Moderne – Regeneration – Erlösung: Der Begriff der ›Kolonie‹ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende [1 ed.] 9783737006828, 9783847106821

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Moderne – Regeneration – Erlösung: Der Begriff der ›Kolonie‹ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende [1 ed.]
 9783737006828, 9783847106821

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Literatur- und Mediengeschichte der Moderne

Band 4

Herausgegeben von Hermann Korte und Ingo Stöckmann

Anna S. Brasch

Moderne – Regeneration – Erlösung Der Begriff der ›Kolonie‹ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende

Mit 3 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5227 ISBN 978-3-7370-0682-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Die Arbeit wurde im Jahr 2016 von der Philosophischen FakultÐt der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-UniversitÐt Bonn als Dissertation angenommen.  2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild:  Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I Kolonien der Jahrhundertwende. Eine Annäherung . . . . . . . . . . I.1 Konjunktur eines Begriffs. Ausgangsbeobachtungen und Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2 Kolonien – Kulturkritik – Literatur. Gegenstand, Anliegen und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II Von der Colonia zur Kolonie. Eine Begriffsgeschichte . . . . . . . . . II.1 Kulturwissenschaftliche Arbeit am Begriff. Begriffsgeschichte und ihr Stellenwert für die Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2 Machtpolitische und metaphorische Kolonien. Begriffshistorischer Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III Modernereflexion. Kolonien in der Semantik der Kulturkritik . . . . III.1 Kulturkritik. Vorbemerkungen zu Geschichte und Konzeptualisierung eines Beobachtungsmodus der Moderne (und ihrer Alternativen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2 ›Kolonien‹ und ›Kolonisation‹ in der Kulturkritik. Eine Wortkarriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3 »Zu beweisen ist hier nichts; nur zu fühlen«. Zu den Paradoxien weltanschaulicher Kulturkritik und zur Funktion des Koloniebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV ›Koloniale‹ Weltanschauungsromane. Der doppelte Kolonie-Begriff und die Literatur der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1 Literatur und Kulturkritik. Vorüberlegungen zu einem Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1.1 Kolonialromane oder Weltanschauungsromane? Zu einigen Problemen mit der Gattung ›deutscher Kolonialroman‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

IV.1.2 Literarische Kulturkritik. Theoretischer und methodischer Bezugsrahmen III . . . . . . . . . . . . . . IV.2 »Experimentieren könnte da einer«. Moderne-Entwürfe im deutschen Überseeroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.1 Koloniale Moderne. Der machtpolitische Kolonialroman . IV.2.2 Regeneration und Erlösung in der Kolonie. Der kulturkritische Überseeroman . . . . . . . . . . . . . . . IV.3 »[I]m Roman ein ganzer Weltzustand«. Zum Weltanschauungsroman und zur Re-Lektüre des deutschen ›Kolonialromans‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3.1 Der Weltanschauungsroman: Ein Texttypus der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.3.2 Weltanschauliche Überseeromane – Übersee im Weltanschauungsroman. Eine Engführung . . . . . . . . IV.4 »[W]o kein Erzählen mehr hilft«. Paradoxien (kolonialer) Weltanschauungsromane und ihre literarische Reflexion . . . . IV.4.1 Weltanschauliches Scheitern, narratives Scheitern. Inhaltliche und erzählerische Probleme (überseeischer) Weltanschauungsromane . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.4.2 Ironisierung – Paradoxierung – Historisierung. Formen literarischer Reflexion weltanschaulichen Erzählens . . .

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303 328

V Eine Geschichte des Scheiterns und eine des Aufbruchs. Engführung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1 Kolonien, Kulturkritik und Literatur um 1900. Engführung . . . V.2 Literarische Modernebewältigung. Funktionsgeschichtliche Einordnung weltanschaulicher Romane . . . . . . . . . . . . . . V.3 Ende und Aufbruch. Gattungs- und erzählhistorische Einordnung des Weltanschauungsromans . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2016 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Für den Druck ist sie geringfügig überarbeitet worden. An dieser Stelle möchte ich all jenen danken, die mich bei der Erstellung der Arbeit in ganz unterschiedlicher Art und Weise unterstützt haben. Mein Dank gilt zunächst meinem Betreuer, Professor Dr. Ingo Stöckmann, der das Dissertationsvorhaben über die Jahre mit anhaltendem Interesse und konstruktivem Feedback begleitet und die Rahmenbedingungen für eine konzentrierte Arbeit am Thema ermöglicht hat. Professor Dr. Kerstin Stüssel danke ich herzlich für die bereitwillige Übernahme des Zweitgutachtens. Für die Aufnahme in die Reihe »Literatur- und Mediengeschichte der Moderne« danke ich den Herausgebern. Kollegen und Weggefährten der Promotionszeit gilt mein Dank für wertvolle Rückfragen und Anregungen in verschiedenen Diskussionskontexten. Meinem Vater danke ich sehr für die geduldige und gewissenhafte Unterstützung bei den Endkorrekturen. Dankbar bin ich meinen Freunden für die jahrelange und unermüdliche Unterstützung; sie haben nicht nur die Arbeit an der Dissertation begleitet, mich stets ermutigt und aufgebaut, sondern auch für den erforderlichen außeruniversitären Ausgleich gesorgt. Nicht zuletzt gilt mein ganz besonderer Dank meiner Familie – für alles. Bonn, im Februar 2017 Anna S. Brasch

I

Kolonien der Jahrhundertwende. Eine Annäherung

I.1

Konjunktur eines Begriffs. Ausgangsbeobachtungen und Problemaufriss

›Kolonien‹ haben in Deutschland um 1900 Konjunktur. Die Begriffsverwendung erschöpft sich dabei gerade nicht in einer rein machtpolitisch-expansionistischen Bedeutung: Das Spektrum reicht vielmehr von »inneren« Kolonien1 und »geistiger« Kolonisierung2 über Künstler- und Dichterkolonien3 bis hin zu Lebensreformkolonien4. Insbesondere von kulturkritischen Positionen wird der Begriff um 1900 besetzt – es scheint dies ein Spezifikum der Jahrhundertwende zu sein. Kulturkritische Begriffsbesetzung und machtpolitischer Kolonialismus sind dabei nicht trennscharf voneinander zu unterscheiden, überschneiden sich zum Teil sogar, wie etwa in der lebensreformerischen Begriffsbesetzung5 : Lebensreformern bieten überseeische Kolonien ganz konkret einen Rückzugsort6 – 1 Zur inneren Kolonisation vgl. beispielsweise Schmoller, Gustav von: Zur inneren Kolonisation in Deutschland. Erfahrungen und Vorschläge. Leipzig 1886. – Sowohl Primärquellen als auch Forschungsliteratur wird nachfolgend bei der ersten Nennung mit vollständigen bibliographischen Angaben, danach mit Autorenname, Kurztitel und Seitenzahl zitiert. Eine Ausnahme stellen die Einträge aus den Konversationslexika des 18. bis 21. Jahrhunderts dar : Der besseren Unterscheidbarkeit wegen werden hier immer vollständige bibliographische Angaben angeführt. Sofern nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Primärquellen um Erstausgaben. 2 Vgl. zur Vorstellung einer geistigen ›niederdeutschen‹ Kolonisation Deutschlands [Langbehn, Julius]: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Leipzig 1890. 3 Beispiele sind die Künstlerkolonie Worpswede, die Darmstädter Künstlerkolonie Mathildenhöhe und die Friedrichshagener Dichterkolonie. 4 Die Vegetarische Obstbaukolonie Eden in Oranienburg und die Lebensreformkolonie auf dem Monte Verit/ bei Ascona sind Beispiele. 5 Die Geschichtswissenschaft hat diesen Zusammenhang erkannt. So führt beispielsweise Sebastian Conrad an, dass die Reichweite der Projektionen in den Kolonien dadurch gesteigert wurde, dass die Kolonie für die Lebensreform als eine Art Labor fungierte, in dem Vorstellungen von der idealen Gesellschaft ausprobiert werden konnten. Vgl. Conrad, Sebastian: Deutsche Kolonialgeschichte. München 2008, hier S. 93. 6 Meyer-Renschhausen verweist darauf, dass bereits seit den frühen 1880er Jahren immer

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Kolonien der Jahrhundertwende. Eine Annäherung

die schillernde Persönlichkeit des selbsternannten »Kokosnuss-Apostels« August Engelhardt, der sich nach Deutsch-Neuguinea zurückzieht, wäre hierfür ebenso ein Beispiel wie der lebensreformerisch orientierte Emil Strauß, der nach einem gescheiterten Siedlungsversuch am Oberrhein 1892 für einige Zeit nach Brasilien geht7. Diesem ersten Befund steht eine Leerstelle in der begriffsgeschichtlich-semantischen Aufarbeitung gegenüber. Jürgen Osterhammels Diagnose hat nach wie vor Gültigkeit: Anders als zu »Imperialismus« gibt es [zum Begriff der Kolonie, ASB] nur wenige begriffsgeschichtliche und dogmenhistorische Untersuchungen; unter die 119 ›Geschichtlichen Grundbegriffe‹ ist das Stichwort nicht aufgenommen worden. Nichts Vergleichbares existiert zu den lehrbuchmäßig kanonisierten ›Imperialismustheorien‹ […].8

Noch heute kann es als symptomatisch angesehen werden, dass »Imperialismus«9 in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« einer eingehenden begriffsgeschichtlichen Untersuchung unterzogen wurde, wohingegen der Begriff Kolonie zwar in das Register aufgenommen wurde, jedoch keinen eigenen Beitrag erhalten hat. Insofern ist es wenig überraschend, dass das Wort Kolonie ebenso wie seine Komposita in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« fast ausschließlich in politisch-imperialistischer Begriffsverwendung auftaucht.10

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wieder Personengruppen, unter anderem Vegetarier-Vereine, in verschiedene Länder Lateinund Nordamerikas ausgewandert seien, um dort genossenschaftliche Kolonien zu gründen. Vgl. Meyer-Renschhausen, Elisabeth/Berger, Hartwig: Bodenreform. In: Kerbs, Diethart/ Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Wuppertal 1998, S. 265–276, hier S. 268f. Vgl. zu Emil Strauß’ Bezug zur Lebensreform etwa Schupp, Volker : Die Erneuerungsbewegung in Freiburg während der frühen Lebensreform. Emil Gött und sein Freundeskreis: Literatur und Leben. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 149 = N. F. 110 (2001), S. [393] – 421. Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 2009, S. 7. Der Begriff Imperialismus hat sich in Deutschland erst sehr spät eingebürgert; zunächst eher von der Kritik und in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts auf eine bestimmte Partei in der englischen Auseinandersetzung um das Verhältnis zu den Kolonien benutzt, verband sich mit dem Begriff noch nach der Jahrhundertwende eine Ambiguität. In den Jahren vor dem Krieg wird er zum zentralen Kampfbegriff der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung; erst nach der Jahrhundertwende und dann auch erst zögerlich wird der Begriff auch in Lexika aufgenommen, auf Wörterbuchebene setzt er sich erst nach dem ersten Weltkrieg durch. Vgl. Frisch, Jörg/Grote, Dieter/Walther, Rudolf: Imperialismus. In: Brunner, Otto/ Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 7 Bände, Stuttgart 1972–1992, Band 3, Stuttgart 1982, S. 171–236. Eine Ausnahme gibt es – und diese ist aufschlussreich, da sie auf die soziologische Dimension des Begriffs um 1900 verweist: Im Beitrag »Verein« gibt es einen Verweis darauf, dass Victor Aim8 Huber den Gedanken der ›Association‹ mit dem der Siedlungsgemeinschaft, der ›inneren Colonisation‹, verband (vgl. Hardtwig, Wolfgang: Verein. In: Brunner,

Konjunktur eines Begriffs

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Die skizzierte Leerstelle kann auch von Osterhammels eigenem Vorschlag einer Begriffsbestimmung von ›Kolonialismus‹ nicht geschlossen werden. Seine oft zitierte Definition lautet: Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.11

Im Anschluss an Moses Finley – der, so Osterhammel, ausgerechnet als Kenner der antiken Städte- und Reichsbildung den »scharfsinnigste[n] begriffskritische[n] Versuch«12 geliefert habe, für eine »genaue begriffliche Bestimmung des spezifisch neuzeitlichen Kolonialismus plädiert und die Übertragung des Konzeptes auf Altertum und Mittelalter für problematisch hält«13 – definiert Osterhammel also einen spezifisch neuzeitlichen Kolonialismus. Dabei klammert er genau wie Finley all jene Begriffsbesetzungen, die nicht oder nicht nur machtpolitisch motiviert sind, bewusst aus.14 Ein Kolonie ist für ihn definiert als ein durch Invasion (Eroberung und/oder Siedlungskolonisation) in Anknüpfung an vorkoloniale Zustände neu geschaffenes politisches Gebilde, dessen landfremde Herrschaftsträger in dauerhafte Abhängigkeitsbeziehungen zu einem räumlich entfernten »Mutterland« oder imperialen Zentrum stehen, welches exklusive »Besitz«Ansprüche auf die Kolonie erhebt.15

Natürlich ist diese Entscheidung im Kontext der Geschichtswissenschaft nicht nur nachvollziehbar, sondern auch sinnvoll; der Blick auf Konjunktur und heterogene Besetzung des Kolonie-Begriffs um 1900 bleibt damit freilich verschlossen, die Leerstelle in der Forschung bestehen. Die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung hat ihrerseits zwar die eingangs skizzierten un-

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Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 7 Bände, Stuttgart 1972–1992, Band 4, Stuttgart 1978, S. 789–829, hier S. 820 unter Bezug auf Huber, Victor Aim8: Wirtschaftsvereine und innere Ansiedlung (1848). In: V. A. Hubers Ausgewählte Schriften über Sozialreform und Genossenschaftswesen. In freier Bearbeitung herausgegeben von Dr. K. Munding. Berlin o. J. [1894], S. 837–863. Vgl. Osterhammel: Kolonialismus, insbesondere Kapitel II »›Kolonialismus‹ und ›Kolonialreich‹«, S. 19ff., hier S. 21. Osterhammel: Kolonialismus, S. 7. Ebd., S. 7. Vgl. Finley, Moses I.: Colonies: An Attempt at a Typology. In: Transactions of the Royal Historical Society, 5th series, 26 (1976), S. 167–188. Finley klammert »such metaphors as the ›English colony in Florence‹ or the ›German colony in Milwaukee‹ [or] a ›nudist colony‹ or a ›colony of bees‹« ausdrücklich aus (ebd., S. 169). Osterhammel: Kolonialismus, S. 16.

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Kolonien der Jahrhundertwende. Eine Annäherung

terschiedlichen Bedeutungsfelder gesondert voneinander wahrgenommen16, eine übergreifende Arbeit, die Geschichte und Semantik des Begriffs ›Kolonie‹ im deutschsprachigen Raum systematisch vermisst, steht bisher jedoch noch aus. Die vorliegende Arbeit nimmt diese Diagnose zum Ausgangspunkt und möchte die Lücke schließen. Der ›doppelte‹, machtpolitische und kulturkritische, Kolonie-Begriff wird schließlich auch in Literatur und Kultur der Jahrhundertwende aufgegriffen. Neben den ganz konkreten Zusammenschlüssen in Künstler- und Dichterkolonien hinterlassen Kolonien beispielsweise in den Werken Gerhart Hauptmanns17, Hermann Hesses18 oder Emil Strauß’19 Spuren. Der Österreicher Theodor Hertzka schreibt mit »Freiland«20 eine Wirtschaftsutopie, die Lebensreformdiskurs und Kolonialdiskurs systematisch verschränkt; Hans Paasche verkehrt in »Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland«21 typische Muster der Kolonialliteratur in eine lebensreformerische Modernekritik. Realismus und Heimatkunst greifen »innere Kolonisation«22 und Grenzkolonialismus ebenso auf wie afrikanische Kolonien. Vor diesem Hintergrund muss schließlich die bislang im Wesentlichen aus postkolonialer Perspektive untersuchte deutsche Kolonialliteratur einer Re-Lektüre unterzogen werden: Die deutsche Kolonialliteratur verhandelt neben dem imperialen Kolonialismus auch und gerade den Modernisierungsprozess in Deutschland nach 1870/71, mithin die Zumutungen gesellschaftlicher und ökonomischer Moderne. Sie knüpft also nicht nur an den machtpolitischen, sondern auch und gerade an den kulturkritischen Kolonie-Begriff der Jahrhundertwende an.23 Der deut16 So gibt es natürlich Arbeiten zu Künstlerkolonien, zu Dichterkolonien, zu Lebensreformkolonien, zum Kolonialismus in der Literatur der Kaiserzeit etc. An dieser Stelle wurde zugunsten entsprechender Hinweise auf die einschlägige Literatur in den entsprechenden Abschnitten dieser Arbeit auf einen Forschungsüberblick verzichtet. 17 Vgl. beispielsweise Hauptmann, Gerhart: Vor Sonnenaufgang. In: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. von Hans-Egon Hass, Band I Dramen, Frankfurt/Main und Berlin 1966, S. 9–98; ders.: Der Apostel. In: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. von Hans-Egon Hass, Band VI Erzählungen, Theoretische Prosa, Frankfurt/Main und Berlin 1963, S. 71–84. 18 Vgl. beispielsweise Hesse, Hermann: Der Weltverbesserer. In: ders.: Sämtliche Werke, Band 7 Die Erzählungen 1907–1919, hrsg. von Volker Michels, Frankfurt/Main 2001, S. 454– 484. 19 Strauß, Emil: Kreuzungen. Berlin 1904 [1904] (3. Aufl.). 20 Hertzka, Theodor : Freiland. Ein sociales Zukunftsbild. Leipzig 1890. 21 Paasche, Hans: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, hrsg. von Franziskus Hähnel. Bremen 1993 [1912/1913]. 22 Vgl. etwa Speckmann, Diedrich: Heidjers Heimkehr : Eine Erzählung aus der Lüneburger Heide. Berlin 1904 [1904] (4. Aufl.). 23 Die Forschung hat zwar gelegentlich auf den Zusammenhang von Kolonie und Heimat hingewiesen (hierzu schon früh: Warmbold, Joachim: »Ein Stückchen neudeutsche Erd’…«. Deutsche Kolonial-Literatur. Aspekte ihrer Geschichte, Eigenart und Wirkung, dargestellt am Beispiel Afrikas«, Frankfurt/Main 1982 mit einem Kapitel zu »Kolonie und Heimat. Alte

Kolonien – Kulturkritik – Literatur

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sche Kolonialroman muss insofern, so die These, wesentlich vom Texttypus des weltanschaulich-kulturkritischen Romans der Jahrhundertwende her verstanden werden.

I.2

Kolonien – Kulturkritik – Literatur. Gegenstand, Anliegen und Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit umfasst entsprechend drei Teile: In einem ersten Zugriff soll die Ausgangsbeobachtung einer Konjunktur des Begriffs ›Kolonie‹ um 1900 begriffshistorisch gestützt und differenziert werden (Teil II »Von der Colonia zur Kolonie. Eine Begriffsgeschichte«). Neben den sprachhistorischen Wurzeln kann auf der Grundlage der wenigen vorliegenden geschichtswissenschaftlichen Arbeiten einerseits und der einschlägigen Konversationslexika des 18. bis 20. Jahrhunderts andererseits sowohl die Entstehung und Entwicklung des neuzeitlichen, machtpolitischen Begriffs nachvollzogen als auch die Übertragung des Begriffs in andere gesellschaftliche Teilbereiche im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts nachverfolgt werden. Diagnostiziert werden kann schließlich der Eingang des Begriffs in das weltanschaulich-kulturkritische Denken der Jahrhundertwende. Es ist dann diese kulturkritische Begriffsverwendung, die im Rahmen der vorliegenden sich kulturwissenschaftlich verstehenden Arbeit in einem zweiten Zugriff einer detaillierten Untersuchung unterzogen werden soll (Teil III »Modernereflexion. Kolonien in der Semantik der Kulturkritik«). Damit verortet sich die Arbeit im Forschungsfeld »Semantik der Kulturkritik«24. Hier gilt es auch, die Frage zu beantworten, warum gerade dieser Begriff um 1900 Eingang in das kulturkritische Denken findet. In einem dritten, nun genuin literaturwissenschaftlichen Zugriff soll schließlich der Zusammenhang von doppeltem Kolonie-Begriff und Literatur der Jahrhundertwende einer umfassenden Analyse unterzogen werden (Teil IV »›Koloniale‹ Weltanschauungsromane. Der doppelte Kolonie-Begriff und die Literatur der Jahrhundertwende«). Das Ziel dieses Zugriffs ist ein zweifaches: Ausgehend von einer Re-Lektüre des deutschen ›Kolonialromans‹ hinsichtlich Heimat, Neue Heimat – deutsche Heimat« [ebd., S. 217–225]; vgl. daneben Rolf Parr : Die Fremde als Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen. Konstanz 2014). Daneben hat insbesondere Wolfgang Struck auch auf den Zusammenhang von Kolonialismus, Moderne und Antimoderne in der Kolonialliteratur verwiesen (vgl. ders.: Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik. Göttingen 2010, S. 110/111). Eine systematische Aufarbeitung der weltanschaulich-kulturkritischen Dimension des deutschen Kolonialromans scheint jedoch noch auszustehen. 24 So der Titel des Heftes 161 der 2011 erschienenen Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, herausgegeben von Niels Werber.

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Kolonien der Jahrhundertwende. Eine Annäherung

seines weltanschaulich-kulturkritischen Gehalts im Speziellen soll im Anschluss auch ein Beitrag zum von der Forschung noch immer vernachlässigten Texttypus des weltanschaulich-kulturkritischen Romans der Jahrhundertwende im Allgemeinen geleistet werden. Vor diesem Hintergrund werden abschließend Kolonie-Semantik, ›Kolonialliteratur‹ und Weltanschauungsroman enggeführt: Mit Blick auf die herausgearbeiteten Merkmale des letzteren sollen die weltanschaulichen Grundlagen des Überseeromans noch einmal schärfer konturiert und es soll umgekehrt dargelegt werden, inwieweit die Kolonie-Semantik als spezifische Form der Absonderungssemantik des weltanschaulich-kulturkritischen Denkens auch im nicht primär in Übersee situierten Weltanschauungsroman virulent ist. Mit dem Weltanschauungsroman wird in der vorliegenden Arbeit ein von der Forschung bislang kaum wahrgenommener Texttypus hinsichtlich seiner inhaltlichen und formalen Eigenschaften grundlegend bestimmt. Infolge dessen finden in den entsprechenden Abschnitt auch Aspekte Eingang, die mit der Kolonie-Thematik im engeren Sinn nur mehr lose verbunden sind. Insofern die Arbeit sich aber sowohl als Beitrag zum Kolonialroman im engeren als auch zum Weltanschauungsroman im weiteren Sinn versteht, wurde entschieden, auch diese Aspekte in die Analyse aufzunehmen, um ein möglichst umfassendes Bild des Texttypus zeichnen zu können. Der Gang der Argumentation im literaturwissenschaftlichen vierten Abschnitt der Arbeit zieht ferner eine gewisse Rekurrenz nach sich, insofern bestimmte Aspekte zunächst für den machtpolitischen Kolonialroman herausgestellt werden, um in den nachfolgenden Abschnitten weitere, von der Forschung bislang vernachlässigte Bedeutungsschichten desselben herauszuarbeiten. Da die Anlage der Arbeit jedoch bestimmte Dinge sichtbarer macht, als es andere Argumentationsanordnungen ermöglicht hätten, wurde auch dies wissentlich in Kauf genommen. Die einzelnen Großabschnitte ruhen auf unterschiedlichen theoretischen und methodischen Grundlagen, die sich wenigstens zum Teil aus den Ergebnissen der voranstehenden Abschnitte ableiten. Es wurde daher auf ein einleitendes Theoriekapitel verzichtet; die entsprechenden Hinweise finden sich stattdessen jeweils zu Beginn der drei Teile der Arbeit. Da die Auswahl des Textkorpus auch von den theoretischen Vorentscheidungen einer wissenschaftlichen Arbeit abhängig ist, wurde an dieser Stelle auch darauf verzichtet, einen Überblick über die Primärquellen zu geben; er wurde ebenfalls in die entsprechenden Abschnitte der Arbeit verlegt.25 25 Die vorliegende Arbeit ist aus dem Kontext meiner Magisterarbeit zum Kolonialroman der Kaiserzeit entstanden. Sie enthält ferner in überarbeiteter und erweiterter Form Ergebnisse, die an anderer Stelle bereits vorab publiziert worden sind. Vgl. Brasch, Anna S.: Invisible

Kolonien – Kulturkritik – Literatur

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(Colonial) Cities and Reformed Modernity. Some comments on the Relation between German Colonial Literature and Reform Movements around 1900. In: Chon8, Aurelie/Repussard, Catherine/Granchamp, Laurence (Hrsg.): (In)visible cit8s colonials. Strategies de domination et de r8sistance de la fin du XIXe siHcle / nos jours. Paris 2014, S. 155–170; dies.: Kulturkriege. Zum Zusammenhang von Kulturkritik, Kolonialismus und Krieg 1884–1918. In: Meierhofer, Christian/Wörner, Jens (Hrsg.): Materialschlachten. Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Literatur, Publizistik und populären Medien 1899–1929. Göttingen 2015, S. 105–123; dies.: Poetische Totalität. Zur literarischen Form heimatkünstlerischer Modernereflexion um 1900. In: Graduiertenkolleg »Literarische Form« (Hrsg.): Formen des Wissens. Epistemische Funktionen literarischer Verfahren. Heidelberg 2017, S. 290–313 (im Druck). An den entsprechenden Stellen wird auf die vorliegenden Aufsätze hingewiesen.

II

Von der Colonia zur Kolonie. Eine Begriffsgeschichte

II.1

Kulturwissenschaftliche Arbeit am Begriff. Begriffsgeschichte und ihr Stellenwert für die Arbeit

Die großen begriffsgeschichtlichen Projekte des letzten Jahrhunderts, das »Historische Wörterbuch der Philosophie«26, die »Geschichtlichen Grundbegriffe«27 und nicht zuletzt die »Ästhetischen Grundbegriffe«28, die zugleich für die beiden wesentlichen Traditionen der deutschen Begriffsgeschichte, die disziplinengeschichtliche29 und die historiographische30, stehen, sind inzwischen abgeschlossen – dennoch werden die Debatten um die Begriffsgeschichte bis heute lebhaft geführt.31 Nicht zuletzt, weil die zunehmende Digitalisierung in 26 Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hrsg.), 13 Bände, Basel 1971–2007. 27 Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.), 7 Bände, Stuttgart 1972–1992. 28 Barck, Karlheinz/Fontius, Martin/Schlenstedt, Dieter/Steinwachs, Burkhart/Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.), 7 Bände, Stuttgart/Weimar 2000–2005. 29 Vgl. etwa Ritter, Joachim: Leitgedanken und Grundsätze des Historischen Wörterbuchs der Philosophie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 75–80; ders.: Vorwort. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 1 A – C. Basel/Stuttgart 1971, S. VIII/IX; Barck, Karlheinz/Fontius, Martin/ Thierse, Wolfgang: Historisches Wörterbuch Ästhetischer Grundbegriffe. In: Archiv für Begriffsgeschichte 32 (1990), S. 7–33. 30 Vgl. hierfür die zahlreichen Schriften Reinhart Kosellecks, so insbesondere ders.: Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 81–99; ders.: Einleitung. In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 7 Bände, Stuttgart 1972–1992. Band 1, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII; ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt/Main 2006; ders.: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. In: ders. (Hrsg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte. Stuttgart 1979, S. 19–36. 31 Einen systematischen und umfassenden Überblick über Ursprünge, Entwicklung, theoriegeschichtliche Positionen und Debatten der Begriffsgeschichte und der historischen Semantik gibt der jüngst von Ernst Müller und Falko Schmieder herausgegebene Band »Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium« (Berlin 2016); hier auch Hinweise zur »interdisziplinären Begriffsgeschichte« (vgl. ebd., S. 819–842) sowie zur Begriffsgeschichte im digitalen Zeitalter (vgl. ebd., S. 783–801). Zu den aktuellen Debatten

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Von der Colonia zur Kolonie. Eine Begriffsgeschichte

den letzten Jahren (und erst recht die schier unermessliche Menge an Quellen, die in den kommenden Jahrzehnten digitalisiert werden soll) die Materialbasis gerade für die Begriffsgeschichte revolutioniert32, bleibt diese ein unabgeschlossenes Projekt. Dem Erfolg der Begriffsgeschichte einerseits stehen nach wie vor unklare methodische Grundlagen andererseits gegenüber. Als theoretisches Paradigma bleibt die historische Semantik schon aufgrund der Vielfältigkeit in der Forschung seltsam unspezifisch. Neben sprachwissenschaftlichen Arbeiten stehen solche aus historiographischer, philosophie- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive; Luhmanns Semantikstudien sind ebenso zu nennen wie die Bemühungen um eine Diskurssemantik in Anlehnung an Foucaults Archäologie33 ; schließlich widmen sich auch literatur- und kunstwissenschaftliche Arbeiten semantischen Fragestellungen.34 Ungeklärt bleibt insbesondere das Verhältnis von Historischer Semantik, Begriffsgeschichte35 und Diskursanalyse. Grundsätzlich handelt es sich um unterschiedliche Zugriffe, deren Grenzen jedoch hinsichtlich der Arbeit an Begriffen ebenso fließend wie schwer zu bestimmen sind. Dennoch können einige grundlegende Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden: Die unterschiedlichen Ansätze entwickeln durchaus anschließbare und vergleichbare Fragestellungen und Forschungsperspektiven und sind ferner alle theoretisch allenfalls mehr oder weniger profiliert.36 Aktuelle begriffshistorische Debatten schließen einerseits an diejenigen Diskussionen an, die sich bereits im Umfeld der großen begriffsgeschichtlichen Projekte entwickelt haben37; zugleich findet vor dem Hintergrund des Cultural

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vgl. Eggers, Michael/Rothe, Matthias: Die Begriffsgeschichte ist tot, es lebe die Begriffsgeschichte! Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften. Bielefeld 2009, S. 7–22. Eggers und Rothe setzen sich in diesem Zusammenhang auch mit der durchaus anders gelagerten Diagnose Hans Ulrich Gumbrechts auseinander, der in »Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte« (München 2006) ein »plötzliches Abebben der begriffsgeschichtlichen Bewegung während des vergangenen Jahrzehnts« diagnostiziert (ebd., S. 10, Hervorhebung im Original; vgl. auch ebd., S. 31). Vgl. Müller/Schmieder : Begriffsgeschichte und historische Semantik, hier S. 783–801 zur Begriffsgeschichte im digitalen Zeitalter. Vgl. Busse, Dietrich: Historische Semantik. Analyse eines Programms. Stuttgart 1987. Vgl. die von Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz herausgegebene Reihe »Historische Semantik«, Göttingen ab 2003. Dietrich Busse etwa begreift die Begriffsgeschichte als das vorherrschende Paradigma der Historischen Semantik. Busse: Historische Semantik, S. 43. Das hat Ralf Konersmann herausgearbeitet; vgl. seine Studie »Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik«, Frankfurt am Main 1994, hier insb. das Kapitel zu »Begriffsgeschichte und historische Semantik«, S. 42ff. Kritisiert worden ist etwa, dass die großen begriffsgeschichtlichen Lexika Metaphern explizit ausblenden – so etwa das Historische Wörterbuch der Philosophie. Vgl. hierzu Ritter : Vorwort, S. VIII/IX. Im Bereich der Philosophie wird zwar jüngst Abhilfe durch das »Wörterbuch der philosophischen Metaphern« (hrsg. von Ralf Konsersmann, Darmstadt

Kulturwissenschaftliche Arbeit am Begriff

19

Turn auch in der Begriffsgeschichte eine Verschiebung der Perspektive und des Untersuchungsgegenstandes statt. Für die vorliegende Arbeit sind vor allem jene Debatten, die in den letzten Jahren im größeren Kontext des kulturwissenschaftlichen Umbauprozesses der Geisteswissenschaften geführt worden sind, von Bedeutung. Das »Archiv für Begriffsgeschichte« stellt in einem Sonderheft 2004 die Frage »Begriffsgeschichte im Umbruch?«38 und nimmt die skizzierten Verschiebungen im Laufe der letzten Jahrzehnte zum Ausgangspunkt nicht nur 2007) geschaffen, die grundsätzliche Trennung von Metapher und Grundbegriff wird mit diesem Projekt jedoch aufrecht erhalten. Schon früh auf das Metaphernproblem hingewiesen hat Hans Blumenberg (vgl. etwa ders.: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 6 [1960], S. 7–142; ders.: Nachbemerkungen zum Bericht über das Archiv für Begriffsgeschichte. In: Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz, Jahrbuch 1967. Wiesbaden 1967, S. 79–81; ders.: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. In: Haverkamp, Anselm [Hrsg.]: Theorie der Metapher. Darmstadt 1983, S. 438–454). Daneben ist die Diskussion um den Status von Begriffen und Grundbegriffen und damit verbunden um sprachwissenschaftliche Grundlagen der Begriffsgeschichte zu nennen; vgl. etwa die Dissertation Dietrich Busses (Busse: Historische Semantik). Neben der Kritik an der fehlenden sprachtheoretischen Reflexion und Fundierung der Begriffsgeschichte greift Busse die Konzentration auf den einzelnen Begriff, der »im Grunde eine abstrahierende Fiktion, die Zusammenhänge interpretativ zu einem ›Gegenstand‹ oder ›Sachverhalt‹« (ebd., S. 72) zusammenfasse, scharf an und weist mehrfach auf die Gefahr hin, dass Begriffsgeschichte »lediglich Ideengeschichte« statt »Bewußtseinsgeschichte im echten Sinn« (ebd.) schreibe. Zur Diskussion um die sprachwissenschaftliche Fundierung vgl. auch Knobloch, Clemens: Überlegungen zur Theorie der Begriffsgeschichte aus Sprach- und Kommunikationswissenschaftlicher Sicht. In: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), S. 7–24. Ders. zu geisteswissenschaftlichen Grundbegriffen: Geisteswissenschaftliche Grundbegriffe als Problem der Fachsprachenforschung. In: Fachsprache 11 (1989) 3–4, S. 113–126. Aus soziologischer Perspektive hat Niklas Luhmann in kritischer Auseinandersetzung mit den »Geschichtlichen Grundbegriffen« die Frage nach »Korrelationen zwischen soziokulturellen und begriffsoder ideengeschichtlichen Veränderungen« stark gemacht (vgl. Luhmann, Niklas: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In: ders: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 1. Frankfurt/Main 1993, S. 9–71, hier S. 13). Schließlich stehe – darauf hat Christian Geulen jüngst hingewiesen – eine geschichtswissenschaftliche Erschließung von Grundbegriffen des 20. Jahrhunderts noch aus: Mit seinem »Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts«, das im Kontext einer in der Geschichtswissenschaft eingeforderten Historisierung des 20. Jahrhunderts zu verstehen ist, ist das »20. Jahrhundert zum Gegenstand einer systematischen begriffsgeschichtlichen Untersuchung zu machen, seine Ereignis- und Entwicklungsgeschichte also im Medium seiner Grundbegriffe und ihres semantischen Wandels zu reflektieren« (vgl. ders.: Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), H. 1, URL http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Geulen-12010 [Abrufdatum 15. 10. 2012]). Vgl. hierzu: Roundtable. Geschichtliche Grundbegriffe Reloaded? Writing the Conceptual History of the Twentieth Century. In: Contributions to the History of Concepts, Vol. 7, Issue 1, Winter 2012, S. 78–128, hier insb. Sarasin, Philipp: Is a »History of Basic Concepts of the Twentieth Century« Possible? A Polemic, ebd., S. 101–110 sowie Geulen, Christian: Reply, ebd., S. 118–128. 38 Vgl. Ernst Müller (Hrsg.): Begriffsgeschichte im Umbruch? Sonderheft des Archivs für Begriffsgeschichte, (Jg. 2004), Hamburg 2005.

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Von der Colonia zur Kolonie. Eine Begriffsgeschichte

einer Reflexion des Status Quo, sondern auch einer Debatte um die methodologischen Konsequenzen für die Zukunft der Begriffsgeschichte. Am Beginn des Sammelbandes steht die Diagnose, dass ein historisch-semantischer Ansatz, der, dezidiert interdisziplinär, den Akzent auf semantische Übergänge, auf disziplinenübergreifende Begriffe und die Semantik der Naturwissenschaften legen würde, ein Desiderat [ist]. Es ginge dabei um solche Konfigurationen von Gegenständen und ihren dazugehörigen Praktiken, die quer zu den bestehenden Disziplinen stehen.39

Eingefordert wird eine interdisziplinäre Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, die den Gegenstandsbereich von der Wissenschaft zum Wissen, von der Ästhetik zu den Kunstwerken, von der Theorie zu Praktiken und Techniken, von der Schrift zu anderen Medien, schließlich von den absoluten Metaphern zum metaphorologischen Denken und den Referenzen, auf die sie sich beziehen, verschiebe.40 Der so skizzierte Perspektivwandel hat verschiedene Konsequenzen. Erstens rücken gerade diejenigen Begriffe in den Mittelpunkt des Interesses, deren semantischer Kern eine Verwendung in verschiedenen (disziplinären) Zusammenhängen gleichermaßen erlaubt. Damit werden zweitens nicht nur andere Fragen als zuvor aufgeworfen, es werden vor allem auch solche Begriffe bzw. Begriffsfelder untersucht, die nicht den Status eines Grundbegriffs erlangt haben: Für die Wissen(schafts)geschichte wäre es wichtig, diejenigen – begriffsgeschichtlich oft nicht geadelten oder geistesgeschichtlich verstellten – Begriffe herauszuheben, deren Semantik Katalysator für die Formierung von Epistemologien ist und die die Wissenschaften unterhalb des Generalisierungsgrades der Philosophie verbinden. Oft handelt es sich dabei um solche Begriffe, die gar nicht zu Grundbegriffen wurden und doch epistemisch eine katalytische Funktion hatten (z. B. Entropie, Information, Perspektive, Reflex).41

Zugleich ermöglicht eine so gelagerte interdisziplinäre Begriffsgeschichte drittens die Berücksichtigung all jene Begriffsbesetzungen, die eine ›klassische‹ Begriffsgeschichte als uneigentliche, unbestimmte Bedeutungen, als Metaphern, gerade ausschließt. Es lässt sich viertens als Folge der Auflösung strikter Disziplinengrenzen zugleich eine Akzentverschiebung von einer wissenschaftsgeschichtlichen hin zu einer stärker wissensgeschichtlichen Perspektive verzeichnen. Damit sind etwa (geisteswissenschaftliche) Bemühungen einer Aus39 Müller, Ernst: Einleitung. Bemerkungen zu einer Begriffsgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. In: ders. (Hrsg.): Begriffsgeschichte im Umbruch? Sonderheft des Archivs für Begriffsgeschichte, (Jg. 2004), Hamburg 2005, S. 9–20, hier S. 11/12. 40 Vgl. ebd., S. 13. 41 Ebd., S. 16/17.

Kulturwissenschaftliche Arbeit am Begriff

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dehnung der geisteswissenschaftlichen Begriffsgeschichte auf die Naturwissenschaften42 gemeint. Mit einer solchen interdisziplinären Begriffsgeschichte ist schließlich fünftens die endgültige Verabschiedung einer ›Höhenkamm‹Begriffsgeschichte verbunden.43 Der ›Kolonie‹-Begriff scheint ein universalistischer Begriff im oben genannten Sinne zu sein, der im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts in ganz unterschiedlichen Disziplinen aufgegriffen wird. In einem ersten, begriffsgeschichtlichen Zugriff wird daher untersucht, wann der Begriff in welchem disziplinären Umfeld wie aufgegriffen wird. Damit schließt eine kulturwissenschaftlich orientierte Aufarbeitung all jene insbesondere auch metaphorischen Bedeutungen mit ein, die gewissermaßen am Rand entstehen, zielt also gerade auf die Heterogenität der Begriffsbesetzung. Ziel der nachfolgenden begriffshistorischen Skizze ist es, die Entwicklungsphasen in der interdisziplinären Verwendung des Begriffs ›Kolonie‹ in der Makroperspektive, das heißt die Entwicklung des Gebrauchs einer ganzen Sprechergemeinschaft, zu rekonstruieren. Zugleich soll der semantische Kern, der die Übertragung in so heterogene Bereiche wie die der Biologie und Ökonomie allererst ermöglicht, herausgearbeitet werden. Der nachfolgende begriffshistorische Abriss beschränkt sich hinsichtlich seiner Quellenbasis auf die einschlägigen deutschen Konversationslexika (Zedler, Pierer, Meyer, Herder, Brockhaus), ergänzt durch die wenigen vorliegenden begriffshistorischen Hinweise aus der Geschichtswissenschaft. Damit werden die mit einer lediglich auf die Ebene der Wörterbücher beschränkten Begriffsgeschichte verbundenen Nachteile für den einleitenden Abriss wissentlich in Kauf genommen. Da es der Arbeit jedoch nicht primär um eine umfassende Begriffsgeschichte der Kolonie von der Antike bis in die Gegenwart geht, sondern das Hauptinteresse einer spezifischen Begriffsbesetzung gilt, dient 42 Vgl. hierzu beispielsweise den von Ernst Müller und Falko Schmieder herausgegebenen Sammelband »Begriffsgeschichte der Naturwissenschaft: Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte« (Berlin 2008) sowie der von Michael Eggers und Matthias Rothe herausgegebene Sammelband »Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften« (Bielefeld 2009). Vgl. daneben Projekte wie Georg Toepfers »Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe« (Darmstadt 2011). 43 Zwar unterscheidet auch schon Koselleck grundsätzlich drei Arten von Quellen: Die begriffsgeschichtliche Arbeit umfasse zunächst die Analyse einer sogenannten »mittleren« Ebene, die die Wörterbücher umfasst; ausgehend davon werde die Auswertung dann nach »oben« durch die Analyse der Klassiker sowie nach »unten«, womit die gesamte Streuweite der Quellen gemeint ist, aufgefüllt. Damit fordert Koselleck prinzipiell eine Begriffsgeschichte ein, die eben nicht nur die bekannten Werke rezipiert, sondern im Prinzip die gesamte Bandbreite an Quellen einbezieht (vgl. Koselleck: Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, S. 97/98). Letztlich bleiben die großen begriffsgeschichtlichen Projekte aber doch stark an der Höhenkammliteratur orientiert.

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Von der Colonia zur Kolonie. Eine Begriffsgeschichte

die Begriffsgeschichte lediglich dazu, die Ausgangsbeobachtung einer Konjunktur der Begriffs in einem spezifischen Bereich zu einem spezifischen Zeitpunkt begriffshistorisch zu stützen und so gegenüber einem bloßen Verweis auf die kulturkritische Bedeutungsschicht des Kolonie-Begriffs eine größere Tiefenschärfe auch der an die Ergebnisse anknüpfenden literaturwissenschaftlichen Analyse zu erreichen. Hierfür scheint eine Beschränkung auf die Lexikonebene ebenso ausreichend wie angemessen.

II.2

Machtpolitische und metaphorische Kolonien. Begriffshistorischer Abriss

Zu den dominanten Assoziationen, die mit dem Wort ›Kolonie‹ verbunden werden, gehören bis heute das Zeitalter des Imperialismus, europäische Machtausgreifungen auf außereuropäische Territorien, die damit verbundene wirtschaftliche, politische und kulturelle Unterdrückung indigener Völker, vielleicht auch der im 20. Jahrhundert einsetzende Prozess der Dekolonisation und die bis heute nachwirkenden kolonialen Strukturen. Der Kolonie-Begriff war jedoch nie und ist bis heute nicht eindimensional auf diese machtpolitische Bedeutung beschränkt. Bis heute kann ›Kolonie‹ – das zeigt ein Blick in die 21. Auflage des Brockhaus von 2006 – neben derjenigen Bedeutung, die sich auf auswärtige Besitzungen eines Staates, welche wirtschaftlich und/oder politisch von diesem abhängig sind, ebenso zweitens eine im Ausland am gleichen Ort lebende Gruppe von Menschen gleicher Nationalität meinen, die dort die Traditionen des Mutterlandes pflegt; weiterhin kann Kolonie drittens schlicht Siedlung oder Lager bedeuten; schließlich ist an den biologischen KolonieBegriff zu erinnern.44 Grundsätzlich ist der Begriff ›Kolonie‹ ein sehr alter. Seine Wurzeln reichen bis in die Antike zurück; der neuzeitliche Kolonie-Begriff wird im 16. Jahrhundert geprägt. Im langen 19. Jahrhundert wird er dann aus seinem ursprünglichen machtpolitischen Kontext gelöst und in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen wie den Naturwissenschaften, dem Sozialwesen, schließlich dem kulturellen Bereich im weitesten Sinn aufgegriffen (vgl. überblickshaft Abb. 1).

44 Vgl. Kolonie. In: Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden. 21., völlig neu bearbeitete Auflage, Band 15 Kind – Krus. Mannheim 2006, S. 305–306, hier S. 305.

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Machtpolitische und metaphorische Kolonien Antike

Mittelalter

1500

1800

1900

Colonia [colonat] Kolonie (machtpolitisch) Kolonie (Übertragungen) Abbildung 1: Sprachhistorische Wurzeln und Entwicklungsphasen des ›Kolonie‹-Begriffs

Die römische colonia. Sprachhistorische Wurzeln Sprachhistorisch geht der ›Kolonie‹-Begriff auf das lateinische ›colonia‹ zurück, das Siedlung, Niederlassung oder Pflanzstatt bedeutet. Im römischen Wortgebrauch ist eine colonia eine Ansiedlung von Bürgern (mit einer mehr oder weniger großen Beimischung von Nichtbürgern) zur mil. und polit. Festigung der röm. Herrschaft, später zur Versorgung von Veteranen und gelegentlich stadtröm. Proletariat, fast immer in einer eroberten Stadt, deren Bürger in irgendeiner Form an der Kolonie beteiligt werden […].45

Unterschieden werden Bürgerkolonien (Coloniae civium Romanorum) von Lateinischen Kolonien (Coloniae Latinae). Erstere datieren auf die republikanische Zeit zurück, sind an der Küste gelegen, zunächst sehr klein, die Kolonisten blieben Vollbürger46. Im Gegensatz dazu sind Lateinische Kolonien Festungen an der Grenze oder im Feindesland, daher sowohl was die Anzahl der Kolonisten angeht als auch hinsichtlich ihrer territorialen Ausdehnung größer als Bürgerkolonien; ihre Einwohner verloren bei der Deduktion ihr römisches Bürgerrecht.47 Zeitlich lassen sich römische Koloniegründungen im eigentlichen Sinn – sowohl Bürger-, als auch Lateinische Kolonien – auf die Zeit zwischen 338 vor Christus und dem zweiten Jahrhundert nach Christus datieren; insgesamt betrug die Zahl der Kolonien an die 400.48 Ob Bürgerkolonien eine Rolle beim Schutz der Küste spielten, ist bis heute ungeklärt.49 Als gesichert gilt jedoch die 45 Galsterer, Hartmut: Coloniae. In: Der Neue Pauly. Herausgegeben von: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Brill Online, 2013. Reference. Universitaets- und Landesbibliothek Bonn. 06. September 2013 http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/colo niae-e303060. 46 Vgl. ebd. 47 Vgl. ebd., hier Abschnitt D Lateinische Kolonien. 48 Vgl. ebd., hier Abschnitt E Geschichte. 49 Vgl. ebd., hier Abschnitt C Bürgerkolonien.

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Von der Colonia zur Kolonie. Eine Begriffsgeschichte

militärische Funktion der Lateinischen Kolonien, die nicht nur Festungen an der Grenze zum oder im Feindesland waren, sondern auch über eigene militärische Einheiten verfügten. Kennzeichen beider römischer Kolonietypen ist darüber hinaus die Landzuweisung an Kolonisten. Sie sind somit über ihre militärische Funktion hinaus landwirtschaftliche Siedlungen – das Substantiv ›colonia‹ geht seinerseits auf das Verb ›colere‹ (pflegen, bewirtschaften) zurück. Im Mittelalter spielen ›Kolonien‹ im machtpolitischen Sinn keine nennenswerte Rolle; allein im Wort ›colonat‹ bzw. Kolonat lebt der Begriff fort. Dieser wurzelt in der römischen Kaiserzeit bzw. der Spätantike, wo ›Colonus‹ »den Bauern, speziell den Landpächter, in der Spätant. den von einem Grundherrn abhängigen schollenpflichtigen Pachtbauern (Pacht)«50 bezeichnet. Wenngleich der Begriff selbst von der Spätantike bis ins Mittelalter reicht51, weist die neuere Forschung doch darauf hin, dass die »früher vertretene Auffassung, in dem spätant. c. zeigten sich Feudalis[i]erungstendenzen und die spätant. coloni seien die Vorläufer mittelalterlicher Leibeigener, […] heute als widerlegt gelten«52 dürften. Hingewiesen werden soll an dieser Stelle nur darauf, dass im 18. und 19. Jahrhundert der Begriff ›colonia‹ parallel zur ›Kolonie‹ existiert und bestimmt wird als »Bauer-Gütgen, mit so viel Feld, als ein Bauer bestreiten konnte: und Colonus ein Unterthaner, der diesem oder jenem Herrn oder Kirchen mit Zinnsen und Diensten verhafftet war«53 (18. Jahrhundert, Zedler) bzw. als ein mittelalterliches »Bauerngut von so viel Land, als ein Bauer bearbeiten konnte«54 (19. Jahrhundert, Meyer). Es kann an dieser Stelle nur gemutmaßt werden, dass der Begriff bei allen inhaltlichen Unterschieden doch eine sprachhistorische Brückenfunktion zwischen Altertum und Neuzeit einnimmt; gesichert ist jedenfalls, dass der Begriff ›Kolonat‹ mit dem lateinischen ›colere‹ dieselbe Wurzel wie die antiken ›coloniae‹ und die neuzeitlichen Kolonien hat.

50 Krause, Jens-Uwe: Colonatus. In: Der Neue Pauly. Herausgegeben von: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Brill Online, 2013. Reference. Universitaets- und Landesbibliothek Bonn. 13. September 2013 http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/colona tus-e303020. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Colonia. In: Johann Heinrich Zedler : Grosses Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden. 2. vollständiger photomechanischer Nachdruck durch die Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, Band 6 Ci–Cz. Graz 1994 [1733], Spalte 726. 54 Vgl. exemplarisch Colonia. In: Neues Konversations-Lexikon für alle Stände. In Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern und Technikern und unter der Redaktion der Herren Dr. L. Köhler und Dr. Krause herausgegeben von H. J. Meyer. Vierter Band, Buchhandel – Conegk. Hildburghausen/New York 1859, S. 1094.

Machtpolitische und metaphorische Kolonien

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Die machtpolitische Kolonie und ihr Wortfeld. Neuzeitliche Begriffsprägung Der Wortkörper ›Kolonie‹ taucht erstmals im 14. Jahrhundert im Französischen auf, bezieht sich hier inhaltlich jedoch noch auf die römischen ›coloniae‹.55 In seiner neuzeitlichen Bedeutung lässt sich der Begriff ab dem 16. Jahrhundert nachweisen: »Its modern application to the planting of settlements, after Roman or Greek precedents, in newly discovered lands, was made, in the 16th cent., by Latin and Italian writers, whose works were rendered into English by Richard Eden.«56 Dieses nun im Kern auch machtpolitisch motivierte neuzeitliche Koloniekonzept zielt zum einen auf eine Gruppe Menschen, die sich in einem fremden Land ansiedeln, sowie zum anderen auf das besiedelte Territorium selbst ab. Die Begriffsverschiebung in der Frühen Neuzeit ist eng an den Beginn des Zeitalters der Eroberungen gebunden, das mit der Entdeckung Amerikas (Christoph Columbus 1492) und des Seewegs durch den indischen Ozean (Vasco da Gama 1498) anzusetzen ist. Diesen neuzeitlichen Kolonie-Begriff bildet im 18. Jahrhundert Zedlers Universallexikon unter dem Eintrag »Colonie« (und insofern in Abgrenzung zum Eintrag »colonia«) ab: »Colonie, heist eine Anzahl Menschen, welche einen wüsten oder unbewohnbaren Ort anbauen. Dergleichen die Spanier, Engelländer und Holländer in Ost-West-Indien anlegen, siehe auch oben Colonia von denen Römischen Colonien.«57 Unschwer erkennbar referiert der Begriff – unter Markierung seiner sprachhistorischen Wurzel wie gleichzeitiger Abgrenzung vom alten Begriff – nun mit dem Verweis auf die überseeischen Gebiete, die unter europäischer Hegemonie stehen, auch auf die machtpolitische Dimension, die mit dem Beginn des Zeitalters der Eroberung für den Kolonie-Begriff zentral wird. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts findet keine weitere grundlegende Bedeutungsveränderung des machtpolitischen Begriffs statt. Die unterschiedlichen Begriffsbestimmungen in den einschlägigen Konversationslexika des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts sind relativ ähnlich, sie variieren nur graduell in der Bewertung einzelner Aspekte. Pierers Universal-ConversationsLexikon beispielsweise versteht 1876 unter Kolonien die von einem Staate oder einer Stadt in einem fremden Lande, oder von einem Sieger im Lande der Besiegten angelegte Pflanzorte, die mit dem Mutterorte in politischer Ver55 Vgl. colony. In: Oxford English Dictionary, OED Online, Oxford University Press, http:// www.oed.com/view/Entry/36547?result=1& rskey=ca06t1& , (Abrufdatum 06. 09. 2013). 56 Ebd. 57 Colonie. In: Johann Heinrich Zedler : Grosses Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden. 2. vollständiger photomechanischer Nachdruck durch die Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, Band 6 Ci–Cz. Graz 1994 [1733], Spalte 726/727, hier 726. Der zweite Teil des Eintrages verweist auf die französischen Kolonien der Hugenotten in Deutschland.

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Von der Colonia zur Kolonie. Eine Begriffsgeschichte

bindung bleiben, mit demselben gleiches Recht u. gleiche Oberherrlichkeit haben u. die Eroberung sichern, Civilisation verbreiten, Handelsinteressen etc. fördern sollen58 ;

Meyers Konversations-Lexikon definiert Kolonien 1877 als zusammenhängende Ansiedelungen Einheimischer oder Fremder in ganzen Gemeinden oder in noch größeren Massen auf dem Gebiet eines Staates und unter dessen Herrschaft, welche von demselben häufig, um unbebaute Strecken urbar zu machen, die Bevölkerung und Bildung zu heben, neue Gewerbe einzuführen, oder auch zu militärischen Zwecken, nicht immer mit Glück, veranlaßt und gefördert werden, aber auch von selbst, zuweilen durch religiöse oder politische Verfolgungen in anderen Staaten veranlaßt, ins Leben treten. Hauptsächlich aber bezeichnet man als K. die von einem Staat oder Volk auf fremdem Gebiet gemachten, von fremder Staatsgewalt unabhängigen Niederlassungen.59

In Herders Konversations-Lexikon werden Kolonien 1905 bestimmt als »im allg. wirtsch. Ansiedlungen einer größeren Menschenzahl auf fremdem (meist überseeischem) Gebiet unter Bewahrung der nationalen Eigentümlichkeiten; eine polit. Verbindung mit dem Mutterland ist nicht Bedingung«60. Schaut man sich die wirtschaftliche Dimension des Begriffs näher an, ist nicht nur auffällig, dass ein bevölkerungspolitisches Argument stark gemacht wird61, darüber hinaus gewinnen volkswirtschaftliche bzw. nationalökonomische Argumente zunehmend an Bedeutung62. Schließlich ist die Abgrenzung zur Auswanderung63 58 Colonien. In: Pierers Universal-Conversations-Lexikon. Neuestes encyklopädisches Wörterbuch aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Sechste, vollständig umgearbeitete Auflage, fünfter Band Chopin – Decennium. Oberhausen/Leipzig 1876, S. 212–216, hier S. 212. 59 Kolonien. In: Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage. Zehnter Band Kirschbaum – Luzy. Leipzig 1877, S. 155–158, hier S. 155/156. 60 Kolonien. In: Herders Konversations-Lexikon. Dritte Auflage, vierter Band H bis Kombattanten. Freiburg im Breisgau 1905, Spalte 1778–1781, hier Spalte 1778/1779. 61 Exemplarisch in der sechsten Auflage von Meyers Konversationslexikon: »Den nächsten Anlaß zur Kolonisation bietet fast immer die Beengung der Lebensverhältnisse in der Heimat, sei es aus Mangel an anbaufähigem Land oder aus Überbevölkerung (beide waren Hauptursachen für Koloniegründungen im Altertum, vgl. Ver Sacrum) […]« (Kolonien. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, elfter Band Kimpolung bis Kyzikos. Leipzig/Wien 1905, S. 291–302, hier S. 292). 62 Vgl. etwa die dritte Auflage von Meyers Konversationslexikon, die sich erstmals nicht nur auf Adam Smith (der allerdings das Kolonialsystem als unhaltbar eingeschätzt habe) bezieht, sondern zugleich auf die »volkswirtschaftlichen Nachtheile […] unter denen wir litten, als wir von dem Verkehr mit der Neuen Welt ausgeschlossen waren« hinweist (Kolonien. In: Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage. Zehnter Band Kirschbaum – Luzy. Leipzig 1877, S. 155–158, hier S. 157). 63 Vgl. etwa die dritte Auflage von Meyers Konversationslexikon, in der Koloniegründungen von »der bloßen Auswanderung« dadurch unterschieden werden, »daß die Auswanderer,

Machtpolitische und metaphorische Kolonien

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– mal mehr, mal weniger – Teil der inhaltlichen Bestimmung dessen, was unter ›Kolonie‹ verstanden wird. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich werden Kolonien – exemplarisch hier in Meyers Enzyklopädischem Lexikon – als »1. in einem allgemeinen Sinn jedes von einer fremden Macht abhängig[e] Gebiet oder Land; […]; 3. im bes. die seit den Entdeckungen von den europ. Staaten namentl. in Übersee erworbenen Besitzungen«64 verstanden. Auf die gegenwärtige Begriffsbestimmung im 21. Jahrhundert wurde hingewiesen.65 Die für das 18. bis 21. Jahrhundert nur exemplarisch ausgewählten, auf den machtpolitischen Begriff abzielenden Bestimmungen verdeutlichen, dass die Bedeutung des neuzeitlichen Kolonie-Begriffs über Jahrhunderte im Wesentlichen stabil geblieben ist: Eine Kolonie meint eine (dauerhafte oder temporäre) Ansiedlung in einem fremden, meist überseeischen Land, die zumeist in einer hierarchischen Beziehung zum ›Mutterland‹ steht; diese Beziehungen sind in der Regel wirtschaftlicher und/oder politischer Natur und können verschiedenartig ausgestaltet werden – was insbesondere für den Grad der Abhängigkeit gilt. Der so bestimmte Kolonie-Begriff hat im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Unterformen ausgebildet – so etwa »Eroberungskolonien«, »Militärkolonien«, »Handelskolonien«, »Ackerbaukolonien«, »Pflanzungskolonien« und dergleichen mehr.66 Allen Formen ist – im Unterschied zu den im nächsten Abschnitt untersuchten Begriffsbesetzungen – gemein, dass ihr grammatikalischer Kopf und Kern der neuzeitliche machtpolitisch-expansionistische Kolonie-Begriff ist. Ebenfalls als Unterform verstanden werden kann das, was unter ›Grenzkolonialismus‹ bzw. ›Grenzkolonisation‹67 verhandelt wird und sich im deutsch-

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wenn auch in größeren Massen, doch unabhängig von einander in eine fremde Staatsgemeinschaft eintreten; die K. dagegen werden entweder von der Obrigkeit des Mutterstaats selbst gegründet und bleiben mehr oder weniger unmittelbar unter der Leitung des letztern, oder die erhalten den Keim einer neuen Staatsbildung.« (Ebd., S. 156). Die Grenzen zwischen Auswanderung und Koloniegründung sind im 19. Jahrhundert durchaus fließend; vgl. etwa die Begriffsverwendung bei Friedrich Fabri: Bedarf Deutschland der Colonien? (Gotha 1879). Kolonie. In: Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Neunte, völlig neu bearbeitete Auflage, Band 14 Ko – Les. Mannheim/Wien/Zürich 1975, S. 67. Der Eintrag verweist auf die Dekolonisation nach 1945. Der zweite Unterpunkt weist auf jene Begriffsbedeutungen hin, die im Anschluss an den machtpolitischen Begriff untersucht werden (»2. im Rahmen der Siedlungsgeschichte die außerhalb der Heimat gegründete Niederlassung an einem Platz im Ausland«, ebd.). Vgl. sowohl die Definition Osterhammels (Abschnitt I.1) als auch die angeführte Bestimmung in der 21. Auflage des Brockhaus. Siehe exemplarisch Kolonien. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, elfter Band Kimpolung bis Kyzikos. Leipzig/Wien 1905, S. 291–302, hier S. 292. Unter Grenzkolonisation kann mit Osterhammel »die in den meisten Zivilisationsräumen bekannte extensive Erschließung von Land für die menschliche Nutzung […], das Hin-

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sprachigen Raum sowohl im 19. Jahrhundert als auch zur Zeit des Kolonialrevisionismus (Stichwort ›Volk ohne Raum‹) auf die Ostgebiete bezieht. Schließlich gehören zahlreiche Kolonial-Komposita zum Wortfeld des machtpolitischen Kolonie-Begriffs – etwa »Kolonialschule«, »Kolonialrecht«, »Kolonialwaren«, »Kolonialvereine«, »Kolonialattach8« – die eine Reihe von Substantiven durch das Adjektiv ›kolonial‹ in den Zusammenhang des machtpolitischen Kolonialismus stellen. Die Bildung dieser Komposita ebenso wie ihre Aufnahme in die großen Konversationslexika ist vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Imperialismus zu verstehen.68 Beobachten lässt sich auf Lexikonebene zunächst eine wachsende Bedeutung des Begriffs und Wortfeldes ›Kolonie‹ parallel zu den europäischen und vor allem deutschen Kolonialbestrebungen, im Anschluss an den Verlust der überseeischen Gebiete dann der Bedeutungsverlust.69 Neben der grundsätzlichen Stabilität der inhaltlichen Bedeutung des neuzeitlichen Kolonie-Begriffs ist dann für das 20. Jahrhundert eine signifikante Verschiebung des Begriffsfeldes ›Kolonie‹ und ›Kolonialismus‹ hinsichtlich der Konnotationen ›zu befürworten/abzulehnen‹ zu verzeichnen, die sich aus der weltpolitischen Gesamtlage ableitet. Historisch müssen in Bezug auf den deutschen Kolonialismus vier wesentliche Phasen unterschieden werden: Erstens die vorkoloniale Phase, die durch eine mentale Lage eines diffusen Schwankens zwischen Kolonialphantasien70 einerseits und Ablehnung kolonialer Bestrebungen eigener wie anderer europäischer Staaten andererseits gekennzeichnet ist. Spätestens mit Beginn der eigentlichen kolonialen Ära 1884 klärt sich in den Konversationslexika die zuvor diffuse Lage der präkolonialen Ära im Wesentlichen zugunsten des Imperialismus. Exemplarisch kann dies an Meyers Konversationslexikon nachvollzogen werden, in dem 1877 die nach 1870/71 »vielausschieben einer Kultivierungsgrenze (›frontier‹) in die ›Wildnis‹ hinein zum Zwecke der Landwirtschaft oder der Gewinnung von Bodenschätzen« (Osterhammel: Kolonialismus, S. 10) verstanden werden; »[s]olche Kolonisation ist naturgemäß mit Siedlung verbunden« (ebd., S. 10). Die Grenzen zur ›inneren Kolonisation‹ müssen dabei wohl als fließend angesehen werden. Der Begriff »Grenzkolonialismus« scheint im Übrigen auf Lexikonebene keinen eigenständigen Eingang gefunden zu haben. Da das expansionistische Moment des Grenzkolonialismus – der sich auf die kontinentale Expansion bezieht – stärker ist als bei der ›inneren Kolonisation‹, wird letztere im nachfolgenden Kapitel behandelt. 68 In der sechsten Auflage von Meyers Konversationslexikon sind 18 Komposita von »Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes« bis zu »Kolonialwirtschaftliches Komitee« aufgenommen (vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, elfter Band Kimpolung bis Kyzikos. Leipzig/Wien 1905, S. 284–291). 69 Allein die Länge der Einträge weist darauf hin; vgl. exemplarisch die Entwicklung sprich zunächst Erweiterung, später Kürzung des Eintrages »Kolonie« in Meyers Lexikon über die verschiedenen Auflagen. 70 Vgl. hierzu insbesondere Zantop, Susanne: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870). Berlin 1999.

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fach laut geworde[nen Wünsche], welche nun auch die Begründung deutscher K. fordern« noch »mit allem Nachdruck« zurückgewiesen werden71; in der vierten Auflage 1890 schwenkt der Eintrag dann auf die prokoloniale Argumentation ein, auch wenn gerade dieser Eintrag mit einem expliziten Verweis auf Kolonialgegner zugleich deutlich macht, dass es immer auch antikoloniale Stimmen gegeben hat.72 Diese Phase mündet schließlich mit dem rechtlichen Verlust aller überseeischen Territorien in Folge des Versailler Vertrages ab 1919 in eine kolonialrevisionistische Phase, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs reicht, in der die dominante Konnotation jedoch weiterhin prokolonial bleibt. Sie ist verbunden mit Schlagwörtern wie »Koloniallüge«73. Spätestens mit Ende des Zweiten Weltkrieges und der nun massiv einsetzenden Dekolonisation ist die vierte Phase, in welcher Kolonien aus postkolonialer Perspektive einer historischen Phase zugeordnet werden (»Mit der nach 1945 einsetzenden Entkolonisation erlangten die früheren K.n weitgehend ihre staatliche Unabhängigkeit«74), anzusetzen. Damit findet eine signifikante Umwertung des Begriffsfeldes ›Kolonie‹ hinsichtlich der Konnotation ›zu befürworten/abzulehnen‹ statt: Machtpolitische Kolonien und Kolonialismus sind nun wesentlich negativ besetzt; »Kolonialismus« wird etwa in der 21. Auflage des Brockhaus (2006) definiert als die »auf Erwerb, Ausbeutung und Erhaltung von Kolonien gerichtete Politik und die sie legitimierende Ideologie«75.

71 Kolonien. In: Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage. Zehnter Band Kirschbaum – Luzy. Leipzig 1877, S. 155–158, hier S. 157. 72 Vgl. Kolonien. In: Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. Vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage, neunter Band Irideen – Königsgrün. Leipzig/Wien 1890, S. 954–959; was hier interessiert, ist das dominante Begriffsverständnis. 73 Vgl. Koloniallüge. In: Meyers Lexikon. Siebente Auflage. In vollständig neuer Bearbeitung, sechster Band Hornberg – Korrektiv. Leipzig 1927, Spalte 1570/1571; siehe ebenfalls Eintrag »Kolonien«, ebd., Spalte 1574–1582, hier insbesondere den Passus zum Versailler Vertrag, Spalte 1581. 74 Exemplarisch Kolonie. In: Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Neunte, völlig neu bearbeitete Auflage, Band 14 Ko – Les. Mannheim/Wien/Zürich 1975, S. 67. 75 Kolonialismus. In: Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden. 21., völlig neu bearbeitete Auflage, Band 15 Kind – Krus. Mannheim 2006, S. 303/304, hier S. 303. Selbstredend ist dieses Phasenmodell idealtypisch, eine strikte Abtrennung nicht möglich. Deutlich wird dies etwa am Beispiel des »Kolonie«-Eintrages in Herders Konversationslexikon von 1954, der aus postkolonialer Perspektive alles andere als politisch korrekt ist (vgl. Kolonie. In: Der Grosse Herder. Nachschlagewerk für Wissen und Leben. Fünfte neubearbeitete Auflage von Herders Konversationslexikon. Fünfter Band, Italiker bis Lukrez. Freiburg im Breisgau 1954, Spalte 567–569).

