereinigten Staaten (abgesehen von wenigen Remigranten) keine nennenswerte Rolle – ausgenommen das gern zur Schützenhilfe herangezogene Stichwort David Riesmans von der „einsamen Masse“ „außengeleiteter“ Menschen.14 In den USA erschienene 13

14

Eine Recherche unter den deutschen Eintragungen bei Google ergab 115 Treffer für „Massenkünste“ und 57 für „populäre Künste“ (wovon ein nennenswerter Teil auf den Autor selbst zurückgeht) – verglichen mit 110.000 für „Massenkultur“ (17. 07. 2006). Siehe David Riesman/Reuel Denney/Nathan Glazer: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Mit einer Einführung von Helmut Schelsky, Reinbek 1958; vgl. Schildt: Moderne Zeiten, a.a.O., S. 330.

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Arbeiten von Adorno, Horkheimer, Kracauer, Löwenthal und Anders hingegen wurden dort von liberalen Intellektuellen durchaus zur Kenntnis genommen und beeinflussten ihre Deutung der sich ausbreitenden Unterhaltungskultur. Allerdings war das Thema auch schon von der amerikanischen Sozialforschung der 1930er Jahre und – zugespitzt auf die Polarität von Kitsch (das zum amerikanischen Lehnwort wurde) und Avantgarde – gegen Ende dieses Jahrzehnts von Dwight MacDonald und Clement Greenberg aufgegriffen worden.15 Deren Thesen fanden dann in den 1950er Jahren breite Resonanz,16 eingebunden in einen ganzen Strauß gewichtiger soziologischer und publizistischer Arbeiten zum Thema der Entfremdung in der anonymen, bürokratisierten, vermachteten und Konformität fordernden Gesellschaft der Gegenwart.17 Im Blick auf die Ideen- und Intellektuellengeschichte der „Verwestlichung“ ist hervorzuheben, dass im erwähnten Sammelband wie in der mir bekannten amerikanischen Diskussion der 1950er Jahre kein einziger Autor eine positive Sicht auf die populären Künste und ihr Publikum formulierte. Die Herausgeber von Mass Culture vertraten zwei unterschiedliche Linien der Kritik, eine radikale und eine pragmatische; doch auch die Pragmatiker warnten vor deshumanisierenden und infantilisierenden Einflüssen der Massenkultur. Ihre „Verteidigung“18 bestand im Wesentlichen in einer Relativierung der Kritik, dem Hinweis auf viel Harmloses, sozialmoralisch Erwünschtes und auch Bildendes in den Medien, in Historisierung („populäre Kultur ist nie kultiviert gewesen“) und in der Aufforderung, statt Verachtung mehr Zuwendung und Talent in die Zukunft der Massenkünste zu investieren. 15

16 17 18

Vgl. Horowitz: The Morality of Spending, a.a.O.; Richard H. Pells: „Die Moderne und die Massen. Die Reaktion amerikanischer Intellektueller auf die populäre Kultur in den dreißiger Jahren und in der Nachkriegszeit“. In: Norbert Krenzlin (Hg.): Zwischen Angstmetapher und Terminus. Theorien der Massenkultur seit Nietzsche, Berlin 1992, S. 102-117; Richard H. Pells: The liberal mind in a conservative age. American intellectuals in the 1940s and 1950s. 2nd edition with a new introduction, Middletown/Conn. 1989, S. 216. MacDonalds Kritik blieb bis in die 1970er ein herausragender intellektueller Bezugspunkt; vgl. Horowitz, The Anxieties of Affluence, a.a.O., S. 11. Vgl. Pells: The liberal mind in a conservative age, a.a.O., Kapitel 4: „Conformity and Alienation: Social Criticism in the 1950s“. Vgl. die Beiträge von White, Seldes, Warshow, Shannon, Rabassiere, in: Rosenberg/White: Mass Culture, a.a.O.

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Argumente zugunsten der amerikanischen Populärkultur, die deren Aneignung in Europa legitimiert hätten, gab es keine. Die intellektuelle „Verwestlichung“ der 1950er Jahre brachte viele liberale Positionen und Anregungen in die bundesdeutsche Debatte ein19 – doch eine Aufwertung der Massenkultur ging von ihr nicht aus. Theorieansätze, die Schritt für Schritt eine differenziertere und den Nutzungsweisen des Publikums gerecht werdende Sicht auf das Phänomen entwickelten, wurden eigenständig auf dem Alten Kontinent entwickelt und waren allenfalls indirekt mit Kulturtransfer aus den USA verknüpft. Allerdings wird man wohl Uta Poigers These folgen, dass theoretische Arbeiten und politische Kalkulationen amerikanischer „Cold War liberals“ wie Riesman modernen deutschen Konservativen wie Schelsky und den von ihnen beratenen Politikern halfen, eine pragmatische Haltung zu den „amerikanisierten“ Jugend- und Kulturszenen der späten 1950er Jahre zu entwickeln und sie zunehmend offensiv als Belege westlicher Freiheitlichkeit zu interpretieren.20 Im amerikanischen Massenkulturdiskurs herrschte das Kompensationsparadigma; man sah die mehr oder minder scharf attackierte mediale Unterhaltung in den Bedürfnissen einer Bevölkerung gegründet, die aus einem monotonen, sinnentleerten, gehetzten Leben heraus hier Freude, Farbigkeit, Orientierung und Haltepunkte suche und mit Ersatz, Oberflächenglanz und standardisierten emotionalen Formeln abgespeist werde. Elemente dieser Sichtweise fanden sich auch in der deutschen Debatte, doch führte die Tradition der Kulturkritik und des kulturellen Antikapitalismus21 zu spezifischen Akzenten. Vermassung erschien, pauschal formuliert, weniger als soziales Phänomen mit konkreten Ursachen in Arbeit, Familienverhältnissen, Suburbanisierung denn als kulturelles: als Folge eines eher holistisch verstandenen globalen Wandels der verhaltens- und werteprägenden menschlichen Lebenswelt; 19

20 21

Vgl. dazu jüngst eine ganze Reihe von Beiträgen in Arnd Bauerkämper/Konrad H. Jarausch/Marcus M. Payk (Hg.): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 19451970, Göttingen 2005. Vgl. Uta G. Poiger: Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley u.a. 2000, Kapitel 3. Vgl. Bollenbeck: Bildung und Kultur, a.a.O.; Kaspar Maase: „Krisenbewusstsein und Reformorientierung. Zum Deutungshorizont der Gegner der modernen Populärkünste 1880-1918“. In: Ders./Wolfgang Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln 2001, S. 290-342, hier S. 328-331.

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dem lag ein Verständnis von Kultur als „ganze Ordnung des Lebens“22 zugrunde. Industrialisierung, Technisierung, Wohlstandsorientierung, standardisierte Massenproduktion, Propaganda, Werbung und Moden, Kulturindustrie, Rückgang bildungstragender Schichten – solche eher unsystematisch angesprochenen Entwicklungen wirkten aus dieser Sicht in die selbe Richtung, verstärkten den Niedergang von Persönlichkeitsbildung und autonomer Geistigkeit. Die amerikanischen Autoren stellten häufig klar, dass Kapitalismus und Demokratie nicht verantwortlich zu machen seien; MacDonalds Bemerkung, es gehe den „Lords of kitsch“ um Profit und (in Ost und West) um Macht,23 bildete eine Ausnahme. Auch die deutschen Kulturkritiker wollten keine andere Wirtschaftsform; das freie Spiel von Angebot und Nachfrage auf das Reich des Geistes auszudehnen, betrachteten sie allerdings – in einer langen Tradition der Bildungsschichten24 – als illegitim. So bezeichnete Karl Korn, für das Feuilleton zuständiger Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die „Verwandlung von Kultur in Ware“ als Grundübel;25 er warnte zwar vor sozialistischen Tendenzen, empfahl aber „chirurgische Eingriffe“ gegen die „wirtschaftliche Anarchie, die es Spekulanten erlaubt, Instinkte so zu lenken, dass der Konsum unnützer und schädlicher Modeprodukte immer gefräßiger wird und die Grundlagen eines gesunden Volkslebens untergräbt“.26 Insgesamt war in der amerikanischen wie in der deutschen Kulturdiagnostik ökonomische Analyse wenig gefragt. Wenn Korn von „Kulturindustrie“ sprach, dann zielte er auf die Massenproduktion preiswerter Unterhaltungs- und Verschönerungswaren, die mit Erfolg die „Unkenntnis und Geschmacksunsicherheit der Mas-

22 23 24 25

26

Marion Gräfin Dönhoff: „Diskussionsbeitrag“. In: Untergang oder Übergang, a.a.O., S. 212-213, hier S. 212. Dwight MacDonald: „A Theory of Mass Culture“. In: Rosenberg/White: Mass Culture, a.a.O., S. 59-73, hier S. 60 Vgl. Maase: „Krisenbewusstsein und Reformorientierung“, a.a.O.; Bollenbeck: Bildung und Kultur, a.a.O. Karl Korn: Die Kulturfabrik, Wiesbaden 1953, S. 20; zu Korn vgl. Marcus M. Payk: „Der ‚Amerikakomplex‘. ‚Massendemokratie‘ und Kulturkritik am Beispiel von Karl Korn und dem Feuilleton der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ in den fünfziger Jahren“. In: Bauerkämper u.a.: Demokratiewunder, a.a.O., S. 190-217. Korn: Die Kulturfabrik, a.a.O., S. 79.

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sen“ ausnutze.27 Auf beiden Seiten des Atlantik klang kaum einmal die Idee an, dass das kapitalistische Angebot Erwartungen und Bedürfnisse des Publikums lenke; vielmehr spielten psychologische Überlegungen eine große Rolle,28 die aus der Sinnentleertheit und Monotonie der modernen Gesellschaft jene zweifelhaften Vergnügungs- und Orientierungsbedürfnisse ableiteten, denen die Massenmedien nach dieser Lesart nur folgten. Man mag in der Konzentration auf das Publikum statt auf die Unternehmen als Triebkraft der Massenkultur eine bewusste Abwendung von marxistischen Gedanken sehen und sie auf die abschreckende Wahrnehmung des Stalinismus und den antikommunistischen Druck im Kalten Krieg zurückführen. Doch findet sich eine vergleichbare Tendenz schon im klassischen „Kulturindustrie“-Kapitel von Horkheimer/Adorno; es verortete die „böse Liebe des Volkes zu dem, was man ihm antut“, im Zentrum des „Zirkels von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis“, aus dem das „System“ seine Geschlossenheit und Unangreifbarkeit beziehe.29 II. Bilder von der Masse Wie wurde nun die Masse beschrieben, die für viele das eigentliche Signum der Gegenwart ausmachte? Die Texte argumentieren zu diesem Punkt auffallend mehrdeutig. Wir finden Sichtweisen, die den Massenmenschen primär als Produkt historischer und sozialer Entwicklungen sahen und ihm teilweise zugestanden, dass seine Potenziale und Ansprüche über dem Niveau der angebotenen Kulturwaren lägen, dass also Besserung möglich sei. Den anderen Pol bilden aussichtslose und im Rückgriff auf historische und massenpsychologische Argumente auch bedrohliche Szenarien. Ganz grob kann man sagen, dass die amerikanische Debatte weniger emotional getönt und stärker pragmatisch-optimistisch erscheint; die verbreitete Intellektuellenfeindlichkeit wurde allerdings immer wieder als massive Kulturgefahr beschworen.