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Der metaphorische Kolonie-Begriff. Übertragungen im langen 19. Jahrhundert Neben den über Jahrhunderte wesentlich stabil gebliebenen machtpolitischen Kolonie-Begriff tritt im Laufe des langen 19. Jahrhunderts ein zweites Phänomen: Ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert wird der Begriff nacheinander in zahlreichen anderen gesellschaftlichen Teilbereichen aufgegriffen (vgl. überblickshaft Abb. 2). Anders als die bereits besprochenen Unterformen des machtpolitischen Kolonie-Begriffs handelt es sich bei den nachfolgend dargestellten Phänomenen um den Transfer in gänzlich andere thematische Zusammenhänge. Voraussetzung hierfür sind zwei Entwicklungen des langen 19. Jahrhunderts: Zum einen scheint die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der Moderne die Bedingung der Möglichkeit einer Ausdifferenzierung von Begriffen, mithin ihre Übertragung in verschiedene Teilbereiche der Gesellschaft mit ihren jeweiligen Spezialdiskursen, zu sein. Zum anderen muss die spezifische Ausdifferenzierung des Kolonie-Begriffs wohl auch und gerade vor dem Hintergrund des Hochimperialismus und der damit verbundenen Präsenz von ›Kolonien‹ und ›Kolonisation‹ im kollektiven Bewusstsein der Europäer verstanden werden. Insbesondere die Konjunktur des Kolonie-Begriffs in Deutschland um 1900 ist insofern immer auch im Zusammenhang mit der kolonialen Ära des Deutschen Reichs zu sehen. Vollständig von machtpolitischen Bestrebungen abgekoppelt taucht der Begriff zum ersten Mal im Laufe des 18. Jahrhunderts auf: Das Siedlungsgebiet und der soziale Verband der Hugenotten werden – vor allem in Berlin – als »französische Kolonie« bezeichnet. Vor dem Hintergrund ist die zweite im Zedler markierte Bedeutung des deutschen Kolonie-Begriffs verständlich: Ingleichen diejenigen Familien einer fremden Nation, welche in einem schon bevölckerten und angebaueten Lande oder Stadt wohnen; mit besonderen Vor-Rechten aufgenommen werden, und ihr besonderes Wesen behalten. Dergleichen Colonien, sonderlich Französischer Nation, seither etwa dreißig Jahren in Deutschland und andern Reichen viel gepflanzt worden sind, als La Colonie FranÅoise de Magdebourg & c.76

Indem der Siedlungs- und der soziale Charakter des Begriffs hier von der genuin machtpolitisch-expansionistischen Dimension des neuzeitlichen Kolonie-Konzeptes abgekoppelt wird, scheint der Begriff erstmals auf eine an einem Ort in Europa zusammen lebende Gruppe gleichgesinnter Menschen übertragen worden zu sein. Mit diesem ersten Transfer wird der Weg für die zahlreichen Übertragungen 76 Colonie. In: Johann Heinrich Zedler : Grosses Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden. 2. vollständiger photomechanischer Nachdruck durch die Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, Band 6 Ci–Cz. Graz 1994 [1733], Spalte 726/727, hier 726/727.

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1800

1820

bis 1850

1880

1900

Kolonie (machtpolitisch) ! Unterformen Kolonie (Ackerbaukolonie, (Übertragungen) Siedlungskolonie, Handelskolonie etc.) ! Komposita (Kolonialwaren, Kolonialschule, Kolonialamt etc.)

Sozialwesen Armenkolonie

Naturwissenschaft (Botanik, Geologie, Biologie) Pflanzenkolonie Bakterienkolonie etc. Ökonomie Innere Kolonisation Kultur Dichter-, Künstler-, Reformkolonien

Abbildung 2: Ausdifferenzierung des Kolonie-Begriffs

auf soziale Gruppierungen ganz unterschiedlicher Provenienz bereitet, die im Laufe des 19. Jahrhunderts stattfinden. Ebenfalls bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurück zu verfolgen ist die Übertragung auf Armen- bzw. Arbeitersiedlungen – jedenfalls datiert »Pierer’s Universal-Lexikon« erste Gründungen solcher Siedlungen auf diese Zeit77. Unter ›Armenkolonien‹ werden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts »organisierte Ansiedlungen Verarmter, durch die es ihnen möglich gemacht werden soll, durch Arbeitsamkeit, Ordnung und Spar-

77 Vgl. Armencolonien. In: Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Vierte, umgearbeitete und stark vermehrte Auflage, erster Band A – Aufzwingen. Altenburg 1857, S. 725/726. Genannt werden »Donaumoos in Baiern, die A. Friedrichsrode bei Quedlinburg, die von Frankenrode im Gothaischen etc.« (ebd.); in der siebten Auflage wird die Gründung von Donaumoos auf 1794 datiert (vgl. Kolonien. In: Pierers Konversations-Lexikon. Siebente Auflage, achter Band Kalkeinlagerungen – Lübbesee. Stuttgart 1891, Spalte 586–591, hier 586).

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samkeit sich in eine günstigere Lage zu versetzen«78, verstanden. Den Kolonisten wird ein Stück Land zur Bestellung überlassen; Ziel ist es, sie »auf eine solche Stufe zu heben, wo man sie mehr sich selbst […] überlassen« könne79. Der wesentliche Impuls für Koloniegründungen im größeren Stil geht aber offenbar von der Gründung Frederiksoords an der deutschen Grenze Hollands im Jahr 1818 aus80 : Versuche […] im großen [wurden] hauptsächlich in Holland zu Frederiksoord und später in anderen Gegenden des Landes durch den General van den Bosch [gemacht]. Von dort aus fand die Idee Nachahmung in Belgien zu Wortel, Merplus und Rezkevoorsel, in Holstein zu Frederiksgabe, sowie in Frankreich, England und in anderen Ländern.81

Es kann an dieser Stelle nur gemutmaßt werden, dass die zeitliche Nähe zur schweren, gesamteuropäischen Agrarkrise der Jahre 1816/1817 mit der Missernte im Regensommer 1816 und der knappen Ernte des Jahres 181782, in deren Folge es in Deutschland auch zur ersten großen Auswanderungswelle des 19. Jahrhunderts kam83, kein Zufall ist. Jedenfalls ist deutlich, dass Armenko78 Armenkolonie. In: Meyers Konversationslexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage, erster Band, A – Asiatische Türkei. Hildburghausen 1874, S. 914. 79 Ebd. 80 Sowohl Meyer (Armenkolonie. In: Meyers Konversationslexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage, erster Band, A – Asiatische Türkei. Hildburghausen 1874, S. 914) als auch Pierer (Armencolonien. In: Pierer’s UniversalLexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Vierte, umgearbeitete und stark vermehrte Auflage, erster Band A – Aufzwingen. Altenburg 1857, S. 725/726) weisen dieser Koloniegründung für die weitere Verbreitung von Armenkolonien über Europa eine wichtige Rolle zu. 81 Armenkolonie. In: Meyers Konversationslexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage, erster Band, A – Asiatische Türkei. Hildburghausen 1874, S. 914. 82 Es handelt sich um die vorletzte der großen Hungersnöte; vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen »Deutschen Doppelrevolution« 1815–1845/49. München 1987, hier S. 27. Wehler verdeutlicht den Konjunkturverlauf der Landwirtschaft exemplarisch anhand der Entwicklung der Getreidepreise in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Während es aufgrund der schlechten Ernten rasante Preissteigerungen in den Jahren 1816/1817 gab, fiel der Getreidepreis nach guten Ernten ab 1818 wieder (vgl. ebd., S. 27ff.). 83 Vgl. Mergel, Thomas: Das Kaiserreich als Migrationsgesellschaft. In: Müller, Sven Oliver/ Torp, Cornelius (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Göttingen 2009, S. 374–391, hier S. 376; Mergel weist darauf hin, dass die Auswanderungszahlen mit der Agrarkrise 1816/1817 nach oben schnellten; mit den 1840er Jahren habe dann ein europaweiter Boom eingesetzt, der bis zum Anfang des Ersten Weltkriegs eine zweistellige Millionenzahl Europäer nach Übersee geführt habe (vgl. ebd.). Für Statistiken zur deutschen Emigration vgl. Ferenczi, Imre/Willox, Walter F. (Hrsg.): International Migrations, 2 Bände, National Bureau of Economic Research New York 1929 und 1931, wieder aufgelegt 1969; hier wird ebenfalls darauf verwiesen, dass die deutsche Emigration 1816/1817 »began to assume

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lonien im Allgemeinen als Reaktion auf die wirtschaftliche Gesamtsituation zu verstehen sind. Insgesamt scheint die erste Welle der Einrichtung von Armenkolonien aus verschiedenen Gründen jedoch nicht erfolgreich zu sein; ab der Mitte des 19. Jahrhunderts spielen sie offenbar keine nennenswerte Rolle mehr. Erst in den 1870er Jahren wird die Idee wieder aufgegriffen: »Als zu Ende der 70er Jahre der Wanderbettel in Deutschland neuerdings in bedrohlicher Weise um sich gegriffen hat, kam man wieder auf die frühern Bestrebungen zurück.«84 Der Begriff ›Armenkolonie‹ wird nun jedoch durch den Begriff ›Arbeiterkolonie‹ ersetzt: »Der Begriff A[rbeiterkolonie] gehört der neuern Zeit an, früher war mehr die Benennung Armenkolonien üblich.«85 Entsprechend findet in Meyers Konversationslexikon von der vierten zur fünften Auflage ein Transfer des Eintrags »Armenkolonien« zu »Arbeiterkolonien« statt. Die »Arbeiterkolonie« wird nunmehr definiert als Niederlassung für Arbeiter und Arbeitsfaule. Dieselben können den Zweck haben, Arbeiter seßhaft zu machen, indem ihnen auf einer Ansiedlung der allmähliche Erwerb von Grundstücken zu freiem Eigentum ermöglicht wird (daher auch Ackerbaukolonien genannt); im engern Sinne ländliche Niederlassungen, in welchen Arbeitswillige bei andauernder Verdienstlosigkeit Beschäftigung erhalten, bis sie wieder anderweit ihren Unterhalt finden können.86

Offenbar ist es die Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf bei Bielefeld, gegründet von dem Pastor Friedrich von Bodelschwingh, die 1882 erstmals die Idee der Arbeiterkolonie praktisch umsetzt und in der Folge zahlreiche weitere Neugründungen nach sich zieht: »In den letzten Jahren haben sich die A., deren einheitliche Organisation von dem Zentralvorstand deutscher A. angestrebt wird, über Deutschland ziemlich verbreitet.«87 Zum Wortfeld Arbeiterkolonie gehören

84 85 86 87

proportions previously unkown« (ebd., Bd. 1, S. 114); ab Herbst 1817 waren die Zahlen rückläufig, 1818 gingen sie gegen Null (vgl. ebd., S. 116). Die Autoren stellen einen Zusammenhang zu den guten Ernten der nachfolgenden Jahre, die Auswirkungen auf die Auswanderung hatten, her (vgl. ebd., S. 116). Einen Überblick über die deutsche Migrationsgeschichte gibt Klaus J. Bade: German Transatlantic Emigration in the Nineteenth and twentieth Centuries. In: P.C. Emmer/Magnus Mörner (Hrsg.): European Expansion and Migration. Essays on the Intercontinental Migration from Africa, Asia, and Europe. New York 1992, S. 121–155. Arbeiterkolonie. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, erster Band A bis Astigmatismus. Leipzig/Wien 1905, S. 680/681, hier S. 681. Ebd., S. 680, Hervorhebung im Original. Arbeiterkolonie. In: Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Fünfte, gänzlich neubearbeitete Auflage, erster Band A bis Aslang. Leipzig/Wien 1893, S. 794–795, hier S. 794/795, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 795.

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Unterformen wie »Heimatkolonie«, »Ackerbaukolonie« und »Zwangsarbeiterkolonie«.88 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts findet der Kolonie-Begriff Eingang in das im engeren Sinn naturwissenschaftliche Vokabular. Die erste Verwendung in der Botanik kann auf 1839 datiert werden89, wobei Kolonie hier eine »group of plants of one or more species living together in the same habit; (Ecol., now rare) such a group consisting of two or more species colonizing a new locality«90 meint. In die Geologie hat den Begriff Joachim Barrande mit seiner in den 40er Jahren aufgestellten »Theorie der Kolonien« eingeführt, in der der Begriff auf eine Gruppe von Fossilien »appearing exceptionally in a formation other than that of which they are characteristic«91 übertragen wird. Die erste Begriffsverwendung im biologischen Sinn geht auf die Abhandlung »Gattungen einzelliger Algen physiologisch und systematisch bearbeitet« von Carl Nägeli92 zurück und kann auf 1849 datiert werden.93 Das Online-Supplement zum »Historischen Wörterbuch der Biologie« definiert die biologische Begriffsverwendung unter Bezugnahme auf das Oxford English Dictionary als »an aggregate of individual animals or plants, forming a physiologically connected structure, as in the case of the compound ascidians, coral-polyps, etc.«94 Es ist anzunehmen, dass der Transfer in den biologischen Sprachgebrauch dadurch vorbereitet wurde, dass mindestens seit dem 17. Jahrhundert die Übertragung des Kolonie-Begriffs auf die

88 Ebd., S. 795. 89 Vgl. Eintrag colony. In: Oxford English Dictionary, OED Online, Oxford University Press, http://www.oed.com/view/Entry/36547?result=1& rskey=ca06t1& , (Abrufdatum 06. 09. 2013). 90 Ebd. 91 Ebd. 92 Zürich 1849. 93 Das Online-Supplement zu Georg Toepfers »Historischem Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe« (Darmstadt 2011), in das der Begriff ›Kolonie‹ nicht aufgenommen wurde, datiert die erste biologische Begriffsverwendung ebenfalls auf 1849, verweist als erste Verwendung jedoch auf eine Abhandlung C. Th. Siebolds mit dem Titel »Ueber einzellige Pflanzen und Thiere« (in: Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, herausgegeben von Carl Theodor von Siebold und Albert Köllike, Erster Band, Leipzig 1849, S. 270–294, hier S. 276; vgl. BioConcepts. The Origin and Definition of Biological Concepts. A Multilingual Database, http://www.biological-concepts. com/views/search.php?me=colony& ft=& q=Start, (Abrufdatum 07. 09. 2013). Der Text Siebolds verweist allerdings seinerseits auf die Abhandlung Nägelis. 94 Vgl. BioConcepts. The Origin and Definition of Biological Concepts. A Multilingual Database, http://www.biological-concepts.com/views/search.php?me=colony& ft=& q=Start, (Abrufdatum 07. 09. 2013) sowie colony. In: Oxford English Dictionary, OED Online, Oxford University Press, http://www.oed.com/view/Entry/36547?result=1& rskey=ca06t1& , (Abrufdatum 06. 09. 2013). BioConcepts bezieht sich auf das OED 2011; nicht berücksichtigt wurden die Ergänzungen des Lexikons aus demselben Jahr, die den Eintrag um eine »discrete group or aggregate of cells or single-celled organisms, typically growing on a solid medium and often forming a clone« ergänzen (ebd.).

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Tierwelt beobachtet werden kann.95 Eine entsprechende Begriffsbesetzung ist jedenfalls bereits in der ersten Auflage des Pierer von 1835 (wenn auch nur unter Verweis auf andere Einträge) nachweisbar : »Colonien (Bienenzucht), s. v. w. Schwärme. Colonie-bienen-korb (Coloniekorb), s. Magazinbienenkorb.«96 Im Großen Herder wird ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Eintrag »Kolonie« selbst auch die zoologische Begriffsbesetzung aufgenommen: Kolonien »in der Zoologie (Tierkolonie): die Vereinigung gesellig lebender Tiere, z. B. Krähen-, Reiher-, Biber-K.; auch das Zusammenleben einzelliger od. mehrzelliger Lebewesen (›Tierstöcke‹) mit od. ohne Arbeitsteilung.«97 Ab den 1880er Jahren findet mit der »Inneren Kolonisation«98 – parallel zum Beginn der überseeischen Koloniegründungen Deutschlands – eine neue Form der ›Kolonisation‹ Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch. Hierunter wird im ausgehenden 19. Jahrhundert zweierlei verhandelt: Es ist die Bezeichnung der Maßnahmen, durch die in den europäischen Kulturstaaten anbaufähiges, aber nicht genügend besiedeltes Land mit bäuerlichen Wirten besetzt oder bei übermäßigem Vorherrschen des Großgrundbesitzes dieser zwecks Herstellung einer günstigeren Besitzverteilung zerschlagen und in kleinere und mittlere bäuerliche Besitzungen zerlegt wird.99

Im weiteren Wortsinn, das deutet der erste Teil der Definition an, referiert der Begriff auf die historisch bis ins Mittelalter zurück verfolgbare Anlegung von sogenannten ›Moorkolonien‹; ›innere Kolonie‹ wird daneben bei Pierer bereits 95 Vgl. hierzu ebd., hier insbesondere den Abschnitt II.6 tranf. and fig. of animals, etc. 96 Colonien (Bienenzucht). In: Universallexikon oder vollständiges encyclopädisches Wörterbuch herausgegeben von H. A. Pierer. [1. Auflage], fünfter Band Cardinal bis Creditwesen. Altenburg 1835, S. 497. 97 Kolonie. In: Der Große Herder. Nachschlagewerk für Wissen und Leben. Vierte, völlig neubearbeitete Auflage von Herders Konversationslexikon, sechster Band Hochrhein bis Konsequenz. Freiburg im Breisgau 1933, Spalte 1643. 98 Die Innere Kolonisation ist wohl im Grenzbereich zwischen machtpolitisch-expansionistischem Kolonie-Begriff im engeren Sinn und denjenigen Begriffsbesetzungen, die den Begriff in andere Bereiche übertragen, zu verstehen. Es gäbe daher auch gute Gründe, dieses Phänomen im voranstehenden Abschnitt zu behandeln; da jedoch der expansive Charakter hier weniger ausgeprägt zu sein scheint als im Grenzkolonialismus (vgl. dort), wurde entschieden, es im Abschnitt zu den Transferprozessen mit zu behandeln. Sebastian Conrad hat mit Bezug auf das Projekt der ›inneren Kolonisation‹ darauf hingewiesen, dass es nicht nur auf diskursiver Ebene Parallelen zwischen überseeischem und inner-europäischem Kolonialismus gegeben hat (vgl. Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S. 98); »Vielmehr ist deutlich, daß die koloniale Ordnung der Welt auch in Europa ihre Spuren hinterlassen hat: Diskurse und ideologische Muster, Siedlungspolitik, demographische Interventionen und die Dynamik der Arbeitsmärkte standen in einem globalen Zusammenhang, der durch Hierarchien kolonialer Differenz strukturiert war.« (Ebd., S. 100). 99 Innere Kolonisation. In: Meyers großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, neunter Band Hautgewebe bis Jonicus. Leipzig/Wien 1906, S. 845–846, hier S. 845.

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ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auch als Synonym für Armenkolonie verwendet100. Im engeren Wortsinn – in dieser Verwendung wird der Begriff ab den 1880er Jahren populär – zielt er dann auf diejenigen preußischen Bemühungen, die sich in zwei Gesetzen manifestieren, die ihrerseits historisch den Beginn dieser Begriffsverwendung im engeren Sinn markieren, nämlich dem Gesetz zur Förderung deutscher Ansiedelung in Posen und Westpreußen von 1886 sowie dem preußischen Rentengutsgesetz von 1891101. Faktisch sieht diese Form der Inneren Kolonisation die Parzellierung von Großgrundbesitz und die Ansiedlung von Bauern auf dem Grund vor. Ziel ist es, erstens der Abwanderung von Arbeitern in die großen Industriezentren des Kaiserreiches sowie zweitens der Auswanderung nach Übersee entgegenzuwirken.102 Darüber hinaus soll drittens die »in den Ansiedlungsprovinzen besonders tiefe Kluft zwischen arm und reich durch eine Vermehrung des Mittelstandes«103 überbrückt werden. Der Inneren Kolonisation kommt also primär eine sozialpolitische Funktion zu. Der Übergang zu dem, was im 19. Jahrhundert Armen- oder Arbeiterkolonie genannt wird, ist hier fließend: »In neuester Zeit gründete man die Landbaukolonien Fredericksoord, Wilhelmsoord und Wilhelmina-Oord, die den Zweck haben, Arbeiterfamilien fest anzusiedeln.«104 Spätere Auflagen weisen darüber hinaus auf die Nähe zur Bodenreform hin, womit zugleich der Übergang zur Lebensreformbewegung angedeutet ist. Beobachtet wird Innere Kolonisation im ausgehenden 19. Jahrhundert als gesamteuropäisches Phänomen – verwiesen wird etwa auf England, Holland, Russland und Italien.105 Die Idee der Inneren Kolonisation wird bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unter unterschiedlichsten Vorzeichen weiterverfolgt. So ist der Erlass des Reichsansiedlungsgesetzes von 1919, das die Innere Kolonisation nach Ende des Ersten Weltkriegs noch einmal auf die Agenda setzt, wohl vor dem Hintergrund der Rückkehr der Soldaten einerseits und der wirtschaftlichen Lage Deutschlands andererseits zu verstehen. Die Nationalsozialisten greifen den Gedanken in den 100 Vgl. etwa Colonien. In: Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyklopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Fünfte, durchgängig verbesserte Stereotyp-Auflage, vierter Band China – Deutsch-Krone. Altenburg 1868, S. 272–277, hier S. 273. 101 Vgl. Innere Kolonisation. In: Meyers großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, neunter Band Hautgewebe bis Jonicus. Leipzig/Wien 1906, S. 845–846, hier S. 845. 102 Vgl. Innere Kolonisation. In: Meyers Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Fünfte, gänzlich neubearbeitete Auflage, neunter Band Hübbe-Schleiden bis Kausler. Leipzig/Wien 1895, S. 252–254, hier S. 252. 103 Ebd., S. 253. 104 Ebd., S. 254. 105 Moses Finley greift aus britischer Perspektive das Phänomen der »internal colonization« in seinem begriffskritischen Versuch auf, will es jedoch für seinen Versuch einer Typologie nicht berücksichtigen. Vgl. Finley : Colonies, S. 173.

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ersten Jahren ihrer Herrschaft bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ihrerseits auf; allerdings wird ›Innere Kolonisation‹ 1933 durch »Neubildung deutschen Bauerntums« ersetzt.106 Um 1900 schließlich wird der Kolonie-Begriff auf eine Reihe von kulturellen Phänomenen im weitesten Sinn übertragen: Um die Jahrhundertwende wird er von Künstlern, Dichtern und Lebensreformern besetzt, es kommt insbesondere im deutschsprachigen Raum, aber auch europaweit, zur Gründung zahlreicher Künstler- und Lebensreformkolonien wie den Künstlerkolonien Worpswede und Mathildenhöhe (Darmstadt), der Friedrichshagener Dichterkolonie, der Vegetarischen Obstkolonie Eden bei Berlin und der Lebensreformkolonie Monte Verit/ bei Ascona, um nur die prominentesten zu nennen. Künstlerkolonien sind kein vollständig neues Phänomen, Vorläufer hat es bereits im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert gegeben. Der Kreis deutscher Künstler und Literaten in Rom Ende des 18. Jahrhunderts wird bisweilen als »deutsche Künstlerkolonie in Rom«107 bezeichnet; allerdings konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht festgestellt werden, inwieweit die Bezeichnung als ›Kolonie‹ bereits auf die Jahre um 1800 zurückdatiert oder erst rückblickend um 1900 erfolgt. Als älteste Künstlerkolonie im engeren Wortverständnis wird in den Konversationslexika des 19. Jahrhunderts »Barbizon am Rande des Waldes von Fontainebleau, wo sich nach Millets und Rousseaus [sic!] Vorgang zahlreiche französische und ausländische Maler dauernd oder zu zeitweiligem Aufenthalt niederließen (Schule von Fontainebleau)«108 genannt. Diese frühe Künstlerkolonie entsteht um 1830. Erst um die Jahrhundertwende aber kommt es zu einer Vielzahl von Koloniegründungen. Nicht nur die Tatsache, dass der Begriff Künstlerkolonie in der sechsten Auflage des Meyerschen Konversationslexikons 106 Vgl. das »Gesetz über die Neubildung deutschen Bauerntums. Vom 14. Juli 1933« (Reichsgesetzblatt 1933, I, S. 517/518, hier S. 517): »§1 Die ländliche Siedlung, insbesondere die Schaffung von Bauernhöfen im gesamten Reichsgebiet (Neubildung deutschen Bauerntums) ist die Aufgabe des Reichs. Das Reich hat hierüber die ausschließliche Gesetzgebung.« 107 Vgl. auch Ujma, Christina/Fischer, Rotraut: Deutsch-Florentiner. Der Salon als Ort italienisch-deutschen Kulturaustausches im Florenz der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1999, S. 127–146, hier S. 127; die Autoren weisen darauf hin, dass die Sozialformen der Deutschen, die damals in Rom lebten, sehr vielfältig waren. Vgl. daneben den Ausstellungskatalog »Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770–1844). Der dänische Künstler und seine deutschen Freunde« (hrsg. von Gerhard Bott, Nürnberg 1991), hier insb. die Beiträge von Rainer Schoch (»Rom 1797 – Fluchtpunkt der Freiheit«, ebd., S. 17–23) und Ursula Peters (»Das Ideal der Gemeinschaft«, ebd., S. 157–187). Vgl. auch Otto Harnack: Deutsches Kunstleben in Rom im Zeitalter der Klassik (Weimar 1896). Letzteres wäre vor dem Hintergrund der zahlreichen Künstlerkoloniegründungen der Jahrhundertwende zu lesen. 108 Künstlerkolonie. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, elfter Band Kimpolung bis Kyzikos. Leipzig/Wien 1905, S. 817.

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aufgenommen wird, verweist auf die Bedeutung von Künstlerkolonien um 1900; auch der Eintrag selbst weist auf die zahlreichen Koloniegründungen nach dem französischen Vorbild »in neuerer Zeit« hin: Nach diesem Vorbild entstanden in neuerer Zeit ähnliche K. in England und besonders in Deutschland, hier in Kronberg am Taunus, Worpswede (s.d.) bei Bremen, Dachau bei München, Ahrenshoop in Pommern, Willingshausen in der Schwalm (Hessen) u. a.O. Eine andere Art von K. ist die auf der Mathildenhöhe bei Darmstadt, deren Mitglieder vom Großherzog von Hessen dorthin berufen worden sind.109

Vor diesem Hintergrund kann nicht mehr von vereinzelten Ereignissen gesprochen, sondern muss von einem kulturellen Phänomen ausgegangen werden. Verstanden wird unter »Künstlerkolonie« um 1900 eine »Ansiedlung von Künstlern in abseits von den großen Kunststädten gelegenen, durch eine eigenartige Landschaft bevorzugten Orten zum ruhigen Studium der Natur und zum beständigen Verkehr mit ihr«110. Auffallend ist die definitorisch aufgenommene Binärcodierung von Stadt – Land, die auf den kulturkritischen Gehalt der Künstlerkolonien, die diese mit den Lebensreformkolonien teilen, verweist. Nicht zufällig taucht der Name Rousseau in der oben angeführten Bestimmung von Künstlerkolonien auf. Diese Koloniegründungen, insbesondere die der Lebensreform, sind wesentlich von der weltanschaulichen Kulturkritik namentlich Paul de Lagardes und Julius Langbehns her zu verstehen, die ihrerseits in ihren Schriften auf das Wortfeld ›Kolonie‹ und ›Kolonisation‹ zurückgreifen und es für ihre Kulturkritik fruchtbar machen – diesen Zusammenhang wird der nachfolgende Teil III der Arbeit genauer untersuchen. Der machtpolitische Kolonie-Begriff lebt wie dargelegt auch im 20. und 21. Jahrhundert relativ stabil fort, wird allerdings nach 1945 einer grundlegenden Umwertung in Bezug auf die Konnotation zu befürworten/abzulehnen unterzogen. Der Transfer des Begriffs ›Kolonie‹ in den Bereich der Naturwissenschaften gehört zu jenen Übertragungen, die stabil sind – bis heute gehört der Begriff zum Vokabular der Biologie, Zoologie und Botanik. Im Bereich der Volkswirtschaft, speziell der Landwirtschaft, wird der Begriff der ›Inneren Kolonisation‹, nachdem er zwischen 1933 und 1945 durch »Neubildung deutschen Bauerntums« ersetzt wurde, noch einmal aufgegriffen: Nach 1945 gründet sich die »Gesellschaft zur Förderung der Inneren Kolonisation« neu und gibt zwischen 1956 und 1972 die Zeitschrift »Innere Kolonisation«111 heraus, das

109 Ebd., S. 817. 110 Ebd., S. 817. Es ist dies die erste Auflage des Meyer, in dem »Künstlerkolonie« einen eigenen Eintrag erhält. 111 Innere Kolonisation, herausgegeben von: Gesellschaft zur Förderung Innerer Kolonisation. Berlin/Bonn 1956–1972.

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Nachfolgeorgan »Innere Kolonisation, Land und Gemeinde«112 erscheint bis zur Einstellung 1981. Künstler-, Dichter- und Reformkolonien hingegen waren im Wesentlichen ein Phänomen der Jahrhundertwende. Im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlieren Künstlerkolonien zunehmend an Bedeutung, wenn bestehende auch nicht aufgegeben werden, so ist die große Zeit der Koloniegründungen doch deutlich vorbei. Einige wenige haben – wie etwa Worpswede oder die Gartenbaukolonie Eden – bis heute überlebt, auch wenn von ihnen nicht mehr die ursprüngliche Strahlkraft ausgeht; andere wie die Mathildenhöhe in Darmstadt haben heute musealen Charakter, die allermeisten allerdings haben überhaupt nur sehr kurz existiert. Im Zusammenhang mit den alternativen Bewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – die im Übrigen durchaus Ähnlichkeiten zu den alternativen Bewegungen der Jahrhundertwende aufweisen, nicht nur hinsichtlich der Idee, alternative Gesellschaftsformen im praktischen Zusammenleben in der Gemeinschaft verwirklichen zu wollen – ist zumindest im deutschen Sprachgebrauch auch der kulturkritische Kolonie-Begriff als Synonym für Siedlungen bzw. Kommunen, in denen alternative Lebensformen gelebt werden, reaktualisiert worden.113 Schließlich leben Begriffe aus dem Umkreis der Lebensreform wie Gartenstadtkolonie114, Villenkolonie115, bisweilen auch der Begriff Arbeiterkolonie, hier und da fort, sie sind aber im Wesentlichen als sprachliche ›Überreste‹ aus dem 19. Jahrhundert zu bewerten. Siedlung – Raum – Kultur. Der semantische Kern des Kolonie-Begriffs und die Umstellung auf den modernen Kultur-Begriff Es stellt sich abschließend die Frage, weshalb gerade der ›Kolonie‹-Begriff für so heterogene Bereiche wie Biologie und Ökonomie anschlussfähig ist. Die grundsätzliche Offenheit des Begriffs und seines semantischen Kerns scheint die Bedingung der Möglichkeit einer Verwendung in unterschiedlichen (disziplinären) Zusammenhängen zu sein. Zum semantischen Kern des machtpolitischen Kolonie-Begriffs116 gehören wesentlich drei Bedeutungsdimensionen: 112 Innere Kolonisation, Land und Gemeinde, herausgegeben von: Gesellschaft zur Förderung der Inneren Kolonisation, GFK/Bundesverband der Gemeinnützigen Landgesellschaften, BLG/Deutsche Bauernsiedlung/Deutsche Gesellschaft für Landentwicklung, DGL. Bonn 1972–1981. 113 Die beiden großen US-amerikanischen Hippie-Hochburgen in San Francisco (HaightAshbury) und New York (East Village) werden im Deutschen auch als Hippie-Kolonien bezeichnet; sie sind ebenso Beispiele wie die Hippie-Kolonien Christiania in Kopenhagen oder die Kolonien Matala und Dytiko auf Kreta. 114 So etwa die Gartenstadtkolonie in Hellerau. 115 Vgl. exemplarisch die Villenkolonie Mulang in Kassel-Wilhelmshöhe. 116 Moses Finley hat in seinem mehrfach erwähnten begriffskritischen Versuch »Colonies: An

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Erstens beinhaltet er eine gesellschaftlich-soziale Bedeutungsschicht, insofern Kolonien immer Siedlungen und Siedlungsgemeinschaften adressieren. Zweitens beinhaltet er eine – unterschiedlich aufgeladene – räumliche Dimension, so etwa in Bezug auf den expansiven Charakter der Kolonisation, in Bezug auf den abgegrenzten Siedlungsraum, die landwirtschaftliche Nutzung des Bodens. Schließlich spielen Fragen der Kultur, zunächst wesentlich im Sinne der ›cultura‹, sprich Kultivierung von Ackerland, später auch im Sinn des modernen Kulturbegriffs117, eine Kernrolle. Schon die antiken ›coloniae‹ waren über ihre militärische Funktion hinaus auch landwirtschaftliche Siedlungen. Bereits der römische Begriff ›colonia‹ umfasst insofern alle drei Bedeutungsdimensionen: ›Colonia‹ zielt auf die Siedlung und das bewirtschaftete Land in fremden, ursprünglich eroberten Gebieten.118 Im mittelalterlichen ›Kolonat‹ leben über Besiedelung, räumliche Begrenzung (Abgrenzung des bäuerlichen Hofes: »Bauer-Gütgen, mit so viel Feld, als ein Bauer bestreiten konnte«119), schließlich Bewirtschaftung sprich Kultivierung des Bodens die räumliche, soziale und kulturelle Dimension weiter. Zum neuzeitlichen, machtpolitischen Kolonie-Begriff gehört neben dem Aspekt territorialer Ausdehnung, sprich der räumlichen Dimension, ebenfalls der Siedlungsgedanke, der Aspekt sozialer Gemeinschaft: »Colonie, heist eine Anzahl Menschen, welche einen wüsten oder unbewohnbaren Ort anbauen. Dergleichen die Spanier, Engelländer und Holländer in Ost-West-Indien anlegen […].«120 Kolonien sind insofern als sozialer Verbund, als spezifische Form

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Attempt at a typology« drei Variablen vorgeschlagen, die zum Kern des Kolonie-Begriffs zählen – Land, Arbeit und die sozioökonomische Struktur der (imperialistischen) Metropole (Finley : Colonies, S. 184) – anhand derer er einen engeren Kolonie-Begriff als »technical term« (ebd., S. 169) etablieren und im Anschluss ein Drei-Phasen-Modell der Entwicklung von Kolonisation von der Antike bis in die Gegenwart aufstellen kann. Finley beschränkt sich auf den machtpolitischen Kolonie-Begriff; da an dieser Stelle gerade die metaphorischen Verwendungen interessieren, muss der semantische Kern mit Blick auf den erweiterten Kolonie-Begriff spezifiziert werden. Zur Geschichte des Begriffs »Kultur« vgl. Baecker, Dirk: Kultur. In: Barck, Karlheinz/ Fontius, Martin/Schlenstedt, Dieter/Steinwachs, Burkhart/Wolfzettel, Friedrich (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Band 3 Harmonie – Material. Stuttgart 2001, S. 510–556. Daneben haben römische Schriftsteller das griechische !poij_a mit dem Wort ›colonia‹ übersetzt; »[b]ut in later Greek it was apparently felt that the !poij_a was not properly equivalent to the Roman colo¯nia, which was therefore used untranslated as jokym_a (Acts xvi. 12).« (colony. In: Oxford English Dictionary, OED Online, Oxford University Press, http://www.oed.com/view/Entry/36547?result=1& rskey=ca06t1& , [Abrufdatum 06. 09. 2013]). Colonia. In: Johann Heinrich Zedler : Grosses Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden. 2. vollständiger photomechanischer Nachdruck durch die Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, Band 6 Ci–Cz. Graz 1994 [1733], Spalte 726. Colonie. In: Johann Heinrich Zedler : Grosses Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden.

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menschlichen Zusammenlebens, aufzufassen121; zugleich ist das Fortleben der kulturellen Dimension im Sinne einer Kultivierung des Bodens erkennbar. Die Bedeutungsverschiebung, die mit dem Übergang zur (Frühen) Neuzeit stattfindet, bezieht sich also wesentlich auf Aspekte wirtschaftlicher, politischer und kultureller Machtausgreifungen Europas auf überseeische Territorien. Zugleich bleiben – inhaltsneutral betrachtet – jene drei Bedeutungsschichten in der Neuzeit erhalten. Dieser semantische Kern bleibt auch beim Transfer in andere Bereiche im Wesentlichen erhalten. Mehr noch: Es scheinen gerade die herausgearbeiteten Bedeutungsschichten und ihre prinzipielle Anpassungsfähigkeit an verschiedene Inhalte zu sein, die den Begriff im langen 19. Jahrhundert so produktiv machen. Sowohl für Armen- als auch für Arbeiterkolonien gilt, dass neben den Siedlungs- und damit sozialen Aspekt der Kolonie mit der Bewirtschaftung des Bodens sowohl eine räumliche als auch eine im weitesten Wortsinn kulturelle Dimension treten. In diesem Zusammenhang ist im Übrigen der Gebrauch des Wortes ›heben‹ aufschlussreich, das im 19. Jahrhundert immer dann, wenn es um Kolonisierungsprozesse im weitesten Wortsinn geht, mit der Ausbreitung und Höherentwicklung von Kultur, ebenfalls im weitesten Wortsinn, verbunden ist: Ziel der Armenkolonien sei es, die Kolonisten durch Überlassung eines Stücks Land zur Bestellung »auf eine solche Stufe zu heben, wo man sie mehr sich selbst […] überlassen« könne122. Im Zusammenhang mit der Übertragung in die Naturwissenschaften ist zumindest auffallend, dass alle naturwissenschaftlichen Begriffsverwendungen auf den Gruppencharakter der die Kolonie konstituierenden Elemente abheben (Bienenkolonien, Bakterienkolonien etc.) – man könnte dies im weitesten Sinne als Übertragung der sozialen Dimension des Begriffs verstehen. Im Kontext der ›Inneren Kolonisation‹ und der in diesem Zusammenhang als »Kolonie« bzw. »Pachtkolonien«123 bezeichneten bäuerlichen Ansiedlungen gehört der Siedlungsaspekt und damit verbunden der soziale Verband der angesiedelten Bauern ebenfalls zum Bedeutungskern; zugleich ist deutlich, dass der Begriff auch hier noch konstitutiv auf Land (territorial ebenso 2. vollständiger photomechanischer Nachdruck durch die Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, Band 6 Ci–Cz. Graz 1994 [1733], Spalte 726/727, hier Spalte 726, meine Hervorhebung. 121 Moses Finley hat zu Recht darauf hingewiesen, dass »for more than three hundred years […] there was complete agreement that a colony was a plantation of men, a place to which men emigrated and settled. Colon in French, Siedler in German, make the same point.« (Finley : Colonies, S. 171). 122 Armenkolonie. In: Meyers Konversationslexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage, erster Band, A – Asiatische Türkei. Hildburghausen 1874, S. 914. 123 Innere Kolonisation. In: Meyers Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Fünfte, gänzlich neubearbeitete Auflage, neunter Band Hübbe-Schleiden bis Kausler. Leipzig/Wien 1895, S. 252–254, hier S. 253.

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wie die Landbestellung) abzielt. Auffällig ist bei der Bestimmung von »Innerer Kolonisation« nun allerdings, dass die Definition124 mit dem Begriff »Kulturstaaten« operiert – hier zeigt sich neben dem auf die Kultivierung von Ackerbau abzielenden Kulturbegriff deutlich auch der moderne Kulturbegriff.125 Voraussetzung dafür, dass der Begriff der Kolonie schließlich für das kulturkritische Denken produktiv gemacht werden kann, ist eine semantische Erweiterung hinsichtlich der ›kulturellen‹ Bedeutungsschicht des Begriffs. Auch die kulturkritische Begriffsbesetzung bewahrt zunächst die drei wesentlichen Bedeutungsdimensionen: Künstlerkolonien etwa werden definiert als »Ansiedlung von Künstlern in abseits von den großen Kunststädten gelegenen, durch eine eigenartige Landschaft bevorzugten Orten«126, sie sind also eine Siedlung in einem begrenzten Raum. Zugleich verschwindet ganz offensichtlich im Vergleich zu den vorherigen Kolonie-Formen (mit Ausnahme der Naturwissenschaften) der Aspekt der Bodenkultivierung. Dennoch ist der Kulturaspekt – handelt es sich doch immerhin um Künstlerkolonien – zentral. Offenbar findet hier endgültig die Umstellung auf den modernen Kulturbegriff statt: Referiert ›Kultur‹ sowohl im machtpolitischen Kolonie-Begriff als auch in den Bedeutungsübertragungen bis ins zweite Drittel des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen auf die Kultivierung von Boden, knüpft also an die ursprüngliche Bedeutung an, tritt nun eine an den modernen, allgemeinen und relationalen Kulturbegriff anknüpfende Bedeutungsdimension daneben. Es ist diese Begriffsverwendung, die sich von allen anderen politischen wie metaphorischen Begriffsverwendungen unterscheidet und die im Rahmen der vorliegenden Arbeit einer detaillierten Untersuchung unterzogen werden soll. Im Grunde ist es wenig überraschend, dass der Kolonie-Begriff im 19. Jahrhundert mit diesem doppelten Kulturverständnis operiert, gehören Kultur- und 124 Das gilt für Worterklärungen im Meyer ab der sechsten Auflage. 125 Vor diesem Hintergrund ist wohl auch die nationale Tendenz der Inneren Kolonisation zu verstehen – richten sich ihre »germanisierenden Tendenzen« doch »gegen polonisierende Bestrebungen« (Innere Kolonisation. In: Meyers Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Fünfte, gänzlich neubearbeitete Auflage, neunter Band Hübbe-Schleiden bis Kausler. Leipzig/Wien 1895, S. 252–254, hier S. 253). Vgl. auch Innere Kolonisation. In: Meyers großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, neunter Band Hautgewebe bis Jonicus. Leipzig/Wien 1906, S. 845–846, hier S. 845: »Es ist nachgewiesen, daß durch den Wegzug deutscher Arbeiter, deren die niedrige Lebenshaltung des polnischen Proletariats eine unüberwindliche Konkurrenz schafft, insbesonderheit die Provinzen Posen und Westpreußen mehr und mehr dem Polentum verfallen. Dies zu verhindern und das Deutschtum durch Heranziehung tüchtiger Kräfte zu stärken und zu mehren, ist die nationale Seite der Kolonisation in den Ostprovinzen […].« 126 Künstlerkolonie. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, elfter Band Kimpolung bis Kyzikos. Leipzig/Wien 1905, S. 817.

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Kolonie-Begriff doch nicht nur sprachhistorisch eng zusammen, auch die Ausbildung des modernen Kulturbegriffs, der seinerseits nicht ohne Kulturkritik denkbar ist127, ist nicht ohne den (modernen) Kolonialismus zu verstehen: Die »Kulturerfahrung Europas [ist] nicht unabhängig von den kolonisierenden Zugriffen Europas auf andere Erdteile zu denken […].«128 Vor diesem Hintergrund muss schließlich auch die ›kulturelle‹ Dimension des machtpolitischen Kolonie-Begriffs im 19. Jahrhundert noch einmal genauer gefasst werden: Dieser umfasst – neben dem auf Bodenkultivierung abzielenden Kulturverständnis, das hier parallel weiterlebt – auch einen modernen, relationalen Kulturbegriff insofern – im 19. Jahrhundert unter Rückbezug auf evolutionistische Vorstellungen – Kolonialismus als Ausbreitung von Kultur verstanden und durch die sogenannte ›Zivilisierungsmission‹ gerechtfertigt wird.

127 Vgl. Baecker : Kultur, S. 521. 128 Baecker : Kultur, S. 514.

III

Modernereflexion. Kolonien in der Semantik der Kulturkritik

III.1 Kulturkritik. Vorbemerkungen zu Geschichte und Konzeptualisierung eines Beobachtungsmodus der Moderne (und ihrer Alternativen) Die kulturkritische Begriffsbesetzung des Wortfeldes ›Kolonie‹ ist grundsätzlich anders gelagert, als es die Übertragungen zuvor waren: Der Kolonie-Begriff wird hier nicht, wie in bisherigen Wortübertragungen geschehen, in den Spezialdiskurs eines einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichs (Sozialwesen, Naturwissenschaften, Ökonomie) aufgenommen, sondern in generalisierender Perspektive für die Beobachtung, Beschreibung und Reflexion moderner Gesellschaft und ihrer möglichen Alternativen eingesetzt. Damit wird der Begriff für einen spezifischen Beobachtungsmodus der Moderne, genauer den kulturkritischen Beobachtungsmodus, produktiv gemacht. Semantik der Kulturkritik. Theoretischer und methodischer Bezugsrahmen II Der Begriff ›Kulturkritik‹ leitet sich aus dem Kultur-Begriff einerseits und dem Kritikbegriff andererseits ab – beide Begriffe erhalten ihrerseits ihre semantische Kontur im Verlauf der europäischen Aufklärung.129 Die Geburt des modernen Kultur-Begriffs wird begriffshistorisch gemeinhin auf den Moment angesetzt, wo das Wort bei Samuel Pufendorf den Genitiv verliert.130 In allen seinen für das moderne Europa wesentlichen Ausprägungen liege der Kultur-Begriff dann mit Rousseau und seiner im »Discours sur les sciences et les Arts« negativ ausfallenden Antwort auf die 1750 von der Acad8mie de Dijon gestellten Frage, ›si la r8tablissement des Sciences & des Artes a contribu8 / 8purer les mœurs‹ (›Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, 129 Vgl. Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München 2007, S. 23. 130 Vgl. Baecker : Kultur, S. 512.

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die Sitten zu läutern?‹) vor.131 Der moderne Kultur-Begriff bezeichnet nachfolgend [s]achlich gesehen […] die Frage nach dem glücklichen oder unglücklichen Menschen, die im weiteren Verlauf zur Frage nach dem Menschen schlechthin generalisiert werden kann. Zeitlich gesehen, bezieht er sich unter dem Gesichtspunkt der Frage nach Fortschritt oder Verfall auf ein immer tiefer reichendes Bewußtsein von der Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft, Tradition und Moderne – mit der Konsequenz eines unklar werdenden Status der Gegenwart. Und sozial gesehen, lebt er davon, in den unterschiedlichen Epochen und Regionen menschlichen Zusammenlebens nach Vergleichsmaterial zu suchen, das die Frage zu beleuchten vermag, wie die Menschen ihr Verhalten, ihre Sprache und ihr Wissen und Denken im Verhältnis zueinander, das heißt im Bewußtsein ihrer Differenz untereinander, zu kultivieren vermögen.132

An diesem signifikanten Ereignis ist zunächst die Form der Fragestellung, die die Möglichkeit einer negativen Antwort impliziere, hervorzuheben; weiter der spezifische, auf (Kultur)Vergleich basierende Beobachtungstyp menschlichen Daseins; schließlich Rousseaus Antwortstrategie, die zum Muster eines intellektuellen Einspruchs wurde.133 Es ist kein Zufall, dass sowohl für den Begriff ›Kultur‹ im Allgemeinen als auch für die Kulturkritik im Speziellen Rousseaus erster Diskurs als historische Zäsur bestimmt wird: Kultur ist ab diesem Moment nicht mehr ohne Kulturkritik zu denken134 ; umgekehrt entsteht Kulturkritik damit in genau dem Moment, in dem auch der Kultur-Begriff in seiner modernen Form vollständig entwickelt ist. Auch wenn der moderne Kultur-Begriff Kulturkritik gleichermaßen einschließt wie hervorbringt, sind der Begriff der Kultur und das Konzept der Kulturkritik nicht deckungsgleich. Zwar impliziert der Begriff Kultur bereits einen bestimmten Beobachtungstypus menschlicher Gesellschaft (Beobachtung und Vergleich, infolgedessen potentiell auch Einspruch gegen moderne Kultur), insofern Kulturkritik jedoch den Begriff der Kultur mit dem der Kritik eng führt, entsteht ein spezifischer Beobachtungsmodus menschlicher Gesellschaft. Wortgeschichtlich ist ›Kritik‹ zunächst auf das griechische »jqitij^« zurückzuführen.135 Im 15. und 16. Jahrhundert wird der Begriff – in expliziter Distanzierung von der scholastischen Tradition des Mittelalters – unter Rückgriff auf die Antike wieder aufgegriffen, zunächst jedoch relativ unabhängig von131 So Dirk Baecker in seiner begriffshistorischen Aufarbeitung in den »Ästhetischen Grundbegriffen« (vgl. ebd., S. 516). 132 Ebd., S. 517. 133 Vgl. ebd., S. 516/517. 134 Vgl. ebd., S. 521. 135 Holzhey, Helmut: Kritik. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel/Stuttgart 1976, Band 4: I – K. Spalte 1249–1282, hier Spalte 1249.

Geschichte und Konzeptualisierung eines Beobachtungsmodus der Moderne

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einander in den Wissenschaftsdisziplinen der Philologie, der Logik und der Ästhetik.136 Die begriffsgeschichtlich entscheidende Zäsur ist auf das 17. Jahrhundert zu datieren, in dem eine Verwendung des Begriffs über die Disziplinengrenzen hinweg, eine Generalisierung des Kritik-Begriffs, zu verzeichnen ist.137 Diese erstreckt sich erstens auf eine Generalisierung des Anwendungsbereichs bis hin zu einer alles umfassenden Kritik, zeigt sich zweitens in einer »Generalisierung der Funktionen bis hin zur Funktion allgemeiner Aufklärung, drittens in einer Generalisierung des für Kritik zuständigen Subjekts bis hin zur Vernunft selber.«138 Fluchtpunkt dieser Entwicklung ist die kritische Philosophie Immanuel Kants.139 Der Kritikbegriff hat damit am Ende der Aufklärung »alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erreicht«140 – er umfasst nun nicht mehr nur Texte oder Kunstwerke, sondern erstreckt sich auch auf Institutionen wie Kirche, Staat und Gesellschaft.141 Damit steht der Kritikbegriff auch und gerade für die (wertende) Beobachtung von Gesellschaft, von Kultur, von Moderne bereit – es ist dies die Bedingung der Möglichkeit von Kulturkritik. Aus der semantischen Kontur der Begriffe Kultur und Kritik lässt sich eine Konzeptualisierung von Kulturkritik ableiten: Kultur ist zunächst das Beobachtete; Kritik markiert demgegenüber einen spezifischen Beobachtungsmodus, der auf das Ganze zielt. Kulturkritik kann insofern als spezifischer Beobachtungsmodus (oder mit Bollenbeck: Reflexionsmodus142) der Moderne reformuliert werden, der mit der Moderne entsteht und sich zugleich gegen die Moderne richtet. Er basiert auf Vergleich, Historisierung, Generalisierung und Selbstreflexivität in Bezug auf den Gegenstand; infolgedessen kann er nicht nur ›Kultur‹ in den Blick nehmen, sondern gerade auch ihre Alternativen. Historisch lassen sich entsprechend, das haben nicht zuletzt die beiden einschlägigen Monographien der letzten Jahre gezeigt143, zwei wesentliche Formen 136 Röttgers, Kurt: Kritik. In: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Band 2, F – K. Hamburg 1990, S. 889–898, hier S. 890. Vgl. auch ders.: Kritik. In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 7 Bände, Stuttgart 1972–1992. Band 3. Stuttgart 1982, S. 651–675. 137 Röttgers: Kritik, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, S. 891. 138 Röttgers: Kritik, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 651. 139 Vgl. Röttgers: Kritik, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, S. 892 sowie Röttgers: Kritik, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 651. 140 Röttgers: Kritik, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, S. 892. 141 Ebd., S. 892. 142 Vgl. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 10/11. 143 Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik; Konersmann, Ralf: Kulturkritik. Frankfurt/ Main 2008. Bollenbeck hat für seine Arbeit einen historischen Zugriff gewählt, er zeichnet die Geschichte der Kulturkritik ›von Rousseau bis Günther Anders‹ – so der Untertitel der Arbeit – nach. Konersmann hat dahingegen in seiner Monographie »Kulturkritik« einen systematischen Zugriff gewählt, fragt nach den Strukturmerkmalen des kulturkritischen

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unterscheiden: Ein weiter Begriff von Kulturkritik umfasst alle Klagen über falsche Entwicklungen, Sitten- und Werteverfall seit der Antike.144 Kulturkritik im engeren, modernen Sinn entsteht erst mit der Aufklärung und einer neuartigen Öffentlichkeit. Gemeinsam ist beiden Formen die Thematik; die entscheidende Differenz liege im neuen, zukunftsoffenen Zeitbewusstsein.145 Kulturkritik im modernen Verständnis setzt Historisierung ebenso wie Selbstreflexivität voraus146 – die Aufklärung bildet insofern den »Ermöglichungszusammenhang für die Kulturkritik der Moderne«147. Die motivierende Ausgangslage des kulturkritischen Denkens kann dann als eine »nicht mehr vermittelbare Diskrepanz zwischen hochgestimmten Erwartungen und ernüchternden Erfahrungen«148, die allgemeine Problemkonfiguration kulturkritischen Denkens als die »Entfremdung von sich selbst wie von der Gesellschaft und die schwierige Vermittlung von Individuum und Gesellschaft«149 in der Moderne bestimmt werden. Kulturkritik in diesem engeren Sinn ist »Reflexion in der veränderten Welt«150 – als solche begleite sie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als Dauerkommentar über die Zumutungen der Moderne den Gang der Moderne.151

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Diskurses und unterscheidet eine restitutive und eine postrestitutive Phase des kulturkritischen Diskurses. Vgl. auch die fundierte Sammelrezension zu beiden Werken von Clemens Albrecht: Rezension zu: Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik / Konersmann, Ralf: Kulturkritik. Frankfurt am Main 2008. In: H-Soz-Kult, 08. 08. 2008, http://www. hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-11106 (Abrufdatum 22. 09. 2015). Vgl. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 13. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 14; vgl. auch S. 25: Während der älteren Moral- und Sittenkritik ein Zeitbewusstsein, das mit dem Kollektivsingular Geschichte auch den Fortschritt entdecke, fehle und sie mit überkommenen Wertesystemen urteile, historisiere und verwerfe die moderne Kulturkritik solche Wertesysteme gerade: Mit der Aufklärung könne Geschichte als Prozess zunehmender Vervollkommnung bestimmt werden, Fortschritt infolge dessen auch innerweltliche Entwürfe erlauben – die Diagnose eines gesellschaftlichen Degenerationsverlaufs erhalte dadurch eine andere Zeitdimension (vgl. ebd.). Vgl. zur Verzeitlichung gesellschaftlicher Kulturreflexion auch Jung, Theo: Zeichen des Verfalls. Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2012, hier insb. Kapitel I »Kulturkritik als Modus kulturgeschichtlichen Denkens«, S. 55–122. Vgl. Bollenbeck, Georg: Kulturkritik: ein unterschätzter Reflexionsmodus der Moderne. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Nr. 137, 2005, S. 41–53, hier S. 48. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 22. Ebd., S. 11 unter Verweis auf Axel Honneth: Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie. In: ders. (Hrsg.): Pathologien des Sozialen. Die Aufgabe der Sozialphilosophie. Frankfurt/Main 1994, S. 9–70, hier S. 19. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 11. Konersmann: Kulturkritik, S. 14. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 11. Insofern sowohl Rousseau als auch Schiller mit Erwartungen der Aufklärung das eigene, vermeintlich aufgeklärte Zeitalter kritisieren, können sie als Vordenker der Kulturkritik gelesen werden (vgl. Konersmann: Kulturkritik, S. 16; Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 11 sowie Kapitel II zu Rousseau und Schiller, ebd., S. 22–110).

Geschichte und Konzeptualisierung eines Beobachtungsmodus der Moderne

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Dieser Beobachtungs- bzw. Reflexionsmodus der Moderne lässt sich dann hinsichtlich seiner unterschiedlichen Ebenen genauer konzeptualisieren. Georg Bollenbeck entwirft modellhaft ein Konzept der Kulturkritik, das auf die formalen Möglichkeitsbedingungen kulturkritischer Texte abzielt152 und als drei Teilaspekte erstens bestimmte Haltungen umfasst, zweitens Wertungs- und Wissensformen eines Denkmusters, mit dem Erfahrungen verarbeitet und Erwartungen artikuliert werden, und drittens bestimmte Rezeptions- und Wirkungseffekte. So nähmen Kulturkritiker erstens in der Regel die Haltung akademisch Randständiger ein, unterstellen sich keiner argumentativen Disziplinierung, richten ihre Texte an eine breite Öffentlichkeit und nehmen eine Schlüsselattitüde der allgemeinen rücksichtslosen Weltdeutung ein.153 Als Denkmuster, mit dem Wissen generiert werde, enthalte Kulturkritik zweitens eine wertende Differenz zwischen eingeschönter Vergangenheit, einem Ideal als normativem Punkt, einerseits und den schlechten Verhältnissen und Verhaltensweisen der Gegenwart andererseits; sie zielt ferner auf meta-politische Totalkonstruktionen ab und habe im Unterschied zur Zeitkritik ein Geschichtsbewusstsein »von langer Dauer«154 : Kulturkritik erwächst aus der wertenden Rekonstruktion unterschiedlicher zivilisatorischer Zustände; sie hinterfragt den Fortschritt des eigenen Zeitalters, lehnt die eigene Gegenwart mit Blick auf die Opfer der Individuen ab und sucht nach Auswegen in der Zukunft.155

Es ist dies ein triadisches Denken156, das Kulturkritik zugleich von einem Fundamentalpessimismus etwa eines Schopenhauer unterscheide. Kulturkritik ist insofern nie ausschließlich pessimistisch, sondern immer auch zukunftsoptimistisch. Schließlich kann Kulturkritik drittens impulsgebend für künstlerische Bewegungen oder handlungsmotivierend für die Suche nach einer anderen Moderne sein (Wirkungseffekte).157 Es handele sich bei den skizzierten Teilaspekten dann um Charakteristika, die nicht Wissen sind, die aber die Produktion und Präsentation von Wissen ermöglichen – und dies innerhalb historischer Zusammenhänge. So ist die 152 Ebd., S. 18. 153 Vgl. ebd., S. 19. Diese Haltung ist dem Textkorpus der Weltanschauungsliteratur ebenfalls zu eigen. 154 Vgl. ebd., S. 19/20, letzteres unter Verweis auf Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1969, S. 208. 155 Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 20. 156 Vgl. zum triadischen Geschichtsmodell um 1800 etwa das entsprechende Kapitel in Magdalena Boettcher : Eine andere Ordnung der Dinge. Zur Ästhetik des Schönen und ihrer poetologischen Rezeption um 1900. Würzburg 1998, S. 132–144. 157 Vgl. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 20.

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Modernereflexion. Kolonien in der Semantik der Kulturkritik

Stabilität des Reflexionsmodus konstitutiv für die Variabilität der einzelnen Entwürfe.158

Entsprechend diesem Verständnis von Kulturkritik »gibt [es] nicht die Kulturkritik, sondern es gibt unterschiedliche Kulturkritiken als textuelle Konkretisationen eines allgemeinen Reflexionsmodus«159. Kulturkritik bildet dann eine eigene Semantik aus. Es ist gerade ihre begriffliche Unbestimmtheit160, die »Evidenz ihrer Metaphern«161, die die Kulturkritik so unvermeidbar wie erfolgreich mache: Kulturkritik ist »ein disziplinenloses ›wildes‹ Denken, das Blickfelderweiterung«162 verspreche, dabei »nie sprachlos, aber oft begriffslos«163 sei. Diese These aufgreifend, hat sich die Forschung jüngst der Semantik der Kulturkritik gewidmet.164 Damit rücken gerade ihre Bilder und Metaphern in den Blick: »Wer Kulturkritik als Semantik verstehen will, der wird sich auch ihrer Visualität und der Eigenlogik ihrer Bilder stellen müssen […].«165 Insofern es nun nicht die eine Kulturkritik gibt, sondern historisch variable Kulturkritiken als unterschiedliche Realisierungen eines allgemeinen Beobachtungsmodus, ist auch die Semantik der Kulturkritik historisch variabel und kann als solche einer eigenen Untersuchung unterzogen werden. Eine der für die Kulturkritik um 1900 bedeutsamen Metaphern, das hat der begriffshistorische Abschnitt gezeigt, ist die ›Kolonie‹ – ihr gilt nachfolgend das Interesse.

Zwischen Verfallsdiagnose und Erlösungshoffnung. Signatur einer Epoche Kulturkritik, verstanden als spezifischer Beobachtungsmodus der Moderne und ihrer Alternativen, ist also kein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Neu ist im ausgehenden 19. Jahrhundert jedoch die Ausgangslage, vor deren Hintergrund sich das kulturkritische Denken entwickelt: Die gebildete Welt sieht sich mit der Diskrepanz zwischen den »Erwartungen an den Fortschritt und den ernüch158 159 160 161 162 163 164

165

Ebd., S. 18. Ebd., S. 16/17, Hervorhebung im Original. Das hat Bollenbeck in seiner »Geschichte der Kulturkritik« gezeigt, vgl. ebd., S. 9. Werber, Niels: Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Semantik der Kulturkritik. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 41. Jahrgang, Heft 161, 2011 [1], S. 5–12, hier S. 7. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 9. Ebd., S. 9. Vgl. etwa den von Niels Werber herausgegebenen Band »Semantik der Kulturkritik« (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 41. Jahrgang, Heft 161, 2011 [1]) sowie die Monographie »Zeichen des Verfalls. Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert« von Theo Jung (Jung: Zeichen des Verfalls). Werber : Einleitung, S. 7.

Geschichte und Konzeptualisierung eines Beobachtungsmodus der Moderne

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ternden Erfahrungen mit dem Fortschritt« konfrontiert.166 Dieses moderne Krisenbewusstsein nimmt, das hat die Forschung herausgestellt, allmählich die Form einer Verlaufskurve an: Beginnend mit der gescheiterten Revolution von 1848 und der fehlenden ›inneren‹ Reichsgründung nach 1870/71 ist das Krisenbewusstsein in den Gründerjahren zunächst aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung seiner Dramatik beraubt; um 1890 gelangen dann die ersten Zeichen eines Unbehagens an der modernen Kultur in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit, um 1900 steigt ein ›neuer Idealismus‹ zum Allheilmittel gegen die nun wahrgenommene Kulturkrise auf und mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs findet eine ›Globalabrechnung‹ mit der modernen Kultur statt.167 Um 1900 befindet sich die Kultur also, so die weit verbreitete Wahrnehmung, in der Krise. Für das Unbehagen an der modernen Kultur um 1900 ist ein antinomisch[es] Spannungsverhältnis […] zwischen fragmentarischer Erfahrung von Ganzheitlichkeit einerseits und dem offenbar unausrottbaren »Erlösungsbedürfnis« einer insbesondere durch den Siegeszug des ökonomischen und technischen Materialismus, die damit verbundene Veräußerlichung der menschlichen Existenz sowie die Erfahrung der modernen Massengesellschaft des großstädtischen Lebens geprägten Kultur andererseits168

charakteristisch. Dieses Krisenbewusstsein der Jahrhundertwende durchläuft seinerseits eine Entwicklung, die, abgesehen von einigen wenigen Vordenkern169, ab 1890 allgemein einsetzt, um 1900 zunehmend ästhetisch kultiviert wird und 166 Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 155, Hervorhebung im Original. Zwar argumentieren schon Rousseau und Schiller mit der Aufklärung gegen die Aufklärung, ist die mit der Aufklärung entstandene motivierende Ausgangslage der Kulturkritik die »nicht mehr vermittelbare Diskrepanz zwischen hochgestimmten Erwartungen und ernüchternden Erfahrungen« (ebd., S. 11 unter Verweis auf Honneth: Pathologien des Sozialen, S. 19). Bollenbeck stützt seine Argumentation jedoch darauf, dass Aufklärung als Selbstthematisierungsbegriff zwar bereits um 1800 im Kurs sinke, die Aufklärung als verlaufende Aktualität und noch zu erreichendes Ziel aber bis 1880 anerkannt bleibe (Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 155). Das 19. Jahrhundert ist im Übrigen durch eine »wachsende Akzeptanz des Fortschritts im Zeichen des Liberalismus« gekennzeichnet, aus dem eine »geschwächte motivierende Ausgangslage für kulturkritisches Denken« entsteht: »Daraus erklärt sich der Tatbestand, dass den beiden Vordenkern der Kulturkritik keine Fortdenker folgen. […] ›Vor‹ Nietzsche ist kein bedeutender Kulturkritiker auszumachen, der mit den Wertungs- und Ordnungsschemata des Reflexionsmodus inventiv denkt, der neue Erfahrungen zu einem totalisierenden Verfallsszenario arrangiert.« (Ebd., S. 115). 167 Vgl. Lichtblau, Klaus: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt/Main 1996, S. 25/26. 168 Ebd., S. 16, Hervorhebung im Original; vgl. hier insbesondere den Abschnitt »Fragmentierung und Erlösung« S. 13–36. Lichtblau weist zurecht darauf hin, dass dies keine neue Konstellation ist, sondern eine, die bereits um 1800 anzutreffen sei und die die kulturrevolutionären Innovationen der Frühromantik ermöglicht habe (vgl. ebd. S. 16). 169 Neben Nietzsche etwa Johann Jacob Bachofen und Jacob Burckhardt; vgl. ebd., S. 31.

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Modernereflexion. Kolonien in der Semantik der Kulturkritik

sich »um so unvermittelter und brachialer im Kanonenlärm von 1914–1918 sowie im darauffolgenden Kulturkampf von 1918–1933 öffentlichkeitswirksam Geltung« verschafft170. Kulturkritischer Vordenker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist zweifelsohne Friedrich Nietzsche. Er hat seinerseits maßgeblich auf das kulturkritische Denken der Jahrhundertwende gewirkt, das neben den Schriften Paul de Lagardes und Julius Langbehns auch die eher auf die Lebenspraxis ausgerichtete Lebensreformbewegung umfasst. Sowohl die Schriften Lagardes und Langbehns, als auch die Lebensreform sind dann einer säkularisierten Erlösungslehre verpflichtet, die dem triadischen Denkmuster der Kulturkritik entspricht, das bei Nietzsche bereits brüchig geworden war.171 Inhaltlicher Ausgangspunkt der kulturkritischen Verfallsdiagnosen Lagardes und Langbehns ist die moderne Kontingenzerfahrung, der Verlust von Sinnhaftigkeit: Die Welt ist unübersichtlich geworden. Die Schriften Lagardes und Langbehns, das sei an dieser Stelle bereits angedeutet, teilen hinsichtlich ihrer Beobachtung von Gesellschaft die Frontstellung gegen die Moderne, die sich aus Verfallsdiagnosen speist, welche sich ihrerseits aus der Basisdichotomie von Vormoderne und Moderne ableiten. Vor dem Hintergrund der negativen Gegenwartsanalysen zählt das Bestreben, die Zukunft neu und anders gestalten zu wollen, dann zu den grundsätzlichen Gemeinsamkeiten weltanschaulich-konservativer und lebensreformerischer Kulturkritik um 1900. Schon Lagarde stellt seiner kulturpessimistischen Ausgangsdiagnose vom »Verfalle Deutschlands«172 den Vor170 Ebd., S. 31. 171 Vgl. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 191. Nietzsches Deutung der Griechen, genauer der Welt des Hellenischen und der dionysischen Lebensbejahung, sei für ihn normativer Orientierungspunkt, von dem aus er die Geschichte als Verfall des Geistes beschreiben könne. Die Gegenwart werde demgegenüber als ›Gesamtentartung der Menschheit‹ wahrgenommen, mit diagnostischer Schärfe sehe Nietzsche die Deformationspotentiale des Industriekapitalismus, werte die industrielle Kultur als kompaktes lebensfeindliches Ganzes (vgl. ebd., S. 156); in diese Gegenwartsanalyse gehören dann eine Reihe kulturkritischer Einzeldiagnosen. Insgesamt unterdrücke die Zivilisation anders als bei den Griechen die lebensbejahende Grausamkeit des Menschen. Zwar kann es nun, weil »das verlorene Arkadien sich lediglich kultisch-ästhetisch manifestiert, […] kein künftiges Elysium als gesellschaftlichen Gegenentwurf geben« (ebd., S. 172); dennoch ist, so interpretiert wenigstens Bollenbeck das Gedankenexperiment des Übermenschen, als Ausweg die Vorstellung einer möglichen geglückten Identität für wenige Auserlesene möglich – hier liegen die Restbestände des triadischen Denkens der Kulturkritik. – Die weltanschauliche Kulturkritik greift auf zentrale Argumente der Kulturkritik Nietzsches ebenso wie auf den emphatischen Lebensbegriff, der in den mentalen Haushalt der Jahrhundertwende eingegangen ist, zurück, gerade Lagarde und Langbehn bleiben hinsichtlich der Grundanlage ihrer Entwürfe jedoch zugleich erkennbar hinter Nietzsche zurück. 172 Lagarde, Paul de: Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik. In: ders.: Deutsche Schriften, Gesamtausgabe letzter Hand. Göttingen 1920 (5. Aufl.), S. 18–39, hier S. 19; vgl. auch ebd., S. 25: »[…] im Vaterlande [sieht es] sehr schlecht [aus]«. – Es ist dies die Ausgabe der »Deutschen Schriften« Lagardes, die den weitesten Verbreitungsgrad be-

Geschichte und Konzeptualisierung eines Beobachtungsmodus der Moderne

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schlag einer Regeneration durch Germanisierung entgegen. Die Verfallsdiagnosen Julius Langbehns173 – am Beginn des Textes steht eine zutiefst kulturpessimistische Ausgangsdiagnose: »Es ist nachgerade zum öffentlichen Geheimnis geworden, daß das geistige Leben des deutschen Volkes sich gegenwärtig im Zustande des langsamen, Einige meinen auch des rapiden Verfalls befindet«174 – werden ebenfalls durch eine Erlösungshoffnung, die auf der Figur Rembrandts ruht, ergänzt. Die Lebensreform beinhaltet ihrerseits im Kern eine säkularisierte gnostisch-eschatologische Erlösungslehre. Ihr dialektisches Geschichtsmodell verläuft nach dem Dreierschritt Paradies – Sündenfall – Erlösung, wobei die Abkehr von den natürlichen Grundlagen des Daseins als der fundamentale Sündenfall angesehen wurde. Die quasi-naturgesetzliche Struktur dieser Dialektik bedingte den Anspruch exakter Extrapolation auf die zukünftige Entwicklung.175

Fidus »Lichtgebet« ist ebenso wie August Engelhardts »Kokosnussevangelium« ein paradigmatisches Beispiel für die ersatzreligiösen Züge der Reformbewegungen. Das starke Sendungsbewusstsein nicht nur der Lebensreform – der »Lebensreformer, paradigmatisch der Vegetarier als sein Prototyp, fühlte sich dazu aufgerufen, die ›irrenden Mitmenschen‹ zu bekehren«176 –, sondern auch konservativer Kulturkritiker ist religiösem Missionsbewusstsein vergleichbar. Im Unterschied zur christlichen Religion erwartet die Lebensreform

173

174 175 176

sitzt (vgl. Sieg, Ulrich: Die Sakralisierung der Nation: Paul de Lagardes »Deutsche Schriften«. In: Baumann, Werner/Sieg, Ulrich [Hrsg.]: Antisemitische Geschichtsbilder. Essen 2009, S. 103–120, hier S. 106); »als ›philologisches Minimum‹ werden zudem der Titel von Lagardes Abhandlungen und ihr Abfassungs- bzw. Ersterscheinungstermin angegeben« (ebd.). Langbehns im Rembrandt-Buch entfaltete konservativ-weltanschauliche Kulturkritik muss als doppelte Reaktion auf eine kulturpessimistische Sicht auf das geistige und kulturelle Leben in Deutschland einerseits und die politische Lage Deutschlands nach der deutschen Reichsgründung andererseits verstanden werden. Die Grundkonstellation, gegen die sich der Text in aller Deutlichkeit wendet, ist die starke Stellung Preußens nach der Reichseinigung; zugleich wird der Verfall von Bildung und Kultur an die politischen Verhältnisse im Reich gebunden. Das zentrale Argument bei Langbehn ist, dass die Kultur nicht auf der Höhe der politischen Entwicklungen des deutschen Reiches sei: »Den Bewohnern eines Reiches, wie das neuerstandene deutsche, steht es sicherlich nicht an, sich achselzuckend als Epigonen zu bekennen und auf einen Fortschritt in den eigentlich entscheidenden Fragen des geistigen Lebens zu verzichten.« ([Langbehn]: Rembrandt als Erzieher, S. 1/2). Ebd., S. 1. Krabbe, Wolfgang R.: Lebensreform/Selbstreform. In: Kerbs, Diethart/Reuleck, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Wuppertal 1998, S. 73– 75, hier S. 74. Krabbe, Wolfgang R.: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode. Göttingen 1974, S. 169.

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Modernereflexion. Kolonien in der Semantik der Kulturkritik

als säkularisierte Heilslehre […] die Erlösung jedoch nicht im Jenseits. Sie strebte eine Veränderung der Gesellschaft an, die Optimierung der menschlichen Lebensverhältnisse. […] Sie […] strebte nach religiösem Vorbild die Änderungen des einzelnen an, um durch Multiplikation schließlich die Gesellschaft insgesamt nach ihren Vorstellungen umgeformt zu haben.177

Die kulturkritischen Erlösungshoffnungen der Jahrhundertwende stehen damit am Ende des tiefgreifenden Transformationsprozesses, den der Erlösungsbegriff innerhalb des größeren Kontextes der Säkularisierung im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts durchläuft: Wie andere Begriffe auch wird er aus einem genuin christlichen Kontext gelöst und in andere Bereiche menschlichen Denkens und Handelns übertragen. Der vermutlich erste, der in Europa die umfassende Entfaltung einer nicht-konfessionellen und außerhalb des verfassten Christentums stehenden Erlösungsidee vorgenommen habe, ist Schopenhauer178 ; mit Wagner sei in der Folgezeit ein Zuwachs an Ausdrucksmitteln der Erlösungsidee zu konstatieren179, mit und durch Nietzsche gerate der Erlösungsbegriff in eine Krise180. Gegen Ende des Jahrhunderts zeichne sich schließlich das Bild einer grundlegenden Neuformation ab, in der wesentliche Elemente der christlichen Tradition keine beherrschende Rolle mehr spielten.181 Damit ist zugleich der Übergang zu den säkularen Ersatzbildungen für Religion im langen 19. Jahrhundert und insbesondere im Kaiserreich markiert, zu denen auch die in der vorliegenden Arbeit in den Blick genommenen Reformbestrebungen mit ihren Erlösungslehren gehören, seien es konservative, seien es lebensreformerischprogressive. Neben einem säkularisierten Erlösungsdenken ist das Weltanschauungsdenken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein weiterer wichtiger Bezugspunkt für das kulturkritische Denken der Jahrhundertwende. Der Begriff der ›Weltanschauung‹ ist auf den Deutschen Idealismus zurückzuführen, der mit diesem Konzept seinerseits auf die durch die Entwicklung der Wissenschaften provozierte Frage reagiert, ob und wie die Welt in ihrer raumzeitlichen Unendlichkeit von der Einbildungskraft überhaupt noch vorgestellt werden könne und wieso Individuen einen gemeinsamen Weltbezug haben.182 Weltanschauung im emphatischen Sinn meine dann die fundierende Perspektive, von der aus 177 Krabbe: Lebensreform/Selbstreform, S. 74. 178 Vgl. Osthövener, Claus-Dieter : Erlösung. Transformationen einer Idee im 19. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 138/139. 179 Vgl. ebd., S. 176. 180 Vgl. ebd., S. 244. 181 Vgl. ebd., S. 1. 182 Vgl. Thom8, Horst: Weltanschauung. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bände, Basel 1971–2007, Band 12: W – Z. S. 453–460, hier S. 453.

Geschichte und Konzeptualisierung eines Beobachtungsmodus der Moderne

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Wissensmaterial gedeutet wird; zugleich entspringe ›Weltanschauung‹ einem kreativen Akt, sie sei mehr oder weniger offen auf ein Subjekt zurückzuführen183. Der Begriff ›Weltanschauung‹ sei dabei insofern paradox, als das Ganze der Welt gerade nicht zur Anschauung gebracht werden kann.184 Weder bei Kant, auf den der Begriff zurückzuführen sei, noch in den nachkantischen idealistischen Systemen entspreche dem Begriff der ›Weltanschauung‹ dabei eine ›Sache‹, könnten aus ihm Folgerungen über das Universum und den Zusammenhang der Dinge abgeleitet werden. Das ändere sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Bei den Antiidealisten dominiere die Vorstellung, dass ›Weltanschauung‹ eine ›Sache‹, die angeschaut werden kann, zugeordnet werden könne, die Vorstellung von Welt also mit dem ›Ansichsein von Welt‹ korreliere.185 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchlaufe der Begriff eine Transformation, bezeichne nun Nachfolgekonzepte der Systemphilosophie; zu dieser Zeit werde ›Weltanschauung‹, so Thom8, zudem zum Schlüsselbegriff des Intellektuellendiskurses und verliere durch die breite Verwendung zugleich an Präzision. Es entstehe der Texttypus der ›Weltanschauungsliteratur‹.186 Ihr komme die Funktion zu, metaphysischen Trost zu spenden oder soziale Ordnung zu begründen187; ihr Erfolg erkläre sich damit, dass sie angesichts schwindender Bedeutung von Religion, Skepsis gegenüber den Systemen des philosophischen Zeitalters und der Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften die Aufgabe der ›Sinnproduktion‹ übernehme188. Die Konjunktur des Begriffs markiere eine Phase im Prozess der Modernisierung: Der Weltanschauungsbedarf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei als Reaktion auf die Pluralität miteinander konkurrierender und einander ausschließender Meinungen wie sie fortgeschrittene moderne Gesellschaften kennzeichnet zu begreifen. Inhaltlich liegen konservative und lebensreformerische Kulturkritik im Übrigen weniger weit auseinander, als man auf den ersten Blick annehmen würde. Es gibt zahlreiche thematische Überschneidungen: Langbehn etwa fordert auf den letzten Seiten seines Rembrandtbuches, dass man die moderne Kleidung

183 Thom8, Horst: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp. In: Danneberg, Lutz/Vollhardt, Friedrich (Hrsg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen 2002, S. 338–380, hier S. 342. 184 Ebd., S. 353. 185 Vgl. Thom8, Horst: Der Blick auf das Ganze. Zum Ursprung des Konzeptes ›Weltanschauung‹ und der Weltanschauungsliteratur. In: Frick, Werner/Komfort-Hein, Susanne/ Schmaus, Marion/Voges, Michael (Hrsg.): Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne: Festschrift für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag. Tübingen 2003, S. 387–401, hier S. 390/391. 186 Vgl. Thom8: Weltanschauung, S. 456. 187 Vgl. Thom8: Der Blick auf das Ganze, S. 392. 188 Vgl. Thom8: Weltanschauung, S. 456.

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Modernereflexion. Kolonien in der Semantik der Kulturkritik

dem »natürlichen Wuchs des deutschen Menschen wieder anpassen«189 solle, widmet einen ganzen Abschnitt der »Körperpflege«190, spricht sich im Namen der »Volksgesundheit«191 für Badeanstalten und gegen Wirtshäuser aus192. Die Nähe zu Vorstellungen etwa der Kleidungsreform oder der Anti-Alkoholbewegung ist deutlich. Dennoch sind konservative und lebensreformerische Kulturkritik nicht deckungsgleich, setzen vielmehr unterschiedliche Akzente in der Reflexion der Moderne. So weiß zwar auch die konservative Kulturkritik um die grundsätzliche Unhintergehbarkeit der Moderne – es gehört zu ihren Paradoxien, dass sie ihre Entwicklungen dennoch konsequent ablehnt und sich in ihren Alternativentwürfen an der Vergangenheit, etwa an organischen Lebensformen, orientiert. Dahingegen suchen progressivere Positionen etwa der Lebensreformbewegung alternative Entwürfe, die den unhintergehbaren Prozess der Modernisierung akzeptieren, aber korrigieren. Konservative und lebensreformerische Kulturkritik teilen insofern wesentliche Grundlagen ohne dabei zusammenzufallen. Darüber hinaus sind sie wechselseitig aufeinander bezogen – »[o]ffenbar steigern sich Weltanschauungsbedürfnis, Weltanschauungsangebote und Reformpraxen gegenseitig.«193 Allen gemeinsam ist letztendlich, dass sie Ausdruck eines bestimmten Krisenbewusstseins des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind, das sie zugleich in den Blick nehmen. Das Spannungsverhältnis zwischen Verfallsdiagnosen und Erlösungshoffnung deutet es an: Man ist um 1900 mit einem extrem heterogenen Spektrum von kulturpessimistischen und reformoptimistischen Tendenzen konfrontiert. Insbesondere letztere sind dabei lange vernachlässigt und erst in jüngster Zeit als eigenständige und wichtige Tendenz wahrgenommen und untersucht worden: Während es eine breite Forschung zum Kulturpessimismus gibt, ist die Anzahl an Studien zum Kulturoptimismus eher gering.194 In der Literaturwis189 190 191 192 193

[Langbehn]: Rembrandt als Erzieher, S. 298. Ebd., S. 296–299. Ebd., S. 297. Ebd., S. 297. Bollenbeck, Georg: Weltanschauungsbedarf und Weltanschauungsangebote um 1900. Zum Verhältnis von Reformoptimismus und Reformpessimismus. In: Buchholz, Kai/Latocha, Rita/Peckmann, Hilke/Wolbert, Klaus (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bände, Darmstadt 2001, Band 1, S. 203–207, hier S. 206. 194 Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive hat Stefan Breuer in seiner Studie zur Position Eugen Diederichs im Ideologiespektrum der wilhelminischen Ära deutliche Zweifel an einem ausschließlich auf kulturpessimistische Tendenzen ausgerichteten Interpretationsmuster angemeldet (vgl. Breuer, Stefan: Kulturpessimist, Antimodernist, konservativer Revolutionär? Zur Position von Eugen Diedrichs im Ideologiespektrum der wilhelminischen Ära. In: Ulbricht, Justus H./Werner, Meike G. [Hrsg.]: Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen-Diederichs-Verlag im Epochenkontext 1900–1949. Göttingen 1999, S. 36–59, hier insb. S. 37); ähnliches merkt Hans-Christof Kraus in seinem Aufsatz zu

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senschaft ist diese Diskrepanz besonders scharf.195 Das mag auch daran liegen, dass es ›den‹ Lebensreformautor oder ›den‹ Lebensreformroman nicht gibt, man es also mit einem eher diffusen Forschungsgegenstand zu tun hat.196 Dass die Lebensreform auf die Seite der kulturoptimistischen Strömungen gehört, ist hinlänglich bekannt. Dass auch Paul de Lagarde und Julius Langbehn hier einzuordnen sind, ist weniger selbstverständlich, auch wenn es in den letzten Jahren einzelne Stimmen gegeben hat, die hierauf hingewiesen haben.197 Insofern sowohl Paul de Lagarde als auch Julius Langbehn zwar als ihren Ausgangspunkt eine wesentlich kulturpessimistische Perspektive auf die deutsche Gegenwart ansetzen, sie aber beide in ein dialektisches Geschichtsmodell und eine Erlösungslehre einlassen, sind weder Lagarde noch Langbehn Kulturpes»Niedergang oder Aufstieg? Anmerkungen zum deutschen Kulturoptimismus um 1900« (in: Geschichte für heute, Jg. 3, H. 1 2010, S. 44–56, hier S. 53) an. Vgl. auch Bollenbeck: Weltanschauungsbedarf und Weltanschauungsangebote um 1900. Das »Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933« (hrsg. von Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke, Wuppertal 1998) sowie der zweibändige Ausstellungskatalog zur Darmstädter Ausstellung »Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900« (hrsg. von Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann und Klaus Wolbert, Darmstadt 2001) geben einen Überblick über die Breite der reformorientierten Bewegungen der Jahrhundertwende und ihre Wirkung auf den Kulturbereich. Zur Lebensreform insgesamt insbesondere Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform; Krabbe: Lebensreform/Selbstreform; daneben eine Reihe an Einzelstudien, so zuletzt etwa der Sammelband »Lebensreform. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht« (hrsg. von Catherine Repussard und Marc Cluet, Tübingen 2013). 195 Für den Bereich des Kulturpessimismus, des Fin de SiHcle, der Dekadence gibt es bekanntlich zahlreiche Studien; die Anzahl an Arbeiten zum Kulturoptimismus ist dahingegen auch hier eher überschaubar. Neben der umfassenden Monographie von Björn Spiekermann zu »Literarische Lebensreform um 1900« (Würzburg 2007), die sich mit dem Frühwerk Richard Dehmels auseinandersetzt und insofern literaturhistorische Fragestellungen in den Mittelpunkt stellt, gibt es nur wenige Aufsätze, die sich mit ›Literatur und Lebensreform‹ auseinandersetzen. Ein Beispiel ist Sprengel, Peter : Nacktkultur mit Püriermaschine. Literatur und Lebensreform. In: Buchholz, Kai/Latocha, Rita/Peckmann, Hilke/Wolbert, Klaus (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bände, Darmstadt 2001. Band 1, S. 307–313; Müller, Hermann: Propheten und Dichter auf dem Berg der Wahrheit. Gusto Gräser, Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann. In: Buchholz, Kai/Latocha, Rita/Peckmann, Hilke/Wolbert, Klaus (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bände, Darmstadt 2001. Band 1, S. 321–314. 196 Dieses Desiderat der Forschung wurde in letzter Zeit offenbar erkannt – vgl. den Call for Papers für einen Sammelband zum Thema »Die Literatur der Lebensreform« von März 2015 (abrufbar unter anderem unter http://www.germanistik-im-netz.de/wer-was-wo/45309, Abrufdatum 22. 09. 2015). Der Band ist 2016 erschienen, vgl. Carstensen, Thorsten/Schmid, Marcel (Hrsg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900. Bielefeld 2016. 197 So etwa Breuer, Stefan: Konservatismus oder Existenzialismus? Anmerkungen zu »Rembrandt als Erzieher«. In: Andres, Jan/Braungart, Wolfgang/Kauffmann, Kai (Hrsg.): Nichts als die Schönheit. Ästhetischer Konservatismus um 1900. Frankfurt/Main 2007, Seite 127– 145.

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simisten – können es als Kulturkritiker im Sinn der vorliegenden Arbeit auch gar nicht sein, nimmt Kulturkritik doch immer auch die Alternativen moderner Kultur und Gesellschaft mit in den Blick, beinhaltet folglich immer einen zukunftsoptimistischen Anteil. Der Begriff der Kolonie in der Kulturkritik der Jahrhundertwende. Zum (Text)Korpus der Semantikanalyse Der Begriff der ›Kolonie‹ wird im kulturkritischen Denken der Jahrhundertwende nun dort aufgegriffen, wo es gilt, alternative Gesellschaftsformen in den Blick zu nehmen und in die Lebenspraxis zu übertragen. Konservative ebenso wie lebensreformerische Kulturkritik greifen die Begriffe Kolonie und Kolonisation in ihren Schriften für ihre Alternativentwürfe zur Moderne auf. Die Konjunktur der Begriffe Kolonie und Kolonisation in der Semantik der Kulturkritik ist dabei innerhalb der skizzierten Verlaufskurve des Krisenbewusstseins der Jahrhundertwende zu verorten. Wegbereiter und Vordenker für die Aufnahme des Kolonie-Begriffs in die Semantik der Kulturkritik ist Paul de Lagarde: In seinen »Deutschen Schriften« weist er der (Grenz)Kolonisation neben politischen, militärischen und wirtschaftlichen Zielen gerade auch die Funktion einer kulturellen Regeneration Deutschlands zu. Ist der Begriff selbst bei Lagarde noch wesentlich machtpolitisch konnotiert, löst Julius Langbehn ihn 1890 fast vollständig von der machtpolitischen Bedeutungsdimension ab und entwickelt die kulturkritische Dimension systematisch. Sein Entwurf einer geistig-kulturellen Kolonisation des deutschen Volkes ist als Gegenentwurf zu den anfänglichen Verfallsdiagnosen des Rembrandtbuches konzipiert. Dieser wesentlich kulturkritische Begriff wird dann von der ›ästhetischen Opposition‹198 gegen die Moderne aufgegriffen – adressiert sind hier sowohl Künstlerund Dichterkolonien, als auch die im engeren Sinn literarische Moderneopposition der Weltanschauungsromane. Um 1900 schließlich greift die soziale Opposition (Koloniegründungen der Lebensreform) den Begriff auf. Untersucht werden nachfolgend zunächst die ›Vordenker‹ der weltanschaulichen Kulturkritik (Paul de Lagarde, Julius Langbehn), um im Anschluss daran die ästhetischen (Heimatkunstbewegung) und sozialen (Lebensreform) ›Resonanzeffekte‹ anhand ausgewählter Programmschriften genauer in den Blick zu nehmen. Zu den theoretischen Schriften der Lebensreform gehören Theodor Hertzkas Freiland-Entwurf, Franz Oppenheimers Abhandlung »Freiland in Deutschland«, Theodor Fritschs »Die Stadt der Zukunft« und Gustav Landauers »Durch Absonderung zur Gemeinschaft«. Charakteristisch ist darüber hinaus, dass es sich um eine Bewegung handelt, die ihre Ideen in die Lebenspraxis 198 Vgl. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 207.

Geschichte und Konzeptualisierung eines Beobachtungsmodus der Moderne

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1878/1881

Paul de Lagarde: »Deutsche Schriften«

1890

Julius Langbehn: »Rembrandt als Erzieher«

1890

Theodor Hertzka: »Freiland. Ein sociales Zukunftsbild«

1890

Gründung Friedrichshagener Dichterkolonie

ab 1890er Jahre

Programmatik der Heimatkunst

1893

Gründung »Obstbau-Kolonie Eden e.G.m.b.H.« in Berlin

1894

Scheitern von Theodor Hertzkas Kenia-Expedition

1895

Franz Oppenheimer: »Freiland in Deutschland«

1895

Gründung der »Freien Scholle« (Berlin) unter Beteiligung Gustav Lilienthals

1896

Theodor Fritsch: »Die Stadt der Zukunft«

1900

Gustav Landauer: »Durch Absonderung zur Gemeinschaft«

1900

Gründung der Lebensreform-Kolonie Monte Verità (Ascona)

1900

Gründung »Neue Gemeinschaft« (Berlin Schlachtensee)

1901

Gustav Landauer: »Anarchistische Gedanken zum Anarchismus«

1902

Gründung der »Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft« (DGG)

1908

Gründung des »Sozialistischen Bundes«

1908/09

Gründung der Siedlungs-Gesellschaft »Heimland« (1908) und der völkischen Siedlung »Heimland« (1909)

1909

Gartenstadtkolonie Hellerau

Abbildung 3: Zeittafel ausgewählter theoretischer Schriften (Jahr der Ersterscheinung) und Koloniegründungen der Lebensreform

überträgt, die die lebenspraktische Erprobung vor die Theoriebildung stellt (vgl. auch Abb. 3 zu den konkreten Koloniegründungen) – die Lebensreform steht mit ihren Projekten besonders deutlich für die Tendenz der Jahrhundertwende, Entwürfe einer alternativen Lebenswelt auch tatsächlich in der Lebenspraxis umsetzen zu wollen.199

199 Darauf hat bereits Viktor Zˇmegacˇ hingewiesen: »Zu den bemerkenswerten Erscheinungen jener Zeit, in denen man heute erneut Impulse von beträchtlichem Aktualitätswert entdeckt, zählt der Versuch, in der Erfahrungswelt wie auch in der Kunst Lebensformen zu entwerfen, die eine Alternative sowohl zu den gesellschaftlichen Traditionen des 19. Jahrhunderts als auch zur modernen industriellen Lebenswelt darstellen.« (ders.: Zum literarhistorischen Begriff der Jahrhundertwende. In: ders. [Hrsg.]: Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Königstein/Ts. 1981, S. IX–LI, hier S. XXVII).

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Modernereflexion. Kolonien in der Semantik der Kulturkritik

III.2 ›Kolonien‹ und ›Kolonisation‹ in der Kulturkritik. Eine Wortkarriere (Grenz-)Kolonisation und kulturelle Regeneration. Paul de Lagarde In seinen kulturkritischen »Deutschen Schriften«200 nimmt Paul de Lagarde den (Grenz)Kolonialismus für eine kulturelle Regeneration Deutschlands in Dienst. Voraussetzung hierfür ist die Beobachtung und Beschreibung moderner Gesellschaft als Ausgangspunkt und Gegenbild. Sie ist über die zugrunde liegende Leitopposition einer negativ konnotierten industriellen Moderne mit ihren »künstliche[n] Zustände[n]: enge[n] Stuben, Wirthshäuser[n], Concertsääle[n], Theater[n]«201 auf der einen Seite und der positiv konnotierten Vormoderne mit dem rückwärtsgewandten Ideal des Kleinhandwerks und Bauerntums auf der anderen Seite organisiert: »Gebt die Hoffnung ja auf, die sociale Frage aus der Welt zu schaffen, was dasselbe ist, gebt die Hoffnung auf, Deutschland glücklich zu sehen, so lange ihr die Industrie an Stelle des Handwerks habt […].«202 Erkennbar wird die Frage nach dem glücklichen oder unglücklichen Menschen verhandelt, die zur sachlichen Dimension des modernen Kultur-Begriffs gehört. Explizit wendet sich Lagarde dann mit den im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts üblichen Argumenten gegen die Industrie, will etwa zeigen, »[…] daß die Industrie durchaus nicht so werthvoll ist, wie die LouisPhilippisten sie erachten«203, dass sie »zerstörend auf den Charakter derer, welche sie zu unnöthigen Ausgaben verleitet, so noch viel mehr auf den Charakter derer, welche sie in ihren Dienst nimmt«204, wirkt, sie ruhe »wesentlich auf 200 Vgl. zu Lagardes Kulturkritik unter anderem Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, hier den Abschnitt »Lebensreform, ästhetische Opposition gegen die Moderne, Weltanschauungsliteratur (Langbehn, Lagarde, Rathenau)«, S. 206–215; daneben zu Lagarde im Allgemeinen früh und lange prägend Stern, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. München 1986; dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass auch Stern die Reformvorschläge der kulturkritischen Denker mit ihren utopischen Zügen gesehen hat (vgl. etwa ebd., S. 7, S. 164, S. 174). Zuletzt zu Lagarde insb. Sieg: Die Sakralisierung der Nation; ders.: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus. München 2007 sowie die einschlägigen Lexikonartikel von Heiligenthal, Roman: Paul de Lagarde. In: Gerhard Müller (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 20. Berlin/New York 1990, S. 375–378 und Paul, Ina Ulrike: Paul Anton de Lagarde. In: Puschner, Uwe/Schmitz, Walter/Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918. München u. a. 1996, S. 45–93. 201 Lagarde: Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik, S. 32. 202 Lagarde, Paul de: Ueber die gegenwärtige Lage des deutschen Reichs, ein Bericht. In: ders.: Deutsche Schriften, Gesamtausgabe letzter Hand. Göttingen 1920 (5. Aufl.), S. 106–182, hier S. 116. 203 Lagarde: Ueber die gegenwärtige Lage des deutschen Reichs, ein Bericht, S. 115. 204 Ebd., S. 115.

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Theilung der Arbeit, und darum raubt sie ihren Sklaven die Freude an der Arbeit«205, kurz: »der Mensch will Ganzes haben«206. Modernisierung wird beschrieben als Verlust vorgängiger Ganzheitlichkeit, als Fragmentierung, auf die mit dem Wunsch nach Wiederherstellung von Totalität reagiert wird. Diese Gesellschaftsbeschreibung, die sich aus einem bunten Potpourri verfallskritischer Diagnosen den religiösen, kulturellen und politischen Bereich betreffend zusammensetzt, ist dann in das Geschichtsmodell der Kulturkritik eingelassen. Angenommen wird zunächst ein vermeintlich vorgängiger, ideal gedachter Ursprungszustand, bei Lagarde unter Rekurs auf ein vorgängiges (zugleich expansionistisch angelegtes207, sic!) Germanentum, das allerdings insgesamt im Wesentlichen im Dunklen bleibt; es dient in erster Linie als Bezugspunkt für eine (wieder) auszubildende »germanische Anschauung«208, ein »germanisches Staatswesen«209 und ähnliches mehr. Ausgehend hiervon werden dann Alternativen der modernen Gesellschaft in den Blick genommen. Entsprechend dieser grundsätzlichen Anlage sind die »Deutschen Schriften« bereits im Vorwort auf die Zukunft ausgerichtet: »Es ist nunmehr an der Zeit, weiter fortzuschreiten«210, und: »[Die Deutschen Schriften] sollen gar nicht Gedanken der Gegenwart, sondern Gedanken der Zukunft sein.«211 Hinter dieser Beobachtung von Moderne steht das kulturkritische Geschichtsmodell. An der Gelenkstelle zwischen kulturpessimistischer Gegenwartsdiagnose und kulturoptimistischer Zukunftshoffnung wird dann das Konzept des (Grenz)Kolonialismus eingeführt. Lagarde formuliert sein Gegenprogramm zur kulturpessimistischen Ausgangsdiagnose zunächst sehr allgemein (»Deutschland kann nur einig werden durch gemeinsame Arbeit, vorausgesetzt, daß diese Arbeit die ganze Nation in Anspruch nimmt«212), um wenig später eben diese 205 Ebd., S. 115. 206 Ebd., S. 115. 207 »Wo Germanen hingekommen sind, haben sie die Aristokratie [also das Gesellschaftsideal Lagardes, dessen Verfall beklagt wird, ASB] mit sich gebracht. Nicht weil sie als Eroberer kamen, und als solche Herren über Eroberte wurden: sie haben Eroberte in ihrer Mitte aufgenommen wie in Frankreich die celtischen Vendimes: sie haben ja aristokratisch regiert auch wo sie nicht in dem Sinne wie in Francien, Langobardien, Gothalanien Eroberer waren, zwischen Rhein und Saale und Böhmerwald. Sie haben aristokratisches Regiment geführt, weil sie königlich gesinnt waren, und es das Königthum leugnen heißt, es nicht als höchsten Berg neben vielen hohen Bergen denken, die gemach zur Ebene sinken.« (Lagarde, Paul de: Konservativ? In: ders.: Deutsche Schriften, Gesamtausgabe letzter Hand. Göttingen 1920 [5. Aufl.], S. 5–16, hier S. 10). 208 Ebd., S. 11. 209 Ebd., S. 11. 210 Lagarde, Paul de: Drei Vorreden. 2. Zum ersten Bande der deutschen Schriften. In: ders.: Deutsche Schriften, Gesamtausgabe letzter Hand. Göttingen 1920 [1878] (5. Auflage), S. 84–94, hier S. 89. 211 Ebd., S. 89. 212 Lagarde: Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik, S. 23.

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»Arbeit« als Grenzkolonisation genauer zu bestimmen: »Die Arbeit, welche ich uns Deutschen zumuthe, ist gemeinsame Kolonisation.«213 Mit Grenzkolonisation ist in diesem Modell insofern eine Erlösungshoffnung, hier zunächst mit Blick auf die innere Einigung des Reiches, verbunden. Inhaltlich zielt Kolonisation auf die Grenzgebiete im Osten einerseits und Österreich als deutsches Kolonialland andererseits, wird im engeren Sinn also zunächst machtpolitisch, nicht jedoch auf überseeische Gebiete bezogen, begriffen: »Erschrecken Sie nicht: den Schauplatz dieser Kolonisation denke ich mir nicht in fremden Weltteilen, sondern in unserer nächsten Nähe.«214 Mit der Indienstnahme des Grenzkolonialismus für die innere Reichsgründung kommt der machtpolitischen Konzeption zugleich eine zweite, politischkulturelle Funktion zu. Mit der Vorstellung des Grenzkolonialismus sind in der Lagardeschen Auffassung eine ganze Reihe positiver Auswirkungen auf Deutschland verbunden: Neben der Bildung einer Gentry nach britischem Vorbild215 werden vor allem militärische (»Deutschland hat zur Zeit solche Grenzen, daß es jedem feindlichen Angriffe offen liegt. […] Hieraus folgt, daß Deutschland suchen muß, strategisch haltbare Grenzen […] zu erlangen […].«216) und wirtschaftliche Gründe angeführt: »Der Handel hinwiederum ist nur denkbar an offenem Meere. Darum nannte ich vorhin Istrien an erster Stelle, weil Triest zu besitzen für Deutschland eine Lebensfrage ist […].«217 Vor allem aber ist die Indienstnahme der Grenzkolonisation im Rahmen der Kulturkritik – ausgehend von jener grundlegenden Dichotomie Vormoderne und Moderne – mit einer Idealisierung des (Klein)Bauerntums und der damit einhergehenden Ablehnung der Industrialisierung verbunden: »Es liegt jedem wirklichen Germanen der Wunsch im Herzen, Grundeigenthum zu besitzen.«218 Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb es just der Grenzkolonialismus ist, den Lagarde ins Zentrum seines Gegenentwurfes zu den kulturpessimistischen Ausgangsdiagnosen rückt. Dieser soll in erster Linie landwirtschaftliches Nutzland

213 Ebd., S. 27. Bereits Fritz Stern hat darauf verwiesen, dass Lagarde »dem deutschen Volk seine Aufgabe zeigen [wollte]. Diese sollte, wie wir noch sehen werden, in Deutschlands imperialistischer Bestimmung gipfeln, der Kolonisierung Mitteleuropas.« (Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 54) Stern geht dem machtpolitischen Imperialismus bei Lagarde weiter nach (vgl. ebd., S. 94–98); in diesem Kontext wird auch der Zusammenhang zum kulturkritischen Denken angedeutet, wenn auf Lagardes Vorstellung der »ungeheuren Wirkung, die eine Politik nationaler Vergrößerung auf den deutschen Geist ausüben würde« (ebd., S. 98), hingewiesen wird. 214 Lagarde: Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik, S. 27. 215 Ebd., S. 31. 216 Ebd., S. 32. 217 Ebd., S. 30. 218 Lagarde: Ueber die gegenwärtige Lage des deutschen Reichs, ein Bericht, S. 118.

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bereitstellen, und als Folge das Bauerntum und damit »die wirkliche Grundlage des Staates«219 stärken: Wohlhabend ist eine Nation, in welcher alle oder doch die meisten Menschen für ein von Menschen auszuhaltendes Maß Arbeit so viel Verdienst haben, daß sie mit ihrer Familie auf eigenem Grund und Boden leben, die Kinder erziehen, und sich für ihre letzten Jahre einen Sparpfennig sichern können.220

Indem die Grenzkolonisation das Bauerntum als Grundpfeiler der Gesellschaft stärkt, ist sie zugleich gegen die Industrialisierung gerichtet – insofern bedingen Kolonisation nach Außen und ›Germanisierung‹ nach Innen einander gegenseitig: »[…] in Folge der Kolonisationsarbeit [werden] die besten Seiten des deutschen Charakters zu Tage treten, und dem großen Germanien zu Gute kommen […].«221 Die Begriffe Kolonisation und Germanisierung werden im Übrigen zumeist synonym verwendet.222 Kolonisation und Germanisierung, mithin Kolonisation und Regeneration durch Germanisierung, zielen insofern gleichermaßen darauf ab, den Kulturverfall aufzuhalten und umzukehren: Lagardes Konzeption des Grenzkolonialismus basiert auf eben jenem doppelten, sowohl auf Kultivierung des Landes als auch auf kulturelle Entwicklung abzielenden, Kultur-Begriff, der auch dem machtpolitischen Diskurs im Allgemeinen zugrunde liegt. Es ist dies schließlich die Voraussetzung dafür, dass auch die überseeische Kolonie aus kulturkritischer Perspektive zu einem Ort alternativer Gesellschaftsform werden kann: Nur wird es sich in jenen Kolonien nicht lange um Handelsgeschäfte handeln dürfen – Straußenfedern und Elfenbein dienen in Deutschland nur den Frauen der Kommerzien – und Komissionsräthe –: Bauern müssen dort hin auf die Gebirge des Hinterlandes, Bauern, die auf eigenem Boden sitzend das bauen, wovon sie mit den Ihrigen leben. Möglich, daß dann, falls Deutschland sich nicht auf sich besinnt, auch NichtBauern dahin flüchten, und daß mit der Aussicht auf die Wallfischbai einst Gräber mit der Inschrift liegen »Er hat in Deutschland deutsche Art und das Recht geliebt, und hat die Ungerechtigkeit gehaßt, darum starb er in Afrika.«223

Die afrikanischen Kolonien als Zufluchtsort vor der Moderne, als Gegenprogramm zur Industrialisierung und den damit verbundenen sozio-ökonomischen Folgen – man könnte meinen, hier das Programm des deutschen Kolonialromans zu lesen. 219 Ebd., S. 118. 220 Ebd., S. 114. 221 Lagarde, Paul de: Programm für die konservative Partei Preußens. In: ders.: Deutsche Schriften, Gesamtausgabe letzter Hand. Göttingen 1920 (5. Aufl.), S. 350–403, hier S. 389. 222 Vgl. etwa Lagarde: Ueber die gegenwärtige Lage des deutschen Reichs, ein Bericht, S. 109. 223 Lagarde: Programm für die konservative Partei Preußens, S. 392.

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Das Projekt einer weltanschaulichen Kolonisation Deutschlands (und der Welt). Julius Langbehn Was Lagarde mit der Indienstnahme des machtpolitisch-expansionistischen Grenzkolonialismus für die kulturelle Regeneration Deutschlands vorbereitet hat, führt Julius Langbehn in seinem »Rembrandt als Erzieher« in letzter Konsequenz fort: Er überträgt die Begriffe ›Kolonie‹ und ›Kolonisation‹ zunächst auf innereuropäische politische und kulturelle Zusammenhänge sowohl der Gegenwart als auch der Geschichte. Das Konzept der geistigen Kolonisation bzw. ›Hebung‹ Deutschlands, Europas und der Welt wird zweitens zum weltanschaulichen Gegenentwurf zur kulturpessimistischen Ausgangsdiagnose des Rembrandt-Buches.224 Daneben steht zwar drittens immer auch ein konventionell-machtpolitischer Begriff von Kolonie und Kolonisation225 – diese Bedeutungsdimension ist aber im Vergleich zu Lagarde weiter geschwächt, so dass hier die Umstellung vom wesentlich machtpolitischen auf den vornehmlich kulturkritischen Kolonie-Begriff beobachtet werden kann. 224 Das Rembrandtbuch ist in der Forschung lange als kulturpessimistisches Werk gelesen worden; vgl. beispielsweise Uwe-K. Keetelsen (Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890–1945. Stuttgart 1976), der das Buch als »[…] Wechselverhältnis von Kulturpessimismus und aggressiver Modernismuskritik […]« (ebd., S. 34) interpretiert. Diese Lesart findet man schon bei Fritz Stern (Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr); vgl. daneben Bernd Behrendt: Zwischen Paradox und Paralogismus. Weltanschauliche Grundzüge einer Kulturkritik in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts am Beispiel August Julius Langbehn. Frankfurt/Main 1984; ders.: August Julius Langbehn, der »Rembrandtdeutsche«. In: Puschner, Uwe/Schmitz, Walter/Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918. München 1996, S. 94– 113; im Kontext völkisch-nationaler Literatur unter anderem Klaus Vondung: Völkischnationale und nationalsozialistische Literaturtheorie, München o. J. [1973]; Uwe Keetelsen: August Julius Langbehns Buch »Rembrandt als Erzieher« (1890). In: Grenzfriedenshefte, Heft 2 (1990), S. 126–142; Seeba, Heinrich C.: Deutschtum. Zur Rhetorik des nationalen Narzißmus beim sogenannten »Rembrandt-Deutschen« (Julius Langbehn). In: de Berg, Henk/Prangel, Matthias (Hrsg.): Interpretation 2000: Positionen und Kontroversen. Heidelberg 1999, S. 215–222; daneben zu Fragestellungen, die das Niederlande- oder Rembrandtbild in der deutschen Literatur untersuchen, beispielsweise Amann, Wilhelm: Das Niederlandebild in der deutschen Kulturkritik um 1900 (A. J. Langbehn, Multatuli-Rezeption). In: Amann, Wilhelm/Grimm, Gunter E./Werlein, Uwe (Hrsg.): Annäherungen. Wahrnehmung der Nachbarschaft in der deutsch-niederländischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Münster u. a. 2004, S. 57–72. Neuere Forschungen stellen das Rembrandtbuch in den Kontext kulturoptimistischer Strömungen (vgl. Anm. 197); die vorliegende Arbeit schließt an diese Lesart an. 225 Vgl. zum Imperialismus bei Langbehn schon Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 187–189; Stern weist darauf hin, dass auch Langbehn ein imperialistisches Deutschland vorschwebt (vgl. ebd., S. 187) und dieses als Ergänzung, nicht aber als Überwindung seines Kulturpessimismus verstanden werden müsse (vgl. ebd., S. 189). Nicht differenziert werden machtpolitische und geistige Kolonisation; diese Differenz scheint allerdings von Relevanz für die Frage nach Kulturpessimismus und Kulturoptimismus im Rembrandtbuch.

›Kolonien‹ und ›Kolonisation‹ in der Kulturkritik

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Auch Langbehn nimmt seinen Ausgangspunkt in der Beobachtung und Beschreibung der modernen Gesellschaft. Die Gegenwart sei ein Zeitalter des »Spezialismus«226, sprich der Ausdifferenzierung, er klagt über den »demokratisierend[en], nivellierend[en], atomisierend[en] Geist des jetzigen Jahrhunderts«227, den »rapide[n] Verfall« des »geistige[n] Leben[s] des deutschen Volkes«228 ; zahlreiche Seitenhiebe gegen Berlin als Symbol der modernen Großstadt229 sind Ausdruck der Ablehnung der modernen Gesellschaft; der Wissenschaft wird vorgeworfen, dass ihr das »Gefühl für den direkten Zusammenhang der einzelnen und einzelsten natürlichen wie menschlichen Erscheinungen mit dem großen und einheitlich ausstrahlenden Weltganzen […] durchgängig verloren gegangen« sei230. Gesellschaftliche Moderne und ihre ›falsche‹ Kultur werden auch hier beobachtet und beschrieben als Verlust vermeintlich vorgängiger Ganzheitlichkeit und damit verbunden Sinnhaftigkeit. Als normativer Punkt steht der Moderne das Ideal einer ländlichen, auf Ganzheitlichkeit ausgerichteten Gemeinschaft gegenüber : »Im Bauer begegnet sich das irdische mit dem himmlischen, das äußere mit dem inneren Leben des Menschen, der König mit dem Künstler.«231 Das Geschichtsmodell Langbehns ist dann nach dem Schema These – Antithese – Synthese organisiert: »Nachdem das Pendel der nationalen Bildung vom Idealismus zunächst zum Spezialismus übergeschlagen ist, muß es nunmehr zwischen diesen beiden Extremen, bei dem Individualismus, stehen bleiben.«232 Auf das vergangene Zeitalter des Idealismus, gekennzeichnet durch transzendentes Denken233, und das gegenwärtige Zeitalter des Spezialismus, gekennzeichnet durch materielles Denken234, folge das »kommende deutsche Kunstzeitalter«235. Letzteres ist dadurch gekennzeichnet, dass es die Synthese zwischen Idealismus und Spezialismus vollzogen hat, die vermeintlich ursprüngliche Ganzheitlichkeit wieder hergestellt ist, es basiert auf den Prinzipien der Subjektivität, der Persönlichkeit, der Individualität, dem Glauben etc. Die Kulturkritik Langbehns belässt es insofern nicht bei der Statusbeschreibung, er ver-

226 227 228 229 230 231 232 233 234

Vgl. [Langbehn]: Rembrandt als Erzieher, S. 65. Ebd., S. 1. Ebd., S. 1. Vgl. etwa den Abschnitt »Deutschland und Berlin«, ebd., S. 112. Ebd., S. 56. Ebd., S. 125. Vgl. zum Bauerntum ferner ebd., S. 121ff. Ebd., S. 4/5. Vgl. ebd., S. 5; das Zeitalter habe die Welt in Vogelperspektive gesehen, vgl. ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 5; das Zeitalter sehe die Welt aus Froschperspektive, vgl. ebd., S. 65; es ist das Zeitalter der Wissenschaft, für das ein Interesse für einen »Schwall von wissenschaftlich geordneten Einzelheiten« charakteristisch sei (ebd., S. 17). 235 Ebd., S. 158.

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steht den aktuellen Status vielmehr als ›Durchgangsstufe‹236 und fordert: »der Riß, welcher durch die moderne Kultur geht, muß sich wieder schließen.«237 Der Weg, auf dem dies zu erreichen sei, heiße ›geistige Kolonisation‹. Auch Langbehn setzt insofern die Kolonisation innerhalb der säkularisierten Erlösungslehre an die Gelenkstelle zwischen Sündenfall Moderne und Erlösungshoffnung; der geistig-kulturellen Kolonisation kommt eine konstitutive Rolle für den Übergang zur alternativen Gesellschaftsform zu. Zunächst steht der Begriff der ›Kolonie‹ noch im Zentrum der Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen sowohl in historischer Perspektive auf die deutschen Länder als auch in Bezug auf die politische Lage im Deutschen Reich nach 1871, wenn Preußen historisch wie im neuen deutschen Reich politisch und kulturell als »deutsch[e] Kernkolonie«238 aufgefasst wird. Diese Begriffszuweisung ist ambivalent: Als »Kernkolonie« kommt Preußen politisch eine zentrale Rolle für die Reichsgründung einerseits und innerhalb des neugegründeten Nationalstaates andererseits zu. Zugleich wird Preußen als Kolonie des »Mutterlandes« (Nieder)Deutschland charakterisiert und ist insofern eine »deutsche Kolonie auf slavischem Boden; staatlich ist diese Kolonisation schon vollendet; geistig ist sie es noch lange nicht.«239 Argumentativ ist die Bezeichnung Preußens als niederdeutsche Kolonie deutlich gegen eine Vormachtstellung Preußens im Deutschen Reich gerichtet, wird doch über den Begriff der Kolonie eine Abhängigkeit Preußens vom ›Mutterland‹ suggeriert. Die Übergänge zum Grenzkolonialismus (»slavischer Boden«) sind hier fließend. Die Erfassung Preußens als deutsche Kolonie auf slavischem Boden ermöglicht darüber hinaus, Preußen in binären Oppositionen des (kulturell) Eigenen und des Fremden zu erfassen – die diskursiven Parallelen zum machtpolitischen Kolonialdiskurs sind erkennbar240 : 236 237 238 239

Vgl. ebd., S. 4. Ebd., S. 9. Ebd., S. 122. Ebd., S. 121. Die fließenden Übergänge von binnenkolonialistischen zu grenzkolonialistischen Konzepten sind deutlich. 240 Vgl. in diesem Zusammenhang schon den Aufsatz von Eva Wiegmann-Schubert: Fremdheitskonstruktionen und Kolonialdiskurs in Julius Langbehns »Rembrandt als Erzieher«. Ein Beitrag zur interkulturellen Dimension der Kulturkritik. In: Heimböckel, Dieter/HessLüttich, Ernest W.B./Mein, Georg/Sieburg, Heinz (Hrsg.): Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 4. Jahrgang, 2013, Heft 1, S. 59–94. Wiegmann-Schubert arbeitet systematisch den Zusammenhang von Moderne, Fremdheitskonstruktionen und Kolonialismus heraus, geht unter anderem auf den Zusammenhang von intrakulturellen Konflikten und Fremdheitskonstruktionen in Langbehns Rembrandtbuch ein, weiterhin auf die Orientierung an für das Zeitalter des Imperialismus typischen kolonialistischen Strategien; hingewiesen wird darüber hinaus darauf, dass Weltherrschaft als Voraussetzung eines Siegeszuges der Kultur über Zivilisation, mithin der Zusammenhang von Imperialismus und Kulturkritik, verstanden wird, ohne dabei allerdings auf den Eingang der Begriffe in die Semantik der Kulturkritik im Allgemeinen zu sehen.

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Mit den Vortheilen hat Preußen auch die Nachtheile einer deutschen Kolonie auf theilweise fremdem Boden in seiner inneren Geschichte erfahren. Es ist keine Frage, daß in Preußen hauptsächlich wohl als slavische Blutsmischung ein undeutsches Element vorhanden war und ist.241

Das Fremde wird dem Eigenen – deutschen – gegenüber gestellt und so der den Kolonialdiskurs organisierende Alteritäts- und Rassediskurs auf das in Kategorien der Kolonisation dargestellte Deutsche Reich übertragen. Dies ermöglicht zugleich den ambivalenten Status Preußens und Berlins im deutschen Reich als »innere – Kolonie«242. Preußen im Allgemeinen und Berlin im Speziellen werden dann in Kategorien der fremden und der eigenen, der falschen und der richtigen Weltanschauung gefasst: Der Durchschnittsberliner von heute wie von einst kennt nur das Geschäft und das Vergnügen; aber in diesen beiden Reichen bewegt sich die Kunst nicht. Trotzdem haben zwar nicht aus Berlin stammende, wohl aber in Berlin thätige Männer gerade künstlerisch dort Großes und Größtes geleistet; sie haben damit auch geistig Berlin den Charakter einer Kolonie gewahrt […].243

An die Analyse Preußens und Berlins in Kategorien der Kolonie und damit verbunden des Eigenen und des Fremden schließen unmittelbare (dem machtpolitischen Kolonialdiskurs vergleichbare) Forderungen an: »Das deutsche Element in Preußen muß möglichst gestärkt, das undeutsche möglichst geschwächt werden«244. Damit erhält die zunächst politische Begriffszuschreibung nun eine geistig-kulturelle Dimension, die Langbehn dann zur ›inneren Kolonisation‹, verstanden als ›geistige Urbarmachung‹ Deutschlands, weiter ausbaut: Daher werde eine »Hauptaufgabe jener ›innersten Politik‹ […] nicht äußere oder innere, sondern innerste Kolonisation sein – die geistige Urbarmachung und Besiedelung des deutschen Bodens.«245 Insofern ermöglicht die Übertragung der Begriffe Kolonie und Kolonisation auf die politischen wie kulturellen Verhältnisse im deutschen Reich246 eine doppelte Bewegung: auf die politische Kolo241 [Langbehn]: Rembrandt als Erzieher, S. 127; in späteren Auflagen wird das ›slavische‹ durch das ›französische‹ und das ›jüdische‹ ergänzt, vgl. etwa die vierte Auflage, Leipzig 1890, S. 130. 242 [Langbehn]: Rembrandt als Erzieher, S. 113. 243 Ebd., S. 113. 244 Ebd., S. 130. 245 Ebd., S. 245. 246 Neben der Funktionalisierung des Begriffsfeldes Kolonie für die Darstellung der aktuellen politischen Verhältnisse im deutschen Reich wird der Begriff Kolonie zweitens für die Interpretation historischer Konstellationen herangezogen. So ist die niederdeutsche (hier spezifisch friesische) Kolonisierung nach Langbehns Auffassung bis auf das Mittelalter zurückzuführen (vgl. ebd., S. 162). Nicht nur in historischer Perspektive begreift Langbehn darüber hinaus eine ganze Reihe von Ländern als niederdeutsche Kolonien, die im engeren Wortsinn nicht als Kolonien aufgefasst werden können (»Der Niederdeutsche ist konser-

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niegründung Preußens folgt die politische Einigung Deutschlands; die (abschließende) geistige Erneuerung Preußens hingegen und im Anschluss diejenige Deutschlands (und der Welt) stehen noch aus, »mit der politischen wird den Deutschen hoffentlich auch ihre geistige Freiheit wiederkommen und werden sie sich aus dem Verfall ihrer Bildung […] erretten.«247 Vergleichbar Lagarde operiert auch Langbehn im Zusammenhang mit der geistigen Erneuerung/Kolonisation Deutschlands mit einem doppelten, sowohl auf die Kultivierung von Boden als auch auf die geistig-kulturelle Sphäre abzielenden, Kultur-Begriff. Beide Konnotationen bedingen einander gegenseitig: Ein unbekannter niederdeutscher Ansiedler in Nordamerika, zu Anfang dieses Jahrhunderts, zog dreißig Jahre lang als Pionier europäischer Kultur langsam westwärts; da es dort damals noch an Obstbäumen fehlte so führte er stets einen Sack mit Apfelkernen bei sich, dessen Inhalt er überall aussäete; man nannte ihn John Appleseed. Seine stille selbstlose und dabei doch so nützliche und sinnvolle Thätigkeit war eine urniederdeutsche; denn es ist die Art dieses gesegneten Stammes, überall wohin er kommt, unmerklich die Saaten eines reichen organischen Lebens auszustreuen. Auf kunstpolitischem Gebiet kann und soll er das Gleiche thun.248

Binnenkolonialismus bzw. innere Kolonisation im Sinne einer Kultivierung des Landes und geistige Kolonisation sind für Langbehn kaum voneinander zu trennen, »denn oft entwickeln sich geistige Keime zu ihrer höchsten Blüthe erst dann, wenn sie aus dem heimischen in einen fremden Boden verpflanzt werden. Das ist auch ein Segen der inneren Kolonisation.«249 Innere Kolonisation kann bei Langbehn entsprechend mit geistiger Kolonisation gleichgesetzt werden. Insofern darf die Begriffsbesetzung trotz der engen Bindung an den Topos des vativ, insofern er Bauer und liberal, insofern er Kolonisator ist; Holland selbst ist eine dem Meere abgewonnene Kolonie; dieses Land, England, das ostelbische Preußen, Nordamerika sind nach einander von dem zähen und kraftvollen Stamme besiedelt worden« (ebd., S. 147/148) und entsprechend einen erweiterten, insofern auch hier kulturkritischen Begriff von Kolonie, der Langbehns Schrift insgesamt zugrunde liegt, widerspiegeln. Grundsätzlich geht der Text also von einer bereits vonstattengegangenen »niederdeutschen« Kolonisierung Europas und Amerikas aus. 247 Ebd., S. 145. Diese richtet sich ihrerseits gegen die »falsche« Bildung und Kultur Preußens und Berlins: »[A]uch Preußen sollte einen möglichst nahen inneren Anschluß an sein Mutterland oder vielmehr an seinen Mutterstamm, den niederdeutschen, anstreben« (ebd., S. 131), »[p]olitisch hat Deutschland sich von Nordosten, künstlerisch sollte es sich von Nordwesten her regenerieren.« (Ebd., S. 156) Will heißen: Die politische Einigung des Reiches ging von Preußen aus, die geistig-kulturelle Erneuerung soll umgekehrt vom »Niederdeutschen« über Preußen und den Rest Deutschlands gebracht werden, denn »Staatsgefühl haben die Preußen immer gehabt, aber das süße Heimathsgefühl hat ihnen zuweilen gefehlt; Heimathsgefühl haben die Deutschen immer gehabt, aber das große Staatsgefühl hat ihnen lange gefehlt; im neuen Preußen und im neuen deutschen Reiche sollen sich beide Geistesrichtungen durchdringen.« (Ebd., S. 133). 248 Ebd., S. 254. 249 Ebd., S. 162/163.

›Kolonien‹ und ›Kolonisation‹ in der Kulturkritik

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Bodens nicht mit dem ›Inneren Kolonialismus‹ im Sinne des preußischen Siedlungsprogramms verwechselt werden. Kolonisation meint Kolonisation im Geiste Rembrandts, im Geist der Niederdeutschen. Rembrandt sei »ein niederdeutscher und erdbefreundeter Künstler ; und eben diese Eigenschaft befähigt ihn, auf geistigem Gebiet als Kolonisator zu wirken«250. Insofern ›Niederdeutschentum‹ bei Langbehn als Synonym für seine Weltanschauung zu verstehen ist251, handelt es sich bei der ›geistigen Kolonisation‹ des deutschen Reiches um das eigentliche weltanschaulich-expansive Programm Langbehns. Es ist im Übrigen bemerkenswert, dass genau dieser Prozess von Langbehn mit einem Wort bezeichnet wird, das im Kontext der sogenannten ›Zivilisierungsmission‹ als ›white man’s burden‹ ein Schlüsselbegriff des imperialistischen Diskurses ist: das der ›Hebung‹. »Wer die deutsche Kunst heben will, muß deshalb zuerst das deutsche Volksthum heben; und diese Hebung des deutschen Volkscharakters kann nur in einer Vertiefung desselben bestehen; und diese muß zunächst eine politische sein.«252 Die Kunst ist hier auf den ersten Blick seltsam doppelt besetzt – wird sie an dieser Stelle doch als eine zu ›hebende‹ dargestellt, wohingegen das eigentliche Argument des Rembrandtbuches darauf abzielt, durch Kunst zu erziehen und damit das Volk quasi-zivilisatorisch zu ›heben‹.253 Hier müssen zwei Kunstbegriffe differenziert werden: Ersterer bezieht sich auf abgelehnte ›moderne‹ Kunstrichtungen (Naturalismus, Ästhetizismus etc.), letzterer referiert auf die als Vorbild verstandenen Künstler (Rembrandt et al.) im Sinne des normativen Bezugspunktes im kulturkritischen Geschichtsmodell. Schließlich werden geistig-kulturelle Kolonisation Deutschlands und machtpolitische Kolonisation außereuropäischer Gebiete systematisch verschränkt, ja bedingen einander gegenseitig: 250 Ebd., S. 122. 251 ›Niederdeutsch‹ ist hier nicht im sprachlichen Sinn aufgefasst, sondern als Lebenskonzept und Wertekanon, der der Moderne gegenübergestellt wird, kurz als Weltanschauung zu verstehen: »In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt das ›Niederdeutsche‹ nämlich nicht allein als eine – regional gebundene – Sprachvarietät des Deutschen. Es wurde darüber hinaus – verkürzt gesprochen – als Ausdruck einer ›ursprünglichen‹ Lebensweise verstanden, ja ›Niederdeutsch‹ galt als eine spezifische Lebensform, die sich nicht notgedrungen in der niederdeutschen Sprache ausdrücken mußte: ›Niederdeutsch‹ verwies – ganz im Sinne der Humboldtschen Sprachtheorie – zu allererst auf eine Weise, die Welt wahrzunehmen und in ihr zu leben.« (Ketelsen, Uwe-K.: Frenssens Werk und die deutsche Literatur der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts. Zuordnungen, Parallelen, Abgrenzungen. In: Dohnke, Kay/Stein, Dietrich [Hrsg.]: Gustav Frenssen in seiner Zeit. Von der Massenliteratur im Kaiserreich zur Massenideologie im NS-Staat. Heide 1997, S. 152–181, hier S. 174). 252 [Langbehn]: Rembrandt als Erzieher, S. 118. 253 Auf das paradoxe Verhältnis von imperialistischer Expansion, die ihre Rechtfertigung in der deutschen Kultur fände und die zugleich der Erneuerung derselben diene, hat bereits Fritz Stern hingewiesen (vgl. Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 188).

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Modernereflexion. Kolonien in der Semantik der Kulturkritik

Der Deutsche hat sich nunmehr mit dem Schwerte die ihm gebührende Stellung in der äußeren Welt erobert; und diese giebt ihm Das, was für eine freie, künstlerische Entwicklung unbedingt erforderlich ist: das Gefühl nationaler und in Folge dessen auch persönlicher Selbstständigkeit.254

Machtpolitische Expansion ist einerseits die Voraussetzung der geistig-kulturellen Wiedergeburt der Deutschen; zugleich ist das weltanschauliche Programm einer geistigen Kolonisation nicht auf Deutschland beschränkt – der Abschnitt zur »Deutschen Politik« endet mit einigen Anmerkungen zu den »vereinigten Staaten von Europa«, die nur aus niederdeutschem Geiste entspringen könnten und in denen Deutschland »naturgemäß zum Vorsitz berufen« wäre255. Langbehns Forderung zielt auf eine Ausdehnung – sprich (geistige und also weltanschauliche) Kolonisierung – der »Niederdeutschen« über ganz Deutschland, eigentlich Europa: »Wie von der Ostküste Amerika’s der wirkliche, geht von der Westküste Europa’s ein geistiger Golfstrom aus; es ist eine niederdeutsche Strömung; sie wirkt befruchtend und befreiend, wohin sie kommt«256, heißt es, und: Eine Wiedergeburt Deutschlands im Rembrandt’schen Sinne bedingt demnach wichtige Veränderungen seiner inneren Organisation. Die deutsche Bildung muß eine Achsendrehung vollziehen; und zwar nach jener Richtung, welche sie von Alter her einnahm, von der sie dann abwich und der sie nun seit neuerer Zeit wieder zuneigt; und je eher diese Achsendrehung vor sich geht, desto besser wird es sein. Die Ostsee wird immer ein Binnenmeer bleiben; die Nordsee dagegen ist ein niederdeutsches Meer ; aber noch mehr als das: sie erschließt den Weg zum Aequator und damit einen weltumspannenden Horizont. Nicht auf die Ostsee, sondern auf die Nordsee muß die Achse des künftigen deutschen Geisteslebens gerichtet sein; dann steht sie parallel mit dem magnetischen Strom aller Bildung, welcher seit jeher vom Südosten nach Nordwesten die nördliche Hälfte unseres Erdballs durchzogen hat.257

Die im Rembrandtbuch beständig eingeforderte geistige und kulturelle Wiedergeburt Deutschlands wird mit einer Neuorientierung weg von der Ostsee hin zur Nordsee enggeführt – die den Weg Richtung Äquator, sprich Richtung außereuropäische Territorien, öffnet. Damit gewinnen zugleich die (zur Zeit der ersten Publikation ja bereits seit einigen Jahren existierenden deutschen) überseeischen Kolonien im Kontext der Ausführungen über die kulturelle Wiedergeburt der deutschen Nation an Gewicht – geistige und imperialistische Kolonisierung erfüllen also beide gleichermaßen eine wichtige Funktion für den Kulturoptimismus Langbehns. Hier erhält das Prinzip der inneren und geistigen 254 255 256 257

[Langbehn]: Rembrandt als Erzieher, S. 194/195. Ebd., S. 155. Ebd., S. 163. Ebd., S. 159.

›Kolonien‹ und ›Kolonisation‹ in der Kulturkritik

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Kolonisation zugleich wieder eine machtpolitische Dimension258 : Die Grenzen dieses Programms liegen für Langbehn nicht in Deutschland, es wird in letzter Konsequenz zum weltumspannenden Projekt ausgedehnt. Insofern sind machtpolitische und weltanschauliche Kolonisation Deutschlands, Europas und der Welt am Ende nur graduell, nicht in der Sache unterschiedlich. »Los von Berlin« und der Kulturexpansionismus in der Programmatik der Heimatkunst. Adolf Bartels, Friedrich Lienhard Im Umfeld der weltanschaulich-konservativen Kulturkritik und wesentlich von Langbehn beeinflusst ist die Literaturströmung der Heimatkunst zu verorten259, die ihrerseits nicht nur an den machtpolitischen Kolonialismus, sondern auch und gerade an den Kulturexpansionismus der Kulturkritik als Gegenentwurf zur Moderne anschließt.260 Grundsätzlich beobachtet und beschreibt auch Heimatkunst Moderne als Verlust vermeintlich vorgängiger Ganzheitlichkeit, Gemeinschaftlichkeit, Sinnhaftigkeit. Sie definiert sich wesentlich über die Opposition zur gesellschaftlichen wie ästhetischen Moderne, die sich in Lienhards Losung »Los von Berlin«261 und dem Begriff der ›Heimat‹ verdichtet; im An258 Langbehn referiert in diesem Kontext – wie schon Karlheinz Rossbacher richtig angemerkt hat (vgl. ders.: Programm und Roman der Heimatkunstbewegung. Möglichkeiten sozialgeschichtlicher und soziologischer Analyse. In: Zˇmegacˇ, Viktor [Hrsg.]: Deutsche Literatur der Jahrhundertwende. Königstein/Ts. 1981, S. 123–144, hier S. 130) – auch ganz konkret auf die wilhelminische Kolonialpolitik: »Wer die See hat, hat die Welt; und die Niederdeutschen haben die See […].« ([Langbehn]: Rembrandt als Erzieher, S. 146) Auf Ostafrika wird bereits auf Seite zwei das erste Mal hingewiesen, die Linie wird vom wiedergewonnenen Elsaß-Lothringen über die Gründung des deutschen Reiches, das »die Freihandelspolitik in demselben aufgegeben« habe bis hin zur neu begonnenen Kolonialpolitik (ebd., S. 151) gezogen. 259 Vgl. zur Heimatkunst etwa die nach wie vor einschlägigen Arbeiten von Karlheinz Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart 1975; Rossbacher : Programm und Roman der Heimatkunstbewegung; daneben auch Dohnke, Kay : Heimatliteratur und Heimatkunstbewegung. In: Kerbs, Diethart/Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Wuppertal 1998, S. 481–493; zu Lienhard auch Ch.telier, Hildegard: Friedrich Lienhard. In: Puschner, Uwe/Schmitz, Walter/Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918. München 1996, S. 114–130. 260 Nachfolgend interessiert, inwieweit jene vom kulturkritischen Denken her zu verstehenden Kunst- und Literaturströmungen auch an der Semantik der Kulturkritik partizipieren, insofern sie ihrerseits die Begriffe Kolonie und Kolonisation in ihrer kulturkritischen Ausprägung aufgreifen. Hierfür liegt der Fokus zunächst auf der Ebene der Programmtexte; die literarischen Primärtexte sollen – vor dem Hintergrund der Ergebnisse des begriffshistorischen und des semantischen Zugriffs dann aus genuin literaturwissenschaftlicher Perspektive – im nachfolgenden vierten Teil der Arbeit einer umfassenden Untersuchung unterzogen werden. 261 Vgl. Lienhard, Friedrich: Los von Berlin? In: ders.: Neue Ideale. Stuttgart 1920 [1901] (5. Aufl.), S. 141–148. In diese spätere Auflage der »Neuen Ideale« wurde auch die Schrift

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schluss an die weltanschaulich-konservative Kulturkritik feiert Heimatkunst die Persönlichkeit, den »ganze[n] Menschen«262. Es geht auch der Heimatkunst vor dem Hintergrund dieser Gegenwartsdiagnosen um die (Wieder)Herstellung von Ganzheitlichkeit in Zeiten einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft, in der der Mensch nicht mehr für die Zeit seines Lebens auf eine soziale Rolle festgelegt ist, sondern sich immer wieder neu definieren und verschiedene soziale Rollen erfüllen muss. Heimatkunst – insbesondere der Heimatkunstroman – ist der Versuch, noch einmal eine Welt auferstehen zu lassen, in der Sinn nicht immer wieder aufs Neue gestiftet werden muss. Insofern dient die Heimatkunst selbst einer Sinnstiftung in der Moderne: Es geht ihr darum, »dem modernen Menschen die Heimat [zu] erhalten oder sie ihm wieder[zu]geben«263. Hierfür ist zunächst der Rückzug von der Moderne Bedingung der Möglichkeit des eigenen weltanschaulichen Klärungsprozesses. In Abgrenzung zur Großstadtdichtung wird die Dichtung der ›Rückzügler‹ (auch Kolonisten sind ›Rückzügler‹) von der Moderne weltanschaulich bestimmt: Lienhard wendet sich gegen den Vorwurf […], man fühle sich der Mitarbeit an moderner Kultur und der Unruhe, die sie mit sich bringt, nicht mehr gewachsen. Die Sache liegt vielleicht just umgekehrt; vielleicht haben die betreffenden Rückzügler just umgekehrt die Nervosität und dabei doch Inhaltslosigkeit des Tages-Litteratentums satt gekriegt und möchten ihrerseits von festerem Boden und festerer Weltanschauung aus frischer, heiterer, natürlicher schreiben und schaffen.264

Für Lienhard etwa ist das Wasgaudorf zunächst totales Lebensmodell. Spätestens ab der Jahrhundertwende weist die Programmatik der Heimatkunst schließlich eine deutliche Nähe zum machtpolitischen Kolonialismus des wilhelminischen Kaiserreichs auf.265 Das äußert sich unter anderem in der

262 263 264 265

»Die Vorherrschaft Berlins« aufgenommen; der Abschnitt »Los von Berlin« leitet diesen Abschnitt in der fünften Auflage der neuen Ideale ein – in »Die Vorherrschaft Berlins« (Leipzig/Berlin 1900) findet sich jedoch kein Abschnitt mit der Überschrift »Los von Berlin«. Exemplarisch Lienhard, Fritz [Friedrich]: Heimatkunst. In: ders.: Neue Ideale. Gesammelte Aufsätze. Leipzig/Berlin 1901, S. 188–200, hier S. 198, Hervorhebung im Original. Bartels, Adolf: Heimatkunst. Ein Wort zur Verständigung. München/Leipzig 1904, S. 19. Lienhard: Heimatkunst, S. 192–193. Insbesondere Karlheinz Rossbacher hat sich auch mit dem Verhältnis von Heimatkunst und Imperialismus auseinandergesetzt. So sieht er zwar Julius Langbehn als Fundgrube für die Heimatkunst (vgl. Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 62–63), betont jedoch an anderer Stelle, dass die frühen Schriften der Heimatkunst noch keinen Bezug zum Kolonialismus aufweisen: »Auch Vorstellungen von deutscher Kolonialgröße sind schon bei Langbehn zu finden, doch begnügt sich Lienhard zum Beispiel 1895 noch damit, sein kleines Wasgaudorf als totales Lebensmodell zu feiern.« (Rossbacher : Programm und Roman der Heimatkunstbewegung, S. 130) Rossbacher sieht den konkreten Bezug der Heimatkunst auf den Kolonialismus erst ab etwa 1900. Als zentral für das Verhältnis von

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konkreten inhaltlichen Adressierung – nicht nur etwa des für den deutschen Kolonialismus wichtigen Alldeutschen Verbandes266, sondern auch einer ganz konkreten Adressierung der wilhelminischen Überseepolitik: Unser Kaiser weist, beinahe programmatisch, unablässig auf den Salzhauch des frischen Nordmeers hin. Er ruft aufrüttelnd seinem Volk zu: ›Mein Volk, zur See!‹ Niemand von diesen kraftlosen Spöttelern, die da wegen dumpfer Majestätsbeleidigung dumpfe Festungen besuchen, hat ein Gefühl dafür, welcher erzieherische und welcher dichterische Wert eigentlich in diesem für unser so lange so partikularisch-binnenländisches Volk neuartigen Rufe liegt.267

Ähnliches gilt für »Die Vorherrschaft Berlins. Litterarische Anregungen«; in der Erörterung literarischer Entwicklungen und Prinzipien finden sich zahlreiche weltpolitische Bezüge. Vor diesem Hintergrund werden in den Programmschriften der Heimatkunst dezidiert auch außereuropäische Themen erschlossen und es wird ein Bezug zum (wilhelminischen) Kolonialismus hergestellt. Machtpolitischer Kolonialismus wird dabei auch begriffen als eine Möglichkeit, die Probleme der Moderne, im Besonderen die soziale Frage, zu lösen: Wenn es den alten Völkern zu eng, zu unbehaglich, zu hungrig wurde im dürftigen Lande, so lösten die markigen Männer überaus einfach die soziale Frage: sie durchbrachen die Grenzen ihrer Landschaft und suchten auf diesem geräumigen Stern neue Plätze. Wodan und Donar und Freya und Balder nahmen sie in treuen Herzen mit hinaus: und wo ihr Herzschlag ging und wo ihr Fuß feststand und wo ihre Faust das neue Land besiegte und mit eigener Individualität erfüllte: da war ihr Vaterland. Denn wir, die Menschen, sind die Herren der Welt, wir sind es, die das Vaterland schaffen, nicht umgekehrt.268

Damit wird zugleich deutlich, welches Potential Afrika im Allgemeinen und den deutschen Kolonien im Besonderen in der Heimat-/Kolonialliteratur zukommt: Es bietet – über seinen ›Boden‹, also das vermeintlich unbesiedelte Land – die Möglichkeit, die soziale Frage zu lösen. Der Rückzug in die überseeische Kolonie ist insofern nur eine andere Form der Vorstellung der Heimatkunst, dass ein Rückzug von der Moderne und auf das Land eben jene Probleme der Moderne lösen könne. Zugleich macht die Vorstellung, dass durch Kolonisation die soImperialismus und Heimatkunst bei Lienhard sieht Rossbacher zwei Schriften, die beide von 1900 sind: »Litteratur-Jugend von heute. Eine Fastenpredigt« (in: ders.: Neue Ideale. Gesammelte Aufsätze. Leipzig/Berlin 1901, S. 234–258) sowie »Rudyard Kipling« (in: ders.: Neue Ideale. Gesammelte Aufsätze. Leipzig/Berlin 1901, S. 201–218). Erst ab 1898/99, in engem Zusammenhang mit der Flottenpolitik und allen mit ihr zusammenhängenden Entwicklungen, setzte, so Rossbacher, das Interesse der Heimatkunst am Kolonialismus ein (vgl. Rossbacher : Programm und Roman der Heimatkunstbewegung, S. 63). 266 Vgl. Lienhard, Friedrich: Die Vorherrschaft Berlins. Literarische Anregungen. Leipzig/ Berlin 1900, S. 25. 267 Lienhard: Litteratur-Jugend von heute, S. 245, Hervorhebung im Original. 268 Lienhard: Rudyard Kipling, S. 201.