27 28 29

Ebenda, S. 27; vgl. auch S. 90 und S. 97. Vgl. Pells: The Liberal Mind in a Conservative Age, a.a.O., S. 181-185. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1971 (Original: 1947), S. 120 und S. 109; vgl. als Parallele die Metapher der „Mass Culture as a reciprocating engine“ in: MacDonald: „A Theory of Mass Culture“, a.a.O., S. 71.

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Einen Eindruck von der deutschen Tonlage mag die Emigrantin Hannah Arendt geben, die 1958 dem westeuropäischen Massenmenschen folgende Qualitäten zuschrieb: „Verlassenheit [...] bei größter Anpassungsfähigkeit, [...] Erregbarkeit und Haltlosigkeit, [...] außerordentliche Konsumierfähigkeit (um nicht zu sagen Verfressenheit) bei völliger Unfähigkeit, Qualitäten [...] auch nur zu unterscheiden, vor allem aber [...] Egozentrismus und [...] verhängnisvolle Weltentfremdung“.30 Für den anderen Pol mag der Konservative Korn stehen, der die Kinobesucher der frühen 1950er Jahre keineswegs pauschal als gedanken- und kritiklos charakterisiert sehen wollte und selbst in der Wochenendfreizeit, der Urlaubsreise und dem „naiven Kulturbesuch“ einen „geheime[n] Trieb zur originalen Kultur lebendig“ sah.31 Beide teilten mit den anderen deutschen Kulturkritikern ersten Ranges32 eine Denkfigur; danach seien Massenmenschen in allen sozialen Schichten zu finden – ebenso wie (so zumindest Korn) „Inseln der Kultur“.33 Vieles spricht dafür, dass diese These in der Öffentlichkeit selektiv und weithin verzerrt aufgenommen wurde. Die von Arendt zum Kern der Masse gezählten „Bildungsphilister“ (mit und ohne akademische Ausbildung) setzten in der Tradition des bürgerlichen politischen Diskurses34 Massenmenschen mit ihrem sozialen Anderen gleich; sie verstanden darunter insbesondere, in ausgeprägt sozialdistinktiver Lesart, „Ungebildete“ und „Unterschichten“, die sie mit dem Negativbild des Plebs, Pöbels und rohem Volk gleichsetzten. Im kulturellen Diskurs hingegen hatte sich, anschließend an Nietzsche, unter den Intellektuellen schon im späten 19. Jahrhundert eine Verwendung des Massenbegriffs durchgesetzt, die nur diejenigen vom Vorwurf der Rohheit und Barbarei, der kulturellen Insensibilität und Inkompetenz aus30 31 32

33 34

Hannah Arendt: „Kultur und Politik“. In: Untergang oder Übergang, a.a.O., S. 35-66, hier S. 36. Korn: Die Kulturfabrik, a.a.O., S. 38 und S. 94. Die Formulierung zielt nicht auf Wertung, sondern auf Unterscheidung von der Menge der nicht prominenten, nicht diskursprägenden Kulturkommentatoren jener Jahre, die – weitaus weniger differenziert! – den konservativen „Geist der Adenauerära“ artikulierten. Korn: Die Kulturfabrik, a.a.O., S. 66. Vgl. dazu außer der in Anm. 12 genannten Literatur Werner Conze: Art. „Proletariat, Pöbel, Pauperismus“. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 7-68.

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nahm, die den Maßstäben der eigenen Gruppe genügten.35 Letzten Endes handelte es sich um eine Reaktion auf die Verluste des Bildungsbürgertums an Einfluss und Ansehen – gerade gegenüber besitzbürgerlichen Gruppen und den neuen naturwissenschaftlichtechnischen Eliten. Auch aus dieser Perspektive erschien also Vermassung weniger als Ergebnis sozialen Wandels und neuer Arbeits- und Lebensformen in der industriell-bürokratischen Gesellschaft denn als Verlust von Werten und Bildungsorientierungen. Zugespitzt: Die soziale Realität, die die deutschen Kritiker der Vermassung nach dem Zweiten Weltkrieg im Auge hatten, repräsentierte nur einen Ausschnitt der Gegenwartsgesellschaft; fokussiert wurden vor allem die neuen Mittelschichten aus aufstiegsorientierten Angestellten, kleinbürgerlichen Milieus und „kulturell enterbten“ (so Korns Terminologie) bürgerlichen Kreisen. Zwar sprach man auch über Arbeiter; doch die Argumentationsbelege kamen meist aus Gruppen, die sich mit eher begrenztem kulturellem Kapital an Insignien eines bürgerlichen Lebensstils orientierten.36 Um das an einem extremen Beispiel zu verdeutlichen: Korn attackierte als Symptom wie Mechanismus der Vermassung die „moderne Autolebensweise“ – nachdem er selbst zuvor mitgeteilt hatte, dass in der Bundesrepublik nur 0,5 % der PKW im Besitz von Arbeitern seien.37 Hier, wie auch bei anderen Autoren, wurden ganz offensichtlich deutsche Verhältnisse mit Bildern von Amerika überblendet. Die US-Debatte um den entfremdeten, konformistischen, politisch apathischen Massenmenschen bezog sich allerdings auf die weißen (vor-)städtischen Mittelschichten, deren Umfang wie Lebensstandard im Gefolge des Kriegs-Booms kräftig gestiegen war; ihre stark von den Massen- und Unterhaltungsmedien sowie von hohem Konformitätsdruck geprägte Lebensform nahmen liberale Intellektuelle in den 1950er Jahren zunehmend als Problem wahr. Zum einen befürchteten sie politische Folgen in Richtung einer schleichenden Entdemokratisierung, monopolistischer Machtkonzentra35 36

37

Vgl. Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, Stuttgart 1983; Maase: „Krisenbewusstsein und Reformorientierung“, a.a.O. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1982, Kapitel 6, charakterisiert diese Schichten durch „Bildungsbeflissenheit“ und „kulturelle Allodoxia“ (Zit. S. 504). Korn: Die Kulturfabrik, a.a.O., S. 62 und S. 32.

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tion oder gar totalitärer Entwicklungen (wie sie im McCarthyismus sichtbar wurden). Zum anderen war es Sorge um das Niveau der amerikanischen Kultur – von der Urteilsfähigkeit und Selbständigkeit des Denkens bis zur Rolle der Avantgardekunst –, die die Massenkulturdebatte bewegte. Diese Debatte und ihre sozialhistorische Grundlage in der Realentwicklung der weißen Mittelschichten wurden aber von den deutschen Kulturdiagnostikern nicht bzw. höchst selektiv (Riesmans other-directed man) rezipiert. Sie pflegten weithin recht klischierte Vorstellungen von der amerikanischen Lebensweise, die sich von den Stereotypen der Zwischenkriegszeit nur durch äußerliche Aktualisierungen (Fernsehen, neue Werbestrategien) unterschieden. Allerdings firmierten in der Kulturkritik ersten Ranges die Vereinigten Staaten nicht als missionarische, von ökonomischen Expansionsinteressen getriebene Propagandisten der Massenkultur; im Sinne eines Modernisierungsparadigmas erschienen sie als der Teil der Welt, in dem notwendigerweise „die Vermassung noch weiter fortgeschritten ist als in Europa“ und in dem man am deutlichsten erkenne, dass „die Masse technologisch aus der Mechanisierung, ökonomisch aus der Standardisierung, soziologisch aus der Anhäufung und politisch aus der Demokratie entsteht.“38 Allerdings veranschaulichten nicht selten amerikanische Beispiele die Veränderungen, die sich angeblich in Deutschland vollzogen. Auch hier ist zu vermuten, dass diese Praxis von der Mehrheit der Leser selbst dort, wo die Autoren sich ausdrücklich gegen plakative Amerikanisierungsvorstellungen wandten,39 durchaus eigensinnig als Bestätigung des vertrauten Opferparadigmas40 verstanden wurde. 38 39

40

Hendrik De Man: Vermassung und Kulturverfall. Eine Diagnose unserer Zeit, Bern 1951, S. 48; vgl. auch ebenda, S. 64f. und Korn: Die Kulturfabrik, a.a.O., S. 61 und S. 108. De Man, der (aus eigener Lebenserfahrung) viel mit amerikanischen Beispielen arbeitete, sprach allerdings auch selber (vielleicht nur zwecks griffiger Rhetorik) von einer „Amerikanisierung der Lebensweise und der Sitten“ in Europa (ebenda, S. 92); ein Exportieren oder gar Aufzwingen des American Way war damit jedoch nicht gemeint. Zur deutschen Lesart von „Amerikanisierung“ als Überwältigtwerden vgl. Dan Diner: Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland. Ein historischer Essay, Frankfurt a.M. 1993; Kaspar Maase: „‚Amerikanisierung der Gesellschaft‘. Nationalisierende Deutung von Globalisierungsprozessen?“ In: Konrad Jarausch/Hannes Siegrist (Hg.): Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt a.M. 1997, S. 219-241.

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Das Bild der deutschen Kulturkritiker von den vermassten Massen war sozialanalytisch wolkiger und willkürlicher als das der amerikanischen Debatte; zugleich wurde es mit deutlich stärkerer Niedergangsemphase vorgetragen. Schlagworte wie Verfall und Ende verwendete der liberale US-Diskurs nur in bewusst polemisch angelegten Texten.41 In Deutschland hingegen gaben sie den Stellungnahmen einen dramatischen, teilweise hysterischen oder zumindest bedeutungsvoll raunenden Charakter. Letzteres charakterisiert beispielsweise den Vortrag Max Horkheimers auf dem Ersten (und einzigen) Internationalen Kulturkritikerkongress in München 1958. Von Regression, Barbarei, Zerfall, Absterben, gar Verhängnis42 war dort wiederholt die Rede. Die amerikanische Debatte hebt sich davon ab durch Nüchternheit. Man war sich weithin (wenngleich eher unausgesprochen) einig, dass die Vereinigten Staaten nie ein Land großer und einflussreicher Hochkultur gewesen seien; zitiert wurde Walt Whitman mit seinem Urteil von 1871, Amerika habe nie eine bedeutende Kultur gehabt.43 Im Gegensatz zu Deutschland und Europa wurde also die Unterhaltungs- und Medienlandschaft der Gegenwart nicht vor dem Hintergrund eines nationalen Mythos vom großen Kulturvolk diskutiert. Und wo man Verluste und Defizite benannte, da aus der selbstbewussten Perspektive einer Gesellschaft, die in ihrer Geschichte schon viele soziale Fehlentwicklungen bewältigt habe; so konnte man zugespitzt über aktuelle Probleme sprechen, ohne ernstlich das eigene Modell in Frage zu stellen. III. Niedergang und Elitenanspruch Die Differenz zwischen beiden Debatten sei an einem symptomatischen Detail verdeutlicht. Bereits seit der wilhelminischen Zeit bestimmte ein Topos die Auseinandersetzung der deutschen Gebildeten mit der kommerziellen Populärkultur: die abwärts führen41 42 43

So etwa Macdonald: „A Theory of Mass Culture“, a.a.O., S. 68; vgl. auch Clement Greenberg: „Avant-Garde and Kitsch“. In: Rosenberg/White: Mass Culture, a.a.O., S. 98-107, hier S. 98. Horkheimer: „Philosophie als Kulturkritik“, S. 21, 22, 26, 31, 33, passim. „America has yet morally and aesthetically originated nothing“ (Walt Whitman: „From ‚Democratic Vistas‘“. In: Rosenberg/White: Mass Culture, a.a.O., S. 35-40, hier S. 37).

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de Spirale des ästhetischen und moralischen Niveaus. Je breiter das Publikum und je heftiger die Konkurrenz der Kulturunternehmer, desto krasser unvermeidlich die Sensationen und desto hemmungsloser der Appell an die Triebhaftigkeit der Masse – so die unerschütterliche Überzeugung derer, die dem Spiel von Angebot und Nachfrage in rebus culturalibus zutiefst misstrauten. Schwarze Anthropologie der ‚Ungebildeten‘ verband sich mit einem Primitivmodell von Marktwirtschaft zu einem über Generationen tradierten Glaubensartikel des kulturellen Antikapitalismus.44 Hendrik de Man beispielsweise, mit Vermassung und Kulturverfall ein wichtiger Stichwortgeber in den frühen Fünfzigern, kombinierte gleich mehrere, logisch nicht unbedingt konsistente Argumentationslinien, um die Niedergangsspirale zu begründen. Zum einen konzedierte er, dass die Unterschichten sich in Fragen des Lebensstils weiterhin an den Oberen zu orientieren suchten; „da jedoch die Reichen selber immer vulgärer werden, läuft das Ganze nichtsdestoweniger auf allgemeine Vulgarisierung hinaus.“ Zusätzlich aber werde „die Nivellierung nach unten sozusagen industriell erzeugt“, indem die Unternehmen infolge der „Neigung, lieber zu tief als zu hoch zu zielen, [...] dem vermutlichen Geschmack des unteren Saumes [der Konsumenten, K.M.] von vornherein möglichst weit entgegenzukommen“ suchten. An den Tendenzen zur „kulturellen Entartung“, zur „geistigen Infantilisierung und Geschmacksverrohung“ in den USA werde die „fortschreitende Senkung des Kulturniveaus der Massen infolge der Industrialisierung und Kommerzialisierung aller geistigen Produktionszweige“ unzweifelhaft sichtbar.45 Dieses zum Allgemeinwissen der Gebildeten zählende Deutungsmuster wurde mit den Schlagworten von Niedergang, Verfall, Ende oder Regression aufgerufen, die auch in den späten 1950er Jahren noch zu hören waren. In der amerikanischen Debatte, insbesondere um die Schädigung von Kindern durch Comics, fielen vergleichbare Stichworte wie decay oder degeneration.46 Ihnen fehlt aber der systematische Charakter. Sie sollten aufrütteln und die aktuelle Entwicklung 44

45 46

Vgl. Thomas Hausmanninger: Kritik der medienethischen Vernunft. Die ethische Diskussion über den Film in Deutschland im 20. Jahrhundert, München 1993, insb. S. 103-164; Maase: „Krisenbewusstsein und Reformorientierung“, a.a.O. De Man: Vermassung und Kulturverfall, a.a.O., S. 56, S. 63f. und S. 65. Vgl. Macdonald: „A Theory of Mass Culture“, a.a.O., S. 68; Greenberg: „Avant-Garde and Kitsch“, a.a.O., S. 98.

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drastisch benennen. Mehrfach wurde jedoch betont, dass Massenkultur keiner Spirale des Niedergangs folge; sie sei weder auf den Kapitalismus noch auf die Demokratie zurückzuführen, sondern ein spezifisches Problem der Gegenwart – und dieses Problem erschien nicht als präzedenzlos.47 Auch die deutschen Überlegungen entwarfen eine Genealogie der Massenkultur, nicht selten bis in die Sattelzeit der Moderne zurück.48 Doch trug diese Perspektive nicht zur ‚Normalisierung‘49 des Problems bei, sie erhob eher die schiefe Ebene des Niedergangs zum Epochenschicksal. Die amerikanische Sicht von challenge and response, der selbstverständlichen Konfrontation mit negativen Entwicklungen und der ebenso selbstverständlichen praktischen Antworten darauf, scheint den Europäern nach der Katastrophengeschichte der zurückliegenden Jahrzehnte nicht möglich gewesen zu sein. Noch eine weitere Differenz fällt ins Auge, die einiges zur Charakterisierung der deutschen Debatte beitragen kann. Die amerikanischen Diskutanten, auch die scharfen Kritiker von Kitsch und vulgarization, zeigten sich recht gut vertraut mit der Populärkultur der letzten Jahrzehnte. Vor diesem Hintergrund tritt besonders plastisch hervor, dass hiesige Autoren weitgehend aufgrund der Kenntnis vom Hörensagen, mit Darstellungen aus zweiter Hand, Schundkampfinformationen und einem kursierenden Fundus von Extrembeispielen argumentierten. Man muss nicht der Einschätzung von Richard Pells folgen, wonach die amerikanischen Intel47

48 49

Vgl. Bernard Rosenberg: „Mass Culture in America“. In: Rosenberg/ White: Mass Culture, a.a.O., S. 3-12, hier S. 11; David M. White: „Mass Culture in America: another Point of View“. In: Ebenda., S. 13-21; Gilbert Seldes: „The People and the Arts“. In: Ebenda, S. 74-97, hier S. 82f.; Ernest van den Haag: „Of Happiness and of Despair We Have No Measure“. In: Ebenda, S. 504-536, hier S. 510-512. Von einer kontinuierlichen Abwärtstendenz zum Standardisierten sprach allerdings MacDonald: „A Theory of Mass Culture“, a.a.O., S. 72. So Korn: Die Kulturfabrik, a.a.O.; Arendt: „Kultur und Politik“, a.a.O. Anders hingegen De Man: Vermassung und Kulturverfall, a.a.O. Normalität von Massenkultur hätte in diesem Zusammenhang bedeutet, sie nicht als Krisenzeichen zu lesen, sondern als ein Phänomen, das – unabhängig von seiner Wünschbarkeit und Bewertung – die Stabilität der politisch-sozialen Ordnung nicht in Frage stellte. Vgl. zum Bedeutungsfeld von Normalität Cornelia Bohn: „Mediatisierte Normalität. Normalität und Abweichung systemtheoretisch betrachtet“. In: Jürgen Link/Thomas Loer/Hartmut Neuendorff (Hg.): ‚Normalität‘ im Diskursnetz soziologischer Begriffe, Heidelberg 2003, S. 39-50, hier S. 41.

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lektuellen der 1950er Jahre noch eine Vorstellung von nationaler Kultur teilten, in der auch Hollywood, die großen Rundfunk- und Fernsehketten und Massenzeitschriften wie Life einen fraglosen Platz hatten.50 Aber wenn man die Rolle dieser Medien für das nation building bedenkt, die erst mit der Diversifizierung der Angebote für disperse Geschmacks- und Neigungsgruppen auslief,51 dann hat die Vermutung doch einiges für sich. Unzweifelhaft jedenfalls gehörte die Kenntnis der Figuren und Grundkonstellationen von Superman und Little Orphan Annie, von Mickey Spillane und Mickey Mouse, von Norman Rockwell und The Lone Ranger, Cole Porter und Oklahoma zum selbstverständlich herangezogenen Wissen der Diskutanten. Gewiss war die Palette national rezipierter Massenkunstereignisse in der Bundesrepublik nicht derart breit (und wer hätte schon gerne über Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn oder Quax der Bruchpilot als Marksteine der jüngeren deutschen Kultur gesprochen?). Doch die Norm der Ablehnung und Verurteilung von oben herab galt in der intellektuellen Debatte derart strikt, dass sich geradezu herauskatapultiert hätte aus dem Kreis seriöser Kulturkritiker, wer mit konkreten Kenntnissen eingegangen wäre auf Schwarzwaldmädel, Caprifischer oder Hör zu – das ist zumindest heute der Eindruck. Nicht einmal die Bildzeitung und der Rock’n’Roll, die in Alltagsgesprächen wie in den Medien hitzig kommentiert wurden, waren den Rednern über Zustand und Zukunft der deutschen Kultur eine Erwähnung wert. Angesichts der Unterschiede im Habitus ist es um so erstaunlicher, dass auf beiden Seiten des Atlantiks die kulturräsonierenden Intellektuellen übereinstimmend eine herausgehobene Stellung als Elite beanspruchten; der Begriff „Elite“ wurde von Amerikanern sogar deutlich offener ausgesprochen. Gemeinsam war der Duktus, mit dem man die eigenen Werte und die eigene soziale Stellung fraglos zum Maßstab des Kulturzustandes erklärte. Nicht alle formulierten das so direkt wie der Schweizer Schriftsteller Walter Muschg: „Wirkliche literarische Kultur gibt es nur dort, wo Dichter und Schriftsteller [...] von der herrschenden Schicht ernst genommen werden.“52 Einen anderen Akzent hatte der Elite-Begriff 50 51 52

Pells: The Liberal Mind in a Conservative Age, a.a.O., S. XVI. Dazu John Hartley: Uses of Television, London 1999, insbesondere Kap. 7 und 8. Walter Muschg: „Dichtung und Kultur“. In: Untergang oder Übergang, a.a.O., S. 83-105, hier S. 84.

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bei Korn; er propagierte eine Art Orden, dessen Angehörige die Aufgabe übernehmen müssten, „innerhalb (!) der Apparatur“ zu wirken – eine Art Marsch durch die Institutionen avant la lettre. Wer im Innersten die notwendige asketisch-zuchtvolle Haltung bewahre, der werde letztlich „die Apparatur dirigieren“ können.53 Der kulturelle Niedergang, von Muschg und anderen erfahren als Marginalisierung der Gebildeten und Intellektuellen, resultierte nach Auffassung der Kulturkritik nicht allein, nicht einmal in erster Linie aus dem sozialen und politischen Aufstieg der vielen Unkultivierten. Viel mehr noch verstand man ihn als Folge einer Auflösung des historischen Bündnisses zwischen Denkern und Künstlern einerseits, den Reichen und Mächtigen andererseits. Das mochte auf den Abstieg des gebildeten Bürgertums oder die „Vulgarisierung“ (de Man) der wirtschaftlichen und politischen Führungsgruppen zurückgeführt werden – das Ergebnis war dasselbe. „Es hat immer auf der einen Seite die Minderheit der Mächtigen – und daher Kultivierten – gegeben und auf der anderen Seite die große Masse der Ausgebeuteten und Armen und daher Ungebildeten. Kultur hat immer den Ersteren gehört, während letztere sich stets bescheiden mussten mit elementarer Volkskultur oder Kitsch.“54 Weil das so sei, könne lebendige Kunst ihren Platz nur 53

54

Korn: Die Kulturfabrik, a.a.O., S. 92, S. 104f. und S. 103 (Ausrufezeichen im Original). Korns konservative Antwort auf Massenkultur und Massendemokratie stimmt in Vielem überein mit der der Publizisten aus dem ehemaligen ‚Tat‘-Kreis (vgl. Marcus M. Payk: „Ideologische Distanz, sachliche Nähe. Die USA und die Positionswechsel konservativer Publizisten aus dem ‚Tat‘-Kreis in der Bundesrepublik bis zur Mitte der 1960er Jahre“. In: Jan C. Behrends/Árpád von Klimó/Patrice G. Poutrus (Hg.): Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und Westeuropa, Bonn 2005, S. 225-249). Arnold Gehlen griff in diesem Zusammenhang Max Schelers Gedanken der Pleonexie auf: „Begehrlichkeit, Anmaßung und Herrschsucht“. „Gleichgültig, welche Bildung oder soziale Stellung der einzelne hat: zeigt er Pleonexie, so gehört er zur Masse, während umgekehrt jeder zur Elite zu zählen ist, der Selbstzucht, Selbstkontrolle, Distanz zu sich und irgendeine Vorstellung hat, wie man über sich hinauswächst“ (Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, Reinbek 1957, S. 81). Persönliche Vorbildwirkung kultureller Eliten erhoffte der Theologe Nikolaus Monzel: „Diskussionsbeitrag“. In: Untergang oder Übergang, a.a.O., S. 208-211, hier S. 211. „There has always been on one side the minority of the powerful – and therefore the cultivated – and on the other the great mass of the exploited and poor – and therefore the ignorant. Formal culture has always belonged to the first, while the last have had to content themselves with