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ziale Frage gelöst werden könne, deutlich, wie sehr auch die Heimatkunst eigentlich in der Moderne verwurzelt ist. Auch der expansionistische Charakter der Heimatkunst ist nun gerade nicht nur machtpolitisch zu verstehen, sondern bezieht sich immer zugleich auch auf eine geistig-kulturelle Expansion. Gefordert wird neben der politischen gerade auch die künstlerische Vormachtstellung gegenüber anderen Ländern: »Wir wollen wachsen in jeder Beziehung, in politischem und künstlerischem Verständnis!«269 Politische und dichterisch-künstlerische Ebene hängen etwa für Lienhard konstitutiv zusammen: Beeinflusst insbesondere von der Kulturkritik Langbehns ist auch für die Heimatkunstbewegung die Vorstellung einer geistigkulturellen Kolonisation Deutschlands, Europas und der Welt zentral. Heimatkunst will, so Adolf Bartels, »mit der allgemeinen deutschen autochthonen Kultur endlich ernst mach[en] und sie, soweit es möglich, durch die Welt tragen«.270 Vor allem die Schriften Lienhards weisen eine starke Metaphorik der Ausdehnung auf. Insofern belässt es Lienhard auch nicht beim totalen Lebensmodell seines Wasgaudorfes; vielmehr dient dieses als Ausgangspunkt für die Ausbreitung einer neuen Weltanschauung. »Sollte nicht auch dies kleine Elsaß, das noch einmal unter dem Welteroberer Napoleon vorzügliche Soldaten und Generäle geliefert, den Anfang machen mit einer großen Weltanschauung religiöser oder künstlerischer Natur?«271 fragt Lienhard zunächst und nur wenige Seiten später expliziert er diesen Anspruch: »›Elsaß‹ – Stichwort einer neuen europäischen Kultur: grüß Gott, ihr herrlichen Horizonte!…«272 Künstlerische bzw. kulturpolitische Expansion, sprich weltanschauliche ›Kolonisation‹ im Sinne einer langbehnschen geistigen Kolonisation Deutschlands, Europas und der Welt – das ist das Programm der Heimatkunstbewegung: »Charakterkraft blühe wieder auf in Kunst und Leben, vom Wasgau bis hinaus an die schimmernde Ostsee!«273 Hier ist die Expansion des Heimatkunstgedanken über ganz Deutschland angelegt274 – und wohl nicht zufällig ist der Referenzpunkt der geistig-kulturellen Expansion wie schon bei Langbehn die See. Heimat und ›regionaler Geist‹ sollen durch die Welt getragen werden – Heimat und Kolonie beziehen sich insofern schon in der Programmatik der Heimatkunst avant la lettre konstitutiv aufeinander. Entsprechend ist die Verwurzelung in der ›Heimat‹ auch nicht an das geographische Verweilen am Ge269 Lienhard: Die Vorherrschaft Berlins, S. 28. 270 Bartels: Heimatkunst, S. 19. 271 Lienhard, Fritz [Friedrich]: Hohbarr – Großgeroldseck. In: ders.: Wasgaufahrten. Ein Zeitbuch. Berlin 1895, S. 47–70, hier S. 61. 272 Lienhard: Hohbarr – Großgeroldseck, S. 66. 273 Lienhard: Hohbarr – Großgeroldseck, S. 70, Hervorhebung im Original. 274 Damit ist der expansionistische Charakter grundsätzlich schon früher angelegt, als ihn Rossbacher ansetzt (vgl. Anm. 265).

›Kolonien‹ und ›Kolonisation‹ in der Kulturkritik

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burtsort gebunden. Lienhard bringt dieses Programm in einer der späteren Auflagen der »Wasgaufahrten« im Gedicht »Bei uns daheim« auf folgende Formel: […] Und fahr’ ich noch so weit in die Welt, Euer Landsmann bleib’ ich doch! […]275

Der Wanderer trägt das Sinn vermittelnde totale Lebensmodell mit sich – in sich –, er muss nicht örtlich anwesend sein, um in der Heimat verwurzelt zu sein. Das Streben hinaus in die Welt steht nicht im Widerspruch zur Programmatik der Regionalität. Vor diesem Hintergrund lohnt schließlich ein genauer Blick auch auf den Heimatbegriff der Heimatkunstbewegung: Es giebt da zwei Grade des Empfindens. Der naive Natursohn, der nie über sein Dorf im Waldwinkel hinauskommt, der verwachsen ist mit Scholle und Hof, mit Wald und Busch und Heide, wird mit einfältiger Selbstverständlichkeit an seinem Fleck Erde hangen, so lange kein Schall von draußen in seine Welt entscheidend hereinklang. Dann kann eine Zeit der Wanderlust, des Herabsehens auf sein Walddörfchen kommen. Neue, große Eindrücke schlagen über dem Wanderburschen zusammen: die aufrüttelnde Stimmung des Weltverkehrs, des Meeres, des Hochgebirgs, fremder Sprachen, fremder Sitten nehmen seine ganze Fassungskraft in Anspruch. Nach und nach aber wird er dieser Eindrücke Herr, sichtet und ordnet den eingeheimsten Ballast, vergleicht seine Waldstille – und kommt endlich bereichert und beruhigt, als der alte und doch ein anderer, auf seinen heimatlichen Fleck zurück. Jetzt wird er mit neuer, bewußter, geläuterter Liebe aufs neue Freund und Sohn seiner Heimat, seiner kleinen Pflicht: er hat vergleichen gelernt, er hat sein Fleckchen eingliedern gelernt ins große ReichsGanze, er hat auch seine kleine Pflicht eingegliedert ins Welt-Ganze. Er ist nun wieder ›Partikularist‹, das heißt aber hier : bewußter Freund seiner besonderen Heimat, und ist doch zugleich vortrefflicher Reichsbürger ; er ist nun guter Deutscher und ist doch zugleich unbefangener Beurteiler der Eigenart anderer Völker, wenn man also will: ›Weltbürger‹. Diese reife Heimatliebe, dieses reife Stammesbewußtsein ist es allein, das wir in den Tagen eines großen Weltverkehrs brauchen können und das nie untergehen kann. Und auf diese reife Liebe zu deutschem Land und Volk darf und kann sich allein eine moderne Heimatkunst aufbauen. Und da drängt es mich nun, darauf hinzuweisen, wie reich und schön und immer neuartig unser deutsches Land, unsere deutsche Geschichte, unsere Sagen, Märchen, Gebräuche und folglich auch unsere dichterischen Stoffe sind weitum im Reiche und über seine zu engen Grenzen hinaus.276

Heimat steht zunächst für ein lebenslanges Verweilen am Geburtsort – diese Begriffsbestimmung wird jedoch auch in der Heimatkunst als der Vergangen275 Lienhard, Friedrich: Wasgaufahrten. Stuttgart 1912 [1895] (4. Aufl.), S. 80. Dieses Gedicht ist nicht Teil der ersten Auflage der Wasgaufahrten; Lienhard hat offenbar verschiedene Änderungen zwischen den einzelnen Auflagen vorgenommen. 276 Lienhard: Die Vorherrschaft Berlins, S. 11/12, Hervorhebungen im Original.

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heit, der Vormoderne zugehörig bestimmt. Dahingegen setzt ein ›modernes‹, auf Kulturvergleich basierendes Heimatempfinden den Gang in die Welt und die Konfrontation mit der Moderne als Bedingung der Möglichkeit weltanschaulicher Klärung konstitutiv voraus; auf den Gang in die Welt folgt der weltanschauliche Klärungsprozess, genauer die Synthese von vormoderner Heimatverbundenheit und Moderneerfahrung im weltanschaulichen Standpunkt. Der Heimatbegriff der Heimatkunst wird insofern auch und gerade synonym für Weltanschauung gebraucht, der Kulturexpansionismus der Heimatkunst ist weltanschauliche Kolonisation Deutschlands und der Welt. Hinter diesem Entwurf steht das Geschichtsmodell des weltanschaulich-kulturkritischen Denkens. Entsprechend wird im (Kultur)Expansionismus der Heimatkunstbewegung der doppelte, machtpolitische und kulturkritische, Kolonie- bzw. Kolonisationsbegriff nicht nur aufgegriffen, er wird auch analog zu den weltanschaulichen Schriften Lagardes und Langbehns an der Gelenkstelle zwischen Sündenfall Moderne und Erlösungshoffnung für einen kulturoptimistischen Gegenentwurf zur pessimistischen Ausgangsdiagnose eingesetzt.

Lebensreformkolonien – Künstlerkolonien. Soziale und künstlerische Moderne-Opposition in der Kolonie Nicht nur im Bereich weltanschaulich-konservativer, auch in der lebensreformerischen Kulturkritik kommt dem Begriff ›Kolonie‹ eine Schlüsselfunktion zu. Ausgehend von der Beobachtung der modernen Gesellschaft und ihrer Probleme insbesondere infolge der Industrialisierung greift die Lebensreform den Kolonie-Begriff auf und setzt ihn, dem Geschichtsmodell der Kulturkritik und der Leitidee einer »Gesellschaftsreform durch Selbstreform«277 folgend, systematisch an den Ursprung der Entwicklung einer alternativen Gesellschaftsform. Anders als die konservative Kulturkritik sucht die Lebensreform ihren normativen Punkt allerdings nicht in der Vormoderne; die Kolonie wird vielmehr zum 277 Vgl. Krabbe: Lebensreform/Selbstreform, S. 74 sowie Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Bekanntlich handelt es sich bei der Lebensreform um eine Bewegung, die weder eine einheitliche Theorie, noch eine geschlossene Organisationsform hat; vielmehr handelt es sich um eine spezifische Lebensauffassung, die der Heterogenität der Gruppen gemein ist (vgl. Frecot, Janos: Die Lebensreformbewegung. In: Vondung, Klaus [Hrsg.]: Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen 1976, S. 138–152, hier S. 138). Im Anschluss an Krabbe können jedoch über die Erlösungslehre hinaus zwei weitere Strukturmerkmale bestimmt werden: Erstens intendiere die Lebensreform eine Erneuerung des Lebens in ganzheitlicher Hinsicht und zweitens erstrebe sie eine Reform der Gesellschaft über die Verbesserung der Lebensbedingungen jedes Einzelnen. Sie privatisiere also die soziale Frage, indem sie individualreformerischen Zielen Priorität einräume (vgl. zu diesen beiden Punkten Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, S. 171f.).

›Kolonien‹ und ›Kolonisation‹ in der Kulturkritik

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Ausgangspunkt einer ›anderen‹, einer ›besseren‹ Moderne, wird zum Korrektiv einer fehlgeleiteten Moderne. Bereits 1890 veröffentlicht Theodor Hertzka seinen Freiland-Entwurf, in dem Lebensreform und Kolonialismus systematisch verschränkt werden.278 Die Wirtschaftsutopie ist damit – auf textueller Ebene – eines der explizitesten Beispiele dafür, dass Kolonialdiskurs und Lebensreform um 1900 in enger Verbindung zueinander stehen. Die überseeische Kolonie dient hier der konkreten Erprobung einer neuen Wirtschaftsordnung und wird so zum Ausgangspunkt einer Wirtschafts- und Gesellschaftsreform mit weltumspannendem Ausmaß. Der Text nimmt einen Zwitter-Status zwischen Roman und nationalökonomischer Abhandlung ein279 : Hertzka hat sich entschieden, seinen Lebensreform-Entwurf in Romanform vorzulegen, um so entsprechend der konkreten Wirkabsicht (der Untertitel lautet »Ein sociales Zukunftsbild«) eine breitere Leserschaft zu erreichen. Das erklärt nicht nur die deutlichen ästhetischen Schwächen – um nicht zu sagen: Unzulänglichkeiten – des damals auflagenstarken und einflussreichen Werkes280, das sich wesentlich als das liest, was im Vorwort auch als Selbstanspruch formuliert wird: eine nationalökonomische Abhandlung mit »romanhafte[m] Beiwerk«281. Zugleich ist der Text mit seiner Wirkabsicht genau an der Schnittstelle von Literatur und Lebenspraxis situiert. Dem kulturkritischen Reflexionsmodus folgend beobachtet und beschreibt Hertzka zunächst die moderne Gesellschaft, insbesondere ihr Wirtschaftssystem. Das Grundproblem, an dem der europäische Kapitalismus leide, sei die »anarchische Gestaltung der ausbeuterischen Produktionsverhältnisse«282 mit 278 Der Text ist von der Forschung bislang kaum wahrgenommen worden; eine Ausnahme stellen Richard Saage (ders.: Utopische Profile, Band III: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert. Münster/Hamburg 2002), Peter Rosner (ders.: Theodor Hertzka and the utopia of »Freiland«. In: History of Economic Ideas XIV, 2006, 3, S. 113–137) und Catherine Repussard dar (dies.: Lebensreform im Schatten des Kilimandscharo. »Freiland« von Theodor Hertzka (1890). In: Repussard, Catherine/Cluet, Marc [Hrsg.]: Lebensreform. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht. Tübingen 2013, S. 267–282). 279 Aus diesem Grund wird der Text in der vorliegenden Arbeit an zwei Orten behandelt: Im vorliegenden Abschnitt III wird er wesentlich als Programmtext der Lebensreform gelesen; auf seine literarische Form soll dann in Abschnitt IV.2.2 »Regeneration und Erlösung in der Kolonie. Der kulturkritische Überseeroman« genauer eingegangen werden. 280 Richard Saage zufolge ist der Text zuerst 1889 in Berlin bei Duncker & Humblot erschienen, 1890 dann eine gekürzte Version bei E. Pierson in Dresden und Leipzig (vgl. Saage: Utopische Profile, Band III: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert, S. 184). Die erwähnte Berliner Auflage konnte im Fernleihe-Verkehr nicht nachgewiesen werden; die Erstauflage scheint vielmehr 1890 in Leipzig bei Duncker & Humblot erschienen zu sein. Bis 1895 gab es bereits zehn Auflagen; die englische Übersetzung erschien bereits 1890 in London, die französische in Paris 1892 (vgl. ebd., S. 184). 281 Hertzka: Freiland, S. XXVIII. 282 Ebd., S. 411.

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ihren »entnervten, ausgemergelten Knechten des Abendlandes«283. Anders formuliert: Das Problem ist die Existenz von Arbeitern auf der einen und einer besitzenden Klasse auf der anderen Seite mit den daraus resultierenden ausbeuterischen Bedingungen der Produktion. Hertzkas Grunddiagnose lautet: Noch niemals haben die Arbeitenden den Versuch gewagt, ohne Herrn, als freie eigenberechtigte Männer und nicht als Knechte – dabei aber mit vereinten Kräften zu produzieren. […] Damit die Arbeit frei und eigenberechtigt werde, müssen sich die Arbeitenden als solche, nicht aber als kleine Kapitalisten zusammenthun; sie dürfen keinen wie immer genannten oder gearteten Arbeitgeber über sich setzen, also auch keinen solchen, der aus einer Genossenschaft von Ihresgleichen besteht; sie müssen sich als Arbeitende und nur als solche organisieren, dann erst haben sie auch als solche Anspruch auf den vollen Arbeitsertrag. Und diese Organisation der Arbeit ohne jeglichen Rückstand des altererbten Herrschaftsverhältnisses irgend eines Arbeitgebers ist das Grundproblem der socialen Befreiung; ist dieses glücklich gelöst, so folgt alles Andere ganz von selbst.284

Diese Grundanalyse ist in Hertzkas Diskussion der klassischen nationalökonomischen Frage nach dem »Reichtum der Nationen«285 eingelassen, die er mit der Frage des Konsums engführt: »Jedes Volk vermag nur so viel zu erzeugen, für wie viel es Verwendung hat und die Höhe seines Reichtums ist daher bedingt durch die Höhe seiner Bedürfnisse.«286 – »Wo man wenig gebraucht, kann man wenig erzeugen, kann also auch wenig Instrumente der Erzeugung besitzen, muß also arm bleiben.«287 Der Reichtum der Nationen leite sich entsprechend aus ihrem Konsum ab; zugleich wird ein Ungleichgewicht aus Produktion und Konsum (mit der Folge von Konjunkturschwankungen) aus der Unterkonsumption der Bevölkerung, genauer der mittellos gehaltenen Arbeiter, abgeleitet288 – ist also die Folge der Ausbeutung289 derselben. Die Lösung Hertzkas, die 283 284 285 286 287 288

Ebd., S. 266. Ebd., S. 147/148. Ebd., S. 267. Ebd., S. 268. Ebd., S. 268, Hervorhebung im Original. »›[…] Denn die Ursache aller Krisen, sie mögen nun Produktions- oder Kapitalkrisen heißen, liegt einzig in der Überproduktion, d. h. in dem Mißverhältnisse zwischen Produktiv- und Konsumptionskraft und dieses Mißverhältnis existiert bei uns nicht. […]‹« (Ebd., S. 403). Vgl. hierzu auch Saage: Utopische Profile, Band III: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert, S. 191. 289 »›[…] Also nicht aus einem Zuviel von Produkten im allgemeinen, nicht aus einem Mißverhältnisse zwischen Produktivkraft und Verbrauch schlechthin, sondern aus vorübergehenden Störungen des richtigen Verhältnisses zwischen den einzelnen Produktionen erklärt die orthodoxe Doktrin die Krisen, indem sie noch hinzufügt, daß angesichts des in der ganzen Welt herrschenden Elends von mangelndem Bedarfe zu reden geradezu paradox sei. Bei dieser, im übrigen schlechthin unanfechtbaren Gedankenkette, ist nur Eines vergessen worden, nämlich die Grundeinrichtung der gesamten ausbeuterischen Gesell-

›Kolonien‹ und ›Kolonisation‹ in der Kulturkritik

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Alternative, die er in den Blick nimmt, kann entsprechend nur lauten: Wird das Wirtschaftssystem korrigiert, lösen sich alle anderen hieran gebundenen Probleme (soziale Frage) von selbst.290 Vor dem Hintergrund der so gelagerten Beobachtung und Beschreibung des modernen Wirtschaftssystems lautet Hertzkas Lösung dann: Gründung von »Freiland« in Übersee, Aufbau einer vollständig neuen Wirtschaftsordnung in der Kolonie. Aus den übergeordneten ökonomischen Veränderungen werden schließlich gesellschaftliche abgeleitet – mit der Lösung der ökonomischen Probleme ist zugleich die Lösung der sozialen Frage verbunden. Die grundsätzliche Notwendigkeit ökonomischer Modernisierung stellt Hertzka dabei niemals in Frage – ganz im Gegenteil ist diese sogar Motor der Zukunftsprojektion291, der ›anderen‹ Moderne. Darüber hinaus zeigt sich der Gesellschaftsentwurf Freilands in einzelnen Aspekten deutlich von zentralen Gedanken der Lebensreform beeinflusst.292 Hertzka operiert damit, wenn er Kolonialund Lebensreformdiskurs systematisch verschränkt, mit dem doppelten, machtpolitischen und kulturkritischen, Kolonie-Begriff.293 Der Freiland-Entwurf greift ganz konkret auf die (überseeische) Kolonie als Ort und Modell zurück, an dem die wirtschaftliche Moderne einer Korrektur unterzogen, von ihren Fehlern bereinigt und so weiterentwickelt werden kann, setzt also die Kolonie im Geschichtsmodell der Kulturkritik ebenfalls an die Gelenkstelle zwischen Sündenfall Moderne und Erlösungshoffnung.

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schaft. […]‹« (Hertzka: Freiland, S. 405). Vgl. hierzu auch Saage: Utopische Profile, Band III: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert, S. 191. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass die Darlegung der politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen in Hertzkas Freiland-Entwurf sekundären Stellenwert hat; sie leiten sich aus der ökonomischen Einrichtung ab und dienen zugleich der Sicherung des Wirtschaftssystems. Vgl. etwa Hertzka: Freiland, S. 242. Vgl. hierzu im Detail Kapitel IV.2.2 »Regeneration und Erlösung in der Kolonie. Der kulturkritische Überseeroman«. Es gilt, die verschiedenen Begriffsverwendungen bzw. Formen der ›Kolonie‹ innerhalb des Textes sorgfältig zu unterscheiden. Auch Hertzka kennt selbstredend europäische Kolonien in Übersee, die im engeren Sinn machtpolitische Gebilde darstellen – diese Begriffsbesetzung kommt, als Teil der weltpolitischen Voraussetzungen, ohne kritische Hinterfragung vor. Die erste Expedition macht etwa auf Sansibar Station, wo es eine »während der letzten Jahre auf nahezu 200 Köpfe angewachsene europäische Kolonie« gibt (Hertzka: Freiland, S. 25). Die »Kolonie von Edenthal« (ebd., S. 114) selbst, die ihrerseits später in weitere Industrie- und Ackerbaukolonien innerhalb des konsolidierten Freilands (vgl. ebd., S. 333) ausdifferenziert wird, ist aber gerade nicht als machtpolitische europäische Kolonie konzipiert, sondern als unabhängige Siedlung ohne ›Mutterstaat‹. Sie ist insofern von ihrer Anlage her den sich um die Jahrhundertwende innerhalb Deutschlands gründenden Lebensreform-Kolonien vergleichbar, die ebenfalls als Siedlungen, in denen Vorstellungen von einem besseren Leben in die Praxis umgesetzt werden sollen, verstanden werden können. Mehr noch: Hertzkas Entwurf liefert wesentliche theoretische Eckpunkte auch für die Gründung der Lebensreform-Kolonien in Deutschland.

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Hertzka lehnt den europäischen Kapitalismus ab; zugleich liegt die Lösung für ihn aber auch nicht in einem kommunistischen Wirtschaftssystem – der freiländische, in der überseeischen Kolonie realisierte alternative Wirtschaftsund Gesellschaftsentwurf richtet sich sowohl gegen den europäischen Kapitalismus als auch gegen kommunistische Wirtschaftsmodelle. Das Wirtschaftssystem Freilands unterscheidet sich nicht nur in zentralen Punkten von einem kommunistischen System, Hertzka spricht sich darüber hinaus mehrfach gegen die Grundüberzeugungen kommunistischen Denkens aus: Die kommunistische Planwirtschaft, die »die Herstellung des richtigen Wechselverhältnisses zwischen Angebot und Nachfrage nicht dem freien Verkehre überläßt, sondern von Obrigkeitswegen bewerkstelligt«294, ist ihm ebenso ein Dorn im Auge wie eine »absolute Gleichheit«295 aller Menschen. An die Stelle der Gleichheit setzt er das Prinzip wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Gleichberechtigung: »[…] Die absolute Gleichheit ist eine Hallucination des Hungerfiebers, weiter nichts. Die Menschen sind einander nicht gleich, weder in ihren Fähigkeiten, noch in ihren Bedürfnissen […]. […] Mit der Erkenntnis, daß es nur der vollkommenen Gleichberechtigung bedürfe, um Überfluß für alle zu schaffen, verfliegt der Kommunismus ganz von selbst wie ein böser, beängstigender Traum. […]«296

Es ist insofern insbesondere das Menschenbild, Grundlage eines jeden utopischen Entwurfes eines idealen Gemeinwesens, hinsichtlich dessen es fundamentale Unterschiede zu kommunistischen Vorstellungen der Zeit gibt. Grundlage dieser Wirtschaftsutopie ist der rational kalkulierende homo oeconomicus, der anders als im marxistischen Sozialismus nicht für das Gemeinwohl, sondern für die eigenen Interessen wirtschaftet.297 Hertzka ist dabei von allen klassischen ökonomischen Autoren und Theorien beeinflusst – von Adam Smith über David Ricardo und Karl Marx bis zu Thomas Robert Malthus und John Stuart Mill298, von Grenznutzenschule und Arbeitswerttheorie bis hin zur sogenannten Bevölkerungsfalle.299 Seine Wirtschaftsutopie führt zentrale Gedanken der unterschiedlichen Traditionslinien zusammen und synthetisiert diese zu einem eigenen Entwurf. Der erste Grundsatz, der 294 295 296 297

Ebd., S. 380. Ebd., S. 453. Ebd., S. 453/454, Hervorhebungen im Original. Vgl. Saage: Utopische Profile, Band III: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert, S. 194/195. 298 Vgl. unter anderem Rosner : Theodor Hertzka and the utopia of »Freiland«, hier insb. S. 113 und S. 124ff. zu den Einflüssen der klassischen Ökonomie auf Hertzka. 299 Vor dem Hintergrund der Kernthese zum Reichtum der Nationen verhandelt der Text einzelne Aspekte der Nationalökonomie, vom Marktpreis (vgl. Hertzka: Freiland, S. 265/ 266) über die Arbeitswerttheorie (vgl. ebd., S. 378ff.) bis hin zu Bevölkerungsfalle und Verelendungswachstum, sprich der Malthusianischen Katastrophe (vgl. ebd., S. 594).

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den freiländischen Wirtschaftsentwurf von der »alten Wirtschaftsordnung«300 unterscheidet, ist die Abschaffung der herrschenden Klasse der Kapitalisten, aus der Hertzka die Abhängigkeit, ja ein Sklavendasein des Arbeiters ableitet.301 In der neuen Wirtschaftsordnung sollen die »Menschen […] ihre Arbeit regieren«302 und »jedem Arbeitenden der ungeschmälerte Ertrag der eigenen Arbeit zugesprochen«303 werden. Um die herrschende Klasse der Kapitalisten abzuschaffen ohne zugleich eine kommunistische ›Bevormundung‹ einzuführen, sollen sich in Freiland nach eigenem Belieben bzw. rationalen Erwägungen »hundert oder tausend Arbeiter […] zusammenthun, um für gemeinsame Rechnung und Gefahr zu arbeiten«304. Die Voraussetzung hierfür ist – dies gehört zu den Grundfesten des freiländischen Wirtschaftssystems – der freie Zugang eines jeden Arbeiters zu den erforderlichen Produktionsmitteln, derer es zweierlei gibt: »Naturkräfte und Kapitalien«305. Entsprechend zählen die Bodenreform306 und die Reform des Kapitalmarktes zu den Grundfesten des freiländischen Wirtschaftssystems. An beiden kann den Arbeitern also Besitz, aber kein Eigentum verschafft werden: Man sieht, die Produktivkapitalien sind infolge dieser einfach und unfehlbar funktionierenden Einrichtung streng genommen ebenso herrenlos als der Boden; sie gehören Jedermann und daher eigentlich Niemand. Die Gemeinschaft der Produzenten giebt sie her und benützt sie […].307

Der so geartete Wirtschaftsentwurf hält nun sowohl in seiner dargelegten Selbstabgrenzung von kommunistischen Wirtschaftsideen als auch in seiner eigenen inhaltlichen Ausgestaltung auf der einen Seite an wirtschaftsliberalen Grundgedanken fest – etwa was die Vorstellung eines freien Marktes mit freier Konkurrenz308 zwischen den Teilnehmern innerhalb des Wirtschaftssystems 300 Ebd., S. 146. 301 Beklagt wird die Tyrannei innerhalb der sogenannten zivilisierten Welt, die geknechtete Völker daniederhalte (vgl. ebd., S. 484). Die europäischen Kapitalisten werden darüber hinaus mit Kannibalen verglichen, die ihre Mitmenschen, sprich Lohnarbeiter, wenn auch ohne Blutvergießen so doch langsam töten, indem sie von der Ausbeutung geknechteter Mitmenschen leben würden (vgl. ebd., S. 464/465). 302 Ebd., S. 137. 303 Ebd., S. 146. 304 Ebd., S. 137. Die interne Organisationsstruktur der »Produktiv-Associatio[nen]« (ebd., S. 149) bzw. »Genossenschaften« (ebd., S. 149) sieht dann allerdings durchaus hierarchische Strukturen vor (vgl. das Musterstatut, ebd., S. 149–151), die aus Wahlen hervorgehen. 305 Ebd., S. 145. 306 Die Idee der Bodenreform ist nicht neu, eine organisierte Bodenreform-Bewegung ist in Europa bereits in den 1830er Jahren entstanden. Namen, die mit der Bodenreform verbunden sind, sind in Amerika Henry George, in Großbritannien John Stuart Mill sowie in Deutschland Hermann Gossen (vgl. Meyer-Renschhausen/Berger : Bodenreform, S. 265). 307 Hertzka: Freiland, S. 153. 308 Vgl. etwa ebd., S. 158 sowie ebd., S. 301.

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ebenso wie den ungebrochenen Glauben an das stete Wachstum der Wirtschaft309, die Selbstregulation der Märkte310 und den Goldstandard311 angeht. Auf der anderen Seite ist der Entwurf aber auch sozialistischen Ideen verpflichtet – der Text selbst bezeichnet jene freiländischen Wirtschaftspioniere als »socialistische Gesellschaft«, als Gruppe von »200 Socialisten«312, die »in das Innere von Afrika« geführt wird.313 Oberstes freiländisches Gesetz ist das der »wirtschaftlichen Gerechtigkeit«314 eines freien Marktes, zu dem jeder vor dem Hintergrund des Prinzips der Chancengleichheit die gleichen Zugangsbedingungen haben soll315. Entsprechend wird nicht nur die kapitalistische Klasse der Besitzenden aufgehoben, sondern die Klassengesellschaft insgesamt zugunsten einer Gesellschaft, in der alle die gleichen Chancen erhalten.316 Mit der Trias der Freiheit des Bodens, der Arbeit und der Produktionsmittel als Grundfesten des 309 Vgl. etwa ebd., S. 186; der Wachstums- und Forschrittsglaube umfasst dabei alle Bereiche des Lebens: »[…] auch der Erfolg hat nicht gewechselt, nur daß das Wachstum von geistiger und materieller Kultur, von Einwohnerzahl und Reichtum sich in unablässig steigernder Progression bewegte.« (Ebd., S. 261) Der Fortschrittsglaube ist dabei evolutionistisch fundiert – vgl. zu Hertzkas Darwin-Deutung im Detail Kapitel IV.2.2 »Regeneration und Erlösung in der Kolonie. Der kulturkritische Überseeroman«. 310 Vgl. ebd., S. 380/381. 311 Vgl. ebd., S. 378ff. 312 Ebd., S. 21. 313 Ebd., S. 21. 314 Ebd., S. 146. 315 Freiheit des Marktes und Freiheit des Informationszuganges, mithin die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses, bedeuten für Hertzka gleichermaßen Chancengleichheit im ökonomischen System für jeden Teilnehmer ; insofern unterscheidet sich das Wirtschaftssystem Freilands vom kapitalistischen System Europas: »Die Grundlage des Organisationsplanes war schrankenlose Öffentlichkeit in Verbindung mit ebenso schrankenloser Freiheit der Bewegung. Jedermann in ganz Freiland mußte jederzeit wissen, nach welcherlei Produkten jeweilig größerer oder geringerer Bedarf und in welchen Produktionszweigen jeweilig der größere oder geringere Ertrag vorhanden sei; um das zu erreichen, durfte es in Freiland kein Geschäftsgeheimnis geben. Ebenso aber mußte Jedermann in Freiland jederzeit das Recht und die Macht haben, sich – soweit seine Fähigkeiten und Fertigkeiten reichen – den jeweilig rentabelsten Produktionszweig zuzuwenden; um das zu ermöglichen, mußten alle Produktionsmittel und Produktionsstätten Jedermann zugänglich sein.« (Ebd., S. 144). 316 Vgl. exemplarisch ebd., S. 20, wo dargelegt wird, dass alle Menschen, auch die Küchenmagd, »von Natur aus mit gleichem Rechte ausgestattet« seien, sowie die Tatsache, dass es bereits auf den Schiffen nach Freiland keine »Klassenunterschiede« gibt (ebd., S. 109), und schließlich die Grundgesetze Freilands erwähnt werden, die nicht nur das gleiche Anrecht aller Freiländer auf Boden und Produktionsmittel, sondern auch aller Frauen, Kinder, Greise und Arbeitsunfähiger auf Unterhalt und die individuelle Freiheit des Einzelnen festschreiben (ebd., S. 211/212); »Alle Produktionsmittel sind Gemeingut; über das Ausmaß des Nutzens, den ein jeglicher von uns von diesem gemeinsamen Eigentume ziehen mag, entscheidet nicht der Zufall des Besitzes – aber auch nicht die Fürsorge einer Alles bevormundenden communistischen Obrigkeit, sondern einzig die Fähigkeit und der Fleiß eines Jeden.« (Ebd., S. 160, Hervorhebung im Original).

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neuen Wirtschaftssystems richtet sich Freiland – als Wirtschaftskorrektiv – sowohl gegen den ›Zufall des Besitzes‹ der alten kapitalistischen Ordnung als auch gegen eine ›bevormundende‹ Obrigkeit des Kommunismus. Es basiert dabei ferner auf der grundlegenden Annahme einer vollkommenen Interessenssolidarität der Freiländer317 – die den einander zuwider laufenden Partikularinteressen des kapitalistischen Wirtschaftssystems entgegen gestellt sind. Der Wirtschaftsentwurf Hertzkas ist die Synthese von Liberalismus und Sozialismus, ein dritter Weg zwischen kapitalistischem Wirtschaftsliberalismus und kommunistischer Planwirtschaft318 : Das koloniale Wirtschaftskorrektiv ist der Entwurf einer sozialistischen Marktwirtschaft auf produktionsgenossenschaftlicher Basis. Es sind zwei wesentliche semantische Konnotationen, die die ›Kolonie‹ für die Wirtschaftsutopie in ihrer raum-zeitlichen Doppelfunktion prädestinieren. Es ist dies zunächst der Aspekt der Absonderung: »›[…] Die Verbindung mit diesen, tief im Inneren des dunklen Weltteils gelegenen Bergländern ist allerdings schwierig, aber gerade das ists, was uns für den Anfang notthut. […]‹«319 Zugleich ermöglicht der expansive Charakter im wörtlichen wie im übertragenen Sinn die Ausbreitung von Gedankengut über die Welt. Entsprechend sind die zwei Phasen der Freiland-Utopie erstens die Absonderung von der modernen Gesellschaft und der Aufbau der neuen Wirtschaftsordnung in der kolonialen Absonderung (Erstes und Zweites Buch) sowie sodann – nach Gründung, Aufbau und Konsolidierung – die Expansion sowohl im räumlichen wie auch im geistigen Sinn (Drittes und Viertes Buch): Freiland wächst, es »hatte seither seine Grenzen nach allen Seiten, insbesondere nach Westen zu mächtig ausgedehnt«320 ; zugleich werden die Gedanken Freilands durch die Welt getragen, andere Staaten schließen sich seinem Wirtschaftsentwurf an. Das vierte und letzte Buch der Freiland-Utopie schildert, im Wesentlichen in Protokollform, einen in der Zukunft stattfindenden Weltkongress, auf dem wesentlich der Anschluss sämtlicher Länder an Freiland und sein Sozial- und Wirtschaftssystem diskutiert wird: Nicht weil wir die Verantwortung oder Last scheuten, sondern weil wir es in jeder Beziehung und im allseitigen Interesse für das Beste hielten, wenn der sociale Umge317 Vgl. ebd., S. 424. 318 Auf diesen Aspekt hat bereits Richard Saage in seiner Auseinandersetzung mit Hertzkas Freiland-Entwurf hingewiesen; vgl. Saage: Utopische Profile, Band III: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert, S. 184/186 zur Synthese zwischen wirtschaftlichem Individualismus und sozialer Gerechtigkeit in einem System, das einen dritten Weg »zwischen kapitalistischem Wirtschaftsliberalismus und marxistischer Planwirtschaft aufzuzeigen sucht«. 319 Hertzka: Freiland, S. 8. 320 Ebd., S. 263.

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staltungsprozeß, welchem nunmehr die gesamte Menschheit entgegenging, von dieser auch mit gesammelten Kräften nach gemeinsam wohl erzogenem Plane ins Werk gesetzt werde, beschlossen wir, ungesäumt die Nationen der Erde zu einer Beratung nach Edenthal einzuladen, in welcher erörtert werden solle, was nunmehr zu geschehen habe.321

Zugleich wird hier dem Leser auf (bisweilen unerträgliche) trocken-theoretische Art und Weise noch einmal die potentielle Umsetzbarkeit des Freilandgedankens auseinandergesetzt. Hertzkas Schlusswort verdeutlicht schließlich die für die Reformbewegungen der Jahrhundertwende typische konkrete Wirkabsicht Hertzkas: Denn nicht die wesenlose Schöpfung einer ausschweifenden Phantasie ist dieses Buch, sondern das Ergebnis ernsten, nüchternen Nachdenkens, gründlicher, wissenschaftlicher Forschung. Alles, was ich als thatsächlich geschehen erzählte, es könnte geschehen, wenn sich Menschen fänden, die erfüllt gleich mir von der Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände, sich zu dem Entschlusse aufrafften, zu handeln, statt zu klagen. […] Um »Freiland«, so wie ich es darstelle, zur Thatsache werden zu lassen, bedarf es also in jeder Hinsicht bloß einer genügenden Anzahl thatkräftiger Menschen. Wird es mir vergönnt sein, noch unter den Lebenden zu weilen, wenn diese sich finden?322

Es ist dies durchaus ernst gemeint, Hertzkas literarischer Text will zugleich Anleitung zur realen Umsetzung sein – er will ernst machen mit dem Korrektiv Kolonie, mit dem selbstreformerisch motivierten Rückzug in die Weltanschauungskolonie und der anschließenden kolonisierenden Ausbreitung seiner Weltanschauung zu Zwecken gesamtgesellschaftlicher Reform. Es ist daher nur folgerichtig, dass in Reaktion auf den Freiland-Text nicht nur zahlreiche Freiland-Vereine gegründet worden sind, sondern unter Hertzkas eigener Führung auch eine (gescheiterte) Expedition nach Kenia stattgefunden hat, um das Freiland-Projekt in der Praxis zu erproben.323 Auch innerhalb Deutschlands sind vom Freiland-Gedanken beeinflusste Kolonien gegründet worden – zu den bekanntesten zählt die »Obstbau-Kolonie Eden«. Fünf Jahre nach Ersterscheinen von Hertzkas »Freiland«-Roman, zwei Jahre nach der unter Beteiligung von Franz Oppenheimer erfolgten Gründung der genossenschaftlich organisierten Obstbaukolonie Eden324 und ein Jahr nach Hertzkas gescheiterter Kenia-Expedition publiziert der Nationalökonom und 321 Ebd., S. 519. 322 Ebd., S. 675–677, Hervorhebung im Original. 323 Hierauf verweist Oppenheimer in seiner Abhandlung »Freiland in Deutschland«: »[A]ls er [Hertzka] schließlich die unglückliche Vorexpedition ins Werk setzte, scheiterte sie, bevor sie begann, aus Mangel an Geld, noch an der Küste des schwarzen Kontinentes.« (Oppenheimer, Franz: Freiland in Deutschland. Als Manuskript gedruckt. Berlin 1895, S. 67/ 68). 324 Vgl. Meyer-Renschhausen/Berger : Bodenreform, S. 269.

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Soziologe Franz Oppenheimer die Abhandlung »Freiland in Deutschland«, in der er an zentrale Gedanken Theodor Hertzkas anschließt, sich aber – wohl auch unter dem Eindruck der gescheiterten Expedition nach Kenia – in einem zentralen Punkt gegen Hertzka stellt: Er sieht die Gründung einer Freiland-Kolonie als Ausgangspunkt einer Wirtschafts- und Gesellschaftsreform Deutschlands und der Welt nicht in Übersee, sondern in Deutschland selbst.325 Oppenheimers Abhandlung umfasst zwei Teile: Im ersten Band legt er seine theoretischen Grundgedanken zum »Sozialitär-Prinzip« dar und diskutiert ihr Verhältnis zum Programm der wesentlichen Strömungen der deutschen Parteienlandschaft; der zweite Teil setzt sich mit der praktischen Umsetzung des Prinzips auseinander und diskutiert vor diesem Hintergrund auch Hertzkas Vorstellung einer Umsetzung in Übersee und die gescheiterte Expedition nach Kenia. Vor dem Hintergrund der Grundannahme einer grundsätzlichen kulturellen Höherentwicklung der Menschheit markiert Oppenheimer zunächst die Fehlentwicklungen der Moderne, die auch er wesentlich in den Grundlagen des modernen Wirtschaftssystems sieht: Die traurige Meinung Jean-Jacques Rousseau’s ist zwar ein Irrtum, daß die Fortschritte der Zivilisation dazu führen, den Menschen zu depravieren. Nicht die Fortschritte der Zivilisation haben dies traurige Werk zuwege gebracht; aber es ist gleichzeitig mit ihr

325 Zu Oppenheimers Abhandlung im Kontext der Lebensreformbewegung vgl. Meyer-Renschhausen/Berger : Bodenreform, hier insb. S. 266–268; Meyer-Renschhausen und Berger weisen unter anderem darauf hin, dass Oppenheimers Entwurf in der Tradition von Frühsozialisten wie Thompson, Owen, Cabet, Fourier und Proudhon stehe, auch wenn er deren Entwürfe eines kooperativen Sozialismus kritisiere. Zu Oppenheimers theoretischem Ansatz im Allgemeinen vgl. u. a. Kuck, Werner : Franz Oppenheimer – Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft und Selbsthilfegesellschaft. Berlin 1997 sowie Dieter Haselbach (ders.: Franz Oppenheimer : Soziologie, Geschichtsphilosophie und Politik des »liberalen Sozialismus«. Opladen 1985), der die Frage nach dem Verhältnis von Soziologie und Politik im Werk Oppenheimers behandelt und im Abschnitt »Politik und Politische Rezeption« (ebd., S. 115ff.) auch auf die Siedlungsgenossenschaft eingeht (vgl. insb. ebd., S. 127ff.). Haselbach wertet die Siedlungsgenossenschaft als das »reformpolitische Pendant zu Oppenheimers Geschichtsphilosophie« (ebd., S. 130). Vgl. schließlich Senf, Gerhard: Jenseits von Hegemonie von Staat und Kapital. Franz Oppenheimer (1864–1943) und der Liberale Sozialismus. In: Zeitschrift für Sozialökonomie. Jg. 30, Heft 96, 1993, S. 3–6. Die beiden letzteren behandeln unter anderem auch Oppenheimers Logik des ›dritten Weges‹ (vgl. Haselbach: Franz Oppenheimer, S. 171/172 sowie Senf: Jenseits von Hegemonie von Staat und Kapital, S. 3), die im Rahmen der vorliegenden Arbeit vor dem Hintergrund des kulturkritischen Geschichtsmodells gelesen wird; zuletzt Caspari, Volker/Lichtblau, Klaus: Franz Oppenheimer. Ökonom und Soziologe der ersten Stunde. Frankfurt/Main 2014; der Band, der in der Reihe »Gründer, Gönner und Gelehrte« der Goethe-Universität Frankfurt am Main erschienen ist, widmet sich der Biographie Oppenheimers, geht dabei aber ausführlich auch auf das theoretische Werk ein und weist ebenfalls auf die Logik des »dritten Weges« hin (vgl. etwa ebd., S. 178).

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entstanden: das furchtbare moralische Elend der Kulturvölker beruht ebenso auf den Mängeln der Distribution der producierten Produkte, wie ihr wirtschaftliches Elend.326

Mit dem Rückbezug auf Rousseau schreibt sich Oppenheimer gleichermaßen in die Tradition kulturkritischen Denkens ein wie er sich inhaltlich von älteren Positionen distanziert. Oppenheimer beobachtet und beschreibt dann das moderne Wirtschaftssystem und seine Entstehung. Am Beispiel der wirtschaftlichen Entwicklung der nordamerikanischen Kolonien verdeutlicht Oppenheimer, wie sich der Übergang von einer ursprünglichen und vorgängigen Agrarzu einer modernen kapitalistisch-industriellen Wirtschaft vollzogen hat bzw. vollzieht: Solange Boden für jeden Siedler vorhanden war, herrschte ein »glückseliger Zustand allgemeiner Gleichheit und Befriedigung«327; jeder »hatte ein Stück Land, so groß, wie extensive Landwirtschaft es bestellen kann, nicht größer, aber auch nicht kleiner, und lebte darauf in mäßigem Wohlstand. Großer Reichtum war dort ebenso unbekannt, wie Not und Armut.«328 Dieser paradiesische Zustand ist dann durch verschiedene Ursachen gestört worden329 (Sündenfall Moderne): Zunächst wurde der noch verfügbare Boden besetzt, zum kleineren Teile durch den Nachwuchs und Anwuchs, also neu geschaffene Farmer, zum größeren Teile aber durch Großkapitalisten, die allen noch freien Boden kauften, nicht, um zu produzieren, sondern um teuer zu verpachten oder noch teurer weiterzuverkaufen. Von diesem Augenblicke an sah sich der Nachwuchs und Anwuchs der Bevölkerung (Überschuß und Einwanderung) vom Boden, dem Urrequisit aller Produktion, abgesperrt, und mußte Lohnarbeiter werden, d. h. einen Teil seines Arbeitswertes abgeben, um zu existieren. Jetzt erst entstand der Gewaltanteil an der Produktion, die Grundrente. […] Solange freier Boden Jedem zur Verfügung stand, dachte Niemand daran, sich in industriellen Betrieben zu quälen gegen einen Lohn, der niedriger war, als er ihn als Farmer erwerben konnte.330

Mit der Wahrnehmung der Wirtschaftsentwicklung als Übergang von der ökonomischen Vormoderne, der »Urform der Wirtschaft […], nämlich der 326 327 328 329 330

Oppenheimer : Freiland in Deutschland, S. 14, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 56. Ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 56. Ebd., S. 56/57. Insofern Oppenheimer davon ausgeht, dass eine jede Staats- und Wirtschaftsentwicklung »wie jeder Organismus, nur entstehen [kann] nach dem biogenetischen Grundgesetz« (ebd., S. 52, Hervorhebung im Original), das besagt, »daß jedes Wesen bis zu seiner Ausgestaltung zum fertigen Individuum in abgekürzter Weise den Entwicklungsgang durchzumachen hat, den die Art als solche durchlaufen hat« (ebd., S. 52), die Entwicklung eines jeden Wirtschaftssystems mit Blick auf seine Entwicklungsstadien immer gleich abläuft, kann man im Umkehrschluss die Beschreibung der verkürzten Wirtschaftsentwicklung der nordamerikanischen Kolonie zugleich als Beschreibung der Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems in Europa verstehen.

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Ausnutzung der Bodenkräfte«331, zur »ausbeuterische[n] Wirtschaft«332 der kapitalistischen Moderne mit »ihrer letzten, jüngsten Schöpfung, der Großindustrie«333 ist schließlich eine Erlösungshoffnung verbunden. Konkret sieht der Alternativentwurf zur gesellschaftlichen und ökonomischen Moderne ein genossenschaftlich organisiertes »Volk der Zukunft«334 vor – Oppenheimers »Freiland in Deutschland«-Entwurf liegt das kulturkritische Geschichtsmodell zugrunde. Entsprechend der Suche der Lebensreform nach einer Alternative zur bestehenden Gesellschaftsform beklagt Oppenheimer dabei gerade nicht den Verlust der vorangegangenen Ordnung; den »sogenannten Reaktionäre[n]«335 wirft er vor, dass ihnen das historische Bewußtsein ab[geht], daß die Ordnung der Dinge von heute die Ordnung der Dinge von gestern gesprengt hat, weil sie keinen Platz mehr in ihr finden konnte; daß es so widersinnig ist, die heutige Weltwirtschaft in jene alte, aufgalvanisierte Provinzialwirtschaft zurückzupressen, wie es ein widersinniges Unternehmen ist, den erwachsenen Menschen in seine Säuglingskleider hüllen zu wollen.336

Industrialisierung und Kapitalismus gelten Oppenheimer als unumgängliches Durchgangszeitalter, als notwendiger Schritt auf dem Weg in eine bessere Zukunft.337 Die wesentlichen Beobachtungen der modernen Gesellschaft und ihres Wirtschaftssystems und der hieraus abgeleitete Alternativ-Entwurf, der auf dem »Sozialitär-Prinzip« basiert, sind den Diagnosen Theodor Hertzkas dann zunächst sehr ähnlich – Oppenheimers auf die Lösung der sozialen Frage abzielender Vorschlag sieht das Grundproblem in der falschen Wirtschaftsordnung im Allgemeinen (»Wo derartige Inkompatibilitäten entstehen, muß in der Grundlage ein Grundfehler sein.«338) und der Existenz einer besitzenden Klasse auf der einen und Lohnarbeitern auf der anderen Seite sowie der hieraus resultierenden »Unterkonsumption«339 im Besonderen begründet. Gegen die 331 332 333 334 335 336 337

Ebd., S. 53. Ebd., S. 87. Ebd., S. 53. Ebd., S. 21. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17. Das Verlaufsmodell der Wirtschaftsentwicklung (Agrarwirtschaft – kapitalistisch-industrielle Wirtschaft – genossenschaftliches Wirtschaftssystem) basiert neben dem dialektischen Geschichtsverständnis der Kulturkritik im Übrigen auch auf einer biologistischen Deutung des Wirtschaftssystems als Organismus: »So muß auch derjenige, der den Organismus einer Staatsform neu ins Leben rufen will, von der Urform der Wirtschaft ausgehen, nämlich der Ausnutzung der Bodenkräfte, nicht aber von ihrer letzten, jüngsten Schöpfung, der Großindustrie. Dann kann er hoffen, einen lebenskräftigen Organismus zu schaffen, statt eines lebensunfähigen Homunculus.« (Ebd., S. 53). 338 Ebd., S. 7. 339 Ebd., S. 9.

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vorherrschende Ordnung der Betriebe und ihre »erzwungene Disciplin eines Fabrik-Pascha über seine ›Arbeiter‹« setzt Oppenheimer die »freie, freudige Unterordnung gleichgestellter Genossen unter eine selbstgewollte Arbeitsordnung« in Assoziationen.340 Vergleichbar Hertzka basiert auch Oppenheimers Entwurf auf einer Bodenreform341 sowie einer Reform des Kapitalmarktes342 auf der Grundannahme eines rational kalkulierenden homo oeconomicus, der für die eigenen Interessen wirtschaftet, auf dem Leistungsprinzip und dem Ideal der Interessensolidarität (»Solidarität aller Interessen«343) innerhalb eines idealen Wirtschaftssystems. Nach Oppenheimer gibt »es nun nur zwei Beweggründe […], die den Menschen veranlassen können, zu arbeiten, nämlich Eigennutz und Zwang«344 ; den Zwang der Planwirtschaft lehnt er ab, der »Fleißigere, Geschicktere, Stärkere, Klügere soll sich besser stehen, wie der Dumme, Faule, Schwache, Linkische.«345 Ausgehend von diesen Beobachtungen sucht auch Oppenheimer einen dritten Weg zwischen dem vorherrschenden kapitalistischen System und seinen »wirtschaftliche[n] Unordnungen«346 auf der einen und einer Planwirtschaft347 auf der anderen Seite; er teilt zugleich Hertzkas für die Zeit eher ungewöhnliche sozialdarwinistische Deutung des Wirtschaftssystems, nämlich die Vorstellung, dass der gemeinschaftliche Daseinskampf, nicht hingegen der Daseinskampf eines jeden gegen jeden, erfolgreich sei348. Aus dieser Grundüberzeugung wird bei Hertzka wie bei Oppenheimer die Vorstellung abgeleitet, dass sich dauerhaft nicht das auf dem Konkurrenz-Prinzip basierende kapitalistische349, sondern das auf Interessensolidarität basierende genossenschaftliche Wirtschaftssystem durchsetzen werde. Das Zeitalter der Zukunft verbindet folglich das Prinzip des freien Bodens mit dem des freien

340 Ebd., S. 40. 341 Ebd., S. 38: »[…] Boden, den Niemand geschaffen hat, den Niemand vermehren kann, [muss] allen Menschen gleichmäßig gehören […].« 342 Etwa durch Abschaffung des Kapitalzinses, vgl. ebd., S. 38. 343 Ebd., S. 41, Hervorhebung im Original. 344 Ebd., S. 23. 345 Ebd., S. 39, Hervorhebung im Original. 346 Ebd., S. 7. 347 Vgl. ebd., S. 24/25: Eine planwirtschaftliche Wirtschaftsordnung sei aus zwei Gründen nicht zu erhalten: Zum einen hätte keine statistische Behörde der Welt die geistige Fähigkeit, auf der Grundlage einer auch noch so exakten Aufstellung vorherzusagen, welche Produkte ein Konsumentenkreis in einer bestimmten Zeit benötigen würde; zum anderen sei ein Machtmissbrauch innerhalb eines solchen Systems vorprogrammiert. 348 Ebd., S. 31: »Der Kampf ums Dasein hat diejenigen Individuen ausgeschieden, die diese Neigung nicht besaßen und die Anderen um so wirksamer erhalten, je energischer sie die Neigung zum beschützenden und fördernden Zusammenschluß trieb.« 349 Ebd., S. 22: »So entsteht aus dem Wettstreit der Konkurrenz der grimmige Kampf ums Dasein der Konkurrenz […].«

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Zugangs zum Kapital und der genossenschaftlich organisierten industriellen Produktion: Da wir nun thatsächlich so weit sind, daß die Erzeugung der in unseren Kulturstaaten konsumierten Waren schon mit den Mitteln der heutigen Technik und der breit verfügbaren Arbeitskräfte ohne Weiteres auf ein Vielfaches gesteigert werden kann […], so eröffnen sich für denjenigen, der die Möglichkeit einer solchen Distribution anerkennt, Perspektiven von berauschender Schönheit auf ein Volk der Zukunft, das die wirtschaftliche Gleichheit mit einem für uns nicht ausdenkbaren Reichtum vereinigt; und das, weil es, wie einige Naturvölker, zwar keine sozialen Unterschiede kennt, aber reich ist, die herbe Sittlichkeit der alten Germanen mit der vornehm-weltmännischen Urbanität der feinstgebildeten Kreise unserer oberen Klassen verbindet.350

Vormoderne Agrarwirtschaft und moderne Kapitalwirtschaft werden zum genossenschaftlichen Prinzip synthetisiert – Oppenheimers Wirtschaftsentwurf partizipiert nicht nur mit Blick auf das zugrunde liegende Verlaufsmodell, sondern auch inhaltlich an den Grundüberzeugungen weltanschaulich-kulturkritischen Denkens um 1900.351 Anders als Hertzka sieht Oppenheimer Freiland nun gerade nicht als in der überseeischen Kolonie, sondern als in Deutschland selbst zu gründen. Es sind wesentlich zwei Argumente, die Oppenheimer gegen Hertzkas Plan ins Feld führt: Die Transportkosten sowohl für die Expedition selbst und die für den Aufbau des neuen Gemeinwesens notwendigen Materialien als auch in der ersten Phase des Aufbaus für Export von Gütern seien zu hoch, Kapital in der notwendigen Höhe sei schlicht nicht einzuwerben.352 Neben dem wirtschaftlichen Argument führt Oppenheimer ferner das Argument der Kultur ins Feld: 350 Ebd., S. 21. Vor dem Hintergrund des dialektischen Geschichtsmodells ist auch der für die Jahrhundertwende eher ungewöhnliche Vergleich mit sogenannten ›Naturvölkern‹ zu verstehen, die hinsichtlich der sozialen Gleichstellung durchaus positiv gesehen werden; es sind die positiven Aspekte der eigenen vermeintlich vorgängigen Kulturstufe, für die die ›Naturvölker‹ an dieser Stelle stehen. Auch wenn Oppenheimer von einer organischen Entwicklung des neuen Staates aus einem ›Urkeim‹ ausgeht, so ist das für ihn nicht gleichbedeutend mit der Rückkehr zum Ausgangspunkt der Entwicklung; vielmehr durchläuft der neue Staat beschleunigt die einzelnen Entwicklungsstadien der Wirtschaftsevolution – hierauf wird zurückzukommen sein. 351 Es ist dies wenig überraschend, wenn man berücksichtigt, dass Oppenheimer mit Mitgliedern des Friedrichshagener Dichterkreises, so u. a. Bruno Wille, Wilhelm Bölsche und den Brüdern Hart, in enger Verbindung stand (vgl. Caspari/Lichtblau: Franz Oppenheimer, S. 33/34). 352 »Diese ungeheuren Ausgaben konnten die Ernteüberschüsse der per Achse in die Kolonie beförderten ersten Ansiedler aus dem einfachen Grunde nicht tragen, weil die Transportkosten dieser Massenprodukte bis zur Küste mehr als ihren Wert verschlungen hätte.« (Oppenheimer : Freiland in Deutschland, S. 70); vgl. auch ebd., S. 70: »Und darum ist Hertzkas ›Freiland am Kenia‹ eine Utopie, nicht wegen der ganz richtigen Staatskonstruktion, sondern wegen des naiven Glaubens an die Güte der Menschennatur, die so ungeheure Summen für einen Gedanken verschenken sollte.« (Hervorhebung im Original).

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Aber selbst, wenn die nötigen Geldmittel zur Verfügung gewesen wären, behält die Kenia-Phantasie immer noch einen abenteuerlichen Anstrich. Es hat etwas Desparates, den Zentren der Kultur den Rücken zu kehren, um eine vollkommenere Kultur in einem anderen Lande aufzubauen, das kaum je ein europäischer Fuß betrat.353

Oppenheimers Lösung heißt entsprechend: Freiland in Deutschland, Freiland im Zentrum der entwickelten Kultur. Deutlich zeigen sich die nicht nur den Kolonialdiskurs prägende Vorstellung eines allgemeinen Gesetzes kultureller und zivilisatorischer Höherentwicklung der Menschheit, die damit verbundene Annahme gleichzeitig existierender unterschiedlicher Entwicklungsstufen der Menschheit und die daraus abgeleitete Annahme einer kulturellen Überlegenheit der europäischen gegenüber nicht-europäischen Völkern, die im Wissenssystem der Zeit tief verankert ist. Oppenheimer sieht also den Ursprung der neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen in Deutschland, »innerhalb des Gebiets ausbeuterischer Wirtschaft«354 selbst; sei erst einmal der Beginn von einer Vorhut gemacht (Selbstreform), folge die Gesellschaftsreform automatisch: »Schafft annähernde wirtschaftliche Gleichheit und die Ethik folgt von selbst«355. Und: Er [Hertzka] hätte seine mächtige Agitationskraft für den viel leichter zu verwirklichenden Zweck eingesetzt, den freiländischen Organismus mitten im kapitalistischen Wirtschaftsgetriebe, sozusagen als Eizelle, auszusähen; und hätte getrost gewartet, wie die Menschen sich unter gesunden Verhältnissen entwickeln, und wie hier ein Organismus erwächst, der allmählich die ganze Kulturmenschheit friedlich auf seinen, neuen Weg führt. […] Wenn aber die sozialitäre Ordnung, einzig und allein kraft ihrer unwiderstehlichen, wirtschaftlichen Überlegenheit über die jetzt bestehende, in einem Prozesse der Kontinuität, sozusagen im organischen Wachstum, in unsere politischen Organismen hineinwüchse, so wäre es nicht nötig, daß sie die alte Form vernichtete.356

50 Hektar Land357 – mehr brauche es nicht, um das Wirtschaftssystem zu revolutionieren; alles andere ergebe sich aufgrund der Selbstregulation der Märkte358 von selbst. Nicht nur hinsichtlich des dialektischen Geschichtsmo353 354 355 356 357 358

Ebd., S. 70. Ebd., S. 87. Ebd., S. 14. Ebd., S. 78, Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., S. 79. Vgl. ebd., etwa S. 74/75: »Immer mehr Menschen lockt der hohe Gewinn in die Siedlung; immer intensiver wird die Arbeitsteilung, immer gewaltiger die Ausnützung maschineller Kräfte, also immer höher das Einkommen, der ›Lohn‹ jedes Teilhabers. […] Unser [neben der Freiland-Siedlung ansässiger, ASB] Gutsbesitzer müßte also seinen Tagelöhnern 300.000 Mark Lohn zahlen, also vielleicht mehr als der Brutto-Ertrag seines Gutes aushält. Wenn er eigensinnig bis zum Ende aushält, geht er gnadenlos zugrunde; wenn er seinen Vorteil begreift, hat er lange, bevor die Dinge so weit gediehen sind, seinen Besitz an die bestehende oder eine neu von ihm gegründete, sozialitär ebenso organisierte, Produktiv-

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dells, auch hinsichtlich der Annahme, dass Gesellschaftsreform durch Selbstreform zu erreichen sei, entspricht Oppenheimers Entwurf der Lebensreform.359 In letzter Konsequenz zielt dieses Programm – hier liegt der expansionistische Charakter begründet – auf den Umbau der Weltwirtschaft: »Dieser Prozeß kann erst mit der restlosen Umgestaltung der ganzen Weltwirtschaft sein Ende finden.«360 Man könnte das Programm Oppenheimers im Sinne der expansionistischen Struktur des kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende reformulieren: Ihm geht es um die wirtschaftliche Kolonisation Deutschland und der Welt. Während nun Theodor Hertzka die überseeische ›Kolonie‹ explizit ins Zentrum seines kulturkritischen Entwurfes stellt, spielt der Wortkörper ›Kolonie‹ bei Franz Oppenheimer keine herausragende Rolle. Dennoch gehört er in die vorliegende Analyse, nicht nur, weil er als Theoretiker der kulturkritischen Koloniegründungen begriffen werden muss und auch maßgeblichen Einfluss auf faktische Koloniegründungen hatte, sondern auch, weil er ohne den Wortkörper selbst ins Zentrum seines Entwurfes zu stellen doch an den Begriff und dessen semantischen Kern (Siedlung, Absonderung, Expansion) anschließt: Dieser ist präsent, definiert sich die Siedlungsgenossenschaft doch zunächst gerade über die Abgrenzung von der Gesellschaft und den Rückzug in ihre ›Urzelle‹ (Absonderung) und zielt zugleich auf den Umbau des ökonomischen Systems Deutschlands und der Welt (Expansion). Darüber hinaus ist die Kolonie in zweifacher Hinsicht modellbildend für das Freiland-Konzept. Zum einen wird über den bereits angeführten Vergleich mit der wirtschaftlichen Entwicklung der nordamerikanischen Kolonien (dies ist das einzige Mal, dass der Begriff ›Kolonie‹ in der Abhandlung tatsächlich fällt) nicht nur die eigene Wirtgenossenschaft unter Bedingungen verkauft, die ihm seinen ursprünglichen standart of life gewährleisten.« 359 Oppenheimers inhaltliche Nähe zur Lebensreform und ihren Ideen zeigt sich auch in seinen stadtplanerischen Anmerkungen am Ende seiner Abhandlung: »Dann werden wir zunächst eine ganz andere Verteilung der Menschenmassen über das Land haben. Die großen Städte, die jetzt wie Parasiten den Saft des ganzen Stammes an sich reißen, den sie bewohnen, werden an Einwohnerzahl stark verloren haben, zum wenigsten relativ zur Bevölkerung. Dagegen wird das ›Land‹ ungleich stärker bevölkert sein; überall werden die jetzt so feindlichen Schwestern, Industrie und Bodenproduktion, in gemeinsamer Arbeit ihre starken Schultern an den Wagen der menschlichen Kultur pressen und sie in einem nie erlebten Fortschritte fördern.« (Ebd., S. 116). Das Wirtschaftsmodell Oppenheimers zielt nicht nur auf die Synthese von Agrar- und Industriewirtschaft, es richtet sich auch gegen die moderne Großstadt, die um 1900 als Zeichen für die kapitalistische Industriewirtschaft und ihre negativen Begleiterscheinungen gelesen werden kann. Entsprechend dem dialektischen Geschichtsmodell der Lebensreform sieht der Entwurf vor, dass der vormodernen wesentlich ländlichen Besiedelung und der wesentlich städtischen Besiedelung der industriellen Moderne mit der dichten, aber gleichmäßige Besiedelung des Landes in der Zukunft gewissermaßen die Synthese aus vormoderner und moderner Lebensform folgen wird. 360 Ebd., S. 76.