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an der Seite einer Elite innerhalb der herrschenden Klasse finden, die zugleich reich und gebildet sei.55 Und in dem Maß, in dem diese Gruppe in den Vereinigten Staaten dahinschwinde, so Greenberg, werde die Avantgarde und damit die wahre Kultur ausgelöscht vom Vormarsch der Massenkultur (wozu er auch den ambitionierten Kitsch von Akademismus und Realismus zählte). Nicht alle liberalen Kritiker der amerikanischen Massenkultur formulierten so rigide. Doch nicht wenige warfen der Massenkultur Antiintellektualismus vor: in Form des Versprechens von Popularisierern aller Genres, dass große Kunst und echtes Wissen viel einfacher und weniger anstrengend zu haben seien, als eggheads und versnobte Akademiker behaupteten.56 Auch hier bildete mithin die Verteidigung der eigenen Position, von Anerkennung und Einfluss, den Ausgangspunkt der Kritik. IV. Deutsch-amerikanische Übereinstimmungen und Divergenzen Welche Schlüsse lassen sich nun – vorsichtig und vorläufig – aus dem Vergleich ziehen? Vorweg ist zu sagen, dass an der USDebatte vor allem die transatlantischen Gemeinsamkeiten beleuchtet wurden, nicht die binnenamerikanische Differenzierung. Das ergab sich aus der These, die sich bald abzeichnete und den wichtigsten Befund ergab: Die erstrangigen deutschen Kulturdiagnosen der 1950er Jahre, in deren Zentrum Fragen der Massenkultur stehen, weisen grundlegende Übereinstimmungen mit vergleichbaren Debatten in den USA auf.57 Zu vermuten ist, dass Vergleiche mit anderen westeuropäischen Ländern zu einem ähnlichen Ergebnis kommen – so, wie es sich inzwischen für den Amerikanisierungs-

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folk or rudimentary culture, or kitsch” (Greenberg: „Avant-Garde and Kitsch“, a.a.O., S. 106). Ebenda, S. 101; ähnlich MacDonald: „A Theory of Mass Culture“, a.a.O., S. 61. Vgl. etwa Rosenberg: „Mass Culture in America“, a.a.O., S. 9. Solche Übereinstimmungen spricht auch Payk: „‚Amerikakomplex‘“, a.a.O., S. 212-214 an. Er vermutet, die westdeutsche Kulturkritik habe zahlreiche Gedanken aus den USA aufgenommen, und weist auf die Differenz in der Rahmung hin: „demokratietheoretische Prämissen“ dort und „antiliberale Affekte“ hier.

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diskurs der Zwischenkriegszeit abzeichnet, dass hier von einem deutschen Sonderweg keine Rede sein kann.58 Übereinstimmung zeigt sich zunächst einmal in der Diagnose, welche Phänomene die Kultur der Gegenwart prägten: das Verhältnis von Populärkultur und Hochkultur, Massenmedien, Werbung, Konsum. Zweifellos bedeutsamer sind die Parallelen in den Betrachtungsperspektiven, den Erklärungs- und Deutungsmustern. Die Debatte wurde auf beiden Seiten geführt von Intellektuellen, die aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen danach beurteilten, was diese – mit Bourdieu formuliert – für die soziale Geltung des von ihnen verkörperten kulturellen Kapitals bedeuteten. Die für die Nachkriegszeit konstatierte neue Qualität der Massenkultur wurde als erstrangiges Problem definiert, weil und insofern sie die Anerkennung von Kunst, Wissenschaft, Bildungswerten verringerte und einen Menschentyp dominant machte, der angeblich konformistisch-„außengeleitet“ ephemeren Vergnügungen und Befriedigungen nachjagte, Sinn und Orientierung in Kitsch und Kultursurrogaten suchte und sich dramatisch vom Ideal autonomer und kritischer, wertgeleiteter Individualität entfernte. Als Ursache identifizierten amerikanische wie deutsche Kommentatoren – mit unterschiedlicher Gewichtung – Folgen der kapitalistischen Industrialisierung: Herausbildung eines Massenmarkts für standardisierte Freizeitprodukte zur Unterhaltung, Information, Zerstreuung und Verschönerung des Daseins von Menschen, die über keine qualifizierten Maßstäbe von Geschmack und Wissen verfügten; geistige Entleerung der Arbeit und Uniformität der Institutionen; auf Bestätigung und leichte Verdaulichkeit ausgerichtete Kalkulation der Kulturindustrie; Beschleunigung der Lebensführung und sozialer Konformitätsdruck auf die isolierten Einzelnen. Alle diese Faktoren, so die Analysen, hinderten den Massenmenschen daran, die Angebote von Kunst und Bildung für die eigenständige Persönlichkeitsentwicklung zu erkennen. Dieser Massenmensch setze sich auf allen Etagen von Besitz und Status durch; die größte Besorgnis erweckten nicht die klassischen Unterschichten, sondern die neuen Mittelschichten, denen Wohlstand und Freizeit die vielfältige Teilhabe an der Massenkultur und einen Lebensstil erlaubten, der selbstbewusst als geschmack- und kulturvoll empfunden werde. 58

Vgl. Egbert Klautke: Unbegrenzte Möglichkeiten. ‚Amerikanisierung‘ in Deutschland und Frankreich (1900-1933), Stuttgart 2003.

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Die bedrohlichsten Folgen sah man einerseits in der Marginalisierung der humanen und kritischen Substanz der Kultur – einer Kultur, die Deutsche wie Amerikaner als von Künstlern, Intellektuellen, Gebildeten verkörpert und gelebt verstanden; zum anderen beschwor man die Gefahr einer politisch apathischen, manipulierten Gesellschaft, die leicht dem totalitären Zugriff zum Opfer fallen könne. Die Hauptlinien des Massenkultur-Paradigmas wurden in beiden Gesellschaften relativ unabhängig voneinander, jeweils aus den Theorie- und Deutungsressourcen der 1920er bis 1940er Jahre entwickelt. Ganz grob kann man sagen, dass die liberale amerikanische Kulturdiagnostik deutlich mehr europäische Anregungen aufgriff als das in umgekehrter Richtung der Fall war – von der Kunsttheorie der Avantgarde über die kritische Sozialphilosophie und Kulturanalyse der Emigranten bis zur Vorbildrolle des westeuropäischen Intellektuellen; dabei blieb sie insgesamt stärker dem Duktus und den Wissensbeständen kritischer Sozialwissenschaft und Sozialreportage verpflichtet, die freilich in der Zentralität des Entfremdungskonzepts59 kräftige europäische Wurzeln zeigen. In der Bundesrepublik dominierte die philosophisch-historisch argumentierende Tradition der Technik- und Kulturkritik, die mehr auf ideelle als auf soziale Faktoren und Zusammenhänge schaute und ihre Generalisierungen häufig auf recht selektiv und willkürlich gewählten Belegen gründete. Sie speiste ihr Bild von Massengesellschaft und Massenmensch vielfach aus Prognosen und Deduktionen, die in der Realität der bundesdeutschen Gesellschaft der 1950er Jahre wenig Entsprechung hatten; typisch waren „z. T. groteske Stilisierungen beobachteter erster Randphänomene eines neuen, großzügigeren Lebenszuschnitts“.60 Im Kern aus der Zwischenkriegszeit vertraute, nun aktualisierte Bilder der amerikanischen Lebensweise wurden nicht selten als Indikatoren für Kommendes herangezogen. In modernisierungstheoretischer Sicht verkörperten die Vereinigten Staaten die Zukunft der Industriegesellschaft; sie wurden nicht als Amerikanisierer aus eigenem Interesse dargestellt. An diesem Punkt lässt sich der Abstand der untersuchten Kulturkritik ersten Ranges von der, wie Korn sie abfällig nannte, „kul-

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Vgl. Pells: The Liberal Mind in a Conservative Age, a.a.O., S. 190. Schildt: Moderne Zeiten, a.a.O., S. 448.

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turkritischen Vulgärpolemik“61 messen, die den breiteren kulturdiagnostischen Diskurs der Lehrer, Pfarrer, Jugendschützer, Juristen, Politiker und Journalisten sowie die praxisnahe Auseinandersetzung mit der neuen Massenkultur in Konsum und Freizeit, mit dem so genannten „Schmutz und Schund“ und insbesondere mit der provokativen jugendlichen Aneignung amerikanischer Populärkultur bestimmte.62 Kultureller Antiamerikanismus und die stark mit herkömmlichen antiproletarischen Ressentiments durchsetzte Abgrenzung von den ‚rohen Unterschichten‘ hatten hier ein weitaus größeres Gewicht und färbten die aus dem Spitzendiskurs übernommenen Stichworte entsprechend ein. Wenn Korn sich absetzte von organisierten Bewegungen des Schundkampfs, weil die sich leicht gegen die Freiheit wenden könnten, dann mag man der Warnung die demokratische Intention nicht absprechen; dominant scheint allerdings die konservativ-elitäre Distinktion von den „kleinen Funktionären“, die hier am Werke seien. Wie nahe auch Korn noch der herkömmlichen volkspädagogischen Selbstermächtigung zum Durchgriff auf die Vergnügungen der Vielen stand, belegt die im selben Atemzug vorgebrachte Aufforderung, „alle Erzieher mit dem Elan der Säuberung zu erfüllen – und sich dabei in den Grenzen der Freiheit zu halten.“63 Marcus Payk hat zudem

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Korn: Die Kulturfabrik, a.a.O., S. 61. Belege für diesen Diskurs bei Poiger: Jazz, Rock and Rebels, a.a.O.; Kaspar Maase: BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, Hamburg 1992; Ders.: „Amerikanisierung von unten. Demonstrative Vulgarität und kulturelle Hegemonie in der Bundesrepublik der 50er Jahre“. In: Alf Lüdtke/Inge Marßolek/Adelheid v. Saldern (Hg.): Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1996, S. 291-313; Ralf-Peter Fuchs: „‚Synkopen am laufenden Band ...‘. Die fremdartigen Wirkungen des Jazz auf Jugend und Kulturexperten im westlichen Nachkriegsdeutschland“. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 47 (2002), S. 237-259. Korn: Die Kulturfabrik, a.a.O., S. 91 f. Zu Praktiken und Traditionen des Schundkampfs vgl. Petra Jäschke: „Produktionsbedingungen und gesellschaftliche Einschätzungen“. In: Klaus Doderer (Hg.): Zwischen Trümmern und Wohlstand. Literatur der Jugend 1945-1960, Weinheim 1988, S. 209-520, hier S. 314-394; Heinz-Dietrich Fischer/Jürgen Niemann/ Oskar Stodiek: 100 Jahre Medien-Gewalt-Diskussion in Deutschland. Synopse und Bibliographie zu einer zyklischen Entrüstung, Frankfurt a.M. 1996; Kaspar Maase (Hg.): Prädikat wertlos. Der lange Streit um Schmutz und Schund, Tübingen 2001; Ders.: „Die soziale Bewegung gegen Schundliteratur im deutschen Kaiserreich. Ein Kapitel aus der Geschichte

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gezeigt,64 dass Korn als Leitartikler und Kommentator oft auf Souveränität und Differenziertheit verzichtete und zu Simplifizierungen griff, die von „Vulgärpolemik“ schwer zu unterscheiden sind. Die bedeutsamen Übereinstimmungen in der Kritik an der Massenkultur legen es nahe, das eingangs gezeichnete Bild des westdeutschen intellektuellen Zeitgeists in einen internationalen, in vieler Hinsicht bereits „westlichen“ Kontext zu stellen. Es geht nicht an, die Abwehr der heraufziehenden neuen Lebensformen und Kulturmuster nur aus nationalen Zusammenhängen zu erklären. Sicher ist es weiterhin plausibel, das Festhalten an herkömmlichen, in vieler Hinsicht in der wilhelminischen Gesellschaft verankerten Normen als Schutzreaktion angesichts der „zwar begrüßten, aber doch auch verunsichernden und beängstigenden Veränderungen der Lebensbedingungen“ im beginnenden „Wirtschaftswunder“ zu interpretieren, wie Ulrich Herbert das in seinem Modell von „Liberalisierung als Lernprozess“ tut.65 Und auch der Vorschlag des Verfassers, die Auseinandersetzung um die moderne Massen- und Konsumkultur in den 1950er Jahren als Ringen um Hegemonie und kulturelle Anerkennung zu lesen,66 dürfte mit dem Verweis auf amerikanische Parallelen nicht erledigt sein. Doch stand die bundesdeutsche (Massen-)Kulturkritik keineswegs isoliert in der Ideenlandschaft des Westens; und bildungselitäre, geistesaristokratische Positionen, die in der deutschen Geschichte meist antidemokratisches Denken nährten, hatten durchaus ein Pendant im Mutterland der Massendemokratie.

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der Volkserziehung“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. (2002) H. 2, S. 45-123. Vgl. Payk: „Der ‚Amerikakomplex‘“, a.a.O., S. 197, S. 203 und S. 207. Vgl. Ulrich Herbert: „Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze“. In: Ders. (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 - 1980, Göttingen 2002, S. 7-49; Ders.: „Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert“. In: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95-114, hier S. 106. Vgl. Kaspar Maase: „‚Gemeinkultur.‘ Zur Durchsetzung nachbürgerlicher Kulturverhältnisse in Westdeutschland 1945 bis 1970“. In: Georg Bollenbeck/Gerhard Kaiser (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre, Wiesbaden 2000, S. 170-189; Ders.: „Establishing Cultural Democracy: Youth, ‚Americanization‘, and the Irresistible Rise of Popular Culture“. In: Hanna Schissler (Hg.): The Miracle Years: A Cultural History of West Germany, 1949 - 1968, Princeton 2001, S. 428-450.

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Der Befund lässt sich innerhalb des von Ulrich Herbert67 vorgeschlagenen Modells diskutieren, wonach die vom massiven Modernisierungsschub um 1900 ausgelösten sozialen Veränderungen bis in die 1950er Jahre hinein vor allem an den Maßstäben der bürgerlichen Gesellschaft der Jahrhundertwende gemessen wurden – und zwar in allen westlichen Industrieländern. Erst zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatte man sich in den neuen Verhältnissen derart eingelebt und Sicherheit ihnen gegenüber erworben, dass ein souveränerer, liberalerer Umgang mit ihren Möglichkeiten – und mit den im Alltag bereits herrschenden Lebensformen! – auf breiterer Ebene eingefordert und relativ schnell durchgesetzt werden konnte. Mit der Einschränkung, dass hier vor allem von den diskursbestimmenden und durch ihre Macht normsetzenden Eliten und bürgerlichen Schichten gesprochen wird, ist diese Sicht mit den Auseinandersetzungen um die Alltagskultur der „Massen“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus vereinbar. Erstaunlich ist nun, dass bis 1960 die Vereinigten Staaten hier keinen durchgängigen Vorsprung aufwiesen. Sie standen bereits seit den 1920ern an der Spitze der Modernisierung der Lebensweisen und erlebten keine mit westeuropäischen Erfahrungen vergleichbaren sozialen Brüche und Katastrophen; sie hatten also nach Herberts Modell sehr viel bessere Voraussetzungen für die analytische und normative Akzeptanz von „Massengesellschaft“ und „Massenkultur“. Doch noch in den 1950ern ist kein grundlegend anderes kulturdiagnostisches Paradigma als in Deutschland erkennbar. Größere Vertrautheit der amerikanischen Diskutanten mit dem Gegenstand und geringe Neigung zum Katastrophismus sind unübersehbar; doch Kategorien und Werturteile der akademisch-publizistischen Intelligenz lassen absolut keinen klaren ‚Liberalisierungsvorsprung‘ erkennen. Anders als bei der „Amerikanisierung von unten“,68 der kulturelle Transfers Inspiration, Material und Legitimation lieferten, ist der Wandel in der Diagnostik der Massenkultur aus deutscher Sicht nicht als „Verwestlichung“ zu interpretieren; er war Element (westlich-)international vernetzter intellektueller Anpassungsprozesse, allenfalls „Westernisierung [...] im Sinne eines anhaltenden Austauschs“, als „interkultureller Transfer“.69 67 68 69

Herbert: „Liberalisierung als Lernprozess“, a.a.O., hier S. 35-41. Vgl. Maase: „Amerikanisierung von unten“, a.a.O. Anselm Doering-Manteuffel: „Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er

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V.

Amerikanisierung – Normalisierung – Liberalisierung?

Die Wende westdeutscher Politiker, Institutionen und Publizisten zum Arrangement mit der neuen Massenkultur und zur Integration der jugendlichen Sub- und Sonderkulturen, die Autonomieansprüche durch Selbstamerikanisierung demonstrierten,70 begann in den späten 1950er Jahren. Uta Poiger und Axel Schildt haben den Mechanismus treffend analysiert;71 aus dem modernen Konservatismus kam, prominent vertreten von Helmut Schelsky und Friedrich Tenbruck,72 der sozialwissenschaftliche Hinweis auf die Harmlosigkeit solcher Tendenzen und die unproblematische Integration der „skeptischen Generation“; ‚liberale‘ deutsche und europäische Intellektuelle argumentierten, dass Auseinandersetzungen um jugendliche Grenzüberschreitung als Beleg für Freiheitlichkeit zu interpretieren seien und so die westliche Position im Kalten Krieg stärkten. Allgemeiner kann man formulieren: Auf die „Amerikanisierung von unten“, die sich mit und auch ohne Bezug auf US-Vorbilder in neuen Konsum- und Vergnügungsmustern vollzog, reagierten die herausgeforderten Autoritäten zunehmend mit „Abweichungsmanagement“.73 Eher passiv trugen sie zur Normalisierung bei, indem sie sich in die (verstärkt von Sozialwissenschaftlern als modern und unabwendbar bezeichneten) Veränderungen von Lebensweise und Wertordnungen schickten und auf deren Ausgrenzung als anormal und gefährlich verzichteten; eher aktiv betrieben sie Normalisierung, indem sie die entstehende Jugendkultur und auch deren provozierend-polarisierende Formen sowie die ebenfalls umstrittenen Praktiken des Massenkonsums und Massenvergnü-

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Jahre“. In: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311-341, hier S. 315. Vgl. dazu Maase: BRAVO America, a.a.O.; Poiger: Jazz, Rock and Rebels, a.a.O. Vgl. Schildt: Moderne Zeiten, insbesondere S. 346-350 und S. 422; Ders.: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998, S. 236-238; Poiger: Jazz, Rock and Rebels, a.a.O., Kap. 3. Vgl. Helmut Schelsky: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Taschenbuchausgabe Berlin 1984 (Original: 1957); Friedrich H. Tenbruck: Jugend und Gesellschaft. Soziologische Perspektiven, Freiburg 1962. Bohn: „Mediatisierte Normalität“, a.a.O., S. 45.

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gens zur Normalität einer pluralistischen Gesellschaft erklärten – zumindest jedoch Auseinandersetzungen darüber als normal (im Sinne des in einer modernen westlichen Gesellschaft zu Erwartenden) charakterisierten. Aus dem Stigma wurden so „normale Abweichungen“.74 Diese Strategie schloss die Selbstaufwertung gegenüber den als totalitär charakterisierten kommunistischen Gesellschaften ein, in denen die normale kulturelle Vielfalt und die freie Debatte über die richtige Lebensform unterdrückt würden. Insgesamt dehnte sich so der „Korridor der ‚normalen Abweichungen‘“ aus, was zu einer Verschiebung der „‚Normalitätslinie‘“ in der Mitte des Korridors führte75 – eine Entwicklung, die problemlos im Sinne von Herbert und Mitarbeitern als Liberalisierung76 verstanden werden kann. Es spricht wenig dafür, diesen Wandel im Umgang mit den Phänomenen der Massen-, Konsum- und populären Jugendkultur als „Amerikanisierung“ zu verstehen. Wir haben gesehen, dass die einschlägige intellektuelle Debatte in den USA während der 1950er keinerlei positive Modelle für Akzeptanz und Legitimation der neuen Freizeit- und Vergnügungspraktiken entwickelte. Und auch von der Selbstdarstellung der Vereinigten Staaten in Westeuropa wissen wir, dass sie auf die Anerkennung als gleichrangige (Hoch-) Kulturnation zielte.77 Zwar arbeiteten Wirtschaftspolitik und Lebensstandard-Propaganda der USA massiv und erfolgreich auf die Anerkennung ihrer Konsumkultur in Europa hin78 – doch die Intellektuellen blieben kritisch.

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Vgl. ebenda, S. 43-45. Jürgen Link/Thomas Loer/Hartmut Neuendorff: „Zur Einleitung. ‚Normalität’ im Diskursnetz soziologischer Begriffe“. In: Dies.: ‚Normalität‘ im Diskursnetz soziologischer Begriffe, a.a.O., S. 7-20, hier S. 12. Herbert: „Liberalisierung als Lernprozess“, a.a.O.. Vgl. Axel Schildt: „Die USA als ‚Kulturnation‘. Zur Bedeutung der Amerikahäuser in den 1950er Jahren“. In: Lüdtke/Marßolek/v. Saldern (Hg.): Amerikanisierung, a.a.O., S. 257-269; Ders.: „Die USA als Kulturnation – zu den Vortragsprogrammen der Amerikahäuser“. In: Ders.: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, S. 167-195; Reinhold Wagnleitner: CocaColonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, Wien 1991, S. 73-90. Dazu jetzt eindrucksvoll Victoria de Grazia: Irresistible Empire. America's Advance through Twentieth Century Europe, Cambridge, Mass. 2005, insbes. Kap. 7.