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schaftsentwicklung von der Agrar- zur Industrienation reflektiert; die nordamerikanischen Kolonien dienen zugleich als Modell für die Freiland-Siedlungen selbst. Entsprechend der Auffassung von Staat und Wirtschaftssystem als Organismus, muss zunächst »sozusagen [die] Eizelle«361 des freiländischen Organismus ausgesät werden woraufhin sich ausgehend von der ›Urform der Wirtschaft‹ das Wirtschaftssystem entwickeln werde: Aber das ist durchaus nicht so zu verstehen, als sei mit der Urproduktion zu beginnen, wie sie der Urmensch betrieb. Schon der kleinste Kossäth arbeitet heute nicht mehr mit dem zugespitzen Stabe, mit dem der Neger Zentral-Afrikas seine Furchen ritzt, nicht mehr mit dem gekrümmten Aste als Pflug, den Robinson benutzen mußte, sondern mit verbesserten Werkzeugen, mit dem eisernen Pfluge, der Sense, dem Spaten und dem Wagen.362

Insofern also die nordamerikanischen Kolonien als Beispiel für diese verkürzte Wirtschaftsentwicklung herangezogen werden, dienen sie zugleich als Modell einer künftigen Siedlung innerhalb Europas, die diese Entwicklung ebenfalls in (noch stärker) verkürzter Form wird durchlaufen müssen. Und nicht zuletzt ist die Kolonie modellbildend für die Freiland-Siedlung insofern sich der Vertragsvorschlag zur Gründung der Siedlung, den die Abhandlung enthält, am überseeischen Koloniemodell des Pachtvertrages über 99 Jahre orientiert.363 Oppenheimer formuliert insofern den Gedanken der Koloniegründung innerhalb Deutschlands programmatisch aus, löst im Vergleich zu Hertzka, der 1890 noch mit dem doppelten Kolonie-Begriff arbeitet, diesen von seinem machtpolitischen Gehalt vollständig ab und leitet somit in die rein kulturkritische Verwendung des Kolonie-Begriffs über. Oppenheimer selbst war nicht nur an der Ausarbeitung der Statuten der Obstbaugenossenschaft Eden beteiligt364, er hat auch selbst die »Siedlungsgenossenschaft Freiland« gegründet, die allerdings wenig erfolgreich war.365 Rezipiert worden ist Oppenheimers Siedlungsgedanke darüber hinaus in der zionistischen Bewegung, in der er selbst auch zeitweise engagiert war.366 Die zionistische Bewegung besetzt ihrerseits bekanntlich den Begriff der Kolonisation – zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an den fiktionalen Text »Altneuland« von Theodor Herzl367, der mit seiner Imagination einer ›neuen Gesellschaft‹ durchaus in die Nähe des weltanschaulich-kulturkritischen Romans 361 362 363 364 365 366

Ebd., S. 78. Ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 91. Vgl. Caspari/Lichtblau: Franz Oppenheimer, S. 41. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd., hier insb. Kapitel VI »Oppenheimers Engagement innerhalb der zionistischen Bewegung«, S. 55–73. 367 Herzl, Theodor : Altneuland. Leipzig 1902.

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rückt. Grundsätzlich aber handelt es sich hier um eine anders gelagerte Problemkonstellation, als sie in der vorliegenden Untersuchung zum weltanschaulich-kulturkritischen Denken der Jahrhundertwende und ihrer Auseinandersetzung mit der Moderne im Fokus steht; diese begriffliche Entwicklung wird daher an dieser Stelle nicht weiter verfolgt. Nicht nur implizit, sondern explizit stellt Theodor Fritsch in seiner nur ein Jahr nach Oppenheimers Abhandlung publizierten Schrift »Die Stadt der Zukunft«, die in den Kontext der Gartenstadtbewegung gehört, den Kolonie-Begriff in seiner ausschließlich kulturkritischen Bedeutung in den Mittelpunkt seines Entwurfs. Die Gartenstadt-Idee ist nicht auf Deutschland beschränkt – in England etwa gibt es eine Garden City movement – bei der Gartenstadtkolonie hingegen scheint es sich um eine spezifisch deutsche Begriffsprägung zu handeln.368 Fritsch setzt sich in seiner Abhandlung »Die Stadt der Zukunft«369 mit 368 Als Begründer der Gartenstadtbewegung wird vielfach der Engländer Ebenezer Howard mit seiner 1898 erschienenen Schrift »To-morrow : A Peaceful Path to Real Reform« (London, 1898), genannt, die später unter dem Titel »Garden Cities of To-Morrow« neu aufgelegt wurde (London 1902). Fritschs Entwurf datiert in der Erstauflage hingegen bereits auf 1896. Fritsch versteht sich selbst als Begründer der Gartenstadtbewegung; andererseits gibt es Berichte, denen zufolge Howard sein Buch bereits 1893 in wichtigen Teilen geschrieben habe; da er lange Jahre keinen Verleger gefunden habe, soll er seinen Vorschlag zunächst als Manuskript verbreitet haben (vgl. Hartmann, Kristiana: Deutsche Gartenstadtbewegung. Kulturpolitik und Gesellschaftsreform. München 1976, S. 33 unter Bezugnahme auf Barlepsch-Valendas, Hans Eduard von: Die Gartenstadtbewegung in England, ihre Entwicklung und ihr jetziger Stand. München und Berlin 1912 [eigentlich 1911, ASB], Vorwort S. VI u. Purom, C. B.: Die heutige Entwicklung der Gartenstadttheorie. Uebersetzung von Dr. A. Block und A. Otto. In: Gartenstadt. Mitteilungen der deutschen Gartenstadtgesellschaft, 11. Jahrgang, Heft 4, Berlin-Grünau [Juli/August 1927], S. 71–76, hier S. 72). 369 Fritsch, Theodor : Die Stadt der Zukunft. Mit einer farbigen Tafel und 14 Text-Abbildungen. Leipzig 1896. Ausführlich zu Theodor Fritschs Konzeption vgl. Schubert, Dirk: Theodor Fritschs völkische Version der Gartenstadt. In: ders. (Hrsg): Die Gartenstadtidee zwischen reaktionärer Ideologie und pragmatischer Umsetzung. Theodor Fritschs völkische Version der Gartenstadt. Dortmund 2004, S. 9–105. In der Forschung ist Fritsch im Wesentlichen im Kontext von Untersuchungen zur völkischen Bewegung, zum Antisemitismus, zur Schnittstelle zwischen Lebensreformbewegung und völkischer Bewegung, zu Eugenik und Rassenhygiene, schließlich zum Verlags- und Publikationswesen behandelt worden (vgl. ebd., S. 12); dem Aspekt der Gartenstadtvision Fritschs hingegen hat sich die Forschung bislang noch nicht umfassend gewidmet (vgl. ebd.). Schubert beschäftigt sich vor diesem Hintergrund nicht nur mit Fritschs Entwurf selbst, sondern stellt diesen in den Kontext seines Denkens und Wirkens, vor dessen Hintergrund die völkischen und antisemitischen Implikationen auch des Fritschen Gartenstadt-Entwurfes deutlich werden: »Fritsch hält sich in der ›Stadt der Zukunft‹ mit antisemitischen Verbalattacken deutlich zurück. Der inhaltliche Kern seiner Gartenstadtversion wird erst im Kontext der ideologischen Konnotationen mit einem Konglomerat aus völkisch-rassistischen, großstadtfeindlichen, agrarromantischen, kleinbürgerlich-mittelständischen und nationalistisch-bodenreformerischen Ideen deutlich.« (Ebd., S. 30). Zur Gartenstadtbewegung im Allgemeinen vgl. insb. Hartmann, Kristiana: Gartenstadtbewegung. In: Kerbs, Diethart/Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Wuppertal 1998, S. 289–

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der zunehmenden Verstädterung infolge der Industrialisierung und den hieraus resultierenden Problemen (soziale Frage) auseinander ; auch hier ist die Beobachtung der modernen Gesellschaft Ausgangspunkt und Gegenbild des Entwurfs. Im Kontext der Lebensreformbewegung sucht auch er nach einer alternativen Moderne; die Gründung von Gartenstädten, die auf den Ideen der Bodenreform aufbaut, ist ihm dabei Mittel zum Zweck. Dem Entwurf liegen der Absonderungs- sowie Koloniegedanke zugrunde: »Warum sollte man eine solche Siedlung nicht noch etwas weiter von der Stadt abrücken, sich ein Gelände von größerem Umfange sichern und die Anlage der Colonie so treffen, daß sie sich allmälig zu einer selbständigen Stadt auswachsen könnte?«370 Fritschs Konzept richtet sich im Übrigen wie Oppenheimers »Freiland in Deutschland« auch explizit gegen eine Umsetzung in überseeischen Gebieten: »Es ist nicht einzusehen, warum man zur Wahrmachung der Bodenreform in ferne unkultivierte Erdteile gehen sollte, wie es vor einigen Jahren versucht und verfehlt worden ist.«371 Auch hier wird die Kolonie entsprechend zur Urzelle für die organische Entwicklung der Stadt der Zukunft; auch bei Fritsch wird die Entwicklung einer anderen – geistig-kulturellen ebenso wie politischen – Moderne durch Absonderung in der Kolonie allererst ermöglicht. Entsprechend der Weltanschauung der Lebensreform ist die Gartenstadtkolonie Ursprung und Ausgangspunkt für eine gesamtgesellschaftliche Reformbewegung: »Wäre erst ein gedeihlicher Anfang gemacht, so brauchte man um ein Weiterkommen sich nicht groß zu bangen.«372 Langfristiges und übergeordnetes Ziel ist die Erneuerung des kulturellen wie staatlichen Lebens: »Die Stadt [also die Gartenstadt- bzw. VillenKolonie, ASB] giebt nur die äußere Hülle ab, den Kern bilden die inneren Ziele: der neue Geist, die neue Ordnung.«373 Fluchtpunkt dieser Entwicklung ist nichts weniger als eine fundamentale Neuordnung des Staates: »Beginnen wir damit, eine Stadt vernünftig und planvoll zu gestalten, vielleicht, daß wir, von einem solchen festen Punkte ausgehend, allmälig auch zu einem vernünftig geordneten

370 371 372 373

300; Hartmann: Deutsche Gartenstadtbewegung; zuletzt Neau, Patrice: Die deutsche Gartenstadtbewegung – Utopismus, Pragmatismus, zwiespältige Aspekte. In: Repussard, Catherine/Cluet, Marc (Hrsg.): Lebensreform. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht. Tübingen 2013, S. 211–224. Daneben allgemein: Bönisch, Michael: Die »Hammer«Bewegung. In: Puschner, Uwe/Schmitz, Walter/Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918. München 1996, S. 341–365. Zum Antisemitismus bei Fritsch vgl. Albanis, Elisabeth: Anleitung zum Hass: Theodor Fritschs antisemitisches Geschichtsbild. In: Bergmann, Werner/Sieg, Urich (Hrsg.): Antisemitische Geschichtsbilder. Essen 2009, S. 167–191. Fritsch, Theodor : Die neue Gemeinde. Begleitschreiben zu der Schrift »Die Stadt der Zukunft. Mit einer farbigen Tafel und 14 Text-Abbildungen«. Leipzig 1896, S. 4. Ebd., S. 5, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 12. Ebd., S. 9.

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Staate gelangen.«374 Die Gründung der Gartenstadtkolonie hat damit immer auch einen expansionistischen Gestus: Langfristiges Ziel ist auch hier die Ausdehnung über ganz Deutschland.375 Fritsch fasst die angestrebte geistig-kulturelle und politische Reform Deutschlands zwar nicht unter dem Begriff ›Kolonisation‹, doch auch bei ihm geht sie von der Kolonie als Urzelle aus und verbindet mit dieser den expansionistischen Drang in politischer wie kultureller Hinsicht. Auch wenn Theodor Fritsch sich explizit gegen eine Umsetzung seiner Ideen in außereuropäischen Gebieten ausspricht – sein Entwurf weist nicht nur hinsichtlich der Strukturen (Expansion), sondern auch mit Blick auf die Terminologie diskursive Parallelen zum machtpolitischen Kolonialdiskurs auf. So greift Fritsch in seiner Abhandlung auf zentrales Vokabular des machtpolitischen Kolonialdiskurses zurück – neben dem Begriff der ›Kolonie‹ etwa auch auf den der »Hebung«376 ; seine Gartenstadt soll »auf jungfräulichem Boden«377 entstehen. Die Geschichte der organisierten Gartenstadtbewegung ist in Deutschland weniger mit Theodor Fritsch verbunden, als vielmehr eng mit der Familie Kampffmeyer, insbesondere mit Hans Kampffmeyer, der als langjähriger Generalsekretär der 1902 aus dem Kreis der Neue Gemeinschaft entstandenen Deutschen Garten-Gesellschaft (DGG)378 tätig war.379 Auch die Gartenstadt-Gesellschaft greift explizit auf den Kolonisations-Gedanken zurück. So formuliert die DGG in Paragraph eins ihrer Satzung ihr Ziel wie folgt: »Das Endziel einer fortschreitenden Gartenstadtbewegung ist eine Innenkolonisation […].«380 Die 374 Fritsch: Die Stadt der Zukunft, S. 29. 375 Vgl. auch Schubert: Theodor Fritschs völkische Version der Gartenstadt, S. 29: »Fritsch plante mit seiner Stadt der Zukunft einen radikalen gesellschaftlichen Neuanfang, wie er in seiner Begleitbroschüre deutlich macht. Sie trägt den Titel ›Die neue Gemeinde‹ […]«, und stelle klar, dass es um eine neue, vollkommenere Gesellschaftsordnung gehe. Diese Vorstellungen seien dann vom ständisch-autoritären denken Fritschs geprägt (vgl. ebd., S. 28) und basierten auf einem bodenreformerischen Ansatz, der völkisch-antisemitisch geprägt sei (vgl. ebd., S. 28); Fritsch schwebe schließlich die Züchtung einer nordischen Rasse vor (vgl. ebd., S. 29). Zu einer anderen Einschätzung kommt Kristiana Hartmann: »Fritsch wollte mit seiner Stadt die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in keiner Weise antasten, er wollte im Gegenteil eine Stadt der Segregation bauen. Die intendierten sozialund bodenpolitischen Ziele Howards können in seinem Konzept nicht gefunden werden.« (Hartmann: Deutsche Gartenstadtbewegung, S. 33). 376 Fritsch: Die neue Gemeinde, S. 10. 377 Fritsch: Die Stadt der Zukunft, S. 17/18. 378 Vgl. Cepl-Kaufmann, Gertrude/Kauffeldt, Rolf: Friedrichshagener Dichterkreis. In: Wülfing, Wulf/Bruns, Karin/Parr, Rolf (Hrsg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1925–1933. Stuttgart 1998, S. 112–126, hier S. 113. 379 Vgl. Hartmann: Deutsche Gartenstadtbewegung, S. 31/32. 380 Auszug aus Paragraph 1, Satzung der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft. In: Kampffmeyer, Bernhard: Von der Kleinstadt zur Gartenstadt. Berlin-Nikolassee 1908, S. 13. Auf das

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Forschung hat schon früh darauf hingewiesen, dass das Ziel der Gartenstadtbewegung die »fortschreitende Innenkolonisation und die dadurch erhoffte evolutionäre Veränderung des autoritären, antiparlamentarischen Staates in eine[n] demokratischen sozialen Kulturstaat«381 gewesen sei; damit unterscheidet sich das Ziel der DGG grundsätzlich von dem völkischen Entwurf Theodor Fritschs. Die DGG beruft sich insofern auch nicht auf den antisemitischen Agitator Fritsch, sondern auf die englische Gartenstadtbewegung.382 Der Grund hierfür liegt wohl in der unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtung der beiden Konzepte, deren Hintergründe bei allen strukturellen Ähnlichkeiten doch grundverschieden sind. So ist der Entwurf Howards sozialreformerisch, Fritschs Entwurf hingegen wesentlich völkisch-antisemitisch motiviert.383 Fritsch wurde zwar als Mitglied der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft geführt, gehörte aber weder zum Vorstand, noch zum Beirat384 ; Dirk Schuberts Einschätzung zufolge beförderte Fritschs dogmatische antisemitische Grundhaltung dessen Abseitsstellung in der Gartenstadtbewegung.385 Auch im Bereich der Gartenstadtbewegung hat es schließlich verschiedene Umsetzungsversuche gegeben – das gilt sowohl für Fritsch, der mit der Siedlung Heimland einen Umsetzungsversuch startete, der letztendlich scheiterte386, als auch für die Deutsche Garten-Gesellschaft: In ihrem Umfeld wurde ab 1906 in Hellerau (bei Dresden) die erste deutsche Gartenstadt geplant und ab 1909 gebaut.387 Mit seiner Schrift »Durch Absonderung zur Gemeinschaft« (1900) kann Gustav Landauer388 schließlich als Theoretiker der Gemeinschaftsgründung

381 382

383 384 385 386

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Modell der »inneren Kolonisation« der DGG hat bereits Patrice Neau hingewiesen, ohne weiter darauf einzugehen (vgl. Neau: Die deutsche Gartenstadtbewegung, S. 216). Hartmann: Deutsche Gartenstadtbewegung, S. 44. Vgl. Kampffmeyer : Von der Kleinstadt zur Gartenstadt, S. 4/5: »Die Bewegung stammt aus England. Ihr Begründer ist Ebenezer Howard, der im Jahre 1898 ein Buch unter dem Titel ›Garden cities of to morrow‹ erscheinen liess.« Siehe auch Hartmann: Deutsche Gartenstadtbewegung, S. 33. Für einen ausführlichen Vergleich der beiden sehr unterschiedlichen Entwürfe vgl. Schubert: Theodor Fritschs völkische Version der Gartenstadt, hier insb. Abschnitt 9 »Ebenezer Howard und Theodor Fritsch: Ein Vergleich zweier Konzepte und ihrer Kontexte«, S. 78–88. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 86. Vgl. Linse, Ulrich: Völkisch-rassische Siedlungen der Lebensreform. In: Puschner, Uwe/ Schmitz, Walter/Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871– 1918. München 1996, S. 394–410, hier S. 404 sowie Schubert: Theodor Fritschs völkische Version der Gartenstadt, hier insb. Abschnitt 6.4 »Heimland – ›Probe aufs Exempel‹«, S. 62– 67. Vgl. Hartmann: Gartenstadtbewegung, S. 295f. Zu Landauer vgl. die frühen Studien von Wolfgang Kalz, der sich Gustav Landauer erstmals wissenschaftlich widmet (ders.: Gustav Landauer. Kultursozialist und Anarchist. Meisenheim am Glan 1967) sowie die Arbeit von Ulrich Linse zu »Organisierter Anarchismus im Kaiserreich von 1871«, der im Kontext einer allgemeinen Studie zum Anarchismus im

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verstanden werden389 ; was in der im selben Jahr gegründeten Lebensreformkolonie auf dem Monte Verit/ gelebt wurde, kann mit Gebhardt als Versuch der Übersetzung von Landauers philosophischen Anstrengungen, anarchistischen Individualismus mit sozialreformerischen Gemeinschaftsideen zu versöhnen, in die alltägliche Lebenspraxis interpretiert werden. »Durch Absonderung zur Gemeinschaft« lautet Landauers Programm – heißt: durch Absonderung in der Siedlung, die bei Landauer synonym zur ›Kolonie‹ der Lebensreform verstanden werden muss. Der missionarisch-expansionistische Drang richtet sich schließlich auch bei Landauer auf die deutsche Bevölkerung, kann insofern als ›kulturell-soziale Kolonisation Deutschlands‹ im Sinne seines Anarchismus bzw. Sozialismus gefasst werden. Voraussetzung für die Vorstellung einer kulturell-sozialen Kolonisation des deutschen Volkes sind zunächst der Absonderungsgedanke sowie ein Selbstverständnis als Avantgarde. »Absonderung«390 ist sowohl als Rückzug einer geistigen Vorhut von der bürgerlichen Gesellschaft, als Absonderung »[e]inzelne[r] Menschen, die […] zu weit voran [sind] als daß unsere Stimme von den Massen noch verstanden werden könnte«391, und Vereinigung einzelner Men-

Kaiserreich auch auf die Bedeutung Landauers eingeht (Berlin 1969, hier insb. die Abschnitte II.3 Gustav Landauer und sein Kreis, S. 86–91 und Kapitel VIII »Der Sozialistische Bund«, S. 275–301); in den 80er Jahren insbesondere die Arbeiten von Norbert Altenhofer (exemplarisch ders.: Landauer, Gustav. In: Neue Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Band 13. Berlin 1982, S. 491–493; ders.: Terreur und Anarchie. Gustav Landauer und die »Briefe aus der Französischen Revolution«. In: Fiedler, Leonhard M./Heuer, Renate/Taeger-Altenhofer, Annemarie (Hrsg.): Gustav Landauer (1870–1919). Eine Bestandsaufnahme zur Rezeption seines Werkes. Frankfurt/New York 1995, S. 15–23) sowie Wolf, Siegbert: Gustav Landauer zur Einführung. Hamburg 1988; daneben die einschlägigen Sammelbände aus den 90er Jahren: Fiedler, Leonhard M./Heuer, Renate/Taeger-Altenhofer, Annemarie (Hrsg.): Gustav Landauer (1870–1919). Eine Bestandsaufnahme zur Rezeption seines Werkes. Frankfurt/ New York 1995; Matzigkeit, Michael (Hrsg.): »…die beste Sensation ist das Ewige…«. Gustav Landauer – Leben, Werk und Wirkung. Düsseldorf 1995; Delf, Hanna/Mattenklott, Gert (Hrsg.): Gustav Landauer im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag. Tübingen 1997; zuletzt unter anderem Braun, Bernhard: Die Utopie des Geistes. Zur Funktion der Utopie in der politischen Theorie Gustav Landauers. Idstein 1991; Pfeiffer, Frank: »Mir leben die Toten…« Gustav Landauers Programm des libertären Sozialismus. Hamburg 2005; Knüppel, Christoph: »Aus der Scholle festem Grunde wächst dereinst die Freiheitsstunde«. Gustav Landauer und die Siedlungsbewegung. In: Von Ascona bis Eden. Alternative Lebensformen. Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft, Heft 27, 2006, S. 45–65. 389 Vgl. Gebhardt, Winfried: Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens. Berlin 1994, S. 160–161. 390 Thorsten Hinz hat darauf hingewiesen, dass der Absonderungsbegriff Landauers mit dem Abgeschiedenheitsbegriff bei Meister Eckhart koinzidiert; vgl. Hinz, Thorsten: Mystik und Anarchie. Meister Eckhart und seine Bedeutung im Denken Gustav Landauers. Berlin 2000, S. 112/113. 391 Landauer : Durch Absonderung zur Gemeinschaft, S. 48.

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schen, die von ihren messianischen »Wanderungen zurückgekehrt«392 seien; zugleich meint Absonderung aber auch und gerade mystische All-Versenkung und Verinnerlichung: »Nun denn, kehren wir ganz in uns selbst zurück, dann haben wir das Weltall leibhaftig gefunden.«393 Die Siedlung dient auch hier zunächst als Rückzugsort, als Keimzelle gesamtgesellschaftlicher Reform. »Fort vom Staat, soweit er uns gehen läßt oder soweit wir mit ihm fertig werden, fort von der Waren- und Handelsgesellschaft, fort vom Philistertum! Schaffen […] wir uns als vorbildhaft lebende Menschen«394. Man kann diese Aufforderung zur Absonderung als Aufforderung zur Gründung von Siedlungen, von Kolonien verstehen – jedenfalls kann, wie dargelegt, das Leben auf dem Monte Verit/ als Versuch der Umsetzung dieser Ideen in die Praxis verstanden werden. In der Vorbildfunktion der »Vorhut«395 deuten sich zugleich das avantgardistische Selbstverständnis sowie die messianische Absicht einer Ausbreitung der Weltanschauung und also der expansionistische Charakter des Entwurfes an. Schließlich ist in diesem Zusammenhang auffällig, dass auch Landauer eben diese messianische Absicht mit dem Begriff der ›Hebung‹ verbindet: Ziel der Ausbildung der ›richtigen‹ Weltanschauung ist es, das Volk zu »heben«396. In dieser Schrift Landauers steht – in dieser Hinsicht Oppenheimer vergleichbar – der Wortkörper ›Kolonie‹ selbst noch nicht im Vordergrund, wohl aber schließt er bereits an den semantischen Kern des Kolonie-Begriffs an. Während die ›innere Kolonisation‹ hier noch avant la lettre beschrieben wird, greift Landauer schon ein Jahr später in »Anarchistische Gedanken über den Anarchismus« dann auch explizit den Begriff der »Kolonisation«397 auf: Die Anarchie ist nicht eine Sache der Zukunft, sondern der Gegenwart; nicht der Forderungen, sondern des Lebens. Nicht um die Nationalisation der Errungenschaften der Vergangenheit kann es sich handeln, sondern um ein neues Volk, das sich aus kleinen Anfängen heraus durch Innenkolonisation, mitten unter den anderen Völkern, da und dort in neuen Gemeinschaften bildet. Nicht um den Klassenkampf der Besitzlosen gegen die Besitzenden schließlich handelt es sich, sondern darum, daß sich

392 Ebd., S. 47. 393 Ebd., S. 53. Vgl. zur Mystik bei Landauer auch Hinz: Mystik und Anarchie, hier insb. Kapitel III.2 zu »Durch Absonderung zur Gemeinschaft«, S. 108–143. 394 Landauer : Durch Absonderung zur Gemeinschaft, S. 67. 395 Ebd., S. 46. 396 Ebd., S. 47. 397 Darauf hat bereits Wolf Kalz hingewiesen, ohne weiter darauf einzugehen; vgl. Kalz: Gustav Landauer, S. 7 und S. 24; auch Frank Pfeiffer hat darauf hingewiesen, dass der Absonderungsgedanke und die Bildung vorbildhafter Gemeinwesen bei Landauer mit »einer Art Binnenkolonisation verknüpft« werden (Pfeiffer : »Mir leben die Toten…«, S. 222), ohne dass dieser Gedanke allerdings weiter verfolgt oder in den größeren Zusammenhang der Semantik der Kulturkritik um 1900 gestellt wird.

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freie, innerlich gefestigte und in sich beherrschte Naturen aus den Massen loslösen und zu neuen Gebilden vereinigen.398

Auch hier ist Absonderung im doppelten Wortsinn Bedingung der Möglichkeit eines gesamtgesellschaftlichen Umbauprozesses, dessen Ziel bei Landauer ein nicht im Detail spezifizierter Anarchismus bzw. Sozialismus ist; der Weg zur neuen Gesellschaftsordnung führt über Absonderung und Gemeinschaftsbildung, schließlich zur friedlichen Verbreitung – innere Kolonisation – des idealen Gesellschaftsmodells. An Landauers programmatischer Ausformulierung der Grundprinzipien der Lebensreform und ihrer Koloniegründungen kann zugleich abgelesen werden, wie stark auch diese vom Weltanschauungsdenken der Jahrhundertwende her zu lesen sind. So gehört es zu den Merkmalen des Textkorpus der Weltanschauungsliteratur, dass der Weg des Weltanschauungs-Ichs »zunächst zur ›Isolation‹ und zum ›sozialen Tod‹ [führt], aus dem ›Erleuchtung‹ entspringt. Die Krise gerät solchermaßen zur Probe, die siegreiche Bewältigung ist Merkmal der Erwählung und gibt das Recht zu lehren und Anhänger zu werben.«399 Nicht nur der bewusste Rückzug in die Kolonie, auch das expansive Sendungsbewusstsein der Lebensreform, das sich in einer Vielzahl an ›Aposteln‹ niederschlägt, ist in diesem Kontext zu verstehen. Die konkreten Koloniegründungen ihrerseits dienen vor dem Hintergrund des sozialreformerischen Anspruchs der Bewegungen der praktischen Erprobung einer anderen Gesellschaftsform – besser : Gemeinschaftsform – in der Kolonie: »Die Gemeinschaft nach der wir uns sehnen, die wir bedürfen, finden wir nur, wenn wir Zusammengehörige, wir neue Generation, uns von den alten Gemeinschaften absondern.«400 Landauer selbst gründet später als eigene Gegenorganisation zur »Anarchistischen Föderation Deutschlands«401 den »Sozialistischen Bund«, zu dessen Kerngedanken der der »Inlandsiedlung«402 gehört, einer Siedlung also, in der »Pioniere«403 leben und die »Vorbilder der Gerechtigkeit und der freudigen

398 Landauer, Gustav : Anarchistische Gedanken über den Anarchismus. In: Die Zukunft, hrsg. von Maximilian Harden, 37. Band, Berlin (1901), S. 134–140, hier S. 136/137. 399 Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 363. 400 Landauer : Durch Absonderung zur Gemeinschaft, S. 48. 401 Vgl. Linse: Organisierter Anarchismus im Kaiserreich von 1871, S. 275. Die Gründung ist auf 1908 zu datieren, das Jahr, in dem Landauer eine Prinzipienerklärung des »Sozialistischen Bundes« in »Zwölf Artikeln des Sozialistischen Bundes« verfasste; vgl. ebd., S. 291; unklar bleibt, ob sich der »Sozialistische Bund« je offiziell konstituiert hat (vgl. ebd., S. 292). 402 Vgl. [Landauer, Gustav]: Die Zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes. In: Der Sozialist, 2. Jahrgang Nr. 14, Bern (15. Juli 1910), S. 105, Artikel 9; druckgleich in: Der Sozialist, 2. Jahrgang Nr. 14, Berlin (15. Juli 1910), S. 105; Landauer wird nicht als Autor genannt. 403 Vgl. ebd., S. 105.

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Modernereflexion. Kolonien in der Semantik der Kulturkritik

Arbeiten«404 sein sollen.405 Langfristig soll die Siedlungsidee den Weg in die Zukunftsgesellschaft weisen und damit auch einen Ersatz für die Revolution bilden.406 Landauers Siedlungsgedanke hat seine Vorläufer in der Freiland-Bewegung.407 Linse schätzt ihn zugleich als »romantisch, rückwärtsgewandt, konservativ« ein408 ; das dahinter stehende Gesellschaftskonzept ist stark an der mittelalterlichen, und also vormodernen Gesellschaftsordnung orientiert409. Der Umsetzungsversuch der Gesellschaftsreform durch Absonderung und (Re-) Vergemeinschaftung einer Avantgarde sowie anschließender Innenkolonisation ist nicht von Erfolg gekrönt; der »Sozialistische Bund« blieb weitgehend erfolglos, ab etwa 1913 ging es erkennbar bergab410. Mit Landauer ist zugleich der Übergang zu Dichter- und Künstlerkolonien markiert. Nicht nur gehörte Landauer wenigstens kurzzeitig selbst zu verschiedenen Dichter- und Künstlerkolonien wie der Friedrichshagener Dichterkolonie (ab 1890)411 und der Neuen Gemeinschaft412, »Durch Absonderung zur 404 Vgl. ebd., S. 105. 405 Dies allerdings mit der Einschränkung, diese Siedlungsbestrebungen seien dezidiert noch »nicht Mittel zur Erreichung des Ziels. Das Ziel ist nur zu erreichen, wenn der Grund und Boden durch andere Mittel als Kauf in die Hände der Sozialisten kommt.« (Ebd., S. 105). 406 Linse: Organisierter Anarchismus im Kaiserreich von 1871, S. 277. 407 Ebd., S. 279. 408 Ebd., S. 280. 409 Vgl. etwa Kalz: Gustav Landauer, S. 108. Thorsten Hinz hat darauf hingewiesen, dass das Gemeinschaftskonzept Landauers aus der Lektüre Meister Eckharts erwachsen sei (vgl. Hinz: Mystik und Anarchie, S. 109); Landauers Verständnis des mittelalterlichen Gemeinschaftssinns umfasse eine gesellschaftliche und eine spirituelle bzw. religiöse Dimension (vgl. ebd., S. 126). 410 Vgl. Linse: Organisierter Anarchismus im Kaiserreich von 1871, S. 300. 411 Vgl. Cepl-Kaufmann/Kauffeldt: Friedrichshagener Dichterkreis; vgl. daneben den Abschnitt zu Landauers »Wirkungsgeschichte in der Praxis«, insbesondere auf die zionistische Bewegung, die deutsche Jugendbewegung und die Kommunenbewegung, in Braun: Die Utopie des Geistes, S. 122–126. 412 Vgl. Bruns, Karin: Die neue Gemeinschaft [Berlin Schlachtensee]. In: Wülfing, Wulf/Bruns, Karin/Parr, Rolf (Hrsg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1925–1933. Stuttgart 1998, S. 358–371. Landauers Zugehörigkeit zur Neuen Gemeinschaft blieb allerdings ein kurzes Intermezzo – nachdem er sich 1900 der Gruppierung angeschlossen hatte, kam es bereits 1902 wieder zum Bruch, da Landauer mit dem Programm der Brüder Hart nicht einverstanden war (vgl. Linse: Organisierter Anarchismus im Kaiserreich von 1871, S. 88). Dennoch ist das »Friedrichshagener Jahrzehnt mit seinem auf öffentliche Wirksamkeit ausgerichteten kulturrevolutionären und sozialen Engagement« (Kauffeldt, Rolf: Gustav Landauer und die Müggelseerepublik Berlin-Friedrichshagen als kulturrevolutionärer Bezugsort. In: Matzigkeit, Michael [Hrsg.]: »…die beste Sensation ist das Ewige…«. Gustav Landauer – Leben, Werk und Wirkung. Düsseldorf 1995, S. 49–58, hier S. 57) von Bedeutung für Landauer: »Die hier gemachten positiven wie negativen Erfahrungen prägen noch Landauers spätere Vorstellungen eines Gemeindesozialismus auf selbstverantwortlicher Basis« (ebd., S. 57/58). Zum Verhältnis von Friedrichshagen und Landauer vgl. auch Cepl-Kaufmann: Gustav Landauer im Friedrichshagener Jahrzehnt und die Rezeption seines Gemeinschaftsideals nach dem I. Weltkrieg. In: Delf, Hanna/Mat-

›Kolonien‹ und ›Kolonisation‹ in der Kulturkritik

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Gemeinschaft« ist zugleich »eine Art Bestandsaufnahme der geistigen Situation der Zeit, die zugleich zur Gründungsfibel der ›Neuen Gemeinschaft‹ avancierte«413, und kann wie dargelegt als programmatischer Entwurf auch der Lebensreformkolonien im Allgemeinen gelesen werden. Ohnehin ist eine strikte Grenzziehung zwischen Lebensreform-, Dichter- und Künstlerkolonien nicht nur schwierig, sondern unmöglich. Die Neue Gemeinschaft etwa, die sich zunächst als Fortsetzung bzw. Weiterentwicklung des Friedrichshagener Dichterkreises verstand414, transformierte sich innerhalb kürzester Zeit in ein Lebensreformprojekt, das große Ähnlichkeit mit der Obstbaukolonie Eden, der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft und dem Monte Verit/-Projekt aufweist.415 Die unterschiedlichen Kolonien und Kolonietypen pflegten nicht nur untereinander zahlreiche Beziehungen, auch personell gibt es vielfach Überschneidungen. Wilhelm Bölsche und die Brüder Hart beispielsweise zählten zu allen Gruppen und Vereinen, die sich in den 90er Jahren und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin herausbildeten416 ; der Maler Fidus (d.i. Hugo Höppener), Teil der Friedrichshagener Dichterkolonie417, ist zeitweise Schüler des Lebensreformers Karl Wilhelm Diefenbach418, dessen Schüler Gusto Gräser419 wiederum zu den Begründern des Monte Verit/ gehört420, um nur wenige Beispiele zu nennen. Letztlich lassen sich nun alle dargelegten kulturoptimistischen Entwürfe – Lagardes Grenzkolonialismus als Mittel der kulturellen Regeneration Deutschlands, Langbehns ›innere Kolonisation‹ Deutschlands, Hertzkas von Übersee ausgehende ökonomische Welt-Kolonisation, Oppenheimers Entwurf einer von ›Freiland in Deutschland‹ ausgehenden Wirtschaftsreform, Fritschs Entwurf einer Gartenstadt-Kolonisation Deutschlands und Landauers Hoffnung

413

414 415 416 417 418 419 420

tenklott, Gert (Hrsg.): Gustav Landauer im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag. Tübingen 1997, S. 235–279. Landauer ist seinerseits kein typischer Repräsentant des deutschen Anarchismus (vgl. Linse: Organisierter Anarchismus im Kaiserreich von 1871, S. 288); an dieser Stelle interessiert er wesentlich in Bezug auf die Problemkonstellation Künstlerkolonien, Lebensreform und Kulturkritik um 1900, seine weitere intellektuelle Entwicklung wird nicht mehr verfolgt. Vgl. Kauffeldt: Gustav Landauer und die Müggelseerepublik Berlin-Friedrichshagen als kulturrevolutionärer Bezugsort, S. 54. Kauffeldt weist zudem darauf hin, dass die »Wirkung der Schrift auf die künstlerisch-literarische Avantgarde Berlins […] beachtlich« gewesen sei (ebd., S. 55). Vgl. Bruns: Die neue Gemeinschaft [Berlin Schlachtensee], S. 358. Vgl. ebd., S. 361. Vgl. Cepl-Kaufmann/Kauffeldt: Friedrichshagener Dichterkreis, S. 113. Vgl. ebd., S. 120. Vgl. Frecot, Janos/Geist, Johann Friedrich/Kerbs, Diethart: Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. München 1972, S. 67ff. Vgl. Voswinckel, Ulrike: Freie Liebe und Anarchie: Schwabing – Monte Verit/. Entwürfe gegen das etablierte Leben. München 2009, S. 20. Vgl. ebd., S. 13.

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auf die »dritte Gemeinschaft […] die erst kommen soll«421 – mit Blick auf den vorgeschlagenen Weg auf ein gemeinsames Grundprinzip zurückführen: Sie fordern als Reaktion auf die tiefgreifenden gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Veränderungen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine geistigkulturelle bzw. kulturell-soziale Kolonisation Deutschlands. Organisiert ist diese Beobachtung und Beschreibung der Moderne und ihrer Alternativen immer über das dargelegte kulturkritische Basisnarrativ Paradies Vormoderne – Sündenfall Moderne – Erlösungshoffnung; die Gründung der Kolonie und die expansiv-kolonialistische Weltanschauungs-Verbreitung werden in diesem Modell systematisch an die Gelenkstelle zwischen Sündenfall und Erlösung gesetzt. Auch das inhaltliche Anliegen aller dieser Koloniegründungen ist bei allen Unterschieden im Detail letztlich doch dasselbe: Immer geht es um »Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900«422. Nur am Rande kann an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass die Gründung von Künstlerkolonien, also von abgeschlossenen, ganzheitlichen Siedlungen, auch und gerade ästhetische Implikationen hatte: Die Künstlerkolonie Mathildenhöhe etwa kann wohl als Gesamtkunstwerk betrachtet werden, ebenso ist der »Anspruch der ›Neuen Gemeinschaft‹, Leben und Wirken im Sinne Richard Wagners als Gesamtkunstwerk zu fassen«423 in diesem Zusammenhang zu sehen: Die »Neue Gemeinschaft« sollte alles umfassen, was das Leben und Sinnen des modernen, geistig freien um die neue Weltanschauung ringenden Menschen erfüllt und erregt. Allen Gebieten wird sie sich zuwenden: Philosophie und Forschung, Kunst und Ethik, Politik, Volks- und Weltwirtschaft. Das ästhetische Gebiet wird sowohl durch Kritik, wie durch Produktion vertreten sein. Eine neue, eine wahre Menschheitskultur ist das Ziel, das die ›Neue Gemeinschaft‹ anstrebt.424

421 Landauer : Durch Absonderung zur Gemeinschaft, S. 49. 422 So der sehr treffende Untertitel des Katalogs zur Ausstellung »Die Lebensreform« in Darmstadt (Buchholz/Latocha/Peckmann/Wolbert: Die Lebensreform). Die Friedrichshagener Dichterkolonie etwa reagierte mit ihren zahlreichen Kulturprojekten und politischrevolutionären Einmischungen »auf die vielfältigen gesellschaftlichen Modernisierungsund Entfremdungsprozesse im Zeitalter der Hochindustrialisierung und verhalfen der literarisch-künstlerischen Moderne zum Durchbruch in Deutschland« (vgl. Cepl-Kaufmann/Kauffeldt: Friedrichshagener Dichterkreis, S. 113/114). 423 Kauffeldt: Gustav Landauer und die Müggelseerepublik Berlin-Friedrichshagen als kulturrevolutionärer Bezugsort, S. 56. 424 Werbeblatt der Neuen Gemeinschaft, Hart-Nachlass Dortmund, S. 2, zitiert nach: Bruns: Die neue Gemeinschaft [Berlin Schlachtensee], S. 358.

Paradoxien weltanschaulicher Kulturkritik und die Funktion des Koloniebegriffs

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III.3 »Zu beweisen ist hier nichts; nur zu fühlen«425. Zu den Paradoxien weltanschaulicher Kulturkritik und zur Funktion des Koloniebegriffs Weltanschauliche Kulturkritik ist nun in mehrfacher Hinsicht problembehaftet, durch innere Paradoxien gekennzeichnet, die sich ihrerseits aus beiden Referenzkonzepten – Weltanschauung und Kulturkritik – ableiten. So ist zunächst das Konzept der Weltanschauung wie dargelegt bereits selbst insofern paradox, als man Welt in ihrer Ganzheitlichkeit gerade nicht zur Anschauung bringen kann.426 Weltanschauliche Kulturkritik schließt nun an die problematische Vorstellung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, dass ›Weltanschauung‹ eine ›Sache‹ zugeordnet werden könne427: »Philosophieren heißt: von dem Weltganzen sich eine innere Anschauung machen, also ein Bild von demselben gewinnen«428, heißt es etwa bei Langbehn. Darüber hinaus führt auch der Rückgriff auf das triadische Geschichtsmodell der Kulturkritik in der weltanschaulichen Kulturkritik zu inneren Widersprüchen insofern die Entwürfe ihre eigenen Voraussetzungen gerade unterlaufen. So weiß die Kulturkritik, auch die konservative, grundsätzlich um die Unhintergehbarkeit der Moderne, ja ihr triadisches Geschichtsmodell ist sowohl inhaltlich als auch strukturell an diese gebunden. Sie beklagt inhaltlich den ›Sündenfall Moderne‹; die Erlösungshoffnung ist zudem nicht nur an diesen, sondern auch an ein modernes, zukunftsoffenes Geschichtsbewusstsein als Bedingung ihrer Möglichkeit gebunden. Dennoch imaginiert insbesondere die konservative Kulturkritik einen an der Vormoderne orientierten Alternativentwurf zur Moderne – ohne dabei überzeugend darlegen zu können, wie ein solches ›Zurück zur Vormoderne‹ praktisch aussehen soll oder gar umgesetzt werden kann, wie ein neuer ›Anfang‹ geschaffen werden soll: »Wäre erst ein gedeihlicher Anfang gemacht, so brauchte man um ein Weiterkommen sich nicht groß zu bangen«429, heißt es bei Fritsch lapidar, und selbst Oppenheimer, der vergleichsweise sachlich und zielorientiert argumentiert, vermag die Frage nach dem Anfang nicht zu beantworten: »Gelingt es, das ›Gewalteigentum‹ zu eliminieren, so sind damit auch die ›Gewaltanteile‹ verschwunden«430, und weiter : »Über die Einzelheiten der Organisation brauchen wir uns hier den Kopf nicht zu zerbrechen. Wo keine Hindernisse vorhanden sind, ballt sich die Materie zur Kugel, ordnen sich Wasser und Schnee

425 426 427 428 429 430

Lienhard: Heimatkunst, S. 191. Vgl. Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 353. Vgl. Thom8: Der Blick auf das Ganze, S. 390/391. [Langbehn]: Rembrandt als Erzieher, S. 52. Fritsch: Die neue Gemeinde, S. 12. Oppenheimer : Freiland in Deutschland, S. 38.

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zu mathematischen Flächen«431. Dass es ein Außerhalb der Gesellschaft, in der der neue ›Anfang‹ unberührt von der alten Gesellschaft geschaffen werden kann, unter keinen Umständen geben kann, auch in der äußersten Peripherie (Kolonie) nicht, dass mithin jeder neue Gesellschaftsentwurf alte Gesellschaft inkorporiert, dass darüber hinaus ein ursprünglicher ›Naturzustand‹ selbst immer schon nur bloße Imagination ist, wird erkennbar nicht genügend reflektiert – in dieser Hinsicht fallen die Texte kognitiv hinter Rousseau zurück. Ebenso wie die Frage des Anfangs bleibt auch die Frage nach der Weiterentwicklung des Alternativentwurfes unausgeführt und unterreflektiert. Zunächst schafft es die weltanschauliche Kulturkritik nicht, das Spannungsverhältnis zwischen dem Avantgarde-Gedanken auf der einen (»Die Gemeinde müßte allerdings in der Aufnahme des fremden Zuzuges wählerisch zu Werke gehen«432, fordert beispielsweise Fritsch) und dem gesamtgesellschaftlichen Reformanspruch auf der anderen Seite zu bewältigen. Landauer etwa markiert explizit den avantgardistischen Grundgedanken der kulturkritischen Projekte: Nun sind wir, die ins Volk gegangen waren, von unserer Wanderung zurückgekehrt. Einige sind uns unterwegs verloren gegangen, bei einer Partei oder bei der Verzweiflung. Etwas haben wir mitgebracht: einzelne Menschen. Einzelne Menschen, die wir aus dem Meer des Alltags herausgefischt haben, mehr haben wir nicht gefunden. Es sei denn eine Erkenntnis, die wir in Schmerz und Kämpfen erobert haben: wir sind zu weit voran, als daß unsere Stimme von den Massen verstanden werden könnte. […] Unsere Erkenntnis ist: wir dürfen nicht zu den Massen hinuntergehen, wir müssen ihnen vorangehen, und das sieht zunächst so aus, als ob wir von ihnen weggingen. Die Gemeinschaft, nach der wir uns sehnen, die wir bedürfen, finden wir nur, wenn wir Zusammengehörige, wir neue Generation, uns von den alten Gemeinschaften absondern.433

Wie nun allerdings das Ziel einer gesamtgesellschaftlichen Reform bei Landauer – der immerhin als Theoretiker der Gemeinschaftsgründung der Lebensreform gelesen wird434 – erreicht werden soll, wenn doch die Gesamtgesellschaft gar nicht erreicht werden kann und die Avantgarde sich absondert, das vermag Landauer letztlich nicht zu beantworten. Nur notdürftig wird die Problematik über ein Erweckungsmoment »unserer Völker, wenn sie noch erweckt werden können«435, gelöst, das »nur durch religiöse Genialität [sic!], das heißt durch das vorbildliche Leben von Thatmenschen, die ihr Alles daran setzen«436, initiiert werden solle. Bei Theodor Fritsch tritt die den Entwürfen inhärente Spannung 431 432 433 434 435 436

Ebd., S. 40. Fritsch: Die neue Gemeinde, S. 6. Landauer : Durch Absonderung zur Gemeinschaft, S. 47/48. Vgl. Gebhardt: Charisma als Lebensform, S. 160–161. Landauer : Durch Absonderung zur Gemeinschaft, S. 68. Ebd., S. 68.

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zwischen Avantgarde-Gedanken und gesamtgesellschaftlichem Reformprojekt gar offen zu Tage: »Je länger man unser öffentliches Leben betrachtet, desto mehr wird es einem zur Gewißheit, daß all die schönen Reform-Ziele, um die sich die besten Geister abmühen, in absehbarer Zeit für die große Gesammtheit der Nation nicht erreichbar sind.«437 Zwar zielt der Entwurf der Gartenstadtkolonie grundsätzlich auf einen gesamtgesellschaftlichen Umbauprozess, markiert wird aber zugleich die Undurchführbarkeit desselben – und das auf lange Sicht. Schließlich kann keiner der Entwürfe überzeugend darlegen, weshalb die Alternativgesellschaft, sollte denn tatsächlich ein Anfang gemacht sein, nicht ihrerseits entweder von der Moderne eingeholt werden oder aber sich gar selbst zur Moderne weiterentwickeln sollte. Villen-Kolonien etwa, die Fritsch als Vorbild seiner Gartenstadt dienen, sind – das markiert Fritsch selbst – immer schon davon bedroht, dass die moderne Großstadt sie einholt, schluckt: »Solche Colonien von Landhäusern sind heute immerhin der Gefahr ausgesetzt, im Laufe der Jahrzehnte von der heranwachsenden Großstadt verschlungen und in größerer oder geringerer Nähe mit einem Gürtel von Fabriken oder Miets-Casernen umzingelt zu werden.«438 Fritschs Lösung für seine Gartenstadt heißt nun: »Warum sollte man eine solche Siedlung nicht noch etwas weiter von der Stadt abrücken, sich ein Gelände von größerem Umfange sichern und die Anlage der Colonie so treffen, daß sie sich allmälig zu einer selbständigen Stadt auswachsen könnte?«439 Er belässt es mithin dabei, lediglich mehr Abstand zwischen der an den Villen-Kolonien orientierten Gartenstadt und der Großstadt zu schaffen; weshalb jedoch die Gartenstadt deshalb nicht mehr Gefahr läuft, von der wachsenden Großstadt über kurz oder lang eingeholt zu werden, bleibt ein blinder Fleck. Ähnlich problembehaftet wie die Imagination eines neuen Anfangs und der Weiterentwicklung einer alternativen Gesellschaft ist schließlich die Imagination einer Zielvorstellung, gilt es doch in der Regel gerade, einen letztgültigen Gesellschaftsentwurf zu schreiben – Fritsch etwa geht es explizit darum, etwas »Dauerndes«440 zu schaffen. Weltanschaulich-kulturkritische Erlösungsentwürfe versuchen mithin, die Gesellschaftsentwicklung gerade festzustellen. Erkennbar steht dies im Grundwiderspruch zur Moderne und ihrem zukunftsoffenen Geschichtsbild – das zugleich die Bedingung der Möglichkeit kulturkritischen Denkens überhaupt ist. Damit aber unterläuft die weltanschauliche

437 438 439 440

Fritsch: Die neue Gemeinde, S. 8. Ebd., S. 4. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5.

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Kulturkritik mit ihren inhaltlichen Aussagen, hier vergleichbar der Zeitutopie, ihre eigenen Voraussetzungen. Im Übrigen ist die Zielvorstellung der weltanschaulich-kulturkritischen Projekte wenigstens zum Teil von einer ausgesprochenen Inhaltslosigkeit hinsichtlich der konkreten Alternativvorschläge gekennzeichnet. Das zeigt sich in besonderer Weise bei Julius Langbehn, bei dem ein unspezifischer Persönlichkeitskult an die Stelle echter Alternativentwürfe tritt: Rembrandt wird zum ›Erzieher‹ des deutschen Volkes, er »ist das betreffende historische Ideal für die nächste Zeit«441. Vor dem Hintergrund der kulturpessimistischen Ausgangsdiagnose wird die Orientierung an Rembrandt in Dienst genommen für die Regeneration der deutschen Kunst, der deutschen Kultur. Allein, die inhaltliche Ausgestaltung bleibt unausgeführt, Langbehn zieht sich auf den Begriff des Individualismus zurück, was der Verweigerung eines Programms selbst gleichkommt: »Programmlosigkeit heißt sein [Rembrandts] Programm; und dies ist das künstlerischste aller Programme; es ist im Grunde das einzig wahrhaft künstlerische aller Programme«442. Bis in den Satzbau hinein zieht sich die Inhaltslosigkeit des Entwurfs: »Die Rückkehr zu Rembrandt bedeutet hier zugleich ein Vorwärtsschreiten in die Zukunft.«443 Zugleich wird die sogenannte ›moderne‹ Kunst apodiktisch abgelehnt – Langbehn wettert gegen die »Mängel gewisser moderner Kunstentwicklungen«444 – ohne zu sehen, dass gerade die Verweigerung jeglicher Programmatik und die Forderung nach je individueller Kunst in letzter Konsequenz alle Kunst einschließt – und damit gerade auch jene, die hier eigentlich ausgeklammert werden soll. »Es ist ja nicht Jedermann gegeben, wahre und falsche Propheten zu unterscheiden; aber desto zurückhaltender sei man in seinem Urtheil; desto ehrlicher und ehrenhafter bei der Prüfung«445, fordert Langbehn, ohne dass diese Forderung auch für das eigene, apodiktische Kunsturteil geltend gemacht wird. Langbehn unterläuft auch hier seine eigenen programmatischen Äußerungen, ohne hierin selbst einen Einblick zu haben. Die sich aus dem Konzept der Kulturkritik ableitenden Paradoxien weltanschaulicher Kulturkritik führen ihrerseits zu spezifischen textuellen Verfahren, mit denen die Texte notdürftig versuchen, die Weltanschauungs- ebenso wie die Anfangs-, Entwicklungs- und Zielproblematik zu verdecken. So impliziert der formulierte Anspruch auf Anschauung von Welttotalität, dass der Text seinerseits Welttotalität abbilden muss. »Rembrandt als Erzieher« versucht, dies über ein additives Verfahren zu realisieren. Der Text operiert über mehr als 300 Seiten 441 442 443 444 445

[Langbehn]: Rembrandt als Erzieher, S. 9. Ebd., S. 9. Ebd., S. 35. Ebd., S. 16. Ebd., S. 13.

Paradoxien weltanschaulicher Kulturkritik und die Funktion des Koloniebegriffs

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mit einer assoziativen Aneinanderreihung von Beobachtungen, Behauptungen, Namen und Zitaten, von der hier nur ein knapper Eindruck vermittelt werden kann: »Der kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin er geht,« erklärte Cromwell und sprach damit das Grundwesen alles Individualismus aus. Die treibende Grund- und Urkraft alles Deutschthums aber heißt: Individualismus. »Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Frage gleichbedeutend,« sagt Fichte. Zu dieser ihm angebornen, jedoch im Laufe der Zeit vielfach verloren gegangenen Eigenschaft muß der Deutsche zurückerzogen werden. Eben in dem zerklüfteten Wesen, in jenem zentrifugalen Bestreben, welches dem Deutschen von jeher eigenthümlich war, liegt seine Fähigkeit einer unendlich reichen und mannigfachen Ausstrahlung auf das Welt- und Menschheitsganze beschlossen.446

Die auf den ersten Blick wahllos erscheinende Aneinanderkettung, die schwerlich eine wirkliche Argumentationsentfaltung beinhaltet, entspricht nun gerade ihrem Gegenstand: Wenn Welttotalität dargestellt werden soll, dann ist alles von Relevanz. Das aber bedeutet zugleich: Der weltanschauliche Text ist potentiell immer unabgeschlossen – im Rembrandtbuch drückt sich das nicht zuletzt in beständigen und umfangreichen Erweiterungen, die Langbehn für die nachfolgenden Auflagen immer wieder eingefügt hat447, aus. Insofern der Text nun ebenso wenig wie das Konzept Weltanschauung selbst Totalität zur Anschauung bringen kann, ist ihm dann nicht nur eine potentielle Unabgeschlossenheit, sondern zugleich die Unmöglichkeit des eigenen Anspruchs bereits eingeschrieben. Von hierher sind – das wird zu zeigen sein – sowohl das künstlerische Programm der Weltanschauungskunst mit ihrem Anliegen, »im Roman ein[en] ganze[n] Weltzustand«448 abzubilden, wie auch das Scheitern weltanschaulichen Erzählens am eigenen problembehafteten Programm zu verstehen.449 Auch die Inhaltslosigkeit der Entwürfe hat Konsequenzen für die Form. Der Persönlichkeitskult Langbehns etwa, der die Problematik des fehlenden Alternativentwurfes verdecken soll, führt auf der textuellen Ebene dazu, dass neben Rembrandt unzählige weitere historische Persönlichkeiten aufgerufen werden – die Liste reicht allein auf den ersten Seiten von Goethe über Luther, Fichte, Lessing, Schiller, Shakespeare, Walther von der Vogelweide bis hin zu Bach, 446 Ebd., S. 3. 447 Langbehn hat das Buch für die 13. und die 37. Auflage umfangreich überarbeitet. Die Überarbeitungen betreffen im Wesentlichen eine Anpassung an politische Verhältnisse, eine Vermehrung und Verschärfung antisemitischer Äußerungen und eine immer positiver werdende Darstellung des Katholizismus. Vgl. Behrendt: August Julius Langbehn, der »Rembrandtdeutsche«, S. 96. 448 Bartels: Heimatkunst, S. 17. 449 Vgl. Abschnitt IV.4 »›Wo kein Erzählen mehr hilft‹. Paradoxien ›kolonialer‹ Weltanschauungsromane und ihre literarische Reflexion«.

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Dürer, Beethoven, Novalis, Hölderlin.450 Bisweilen werden gar mehrere Namen lediglich additiv hintereinander geschaltet: das »jahrhundertelange Vergessen und Verachten Shakespeare’s, Dürer’s, Bach’s, Rembrandt’s«451 heißt es etwa. Historische Persönlichkeiten werden dann als vermeintliche Gewährsmänner herangezogen: »Schon in Goethe, ja wenn man will, schon in dem musikliebenden Luther findet sich das unbestimmte Vorgefühl einer solchen Entwicklung«452, heißt es da; »›Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Frage gleichbedeutend‹«453, wird Fichte eine Seite später zitiert; »›Die Deutschen sind ehrliche Leute‹ sagte schon Shakespeare: Luther und Bismarck zeugen davon«454, schreibt Langbehn weiter. Das Fehlen des Gehaltes auf der Ebene der Semantik der Texte führt mithin auf der textuellen Ebene zu einer ›Überwucherung‹ des Textes durch zahllose, fast wahllos hintereinandergeschaltete Namen historischer Persönlichkeiten – ohne dass dies zugleich die Inhaltslosigkeit des Programms selbst überdecken könnte. Ähnliche Strategien der Übertünchung eines Mangels an Inhalten sind die explizite Verweigerung einer Argumentation sowie der Rückzug auf so etwas wie das ›Gefühl‹, wie sie insbesondere die an Langbehn anschließenden Heimatkunstautoren betreiben: »Doch man thut oberflächlichem Geschwätz viel zu viel Ehre an, wenn man etwas gründliches dagegen vorbringt«455, heißt es etwa bei Bartels. Lienhard entzieht sich sachlichen Argumenten vollständig: »Zu beweisen ist hier nichts; nur zu fühlen oder eben nicht zu fühlen.«456 Aber auch Autoren wie Landauer (»Man muß es im Gefühl haben, wer zu dieser abgesprengten Truppe, die eine Vorhut ist, sobald sie es sein will, gehört«457) und Oppenheimer wählen diese Strategie: »Die instinktive Volksempfindung fühlt, daß der Boden, den Niemand geschaffen hat, den Niemand vermehren kann, allen Menschen gehören muß.«458 An die Stelle der sachlichen Auseinandersetzung tritt der Begriff des Gefühls; einer solchen Position ist auf keiner Ebene beizukommen, sie ist absolut. Theodor Frisch schließlich ist ein Beispiel dafür, wie weltanschauliche Projekte, um den gesamtgesellschaftlichen Umbauprozess einzuführen, Bilder organischen Lebens an die Stelle konkreter Hinweise zur Entwicklung des Gemeinwesens setzen:

450 451 452 453 454 455 456 457 458

Vgl. [Langbehn]: Rembrandt als Erzieher, S. 2–11. Ebd., S. 9. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 5. Bartels: Heimatkunst, S. 14. Lienhard: Heimatkunst, S. 191. Landauer : Durch Absonderung zur Gemeinschaft, S. 47. Oppenheimer : Freiland in Deutschland, S. 38.

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Die alte Ordnung gleicht einem alten vermorschenden Baume, dessen Zweige mit Schlinggewächsen aller Art durchwachsen, mit brüchigen Resten beladen, zu einem unentwirrbaren Knäuel verschlungen sind, worin es beständig bröckelt und bricht. Wer will einem solchen Baume neue Äste einsetzen? Ist es nicht besser, dem alten Stamme ein junges triebkräftiges Reiß zu entnehmen und es an geschützter Stelle dem Boden anzuvertrauen, – daraus einen jungen Stamm zu züchten?459

Ähnlich funktionieren auch die Bilder organischen Lebens in der Heimatkunst. Wenig überraschend kann auch Fritsch dann keine ernsthaften inhaltlichen Aspekte entwerfen – sie ergeben sich, dem lebensreformerischen Prinzip ›Gesellschaftsreform durch Selbstreform‹ vergleichbar, von selbst: »Eine größere Gemeinde aber, in der es keine Trunksucht, keine Bankrotte, keine Prostitution, keine Verbrechen, keine Selbstmorde gäbe, würde gewiß die Augen der Welt auf sich lenken und zur Würdigung und Nachahmung ihrer Grundsätze und Einrichtungen anregen.«460 Weder die Bilder organischen Wachstums noch das lebensreformerische Prinzip der Selbstregulation können die Entwicklungsproblematik oder die Inhaltslosigkeit verdecken. Fritsch versucht daneben auch dadurch über den Mangel an ›theoretischem‹ Alternativentwurf hinwegzutäuschen, dass er den experimentellen Charakter des Projektes hervorkehrt: Es gehe darum, »von der Theorie zur That überzugehen«461, es handele sich um eine experimentelle Feststellung, deren Ergebnis sich ebenso leicht auf das große Ganze wird übertragen lassen wie des Chemikers Erfahrung im Laboratorium auf Massen-Verarbeitung, wie des Technikers Versuche am Modell auf die Ausführung im Großen.462

Und so entlarvt Fritsch seinen Entwurf der Gartenstadtkolonie wohl nolens volens zugleich auch als das, was er ist – er ist seinerseits nicht mehr als das Sinnbild einer möglichen künftigen Entwicklung: »Mag in diesem Sinne der vorliegende Stadtplan nichts vorstellen, als eine Art Banner, ein Wahrzeichen oder Sinnbild, das andeuten will, wie an Stelle von etwas Planlosem ein vernünftig Geordnetes zu treten habe.«463 Damit aber ist zugleich die Funktion der Begriffe Kolonie und Kolonisation für die weltanschauliche Kulturkritik markiert: Sie sind – man muss wohl sagen: ohne dass die Texte selbst dies durchschauen – Sinnbild für Ursprung und Weiterentwicklung einer gewollten, einer alternativen Gesellschaftsform. Die Begriffe überdecken darüber hinaus gerade die der Logik weltanschaulicher Kulturkritik inhärenten Probleme. Kann das Anfangsproblem inhaltlich nicht 459 460 461 462 463

Fritsch: Die neue Gemeinde, S. 9. Ebd., S. 12. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9.

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Modernereflexion. Kolonien in der Semantik der Kulturkritik

gelöst werden, tritt an die Stelle dieser Problematik der Kolonie-Begriff, kann die weitere Entwicklung der alternativen Gesellschaft nicht näher ausgeführt werden, tritt an ihre Stelle der Kolonisationsbegriff. Dass gerade die Begriffe ›Kolonie‹ und ›Kolonisation‹ hier besonders geeignet erscheinen, hängt mit ihrem semantischen Kern zusammen: Der Begriff wird offenbar aufgrund seiner semantischen Eigenschaften um 1900 für die weltanschauliche Kulturkritik attraktiv. Einerseits scheint im Sinnhorizont der Kolonie Totalität noch einmal erfahrbar zu sein insofern die Kolonie zum Modell eines abgeschlossenen Ganzen werden kann: »[D]ie Colonie [kann] in jedem Stadium der Entwicklung ein abgeschlossenes und lebensfähiges Ganzes bilden«464, schreibt Theodor Fritsch in seiner Abhandlung zur Gartenstadt 1896. Kolonien sind potentiell begrenzt und autark, sie bieten einen Raum, um alternative Lebens- und Gesellschaftsformen mit ganzheitlichem Anspruch auszuprobieren. Die Aufnahme des Kolonie-Begriffs in die Semantik der Kulturkritik ist insofern vor dem Hintergrund des Totalitäts- und Fragmentierungsdenkens des langen 19. Jahrhunderts zu verstehen und also als Reaktion auf die zunehmende Ausdifferenzierung in der Moderne. Zugleich ist mit dem Gang in die Kolonie immer auch ein Absonderungsgedanke verbunden – die kulturkritische Begriffsdimension scheint eine spezifische Ausprägung der Absonderungssemantik des kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende zu sein. Andererseits scheint der Begriff der ›Kolonisation‹ vor allem auch deshalb geeignet, weil im Weltanschauungsdenken neben den Anspruch auf Totalität und absolute Gültigkeit ein um 1900 immer stärker in den Vordergrund tretender Drang auf Expansion tritt, vor dessen Hintergrund die diskursiven Parallelen zwischen machtpolitischer und sozialer bzw. kultureller Expansion zu erklären sind. Die originalen und originellen Gedankenbilder der Weltanschauungserzeuger sind dann nicht mehr bloss die Selbstdarstellung der Individualität, sie erhalten einen Drang zur Expansion: Die Weltanschauungssuche bleibt nicht mehr das mit allen Kräften angestrebte und durchgeführte Vorhaben der Einzelpersönlichkeit, sofern sie ihren Weltstand erringen will, sondern weitet sich zu einem allgemeinen Projekt aus. Zur Durchsetzung und Pflege einer Weltanschauung und der ihr einwohnenden »Wahrheit« werden Vereine und Gesellschaften gegründet.465

Das gilt etwa für die Gründung von ›Bünden‹ im Umfeld der Weltanschauungsliteratur im engeren Sinn, wie etwa Haeckels Monistenbund, in der Textorganisation und gesellschaftliche Praxis aneinander stoßen466. Kolonien können gewissermaßen als Bund-Synonym in diesen Zusammenhang eingeordnet werden. 464 Ebd., S. 6. 465 Meier, Helmut G.: Weltanschauung. Studien zu einer Geschichte und Theorie des Begriffs. Dissertation, Münster, Univ., 1967, S. 205. 466 Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 375.

IV

›Koloniale‹ Weltanschauungsromane. Der doppelte Kolonie-Begriff und die Literatur der Jahrhundertwende

IV.1 Literatur und Kulturkritik. Vorüberlegungen zu einem Verhältnis IV.1.1 Kolonialromane oder Weltanschauungsromane? Zu einigen Problemen mit der Gattung ›deutscher Kolonialroman‹ Ausgehend von den Beobachtungen zum Begriff der ›Kolonie‹ in der Semantik der Kulturkritik stellt sich die Frage, ob und wie der doppelte, auf die Moderne bezogene Koloniebegriff auch für die Literatur der Jahrhundertwende Relevanz hat. In einem ersten Zugriff erscheint die deutsche ›Kolonialliteratur‹ als geeigneter Gegenstand einer entsprechenden Untersuchung. Nun sieht sich jede Arbeit, die sich mit dem deutschen ›Kolonialroman‹ auseinandersetzt, zunächst mit dem Problem einer extremen Heterogenität des Textkorpus konfrontiert. Die Romane sind in so unterschiedlichen Regionen wie Afrika467, China468, der Südsee469 situiert470 ; die Themen, denen sich die Texte widmen, variieren extrem, angefangen bei Reisen emanzipierter Frauen471 über das Phänomen des Tropenkollers472 bis hin zur literarischen Darstellung von Aufständen und Kolonialkriegen473. Genauso wenig kann man den ›Kolonialroman‹ einer Literaturströmung zuordnen.474 Die Konsequenz ist, dass die deutsche ›Kolonialliteratur‹ 467 Etwa Dose, Johannes: Ein alter Afrikaner. Erzählung. Wismar 1913. 468 Etwa Meister, Friedrich: Hung Li Tscheng oder Der Drache am Gelben Meer. Eine Erzählung für die reifere Jugend und das deutsche Haus. Leipzig 1900. 469 Etwa Benkard, Christian: In ferner Inselwelt. Roman. Zwei Bände, Stuttgart u. a. 1889. 470 Aufgrund dieser Heterogenität haben frühe Arbeiten sich etwa auf den Afrika-Roman beschränkt; vgl. exemplarisch Warmbold: »Ein Stückchen neudeutsche Erd’…«. 471 Etwa Haase, Lene: Raggys Fahrt nach Südwest. Berlin 1910. 472 Wenden, Henry : Tropenkoller. Ein Kolonialroman. Leipzig, o. J. [1904] (1. Aufl. 9. Tsd.). 473 Frenssen, Gustav : Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugsbericht. Berlin 1906. 474 So sind Texte wie Wendens »Tropenkoller« deutlich vom Naturalismus geprägt, mit Gustav Frenssen erschließt sich ein Heimatkunstautor die Überseegebiete als literarischen Schauplatz.