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Zweifellos trugen Rezeption von und Orientierung an Standards der amerikanischen Sozialforschung dazu bei, dass der stark pädagogisch und an den Kindern der Bildungsschichten ausgerichtete Blick auf die Jugend79 und ihrem Umgang mit der Massenkultur durch pragmatische Sichtweisen abgelöst wurde. Doch ein substanziell neues Paradigma der Jugend- und Massenkulturforschung, das die Phänomene differenztheoretisch in den Kontext klassenspezifischer Lebensweisen und Kulturformen stellte und ihren Gebrauchswert im Sinnhorizont der Nutzer und Akteure zu verstehen suchte, wurde in Westdeutschland erst in den späten 1970er Jahren80 mit der Aneignung des britischen Cultural Studies-Ansatzes relevant. Der speiste sich wiederum aus italienischen (Gramsci) und französischen (Strukturalismus) Theorieanregungen und grenzte sich massiv von der amerikanischen Subkulturforschung ab81 – insgesamt also wohl ein schöner Fall von „Westernisierung“ im Sinne der „allmählichen [und anhaltenden, K.M.] Herausbildung einer gemeinsamen Werteordnung in den Gesellschaften diesseits und jenseits des Nordatlantik“.82 Und spätestens seit den 1990er Jahren kann man sagen, dass die deutsche Gesellschaft die „westlich-liberale“ Akzeptanz der modernen Populärkultur und ihrer Grenzüberschreitungsdynamik gründlicher vollzogen hat als die der Vereinigten Staaten; Bewegungen, die dem dortigen christlich-fundamentalistischen Widerstand gegen moralisch unerwünschte Medieninhalte83 an Einfluss und Radikalität vergleichbar wären, gibt es hierzulande nicht. 79

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Vgl. die Abgrenzung gegenüber diesem Ansatz bei Schelsky: Die skeptische Generation, a.a.O., S. 7f. Der konzeptionelle Einfluss US-amerikanischer Soziologen ist bei Schelsky wie bei Tenbruck (Jugend und Gesellschaft, a.a.O.) offenkundig. Ohne wissenschaftliche Paradigmenwechsel überzubewerten, ist dies doch als Hinweis darauf zu lesen, dass in den 1970ern (und wohl auch den 1980ern) die „Fundamentalliberalisierung“ nicht nur quantitativ, sondern durchaus auch noch qualitativ ausgeweitet wurde. Vgl. etwa John Clarke u.a.: Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokationen, Frankfurt a.M. 1979 (Original 1976). Doering-Manteuffel: „Westernisierung“, a.a.O., hier S. 314; vgl. auch Ders: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Vgl. etwa Christa Piotrowski: „Kampf um einen sauberen Bildschirm. Kampagne gegen Unanständigkeit im US-Fernsehen“. URL: www.nzz. ch/2005/03/04/em/articleCMX7P.html (21. Juli 2006); Nina Rehfeld: „So was sagt man nicht. Amerikas Medienaufsicht macht den Sendern die

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Wenn man nach Bedingungen und Wegen des politisch-intellektuellen Arrangements mit der neuen Massenkultur fragt, ist auf jeden Fall die Generationsprägung der Akteure einzubeziehen.84 Dazu nur einige Anmerkungen. Blickt man auf die Protagonisten des kulturdiagnostischen Diskurses, dann ist zunächst ein Negativbefund festzuhalten: Keiner von ihnen zählt zur Gruppe der „45er“,85 denen in jüngster Zeit die Hauptrolle bei der Wendung zu einer pragmatisch-erfolgsorientierten, für Modernität und Massendemokratie in ihrer amerikanischen Variante offenen, eher postnational-europäisch ausgerichteten Entwicklung der Bundesrepublik zugeschrieben wird.86 Ex negativo wird also der Fokus auf die ca. 1925 bis 1935 Geborenen bestätigt. Allerdings sind die hier herangezogenen einflussreichen Autorinnen und Autoren keiner der sonst in der Literatur genannten vorangehenden Generationsgruppierungen zuzurechnen; ihre Geburtsjahre liegen zwischen 1885 (de Man) und 1908 (Korn).87 Vermutlich verlief die Abfolge politischer Generationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts doch anders, in hektischerem Rhythmus als die der „kulturellen Generationen“. Sehr pauschal formuliert, nahmen die Protagonisten der Kulturkritik der 1950er die Gesellschaft durch die Brille von Kategorien und Konzepten wahr, die ‚um 1900‘ in Deutschland geistig bestimmend geworden waren;88 sie verstanden Kultur als System

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Hölle heiß“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 173, 28. Juni 2006, S. 42. Vgl. zur neueren Debatte über das Generationskonzept Reulecke: Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, a.a.O.; Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005. Die einschlägigen Aufsätze von Jürgen Habermas aus den 1950ern fanden erst mit der Studentenbewegung größeren Widerhall. A. Dirk Moses: „The Forty-Fivers. A Generation between Fascism and Democracy“. In: German Politics and Society, Jg. 17 (1999) Nr. 50, S. 94126; Herbert: „Liberalisierung als Lernprozess“, a.a.O.; Ders.: „Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert“, a.a.O.; Christina von Hodenberg: „Politische Generationen und massenmediale Öffentlichkeit. Die ‚45er‘ in der Bundesrepublik“. In: Jureit/Wildt (Hg.): Generationen, a.a.O., S. 266-294. Dies.: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006. Die Hauptvorträge auf der Kulturkritikertagung 1958 hielten Max Horkheimer, Jg. 1895; Hannah Arendt, Jg. 1906; Arthur Jores, Jg. 1901; Walter Muschg, Jg. 1898; Ludwig Marcuse, Jg. 1894; Oswald von Nell-Breuning, Jg. 1890; Maurice Boucher, Jg. 1885. Gemeint ist die Spanne von ca. 1880 bis 1914; vgl. August Nitschke u.a.

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lebensprägender Ideen, die sie im Zentrum gesellschaftlicher Krisenerscheinungen wie als Hauptfeld für deren Bewältigung sahen, und die in diesem Zusammenhang entwickelten Prinzipien der Lebensreformbewegung bestimmten ihre Urteile über die Gegenwart.89

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(Hg.): Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930, Reinbek bei Hamburg 1990. Zur Kulturdebatte vgl. die bei Maase: „Krisenbewusstsein und Reformorientierung“, a.a.O. angeführte Literatur, insbes. Rüdiger vom Bruch/Friedrich Wilhelm Graf/Gangolf Hübinger (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. 2 Bde, Stuttgart 1989 und 1997; Volker Drehsen/Walter Sparn (Hg.): Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996; Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland, Frankfurt a.M. 1996. Zur Lebensreformbewegung vgl. Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974; Janos Frecot: „Die Lebensreformbewegung“. In: Klaus Vondung (Hg.): Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 138-52; Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt a.M. 1997; Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998; Kai Buchholz u.a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bde, Darmstadt 2001. So berief sich Korn auf „alles, was in Deutschland Jugendbewegung geheißen hat, alles was das Leben reformieren, wieder gesundmachen wollte, die ungeheuren Anstrengungen moderner Pädagogik“ sowie auf John Ruskin, William Morris und Eric Gill (vgl. Ders.: Die Kulturfabrik, a.a.O., S. 29; vgl. auch ebenda., S. 87, S. 93, passim). Auch de Man griff mehrfach zur Begründung seiner Sicht auf Jugenderinnerungen zurück und beurteilte Mode und Produktgestaltung mit den klassischen Maßstäben der Jahrhundertwende (vgl. Ders.: Vermassung und Kulturverfall, a.a.O., S. 76-80, S. 112, S. 116, S. 156, passim).

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VI. Massenkultur und republikanische Rahmung Die Bedeutung der Auseinandersetzungen um die moderne Massenkultur in den 1950ern und 1960ern ergibt sich aus der Verknüpfung mit dem deutschen „Demokratiewunder“, verstanden nicht als Frage nach dem Funktionieren von Institutionen, sondern nach der „Verinnerlichung von Demokratie“.90 Hier geht es also nicht darum, inwiefern erweiterte kulturelle Partizipation als Demokratisierung interpretiert werden kann.91 Vielmehr lief, so meine These, während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts als Subtext bei der Erörterung des Themas in Deutschland stets die zweifelnde Frage mit, ob denn die von der Massenkultur und ihrer Niveausenkung geprägte Menge, gedacht als Unterschicht, eigentlich reif sei für die Demokratie.92 Vielen im gebildeten Bürgertum galt das Massenpublikum, dessen Beschränktheit, Triebhaftigkeit und Verführbarkeit die Populärkultur angeblich ständig neu belegte, schlicht als ungeeignet für die Rolle des politischen Souveräns. Noch 1958 formulierte Erich Kuby das so: „Das allgemeine und freie Wahlrecht [...] delegiert die Dummheit der vielen an die Spitze.“ Seine Alternative lautete: entweder die Demokratie abbauen oder die unkultivierte Masse durch den Glauben einbinden.93 Auf der Ebene sozialer Praxis entsprach dieser Einstellung die volkserzieherische Selbstermächtigung der ‚Gebildeten‘, Pädagogen und Juristen, zum Schutz der ‚Ungebildeten‘ vor den Auswirkungen der Massenkultur in die Freiheit des Kulturmarktes einzugreifen und die Verbreitung von „Schmutz und Schund“ aus erzieherischen, moralischen und ästhetischen Gründen zu verhindern.94 90 91 92

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Konrad H. Jarausch: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995, München 2004, S. 182. Vgl. dazu Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, (4. Aufl.) Frankfurt a.M. 2007. Ausführlicher dazu Ders.: „Happy Endings? Massenkultur und Demokratie in Deutschland im 20. Jahrhundert“. In: Angelika Linke/Jakob Tanner (Hg.): Attraktion und Abwehr. Die Amerikanisierung der Alltagskultur in Europa, Köln 2006 , S. 137-160. Erich Kuby: „Diskussionsbeitrag“. In: Untergang oder Übergang, a.a.O., S. 157. – Zum Fortwirken antiparlamentarischer Einstellungen in den Bildungsschichten vgl. Hans Mommsen: „Von Weimar nach Bonn: Zum Demokratieverständnis der Deutschen“. In: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 745-758, insbesondere S. 752-754. Vgl. dazu die unter Anm. 63 aufgeführte Literatur.

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Eine der ersten parlamentarischen Initiativen in der neu gegründeten Bundesrepublik war, in der Nachfolge des Schmutz-undSchund-Gesetzes von 1926, ein „Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften“ auf den Weg zu bringen. Adelheid von Saldern hat aus den Debatten als „eigentliche Zielrichtung [...] die Domestizierung der als unberechenbar geltenden [...] Massen“ und die „Aufrechterhaltung der Definitionsmacht durch bildungsbürgerlich geprägte Funktionseliten“ erschlossen.95 Hier scheint die, zurückhaltend formuliert, demokratieskeptische und paternalistische Haltung noch ungebrochen. Zu fragen ist also: Wie weit transportierte die Massenkulturdebatte der 1950er Jahre solche unterschwelligen Zweifel an der Tauglichkeit der Massendemokratie für Deutschland? Die Antwort fällt gerade im Vergleich mit der amerikanischen Diskussion nicht einfach. Dort fanden damals Schundkämpfe statt, insbesondere gegen Comics, deren Reichweite und Resonanz die deutschen Gegenstücke deutlich in den Schatten stellen.96 Selbst Liberale zeigten Sympathie für solche Bewegungen und für Verbote gegen angeblich Jugendgefährdendes.97 Angesehene Kritiker wie MacDonald und Greenberg vertraten einen ästhetisch wie sozial unverhüllten Elitismus gegenüber aller Kultur, die nicht den Kriterien der Avantgarde genügte, zugespitzt in der (punktuellen) Abqualifizierung des Massenpublikums als „Mob“.98 Sarkastisch wurde Massenkultur als „sehr, sehr demokratisch“ qualifiziert: Sie akzeptiere überhaupt keine Unterscheidungen mehr – damit auch keine Urteile und somit auch keine Trennung des Wertvollen vom Wertlosen.99 Zuspitzungen solcher Art wurden in der deutschen Debatte vermieden – man ist versucht zu sagen: peinlich vermieden. Kuby, der offen das allgemeine Wahlrecht in Frage stellte, bildete im Feld der erstrangigen Kulturkritik die Ausnahme. Zwar diskutierte man 95

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Adelheid von Saldern: „Kulturdebatte und Geschichtserinnerung. Der Bundestag und das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (1952/53)“. In: Bollenbeck/Kaiser: Die janusköpfigen 50er Jahre, a.a.O., S. 87-114, hier S. 101 und S. 110. Vgl. Steven Starker: Evil Influences. Crusades against the Mass Media, New Brunswick 1989. So etwa Seldes: „The People and the Arts“, a.a.O., insbesondere S. 98-96. MacDonald: „A Theory of Mass Culture“, a.a.O., S. 61; allgemeiner ebenda S. 69-71. Ebenda, S. 62.