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›Koloniale‹ Weltanschauungsromane

nur mehr durch die Situierung der Handlung in Übersee als kleinstem gemeinsamen Nenner bestimmt werden kann. Dem steht nicht nur die Beobachtung gegenüber, dass schon der KolonieBegriff selbst um 1900 nicht auf seinen machtpolitischen Gehalt allein beschränkt ist, sondern auch die Beobachtung, dass der deutsche ›Kolonialroman‹ nicht auf genuin koloniale Themen beschränkt ist, sondern auch und gerade mit der kulturkritischen Beschreibung, Reflexion und Bewältigung von Moderne beschäftigt ist. Neben Texte, die den machtpolitischen Kolonialismus als Teil der Moderne beobachten und beschreiben, tritt eine Reihe ›kolonialliterarischer‹ Texte, die die Kolonie wesentlich als Rückzugsort von der Moderne und als Keimzelle einer neuen, einer anderen Gesellschaftsordnung begreifen. Ausgehend von diesen Überlegungen lassen sich dann, so die These, für den deutschen Überseeroman der Jahrhundertwende zwei bzw. drei Deutungslinien beobachten: Der Überseeroman begreift Kolonien und Kolonialismus erstens als Faktor der ökonomischen und politischen Modernisierung (koloniale Moderne). Es ist dies die Bedeutungsdimension, der sich die postkoloniale Forschung wesentlich gewidmet hat. Daneben treten zwei weitere, in der Forschung bisher nur unzureichend wahrgenommene Deutungslinien, die an den weltanschaulich-kulturkritischen Gehalt der ›Kolonie‹ anschließen. Die Kolonie ist hier entweder zweitens Ort und Ausgangspunkt einer Regeneration von Gesellschaft und Kultur im Sinne der konservativen Kulturkritik oder aber drittens Ort und Ausgangspunkt einer Erlösung475 im Sinne der Lebensreform, sprich eines dritten Weges im Umgang mit der Moderne: Die Kolonie wird zum Korrektiv einer fehlgeleiteten Moderne.476 Wenn in der Überseeliteratur in kulturkritischer Perspektive alternative Gesellschafts- und Wirtschaftsformen zur Moderne verhandelt werden, dann ist damit auch eine im weiteren Sinn utopische Dimension ›kolonialliterarischer‹ Texte, wie sie in der Forschung gelegentlich markiert worden ist477, adressiert. 475 Zum Erlösungsbegriff vgl. Abschnitt III.1 »Kulturkritik. Vorbemerkungen zu Geschichte und Konzeptualisierung eines Beobachtungsmodus der Moderne (und ihrer Alternativen)«. 476 Es ist dies selbstredend eine idealtypische Unterscheidung, die Grenzen sind insbesondere zwischen der zweiten und dritten Deutungslinie fließend. Darüber hinaus partizipieren die Texte der beiden kulturkritischen Deutungslinien schon aufgrund ihrer Situierung in den deutschen ›Schutzgebieten‹ zugleich immer auch an der machtpolitischen Deutungslinie. Es ist dies der Grund, weshalb im Abschnitt IV.2.1 »Koloniale Moderne. Der machtpolitische Kolonialroman« auch solche Texte, die neben der machtpolitischen auch eine weltanschaulich-kulturkritische Bedeutungsdimension aufweisen, mitbehandelt werden. 477 Schon Benninghoff-Lühl hat darauf hingewiesen, dass im Siedlungsroman die Enttäuschungen über Erscheinungsformen der Industriegesellschaft um 1900 in der Utopie einer menschlicheren Gesellschaft münden (vgl. Benninghoff-Lühl, Sibylle: Deutsche Kolonialromane 1884–1914 in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang. Bremen 1983, S. 148).

Literatur und Kulturkritik. Vorüberlegungen zu einem Verhältnis

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Der Überseeroman kann mithin auch von der Tradition der fiktionalen (raum)utopischen Literatur her verstanden werden. Es muss jedoch konstatiert werden, dass diese Texte Raumutopien zu einer Zeit schreiben, in der bereits Zeitutopien geschrieben werden.478 Zugleich hängen Utopiegeschichte und Kulturkritik – das kann an dieser Stelle nur angedeutet werden – grundsätzlich enger zusammen, als es die (deutschsprachige) Forschung bislang wahrgenommen hat. So kann Merciers Roman »L’an 2440, rÞve s’il en fut jamais«479, mit dem Koselleck den ›Einbruch der Zukunft in die Utopie‹ und damit den sogenannte ›gattungsgeschichtlichen Wendepunkt‹ ansetzt, genauer beschrieben werden als Umstellung der Erzählstruktur der Utopie von einem sich aus der älteren Form der Zeitkritik ableitenden Gegenmodell auf eine sich aus der Kulturkritik, verstanden als spezifischer Beobachtungs- und Reflexionsmodus der Moderne, und ihrem Geschichtsmodell ableitende Basisstruktur. Umgekehrt hat auch das kulturkritische Denken utopische Momente insofern hier nicht nur Einspruch gegen die Zumutungen der Moderne erhoben wird480, sondern eben auch nach Auswegen in der Zukunft481 gesucht wird. Infolge dessen wird auf eine einleitende Einordnung der Texte in die Tradition der Utopie an dieser Stelle verzichtet; Hinweise auf die (raum)utopische Tradition finden sich nachfolgend an relevanten Einzelpassagen, etwa wenn Texte erkennbar auf Elemente des utopischen Denkens zurückgreifen und diese für den Zusammenhang weltanschaulich-kulturkritischen Denkens reaktivieren. Mit der stärkeren Akzentuierung der kulturkritischen Bedeutungsdimension stellt sich auch die Frage nach der Gattungszugehörigkeit des Überseeromans noch einmal neu. Wenn wie angedeutet der deutsche ›Kolonialroman‹ nicht eigentlich oder zumindest nicht nur mit genuin machtpolitischen Themen be478 Koselleck, Reinhart: Die Verzeitlichung der Utopie. In: Voßkamp, Wilhelm (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Band 3. Stuttgart 1982, S. 1–14. Die Utopieforschung hat in den 80er und frühen 90er Jahren eine Konjunktur erlebt; einschlägig sind neben dem Eintrag »Utopie« in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« (Hölscher, Lucian: Utopie. In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 7 Bände, Stuttgart 1972–1992. Band 6, Stuttgart 1990, S. 733–738) vor allem die drei von Wilhelm Voßkamp herausgegebenen Bände zur »Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie« (3 Bände, Stuttgart ab 1982), die aus einem Bielefelder Forschungsprojekt hervorgegangen sind. Zuletzt hat der Politikwissenschaftler Richard Saage in seiner vierbändigen Studie »Utopische Profile« (4 Bände, Münster ab 2001) die Gattung einer umfassenden Untersuchung in diachroner Perspektive unterzogen: Er nimmt seinen Ausgangspunkt in der Renaissance und verfolgt die Entwicklung dann über Reformation, Aufklärung und Absolutismus, die Industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein. 479 Mercier, Louis-S8bastien: L’an 2440, rÞve s’il en fut jamais. Amsterdam 1771. 480 Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 10. 481 Ebd., S. 20.

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schäftigt ist, sondern auch und gerade mit der wesentlich umfassenderen und durchaus unterschiedlich gelagerten Beobachtung und Beschreibung von Moderne – dann liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den entsprechenden Texten um Zeitromane im Allgemeinen und, sofern die Moderne aus kulturkritischer Perspektive beobachtet wird, um weltanschaulich-kulturkritische Romane im Speziellen handelt. Kolonialromane und Weltanschauungsromane. Forschungsstand Das Interesse der deutschen Literaturwissenschaft an den Postcolonial Studies482 als Paradigma und der deutschen Kolonialliteratur als Gegenstand setzt bekanntlich Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit den Arbeiten Joachim Warmbolds483 und Sibylle Benninghoff-Lühls484 ein. Während die erste Phase der germanistischen Auseinandersetzung sich wesentlich aus sozialgeschichtlicher und ideologiekritischer Perspektive mit der deutschen ›Kolonialliteratur‹ auseinandersetzt, werden in einer zweiten Phase dann kanonische Texte einer umfassenden Re-Lektüre aus postkolonialer Perspektive unterzogen485. Im Anschluss differenziert sich das Forschungsfeld zunehmend aus. So widmet sich etwa ein wichtiger Ansatz, nun auf breiterer Quellenbasis, der Untersuchung des »Kolonialismus als Kultur«486 ; in den letzten Jahren rückt 482 Vgl. überblickshaft zur Rezeption postkolonialer Ansätze in der Germanistik auch Dürbeck, Gabriele: Postkoloniale Studien in der Germanistik. Gegenstände, Positionen, Perspektiven. In: Dürbeck, Gabriele/Dunker, Axel (Hrsg.): Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld 2014, S. 19–70. Der Band beinhaltet neben dem umfassenden Überblick über die Entwicklung der postkolonialen Germanistik, auf den an dieser Stelle verwiesen sei, auch eine umfassende Bibliographie der »Postkolonialen Studien in der Germanistik« (vgl. ebd., S. 579–651). 483 Warmbold: »Ein Stückchen neudeutsche Erd’…«. Warmbold arbeitet eine Reihe typischer Stoffe des Kolonialromans heraus. 484 Benninghoff-Lühl: Deutsche Kolonialromane 1884–1914 in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang. Benninghoff-Lühl verfolgt im Vergleich zu Warmbold (vgl. Anm. 483) einen eher historischen Ansatz und fokussiert sich stärker auf eine sozialgeschichtliche Einordnung der Kolonialschriftsteller und ihrer Werke sowie auf eine Klassifizierung der Kolonialromane: Sie unterscheidet Abenteuerromane, Feldzugsberichte, Siedlungsromane und Jugendbücher. Beide Arbeiten betonen im Übrigen den erzieherischen Anspruch der Kolonialromane: Benninghoff-Lühl spricht von der »politisch-erzieherischen Rolle des Genres Kolonialroman« (ebd., S. 1), Warmbold von »Propagandaliteratur« (Warmbold: »Ein Stückchen neudeutsche Erd’…«, S. 278). 485 Axel Dunker etwa untersucht in seiner Arbeit »Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts« (München 2008), inwieweit auch nicht eigentlich thematisch auf den Kolonialismus fixierte, kanonische Literatur am kolonialen Diskurs partizipiert (vgl. ebd., S. 12). 486 So der Titel eines von Alexander Honold und Oliver Simons herausgegebenen Sammelbandes: »Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden« (Tübingen/Basel 2002); vgl. auch den von Honold und Klaus R.

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darüber hinaus zunehmend auch Gegenwartsliteratur in den Fokus der Forschung487. Das DFG-Netzwerk »Postkoloniale Studien in der Germanistik« (2008–2011) schließlich markiert jüngst den Versuch, die »zahlreichen aber bislang vereinzelten Ansätze in den Postkolonialen Studien zu bündeln, kritisch aufeinander zu beziehen und für eine Neukonfiguration des Forschungsfeldes fruchtbar zu machen.«488 Vor dem Hintergrund der mittlerweile zahlreichen Studien aus dem Bereich der postkolonialen Germanistik kann inzwischen als gesichert angenommen werden, dass die Darstellung des Fremden immer auch die Darstellung des Eigenen ist.489 In diesem Kontext ist auch auf den Zusammenhang von KoloScherpe herausgegebenen Sammelband »Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit« (Stuttgart 2004). 487 Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere die Arbeiten von Dirk Göttsche, hier etwa ders.: Der neue historische Afrika-Roman. Kolonialismus aus postkolonialer Sicht. In: German Life and Letters 56 (2003), S. 261–280; ders.: Zwischen Exotismus und Postkolonialismus. Der Afrika-Diskurs in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Diallo, M. Moustapha/Göttsche, Dirk (Hrsg.): Interkulturelle Texturen. Afrika und Deutschland im Reflexionsmedium der Literatur. Bielefeld 2003, S. 161–244. Daneben sind verschiedene Arbeiten erschienen, die sich nicht mehr nur in synchroner Perspektive mit dem Kolonialroman der Kaiserzeit auseinandersetzen, sondern die Entwicklung des Afrikaromans in diachroner Perspektive bis in die Gegenwart hinein weiterverfolgen; vgl. etwa Hermes, Stefan: Fahrten nach Südwest. Die Kolonialkriege gegen die Herero und Nama in der deutschen Literatur (1904–2004). Würzburg 2009; Schneider, Daniel: Identität und Ordnung. Entwürfe des »Eigenen« und »Fremden« in deutschen Kolonial- und Afrikaromanen von 1889 bis 1952. Bielefeld 2011. 488 Vgl. Dürbeck, Gabriele/Dunker, Axel: Vorwort. In: dies. (Hrsg.): Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld 2014, S. 7/8, hier S. 7. Im Kontext des DFG-Netzwerkes sind verschiedene Einzelstudien und Sammelbände in der Reihe »Postkoloniale Studien in der Germanistik« erschienen, so unter anderem der Band »Postkolonialismus und Kanon« (herausgegeben von Herbert Uerlings und IuliaKarin Patrut, Bielefeld 2012) und der Band »Postkoloniale Lektüren. Perspektivierungen deutschsprachiger Literatur« (herausgegeben von Anna Babka und Axel Dunker, Bielefeld 2013). 489 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Struck: Die Eroberung der Phantasie. Struck weist einführend wiederholt darauf hin, dass etwa das Forschungsfeld ›Kolonialismus als Kultur‹ Kolonialismus »weniger als Feld interkultureller Begegnungen, sondern vor allem im Hinblick auf seine Funktion bei der Herausbildung individueller und nationaler Identitäten im deutschen Kaiserreich und dessen Nachfolger- und gelegentlich auch Vorgängerstaaten, also primär aus der Perspektive einer Kultur und deren (Selbst-)Modellierung« beschreibt (ebd., S. 27, Hervorhebung im Original; vgl. auch ebd., S. 32/33). Die Arbeit untersucht dann das Verhältnis von Eroberung und Fantasie, wobei Fantasie in Analogie zum kultursemiotischen Konzept eines kollektiven Gedächtnisses als ein, im Sinne Foucaults, historisches Apriori begriffen wird (vgl. ebd., S. 24). Vgl. dann insbesondere das erste Kapitel der Arbeit, das die seit den 1880er Jahren entstandene Kolonialliteratur behandelt; Struck zeigt in seinen Lektüren unter anderem der Romane Frieda von Bülows und Gustav Frenssens auf, wie diese auf die Dichotomie von Provinz und urbaner Moderne ebenso wie auf die Ausbildung einer nationalen Identität bezogen sind. Vgl. gerade in diesem Zusammenhang daneben auch Schneider : Identität und Ordnung.

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nialismus und Moderne hingewiesen worden. Das gilt insbesondere für den machtpolitischen Kolonialismus als Teilprozess der Modernisierung, der in den vergangenen gut 30 Jahren unter verschiedenen methodischen und inhaltlichen Voraussetzungen umfangreich untersucht worden ist. Umfassend erforscht ist etwa die Engführung des Rasse-Diskurses490 mit einem sich auf den Sozialdarwinismus berufenden Entwicklungsgedanken und daraus abgeleitet die Vorstellung einer kulturellen und gesellschaftlichen Höherentwicklung der Europäer gegenüber der indigenen Bevölkerung. Aus dieser Argumentation wird nicht nur die Berechtigung zur Kolonisation, sondern auch die ›Verpflichtung‹ zur ›Hebung‹ der ›Naturvölker‹, die ›white man’s burden‹ bzw. die ›Zivilisierungsmission‹ abgeleitet, schließlich die Vertreibung der indigenen Bevölkerung aus ihren angestammten Territorien und ihre Vernichtung. Hieran schließen verschiedene Studien an, die sich mit der Darstellung des Genozids an den Herero491 auseinandersetzen – zuletzt hat sich Stefan Hermes mit der ›ko490 Zuletzt hat in diesem Umfeld Eva Blome eine umfangreiche Arbeit zu »Reinheit und Vermischung. Literarisch-kulturelle Entwürfe von ›Rasse‹ und Sexualität (1900–1930)« vorgelegt (Köln u. a. 2011). Die Arbeit untersucht in einem ersten Zugriff literarische Rassepolitiken zwischen 1900 und 1915, um im Anschluss den Blick auf Sexualität im (literarischen) Primitivismus zwischen 1915 und 1919 zu richten; in einem abschließenden dritten Teil werden Kultur- und Rassetheorien in der Weimarer Republik beleuchtet. Blome arbeitet zunächst die »Dystopien der Vermischung« des Kolonialdiskurses heraus; die diesem zugeordneten literarischen Texte unternähmen im »biopolitischen Laboratorium der Moderne […] in programmatischer Weise fiktive ›Rassenexperimente‹, die die Konsequenz von ›Rassenmischung‹ […] in Form von dystopischen Szenen in den unterschiedlichen Konstellationen durchspielen.« (Ebd., S. 323, Hervorhebung im Original) Dem stünden avantgardistische Utopien der ›Rassenmischung‹ gegenüber (vgl. ebd., S. 271). Die Arbeit von Eva Blome ist darüber hinaus durch den Versuch gekennzeichnet, kolonialliterarische Unterhaltungstexte und kanonische Texte – welche in der postkolonialen Germanistik üblicherweise strikt getrennt voneinander untersucht werden – gleichermaßen zu behandeln (ebd., S. 27/28). Das Inhaltsverzeichnis macht dennoch deutlich, dass auch diese Arbeit um eine gewisse Trennlinie nicht umhin kommt; »Unterhaltungsromane, Kolonialnovellen und Erzählungen« werden in Teil II (Dystopien der Rassenmischung) behandelt, der »primitivistische Expressionismus« dahingegen in Teil III (Utopien der Vermischung; vgl. ebd., S. 20/21). 491 Vgl. zum kolonialen Kriegsroman zuletzt Brehl, Medardus: Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur. München/Paderborn 2007; ders.: Erzählen im Kolonialstil. Zur Kontinuierung kolonialer Erzählmuster in der deutschen Literatur über den »Hererokrieg«. In: Hamann, Christof (Hrsg.): Afrika – Kultur und Gewalt. Hintergründe und Aktualität des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika. Seine Rezeption in Literatur, Wissenschaft und Populärkultur (1904–2004). Iserlohn 2005, S. 141–158; Wassink, Jörg: Auf den Spuren des deutschen Völkermordes in Südwestafrika. Der Herero-/ Nama-Aufstand in der deutschen Kolonialliteratur. Eine literaturhistorische Analyse. München 2004; Köppen, Manuel: Kolonialkrieg und Genozid. 2. Oktober 1904: General Adolf Lebrecht von Trotha unterzeichnet Erlaß J. Nr. 3737. In: Honold, Alexander (Hrsg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit. Stuttgart/Weimar 2004, S. 310–319. Daneben folgende Sammelbände: Hamann, Christof (Hrsg.): Afrika – Kultur und Gewalt. Hintergründe und Aktualität des Kolonialkriegs in

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lonialen Moderne‹ der Darstellung des ›Hererokriegs‹ in der Literatur des Kaiserreiches auseinandergesetzt492. Neben jene Texte, die machtpolitischen Kolonialismus als Faktor der Modernisierung begreifen und befürworten, treten dann jene Texte, die die Moderne aus kulturkritischer Perspektive beobachten und beschreiben und die überseeische Kolonie als Aushandlungsort und Experimentierfeld einer anderen Gesellschaft wahrnehmen. Die postkoloniale Germanistik hat nun durchaus gesehen, dass den überseeischen Kolonien aus europäischer Perspektive ein utopisches Potential inne liege, dass der Kolonialismus eben auch ein »breites Feld für Hoffnungen und Projektionen« bot493. In diesem Zusammenhang hat Wolfgang Struck darauf hingewiesen, dass die Romane etwa einer Frieda von Bülow weit mehr in der europäischen Moderne als in der kolonialen Fremde verankert sind494 ; Rolf Parr hat den in Übersee situierten Roman als Heimatliteratur ›out of area‹495 gelesen. Aber auch wenn einzelne Studien je einzelne

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Deutsch-Südwestafrika. Seine Rezeption in Literatur, Wissenschaft und Populärkultur. Iserlohn 2005; aus historischer Perspektive: Zimmerer, Jürgen/Zeller, Joachim (Hrsg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen. Berlin 2003. Hermes: Fahrten nach Südwest. Zum Kolonialroman der Kaiserzeit Teil II, S. 27–95. Hermes geht weiterhin auf die ›Südwest‹-Literatur der Weimarer Republik und des ›Dritten Reichs‹, auf die Darstellung der Kolonialkriege in Romanen der DDR und BRD sowie auf die Darstellung der Kriege gegen die Herero und Nama in der Gegenwartsliteratur ein. Struck: Die Eroberung der Phantasie, S. 28; vgl. daneben zuletzt auch Daniel Schneider, der in seiner Arbeit zu »Identität und Ordnung. Entwürfe des ›Eigenen‹ und des ›Fremden‹ in deutschen Kolonial- und Afrikaromanen von 1889 bis 1952« nicht nur darauf hingewiesen hat, dass mit Kategorien des Fremden wesentlich (nationale) Selbstentwürfe verbunden sind, sondern auch auf den Zusammenhang von Ordnungsentwürfen und utopischen Gesellschaftsentwürfen verwiesen hat (vgl. Schneider : Identität und Ordnung, Abschnitt 2.3 »Ordnung und Utopie«, S. 20–22): »Wichtig wird all dies, wenn man bedenkt, dass Afrika als strukturlos empfunden wurde. Es wartete auf der Darstellungsebene mit Exotik und Atmosphäre auf, war jedoch ungegliedert, bot Raum zur Etablierung einer neuen Ordnung und wurde – sowohl auf der Darstellungsebene als auch in der historisch-sozialen Realität – zum Nährboden einer deutschen Utopie.« (Ebd., S. 20) Schneider führt die utopische Wahrnehmung des afrikanischen Raumes nicht mit dem kulturkritischen Beobachtungsmodus der Moderne eng, die Arbeit hebt auf andere Zusammenhänge ab. Struck hat für die Romane Frieda von Bülows darauf hingewiesen, dass die Kolonie hier einen Raum der Bewährung kultureller Codes darstellt, die die urbane Moderne nicht mehr zu bieten hat (Struck: Die Eroberung der Phantasie, S. 47) und dass der Tropenkoller in von Bülows Welt weit mehr in der großstädtischen Moderne verankert sei, als in der kolonialen Fremde (vgl. ebd., S. 95). Vgl. Parr : Die Fremde als Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen, S. 15; Parr unterscheidet in seiner Monographie drei Konstellationen des Verhältnisses von Heimat und Fremde: »erstens die Projektion heimatkünstlerischer Vorstellungen in die Fremde, also eine asynchron nachgeholte Heimatkunst ›out of area‹; zweitens die koloniale Inbesitznahme der Fremde als Heimat (einschließlich exotistischer Irritationen bei dieser Form der ›Verheimatung‹ der Fremde) und auf ihrer Rückseite eine fremd gewordene Heimat; drittens das Explorations-Modell der Expeditionen, bei dem das wissenschaftliche und

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Aspekte der Behandlung und Bewältigung von Moderne aufgegriffen haben, steht eine systematische Vermessung der durchaus vielfältigen Modernereflexionen in der deutschen Überseeliteratur in übergreifender Perspektive bislang noch aus: Insbesondere der Zusammenhang zwischen Überseeroman und weltanschaulich-kulturkritischer Modernereflexion wurde bislang keiner umfassenden Untersuchung unterzogen. Das ist umso überraschender, als die Geschichtswissenschaft schon seit längerem auf eine gewisse Nähe von Kolonialdiskurs und weltanschaulich-kulturkritischen Reformbewegungen hinweist.496 Die vorliegende Arbeit nimmt die Hinweise zum Anlass, den ›Kolonialroman‹ einer detaillierten Analyse hinsichtlich seines weltanschaulich-kulturkritischen Gehalts zu unterziehen. Damit situiert sich die Arbeit zugleich im – auf den ersten Blick durchaus anders gelagerten – Forschungsfeld Literatur und Weltanschauung. Im Umfeld des weltanschaulich-kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende497 ist ein literarisches Textkorpus entstanden, der hier als weltanschaulich-kulturkritischer Roman bzw. Weltanschauungsroman bezeichnet werden soll. Literatur kann allgemein als kulturkritisch im Sinne des Beobachtungsmodus der Moderne verstanden werden, wenn sie erstens (an die Semantik des Kulturbegriffs anknüpfend) inhaltlich die Frage des menschlichen Glücks bzw. des Menschen schlechthin thematisiert, zweitens zeitlich die Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und drittens (von der Semantik des Kritik-Begriffs her zu verstehen) vom normativen Standpunkt aus Einsprüche gegen die Zumutungen der Moderne formuliert. Kulturkritik erhebt dann nicht nur Einspruch gegen die Zumutungen der Moderne498, sie sucht auch nach Auswegen in der Zukunft499 – die fiktionale Literatur bietet den Raum für entsprechende Gedankenexperimente. Insofern haben literarische ›Gedankenexperimente‹ (Bollenbeck) die Kulturkritik seit ihrer Geburtsstunde begleitet –

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mediale Erschließen der Fremde konstitutiv ist und damit unabdingbar auch die Rückkehr in die Heimat. Für alle drei unterschiedenen Modelle des Bezugs von Heimat auf Fremde gilt, dass sie der Tendenz nach zwar nacheinander auftreten, spätestens um 1910 aber nebeneinander und auch in Mischformen anzutreffen sind.« (Ebd., S. 15/16) Parr untersucht dann die drei Modellierungen anhand exemplarischer Ereignisse und der sie begleitenden Textkorpora (Burenkrieg, Genozid an den Herero, Expeditionen der 1920er und 1930er Jahre, vgl. ebd., S. 16–18). So führt beispielsweise Sebastian Conrad an, dass die Reichweite der Projektionen in den Kolonien dadurch gesteigert wurde, dass die Kolonie für die Lebensreform als eine Art Labor fungierte, in dem Vorstellungen von der idealen Gesellschaft ausprobiert werden konnten (vgl. Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S. 93). Weltanschauungsdenken und weltanschauliche Kulturkritik sind im skizzierten Spektrum von Kulturoptimismus und -pessimismus zu verorten; vgl. Abschnitt III.1 »Kulturkritik. Vorbemerkungen zu Geschichte und Konzeptualisierung eines Beobachtungsmodus der Moderne (und ihrer Alternativen)«. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 10. Ebd., S. 20.

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schon Rousseau hat mit »Emile ou de l’8ducation« und »Julie ou la Nouvelle H8lo"se« romanhafte Texte verfasst, die als Ergänzung zu seinen kulturkritischen Schriften verstanden werden müssen. Mehr noch: Die drei Texte »Emile«, »H8lo"se« und der »Gesellschaftsvertrag« sind wechselseitig aufeinander bezogen, implizieren einander : »Der empfindsame Briefroman vermittelt als ›roman philosophique‹ zwischen dem pädagogischen Emile und dem politischen Gesellschaftsvertrag.«500 Schon in Rousseaus »Emile« steht dabei anders als im ersten und im zweiten Discours »nicht die Diagnose, sondern die Therapie«501 im Zentrum. »Emile« sei kein pädagogisches Regelwerk oder ein Erziehungsroman, sondern habe den Charakter eines Gedankenexperiments, das die störenden kulturkritischen Befunde ausschalten will und in einem von den zeitgenössischen Lebensumständen ›freigehaltenen‹ Raum stattfinden soll, in dem die Entfaltung des natürlichen Menschen durch eine zwangfreie Erziehung möglich sei.502 Der literarische Text begleitet folglich nicht nur den kulturkritischen Diskurs, er stellt zugleich eine stärker kulturoptimistische Ergänzung zu den kulturkritischen Einwänden gegen die Zumutungen der Moderne dar. Um 1900 wirkte das kulturkritische Denken ganz allgemein inspirierend auf eine breite ›ästhetische Opposition gegen die Moderne‹.503 Konkret gehören so unterschiedliche Strömungen wie Neuromantik, Heimatkunst, Expressionismus und Georgekreis504 in diesen Kontext.505 Charakteristisch sind neben dem Aufgreifen von verschiedenen Themen, Stoffen und Motiven insbesondere »kunstreligiös[e] Hoffnungen auf das Versöhnungs- und Rettungspotential der 500 501 502 503

Ebd., S. 70. Ebd., S. 71. Ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 207. Der Begriff der ›ästhetischen Opposition‹ war eine umfassende Kennzeichnung für die sich »gegen die von Bismarck betriebene Form der Gründung und ›inneren Einigung‹ des Deutschen Reiches aussprechenden kulturellen Gegenbewegung« (Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, S. 178). Lichtblau weist zugleich unter Rückbezug auf Otto Westphals »Feinde Bismarcks. Geistige Grundlagen der deutschen Opposition 1848–1918« (München/Berlin 1930, hier insb. der Abschnitt »Ästhetische Opposition. Nietzsche«, S. 120–147, und der Abschnitt »Naturalismus«, S. 174– 219) darauf hin, dass der Begriff wesentlich älter ist, als ihn Gert Mattenklott in »Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George« (München 1970), auf den die Forschung im Allgemeinen verweist, ansetzt (vgl. auch: Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995). 504 Vgl. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 207. Einen Überblick über die Nietzsche-Rezeption in »Literatur und Dichtung«, auf die auch Bollenbeck sich bezieht, gibt Bruno Hillebrand: Literatur und Dichtung (deutschsprachig). In: Ottmann, Henning (Hrsg.): Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2000, S. 444– 466. 505 Vgl. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 207 unter Bezug auf Thomas Rohkrämer : Eine andere Moderne. Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933. Paderborn u. a. 1999, S. 168ff.

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Kunst und einer möglichen ›ästhetischen Wiederverzauberung der Welt‹«.506 Das gilt auch und gerade für den hier im Fokus stehenden Weltanschauungsroman und dessen Erlösungshoffnung, die, wie zu zeigen sein wird, nicht nur auf der Ebene des Inhalts formuliert wird und sich in das Basisnarrativ der Texte einschreibt, sondern sich auch in der konkreten Wirkabsicht der Texte manifestiert. Der weltanschaulich-kulturkritische Roman ist daneben vor dem spezifischen Hintergrund des Weltanschauungsdenkens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das seinerseits auf das kulturkritische Denken gewirkt hat, zu verstehen. Der Zusammenhang von Literatur und Weltanschauung ist nun kein grundsätzlich neuer ; in übergreifender Perspektive gibt es bislang jedoch nur wenige Hinweise zum Texttypus des Weltanschauungsromans.507 Bereits früh hat Uwe-K. Ketelsen nicht nur darauf hingewiesen, dass die Heimatkunstliteratur vor dem Hintergrund einer kleinbürgerlichen Weltanschauungsessayistik entstanden sei508, sondern auch darauf, dass es unter der Losung »Los von Berlin« gerade in Abgrenzung zu Naturalismus und Moderne509 darum ging, »die Intention der kleinbürgerlichen Weltanschauungsessayistik mit literarischen Mitteln einzulösen.«510 Ketelsen erwähnt in diesem Zusammenhang auch, dass die Heimatkunstbewegung nach 1900 eine Flut von Weltanschauungsromanen freigesetzt habe.511 Auf den Weltanschauungsroman als Texttypus geht er dann bis auf wenige Hinweise512 aber im Detail nicht weiter ein. In jüngerer Zeit 506 Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik, S. 207 unter Verweis auf Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende, hier Kapitel III »Die ästhetische Wiederverzauberung der Welt«, S. 178–279. 507 Hieran knüpft offenbar auch das jüngst an der Forschungsstelle »Historische Epistemologie und Hermeneutik« am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelte Projekt zu »Weltanschauungsliteratur 1869–1940. Wissen, Textstrukturen, Kontexte« von Andrea Albrecht, Lutz Danneberg und Olav Krämer an, das nicht nur das Verhältnis von Weltanschauungsliteratur und Kulturkritik als Desiderat der Forschung markiert, sondern auch nach den wechselseitigen Beeinflussungen von Weltanschauungsliteratur und ›schöner Literatur‹ wie Roman und Epos fragt; vgl. http://fheh.org/ projekte/wissenschaftsgeschichte/37/217-Weltanschauungsliteratur (Abrufdatum 21. 09. 2015). 508 Vgl. Ketelsen: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890–1945, S. 36. 509 Vgl. ebd., S. 37. 510 Ebd., S. 37. 511 Vgl. ebd., S. 40. 512 Erwähnt wird zum einen, dass die Texte den fortschreitenden Industrialisierungsprozess und dessen Begleitprozesse erzählen, vor deren Hintergrund die Suche nach ›Sinn‹ zum Hauptthema würde (vgl. ebd., S. 40); daneben wird auch darauf hingewiesen, dass die provinzorientierten Erzählinhalte hinter der Erzählhaltung an Bedeutung zurücktreten (vgl. ebd., S. 37); weiterhin wird die Abkehr vom Naturalismus nicht nur unter literarischformalen, sondern gerade auch unter weltanschaulichen Gesichtspunkten erwähnt (vgl. ebd., S. 41); schließlich wird auf eine neue, aktionistische Form des Weltanschauungsro-

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finden sich in Horst Thom8s Abhandlung zur Weltanschauungsliteratur am Rande einige Hinweise auch zum Weltanschauungsroman.513 So weist Thom8 etwa darauf hin, dass die Texte konventionellen Romanschemata des 19. Jahrhunderts folgen (Bildungsroman/sozialer Roman), sich von diesen jedoch durch die »umfangreichen und erzählerisch schwach integrierten expositorisch-essayistischen Einlagen, etwa durch die Erörterungen der Möglichkeit der spiritistischen Theorie«514, unterschieden. Daneben hat Mikljs Saly#mosy eine Studie vorgelegt, die sich aus genuin literaturwissenschaftlicher Perspektive mit dem Texttypus auseinandersetzt, den Weltanschauungsroman als den Entwicklungsroman der Jahrhundertwende/des beginnenden 20. Jahrhunderts bestimmt und dessen formale und inhaltliche Charakteristika herausarbeitet.515 Beide Studien enthalten wichtige Hinweise, an die hier angeknüpft werden soll. Gerade in Abgrenzung zu Saly#mosy soll jedoch dargelegt werden, dass es sich beim Formtypus des Weltanschauungsromans nicht um Entwicklungsromane, sondern um eine spezifische Unterform des Zeitromans mit spezifischen narrativen und textstrukturellen Merkmalen handelt, die sich um die Jahrhunmans ab 1910 hingewiesen (vgl. ebd., S.51) – als Beispiel wird Hermann Poperts »Helmut Harringa« genannt. 513 Vgl. insb. Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 365–367. Die Abhandlung widmet sich in erster Linie dem anders gelagerten Texttypus der Weltanschauungsliteratur, der Weltanschauungsroman wird nur am Rande und in erster Linie als korrespondierende Schrift zur Weltanschauungsliteratur behandelt. Dennoch finden sich hier wichtige Hinweise auch auf diesen Texttypus. 514 Ebd., S. 365. 515 Saly#mosy, Mikljs: Der Weltanschauungsroman. Der Entwicklungsroman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Budapest 1998. Die Grundanlage des Weltanschauungsromans leitet Saly#mosy inhaltlich wie formal aus dem Entwicklungsroman der bürgerlich-klassischen Zeit ab, setzt den Weltanschauungsroman in seine Tradition und grenzt ihn in relevanten Aspekten ab. In der Tradition des Entwicklungsromans lasse sich die »ideelle und formelle Grundstruktur dieses Romans durch das Hegelsche Modell von These, Antithese und Synthese veranschaulichen« (ebd., S. 129/139); auf der Ebene der Handlung sei der Weltanschauungsroman durch biographische Handlungslinien strukturiert, »im Mittelpunkt seiner ideellen Struktur steht das Individuum bzw. die Entfaltung eines Menschen zum Individuum, und dieser Prozeß geht in der Dialektik der Wechselbeziehungen des Einzelnen und des zu einem objektiven Sein geformten Außer-Ichs vor sich« (ebd., S. 129). Allerdings ende der Entwicklungsprozess des Individuums nicht in einer Harmonie zwischen dem reif gewordenen Individuum und der Welt, sondern in einer Trennung der beiden, die bruchartig erfolge – »[d]as Individuum, nach dem Wortgebrauch der Zeit eher ›Persönlichkeit‹ genannt, geht in die Einsamkeit, die aber eine weltenthaltende ist: seine Reife besteht darin, daß es die Welt in sich aufgenommen hat.« (Ebd., S. 129) Auf der Ebene der Handlung zeigt sich der Aufbruch in die Welt, die Krise, schließlich der Rückzug und die Besinnung des Individuums auf sich selbst. Vor dem Hintergrund dieses grundsätzlichen Rahmens ließen sich dann eine Reihe charakteristischer inhaltlicher Aspekte und Themenkomplexe herausarbeiten, so etwa der Komplex der ›Antibürgerlichkeit‹, der der Sozialdemokratie sowie der des Irrationalen (vgl. zu den Themenkomplexen im Detail ebd., S. 131–136). Schließlich werden etwas am Rande auch narrative Eigenheiten des Weltanschauungsromans angesprochen (vgl. etwa ebd., S. 136).

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›Koloniale‹ Weltanschauungsromane

dertwende herausbildet. Insofern geht die vorliegende Arbeit grundsätzlich von einem etwas breiteren Begriff des Weltanschauungsromans als etwa Thom8 aus, der von der Weltanschauungsliteratur kommend den Weltanschauungsroman wesentlich als korrespondierende Schriften zu ersterer definiert. In der vorliegenden Arbeit wird Weltanschauungsroman synonym zu weltanschaulich-kulturkritischer Roman und Weltanschauungsdichtung516 verstanden. Mit einem breiteren Begriff von Weltanschauungsdichtung gelangen – dies im Vorgriff auf den nachfolgenden textanalytischen Teil – nicht nur auch Texte etwa der Heimatkunst mit in den Blick, in der ›Heimat‹ synonym für Weltanschauung und Verwurzelung im heimatlichen Boden synonym für weltanschaulichen Standpunkt steht, sondern auch solche Texte, die den weltanschaulichen Klärungsprozess des Protagonisten eher implizit behandeln.

IV.1.2 Literarische Kulturkritik. Theoretischer und methodischer Bezugsrahmen III Standen in den voranstehenden Kapiteln zu Begriffsgeschichte der Kolonie und Semantik der Kulturkritik Fragestellungen, Methoden und (Text)Korpora von wissenshistorischem Zuschnitt im Mittelpunkt des Interesses, wird nun ein genuin literarisches Textkorpus untersucht. Der Gegenstand des literaturwissenschaftlichen Teils der Arbeit konstituiert sich vor dem Hintergrund der skizzierten Gattungsproblematik wie folgt: Ausgehend vom machtpolitischen Koloniebegriff generiert sich das Textkorpus zunächst aus solchen Texten, die (auf den ersten Blick) den machtpolitischen Kolonialismus zum Thema machen: aus dem deutschen Überseeroman.517 Zu den Romanen, die hier in die Analyse 516 Der Begriff der ›Weltanschauungsdichtung‹ wird hier eingeführt, um das fiktionale, weltanschauliche Textkorpus von der breiteren ›Weltanschauungsliteratur‹ im Sinne Horst Thom8s abzugrenzen; der Dichtungsbegriff ist hier im Sinne des Literaturbegriffs zu verstehen, nicht im Sinne des engeren Dichtungsbegriffs. 517 ›Überseeroman‹ soll hier nicht als Gattungsbezeichnung im engeren Sinn, sondern als bewusst unspezifisch belassener terminus technicus verstanden werden: Überseeromane umfassen alle in Übersee situierten Erzähltexte, unabhängig davon, ob es sich um deutsche ›Schutzgebiete‹ handelt oder nicht, ob machtpolitischer Kolonialismus verhandelt wird oder nicht. Das hat zwei Vorteile: Erstens können so im Vergleich zum enger gefassten, auf deutsche Kolonien beschränkten machtpolitischen ›Kolonialroman‹ auch solche Texte in den Blick genommen werden, die etwa in Südamerika situiert sind. Der Kolonialdiskurs selbst liefert hierfür die Rechtfertigung – es sei daran erinnert, dass die Grenzen zwischen Auswanderung und Koloniegründung im 19. Jahrhundert durchaus fließend sind, so dass auch Gebiete etwa in Brasilien als ›deutsche Kolonien‹ begriffen werden können, ohne dass eine im engeren Sinn machtpolitische Abhängigkeit von Deutschland vorlag (vgl. etwa die Begriffsverwendung bei Friedrich Fabri [Fabri: Bedarf Deutschland der Colonien?]). Darüber hinaus soll mit dem unspezifischeren Begriff ›Übersee‹ zugleich eine vorzeitige

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einbezogen werden, gehören Frieda von Bülows »Im Lande der Verheißung« und »Tropenkoller«, Gustav Frenssens »Peter Moors Fahrt nach Südwest«, Christian Benkards »Unter deutschen Palmen« und »In ferner Inselwelt«, Lene Haases »Raggys Fahrt nach Südwest«, Käthe van Beekers »Heddas Lehrzeit in Südwest«, Jonk Steffens (d.i. Maximilian Bayer) »Im Orlog«, Henry Wendens »Tropenkoller«, Johannes Doses »Ein alter Afrikaner«, Orla Holms (d.i. Dorrit Zürn) »Pioniere« und »Ovita«, Friede H. Krazes »Heim Neuland«; daneben treten Theodor Hertzkas »Freiland. Ein sociales Zukunftsbild« und Hans Paasches »Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland«. Die Textauswahl spiegelt dabei den Versuch wider, der Heterogenität des deutschen ›Kolonialromans‹ gerecht zu werden: In die Untersuchung einbezogen wurden Texte, die in Afrika situiert sind, ebenso wie solche, die in der Südsee spielen; ferner Kriegs-, Siedlungs-, Handels- und Jugendromane. Bei einem Textkorpus, das mehr als 500 Texte umfasst518, muss eine Auswahl dennoch notwendig ausschnitthaft bleiben. Dazu kommt als zweiter Schwerpunkt der weltanschaulich-kulturkritische Roman der Jahrhundertwende. Hierzu zählt eine breite Masse von auf den ersten Blick sehr heterogenen Texten, angefangen bei Wilhelm Bölsches »Die Mittagsgöttin«, Eduard von Keyserlings »Die dritte Stiege«, Paul Ernsts »Der schmale Weg zum Glück«, Carl Hauptmanns »Einhart der Lächler« und Felix Hollaenders »Der Weg des Thomas Truck« über Texte aus dem Bereich Literatur und Lebensreform wie Hermann Poperts »Helmut Harringa« bis hin zu Heimatkunstromanen wie Gustav Frenssens »Jörn Uhl« und »Hilligenlei«. Insofern der Texttypus des Weltanschauungsromans im Verlauf der Arbeit genauer zu bestimmen ist, treten neben die literarischen Primärtexte selbst mit Abhandlungen Paul Ernsts519, Adolf Bartels520, Friedrich Lienhards521 und Ernst Wach-

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Verengung der Perspektive auf die machtpolitische Bedeutungsdimension der Texte vermieden werden, so dass der Blick für andere Bedeutungsdimensionen nicht verstellt wird. Wenn nachfolgend dennoch vom ›Kolonialroman‹ gesprochen wird, dann entweder im Zusammenhang mit den entsprechenden Studien der postkolonialen Germanistik und ihrem Verständnis des eigenen Textkorpus oder aber es wird, sofern es sich um das eigene Textkorpus handelt, auf die genuin machtpolitische Dimension der Texte verwiesen ohne dass dabei durch die Begriffsbestimmung bereits die weltanschaulich-kulturkritische Dimension der Texte ausgeschlossen werden soll. Vgl. Benninghoff-Lühl: Deutsche Kolonialromane 1884–1914 in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang, S. 7. Ernst, Paul: Der Weg zur Form. Ästhetische Abhandlungen vornehmlich zur Tragödie und Novelle. Berlin 1906. Bartels: Heimatkunst. Lienhard, Fritz [Friedrich]: Neue Ideale. Gesammelte Schriften. Leipzig/Berlin 1901; ders.: Wasgaufahrten. Ein Zeitbuch. Berlin 1895.

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lers522 zudem Programmtexte, aus denen sich Selbstbestimmung und poetologisches Programm des Weltanschauungsromans ableiten lassen. Zunächst werden der deutsche Überseeroman im Besonderen (Kapitel IV.2) und der weltanschaulich-kulturkritische Roman im Allgemeinen (Kapitel IV.3.1) getrennt voneinander betrachtet. Im Anschluss (Kapitel IV.3.2) sollen Überseeliteratur und Weltanschauungsroman enggeführt werden, genauer soll auf die weltanschaulichen Grundlagen kulturkritischer Überseeromane ebenso wie umgekehrt auf die Partizipation des Weltanschauungsromans an der Kolonie-Semantik als spezifischer Form der Absonderungssemantik des weltanschaulich-kulturkritischen Denkens um 1900 abgehoben werden. Sichtbar wird so nicht nur, dass der deutsche Überseeroman deutlich auch vom Texttypus des weltanschaulich-kulturkritischen Romans her zu verstehen ist, sondern auch, dass der Weltanschauungsroman seinerseits ebenfalls an das kulturkritische Potential der überseeischen Gebiete im Allgemeinen und der ›Kolonie‹ im Besonderen anknüpft. Anknüpfend an die dann vorliegenden Ergebnisse sollen anschließend sowohl Paradoxien (kolonialer) Weltanschauungsromane als auch Formen der literarischen Reflexion weltanschaulichen Erzählens ausgelotet werden (Kapitel IV.4), bevor abschließend die Perspektive erweitert und die Ergebnisse der Arbeit nicht nur enggeführt, sondern – nun in diachroner Perspektive – sowohl erzählhistorisch als auch funktionsgeschichtlich eingeordnet werden (Kapitel V). Entsprechend dem skizzierten Anliegen gliedert sich der methodische Zugriff des nachfolgenden Abschnitts wie folgt auf: Zunächst wird untersucht, ob und wie die Texte Moderne auf der inhaltlichen Ebene beobachten und beschreiben. Ausgelotet wird hier insbesondere, aber nicht nur, der weltanschaulich-kulturkritische Gehalt der Texte. Im Anschluss soll, nun in textübergreifender Perspektive, auf die verschiedenen Dimensionen der narrativen Organisation des Überseeromans ebenso wie des Weltanschauungsromans eingegangen werden. Herausgearbeitet werden erstens zentrale Diskursfiguren des deutschen Überseeromans im Besonderen und des weltanschaulich-kulturkritischen Romans im Allgemeinen. Der Begriff der ›Diskursfigur‹ wurde in Anlehnung an Dietrich Busses Begriff der ›diskursiven Grundfigur‹ bzw. der ›diskurssemantischen Grundfigur‹523 und damit in expliziter Abgrenzung zum literarischen Stoff oder Motiv gewählt, um zu verdeutlichen, dass es sich bei der Mehrheit der kolonialen 522 Wachler, Ernst: Die Läuterung deutscher Dichtung im Volksgeiste. Eine Streitschrift. [Berlin-Charlottenburg 1897]. In: Ruprecht, Erich (Hrsg.): Jahrhundertwende. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1890–1910. Stuttgart 1981, S. 326–329. 523 Busse, Dietrich: Das Eigene und das Fremde. Annotationen zu Funktion und Wirkung einer diskurssemantischen Grundfigur. In: Jung, Matthias/Wengeler, Martin/Böke, Karin (Hrsg.): Die Sprache des Migrationsdiskurses. Das Reden über »Ausländer« in Medien, Politik und Alltag. Opladen 1997, S. 17–35.

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ebenso wie der weltanschaulich-kulturkritischen Elemente gerade nicht nur um literarische Motive handelt, sondern um Elemente des breiteren, wissensstrukturierenden Kolonialdiskurses bzw. des weltanschaulichen Denkens, auf die die Literatur zurückgreift, die sie ›arrangieren‹ und literarisch ausgestalten kann. Der von Busse übernommene Begriff der Diskursfigur verweist dabei mit Blick auf die literarischen Primärtexte nicht notwendig auf eine auch im engeren Sinn figurale Dimension der behandelten Diskurselemente, schließt diese aber auch nicht aus. In einem zweiten Zugriff soll jeweils untersucht werden, inwieweit Überseeroman und Weltanschauungsroman tiefenstrukturell von einem gemeinsamen, textstrukturierenden Narrativ organisiert sind. Unter ›Narrativ‹ soll hier im Anschluss an Ingo Stöckmann ein »narratives Schema verstanden werden, das elementares Erzählmaterial so anordnet und richtet, dass es einen spezifischen Verlaufssinn ausbildet, gleichwohl noch nicht die konkrete narrative Vermittlung bzw. ›Darbietung‹ determiniert.«524 So definiert, bilde das Narrativ eine ›mittlere‹ Selektivitätsebene zwischen histoire und discours. Das Narrativ »impliziert, dass sich die entsprechenden Erzähltexte analytisch gesehen als durch das narrative Schema ermöglichte Varianten bzw. Manifestationen rekonstruieren lassen müssen«525. Drittens wird, dies nun wesentlich aus erzähltheoretischer Perspektive, untersucht, wie im weltanschaulich-kulturkritischen Roman erzählt wird. In der synchronen Perspektive der Untersuchung soll so eine Art ›Grammatik‹ sowohl des Überseeromans als auch des Weltanschauungsromans sichtbar werden. Der nachfolgende literaturwissenschaftliche Teil der Arbeit möchte als ein doppelter Forschungsbeitrag verstanden werden: Er strebt zum einen eine ReLektüre der deutschen ›Kolonialliteratur‹ hinsichtlich ihrer Beschreibung und Reflexion der Moderne an. Insofern nun für die Deutungslinie ›Kolonien/koloniale Expansion als Faktor der Moderne‹ bereits einschlägige Arbeiten aus dem Bereich der postkolonialen Germanistik vorliegen, tritt diese hier gegenüber den beiden anderen Deutungslinien (Regeneration und Erlösung in der Kolonie) was Umfang der Analyse und behandelte Aspekte betrifft etwas zurück. Untersucht werden für diese Deutungslinie daher nachfolgend lediglich zwei bislang vernachlässigte Teilaspekte, um exemplarisch aufzuzeigen, inwieweit der machtpolitische Kolonialismus in der Überseeliteratur als (zu befürwortender) Faktor innerhalb des Modernisierungsprozesses beschrieben und reflektiert wird. Konkret wird die semantische Aufladung des kolonialen Raumes als eines nationalen in den größeren Kontext des Umbaus des Raumbewusstseins im 19. Jahrhundert eingeordnet. Daneben haben nationaldarwinistische Argu524 Stöckmann, Ingo: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880–1900. Berlin/New York 2009, S. 65. 525 Ebd., S. 65.

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mentationsmuster in der Forschung überraschend wenig Berücksichtigung gefunden. Kolonialismus ist gerade in dieser Perspektive ein Teilprozess des Modernisierungsprozesses. Ebenfalls wenig Beachtung fand bislang der Zusammenhang von Kolonialismus und Ökonomie. Das ist umso verwunderlicher, als das Feld ›Literatur und Ökonomie‹ sich derzeit eines regen Interesses erfreut.526 Dieser Teil der Arbeit versteht sich nicht als erschöpfende Untersuchung, sondern als Ergänzung zu vorliegenden Untersuchungen. Insofern ist einem Ungleichgewicht in Bezug auf die Breite der Analyse zwischen den beiden Deutungslinien explizit keine Wertung mit Blick auf die Gewichtung der drei Deutungslinien verbunden. Wohl aber deutet die skizzierte Gewichtung das Selbstverständnis der vorliegenden Arbeit an: Sie möchte nicht nur einen Beitrag zum deutschen Überseeroman leisten, sondern zugleich als Beitrag zum durchaus breiteren Bereich der Weltanschauungsdichtung der Jahrhundertwende verstanden werden.

IV.2 »Experimentieren könnte da einer«527. Moderne-Entwürfe im deutschen Überseeroman IV.2.1 Koloniale Moderne. Der machtpolitische Kolonialroman Kolonialisierungsprozesse setzen mit der Frühen Neuzeit ein und finden ihren Höhepunkt zur Zeit des Hochimperialismus des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Insofern entwickelt sich der Kolonialismus parallel zur Modernisierung Europas. Machtpolitische Expansion ist dabei in mehrfacher Hinsicht konstitutiv auf die Moderne bezogen: In historischer Perspektive steht sie in engem Zusammenhang mit allen wesentlichen Teilprozessen der Modernisierung insbesondere im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Politisch betrachtet sind Kolonien und Kolonialismus wesentlich als Expansion, als europäische Ausgreifungen auf überseeische Gebiete, zu verstehen. Als solche stellen sie die konsequente Erweiterung des Nationalisierungsprozesses des 19. Jahrhunderts dar. Ökonomisch betrachtet sind die Kolonien ein Faktor des tiefgreifenden Umbaus des Wirtschaftssystems in der Moderne. Und gesellschaftlich stellen sie – wenigstens in der Wahrnehmung der Zeit – eine Möglichkeit zur Lösung der 526 Vgl. etwa zuletzt Rakow, Christian: Die Ökonomie des Realismus. Kulturpoetische Untersuchungen zur Literatur und Volkswirtschaftslehre 1850–1900. Berlin 2013; Schößler, Franziska: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Pmile Zola. Bielefeld 2009. 527 Kraze, Friede H.: Heim Neuland. Ein Roman von der Wasserkante und aus Deutsch-Südwest. Stuttgart/Leipzig 1909, S. 66.

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Begleitprozesse der Modernisierung, sprich der sozialen Frage, dar. Insofern die Überseeliteratur nun Kolonien als Faktor der Moderne beobachtet und beschreibt, sind es gerade diese Teilprozesse, auf die die Texte abheben und die sie narrativ ausgestalten. Als solche sind sie zugleich selbst produktiver Faktor innerhalb des Modernediskurses. Moderne Expansion. Kolonien als Faktor der politischen und ökonomischen Moderne Politisch betrachtet sind Kolonien und Kolonialismus also zunächst als Erweiterung des nationalen Territoriums um überseeische Gebiete zu verstehen. Das wirft die Frage nach der Darstellung des nationalen und überseeischen Raumes in den Texten, die diesen Prozess machtpolitischer Ausgreifungen narrativ ausgestalten, auf. Die räumliche Darstellung machtpolitischer Kolonisation folgt im deutschen Überseeroman überwiegend einem klassischen Schema528 : Neben der initialisierenden Überfahrt gibt es als Orte Europa, den Küstenstreifen und schließlich das Landesinnere. Diese koloniale Ordnung des Raumes wird wesentlich über topographische Referenzen (bzw. gerade deren Fehlen im ›unentdeckten‹ Landesinneren) realisiert. Das Schema kann, muss den Erzählverlauf selbst aber nicht gliedern. Ersteres zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit etwa bei Henry Wenden, Gustav Frenssen und Friede Kraze: In Wendens »Tropenkoller« setzt die Erzählung in Berlin ein, erstreckt sich dann über Einschiffung und Überfahrt sowie Ankunft und Übergangszeit an der Küste Sansibars bis hin zum Weg ins Landesinnere529. Gustav Frenssens »Peter Moors 528 Die räumliche Darstellung machtpolitischer Kolonisation ist ebenso wie ihr expansiver Charakter in der germanistischen Forschung aus postkolonialer Perspektive ausführlich behandelt worden. Nicht erst im Zusammenhang mit dem spatial turn, vor dessen Hintergrund die Frage des (kolonialen) Raumes und seiner Ausdehnung noch einmal eine besondere Aufmerksamkeit erhält, sondern bereits seit Beginn der germanistischen Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialliteratur haben Fragen der Raumdarstellung unter den je spezifischen Voraussetzungen des jeweiligen inhaltlichen Interesses immer schon eine Rolle gespielt. So enthält bereits Joachim Warmbolds Dissertation einen Abschnitt zum Thema »Volk ohne Raum. Das Streben nach territorialer Expansion« (Warmbold: »Ein Stückchen neudeutsche Erd’…«, S. 210ff.). Für die Forschung der letzten Jahre insbesondere Noyes, John K.: Landschaftsschilderung, Kultur und Geographie. In: Honold, Alexander/Simons, Oliver : Kolonialismus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden. Tübingen/Basel 2002, S. 127–142 sowie Honold, Alexander : Raum ohne Volk. Geographie und Kolonialismus. In: Hamann, Christof (Hrsg.): Afrika – Kultur und Gewalt. Hintergründe und Aktualität des Kolonialkriegs in Deutsch-Südwestafrika. Seine Rezeption in Literatur, Wissenschaft und Populärkultur. Iserlohn 2005, S. 39–56. 529 Vgl. Wenden: Tropenkoller, zu Berlin ab dem ersten Kapitel, S. 17ff., zur Überfahrt sechstes Kapitel, S. 80ff., zu Ankunft und Übergangszeit ab dem siebten Kapitel, S. 100ff., zum Weg ins Landesinnere ab dem zwölften Kapitel, S. 160ff. Zum ›Tropenkoller‹ vgl. insb. Besser,

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Fahrt nach Südwest« und Friede Krazes »Heim Neuland« sind analog aufgebaut; in beiden Texten setzt die Handlung in Norddeutschland ein530, es werden danach Überfahrt531 und Ankunft an der Küste532, schließlich der Weg ins Landesinnere533 beschrieben. Aber auch jene Erzähltexte, deren Erzählverlauf nicht durch das skizzierte Schema organisiert wird, gliedern den Raum entsprechend. So setzt die Handlung in Orla Holms »Pioniere« zwar im Landesinneren der Kolonie ein; auch hier sind Küste und Europa jedoch die beiden die koloniale Raumordnung vervollständigenden Sphären. Der solcherart beschaffenen kolonialen Raumordnung liegt ein Modell von Zentrum (Europa, insbesondere die europäische Metropole) und Peripherie zugrunde. Aus diesem Modell leitet sich der expansive Charakter machtpolitischer Expansion ab: Die Kolonie ist der Peripherie zugeordnet und insofern komplementäres Gegenstück zur Metropole, die im Zentrum der Raumordnung steht; der Prozess der Kolonisation ist der der machtpolitischen Expansion, genauer der der maximalen Erweiterung der Peripherie. Narrativ realisiert wird die Ausdehnung des Nationalstaates zum Kolonialstaat dann über die semantische Aufladung der überseeischen Gebiete als nationale. Die koloniale (Neu)Ordnung des Raumes ist am Ausgang des 19. Jahrhunderts die konsequente Ausdehnung der nationalen Neukartierung des eu-

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Stephan: Pathographie der Tropen. Literatur, Medizin und Kolonialismus um 1900. Würzburg 2013; ders.: Tropenkoller. Zur Psychopathologie des deutschen Kolonialismus. http://www.sopos.org/aufsaetze/469c207f2308e/1.phtml (Abrufdatum 11. 01. 2009). Gustav Frenssen situiert die ersten beiden Kapitel in Norddeutschland (ders.: Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugsbericht. Berlin 1906, S. 1–10); Friede Kraze sogar die ersten zwölf Kapitel (Kraze: Heim Neuland, S. 5–90). Frenssens Roman »Peter Moors Fahrt nach Südwest« gehört zu den vergleichsweise besser erforschten Kolonialtexten; vgl. hier neben den einschlägigen Arbeiten zum deutschen Kolonialroman im Allgemeinen vor allem auch diejenigen zum kolonialen Kriegsroman im Speziellen (vgl. Anm. 491); zuletzt haben etwa Stefan Hermes (Hermes: Fahrten nach Südwest, hier insb. Abschnitt II.2) und Daniel Schneider (Schneider: Identität und Ordnung, hier insb. Abschnitt 6.3) Frenssens Roman einer ausführlichen Analyse unterzogen. Zu Friede Krazes Roman »Heim Neuland« vgl. zuletzt meinen Aufsatz »Invisible (Colonial) Cities and Reformed Modernity. Some comments on the Relation between German Colonial Literature and Reform Movements around 1900« (vgl. Brasch: Invisible (Colonial) Cities and Reformed Modernity). Kapitel 3, S. 11ff. bei Gustav Frenssen (Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest), Friede H. Kraze widmet der Überfahrt nur die ersten Seiten des 13. Kapitels (Kraze: Heim Neuland, S. 91ff.). Der Aufenthalt an der Küste ist in Frenssens »Feldzugsbericht« vor dem Hintergrund des Kriegseinsatzes der Soldaten sehr knapp geschildert (Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 34–36); ähnlich ist dies in Friede Krazes »Heim Neuland« (Kraze: Heim Neuland, Kapitel 13, S. 93f.), wobei hier kleinere Städte den Übergang ins Landesinnere weiter strukturieren (so Karibib und Onjiru, vgl. ebd., S. 94). Der »Feldzugsbericht« Gustav Frenssens schildert einen ununterbrochenen ›Zug‹ durchs Landesinnere; vgl. daneben Kraze: Heim Neuland, S. 97: »Zehn Tage lebten sie in der Ochsenkarre. Jeden Tag wurden sie ein wenig klüger, ein groß Teil praktischer, und immer mehr europäische Notwendigkeiten wurden, als gänzlich überflüssig, beiseitegelassen.«

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ropäischen Raumes und der semantischen Aufladung der Landschaft als einer nationalen im Verlauf des 19. Jahrhunderts: Im langen 19. Jahrhundert findet vor dem Hintergrund des Prozesses der Nationenbildung einerseits und verkehrs- und kommunikationstechnischer Neuerungen (Dampfschiff, Eisenbahn, Telegraph) andererseits ein grundsätzlicher Umbau des Raumbewusstseins und der Raumsemantik statt, der sich zwischen einer dialektischen Bewegung von Raumschrumpfung und Raumerweiterung einerseits und der Ausbildung einer vorgestellten Nationalgeographie andererseits bewegt. Politisch nimmt die skizzierte Entwicklung ihren Beginn zur Zeit der napoleonischen Kriege und der Neuordnung der europäischen politischen Landkarte, die für Deutschland mit den Einigungskriegen und der Reichsgründung 1870/71 abgeschlossen ist. Parallel zu den politischen Entwicklungen findet ein Umbau der Raumsemantik statt: In der ›vorgestellten Geographie‹ findet eine ›Nationalisierung‹ statt, die verschiedene Dimensionen umfasst.534 Das staatliche Territorium könne, so Wolfgang Behschnitt, nun als national verstanden und entsprechend semantisiert werden, d. h. Landschaft kann mit entsprechenden Bildern, Symbolen und Empfindungen ausgestattet werden – also etwa mit einer für die Nation charakteristischen Natur, die von einer autochthonen Bevölkerung belebt und mit Orten der Erinnerung an die große nationale Vergangenheit durchwebt ist.535 Die semantische Aufladung des Raumes als nationales Territorium umfasst mithin einerseits die Deutung von Landschaft als »Zeichen eines Nationalcharakters«536 sowie andererseits die Verbindung von Räumlichkeit und Geschichtlichkeit537. Voraussetzung für die Ausbildung einer vorgestellten ›nationalen‹ Geographie sind neben den politischen auch die technischen und mediengeschichtlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, die die Vorstellung eines großen Territoriums als Einheit allererst ermöglichen. Insbesondere die Eisenbahn führt zu einem grundlegenden Wandel der Raumwahrnehmung, zur Industrialisierung von Raum und Zeit, so der Untertitel von Wolfgang Schievelbuschs einschlägiger Studie zur Geschichte der Eisenbahnreise.538 Die Darstellung des kolonialen Raumes und der kolonialen Landschaft können erst vor dem Hin534 Vgl. Behschnitt, Wolfgang: Wanderungen mit der Wünschelrute. Landesbeschreibende Literatur und die vorgestellte Geographie Deutschlands und Dänemarks im 19. Jahrhundert. Würzburg 2006, S. 13. Behschnitt schließt an den Begriff der ›imaginative geography‹ des Kulturgeographen Derek Gregory einerseits (ders.: Geographical Imaginations. Cambridge 1996) und Benedict Andersons Begriff der »imagined community« andererseits (ders.: Imagined Communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London u. a. 2002) an. 535 Vgl. Behschnitt: Wanderungen mit der Wünschelrute, S. 57. 536 Ebd., S. 62. 537 Vgl. ebd., S. 70. 538 Schievelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main 2011.

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tergrund des Umbaus der Raumsemantik des 19. Jahrhunderts – auch wenn diese für den europäischen Raum an der Jahrhundertwende bereits als abgeschlossen gelten kann539 – überhaupt adäquat verstanden werden. Zugleich ist die semantische Aufladung der überseeischen Kolonie mit Bildern, Symbolen und Empfindungen des Nationalen ebenso als Funktion des Modernisierungsprozesses im 19. Jahrhundert zu begreifen wie es bereits der Umbau der Raumsemantik in der landesbeschreibenden Literatur der 1830er bis 1870er Jahre gewesen ist. Die Landschaftsbeschreibungen der deutschen Kolonialliteratur schwanken nun auf eigentümliche Art und Weise zwischen einem Exotismus auf der einen und der Inszenierung der Kolonie als deutsche Heimat auf der anderen Seite. Friede Krazes »Heim Neuland« wäre ein Beispiel für einen Roman, der sowohl die Kolonie als neue Heimat begreift (der Titel ist Programm) und dies narrativ über Vergleiche mit heimatlichen Landschaften herstellt, zugleich aber auch Passagen des Schwelgens in der exotischen Landschaft enthält. Letztere findet man vor allem in jenen Textabschnitten, in denen die Protagonisten das neue Land zunächst entdecken und für sich erobern: Und dann wieder, wenn das Land sein ander Gesicht wies, wenn die Hartebeestherden in der Ferne auftauchten und die Springböcke, wenn in rasendem Lauf ein Rudel Strauße vorüberjagte und große Völker von Perlhühnern sich erhoben, wenn die Schakale und Wildkatzen heranschlichen und die grünlichen Lichter einer Hyäne grausig durch die urplötzlich hereinbrechende Nacht funkelten. Wenn Dirich die Flinte herunterriß, ein selten Stück zu erbeuten oder – sein Weib zu schützen.540

Auf der anderen Seite fallen jedoch die zahlreichen Vergleiche mit der Heimat ins Auge: »Karibib, das kleine, freundliche, mit dem Mondschein auf den Wellblechdächern und dem Sand der Umgebung, machte den Eindruck einer niederdeutschen Schneelandschaft«541; »Fast wie die Marsch daheim, so grün und unendlich dehnte es sich vor ihnen«542 ; »Weide und Busch lagen grün wie das Marschland daheim. Es mußte ein wahres Paradies für das Vieh werden.«543 Ganz ähnlich ist die Wahrnehmung der Fremde in Frenssens »Peter Moors Fahrt nach Südwest«. Madeira und Teneriffa werden – als Orte des Übergangs, als Dazwischen zwischen Europa und Afrika – noch wesentlich als exotisch, »neu«544 und »bunt«545 wahrgenommen: 539 Der Untersuchungszeitraum, den Behschnitt für seine Studie gewählt hat, endet mit der Reichsgründung (vgl. Behschnitt: Wanderungen mit der Wünschelrute). 540 Kraze: Heim Neuland, S. 128. 541 Kraze: Heim Neuland, S. 96. 542 Ebd., S. 138. 543 Ebd., S. 241. 544 Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 22. 545 Ebd., S. 22.