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auch über die Probleme, die die am Ideal der griechischen Polis orientierten Intellektuellen mit der Realität der Massen- und Parteiendemokratie hatten – doch die offenste Kritik am Vielparteiensystem formulierte die Emigrantin Hannah Arendt.100 Wie verhielt sich also die Massenkulturkritik zur „Gewinnung der Legitimität durch die Nachkriegsdemokratie“? Behinderte oder förderte sie das Einwurzeln der von den Besatzern forcierten neuen alten, durch Erinnerungen an „Weimar“ belasteten Ordnung „in den Meinungen und Gefühlen der Bevölkerung“?101 Meine Vermutung, die noch weiter empirisch zu prüfen ist, lautet: Die Antworten sind nicht aus der theoretischen Argumentation herauszulesen. Ein solches Vorgehen verbieten bereits die gezeigten Gemeinsamkeiten zwischen deutschen und amerikanischen Autoren einerseits, die Binnendifferenzierung der nationalen Diskurse andererseits (das gilt, wie gesagt, für die hier betrachtete Erste Liga der Diskutanten). Es waren Subtexte und Kontexte, die den Unterschied ausmachten – also beispielsweise der gesellschaftspolitisch unterschiedliche Horizont der Konnotationen von mass und Masse oder Vertrautheit und Normalität des Umgangs amerikanischer Intellektueller mit Massenkulturgenres im Gegensatz zur abstrakten Ablehnung und beschränkten Kenntnis der deutschen Gebildeten. Die lebensweltliche Differenz legte vermutlich unterschiedliche Folgerungen aus der grundlegend übereinstimmenden Analyse nahe. Überschaut man die verschiedenen Ebenen der deutschen Massenkulturdebatte – von der erstrangigen Kulturkritik über pädagogische, kirchliche, juristische, politische Kommentare bis hin zum praktizierten Schundkampf in Schule und Gemeinde –, dann springen zunächst die Kontinuitäten zur Kaiserzeit ins Auge. Auch für die parlamentarische Debatte über jugendgefährdende Schriften 1949 bis 1953 hat Adelheid von Saldern eine „große Ähnlichkeit“ der Begriffe und Motivationsstränge zu den 1920ern und früher konstatiert.102 Im Anschluss an die kluge Arbeit von Edward 100 Hannah Arendt: „Diskussionsbeitrag“. In: Untergang oder Übergang, a.a.O., S. 218-220. 101 Jarausch: Die Umkehr, a.a.O., S. 173. 102 v. Saldern: „Kulturdebatte und Geschichtserinnerung“, a.a.O., S. 90, 100. – Zum in der Forschung immer wieder angesprochenen Weiterleben bürgerlich-paternalistischer und autoritärer Prägungen wilhelminischer Provenienz selbst bei den vergleichsweise demokratieoffenen „45ern“ vgl. Moses: „The Forty-Fivers“, a.a.O., S. 105f. und S. 112.

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Ross Dickinson zur deutschen Jugendfürsorge im 20. Jahrhundert103 möchte ich jedoch die These formulieren: Die verschiedenen analytischen und wertenden Argumentationsmuster in Sachen Massenkultur waren nicht eindeutig verbunden mit politischen Optionen in Sachen Demokratie. Gerade die amerikanische Debatte zeigt, dass schärfste Kritik der Populärkultur, des Publikums und der Kulturindustrie nicht zur Infragestellung des Demokratiemodells führen musste – wobei sicher Stalinismuserfahrung und Blockkonfrontation zu dieser Haltung beitrugen. Für die Bundesrepublik der 1950er Jahre folgt aus dieser Annahme: Wie es um die „Verwestlichung“ im Sinne einer Akzeptanz der Massendemokratie104 stand, lässt sich nicht an kulturdiagnostischen Kategorien, Modellen und Wertmaßstäben ablesen. Die entscheidenden Weichenstellungen wurden im Kontext, im Feld des öffentlich, politisch Sagbaren, Unsagbaren und Erwünschten vorgenommen.105 „Verwestlichung“ bedeutete hier, dass – autoritär, durch Drohungen und Interventionen der westlichen Siegermächte, auch durch die ideologische Polarisierung des Kalten Krieges – der Raum für explizit antidemokratische Schlussfolgerungen außerordentlich eingeschränkt wurde. Und umgekehrt: Bekenntnisse zu und Bezüge auf Freiheit und Demokratie, zunehmend pluralistische Demokratie, waren erwünscht, teilweise Pflicht. Für die Massenkulturdebatte bedeutete das: Weiterhin erschienen die Massen als Problem – ihre fehlende Kultiviertheit, die von den Produzenten der kommerziellen Populärkultur bedient und ausgebeutet werde. Aber der beklagte Zustand der Menge und ihrer Vergnügungen diente jetzt nicht mehr als Argument gegen Demokratie und Liberalität; er figurierte als Schwäche und Gefährdung einer freiheitlichen Ordnung. Man müsse die Vermassung bekämpfen, um die liberale Demokratie zu festigen, hieß es nun, musste es korrekterweise auf Druck der westlichen Alliierten heißen. Solche Rahmungen waren gerade in den frühen 1950ern – um es in einer topologischen Metapher auszudrücken – meist weit von den konkreten Argumentationen in Sachen Massenkultur, Schund, 103 Edward Ross Dickinson: The Politics of German Child Welfare from the Empire to the Federal Republic, Cambridge, Mass. 1996. 104 Vgl. als prägnante Skizze aus konservativer Perspektive Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991. 105 Zur Bedeutung öffentlich bestätigter Normen für den Wandel vgl. auch Moses: „The Forty-Fivers“, a.a.O., S. 118.

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kommerzielle Vergnügung entfernt; sie wurden formuliert im Raum politischer Absichtserklärungen, ganz selten in den hier betrachteten Texten. Aus der vorgeschlagenen Perspektive kann man immerhin einen ganz zarten Hinweis auf republikanische Rahmung in der Rede finden, mit der Bundesinnenminister Gustav Heinemann im Juli 1950 die Beratungen über das „Gesetz über den Vertrieb jugendgefährdender Schriften“ eröffnete. Um die heutige Freiheit zu sichern, so das keineswegs eindeutige Argument, müsse man sie „vor Entartungen schützen“.106 Einige Jahre später wurde in einem programmatischen Text zum selben Thema der demokratische Rahmen schon sehr viel deutlicher angesprochen. Der Vorsitzende der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften stellte seine Arbeit unter die Maßstäbe eines „demokratischen Menschenbild[s]“ vom „Staatsbürger als einer Persönlichkeit, die zu freier sittlicher und sozialer Entscheidung und Verantwortung willens und fähig ist. Dieser Staatsbürger unterscheidet sich wesentlich sowohl von den Untertanen eines diktatorischen Regimes als auch von den Massenmenschen eines kollektivistischen Systems“.107 Man mag solche Rahmungen in vielen Fällen für ein Lippenbekenntnis halten, und zweifellos mischte sich oft westlichliberales Gedankengut mit autoritärem Verständnis deutscher Provenienz von Staatsordnung und Mehrheitsherrschaft.108 Die Veränderungen im Raum des öffentlich Sagbaren und Erwünschten ließen aber Zeit gewinnen – für die Ablösung der Generationen und für die Normalisierungsprozesse, mit denen die Gesellschaft sich 106 „Ich halte es aber für gut möglich, dass die Regenten von morgen mit den Freiheiten von heute sehr böse umspringen, wenn wir sie nicht vor Entartungen schützen.“ Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode 1949-1953, 74. Sitzung, 13.07.1950; Stenographische Berichte, Bd. 4, S. 2666 A. Für die erzwungene Anwendung des Demokratie-Maßstabs vgl. auch eine Indizierungs-Begründung von 1955, die das alte Schundkampfargument der Realitätsverzerrung nun als Schutz vor antidemokratischen Inhalten etikettierte; zit. bei Werner Faulstich: „Groschenromane, Heftchen, Comics und die Schmutz-und-Schund-Debatte“. In: Ders. (Hg.): Die Kultur der 50er Jahre, München 2002, S. 199-215, hier S. 210. 107 Robert Schilling: Literarischer Jugendschutz. Theorie und Praxis – Strategie und Taktik einer wirksamen Gefahrenabwehr, Berlin u.a. 1959, S. 5. 108 Eine plastische Studie dazu liefert Raimund Lammersdorf: „’Das Volk ist streng demokratisch’. Amerikanische Sorgen über das autoritäre Bewusstsein der Deutschen in der Besatzungszeit und frühen Bundesrepublik“. In: Bauerkämper/Jarausch/Payk, Demokratiewunder, S. 85-103.

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auf das Neue einstellte. So unterstützte verordnete „Verwestlichung“ den Beginn jenes Wandels, in dessen Verlauf demokratische Einstellungen kräftigere Wurzeln schlagen konnten.109 Literatur Albrecht, Clemens, u.a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M. 1999. Barlösius, Eva: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt a.M. 1997. Bartz, Christina: „Die Masse allein zu Haus. Alte Funktionen und neue Medien“. In: Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Band I, Wiesbaden 2002, S. 109-121. Bauerkämper, Arnd/Konrad H. Jarausch/Marcus M. Payk (Hg.): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945-1970, Göttingen 2005. Berking, Helmuth: Masse und Geist. Studien zur Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1984. Bohn, Cornelia: „Mediatisierte Normalität. Normalität und Abweichung systemtheoretisch betrachtet“. In: Jürgen Link/ Thomas Loer/Hartmut Neuendorff (Hg.): ‚Normalität‘ im Diskursnetz soziologischer Begriffe, Heidelberg 2003, S. 39-50. Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 1994. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1982. Buchholz, Kai, u.a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bde, Darmstadt 2001. Carey, John: Hass auf die Massen. Intellektuelle 1880-1939, Göttingen 1996. Clarke, John, u.a.: Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokationen, Frankfurt a.M. 1979. Conze, Werner: „Proletariat, Pöbel, Pauperismus“. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche 109 Als Gesamtdarstellung dieses Prozesses vgl. Jarausch, Umkehr; zum Generationsaspekt S. 191 f.

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Massenkultur, Demokratie und verordnete Verwestlichung

und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, S, 167-195. Schildt, Axel: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998. Schildt, Axel: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995. Schilling, Robert: Literarischer Jugendschutz. Theorie und Praxis – Strategie und Taktik einer wirksamen Gefahrenabwehr, Berlin u.a. 1959. Schneider, Irmela/Peter M. Spangenberg: „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Band I, Wiesbaden 2002, S. 11-21. Starker, Steven: Evil Influences. Crusades against the Mass Media, New Brunswick 1989. Tenbruck, Friedrich H.: Jugend und Gesellschaft. Soziologische Perspektiven, Freiburg 1962. Untergang oder Übergang. 1. Internationaler Kulturkritikerkongress in München 1958, München 1959. Vom Bruch, Rüdiger/Friedrich Wilhelm Graf/Gangolf Hübinger (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. 2 Bde, Stuttgart 1989, 1997. Wagnleitner, Reinhold: Coca-Colonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, Wien 1991.