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Es war überhaupt, als wenn wir alle, sobald wir das Land betreten hatten, von lieblichem Wein trunken waren: so schön hell und weich schien die Sonne und so prächtig glänzte alles in Farben und so fröhlich waren die Menschen. […] Ich besah die fremden Worte auf den Schildern der Läden und merkte mir am Inhalt des Ladens einige Worte. Ich sah nach den Frauen in bunten Kopf- und Schultertüchern und nach den Männern, die breite Schärpen um den Leib trugen; wunderte mich über den Stolz um den Mund und das dunkle Feuer in den Augen.546

Während der Überfahrt selbst dominiert in Bezug auf die afrikanische Besatzung des Schiffes noch die Wahrnehmung des Fremden, des Trennenden: »Und es schien mir, daß es so stand, nämlich, daß die Leute von Madeira zwar Fremde für uns sind, aber wie Vettern, die man selten sieht, während diese Schwarzen aber ganz ganz anders sind als wir.«547 In Südwest hingegen wird die Fremde (die Landschaft – die indigene Bevölkerung wird nun kaum mehr dargestellt) schließlich als wenig exotisch, ja als der Heimat ähnlich wahrgenommen: Mir gefiel diese Landschaft, durch die wir an diesem vierten Tag fuhren, ziemlich gut. Eine kleine und größere Art von Antilopen, Rehen ähnlich, liefen zuweilen allein oder in Rudeln, behende über die Blößen im Busch. Fremdartige Vögel, etwas größer als Rebhühner, grau und weiß gesprenkelt, flogen über die Büsche hin und ließen sich nieder. […] Aber meine Kameraden mochten das Land nicht leiden; ich glaube, es war ihnen nicht fremdartig, nicht wunderbar genug. Sie wollten, daß Afrika ganz, ganz anders aussähe als die Heimat.548

Das Fremde spielt zwar eine Rolle, aber es wird immer sogleich auf die Heimat zurückbezogen. Diese Ambivalenz der Inszenierung der Fremde als Fremde und als Heimat scheint auf den ersten Blick zu irritieren: So wäre naheliegend, dass Kolonialliteratur im Allgemeinen das Eigene (Europäische) mit dem Fremden (Überseeischen) kontrastiert – auch die germanistische Forschung hat sich ausführlich mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Andererseits ist seit Beginn der Auseinandersetzung der Germanistik mit dem Kolonialroman darauf hingewiesen worden, dass Kolonialromane Heimat inszenieren und nur wenig Platz für Exotisches bleibt.549 Der vermeintliche Widerspruch löst sich auf, ordnet 546 547 548 549

Ebd., S. 24. Ebd., S. 30. Ebd., S. 44. Bereits Joachim Warmbold hat in seiner Dissertation im Abschnitt »Kolonie und Heimat. Alte Heimat, Neue Heimat – deutsche Heimat« darauf hingewiesen, dass eines »der Hauptanliegen der kolonialdeutschen Propaganda [darin bestand], die Verbundenheit zwischen Mutterland und Kolonie hervorzuheben« (Warmbold: »Ein Stückchen neudeutsche Erd’…«, S. 217). Das Phänomen der Inszenierung der Fremde als Heimat beschränkt sich im Übrigen nicht auf den Bereich der Literatur – zu einem sehr ähnlichen Befund kommt Jens Jäger mit Blick auf formale und ästhetische Ähnlichkeiten in der Repräsentation von Deutschland und den Kolonien auf kolonialen Bildpostkarten. Seine Kernthese ist, dass die Darstellung der Kolonien in der Fotografie gerade nicht über Alte-

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man die landesbeschreibenden Anteile des deutschen Kolonialromans in den Umbau der Raumsemantik, genauer die Semantisierung von Territorium als nationaler Raum, die ihrerseits als Funktion des Modernisierungsprozesses zu verstehen ist, ein. Zwar gibt es – mal mehr, mal weniger ausführlich – Beschreibungen fremder Pflanzen, vorzugsweise bei der Ankunft an der afrikanischen Küste, selten auch weniger schwarzer Bediensteter. Im Wesentlichen dominiert in diesen Romanen dann aber der Vergleich mit der heimatlichen Natur. Die Darstellung der Fremde ist im Grunde auch gar nicht eigentliches Ziel der deutschen Überseeliteratur – vielmehr sollen die Kolonien als zusätzliche deutsche Region inszeniert und ganz im Sinn einer heimatkünstlerischen Vorstellung der unterschiedlichen Regionen und ihrer jeweiligen Spezifika in das noch junge Reich integriert werden.550 Jene Passagen, die der exotischen Landschaft, fremden Tieren und Menschen gewidmet sind, widersprechen diesem Anliegen insofern keinesfalls: Mit der punktuellen Darstellung von Exotik werden lediglich die regionalen Eigenarten der neuen Heimat aufgegriffen. Damit greift die Überseeliteratur noch einmal auf eine Reihe von Diskurselementen zurück, die in den 1830er bis 1870er Jahren im Bereich der landesbeschreibenden Literatur zentral gewesen sind und ihrerseits zum Umbau des Raumbewusstseins im Verlauf des 19. Jahrhunderts beigetragen haben. rität funktioniert (postkoloniale Ansätze), sondern an Konzepte der ›Heimat‹ (mit einer Nähe zu Heimatbewegung und Heimatkunstbewegung) anknüpft. Die Kolonien würden so in das Kaiserreich und seine Vielfältigkeit/Diversität integriert (vgl. Jäger, Jens: Colony as Heimat? The Formation of Colonial Identity in Germany around 1900. In: German History, Jg. 27, H. 4 [2009], S. 467–489). In jüngerer Zeit hat sich Rolf Parr ausführlich mit dem Verhältnis von Kolonie und Heimat zur Kolonialzeit und danach auseinandergesetzt (Parr, Rolf: Die Fremde als Heimat. Zu einigen Affinitäten von Heimatkunst- und Kolonialliteratur bei Gustav Frenssen und Hans Grimm. In: Liptay, Fabienne/Marschall, Susanne/ Solbach, Andreas [Hrsg.]: Heimat. Suchbild und Suchbewegung. Remscheid 2005, S. 267– 286; Parr : Die Fremde als Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen). Parr macht anhand dreier unterschiedlicher Textkorpora – der deutschen Publizistik zum Burenkrieg, des deutschen Kolonialromans und Materialien, die nach 1918 im Zusammenhang eines Übergangs vom Kolonialismus zu Expeditionen stehen – drei Modelle des Verhältnisses von Heimat und Fremde auf. Im Kontext der Burenkriegs-Publizistik werden, so Parr, heimatkünstlerische Vorstellungen in die Fremde projiziert, es handele sich um eine asynchron nachgeholte Heimatkunst ›out-of-area‹ (vgl. Parr : Die Fremde als Heimat. Heimatkunst, Kolonialismus, Expeditionen, S. 15); beim zweiten Textkorpus handele es sich um die koloniale Inbesitznahme der Fremde als Heimat, exotische Irritationen bei der ›Verheimatung‹ der Fremde eingeschlossen – ein Modell, das zugleich eine fremd gewordene Heimat in Deutschland einschließt (vgl. ebd., S. 15); schließlich drittens ein ExplorationsModell der Expeditionen, bei dem das wissenschaftliche und mediale Erschließen der Fremde konstitutiv sei und damit unabdingbar auch die Rückkehr in die Heimat (vgl. ebd., S. 15/16). 550 Umgekehrt hat die Forschung für den Zusammenhang von Kolonie und Heimat vereinzelt darauf hingewiesen, dass auch in der Heimatkunst Vorstellungen deutscher Kolonialgröße zu finden sind (so etwa Rossbacher : Programm und Roman der Heimatkunstbewegung, S. 130 sowie in jüngerer Zeit Struck: Die Eroberung der Phantasie, S. 111).

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Bereits hier konstituierte sich die ›vorgestellte Geographie‹ Deutschlands in der wechselseitigen Beziehung der deutschen Regionen aufeinander : Die vorgestellte Geographie Deutschlands erscheint als zusammenhängender und homogener Raum, der jedoch nicht durch Gleichförmigkeit, sondern durch Vielfalt geprägt ist: ein Mosaik von Regionen mit ihren je individuellen landschaftlichen und historischen Eigentümlichkeiten.551

Im Übrigen ist auch das skizzierte Oszillieren zwischen Exotismus und Heimat keinesfalls ein Spezifikum der deutschen Überseeliteratur – bereits die landesbeschreibende Literatur des 19. Jahrhunderts habe, so Behschnitt, eine auffällige Faszination am ›Exotischen‹ gehabt, das zwar nicht in der Gestalt edler Wilder, wohl aber als Bevölkerung einer abgelegenen Gegend, einer merkwürdigen Landschaftsformation, vor allem aber einer entlegenen Vorzeit mit ihren Sagen und Legenden erscheine.552 Die semantische Aufladung des Raumes als nationales Territorium umfasste weiterhin schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Deutung von Landschaft als »Zeichen eines Nationalcharakters«553, die ihrerseits einen wichtigen Bestandteil jenes qualitativ neuen Bildes und Verständnisses der Territorialität als nationalen Raums bildet. Dazu gehören, als Inbegriff nationaler Symbolik, insbesondere Flaggen. Gerade hieran schließt die Überseeliteratur an. Für Christian Benkards Wirtschaftsroman »In ferner Inselwelt« etwa, dessen Handlung in den Jahren bis zum Beginn des deutschen Überseeengagements situiert ist, sind europäische Flaggen als nationale Symbole nicht nur allgegenwärtig, der Roman endet mit dem Akt des Hissens der deutschen Flagge auf der Insel Mioko: Um drei Uhr nachmittags wurde der feierliche Akt vollzogen. Eine Abteilung bewaffneter Matrosen marschirte, von einem Offizier geführt, vom Strand nach der neben der Faktorei befindlichen Höhe, auf welcher der Flaggenmast errichtet war. […] Die Proklamation wurde verlesen und durch den Dolmetscher übersetzt. Dann zog der Kapitän von Felsing blank und trat an den Flaggenmast heran, wo zwei Matrosen an der Flaggenleine bereitstanden. »Im Namen Seiner Majestät: Heiß Flagge! – Achtung! – Präsentiert das Gewehr!«554

Neben der Annexion des fremden Territoriums und seiner Markierung als nationales durch das Setzen von Flaggen wird das Fremde darüber hinaus durch das Bekannte symbolisch überformt. Das lässt sich exemplarisch an der Figur des exotischen Weihnachtsbaumes aufzeigen, die zum Ensemble diskursiver Figuren des machtpolitischen Überseeromans gehört: »Zum heiligen Abend hatten sie sich noch ein Bäumchen geschmückt. Irgendein grünes Stachel551 552 553 554

Behschnitt: Wanderungen mit der Wünschelrute, S. 483. Ebd., S. 42. Ebd., S. 62. Benkard: In ferner Inselwelt, Zweiter Band, S. 232–234.

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schweinchen, wie Etta sie zu nennen pflegte, war mit Lichtern und Kuchen ausgeputzt worden, und darunter hatte man aufgebaut […]«555, heißt es bei Friede Kraze; »Da lag alles still; die Türe zum Speisezimmer war geöffnet und auf dem Esstisch stand der zierliche mit Kerzen besteckte Christbaum. Die spitzen Dornen waren von glitzernden Watteflocken verhüllt, über die Äste hingen lange silberne Fäden herab«556 bei Orla Holm. Auch in Frieda von Bülows557 »Im Lande der Verheißung« wird zu Weihnachten ein einheimischer Baum dem heimatlichen Brauch unterworfen und ein »fruchttragende[r] wilde[r] Orangenbaum«558 zu einem europäischen Weihnachtsbaum. Ein fremdes Gewächs wird zu einem deutschen Weihnachtsbaum umfunktioniert, die Fremde in den eigenen Kulturraum integriert. Nun gibt es in der semantischen Aufladung des kolonialen Raumes als eines nationalen gegenüber der zeitlich vorgelagerten Neukartierung der mentalen Geographie Deutschlands eine signifikante Verschiebung. Das neue Verständnis des Territoriums als eines nationalen ist in Europa konstitutiv mit der Verbindung von Territorium und nationaler Geschichte verbunden: Landschaft wird als geschichtlich entstandener Kulturraum, als Raum nationaler Geschichte begriffen; Landschaft ist Geschichtslandschaft.559 Allerdings kann der überseeische Raum beim besten Willen (noch) nicht als deutscher Geschichtsraum begriffen werden – auch wenn also die Erweiterung des nationalen Raumes um den kolonialen Raum als konsequente Fortführung des Nationalisierungsprozesses verstanden werden muss, kann die Eingliederung des kolonialen Raumes in das nationale Territorium nicht über eine rückblickend konstruierte nationale Geschichte erfolgen, sie muss insofern anders begründet werden. Voraussetzung ist die Wahrnehmung des noch nicht von Europäern in Besitz genommenen Gebietes als herrenlos, jungfräulich und unzivilisiert.560 Das als herrenlos ge555 Kraze: Heim Neuland, S. 241. 556 Holm, Orla [d.i. Dorrit Zürn]: Ovita. Episode aus dem Hereroland. Dresden 1909, S. 231. 557 Frieda von Bülow wird gemeinhin als die ›Begründerin des deutschen Kolonialromans‹ gehandelt – vgl. Warmbold, Joachim: Germania in Afrika – Frieda Freiin von Bülow, ›Schöpferin des deutschen Kolonialromans‹. In: Grab, Walter (Hrsg.): Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte. Band XV. Tel-Aviv 1986, S. 309–336, hier S. 319. Vgl. zu Frieda von Bülows Romanen neben den einschlägigen Studien zum Kolonialroman im Allgemeinen (siehe Forschungsüberblick in IV.1.1 »Kolonialromane oder Weltanschauungsromane? Zu einigen Problemen mit der Gattung ›deutscher Kolonialroman‹«) zuletzt etwa Schneider: Identität und Ordnung, hier Abschnitt 6.2. 558 Bülow, Frieda Freiin von: Im Lande der Verheißung. Ein deutscher Kolonialroman. Dresden/Leipzig 1899, S. 247. 559 Vgl. Behschnitt: Wanderungen mit der Wünschelrute, S. 68 und 69. Die Verbindung von Räumlichkeit und Geschichtlichkeit sei ein Grundmuster, das nicht nur die Beschreibung und Deutung von Orten, sondern auch die Gestaltung von Räumen im 19. Jahrhundert dominiere (vgl. ebd., S. 70). 560 Das hat die postkoloniale Forschung richtig bemerkt, vgl. etwa die Ausführungen zur

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zeichnete Landesinnere weist Orte auf, an denen bisher kein Mensch (das meint selbstredend: kein Europäer) gewesen ist: »Wie heißen die Gebirge da drüben?« unterbrach ihn der Offizier und deutete südwärts nach ein paar hohen Kuppen. »Die heißen gar nicht!« antwortete Lebrecht und zuckte die Achseln. »Da ist höchstwahrscheinlich seit Erschaffung der Welt noch kein Mensch droben gewesen. Was hätte auch einer dort zu suchen?«561

Die diskursive Figur des herrenlosen und geschichtslosen Landes gehört zu den zentralen Argumentationsfiguren der Überseeliteratur wie des Kolonialdiskurses: »Alles in allem forderte die Umgebung ein größeres Interesse als das von der Kultur halbbeleckte Gabungebiet; hier bot sich der Unternehmungslust und der Thatkraft der Europäer noch ein weites, fast gänzlich unbebautes Feld«562, heißt es etwa bei Benkard; »Die Freiheit. Die Größe. Demat auf Demat, alles Eigentum, alles unberührt. Neuland, in dem noch alle Möglichkeiten liegen!«563, beschreibt es Kraze, und weiter : »Wenn sie beide nebeneinander auf der Vorkiste saßen und durch das goldfarbene Land fuhren, das so öde war, so grenzenlos leer und verlassen, daß das Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit sie hieß, sich fest aneinander zu drücken.«564 Diese Argumentationsfigur ist – das hat Alexander Honold treffend formuliert – zugleich das komplementäre Gegenstück zur Volk ohne Raum-Parole565 : »›[…] Bei uns zu Hause, in Europa, da drängeln sich die Menschenmassen und nützen jedes Eckchen sorgfältig aus; hier hingegen liegen Meilen und Meilen Landes unbenützt und brach. – Das wäre eine kuriose Weltordnung, wenn das recht und billig wäre!‹«566 Die Wahrnehmung des afrikanischen Kontinents als herrenlos bedeutet zugleich die Wahrnehmung des-

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räumlichen Darstellung machtpolitischer Kolonisation bei Warmbold und Honold, siehe Anm. 528. Steffen, Jonk [d.i. Maximilian Bayer]: Im Orlog. Südwestafrikanischer Roman. Berlin o. J. [1911], S. 25. ›Orlog‹, ursprünglich aus dem Niederländischen abgeleitet und heute veraltet, bedeutet ›Krieg‹. Benkard, Christian: Unter deutschen Palmen. Zwei Bände, Stuttgart u. a. 1889, Erster Band, S. 121. Zu Benkards Roman »Unter deutschen Palmen« vgl. neben den einschlägigen Arbeiten zum deutschen Kolonialroman im Allgemeinen (s. Forschungsüberblick in IV.1.1 »Kolonialromane oder Weltanschauungsromane? Zu einigen Problemen mit der Gattung ›deutscher Kolonialroman‹«) zuletzt etwa Schneider : Identität und Ordnung, hier Abschnitt 6.1. Kraze: Heim Neuland, S. 66. Ebd., S. 128. Honold: Raum ohne Volk, S. 41: »Zur Kolonialpropaganda nämlich kann die Parole vom Volk ohne Raum nur dann taugen, wenn sie unterstellt, es gebe andernorts – etwa in den deutschen Kolonien – das komplementäre Gegenstück zum solcherart bestimmten Mangel, also einen Raum ohne Volk. Einen Raum, der womöglich noch leer, unbeschrieben und unbesiedelt sei oder von dessen Besiedelung zumindest abstrahiert werden könne, ein herrenloses, herrenmenschenloses Terrain, das nur darauf warte, von zupackenden Eroberer- und Siedlertrecks in Besitz genommen zu werden.« (Hervorhebung im Original). Steffen: Im Orlog, S. 196.

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selben als – und hier unterscheidet sich die Semantisierung des überseeischen von der des innereuropäischen Territoriums – geschichtslos. Diese Vorstellung ist nicht neu, der Kolonialdiskurs kann auf ein breites Archiv zurückgreifen; so konstatiert bekanntlich schon Hegel in seinen »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie« eine Vor-, wenn nicht sogar Ungeschichtlichkeit Afrikas.567 Ein Land, das nicht besiedelt ist, kann man dann, ohne sich eigentlich rechtfertigen zu müssen, in Besitz nehmen. Diese Argumentation wird schließlich mit der Wahrnehmung des Landes als ›jungfräulich‹ verbunden, die Landschaft als »›[…] jungfräuliche Wildnis […]‹«568 charakterisiert: Der »afrikanisch[e] Boden [war] vor neun Jahren noch jungfräuliche Küstenwildnis, die mit ehrfurchtsvollem Staunen den ersten Europäer landen sah.«569 Indem das fremde Land mit dem Attribut der Jungfräulichkeit versehen wird, erfolgt zugleich eine Gleichsetzung des Objekts der Kolonisation mit dem anderen Geschlecht, durch die Europa die Rolle des männlichen Eroberers und den außereuropäischen Ländern und ihren Bewohnern die der zu erobernden Frau zugeschrieben wird.570 Entsprechend liegen die überseeischen Territorien nicht nur für die faktische Annektierung, sondern zugleich für die semantische Besetzung bereit. Bei der semantischen Aufladung des kolonialen Raumes als eines nationalen handelt es sich immer zugleich um einen Akt der Bemächtigung, einen Akt der Aneignung überseeischer Territorien. Die Erweiterung des nationalen Raumes zum kolonialen Raum wird dann in das Deutungsmuster des Nationaldarwinismus (Werner Conze571) eingeordnet.572 Es ist bekannt, dass im Sozialdarwinismus darwinistische Vorstellungen

567 Vgl. auch Brehl: Vernichtung der Herero, S. 147. 568 Bülow : Im Lande der Verheißung, S. 39. 569 Bülow, Frieda Freiin von: Tropenkoller. Episode aus dem deutschen Kolonialleben. Berlin 1896, S. 59. 570 Vgl. Kohl, Karl-Heinz: Cherchez la femme d’orient. In: Sievernich, Gereon/Budde, Hendrik (Hrsg.): Europa und der Orient 800–1900. Gütersloh/München 1989, S. 356–376, hier S. 358. 571 Zum ›Nationaldarwinismus‹ vgl. Conze, Werner/Sommer, Antje: Rasse. In: Brunner, Otto/ Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. 7 Bände, Stuttgart 1972–1992. Band 5. Stuttgart 1984, S. 135–178, hier im Abschnitt »Darwin, Darwinismus, Sozialdarwinismus« von Werner Conze insb. S. 165. Daneben auch Walkenhorst, Peter : Der »Daseinskampf des Deutschen Volkes«: Nationalismus, Sozialdarwinismus und Imperialismus im wilhelminischen Deutschland. In: Echternkamp, Jörg/ Müller, Sven Oliver (Hrsg.): Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760– 1960. München 2002, S. 131–148. Vgl. daneben auch die Hinweise in Knobloch, Clemens: »Deutsche Kunst« – Versuch einer semantischen Einkreisung. In: Bollenbeck, Georg (Hrsg.): Kulturelle Enteignung. Die Moderne als Bedrohung. Wiesbaden 2003, S. 21–35, hier insb. S. 26/27; Knobloch bezieht sich selbst auf Richter, Dirk: Nation als Form. Wiesbaden 1996. 572 Vgl. zum Nationaldarwinismus bereits meine Überlegungen, die unter dem Titel »Kul-

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auf gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen werden. Der Nationaldarwinismus seinerseits überträgt das darwinistische Selektionsprinzip und den ›Kampf ums Dasein‹ auf Völker, ›Rassen‹ und Nationen. Expansion wird in diesem Deutungsschema zum Faktor im ›Daseinskampf‹ der Nationen: Machtpolitische Expansion ist damit ihrerseits Teil eines evolutionistischen Deutungsmodells von ›nationaler‹ Höherentwicklung und also eines zukunftsund fortschrittsorientierten Denkens, das den Prozess der Entwicklung als unhintergehbar und überlebensnotwendig deutet. Die Übertragung darwinistischer Metaphern auf das internationale Staatensystem fällt dabei auf fruchtbaren Boden; bereits seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts werden Expansion bzw. Grenzkolonialismus etwa in Paul de Lagardes »Deutschen Schriften« zur Lebensfrage der Deutschen Nation stilisiert.573 Im machtpolitischen Kolonialdiskurs wird diese Argumentationsfigur aufgegriffen und systematisch entfaltet: Friedrich Fabri erklärt in seiner Abhandlung »Bedarf Deutschland der Colonien?« die Organisation deutscher Auswanderung574, das heißt gerade auch den Besitz von Kolonien und also imperiale Expansion, zur »Lebensbedingung des Deutschen Reiches«575. Dieser Auffassung liegt dann die Vorstellung eines allgemeinen »Gesetzes der Selbsterhaltung, einer ungehinderten, freien und allseitigen Entwicklung, welches jedes große nationale Gemeinwesen als die Grundbedingung seines Bestandes und seiner Zukunft zu betrachten und zu ehren hat«576, mithin ein Nationaldarwinismus, zugrunde. Kolonialliterarische Texte wie Jonk Steffens »Im Orlog«577 greifen auf dieses Deutungsmuster zurück und gestalten es literarisch aus.578 Der ›Daseinskampf‹ der Nationen wird dabei in doppelter Hinsicht zur zentralen Legitimation im-

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turkriege. Zum Zusammenhang von Kulturkritik, Kolonialismus und Krieg 1884–1918« veröffentlich wurden (vgl. Brasch: Kulturkriege). Vgl. etwa Lagarde: Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik, S. 30; Lagarde: Programm für die konservative Partei Preußens, S. 391. Die Frage der Auswanderung wird mit der Kolonialfrage gleichgesetzt, vgl. Fabri: Bedarf Deutschland der Colonien? S. 82. Ebd., S. 24 und S. 28. Ebd., S. 90. Vgl. Steffen: Im Orlog, S. 196. Diesen Zusammenhang hat die Forschung gelegentlich angedeutet – vgl. etwa Fuchs, Brigitte/Habinger, Gabriele: Die »Natur« der Differenz. Zum Zusammenwirken von ›Rasse‹ und ›Geschlecht‹ in westlichen Diskursen und im modernen Weltsystem. In: Fischer, Gero/ Wölflingseder, Maria (Hrsg.): Biologismus, Rassismus, Nationalismus. Rechte Ideologien im Vormarsch. Wien 1995, S. 108–120; Blome: Reinheit und Vermischung, S. 38 (unter Verweis auf Brigitte Fuchs und Gabriele Habinger); Struck: Die Eroberung der Phantasie, S. 45, der auf die Erzählung des universellen darwinistischen Kampfes von Imperien verweist. Eine Arbeit, die sich systematisch mit dem Nationaldarwinismus in der Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts beschäftigt, scheint aber bislang noch nicht vorzuliegen.

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perialistischer Expansion579 : Zunächst wird in Verbindung mit einer kulturevolutionistischen Argumentation die Daseinsberechtigung bzw. gerade nichtDaseinsberechtigung eines Volkes abgeleitet. Diese Argumentation ist an jenen Kulturbegriff rückgebunden, der Kulturarbeit als Kultivierung des Bodens auffasst: »[…] Da, schau Dir das Land an! Was hat die schwarze Bande in Jahrhunderten daraus gemacht? Nichts! Verludern hat sie’s lassen! Wo tausend Menschen ihr Brot bequem finden könnten, da leben jetzt kaum ihrer zehn. Und die hungern auch noch. […]«580

Kulturfähigkeit, und damit die grundlegende Differenzkonstruktion von Naturund Kulturvolk, wird aus der grundsätzlichen Fähigkeit zur Kultivierung des Bodens abgeleitet, die an der faktischen Bestellung von Land gemessen wird (ein Argument, das selbstredend missachtet, dass es sich etwa bei den Herero aus gutem Grund um ein Nomadenvolk handelt). Der indigenen Bevölkerung wird unterstellt, aufgrund ihrer ›Unterentwicklung‹ den Boden nicht kultiviert zu haben, woraus nicht nur die grundsätzliche Berechtigung zur Kolonisation abgeleitet wird, was mit dem Argument der ›Zivilisierungsmission‹ einher geht, sondern zugleich die Legitimation für den Kolonialkrieg. In dieser Perspektive wird Krieg trotz seiner Brutalität581 als »im Gang der Menschheitsentwicklung ein wichtiger Faktor des Fortschritts – vom ganz hohen Standpunkte aus gesehen«582, verstanden und also nationaldarwinistisch ausgedeutet. Entsprechend wird etwa in »Im Orlog« den vorsichtigen (und selbstredend rein rhetorisch zu verstehenden) Einwänden ob der Legitimation des deutschen Verhaltens und Vorgehens gegenüber den Herero mit Vehemenz die vermeintlich naturwissenschaftlich begründete nationaldarwinistische Perspektive entgegengehalten: »Den Kampf ums Dasein wirst du nicht wegphilosophieren können. Den hat ein Größerer gemacht, damit die Menschheit nicht versauert.« »Und doch hat es etwas furchtbares, dieses ewige Verdrängen, um neuem Leben Platz zu machen – das Recht des Stärkeren.«583

Ebenso in Frenssens »Peter Moors Fahrt nach Südwest«: Er sah auf und sagte mit seiner heiseren, schmerzenden Stimme: »Wir müssen noch lange hart sein und töten; aber wir müssen uns dabei, als einzelne Menschen und als Volk, um hohe Gedanken und edle Taten bemühen, damit wir zu der zukünftigen, brüderlichen Menschheit unser Teil beitragen.«584 579 580 581 582 583 584

Vgl. auch Walkenhorst: Der »Daseinskampf des Deutschen Volkes«, S. 140/141. Steffen: Im Orlog, S. 196. Vgl. ebd., S. 214. Ebd., S. 214. Ebd., S. 196. Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 201.

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Die nach 1904 erschienenen Romane legen den Genozid585 an den Herero explizit offen und legitimieren ihn unter Rekurs auf das nationaldarwinistische Argumentationsmuster, wenn den ›unterentwickelten‹ Völkern jegliche Daseinsberechtigung abgesprochen wird: Dann kam er auf die Heimat zu sprechen und sagte dies und das und meinte: »Was wir vorgestern vorm Gottesdienst gesungen haben: ›Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten,‹ das verstehe ich so: Gott hat uns hier siegen lassen, weil wir die Edleren und Vorwärtsstrebenden sind. Das will aber nicht viel sagen gegenüber diesem schwarzen Volk; sondern wir müssen sorgen, daß wir vor allen Völkern der Erde die Besseren und Wacheren werden. Den Edleren, den Frischeren gehört die Welt. Das ist Gottes Gerechtigkeit.«586

Damit ist zugleich die zweite Bedeutungsebene des ›Daseinskampfes‹ des deutschen Volkes angesprochen: Im Kolonialdiskurs werden nationaldarwinistische Vorstellungen auch und gerade auf das innereuropäische Staatensystem übertragen. Die Rivalität der Großmächte wird als ›Kampf ums Dasein‹ nicht nur der Rassen, sondern auch der Nationen gedeutet. Imperialistische Expansion wird in diesem Deutungsmuster zum existenziellen Erfordernis für den Fortbestand der deutschen Nation, ja zur welthistorischen Notwendigkeit.587 Es ist die nationaldarwinistische Argumentation, auf die die Überseeliteratur verweist, wenn sie geradezu topisch auf das Recht und die Notwendigkeit deutschen Kolonialbesitzes – als Lebensbedingung der Großmacht588 – ebenso wie auf das »Recht […] sich den ersten Staaten der Erde an die Seite zu stellen«589, verweist. Zugleich sind der »Wettstreit der Nationen«590 im Allgemeinen und die Rivalität zu England und Frankreich im Besonderen591, die sich ebenfalls topisch durch die Kolonialliteratur ziehen, in dieses Deutungsschema einzugliedern. Im machtpolitischen Überseeroman wird nicht nur die Entdeckung und Eroberung neuer Gebiete, sondern insbesondere auch die Konkurrenz der 585 Zur Forschungslage zum kolonialen Kriegsroman im Allgemeinen und zum Genozid an den Herero im Besonderen vgl. Anm. 491 in Abschnitt IV.1.1 »Kolonialromane oder Weltanschauungsromane? Zu einigen Problemen mit der Gattung ›deutscher Kolonialroman‹«. 586 Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 200. 587 Vgl. hierzu insbesondere Walkenhorst: Der »Daseinskampf des Deutschen Volkes«, S. 141/ 142; vgl. daneben Neitzel, Sönke: Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus. Paderborn u. a. 2000. 588 Vgl. Kraze: Heim Neuland, S. 281. 589 Benkard: In ferner Inselwelt, Zweiter Band, S. 242. 590 Ebd., Zweiter Band, S. 243. 591 So konkurrieren die Deutschen in Benkards »In ferner Inselwelt« zunächst mit den Engländern, später mit den Franzosen; in Orla Holms »Ovita« ist ein Engländer an Waffenschmuggel zugunsten der Herero beteiligt (vgl. Holm: Ovita, S. 208) und begünstigt damit den Ausbruch des Aufstandes von 1904; schließlich ist die diskursive Figur der Treue und Anhänglichkeit der indigenen Bevölkerung eine weitere Wendung der deutschen Fähigkeit (und der französischen Unfähigkeit) zu kolonisieren.

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Nationen im Wettlauf um Afrika ebenso wie um andere überseeische Territorien explizit geschildert. »›Wir Deutschen sind bei der Teilung der Erde zuletzt und zu kurz gekommen […]‹«592, klagt der Protagonist in Doses »Ein alter Afrikaner«; Christian Benkards zweibändiger Roman »In ferner Inselwelt« beschreibt auch und gerade den Vorgang, im »Wettstreit der Nationen«593 neue Gebiete in der Südsee unter deutsche Flagge, »deutsche[n] Schutz«594 zu stellen. Allen Protagonisten der deutschen Überseeliteratur – sei es im Handels-, im Kriegs-, im Siedlungs- oder im Jugendroman – ist letztlich gemein, dass sie unter den je unterschiedlichen Bedingungen ein Neu-Deutschland in Übersee aufbauen wollen: »›Nein, wir kämpfen für das größere, neudeutsche Vaterland.‹«595 Neben die Beobachtung und Beschreibung machtpolitischer Expansion als Faktor der Modernisierung tritt dann mit der Beobachtung und Beschreibung der Kolonien als Faktor innerhalb der Weltwirtschaft eine zweite auf die Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts bezogene Dimension. Insofern die Industrialisierung einerseits an Teilprozesse der Modernisierung wie etwa die wissenschaftlich-rationale Durchdringung der Welt anknüpft, diese verdichtet und potenziert596, und andererseits Sekundäreffekte mit sich bringt, die von Wanderbewegungen, Verstädterung und dem Aufkommen neuer, marktabhängiger Klassen bis hin zur Verdichtung und Beschleunigung von Kommunikation und Verkehr reichen597, ist sie als einer der ›Basisprozesse‹, als ›Motor‹ der gesellschaftlichen Entwicklungen im 19. Jahrhundert zu verstehen.598 Ökonomisch bedeutet der Umbau des Wirtschaftssystems neben dem Übergang von der Agar- zur Industriegesellschaft vor allem die Institutionalisierung von Wachstum.599 Das gilt auch für den Welthandel, der während der Ära des Freihandels zwischen 1846 und 1880 entsteht600 : Es ist dies die sogenannte

592 593 594 595 596 597 598 599

Dose: Ein alter Afrikaner, S. 265. Benkard: In ferner Inselwelt, Zweiter Band, S. 243. Ebd., S. 237. Dose: Ein alter Afrikaner, S. 368. Vgl. Bauer, Franz J.: Das »lange« 19. Jahrhundert. Profil einer Epoche. Stuttgart 2004, S. 60. Vgl. ebd., S. 60/61. Vgl. ebd., S. 59. Vgl. ebd., S. 62 unter Rekurs auf Buchheim, Christoph: Industrielle Revolutionen. Langfristige Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien, Europa und in Übersee. München 1994, hier S. 11ff. Zwischen 1800 und 1913 erhöht sich das Volumen des Welthandels um das 25fache, ein großer Schub setzt ab etwa 1850 ein und ab der Mitte der 1870er Jahre beschleunigt sich das Wachstum des Handels noch einmal (vgl. Osterhammel, Jürgen/Petterson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen – Prozesse – Epochen. München 2006, S. 61). Gesellschaftlich ist dies mit der Erfahrung von Wandel in der Folge eines beinahe sicher zu erwartenden Wachstums verbunden (vgl. Bauer: Das »lange« 19. Jahrhundert, S. 63). 600 Vgl. Osterhammel/Petterson: Geschichte der Globalisierung, S. 60.

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Erste Globalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.601 In diesem Zusammenhang kann das erstmalige Auftreten weltweit spürbarer Konjunkturbewegungen als Zeichen engerer globaler Vernetzung gewertet werden.602 Vor dem Hintergrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen sind darüber hinaus die politischen Reaktionen der Nationalstaaten einzuordnen: Nach 1878 kehrten – mit Ausnahme Großbritanniens und der USA, die ihn nie aufgegeben hatten – fast alle Staaten zum Protektionismus zurück.603 Obwohl sich nun drei Viertel des internationalen Handels auf Europa beziehen, gewinnen überseeische Gebiete dennoch an Bedeutung sowohl als Zuwanderungsgebiete, als auch als Absatzmärkte und nicht zuletzt als Ressourcen.604 In diesem Zusammenhang sind Kolonialismus und Imperialismus historisch betrachtet, unabhängig davon, welchen wirtschaftlichen Nutzen die Kolonien für das jeweilige Mutterland tatsächlich gehabt haben605, sowohl impulsgebender Faktor als auch Teil dieser Ersten Globalisierung. Die Intensivierung des europäischen Kolonialismus nach 1880 hat auch der Verdichtung der Weltwirtschaft einen neuerlichen

601 Die Vorgeschichte der Globalisierung – verstanden als Vernetzung der Welt – lässt sich weit zurück verfolgen; Osterhammel/Petterson etwa weisen auf Schübe großräumiger Integration bereits im 8. und im 13. Jahrhundert hin (vgl. ebd., S. 46), ein neuerlicher Globalisierungsanlauf wird für das 16. Jahrhundert – verbunden mit dem Aufbau der portugiesischen und spanischen Kolonialreiche seit der Zeit um 1500 – konstatiert (vgl. ebd., S. 25). Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts seien wirtschaftlich stabile Vernetzungen etabliert gewesen (vgl. ebd., S. 25) und in den 1860er und 1870er Jahren wirken erstmals wahrhaft globale Interdependenzen auf wirtschaftlichem Gebiet (vgl. ebd., S. 26). Die Intensivierung des europäischen Kolonialismus nach 1880 hat schließlich auch der Verdichtung der Weltwirtschaft einen neuerlichen Schub gegeben (vgl. ebd., S. 17). Zu dieser Zeit setzt damit zugleich die Politisierung der Globalisierung ein (vgl. ebd., S. 26). Bei allen Differenzen über die Frage nach dem Beginn der Globalisierung gilt in der Geschichtswissenschaft als gesichert, dass die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine frühe Hochphase der Globalisierung gewesen ist (vgl. Conrad, Sebastian: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, München 2006, S. 33). 602 Vgl. Osterhammel/Petterson: Geschichte der Globalisierung, S. 63; zu nennen wären hier einerseits die »Große Depression« oder »Gründerkrise«, infolge derer weltweit die Güterpreise fielen, sowie andererseits die erste globale Hochkonjunktur infolge einer Expansion der Nachfrage nach 1896. 603 Es entstanden so erste Ansätze zum modernen Interventionsstaat (vgl. ebd., S. 69). In Deutschland leitet Bismarck 1878/79 mit der Schutzzollpolitik protektionistische Maßnahmen ein. 604 Vgl. ebd., S. 61/62. Die Voraussetzung für diese qualitativ neuwertige globale Vernetzung sind die bereits angesprochenen Revolutionen in den Bereichen der Verkehrstechnik (Eisenbahn und für den überseeischen Verkehr wichtiger noch die Dampfschifffahrt) und der Kommunikationstechnik (Telegraphie). Sie ermöglichen ferner erstmals die Versendung von Massengütern über große Distanzen (vgl. ebd., S. 62). 605 So waren die Kolonien für den deutschen Staat überwiegend nicht rentabel (vgl. Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, S. 61).

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Schub gegeben.606 Kolonien bzw. überseeische Gebiete sind in dieser Perspektive ein Faktor der kapitalistischen Moderne.607 Zu den kolonialliterarischen Texten, die die überseeischen Gebiete explizit als Faktor des wirtschaftlichen Modernisierungsprozesses begreifen und die Erste Globalisierung nicht nur oberflächlich, sondern durchaus wirtschaftstheoretisch informiert beobachten und beschreiben, gehören die Handelsromane Christian Benkards. Sowohl im Afrika-Roman »Unter deutschen Palmen« als auch im Südsee-Roman »In ferner Inselwelt« sind Handlungsort und -inhalt das Leben und Arbeiten auf deutschen Handelsstützpunkten. Die Protagonisten beider Romane Benkards sind Kaufleute – so etwa der junge Kaufmann Walfried in »Unter deutschen Palmen« – die (mit Unterstützung von Seeleuten) die deutschen Wirtschaftsinteressen an den überseeischen Gebieten vertreten. Sie verkörpern in Persona das deutsche Handelshaus, als deren Vertreter sie in Übersee tätig sind, und stellen zugleich den Kontakt zur lokalen Bevölkerung her. Als solche nehmen sie eine Pionierstellung ein, entdecken und erobern für die deutschen Handelshäuser neue Absatzmärkte und bauen neue Faktoreien auf. Die überseeischen Gebiete – bei Benkard allesamt (noch) nicht deutsches Kolonialgebiet – werden dann als Wirtschaftsfaktor beschrieben. Sie dienen erstens als Absatzmarkt: »Es galt also, neue und zwar unabhängige Absatzgebiete zu erschließen.«608 Dass die einheimische Bevölkerung dabei systematisch übervorteilt wird, verschleiern die Texte kaum. Exemplarisch kann die Lehrstunde angeführt werden, die Oberndorf in »In ferner Inselwelt« erhält, um in »die Handelsgeheimnisse und Sprache der Tuamotu-Insulaner«609 eingeweiht zu 606 Osterhammel/Petterson: Geschichte der Globalisierung, S. 17. Zu dieser Zeit setzt zugleich die Politisierung der Globalisierung ein (vgl. ebd., S. 26). 607 Die ökonomischen Interessen der europäischen Expansion – das lässt sich etwa am Beispiel Friedrich Fabris, dessen Abhandlung »Bedarf Deutschland der Colonien?« als einer der Begründungstexte des deutschen Kolonialdiskurses gilt, zeigen – verdichten sich in den Argumenten, dass die Kolonien erstes gleichermaßen Ressourcen liefern wie Absatzmärkte bieten (Fabri: Bedarf Deutschland der Colonien? S. 44: »Ohne Zweifel nehmen aber neben dem Absatz im Mutterlande kaufkräftige Colonien hierbei die erste Stelle ein. Sie fehlen uns gänzlich.«) sowie zweitens die Arbeitskraft der Deutschen nicht verloren geht, wenn sie anstatt etwa nach Amerika in die deutschen Kolonien auswanderten (Fabri: Bedarf Deutschland der Colonien? S. 16: »Das Bedenkliche [der Auswanderung, ASB] liegt nun darin, daß, statt in rege und produktive Wechselwirkung mit dem Mutterlande zu treten, dieses enorme Capital von Arbeitskraft und von durch sie erzeugten Werthen, demselben so gut wie völlig verloren geht und anderen Nationen, in erster Linie den Vereinigten Staaten, zu Gute kommt.«). Entsprechend wird die Umleitung der deutschen Auswanderung zur »Lebensbedingung des deutschen Reiches« (Fabri: Bedarf Deutschland der Colonien? S. 24, Hervorhebung im Original) stilisiert – erkennbar wirkt auch hier das nationaldarwinistische Deutungsmuster. 608 Benkard: In ferner Inselwelt, Zweiter Band, S. 169. 609 Ebd., Erster Band, S. 216.

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werden – die Unterrichtung sei an dieser Stelle umfassend zitiert, da an ihr zugleich der Rekurs auf moderne ökonomische Prinzipien abgelesen werden kann: Damit keines Spähers Auge das Geheimnis entdecke und zu seinem eigenen Nutzen verwerte, wurde die Prozedur bei verschlossenen Thüren vorgenommen; der Konsul und sein alter tauber Hausdiener waren die einzigen Zeugen, die zugelassen wurden. Der letztere ward mit bunten Stoffen behängt und als König einer Insel auf einen Tisch gesetzt; dann ahmte Herr Winkler das die Ankunft eines Schiffes verkündende Geheul der Insulaner nach, und endlich begann Oberndorf seine Thätigkeit als Kapitän. Auf dem Fußboden lagen einige Stücke buntfarbiger Baumwollzeuge und Schmucksachen. Mit diesen behängte er sich, setzte eine blaue Mütze mit roten Troddeln auf und bewaffnete sich mit einer ellenlangen Kalkpfeife. »Nehmen Sie lieber das rotgeblümte Zeug,« sagte der Konsul, »hier will es kein Mensch mehr haben, und schließlich bleiben wir auf unseren Vorräten sitzen. So – jetzt packen Sie die Geschenke auf und dann vor den Spiegel.« Ein krampfhaftes Lachen erschütterte Oberndorfs hohe Gestalt, als er sein Spiegelbild sah. In seiner Jugend hatte er oft mit Spielkameraden in allerlei abenteuerlichen Verkleidungen Mummenschanz getrieben; was war dies aber gegen seinen jetzigen Aufzug? »Sie dürfen nicht lachen,« sagte Herr Winkler, während selbst der ernste Konsul die Hand vor den Mund hielt; »Ernst ist die erste Bedingung, denn wenn Sie lachen, jagt Sie der König zum Teufel. Nicht wahr, Majestät?« Der häßliche taube Diener auf dem Tisch merkte, daß man eine Frage an ihn gerichtet hatte, und zog grinsend den Mund von einem Ohr bis zum andern. »Also noch einmal, aber ernster, bitte!« Das Manöver wurde wiederholt, und Oberndorf biß sich fast die Lippen blutig, doch er bezwang sich. Als aber Winkler, die neugierigen Insulaner markierend, mit dem Finger auf ihn deutete und seinem Entzücken Ausdruck gab, brach er von neuem in schallendes Gelächter aus. »Erlassen Sie mir doch wenigstens die Scene vor dem Spiegel,« bat er, »ich kann nicht an mich halten, wenn ich mich in diesem Aufzug sehe. Dort hat man ja auch keine Spiegel, wenigstens keine großen.« »Ganz einerlei! Sie können Ihr Bild zufällig im Wasser sehen und fallen dann aus der Rolle. Außerdem müssen Sie den Häuptling genau nach ihrem Anzug auftakeln, und dies ist nur möglich, wenn Sie wissen, wie Sie aussehen. Also, bitte, noch einmal!« Diesmal ging es besser, und der Verkleidete gelangte trotz den Beifallsbezeugungen der Insulaner glücklich bis zur Wohnung des Häuptlings, welcher – der Taube wußte schon, was er zu thun hatte – ihm treuherzig die Hand reichte. »Majestät heißt Sie willkommen,« begann Winkler, den grinsenden Diener vertretend. »Heraus mit den Geschenken und der Ansprache!« Während Oberndorf in einem fürchterlichen Kauderwelsch versicherte, daß er nur zu dem Zweck von Tahiti gekommen sei, um dem König der Welt – hier zitterte seine Stimme bedenklich – diese Geschenke zu überreichen, nahm der Taube das Dargereichte nicht ohne Würde entgegen und gab auf unzweideutige Art sein Verlangen nach der blauen Mütze zu verstehen.

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»Geben Sie ihm die Mütze und die Glaskorallenschnur und thun Sie, als ob Sie fortgehen wollten.« Der Pseudo-Häuptling verpflanzte die Kleidungsstücke auf den eigenen Körper und zupfte an Oberndorfs Ueberwurf, den dieser auch gutwillig fallen ließ. »Holla, nicht zu rasch!« rief Winkler. »Wenn Sie so freigebig sind, werden Sie vollständig ausgezogen, ehe Sie etwas erreicht haben. Erst muß er versprechen, die Uniform seinen Untertanen empfehlen zu wollen.« »So! – Angenommen, er geht nicht darauf ein und sucht Ausflüchte, oder er bietet Ihnen nur ein Gabelfrühstück an; etwa die Ueberreste seiner gebratenen Tante.« […] »Schön, Sie schützen also Appetitlosigkeit vor und geben ihm nur unter der Bedingung, die Kleidung in Mode zu bringen, Ihren Ueberwurf. Natürlich verlangt er jetzt auch die Beinkleider und läßt sie Ihnen ohne Gnade ausziehen, wenn Sie ihm nicht begreiflich machen können, sie seien festgewachsen. Hierauf eilen Sie an Bord zurück und beginnen auszupacken, denn die Mode ist gesichert. Zuerst folgen die Räte des Königs, dann die Reichen, und zuletzt will ein jeder einen Anzug nach der neuesten Mode. Aber Vorsicht bei dem Tauschgeschäft! Die Kerle sind gerieben, und Sie können nicht von jedem den gleichen Preis fordern. – So, Alter, herunter vom Thron. Heute nachmittag kommt die Fortsetzung.«610

Erkennbar ist die einheimische Bevölkerung kein gleichberechtigter Partner, ihr werden wertlose Waren verkauft. Darüber hinaus folgt die Passage den Gesetzen von Angebot und Nachfrage, genauer der Generierung von Nachfrage, die ihrerseits für das Wirtschaftswachstum, Kennzeichen der wirtschaftlichen Moderne, Voraussetzung ist. Dem auf den ersten Blick lächerlichen Vorgehen der Kolonisten liegt klassisches zweckrationales Denken, genauer die klassische ökonomische Denkfigur der Nachfragesteigerung, zugrunde. Zugleich verweist die Kunst, »an dem einsamen Strand neue Moden aufzubringen«611, auch auf den zyklischen Charakter des modernen Wirtschaftssystems. Die Warnung vor »Tauschgeschäften«, sprich vor der Praxis vormodernen Tauschhandels, verdeutlicht die Verankerung in der modernen Geldwirtschaft. Die Geheimhaltung des Geschäftsvorgangs selbst verweist schließlich wohl nicht nur auf die Sorge, dass die einheimische Bevölkerung die Verkaufstaktik durchschaut, sondern zugleich auf die Konkurrenz der Europäer um die überseeischen Gebiete als Absatzmärkte und damit auf einer übergeordneten Ebene auf die Konkurrenz der europäischen Volkswirtschaften. Die Kolonien werden darüber hinaus zweitens sowohl in Bezug auf (erhoffte)

610 Ebd., Erster Band, S. 216–220. 611 Ebd., Erster Band, S. 216. Dass dies durchaus zum Nachteil der einheimischen Bevölkerung gereicht, zeigt ein Beispiel des Vorjahres, das Winkler anführt: Damals habe er Strohhüte in Mode gebracht – die er der indigenen Bevölkerung in vollem Bewusstsein kurz vor Beginn der Regenzeit verkauft hat (vgl. ebd., Erster Band, S. 221).

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Bodenschätze und Produkte wie Elfenbein612 und Ebenholz613, als auch in Bezug auf Arbeitskräfte als volkswirtschaftlicher Faktor wahrgenommen: »›Und dennoch gibt es ein Mittel, [die Wilden] zur Arbeit zu zwingen.‹ ›Das wäre?‹ ›Ihre Bedürfnisse steigern, dann müssen sie arbeiten.‹ ›Oder untergehen!«614 Anders als etwa im späteren Keynesianismus wird das Argument der Nachfragesteigerung an dieser Stelle nicht im Sinne einer antizyklischen Konjunkturpolitik, sondern zur Erziehung der lokalen Bevölkerung zur Arbeit eingesetzt. Die wirtschaftlichen Einzelbereiche (Absatzmarkt und Ressource) sind dann drittens in eine detaillierte Analyse des kolonialen Wirtschaftssystems eingelassen: Durch die Verhandlungen des deutschen Reichstages über die Samoa-Vorlage und die schwer zu verkennende Absicht der Vereinigten Staaten, die Inselgruppe zu annektieren, hatte sich das allgemeine Interesse dem Südseehandel zugewendet, die beteiligten Häuser importieren, um der Konkurrenz die Spitze bieten zu können, größere Warenmassen als seither, wodurch die Märkte überfüllt und die Preise gedrückt wurden. Dazu kamen noch die ungünstigen Kreditverhältnisse. Von den eingeborenen Käufern wurde Zahlung versprochen, sehr oft nicht geleistet, so daß sich der Gewinn trotz eines Preisaufschlags von fünfzig bis hundert Prozent des Fakturawertes auf eine verschwindende Kleinigkeit herabminderte. Dagegen stiegen die Inselerzeugnisse im Preis, da die Engländer das nur in Samoa und Tonga giltige Geld ebensowenig als Zahlung begehrten wie weitsichtige, zweifelhafte Wechsel und daher Kopra und Baumwolle als Gegenwert der importierten Artikel kauften. Auf diese Weise waren geschraubte Verhältnisse entstanden, und wenn kein Wandel geschaffen wurde, stand eine ernste Krisis bevor. Eine Wendung konnte aber nur dann eintreten, wenn neue Absatzgebiete erschlossen wurden. Der deutsche Handel breitete sich allerdings über fast sämtliche Südseeinselgruppen aus, aber Viti war englisch, Tahiti französisch geworden; zwei Hauptmärkte befanden sich in den Händen der Konkurrenz.615

Diese Passage analysiert den Kolonialhandel unter Berücksichtigung nicht nur politischer Rahmenbedingungen, sondern auch wirtschaftswissenschaftlicher Faktoren – Produktionspreis, Angebot und Nachfrage als preisbestimmende Faktoren, damit zugleich die Gewinnspanne eines Produktes, schließlich das Prinzip der Knappheit. Die prophezeite »Krisis« der Wirtschaft verweist auf ein Phänomen des wirtschaftlichen Modernisierungsprozesses, genauer die Institutionalisierung von Wachstum und damit verbunden die Existenz wirtschaftlicher Konjunkturzyklen; darüber hinaus wird über die Erschließung neuer Absatzmärkte (sprich: Wachstum) ein Lenkungsinstrument eingeführt, das zugleich die enge Verschränkung der wirtschaftlichen Modernisierung mit dem 612 613 614 615

Vgl. Benkard: Unter deutschen Palmen, Erster Band, S. 168. Vgl. ebd., Erster Band, S. 127. Benkard: In ferner Inselwelt, Erster Band, S. 101/102. Ebd., Zweiter Band, S. 168/169.

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Kolonialismus im Wissenssystem der Zeit verdeutlicht. Nicht zuletzt wird in diesem Zusammenhang auch die Konkurrenz der europäischen Volkswirtschaften beschrieben. Mit der Konkurrenz der Volkswirtschaften – in »Unter deutschen Palmen« ist vor allem England, in »In ferner Inselwelt« Frankreich Konkurrent – ist zugleich die Funktion, die dem machtpolitischen Kolonialismus für die wirtschaftliche Modernisierung zukommt, angedeutet. Zwar werden auf der einen Seite Kaufleute und Handelshäuser bereits als ›Macht‹ in den (noch) nicht machtpolitisch besetzten überseeischen Territorien inszeniert: »Die Polynesier hatten sich daran gewöhnt, das seine Verbindungen über den ganzen Ozean ausbreitende Handelshaus als eine Weltmacht ersten Ranges zu betrachten.«616 Auf der anderen Seite beklagen aber gerade die Romane Benkards – obgleich es etwa in »Unter deutschen Palmen« die Firma Wilckens & Compagnie »mit anderen deutschen Handelshäusern dahin gebracht [hatte], daß Deutschland das Kamerungebiet in Besitz nahm, ohne daß das zur See allmächtige England es hindern konnte«617 – immer wieder, dass der deutsche Handel im Gegensatz etwa zum englischen nicht ausreichend durch die Politik unterstützt werde: »[…] Wohl habe ich andere Nationen schon tausendmal im stillen beneidet; der Engländer mag hinsteuern, wohin er will, er findet überall seine Flagge, in Indien und in der Südsee ist er zu Hause. Und wir? – Auch wir haben Schiffe auf allen Meeren gehen und finden Deutsche in Ost und West, aber sie stehen unter fremder Herrschaft, und wie oft verleugnen sie schon in der zweiten Generation ihre Abstammung. Wer kann aber unsere Staatsmänner bestimmen, aus ihrer Reserve herauszutreten? […]«618

Entsprechend ist die erste und wichtigste Funktion, die dem machtpolitischen Kolonialismus zukommt, die, Handel und damit Wirtschaftswachstum zu fördern: Diejenigen, die ihre Pläne auf genaue Prüfung der Sachlage stützten und mit den gegebenen Faktoren zu rechnen verstanden, verfolgten andere Zwecke: die Unterstützung des deutschen Handels und das Festhalten großer Absatzgebiete der vaterländischen Industrie.619

In diesem Zusammenhang greifen die Texte schließlich auch aktuelle wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Entwicklungen und Debatten auf, so im Besonderen die Entwicklung vom Freihandel zum Protektionismus. Beklagt wird in »In ferner Inselwelt« insbesondere der französische Protektionismus:

616 617 618 619

Benkard: In ferner Inselwelt, Zweiter Band, S. 125. Benkard: Unter deutschen Palmen, Zweiter Band, S. 117. Benkard: In ferner Inselwelt, Erster Band, S. 66. Ebd., Zweiter Band, S. 127.

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Waren die Franzosen erst unbeschränkte Herren im Land, so mußte es ihnen leicht werden, alle unliebsamen Elemente auszumerzen; hatten sie doch schon in den letzten Jahren auf das deutlichste bewiesen, daß sie in der Erfindung neuer Steuern, die den auswärtigen Handel bedrückten, Meister waren.620

In »Unter deutschen Palmen« sind es die französische und die portugiesische Kolonialregierung, die den Handel anderer Nationen über Ausfuhrzölle regulieren.621 Dem gegenüber steht – zu einem Zeitpunkt, zu dem Deutschland selbst noch keine Kolonien besitzt – das deutsche Interesse am Freihandel: Deutschland hat ein großes, unleugbares Interesse an der Zukunft der Südseeinseln, auf denen sein Handel in hoher Blüte steht. Dieser Handel ist nur so lange gewinnbringend, als die Unabhängigkeit der Inselgruppen eine freie Wettbewerbung zuläßt, und wird in dem Augenblick, in welchem eine fremde Macht ihre Flagge hißt und die Häfen dem Freihandel verschließt, aufs schlimmste bedroht.622

Schließlich verdeutlicht die Umwandlung der Firma Wilckens & Co zusammen mit anderen in Westafrika tätigen Handelshäusern in eine Aktiengesellschaft623 in »Unter deutschen Palmen« die tiefe Verankerung der Handelsromane Benkards in der ökonomischen Moderne. Die Beobachtung und Beschreibung der überseeischen Gebiete als Faktor ökonomischer Modernisierung ist bei Benkard dann mit einer eher ungewöhnlichen kolonialen Raumordnung verbunden. Die Weltwirtschaft wird zunächst – erstaunlich modern – als internationales Netzwerk mit Handelshäusern und Faktoreien als Knotenpunkten und den Verbindungen zwischen diesen als »Fäden« beschrieben. Der Handlungsort der Romane, die überseeische Faktorei, stellt insofern einen Knotenpunkt innerhalb des internationalen Netzwerkes dar, an dem sich Handelswege und Informationen bündeln: Er [Oberndorf] hatte jahrelang unter der Godeffroyschen Comptoireflagge, dem fliegenden Adler im weißen Feld, gefahren, fast jede der unzähligen Handelsfaktoreien des Welthauses war ihm bekannt. Wie oft hatte er die Umsicht bewundert, mit der die tausend Fäden in dem Giebelhause am alten Wandrahm in Hamburg gesponnen wurden […].624

Die Kolonie steht dem europäischen Wirtschaftssystem hier gerade nicht diametral gegenüber, sondern ist wie Europa auch Teil eines Weltwirtschaftssystems: Dieses Raummodell folgt dem Netzwerkgedanken. Zentrum des globalen Netzes bleibt gleichwohl das Mutterhaus der Firma in Europa als gewichtigster 620 621 622 623 624

Ebd., Zweiter Band, S. 45. Vgl. Benkard: Unter deutschen Palmen, Zweiter Band, S. 159. Benkard: In ferner Inselwelt, Zweiter Band, S. 32. Vgl. Benkard: Unter deutschen Palmen, Zweiter Band, S. 240/241. Benkard: In ferner Inselwelt, Zweiter Band, S. 129. Die Firma Godeffroy hat ein historisches Vorbild.

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›Knotenpunkt‹ innerhalb des Netzwerkes – auch das Netzwerkmodell ist insofern partiell an ein Zentrum-Peripherie-Denken gebunden. Die beiden Eckpfeiler der von Benkard als Netzwerk beschriebenen ersten Globalisierung sind Welthandel und Weltöffentlichkeit. Nicht zufällig warnt ein Engländer die Deutschen in »In ferner Inselwelt« vor einem »Weltskandal«625 : Voraussetzung und Teil der weltweiten Handelsvernetzung ist die voranschreitende Kommunikationstechnologie, der weitreichende und beschleunigte Informationsaustausch. So trägt der Telegraph […] die erschütternde Kunde [dass die Firma Godeffroy die Zahlungen eingestellt habe, ASB] durch ganz Deutschland, durch das Weltmeer und über den amerikanischen Kontinent nach San Franzisko, von wo aus sie der Postschoner nach den Südseeinseln trug.626

Schließlich können (müssen allerdings nicht zwangsläufig) die überseeischen Gebiete gerade im Handelsroman auch ein Bewährungsfeld für den Protagonisten bieten und stellen damit einen ›Karrierebeschleuniger‹ für Kaufleute dar. Als solche sind sie dann nicht nur Knotenpunkte innerhalb der globalen wirtschaftlichen Vernetzung, sondern auch Knotenpunkte bzw. Stationen auf den Lebenswegen der Protagonisten: Die Kolonie ist für sie lediglich eine Stufe auf der Karriereleiter ; sobald sie sich bewährt haben, werden sie auf einen besseren Posten in die alte Heimat zurückberufen. Benkards Roman »Unter deutschen Palmen« wäre ein Beispiel: Die Hauptperson Walfried geht nach ihrer Lehrzeit und drei Jahren als Commis nach Übersee627. Hier muss sie sich zunächst unterordnen und ihr Handwerk ein zweites Mal von Grund auf erlernen: Mit seiner Ankunft in Libreville begann für Walfried eine zweite Lehrzeit, die ihn insofern schwerer als die erste in der Heimat erstandene dünkte, als er sich als Dreiundzwanzigjähriger sämtlichen europäischen Angestellten der Faktorei unterordnen mußte, von denen er die meisten an allgemeiner Bildung sowohl wie an kaufmännischen Kenntnissen weit überragte. Die letzteren schien er hier überhaupt nicht verwerten zu können, denn kein Mensch beschäftigte sich mit Buchführung, und die wenigen Briefe, welche die Korrespondenz mit Hamburg oder den übrigen Faktoreien unterhielten, schrieb der Konsul selbst.628

Walfried bewährt sich im Folgenden in der Fremde bei seinem Vorgesetzten Rabenhorst, dessen Tochter er später heiratet, als Handelsmann ebenso wie in der Verteidigung gegen Angriffe der indigenen Bevölkerung. Am Ende des Romans ist er körperlich wie geistig erstarkt und kehrt mit Braut und künftigem Schwiegervater nach Europa zurück, um ins Direktorium der Firma, die in eine 625 626 627 628

Benkard: In ferner Inselwelt, Erster Band, S. 83. Ebd., Zweiter Band, S. 125. Vgl. Benkard: Unter deutschen Palmen, Erster Band, S. 4. Ebd., Erster Band, S. 63.

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Aktiengesellschaft umgewandelt werden soll, einzusteigen.629 Benkards Protagonisten figurieren zugleich einen bestimmten Typus, den Typus des ökonomischen Aufsteigers, des modernen Karrieristen. Es ist dies ein Muster, das schon Gustav Freytags »Soll und Haben« zugrunde liegt, auf das die Texte als Archiv also zurückgreifen können. Die Romane Benkards verhandeln, das kann an dieser Stelle festgehalten werden, alle einleitend dargelegten für den grundlegenden Umbau des Wirtschaftssystems im 19. Jahrhundert relevanten Aspekte – Wachstum, Konjunkturzyklen, zunehmende globale Vernetzung, staatliche Wirtschaftsintervention etc. Zugleich verweist die umfassende Analyse des Weltwirtschaftssystems auf die Entwicklung der Ökonomie als analytische Wissenschaft im 19. Jahrhundert.630 Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Nationalökonomie einerseits und der literarischen Beobachtung und Beschreibung des Wirtschaftssystem andererseits, genauer die Überprüfung einer möglichen ›Koevolution‹ von nationalökonomischen und literarischen Beschreibungsmodellen des wirtschaftlichen Modernisierungsprozesses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist nun noch immer ein Desiderat der Forschung. Diese Lücke zu füllen würde an dieser Stelle ebenso den Umfang der vorliegenden Arbeit übersteigen, wie dies bei einer über die dargelegten allgemeinen Hinweise zur ökonomischen Dimension der Texte hinausreichende detailliertere Untersuchung der Bezüge Benkards auf die Nationalökonomie und ihre Beschreibungsmodelle für die kapitalistische Moderne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Fall wäre.

Das Ensemble kolonialdiskursiver Figuren. Ein Forschungsüberblick mit kleineren Ergänzungen Um koloniale Expansion zu erzählen, steht im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ein Ensemble kolonialdiskursiver Figuren bereit, auf die die Literatur zurückgreifen und die sie gewissermaßen zum Text ›arrangieren‹ kann. Insofern sich die postkoloniale Germanistik bereits umfangreich auch mit der 629 Vgl. ebd., Zweiter Band, S. 240/241. 630 Zwar bemühen sich – anders als die auf Handlungsregeln ausgerichteten Wirtschaftslehren des Merkantilismus und Kameralismus – die Physiokraten bereits um eine Analyse des Wirtschaftssystems, sind aber ebenfalls in erster Linie auf ein wirtschaftspolitisches Programm ausgerichtet (vgl. Schmidt, Karl-Heinz: Merkantilismus, Kameralismus, Physiokratie. In: Issing, Otmar [Hrsg.]: Geschichte der Nationalökonomie. München 2002, S. 37– 66). Der Übergang zur analytischen Wissenschaft wird mit der klassischen Politischen Ökonomie vollzogen (vgl. Schefold, Bertram/Carstensen, Kristian: Die klassische Politische Ökonomie. In: Issing, Otmar [Hrsg.]: Geschichte der Nationalökonomie. München 2002, S. 67–91).

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literarischen Darstellung machtpolitischer Expansion auseinandergesetzt hat631, kann die Darstellung des Ensembles kolonialdiskursiver Figuren nachfolgend überwiegend knapp gehalten werden. Dennoch sollen einschlägige Diskursfiguren, da sich sowohl der nachfolgende Abschnitt zum kulturkritischen Überseeroman (Abschnitt IV.2.2 »Regeneration und Erlösung in der Kolonie. Der kulturkritische Überseeroman«) als auch die Engführung von Übersee- und Weltanschauungsroman (Abschnitt IV.3.2 »Weltanschauliche Überseeromane – Übersee im Weltanschauungsroman. Eine Engführung«) auf die entsprechenden Ergebnisse beziehen, an dieser Stelle knapp skizziert werden. Es muss dieser ›Forschungsüberblick‹ notwendig unterkomplex in Bezug auf die einzelnen Figuren bleiben – für die entsprechenden Details und insbesondere die diskursive Einbettung der einzelnen Figuren sei auf die entsprechenden Einzelstudien verwiesen; ausführlicher behandelt werden nur solche Aspekte, die bislang noch nicht systematisch untersucht wurden. Voraussetzung und Ausgangspunkt für die machtpolitische Expansion ist – das wurde bereits im voranstehenden Abschnitt gezeigt – die Wahrnehmung des fremden Landes als herrenlos. Die Figur des herrenlosen, geschichtslosen und jungfräulichen Landes gehört insofern zu den zentralen kolonialdiskursiven Figuren der Überseeliteratur. Im Übrigen wird die herrenlose Fremde, wird das »Land der Zukunft«632, zugleich topisch als ›Paradies‹ beschrieben: »Weide und Busch lagen grün wie das Marschland daheim. Es mußte ein wahres Paradies für das Vieh werden«633, liest man bei Friede Kraze; bei Orla Holm heißt es: »der Zug hielt mitten in einer üppigen Buschwildnis, die wie ein Paradies anmutete«634, und auch Frieda von Bülows Helden ziehen den Vergleich zum Garten Eden: »›Nicht wahr? Es ist eine Vegetation hier, eine Fruchtbarkeit, die an den Garten Eden erinnert. Ihr Bruder pflegt zu sagen: wenn man bei Ungudja einen kleinen Zweig irgendwo in die Erde steckt, ist am nächsten Tag ein Baum daraus 631 Vor allem in den frühen postkolonialen Arbeiten stehen Fragen des machtpolitischen Kolonialismus und seiner Darstellung im Vordergrund. So hat schon Joachim Warmbold eine Reihe ›typischer Stoffe‹ des Kolonialromans herausgearbeitet, die von der Raumdarstellung über das Verhältnis zwischen Heimat und Kolonie, die Darstellung der Kolonialdeutschen und ihres Alltages, die Debatte um die ›Verkafferung‹ und den kolonialdeutschen Mythos bis zur Darstellung der indigenen Bevölkerung in der Literatur reichen (vgl. Warmbold: »Ein Stückchen neudeutsche Erd’…«). Arbeiten jüngeren Datums haben sich dann intensiv mit einzelnen diskursiven Figuren auseinandergesetzt (vgl. exemplarisch Stephan Besser zur Diskursfigur des ›Tropenkollers‹ [Besser : Pathographie der Tropen; Besser : Tropenkoller] und Eva Blome zur diskursiven Figur der ›Verkafferung‹ [Blome: Reinheit und Vermischung]). 632 Beispielsweise in Kraze: Heim Neuland, S. 66 und Benkard: Unter deutschen Palmen, Erster Band, S. 55 und S. 79. 633 Kraze: Heim Neuland, S. 241. 634 Holm, Orla [d.i. Dorrit Zürn]: Pioniere. Ein Kolonialroman aus Deutsch-Südwest-Afrika. Berlin 1906, S. 106.