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ZU DEN AUTOREN

Sabiene Autsch, Dr. phil., habil., geb. 1963, Kunst- und Kulturwissenschaftlerin. Vertretungsprofessorin an der Universität Paderborn. Eigene künstlerische Praxis im In- und Ausland (Kunstkataloge), kuratorische Tätigkeit. Lehr- und Forschungsgebiete: Kunst- und Mediengeschichte des 20./21. Jahrhunderts, Aspekte von Gegenwartskunst, Fotografie und Film, Geschichte und Theorie von Museum und Ausstellung, documenta-Konzepte, Curating Studies. Veröffentlichungen zur Erinnerungs- und Biografiegeschichte, zur Medienästhetik der 1920er Jahre, zum Medium Ausstellung und zu Ateliertheorien. Zuletzt erschienen: Atelier und Dichterzimmer in neuen Medienwelten. Zur aktuellen Situation von Künstler- und Literaturhäusern (zusammen mit Michael Grisko und Peter Seibert, Bielefeld 2005). Zurzeit Fertigstellung eines Projekts zur Dialektik des Ausstellens (erscheint Anfang 2008). Erika Fischer-Lichte, Dr. phil., habil., geb. 1943, Theaterwissenschaftlerin, seit 1996 Professorin am Institut für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften, der Academia Europaea und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Gastprofessorin in den USA, Russland, Japan, China und Indien. Arbeitsschwerpunkte in der Ästhetik und Theorie des Theaters, der Europäischen Theatergeschichte und dem interkulturellen Theater. Vielfältige Publikationen, zuletzt erschienen: Ästhetik des Performativen (Frankfurt a.M. 2004), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel (zusammen mit Ingrid Kasten, Berlin/New York 2007). Knut Hickethier, Dr. phil., habil., geb. 1945. Seit 1994 Professor für Medienwissenschaft an der Universität Hamburg. 1990-1994 Vertretungsprofessur an der Universität Marburg, 1989-1994 Mitarbeit im SFB 240 Bildschirmmedien. 1984-1989 Geschäftsführer der Dramaturgischen

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Zu den Autoren

Gesellschaft. 1982-1994 Fernseh-, Film- und Radiokritiken u.a. für epd Medien. Veröffentlichungen zur Medientheorie, -geschichte und -analyse, insbesondere im Bereich des Films, Fernsehens und des Radios. Zuletzt erschienen: Film- und Fernsehanalyse (4. erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2007), Die schönen und die nützlichen Künste. Literatur, Technik und Medien seit der Aufklärung (hg. zusammen mit Katja Schumann, München 2007). Andreas Käuser, Dr. phil, habil., geb. 1954, Literatur- und Medienwissenschaftler, apl. Professor an der Universität Siegen; dort wissenschaftlicher Koordinator des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche der DFG. Arbeitsschwerpunkte: Medienanthropologie, Körper- und Musikdiskurse, Literatur- und Mediengeschichte 1800-2000. Letzte Veröffentlichung: „Moderne – Medien – Ästhetik“. In: Navigationen, H. 2 (2007): Display II (hg. von Jens Schröter/Tristan Tiedemann). Lars Koch, Dr. phil., geb. 1973, Kulturwissenschaftler, seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Bundestags. 2004-2006 Postdoc an der Rijksuniversiteit Groningen. Arbeitsschwerpunkte in der Literatur- und Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts. Veröffentlichungen zur Deutungsgeschichte des Ersten Weltkriegs, zur Literatur der 1920er Jahre, zum amerikanischen und deutschen Film und zur Kultur der 1950er Jahre. Zuletzt erschienen: Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900 (hg. zusammen mit Marianne Vogel, Würzburg 2006). Sabine Kyora, Dr. phil., habil., geb. 1962, Literaturwissenschaftlerin, seit 2002 Professorin für deutsche Literatur der Neuzeit an der Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte in der Literatur der klassischen Moderne, der Gegenwartsliteratur und in methodischen Aspekten der Literaturwissenschaft. Veröffentlichungen zur Poetik der Moderne, zur Literatur der Postmoderne, zu Arno Schmidt und Paul Wühr, zum Zusammenhang von Historiographie und Literatur.

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Zu den Autoren

Zuletzt erschienen: Eine Poetik der Moderne. Zu den Strukturen modernen Erzählens (Würzburg 2007). Kaspar Maase, Dr. phil., habil., geb. 1946; Studium der Germanistik, Soziologie, Kunstgeschichte und Kulturtheorie in München und Berlin (DDR). Apl. Professor am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Arbeitsschwerpunkte: Amerikanisierung, Populärkultur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Geschichte des Jugendmedienschutzes, Ästhetisierung des Alltags. Zuletzt erschienen: Culture to go – Wie amerikanisch ist Tübingen? Aneignung von US-Kultur in einer globalisierten Welt (hg. zusammen mit Ute Bechdolf, Tübingen 2005). Albrecht Riethmüller, Dr. phil., habil., geb. 1947, Gastprofessuren und Lehrstuhlvertretungen an der University of Illinois, Urbana-Champaign und an der Universität Heidelberg, 1986 Professor für Musikwissenschaft an der Universität Frankfurt a.M., seit 1992 an der Freien Universität Berlin. Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz (seit 1991) und Affiliated Faculty Member des Canadian Centre for German and European Studies an der York University, Toronto (seit 2002). Herausgeber der Zeitschrift Archiv für Musikwissenschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Musikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, voran Beethoven und Busoni, sowie zur griechischen Antike, Geschichte der Musikästhetik und Musiktheorie, Geschichte der Filmmusik und zum Verhältnis von Musik und Literatur sowie von Musik und Politik. Zuletzt erschienen: Annäherung an Musik. Studien und Essays (hg. v. Insa Bernds/Michael Custodis/Frank Hentschel, Stuttgart 2007). Friedhelm Scharf, Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte und Philosophie in Kassel und Siena. Promotion über die Fresken des Pellegrinaio im Hospital S. Maria della Scala in Siena (1995). Dozent an der Kunsthochschule Kassel und Universität Paderborn. Seit 2000 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des documenta Archivs bzw. bei den Ausstellungen und Tagungen „Widervorlage d5“ (2002) und „50 Jahre docu-

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Zu den Autoren

menta“ (2005) sowie beim DFG-Projekt des documenta Archivs „Mediencluster documenta und Gegenwartskunst“. Zahlreiche Publikationen und Vorträge zur italienischen Renaissance und modernen Kunstgeschichte. Zuletzt erschienen: documenta zwischen Inszenierung und Kritik (hg. mit Karin Stengel, Hofgeismar 2007). Derzeit Forschung und Buchprojekt: „Motive und Momente der Manierismus-Rezeption in der modernen und zeitgenössischen Kunst“. Irmela Schneider, Dr. phil., habil., geb. 1949, Medienwissenschaftlerin, Professorin am Institut für Theater-, Film und Fernsehwissenschaft der Universität Köln und stellvertretende Geschäftsführende Direktorin des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medien und kulturelle Kommunikation (FK/SFB 427). Dort Leiterin eines Forschungsprojekts zum Thema „Sondierungen der Mediennutzung“. Veröffentlichungen vor allem auf dem Gebiet der Mediengeschichte, -theorie und -ästhetik, Schwerpunkt: Massenmedien. Zuletzt erschienen u.a.: Mediendiskurse nach 1945, Bd. 1-3 (hg. mit Peter M. Spangenberg u.a., München 2002-2004); „Zur Archäologie der Mediennutzung. Zum Zusammenhang von Wissen, Macht und Medien.“ In: Barbara Becker/Josef Wehner (Hg.), Kulturindustrie reviewed – Ansätze zur kritischen Reflexion der Mediengesellschaft, Bielefeld 2006. Axel Schildt, Dr. phil., habil., geb. 1951, Historiker, seit 2002 Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte in der deutschen und europäischen Sozialund Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Veröffentlichungen u.a. zur Geschichte des Konservatismus, der Weimarer Republik und der Bundesrepublik. Zuletzt erschienen: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1945-1989/90 (München 2007).

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Zu den Autoren

Petra Tallafuss, cand. Dr. phil., geb. 1977, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin. Von 2004 bis 2006 wissenschaftliche Assistentin am HannahAhrend-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden. 2005 bis 2006 Mitarbeiterin am Goethe-Institut Dresden. Seit 2007 Forschungsreferentin an der Hochschule Neubrandenburg. Promotionsprojekt zur Rezeption der sozialkritischen Dramen Gerhart Hauptmanns in der DDR. Zuletzt erschienen: Totalitarismus und Literatur. Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert – Literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung (hg. zusammen mit Hans Jörg Schmidt, Göttingen 2007). Waltraud >Wara< Wende, Dr. phil., habil., geb. 1957, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin, seit 2001 Professur für Kultur und Literatur der deutschsprachigen Gebiete an der Rijksuniversiteit Groningen. Arbeitsschwerpunkt in der Kultur- und Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, der Gendertheorie und der Konzeption einer Medienkulturwissenschaft. Zuletzt erschienen: Wie die Welt lacht – nationale Lachkulturen im Vergleich (hg., Würzburg 2007).

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Kultur- und Medientheorie Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls

Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens

Dezember 2007, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-721-9

November 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-706-6

Lars Koch (Hg.) Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945-1960

Peter Seibert (Hg.) Samuel Beckett und die Medien Neue Perspektiven auf einen Medienkünstler des 20. Jahrhunderts

November 2007, 330 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-615-1

November 2007, 218 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-843-8

Geert Lovink

Elemente einer kritischen Internetkultur

Laura Bieger Ästhetik der Immersion Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City

November 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-804-9

Thomas Ernst, Patricia Gozalbez Cantó, Sebastian Richter, Nadja Sennewald, Julia Tieke (Hg.) SUBversionen Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart November 2007, 402 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-677-9

November 2007, 266 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-736-3

Christian Bielefeldt, Udo Dahmen, Rolf Großmann (Hg.) PopMusicology Perspektiven der Popmusikwissenschaft November 2007, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-603-8

Hans Dieter Hellige (Hg.) Mensch-Computer-Interface Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung

Gunnar Schmidt Ästhetik des Fadens Zur Medialisierung eines Materials in der Avantgardekunst

November 2007, 360 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-564-2

Oktober 2007, 156 Seiten, kart., zahlr. Abb., 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-800-1

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 Oktober 2007, 392 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-773-8

Lutz Hieber, Dominik Schrage (Hg.) Technische Reproduzierbarkeit Zur Kultursoziologie massenmedialer Vervielfältigung Oktober 2007, 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-714-1

Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hg.) Mr. Münsterberg und Dr. Hyde Zur Filmgeschichte des Menschenexperiments Oktober 2007, 318 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-640-3

Christoph Lischka, Andrea Sick (eds.) Machines as Agency Artistic Perspectives September 2007, 198 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-646-5

Immacolata Amodeo Das Opernhafte Eine Studie zum »gusto melodrammatico« in Italien und Europa September 2007, 224 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-693-9

Tara Forrest The Politics of Imagination Benjamin, Kracauer, Kluge August 2007, 198 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-681-6

Jürgen Hasse Übersehene Räume Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses August 2007, 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-775-2

Stephan Günzel (Hg.) Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften August 2007, 332 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-710-3

Kathrin Busch, Iris Därmann (Hg.) »pathos« Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs August 2007, 206 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-698-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Ramón Reichert Im Kino der Humanwissenschaften Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens August 2007, 298 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-647-2

Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Heimat Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts August 2007, 202 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-711-0

Marc Ries, Hildegard Fraueneder, Karin Mairitsch (Hg.) dating.21 Liebesorganisation und Verabredungskulturen Juli 2007, 250 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-611-3

Thomas Hecken Theorien der Populärkultur Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies Juni 2007, 232 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-544-4

Meike Kröncke, Kerstin Mey, Yvonne Spielmann (Hg.) Kultureller Umbau Räume, Identitäten und Re/Präsentationen Juni 2007, 208 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-556-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de