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geworden. […]‹«635 Damit wird ein Motiv aufgegriffen, das zu den ältesten der Literatur- und Kulturgeschichte gehört. Die Diskursfigur des Paradieses ist zunächst vor allem ökonomisch konnotiert, insofern ›Paradies‹ synonym für Fruchtbarkeit des Landes steht und dieses damit als Ressource für das Mutterland wahrgenommen wird. Für die Konstruktion des afrikanischen Kontinents als herrenlos ist dann in vielen Kolonialromanen die Überfahrt konstitutiv. In Texten wie Frenssens »Peter Moors Fahrt nach Südwest«, aber auch in anderen Romanen wie Krazes »Heim Neuland« wird die Überfahrt in die Kolonie ausführlich beschrieben.636 So wird zugleich ein Blick initialisiert, der weit offen ist, keine Grenzen kennt und nur durch den Horizont beschränkt wird: Mit diesem Blick treffen die Protagonisten und mit ihnen die Leser auf das ›herrenlose‹ Land, das es zu besiedeln gilt: »›[…] Sie werden es begreiflich finden, daß ich mich freue, nach einer vierzehntägigen Seefahrt etwas anderes zu sehen als Wasser und Himmel‹«637. Die Figur der Überfahrt wurde daher auch als »Propädeutik des kolonialen Blicks; eine Lektion in nachholender Weltmacht-Perspektive«638 gewertet; die lange Überfahrt sei ein geradezu stereotypes Handlungselement in Reiseberichten und Kolonialromanen.639 Sowohl die Diskursfiguren des herrenlosen, des geschichtslosen, des jungfräulichen und des paradiesischen Landes als auch die der Überfahrt und des kolonialen Blicks sind dann in die bereits dargelegte koloniale Ordnung des Raumes eingelassen. Auch diese ist wesentlich aus postkolonialer Perspektive untersucht worden; das zugrunde liegende Raummodell wurde dabei wesentlich unter dem Schema Zentrum – Peripherie verhandelt.640 Daneben treten jedoch – und das wurde von der Forschung bislang vernachlässigt – auch solche Texte, die Kolonien im Einklang mit einer Beschreibung der Moderne als zunehmende globale Vernetzung als Knotenpunkte innerhalb eines weltweiten ökonomischen und gesellschaftlichen Netzwerkes beschreiben – Benkards Romane sind Beispiele. Im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Darstellung des überseeischen Territoriums sind weiterhin – und das ist von der postkolonialen Germanistik nicht adäquat wahrgenommen worden – Telegraphen641 bzw. Helio-

635 Bülow : Im Lande der Verheißung, S. 38. 636 So umfasst die Schilderung bei Frenssen mit 22 Seiten ein Zehntel des gesamten Feldzugsberichts (Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 11–33), bei Benkard sogar 77 Seiten (Benkard: Unter deutschen Palmen, Erster Band, S. 1–77) und auch bei Kraze werden die Stationen der Überfahrt geschildert (Kraze: Heim Neuland, S. 91ff.). 637 Benkard: Unter deutschen Palmen, Erster Band, S. 3/4. 638 Honold: Raum ohne Volk, S. 52. 639 Ebd., S. 52. 640 Vgl. zum Forschungsüberblick Anm. 528. 641 Benkard: In ferner Inselwelt, Zweiter Band, S. 125.

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graphen642, Dampfschiffe und Eisenbahnen als Symbole und Figuration machtpolitischer Expansion zu nennen. Die Trias Eisenbahn – Dampfschiff – Telegraph ist im 19. Jahrhundert zunächst ganz allgemein zugleich Ursache für den grundlegenden Umbau der Raumwahrnehmung und Symbol des industriellen Fortschritts.643 Nicht nur aufgrund der politischen Neuordnung Europas (und der Welt) unterliegt die Raumwahrnehmung im 19. Jahrhundert einem tiefgreifenden Wandel, von nicht minder großer Bedeutung sind die technischen und mediengeschichtlichen Entwicklungen. Insbesondere die Eisenbahn führt zu einem grundlegenden Wandel der Raumwahrnehmung644, zur »Industrialisierung von Raum und Zeit«.645 Die bessere und schnellere Erreichbarkeit entfernter Territorien führt dazu, dass die überseeischen Territorien in der zeitgenössischen Wahrnehmung infolge einer ›Schrumpfung‹ des Raumes näher 642 Vgl. Kraze: Heim Neuland, S. 95. 643 Vgl. auch Schievelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 171; daneben auch S. 32–34 zur Funktion des Telegraphen als technische Ergänzung der Eisenbahn sowie als Teil des »maschinellen Ensembles«, das sich zwischen Reisenden und Landschaft schiebt und insofern Teil der spezifischen Wahrnehmung ist, die sich herausbildet (panoramatischer Blick). 644 Die (europäischen) Entwicklungen können – analog zur grundlegenden Verschiebung hin zum nationalen Territorium – für den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit als beendet gelten: Die kulturelle und psychische Assimilation der Bahn ist in Westeuropa um die Jahrhundertmitte abgeschlossen (vgl. Schievelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 117/118). 645 So der Untertitel von Wolfgang Schievelbuschs einschlägiger Studie zur Geschichte der Eisenbahnreise (Schievelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise). Die technischen Errungenschaften im Allgemeinen und die Eisenbahn im Speziellen führen zu einer Emanzipation von der Natur und zur Auflösung traditioneller Raum-Zeit-Zusammenhänge, was zunächst zu einer grundlegenden Desorientierung, schließlich zur Herausbildung neuer Wahrnehmungs- und Verhaltenskonventionen führt, darunter der dialektische Vorgang der Raumverkleinerung (zeitliche Verkürzung des Transports ebenso wie das Verschwinden der Zwischenräume) und der Raumerweiterung (Erweiterung des Verkehrsraumes). Es sind dies ein verändertes Verhältnis des Reisenden zur Natur (vgl. ebd., S. 27), die Ausbildung eines panoramatischen Blickes (vgl. ebd., S. 59), der Übergang vom Landschaftsraum zum geographischen Raum (vgl. ebd., S. 52 unter Rekurs auf Erwin Straus), sowie das Aufkommen der Reiselektüre (vgl. ebd., S. 62). Diese Entwicklungen sind im Übrigen europäische. Die Geschichte der Eisenbahn in den USA unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von der Europas: Die Bahn ist hier nicht der industrielle Nachfolger eines voll entwickelten vorindustriellen Verkehrssystems (vgl. ebd., S. 84). Infolge dessen führt die Eisenbahnreise, da in Amerika anders als in Europa die Kutschreise nicht die vorherrschende Reiseform darstellt, nicht nur nicht zu Verunsicherung und Desorientierung wie in Europa (vgl. ebd., S. 88), darüber hinaus erscheint die Eisenbahn – da sie einen Gewinn an Zivilisationslandschaft durch die verkehrstechnische Erschließung bisher wertloser weil unzugänglicher Wildnis darstellt – in einem für europäische Verhältnisse unvorstellbaren Maße produktiv (vgl. ebd., S. 85). Die nachfolgenden Ausführungen zum Wandel der Raumwahrnehmung und zur Herausbildung neuer Wahrnehmungs- und Verhaltenskonventionen im 19. Jahrhundert stützen sich auf Schievelbuschs nach wie vor zentrale Studie.

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rücken, erreichbarer werden. Das wirkt sich auch auf die Raumwahrnehmung und ihre Darstellung in Überseeromanen aus: Angesichts moderner Kommunikations- und Verkehrsmittel wird die Welt insbesondere in jenen Texten, die Moderne beobachten und beschreiben ohne zugleich nach alternativen Gesellschaftsformen zu suchen, als internationales (Handels)Netzwerk beschrieben und die erste Globalisierung als zunehmende Vernetzung, infolge derer die Welt klein geworden sei, wahrgenommen: »Wer weiß, ob die [Gerüchte] nicht doch nach Hamburg hin durchsickern würden? Die Welt war ja so klein!!«646 Für die machtpolitische Kolonisation sind die verkehrstechnischen Innovationen darüber hinaus eine von vielen Voraussetzungen – das betrifft insbesondere die faktische Verkürzung von Reisewegen als Voraussetzung einer systematischen Bemächtigung fremder Territorien.647 Auch der machtpolitische Überseeroman inszeniert vor diesem Hintergrund die Eisenbahn als Mittel zur Erschließung und Bemächtigung fremder – überseeischer – Landschaften und Gebiete: »[…] Sie können stöhnen und fluchen, so viel Sie wollen, deswegen fährt das Lokomotivchen nicht um einen Deut schneller. Hätten früher in dem Land sein müssen, als es noch keine Eisenbahn gab und man froh war, in vier Wochen vom Hafen nach der Hauptstadt zu kommen.«648

Anders als im verkehrstechnisch erschlossenen Europa kommt der Kolonialeisenbahn bei allen Unzulänglichkeiten die Funktion zu, Wildnis allererst zugänglich zu machen. Die Funktion der Kolonialbahn kann entsprechend vergleichbar der amerikanischen Bahn als Mittel zur Gewinnung von Zivilisationslandschaft begriffen werden.649 Die Trias Eisenbahn – Dampfschiff – Telegraph ist damit aus der Perspektive der Moderne vor allem eins: Bedingung der Möglichkeit einer systematischen Kolonisierung, die ihrerseits ein Teilprozess der Modernisierung ist. 646 Haase: Raggys Fahrt nach Südwest, S. 272. Vgl. zu Lene Haases Roman neben den einschlägigen Arbeiten zum Kolonialroman im Allgemeinen (siehe Forschungsüberblick in IV.1.1 »Kolonialromane oder Weltanschauungsromane? Zu einigen Problemen mit der Gattung ›deutscher Kolonialroman‹«) auch Noyes, John K.: Geschlechter, Mobilität und der Kulturtransfer. Lene Haases Roman »Raggys Fahrt nach Südwest«. In: Kundrus, Birthe (Hrsg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus. Frankfurt/ Main 2003, S. 220–239. Noyes geht wesentlich auf die Geschlechterproblematik im Roman ein, weist in diesem Zusammenhang aber auch darauf hin, dass »Ehe und Unternehmertum […] die Hauptrichtungen der Mobilitätshandhabung in Haases Roman [sind], und beide sind auf ein wohlgeordnetes Kommunikationsnetz angewiesen.« (Ebd., S. 230). 647 Neben der Eisenbahn ist es vor allem das Dampfschiff, das, wenngleich nicht in gleichem Umfang, so aber doch bereits früher zum Umbau der Raumwahrnehmung im 19. Jahrhundert beigetragen hat. So finden sich in der Charakterisierung der ersten Dampfschiffe bereits Zeugnisse davon, wie sich das mimetische Verhältnis zur Natur auflöst (vgl. Schievelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 15). 648 Holm: Pioniere, S. 101. 649 Vgl. Schievelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, S. 85.

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Die Darstellung des Romanpersonals beruht – das wiederum gilt in der postkolonialen Forschung inzwischen als gesichert – wesentlich auf der Konstruktion von Alterität, die ihrerseits sozialdarwinistisch650 fundiert und so pseudowissenschaftlich abgestützt wird. Im Rückgriff auf den Entwicklungsgedanken wird die eigene Kultur als höher entwickelt wahrgenommen, die indigene Bevölkerung als auf der ›Kindheitsstufe‹ der Menschheit, auf einer Vorstufe der Zivilisation stehend wahrgenommen und beschrieben. Narrativ ausgestaltet wird diese Differenzkonstruktion zunächst über den Vergleich von erwachsenen Afrikanern mit europäischen Kindern: »Die Weiber hatten sich alle bei den Gewändern gefaßt wie deutsche Kinder, wenn sie spielen ›wir ziehen nach Jerusalem‹«651; »Und die hier arbeiteten, waren nackt und schwarz und sangen und lachten bei den Arbeiten wie spielende Kinder.«652 Ist diese grundlegende Differenz allererst etabliert, wird sie dann mit der Binäropposition von Kultur und Natur653 enggeführt. In Holms »Ovita« äußert sich von Keßler fast paradigmatisch: »›[…] Ein Volk, das keiner Kultur fähig, ist auch keines wirklichen Erfassens einer Idee fähig! […]‹«654 Aus der grundsätzlichen Unfähigkeit der indigenen Bevölkerung zur Kultur leitet sich schließlich die unterschiedliche Wahrnehmung kultureller Erzeugnisse wie Sprache und Architektur ab. Den Afrikanern wird zumeist keine eigene Sprache zugestanden655, sondern diese sprechen, wenn überhaupt, ein unverständliches und lächerlich wirkendes 650 Bekanntlich überträgt der Sozialdarwinismus darwinistische Vorstellungen auf gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge. Vorgänge biologischer Selektion und Adaption dienen dann als Interpretationsmuster für den Prozess zivilisatorischer Höherentwicklung (vgl. schon Schnackertz, Hermann Josef: Darwinismus und literarischer Diskurs. München 1992, S. 64). Der Gedanke der Weiterentwicklung der Zivilisation ist so gewissermaßen wissenschaftlich fundiert. Insofern der Mensch selbst dem Entwicklungsparadigma unterliegt, wird der Blick in seine Vergangenheit möglich: »An die Stelle apokalyptischer Millenniumsvisionen tritt eine innerweltliche Zukunftserwartung; geschichtstranszendente Verheißung wird von geschichtsimmanenter Zielsetzung abgelöst, religiöse Hoffnung von säkularer Zuversicht.« (Ebd., S. 63) Die indigenen Völker Amerikas und Afrikas können als weniger weit entwickelt, als im Zivilisierungsprozess noch nicht so weit fortgeschritten wie die Europäer wahrgenommen werden (vgl. schon ebd., S. 63). 651 Bülow : Tropenkoller, S. 20. 652 Ebd., S. 59. 653 Diese Unterscheidung ist am Ende des 19. Jahrhunderts nicht neu, der Kolonialdiskurs kann auf ein Archiv zurückgreifen: Kant etwa hat die Kulturfähigkeit afrikanischer Völker als überaus fragwürdig beschrieben (vgl. Kant, Immanuel: Über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. In: ders: Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel. Band 2: Vorkritische Schriften bis 1768. Zweiter Teil. Darmstadt 1983, S. 825–884, hier S. 880). 654 Holm: Ovita, S. 188/189. 655 Vgl. schon Wassink: Auf den Spuren des Deutschen Völkermordes in Südwestafrika, S. 294. Wassink geht in seiner Arbeit auf das Verhältnis von Sprache und Macht ein und spricht von »einer intensiven Wechselbeziehung zwischen Sprache als bewußt manipulierendem Machtinstrument einerseits und Sprache als Ausdruck unbewußter Machtverhältnisse andererseits« (ebd., S. 19).

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Pidgin-Deutsch, das ein Kauderwelsch aus Englisch, Afrikaans, Bantu, Plattdeutsch und Deutsch ist. In »Unter deutschen Palmen« etwa wird dem Englisch der Europäer das »Neger-Englisch«656 gegenüber gestellt und aus der Differenz zugleich eine kulturelle Hierarchie abgeleitet: »Der Angeklagte wußte nun die schwarzen Richter auf eine andere Weise von den Verhandlungen auszuschließen, indem er reines Englisch sprach, während diese nur das sogenannte NegerEnglisch verstanden, dessen sich auch der Vorgesetzte bediente.«657 Zugleich verweist die als undifferenziert dargestellte Sprache auf die vermeintliche Unterentwicklung der Afrikaner. »›Ihr habt Euren europäisch kultivierten Verstand selbst‹, sagte [Graf von Ilfershofen] den Landsleuten, ›jene aber wissen sich nicht allein zu helfen.‹«658 Der Verstand ist Kennzeichen des ›Kulturvolkes‹ und unterscheidet es vom ›Naturvolk‹. Ähnlich funktioniert die Charakterisierung von Europäern und indigener Bevölkerung über ihre architektonischen Leistungen, wie etwa die Darstellung der Architektur in Frieda von Bülows »Tropenkoller« verdeutlicht: Die Architektur der indigenen Bevölkerung wird exemplarisch an der »inneren Stadt«659 Satutas dargestellt, die »ein winkeliges Labyrinth enger, stinkender Gäßchen«660 ist, in der man »selbst bei Tage auf den Weg achten mußte, um nicht Hals und Beine zu brechen.«661 Dem gegenübergestellt wird die »Europäervorstadt, die sich durch breite, schnurgerade Straßen und neue Häuser auszeichnete. […] Hier herrschte deutscher Ordnungssinn.«662 Auch hier spiegelt sich die Vorstellung wider, dass es sich bei Afrikanern und Europäern um verschiedene Stufen der Entwicklung handelt: Europäern wird das Vermögen abstrakten Denkens zugeordnet, das Orientierung in der Welt ermöglicht, Afrikanern geht dieses ab. Ganz nebenbei wird auch der Hygienediskurs aufgerufen: Afrikaner werden üblicherweise als schmutzig, Europäer als rein dargestellt. Über die Architektur findet eine kulturelle Klassifizierung statt – »Häuser und Brunnen – [sie sind] die imaginierten Produkte der Kulturleistungen in den Kolonien«663. Auf die dargelegte Differenzkonstruktion von Europäern und indigener Bevölkerung greift schließlich die Legitimationsfigur der kulturellen ›Hebung‹, das Argumentationsmuster der ›Zivilisierungsmission‹, das sich im Schlagwort der ›white man’s burden‹ verdichtet, zurück: Die tatsächlichen politischen und ökonomischen Ziele des Kolonialismus werden gerechtfertigt durch das Pseudo656 657 658 659 660 661 662 663

Benkard: Unter deutschen Palmen, Zweiter Band, S. 93. Ebd., Zweiter Band, S. 164. Bülow : Tropenkoller, S. 77. Ebd., S. 66. Ebd., S. 66. Ebd., S. 66. Ebd., S. 67/68. Noyes: Landschaftsschilderung, Kultur und Geographie, S. 128.

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Argument der ›Ausbreitung der Kultur‹. In Krazes »Heim Neuland« werden die Segen der Zivilisation, die Deutschland in die Kolonie gebracht habe, angepriesen: »Aber überwogen die Segnungen, die man ihnen gebracht hatte, nicht bei weitem die Uebel? Hatte man nicht in jeder Weise versucht, sich in sie hineinzuverstehen und ihrem Charakter gerecht zu werden?«664 In »Unter deutschen Palmen« ist es Walfrieds erklärtes Ziel, neben dem Handel auch »der Zivilisation die Wege zu ebnen«665. Die Diskursfigur der kulturellen ›Hebung‹ der indigenen Bevölkerung steht in engem Zusammenhang mit der Diskursfigur der ›Pioniere‹ in Übersee (Orla Holm macht diese Diskursfigur sogar zum Titel eines ihrer Romane): Nicht nur stellen die Kolonisten die machtpolitische Vorhut dar, erschließen also überseeisches Territorium und bereiten es für die politische Annexion vor, darüber hinaus werden sie auch als Kulturpioniere, die der indigenen Bevölkerung ›Kultur‹ bringen, beschrieben. Dass es sich hierbei keinesfalls um das tatsächliche Ziel handelt, sondern um eine vorgeschobene Rechtfertigung, verschleiern schon die Texte selbst kaum. Das hehre Ziel Walfrieds wird bereits in seiner Ankündigung dem eigentlichen wirtschaftlichen Interesse nachgeordnet: »Ich meine damit das Bestreben, dem deutschen Handel neue Gebiete zu eröffnen und der Zivilisation die Wege zu ebnen.«666 Und schließlich muss Walfried am Ende des zweiten Bandes einsehen, dass eine ›kulturelle Hebung‹ der indigenen Bevölkerung unmöglich sei: Auf die Frage Kapitän Steffens (der die Zivilisationsabsichten Walfrieds aufgrund seiner eigenen Erfahrungen schon bei der Anreise auf dem Schiff verlacht hatte667), wie es mit seinen »Plänen, den dunklen Erdteil zu zivilisieren und die Neger zu gesitteten Kulturmenschen heranzubilden«668 aussehe, reagiert er verlegen und umgeht eine konkrete Antwort. Mit der offenen Darstellung des Genozids an den Herero nach 1904 schließlich wird das ›Deckmäntelchen‹ der ›Zivilisierungsmission‹ vollständig aufgegeben. Auf zwei weitere Diskursfiguren sei an dieser Stelle noch etwas ausführlicher eingegangen, da auf sie im Detail zurückzukommen sein wird. Vor dem Hintergrund der Alteritätskonstruktion und des sozialdarwinistisch fundierten Rassediskurses wird erstens die »Frauenfrage in der Kolonie«669, die sich in der

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Kraze: Heim Neuland, S. 263. Benkard: Unter deutschen Palmen, Erster Band, S. 5. Ebd., Erster Band, S. 5. Vgl. ebd., Erster Band, S. 5. Ebd., Zweiter Band, S. 199. So der Titel eines Artikels, den Adda von Liliencron für die Zeitschrift des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft »Kolonie und Heimat« im Jahr 1908 schrieb; Liliencron, Adda Freifrau von: Die Frauenfrage in den Kolonien, und die Bestrebungen des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft. In: Kolonie und Heimat, Jahrgang II Nr. 4 (1908), S. 8.

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Diskursfigur der ›Verkafferung‹670 verdichtet, diskutiert. Diese Diskussion, die in Deutschland tatsächlich geführt worden ist und die Eingang in die Überseeliteratur findet, fand vor allem vor dem Hintergrund statt, »daß in DeutschSüdwestafrika deutsche Männer, insbesondere Schutztruppensoldaten, Beziehungen mit Afrikanerinnen eingingen, weil ›ein Mangel‹ an weißen Frauen herrsche.«671 Hieraus ergaben sich Bedrohungsängste, die ihren Ausdruck in der Figur des ›Verkafferns‹ fanden: »Dieser Begriff meinte, daß ein Teil der herrschenden Bevölkerung ihre persönliche, kulturelle, nationale Identität verlöre und sich in der sozialen Praxis den – gemäß der überwiegenden Einschätzung – akulturellen Beherrschten anglichen.«672 Politisch bedroht dieses Szenario, das eine zunehmende Annäherung und Angleichung von Kolonist und Kolonisierten beinhaltet, den Herrschaftsanspruch der Europäer. Um diesem Angstszenario der ›Rassenvermischung‹ entgegenzuwirken, wurde unter dem Rubrum der »kolonialen Frauenfrage« […] in den folgenden Jahren darüber diskutiert, wie man die Zahl heiratswilliger junger deutscher Frauen in dem Schutzgebiet erhöhen könne und welchem sozialen Milieu diese entstammen müssten. In diese Debatte spielte aber auch die Hoffnung hinein, über die Kolonien die Geschlechterverhältnisse im Deutschen Reich neu zu gestalten.673

Dieser Frage begegnet auch die Überseeliteratur. Peter Moor etwa reagiert mit instinktivem Unwillen auf das Szenario der ›Verkafferung‹: Als ich mich nach dem Essen verabschiedete und wieder nach der Feste hinaufging, sah ich im Hof einige Kameraden mit den Weibern der Hottentotten reden und lachen, und einer ging an mir vorüber und sagte, daß alle diese Weiber uns zu jeder Zeit zu Willen wären. Da ärgerte ich mich […].674

Dem wird das Bild der weißen, der deutschen Frau diametral entgegengestellt. Dabei fällt der Frau insbesondere die Rolle zu, die Männer vor dem Verlust der Kultur zu bewahren: »Sie glauben gar nicht, Baronin,« sagte Leutnant Witmann zu Maleen, »wie wohl uns allen Ihr Hiersein gethan hat. Wir Männer lassen uns zu sehr gehen, wenn wir nicht

670 Auch hier bereits Joachim Warmbold mit einem Kapitel in seiner Dissertation zu »Vom alten Blut und von der ungeheuren Verlassenheit. Das Problem der ›Verkafferung‹« (Warmbold: »Ein Stückchen neudeutsche Erd’…«, S. 247–257). Intensiv hat sich Eva Blome in ihrer 2011 erschienenen Dissertation mit der diskursiven Figur der ›Verkafferung‹ auseinandersetzt (Blome: Reinheit und Vermischung). 671 Kundrus, Birthe: Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien. Köln 2003, S. 78. 672 Ebd., S. 79. 673 Ebd., S. 79. 674 Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 113.

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fürchten müssen, einer Dame zu mißfallen. Seit Sie hier unter uns sind, sind wir wieder viel manierlicher geworden. Sie hätten uns vorher beobachten sollen und jetzt!«675

Die weiße Frau bewahrt den deutschen Mann vor der ›Verkafferung‹, sie wird so zur Hüterin der ›Rassenreinheit‹ und stabilisiert den Herrschaftsanspruch der Europäer in Übersee: Der deutsche Soldat hat das Land mit dem Schwerte erobert, der deutsche Farmer und Kaufmann sucht seine wirtschaftliche Nutzbarmachung, aber die deutsche Frau ist allein berufen und imstande, es deutsch zu erhalten. Wir müssen in Südwestafrika einen kräftigen deutschen Volksstamm heranziehen.676

Neben die Figur der ›Verkafferung‹ tritt mit der des ›Tropenkollers‹677 eine zweite Figur, die für die gesellschaftliche Verunreinigung in der Kolonie steht. Im ›Tropenkoller‹ führt der Kolonialdiskurs Nervosität nicht nur mit Moderne, sondern auch mit dem Klimadiskurs eng – der ›Tropenkoller‹ wird so zu einer spezifischen Ausprägung des Nervositätsdiskurses der Jahrhundertwende.678 675 Bülow : Im Lande der Verheißung, S. 94. 676 Liliencron: Die Frauenfrage in den Kolonien, und die Bestrebungen des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft, S. 8. 677 Vgl. hierzu im Detail Besser : Tropenkoller ; Besser : Pathographie der Tropen. 678 Eine einheitliche Definition dessen, was ein »Tropenkoller« sei, hat es offenbar nicht gegeben. Wird in »Meyers Großem Konversationslexikon« Geisteskrankheit als Ursache nicht ausgeschlossen, widerspricht das »Deutsche Koloniallexikon« dem dezidiert: Der Tropenkoller »kann nicht als Bezeichnung einer wirklichen G. angesehen werden« (Geisteskrankheiten. In: Deutsches Kolonial-Lexikon, hrsg. von Heinrich Schnee. 3 Bände. Leipzig 1920, Reprint Wiesbaden 1996, Band I, S. 688–690, hier S. 689); andererseits tritt im Meyer die Neurasthenie nicht auf, auf die der »Tropenkoller« laut »Deutschem Koloniallexikon« zurückgeführt werden kann. Das »Deutsche Koloniallexikon« verweist in seinem Eintrag »Tropenkoller« (Deutsches Kolonial-Lexikon, hrsg. von Heinrich Schnee. 3 Bände. Leipzig 1920, Reprint Wiesbaden 1996. Band III, S. 540) auf Nervenkrankheiten und Geisteskrankheiten; unter ersterem wird darauf verwiesen, dass »[m]anche Fälle von sog. ›Tropenkoller‹ […] zweifellos auf Neurasthenie zurückzuführen [sind] (s.a. Geisteskrankheit 3). Stark neurasthenische Menschen eignen sich nicht für den Tropendienst.« (Nervenkrankheiten. In: Deutsches Kolonial-Lexikon, hrsg. von Heinrich Schnee. 3 Bände. Leipzig 1920, Reprint Wiesbaden 1996. Band II, S. 628) Im Eintrag Geisteskrankheiten wird der ›Tropenkoller‹ explizit als spezifische Form der Neurasthenie definiert: »Der Tropenkoller, der als Ursache unüberlegter, häufig gewalttätiger Handlungen angesprochen wird, ist nichts weiter als ein auf dem Boden von Neurasthenie zustande kommender vorübergehender Erregungszustand.« (Geisteskrankheiten. In: Deutsches Kolonial-Lexikon, hrsg. von Heinrich Schnee. 3 Bände. Leipzig 1920, Reprint Wiesbaden 1996, Band I, S. 688–690, hier S. 689). Trotz der prinzipiellen Uneindeutigkeit lassen sich wesentliche Merkmale, die mit dem ›Tropenkoller‹ verbunden werden, ausmachen: »Meyers Großes Konversationslexikon« verweist nicht nur auf den Einfluss des Klimas, sondern auch auf das »Gefühl großer Verantwortlichkeit gegenüber einer als minderwertig angesehenen Rasse« und »das Fortfallen aller konventionellen Rücksicht« als Ursache für den ›Tropenkoller‹ (Tropenkoller. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. Mit mehr als 16,800 Abbildungen im Text und auf über 1500 Bildertafeln, Karten und Plänen sowie 160 Text-

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Der deutsche Überseeroman greift diese spezifische Wendung des Nervositätsdiskurses und seine Engführung mit dem Klimadiskurs auf und gestaltet sie narrativ aus.679 Der vermeintliche Einfluss des Klimas auf die Nerven, der ebenso wie die Entfernung von der europäischen Zivilisation alle Kolonisten gleichermaßen betrifft, führt nun, sofern es sich um für das koloniale Projekt geeignete Personen handelt, noch nicht zum ›Tropenkoller‹. Anders bei ungeeigneten Personen: Dem Kompanieführer von Rosen ging plötzlich das Wesen des Tropenkollers auf. »Die Herrscherherrlichkeit im Lande der Wilden steigt den Knechts- und Bedientenseelen zu Kopfe«, dachte er ; [»]das ist’s! Sie sind das Herrentum so wenig gewohnt, daß es sie um ihr armseliges bisschen Menschenverstand bringt und eine lächerliche Spielart des Größenwahnsinns zeitigt. Der Subalternbeamtengeist schnappt über, wenn er sich plötzlich als Bana Kubwa sieht. – Das ist etwas ganz anderes als die ungünstigen Einwirkungen des Klimas auf das Nervensystem, die auch die vornehmsten Naturen nicht verschont. Dies, was der ehrenhafte Drahn mir da so gut veranschaulicht, scheint mir eine durch klimatische und andere Komplikationen bösartig gewordene Form des Parvenütums.«680

Es ist die Trias aus Klima, Abwesenheit von Kultur und Nicht-Eignung für das koloniale Projekt, die einen nur nervösen zu einem ›tropenkollerigen‹ Menschen macht. Einzelne Romane machen den ›Tropenkoller‹ sogar zum Thema und zum Titel. Am vielleicht explizitesten ausbuchstabiert wird dies in Wendens Roman »Tropenkoller«681: Er schließt nicht nur am Rande an Nervositäts- und Klimadiskurs an, sondern stellt das Phänomen ›Tropenkoller‹ in den Mittelpunkt seines Romans indem er seinen Verlauf narrativ ausgestaltet.682 Der Text ist die

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beilagen. Neunzehnter Band: Sternberg bis Vector. Neuer Abdruck. Leipzig/Wien 1909, S. 745). Folge sei ein »rapides Sinken des moralischen Urteils, der einzelnen ethischen Prinzipien bei scharf pointiertem, oft ausartenden Selbstgefühl, launenhaften, eigensinnigen, sprunghaft wechselnden Stimmungen, auffallender Reizbarkeit, rohen, oft unmotivierten Gewaltakten ohne merkliches Sinken der Intelligenz, ja häufig bei gesteigerter Beobachtungsgabe und reger Auffassung. Wollüstig-grausame (sadistische) Handlungen finden sich allgemein beim T.« (ebd., S. 745). – Das »Deutsche Koloniallexikon«, erst 1920 erschienen, lag bei Ausbruch des 1. Weltkrieges zum größten Teil vor, der erste Band sollte gerade erscheinen. Nach dem Krieg wurde das Lexikon ohne jede Veränderung veröffentlicht. Es wird derzeit von der Universitätsbibliothek Frankfurt/Main, dem Hochschulrechenzentrum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt und dem Fachbereich Vermessungswesen/Kartographie der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden (FH) digitalisiert und unter http://www.ub.bildarchiv-dkg.uni-frankfurt.de/Bildprojekt/ Lexikon/lexikon.htm bereitgestellt. Vgl. hierzu im Detail Besser : Tropenkoller ; Besser : Pathographie der Tropen. Bülow : Tropenkoller, S. 64. Sowohl Stephan Besser (Besser : Tropenkoller) als auch Benninghoff-Lühl (BenninghoffLühl: Deutsche Kolonialromane in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammengang, S. 309) datieren den Text auf 1904. In drei Stationen wird Kurt von Zangens Entwicklung, die in Gewalttaten mündet, beschrieben. Schon in Berlin, der ersten Station, zeigt sich die prinzipielle Ungeeignetheit des

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»wohl unverhohlenste pornographische Schilderung des Tropenkollers«683. Machtpolitisch bedeutet der ›Tropenkoller‹ ebenso wie die ›Verkafferung‹ vor allem eins: Die Gefahr einer Destabilisation der politischen Herrschaft in Übersee. Zur Beschreibung des machtpolitischen Kolonialismus steht um 1900 also, das kann an dieser Stelle festgehalten werden, eine Reihe kolonialdiskursiver Figuren bereit, auf die die deutsche Überseeliteratur zurückgreifen kann. Alle diese Diskursfiguren basieren dann auf der kolonialdiskursiven Grundfigur des Eigenen/Fremden. Das gilt für die literarische Gestaltung des eigenen und des (zunächst) fremden Territoriums ebenso wie für die Diskursfigur des kolonialen Blickes, der als Blick des Eigenen auf das Fremde gelesen werden kann. Das gilt für nationale Symbolik, die zur Überformung des Fremden durch das Eigene eingesetzt wird (Flaggen, Weihnachtsbäume) ebenso wie für Telegraphen, Dampfschiffe und Eisenbahnen, die die Eroberung der Fremde für das Eigene allererst ermöglichen. Das gilt weiter für die Differenzkonstruktion der Figuren entlang der Demarkationslinie ›eigene‹ Europäer versus fremde Indigene; diese wird zugleich über das sozialdarwinistische Argument der unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Menschheit im Allgemeinen und der Europäer und der indigenen, fremden Völker im Speziellen, die sich auch in der Dichotomie Natur versus Kultur ausdrückt, pseudowissenschaftlich abgestützt. Aus dieser Argumentation leitet sich dann nicht nur die unterschiedliche Wahrnehmung und Protagonisten für die Kolonie infolge der Auswirkungen der modernen Großstadt: Kurt von Zangen wird als »nervös« beschrieben (Wenden: Tropenkoller, unter anderem auf S. 38, S. 56), er hält sich eine Geliebte (vgl. ebd., S. 30ff.), lebt über seine Verhältnisse. An der afrikanischen Küste, Ort des Dazwischen, zeigen sich bereits erste Zeichen des ›Tropenkollers‹ beim Protagonisten; je weiter der Protagonist ins Landesinnere kommt, desto weiter ist er von der Kultur und ihren Begriffen von Recht und Gerechtigkeit entfernt: »Und zum ersten Male vermischte sich in seinem verwirrten Bewusstsein das Gefühl der absoluten willkürlichen Gewalt mit dem Gefühl des Rechts. Wenn ihn bisher nur tierische Gelüste zur Grausamkeit gereizt hatten, so kam jetzt noch der Wahn hinzu, daß er in sich die rächende Macht der Gerechtigkeit verkörpere, und indem diese beiden Empfindungen ineinanderflossen und sich zu einem Ganzen vereinten, erwuchs daraus eine grausame Unmenschlichkeit, eine kalte Entmenschtheit von geradezu grotesker Größe.« (Ebd., S. 185) Zurück in Berlin, in der Kultur, der Zivilisation, kommt er wieder zu Bewusstsein: »Aber nach und nach, ganz allmählich kam ihm dabei immer mehr zum Bewusstsein, was er getan hatte. Fast war es, als würde seine Erkenntnis deutlicher und klarer, je mehr er sich räumlich und zeitlich von seinem Frevel entfernte.« (Ebd., S. 205) Der Text führt exemplarisch vor, wie bestimmte Voranlagen des Menschen, namentlich die »sexuelle Perversität« (ebd., S. 13), zum Tropenkoller führen, sobald Kultur und Erziehung das Verlangen nach Grausamkeit nicht mehr unterdrücken (vgl. ebd., S. 11). Mit dem Protagonisten Kurt von Zangen steht eine Figur im Mittelpunkt, an der exemplarisch dargelegt wird, dass nur geeignete Personen nach Afrika geschickt werden sollen – das heißt solche Menschen, die nicht die negativen Entwicklungen der Moderne verkörpern, Menschen, die (noch) gemeinschaftsfähig sind. 683 Besser : Tropenkoller.

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Gestaltung kultureller Erzeugnisse wie Sprache und Architektur ab, sondern auch die Diskursfigur der ›Hebung‹ bzw. ›Zivilisierungsmission‹. Schließlich ist die Diskursfigur der ›Verkafferung‹ als Figur der Verunreinigung des Eigenen durch Vermischung mit dem Fremden zu lesen, die Figur des ›Tropenkollers‹ als Form und Gefahr der Verunreinigung des Eigenen in der Fremde. Koloniale Zeitromane. Noch einmal einige Bemerkungen zur Gattungsproblematik des deutschen ›Kolonialromans‹ Der machtpolitische Überseeroman greift in mehrfacher Hinsicht aktuelle Themen auf: Erstens thematisiert er mit dem Kolonialismus einen aktuellen Gegenstand. Das gilt zunächst für die machtpolitische Dimension: Deutschland steigt bekanntlich erst in den 1880er Jahren in den ›Wettlauf um Afrika‹ ein. Gerade frühe Romane arbeiten sich in diesem Zusammenhang unter anderem an der Spannung zwischen innenpolitischen Entscheidungsträgern, die die Situation vor Ort nicht kennen würden, auf der einen Seite und den ›Kolonialpionieren‹ auf der anderen Seite ab: »Ja, das ist nun so,« sagte Dietlas ironisch, »was wir hier thun, kann nu mal nichts taugen, wenn’s nicht bis in die letzte Einzelheit am grünen Tisch ausgeheckt worden ist.« Er hatte den grimmigen Haß aller Praktiker gegen Bureaukratentum und Schreiberwesen. »Schließlich entscheiden die Thatsachen,« meinte Krome. »Thatsache ist aber, daß sie uns mit ihrer verdammten Schreiberwirtschaft jeden Erfolg im Keim zerstören. Sie können’s ja nicht über sich gewinnen, einen erwachsenen, vernünftigen Menschen mal ruhig sich selbst zu überlassen.«684

Auch die umfangreiche kolonialliterarische Darstellung des Krieges gegen die Herero in Deutsch-Südwestafrika – die als Diskursereignis gewertet werden kann685 – zeugt davon, dass sich der Überseeroman aktuellen politischen Themen widmet. Zweitens wird auch mit der Beobachtung und Beschreibung der ökonomischen Modernisierung ein für Deutschland ebenfalls mehr als aktuelles Thema 684 Bülow : Im Lande der Verheißung, S. 70/71. 685 Medardus Brehl hat herausgearbeitet, dass der Herero-Aufstand ein regelrechtes Diskursereignis gewesen sei – er löste eine regelrechte Flut von Publikationen unterschiedlicher Textsorten aus, darunter auch und gerade Romane und Erzählungen (vgl. Brehl, Medardus: Diskursereignis »Herero-Aufstand«. Konstruktion, Strategien der Authentifizierung, Sinnzuschreibung. In: Warnke, Ingo H. [Hrsg.]: Deutsche Sprache und Kolonialismus. Aspekte der nationalen Kommunikation 1884–1919. Berlin/New York 2009, S. 167–202, hier S. 174). Dahingegen habe der Nama-Krieg bei weitem nicht denselben Widerhall in der Öffentlichkeit des Kaiserreiches gehabt; selbiges gelte auch für den sogenannten ›MajiMaji-Aufstand‹ (vgl. ebd., S. 173).

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aufgegriffen: Während im Vorreiterland England die Industrialisierung bereits ab der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzt, lassen sich in Deutschland zwar ab Ende des 18. Jahrhunderts regionale Vorläufer beobachten, der Durchbruch zur modernen Industriegesellschaft findet jedoch erst nach der Reichsgründung statt.686 Der Überseeroman greift wie dargelegt aktuelle wirtschaftstheoretische und -politische Fragen und Entwicklungen auf, beschreibt aber zugleich den übergeordneten Prozess der ökonomischen Modernisierung im Allgemeinen. Sowohl politisch wie ökonomisch behandelt der Überseeroman seine eigene Gegenwart. Insofern gehört er – und diese Zuordnung löst die eingangs skizzierten Probleme einer Gattungsdefinition des deutschen ›Kolonialromans‹ wenigstens teilweise – zum Texttypus des Zeitromans. Vor dem Hintergrund der Verzeitlichung um 1800 entsteht im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert die Gattung Zeitroman687: Die Geschichte des Zeitromans entfaltet sich seit ihren Anfängen um 1800 im Nebeneinander und Nacheinander unterschiedlicher Strukturmodelle des Erzählens, die vor dem Hintergrund des Verzeitlichungsprozesses im ausgehenden 18. Jahrhundert (bzw. später vor dem Hintergrund der Geschichte und der Geschichte des Geschichtsverständnisses im 19. Jahrhundert) entstehen und bei aller typologischer Varianz in einer historisch begründeten, gattungskonstitutiven Problemstellung, einem Sujet, übereinkommen: Der Darstellung zeitgeschichtlicher (politisch-historischer und/oder sozialer und gesellschaftlicher) Erfahrungen und Probleme im Hinblick auf die Reflexion der eigenen Gegenwart in ihrer Geschichtlichkeit in einem literarischen Bild der Zeit und im Sinne der Artikulation von Zeitkritik in der Form des Romans.688 686 Vgl. Bauer: Das »lange« 19. Jahrhundert, S. 62. Vgl. daneben die Überblicksdarstellung von Hans-Werner Hahn (ders.: Die Industrielle Revolution in Deutschland, München 2011, hier insb. der »Enzyklopädische Überblick«, S. 1–49), der die Industrialisierung in Deutschland in eine Phase der Frühindustrialisierung 1815–1840, die Durchbruchsphase 1845/50–1873 und die nachfolgende Phase der Hochindustrialisierung und des Aufstiegs zum Industriestaat periodisiert. 687 Vgl. zum Zeitroman schon früh Hasubek, Peter : Der Zeitroman. Ein Romantypus des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 87 (1968), S. 218–245; daneben insb. die umfangreiche Habilitationsschrift von Dirk Göttsche: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert. München 2001; ders.: Zeitroman. In: Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Band 3, Berlin 2003, S. 881–883. In seiner Habilitationsschrift arbeitet Göttsche zunächst die Vorgeschichte des Zeitromans – die Verzeitlichung um 1800 im Allgemeinen ebenso wie die Entdeckung der Zeit im Roman des 18. Jahrhunderts, die sich »in der Neubegründung des Romans als die ›innere Geschichte‹ des ›wirklichen Menschen‹« artikuliere (Göttsche: Zeit im Roman, S. 66) – heraus, um im Anschluss die Entstehung der Gattung Zeitroman um 1800 und seine weitere Gattungsgeschichte im Verlauf des 19. Jahrhunderts detailliert zu untersuchen. Ihren Endpunkt findet die Untersuchung um 1900; hier komme die Geschichte des Zeitromans gleichermaßen zu einem Ende wie sie in der beginnenden Moderne einen neuen Anfang nimmt (vgl. ebd., S. 761ff.). 688 Vgl. Göttsche: Zeit im Roman, S. 61.

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Der Zeitroman ist insofern zunächst wesentlich durch seinen Gegenstand definiert: Er macht die Zeit zu seinem eigentlichen Helden.689 Das hat dann Konsequenzen für seine Form. Hasubek legt in seinem frühen Beitrag zum Texttypus das Augenmerk noch wesentlich auf Darstellungsprinzipien und Funktion der (Vielzahl an) Romanfiguren690 einerseits sowie ein Erzählen in ›Zeitbildern‹, die in ihrer additiven Gesamtheit den Kosmos der Zeit abbilden, als Strukturprinzip des Erzählens andererseits.691 Typisch sei ferner eine mehrsträngige Erzählweise.692 Die neuere Forschung hat die Beobachtungen zur Form des Zeitromans weiter differenziert und herausgearbeitet, dass sich der Zeitroman des 19. Jahrhunderts nicht auf den bei Gutzkow vorgebildeten ›Roman des Nebeneinander‹ beschränke693, sondern dass der Zeitroman zwar immer dasselbe Sujet habe, dabei aber auf unterschiedliche Strukturmodelle zurückgreife.694 Der machtpolitische Überseeroman weist dann nicht nur inhaltlich, sondern auch formal wesentliche Merkmale des Zeitromans auf – das gilt sowohl für die Ausgestaltung der Figuren als auch für die Erzählstruktur. Insofern mit den 689 Vgl. Hasubek: Der Zeitroman, S. 224. Hasubek unterscheidet dann fünf inhaltliche Dimensionen des Zeitromans, die er ›Kraftfelder‹ nennt, das gesellschaftliche, das geistigkulturelle, das sittlich-religiöse, das politisch-militärische und das wirtschaftliche Kraftfeld (vgl. ebd., S. 222); vgl. auch die Definition bei Göttsche: der Zeitroman konstituiert sich »durch Darstellung und Kritik der politischen und/oder sozialen Zeitgeschichte als literarischer Versuch eines (dokumentarischen oder fiktionalen) Bildes der Zeit in ihren Voraussetzungen, Grundzügen und Entwicklungen« (Göttsche: Zeitroman, S. 881). 690 Hasubek hebt vor allem Darstellungsprinzipien und Funktion der Romanfiguren hervor – so etwa die untergeordnete Funktion der Figuren gegenüber der Zeit, die der ›Held‹ des Zeitromans ist, den Verzicht auf das Einzelfigurenschema als kompositionelle Neuerung, infolge dessen die gleiche Werthaltigkeit sowie Gleichberechtigung aller Einzelfiguren, die Figuren als Zeittypen sowie Modell- bzw. Verweischarakter der Figuren als Formmerkmal (vgl. Hasubek: Der Zeitroman, S. 223–230). 691 Vgl. ebd., S. 233; die Zeitbilder bestehen ihrerseits überwiegend aus Gesprächen und Diskussionen als besondere Form des Gespräches (vgl. ebd., S. 231–234). 692 Ebd., S. 236. 693 Göttsches Habilitationsschrift greift den Vorschlag von Hasubek auf, kritisiert allerdings dessen »Verabsolutierung von Gutzkows Strukturmodell als das maßgebliche Muster des Zeitromans«, infolgedessen Hasubek Texte, die bis dahin zweifelsfrei als Zeitromane gegolten hätten und zu ihrer Zeit auch so rezipiert worden seien, als Grenzfälle behandele oder gar ausschließe (Göttsche: Zeit im Roman, S. 60). Göttsche schlägt insofern eine »differenzierend[e] Weiterentwicklung, Erweiterung und Rehistorisierung« vor (ebd., S. 61). 694 So gehen etwa am Beginn der Gattungsgeschichte Individual- und Familienroman in Strukturmodelle des Zeitromans ein (vgl. ebd., S. 164); um die Jahrhundertmitte ist ein breites »Neben, Mit- und Nacheinander unterschiedlicher Traditionen und Neuansätze« zu verzeichnen (ebd., S. 575), so etwa der Neuansatz zum Gesellschaftsroman mit Gutzkows ›Roman des Nebeneinander‹. Im bürgerlichen Realismus sind dann zwei wesentliche Strukturmodelle des Zeitromans zu verzeichnen, eine Mischform aus Individual- und Gesellschaftsroman wie ihn etwa Freytags »Soll und Haben« darstellt einerseits (vgl. S. 576) und die vollständige Abkehr vom Individualroman wie etwa bei Spielhagen andererseits (vgl. ebd., S. 577). Vgl. auch Göttsche: Zeitroman, S. 881/882.

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deutschen Kolonialbestrebungen im Speziellen und dem politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozess im Allgemeinen die eigene Gegenwart zum Gegenstand der Texte wird, spielen die einzelnen Figuren eine der Zeitdarstellung untergeordnete Rolle. Die Romane Benkards etwa sind ein Beispiel dafür, dass eine Vielzahl an Figuren auftritt, die typenhaft gezeichnet sind und als Stellvertreter für gesellschaftliche Gruppen stehen. So hat die Forschung etwa für die nach 1904 erschienenen kolonialliterarischen Werke eine Reihe unterschiedlicher Typen herausgearbeitet, die die Kolonialliteratur bevölkern.695 Unterschieden werden können etwa der meist junge Soldat wie zum Beispiel Frenssens Peter Moor, der aufgrund schwieriger Naturgegebenheiten und der Härte des Krieges zwar häufig verletzt wird oder erkrankt, aber doch siegreich aus dem Krieg hervorgeht; der Kamerad, der unter Einsatz seines Lebens für seine Mitstreiter kämpft und häufig für diese in den Tod geht; der ›alte Afrikaner‹ wie etwa von Rosen bei Frieda von Bülow, der als militärischer Führer und Landeskundiger keiner Gefahr aus dem Weg geht und in jeder noch so verzweifelten Lage die Übersicht bewahrt; der entschlossene Farmer (Familie Hardt in Orla Holms »Pioniere«) oder Kaufmann; seltener auch Missionare (vgl. ebenfalls Orla Holms »Pioniere«); schließlich die weiße Frau, die während der Bedrohung und Belagerung durch die Afrikaner durch ihr unerschrockenes und entschlossenes Auftreten zum ›vermännlichten Mitkämpfer‹ des Mannes wird (Holms Maria Hardt) und – allen widrigen Umständen zum Trotz – durch ihre ›idealtypischen Qualitäten als Frau‹ zur Bewahrerin des ›Deutschtums‹ wird.696 Daneben bildet der Überseeroman, auch das ist typisch für den Zeitroman697, mitunter zeitgenössische Persönlichkeiten nach – die Figur des Dr. Krome in Frieda von Bülows Roman »Im Lande der Verheißung« etwa ist Carl Peters nachempfunden. Insofern die Figuren nun gerade nicht in ihrer individuellen Entwicklung, sondern als Stellvertreter interessieren, hat dann auch jede einzelne Figur unabhängig davon, wie präsent sie im Text selbst ist, ihre eigene Wertigkeit für den Roman. Die Figur des Kapitäns Steffen etwa, die in Benkards Roman »Unter deutschen Palmen« an nur wenigen Stellen überhaupt auftritt, hauptsächlich am Anfang und am Ende, ist dennoch von eigener Bedeutung für den Text: Sie bringt bereits zu Beginn eine eigene Perspektive auf die ›Zivilisierungsbestrebungen‹ des Protagonisten Walfried ein698, und sie ist es auch, die am Ende den Bogen zu eben dieser Anfangsszene schlägt699. Trotz der Personalfülle der Texte findet nun nicht notwendig eine Verabschiedung vom ›Einzelfigurenschema‹, wie es Hasubek für den Zeitroman noch 695 696 697 698 699

Vgl. Wassink: Auf den Spuren des Deutschen Völkermordes in Südwestafrika, S. 292. Vgl. ebd., S. 292/293. Vgl. Hasubek: Der Zeitroman, S. 228. Vgl. Benkard: Unter deutschen Palmen, S. 5. Vgl. ebd., S. 199.

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konstatiert, statt700 : Benkards »Unter deutschen Palmen« etwa knüpft mit der Figur des Walfried an das Strukturmodell des Entwicklungsromans an.701 Eine echte Entwicklung des Protagonisten findet jedoch nicht statt, die Figur steht vielmehr stellvertretend für eine spezifische Personengruppe, für einen Typus (hier des ökonomischen Aufsteigers in der kapitalistischen Moderne) und damit für eine spezifische zeitgeschichtliche Entwicklung. Schließlich erzählt der machtpolitische Überseeroman nicht nur häufig durch verschiedene Erzählstränge, sondern bedient sich auch des Mittels des Gespräches bzw. der Diskussion.702 Stellvertretend für die sich oft über mehrere Seiten erstreckenden Diskussionen sei an dieser Stelle eine Diskussion zwischen dem Pastor und Graf Halten zu Beginn von Wendens »Tropenkoller« angeführt: Der Pastor aber entrüstete sich. »O, scherzen Sie nicht über solche Dinge, Herr Graf!« rief er. »Heute, wo Amerika in einem blutigen Bürgerkrieg den Sklavenhandel unterdrückt hat, wo alle Völker sich abmühen und in edler Begeisterung miteinander wetteifern, Religion, Kultur und Humanität in die entferntesten Weltteile zu tragen, da möchten Sie diesen alten Schandfleck von neuem aufleben lassen?« Jetzt war auch Halten ernst geworden, und indem er den Pastor forschend und zweifelnd ansah, ob er denn wirklich an all das, was er da sprach, auch glaubte, entgegnete er : »Aber denken Sie denn, daß es die Völker mit diesen Bestrebungen ehrlich meinen?« »Gewiß denke ich das.« Halten zuckte mit den Achseln. »Dann sind Sie eben in einem Irrtum. Die Staaten verfolgen mit ihrer Kolonisation ausschließlich egoistische Zwecke. Bereichern wollen sie sich, neue Absatzgebiete für ihre Industrie finden, den Handel vergrößern, Raum haben für die Auswanderung ihrer überschüssigen Volkskraft. Das ist der wahre Zweck, und nur weil es schöner aussieht, wird um die höchst realen Absichten ein ideales Mäntelchen herumdrapiert. Uebrigens nehme ich das den Staaten gar nicht übel – im Gegenteil, ich finde, daß sie vollständig recht haben.« […] Der Pastor jedoch erwiderte unbeirrt: »Und wenn auch etwas Wahres daran wäre, Herr Graf – Sie übertreiben natürlich, davon bin ich wie von meinem Leben überzeugt –, aber wenn selbst ein Körnchen Wahrheit in Ihren Ausführungen entwalten wäre, ja, müsste man dann darum die gute Absicht einfach für Heuchelei halten? Läßt sich denn nicht unser Vorteil mit dem jener armen Wilden vereinen? Und wenn wir für uns auch Gewinn und Nutzen ziehen, beschenken wir sie denn nicht weit reicher, geben wir denn nicht weit mehr, als wir nehmen, indem wir ihnen unseren Glauben und unsere Kultur bringen?« 700 Vgl. Hasubek: Der Zeitroman, S. 224. Dirk Göttsche argumentiert dahingegen wie dargelegt, dass der Zeitroman unterschiedlichen Strukturmodellen folge (vgl. Anm. 693). 701 Damit wird auf eines der von Göttsche für den bürgerlichen Realismus herausgearbeiteten dominanten Strukturmodelle des Zeitromans, die Mischform aus Individual- und Gesellschaftsroman, zurückgegriffen (vgl. Göttsche: Zeit im Roman, S. 576). 702 Vgl. Hasubek: Der Zeitroman, S. 235: »Somit ist das Gespräch die adäquate stilistische Form, die Stoffmengen der Zeitwirklichkeit in den Roman einzuschmelzen.«

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Während sich der würdige Herr immer mehr in Feuer und Leidenschaft hineingeredet hatte, neigte sein Gegner nur nachdenklich den Kopf. »Haben wir denn die Wilden gefragt, ob sie unsern Glauben und unsere Kultur auch wollen?« fragte er, und als er nicht sogleich eine Antwort erhielt, sprach er weiter : »Und überhaupt die Kultur – vom Glauben will ich gar nichts sagen – aber Sie führen immer die Kultur im Munde. Wissen Sie denn überhaupt, was das für ein Ding ist? Ein Konglomerat von uns anerzogenen Begriffen und Vorurteilen ist es. Ehre und Sitte und Moral und Gerechtigkeit, und was weiß ich sonst noch, das ist alles schön nach Paragraphen geordnet und muß peinlichst befolgt werden. Dazu kommt noch etwas Kunst und Literatur, ein paar schlechte Oelgemälde oder langweilige Theaterstücke. Und dieser ganze Krempel, in dem alles enthalten ist, nur nichts, was entfernt nach Freiheit schmeckt, das heißt dann Kultur. Und damit wollen Sie die Wilden beglücken? Na, ich danke! Prost Mahlzeit! Glück auf den Weg!« Indessen hatte der Pastor, der die Hände wiederholt abwehrend emporhob, seine gewohnte Ruhe erlangt. »Wenn es so wäre, wie sie sagen,« meinte er bedächtig, »dann hätten Sie vielleicht recht. Glücklicherweise ist es aber anders, und ich kann Sie eigentlich nur bedauern, Herr Graf, daß Sie die Welt für gar so schlecht halten.« »Ich halte die Welt gar nicht für schlecht,« erwiderte der Graf. »Im Gegenteil, ich finde den Egoismus ganz berechtigt. Aber jetzt werde ich Sie, verehrter Herr Pastor, einmal ad absurdum führen; passen Sie auf. Ich will mich also ’mal auf Ihren Standpunkt stellen; ich will glauben, daß Ihre idealen Bestrebungen etwas sehr Schönes und Lobenswertes sind. Was ginge nun für Afrika daraus hervor? Für Afrika gäbe es da doch nur zwei Möglichkeiten: entweder die Neger vertrügen unsere sogenannte Kultur nicht, sondern gingen daran zugrunde…nun, dann wäre es doch schade um die vergebliche Mühe und es wäre besser und sogar humaner, wenn wir die schwarzen Herrschaften kurzerhand niederschössen – oder aber, sie nähmen unsere Kultur an und würden uns Weißen gleich oder ähnlich…und dann wäre es noch schlimmer ; denn dann – darauf können Sie sich verlassen, Herr Pastor – dann schmissen sie uns zuguterletzt einfach ’raus aus dem Tempel und behielten Afrika für sich selber. – Eins von beiden müsste uns ereilen, wenn wir Ihre Wege gehen wollten. Dazu kommt es aber natürlich nicht.« »Ich sehe noch eine dritte Möglichkeit!« entgegnete der Pastor mit sieghafter Gewissheit. »Und die wäre?« »Daß die Neger unsere Kultur annehmen und unsere Freunde werden!« Halten lächelte nur ironisch.703

Erkennbar werden mit dem Kolonialismus und seiner Rechtfertigung Fragen von zeitgeschichtlicher Relevanz verhandelt; ökonomische Argumente stehen ebenso im Raum wie solche der ›Zivilisierungsmission‹. Erkennbar sind die Argumente darüber hinaus wenigstens auf Seiten des Grafen ferner vor dem Hintergrund des Deutungsmusters des Nationaldarwinismus zu lesen. Das Mittel des Gesprächs bzw. der Diskussion wird in der Überseeliteratur im Wesentlichen mit Blick auf die Frage der Legitimation des kolonialen Projektes 703 Wenden: Tropenkoller, S. 87–90.

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eingesetzt. Auch formal ist der ›Kolonialroman‹ insofern vom Texttypus des Zeitromans her zu verstehen.

IV.2.2 Regeneration und Erlösung in der Kolonie. Der kulturkritische Überseeroman Diejenigen Texte, die, wie etwa Christian Benkards Romane, ausschließlich der Deutungslinie ›koloniale Moderne‹ zuzuordnen sind und Kolonien und Kolonialismus als Faktor der politischen und ökonomischen Moderne beobachten und beschreiben, stehen dieser nicht negativ gegenüber. Anders verhält es sich bei jenen Texten, die den beiden anderen Deutungslinien (Regeneration und Erlösung) zuzuordnen sind: Sie sind wesentlich vor dem Hintergrund des kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende zu verstehen und stehen der Moderne insofern mehr oder weniger abwertend gegenüber. Die machtpolitische Dimension (die immer auch vorhanden ist) wird in diesen Texten durch eine kulturkritische ergänzt und von ihr überlagert: Diese Texte vermessen systematisch das utopische Potential der Kolonie und machen sie zum Ort und Ausgangspunkt gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Alternativentwürfe zur Moderne. Voraussetzung hierfür ist zunächst die Beobachtung und Beschreibung des Modernisierungsprozesses selbst – und das vom normativen Standpunkt aus. Gesellschaftliche und ökonomische Regeneration in der Kolonie. Konservative Entwürfe einer anderen Moderne Die Beschreibung des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses leitet sich in der Überseeliteratur zunächst aus der die Texte organisierenden Dichotomie von Land und Stadt ab. Hierfür ist zunächst vor allem die Figur des ErbhofVerlustes zentral: Der Verlust eines seit Jahrhunderten von einer Bauernfamilie bewirtschafteten Hofes (Sphäre des Landes, der Gemeinschaft, vormoderne Wirtschaftsform) aufgrund von Alkohol- und/oder Spielsucht sowie oftmals – wenngleich nicht immer – hieraus resultierender nicht mehr bedienbarer Hypotheken (Geldwirtschaft, der Stadt und der Gesellschaft zugeordnet) gehört zu den grundlegenden Diskursfiguren der Überseeliteratur. In Orla Holms »Pioniere« ist die »heimatliche Scholle, die jahrhundertelang von Hardts bewohnt worden war«704, aufgrund des »Hang[s] zum Spiel« des Bruders mit Hypotheken belastet705 und auch nachdrückliche Bemühungen, den Hof wieder 704 Holm: Pioniere, S. 16. 705 Vgl. ebd., S. 15.

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rentabel zu machen, scheitern letztendlich an den Umbauprozessen des Wirtschaftssystems vom Bauern- zum Industriestaat und dem sich zugleich verändernden Banken- und Geldsystem: Der »Leipziger Bankenkrach, der so viele aus ihrem vermeintlichen Reichtum in Armut gestürzt hat, beraubte Peter Hardt seines mühsam erworbenen Vermögens! Das Gut kam unter den Hammer, und Hardts waren in wenigen Tagen besitzlos, heimatlos.«706 Der Hof figuriert als Symbol einer vermeintlich seit Jahrhunderten währenden Beständigkeit des Kleinbauerntums, das vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Modernisierungsprozesse im 19. Jahrhundert einerseits und den damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen andererseits gefährdet ist und schlussendlich an die Moderne verloren geht. Auf der anderen Seite ist die Stadt demgegenüber in Abgrenzung zur (verloren gegangenen) Heimat, zur ländlichen Sphäre, immer vor allem eines: Ort moderner Wirtschaftsformen, gesellschaftlicher Umbrüche und neuer Lebensformen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie steht, auch das zeigt Holms »Pioniere«, für Abhängigkeit und Enge. Die wenigen Passagen, die die Großstadt beschreiben, heben üblicherweise das »laut[e] Getriebe der Großstadt«707 hervor: Die Droschke hielt am Brandenburger Tor. Die beiden Herren bummelten langsam den Linden zu, Platen an das Gewoge der Großstadt gewöhnt, gleichgültig, nur hin und wieder eine Vertreterin des schönen Geschlechts schmunzelnd musternd, Enken wie in einem Taumel auf das weihnachtliche Treiben Berlins sehend, ganz benommen von der Pracht der Schaufenster, von Glanz und Licht, das durch die hohen elektrischen Bogenlampen taghell die breite Straße erleuchtet.708

Der Text greift hier auf klassische Großstadterfahrungen der Jahrhundertwende zurück709 : Die der Großstadt in Abgrenzung zu Heimat zugeordneten Eigenschaften sind solche der Geschwindigkeit, der Sensation, des Glanzes und der Pracht, des (auch wirtschaftlichen) Treibens – Begrifflichkeiten, die der sozioökonomischen Moderne zugeschrieben werden. Die Stadt ist zugleich Ort grenzenlosen Vergnügens bis hin zur Vergnügungssucht, die mit Alkoholgenuss, Glücksspiel, schließlich Verschuldung verknüpft ist710. Beschrieben wird die Reizüberflutung in der modernen Großstadt – den frisch aus der reizarmen 706 707 708 709 710

Ebd., S. 21. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. Simmels »Die Großstadt und das Geistesleben« etwa erscheint erstmals 1903. Enken und seine Begleitung widmen sich in der Folge einem vor dem Hintergrund der kärglichen Verhältnisse in der Kolonie umso verschwenderischer anmutenden Diner mit Austern, Kaviar, Kaffee, Kognak, Zigaretten und Zigarren (vgl. Holm: Pioniere, S. 59ff.); die negativen Seiten der Vergnügungssucht werden im Verlust des Erbhofes der Protagonisten deutlich, der in des älteren Bruders »Hang zum Spiel« (ebd., S. 15) begründet liegt.

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Kolonie eingetroffenen Enken überfordert die Großstadt ersichtlich711, sein Begleiter hingegen ist durch die permanente Reizüberflutung bereits abgestumpft. Die Stadt selbst kann, muss im Übrigen aber nicht explizit aufgerufen werden, um als Gegenfolie präsent zu sein: Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass auch diejenigen Romane, die die Stadt nicht oder fast nicht explizit aufrufen, deutlich stärker in der (negativ konnotierten) modernen Großstadt als in der kolonialen Fremde verankert sind.712 Unabhängig davon, ob längere Passagen der Romane in der modernen Großstadt – das ist in erster Linie Berlin, gelegentlich auch die Hafenstadt Hamburg wie etwa in Doses »Ein alter Afrikaner« – situiert sind, die Großstadt nur in knappen Passagen adressiert oder auch nur ex negativo im Roman präsent ist, immer ist sie vor allem eines: Negatives Gegenbild zur positiv konnotierten Heimat. Den Sphären der Stadt und des Landes werden dann die Tönnies’schen Konzepte der vormodernen Gemeinschaft und der modernen Gesellschaft713 zugeordnet. Käthe van Beekers Roman »Heddas Lehrzeit in Süd-West« etwa ist über die grundlegende Dichotomie von vormoderner Gemeinschaft und moderner Gesellschaft organisiert. Anders als in vielen anderen Siedlungsromanen setzt die Handlung bereits in der Großstadt, die für die Moderne, für die ›Ge711 Die Figur ist ambivalent angelegt, genießt sie trotz erkennbarer Überforderung doch auch das Treiben der Großstadt (vgl. ebd., S. 55). 712 Wolfgang Struck etwa hat in seiner Arbeit »Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik« für die Romane Frieda von Bülows eine ähnliche Diagnose gestellt; er hat darauf hingewiesen, dass die Kolonie hier einen Raum der Bewährung kultureller Codes darstellt, die die urbane Moderne nicht mehr zu bieten hat (Struck: Die Eroberung der Phantasie, S. 47) und dass der Tropenkoller in von Bülows Welt weit mehr in der großstädtischen Moderne verankert sei, als in der kolonialen Fremde (vgl. ebd., S. 95). 713 Der Soziologe Ferdinand Tönnies versucht im ausgehenden 19. Jahrhundert, die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts über das Begriffspaar »Gemeinschaft und Gesellschaft« theoretisch zu greifen, indem er dem Ideal einer vermeintlich vorgängigen organischen Gemeinschaft die moderne, mechanische Gesellschaft gegenüber stellt. Aus dieser Leitdifferenz wird eine Reihe weiterer Dichotomien abgeleitet: Gemeinschaft wird als »reales und organisches Leben« (Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Neudruck der achten Auflage von 1935, Darmstadt 1991, S. 3), als das »vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben« (ebd., S. 3) in »häusliche[r] Gemeinschaft« (ebd., S. 3, Hervorhebung im Original), als alt und der ländlichen Sphäre angehörig, als »lebendiger Organismus« (ebd., S. 4) beschrieben; Gesellschaft ist dahingegen eine »ideelle und mechanische Bildung« (ebd., S. 3), ein »blosses Nebeneinander voneinander unabhängiger Personen« (ebd., S. 4), ist neu und nur ein »vorübergehendes und scheinbares« Zusammenleben (ebd., S. 4) und wird der städtischen Sphäre zugeschrieben. Anders als der Gesellschaft, in die man »wie in die Fremde« (ebd., S. 3) geht, gehört man der Gemeinschaft »von der Geburt an« (ebd., S. 3) an. Es ist deutlich, dass Gemeinschaft positiv, Gesellschaft hingegen negativ konnotiert ist – in der Interpretation des Modernisierungsprozesses als Umbau von der vormodernen Sozialform Gemeinschaft in moderne Gesellschaft ist ein sentimentalisches Sinnschema also deutlich erkennbar (vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 272).

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sellschaft‹714 steht, ein. Dieser Sphäre ist insbesondere der Vater zugeordnet; die aus der Kleinstadt bzw. vom Land stammenden Personen hingegen, Mutter, Onkel und Haushälterin, sind ursprünglich der Sphäre der Gemeinschaft zuzuordnen715. Während der Vater auf gesellschaftlichem Leben besteht – »Papa sagte, daß seine Stellung Repräsentation verlange, und daß er genug verdiene, um seine Frau und Tochter als Damen zu halten«716 – ist die in der Gemeinschaft aufgewachsene Mutter nicht einverstanden mit dem gesellschaftlichen Leben der Familie, ›sträubt‹717 sich dagegen und »seufzte«718 immerzu. Mit dem Tod des Vaters steht die Familie vor dem unvermeidlichen finanziellen Ruin: »Sie hatten über ihre Verhältnisse gelebt, und jetzt, da der Erwerber und Ernährer fortgegangen war, standen sie hilflos da.«719 Darüber hinaus lässt die Gesellschaft die Familie fallen, in der Not ist nicht auf gemeinschaftlichen Zusammenhalt zu hoffen: »Die Zeit drängte, seine sowohl, als die jener Leute, die von allen Seiten mit Forderungen und Ansprüchen herantraten.«720 Insofern Gemeinschaft (zunächst) wesentlich der Vergangenheit – im Falle von van Beekers Roman der Jugend der Mutter – zugeschrieben wird, Gesellschaft hingegen der Gegenwart, handelt es sich um ein Verlaufsmodell: Der gesellschaftliche Modernisierungsprozess wird als Umbau von Gemeinschaft in Gesellschaft erzählt. Damit stehen die Gesellschaftsbeschreibungen der Überseeliteratur – hier schließen die Texte an den sozialen Roman des Naturalismus an721 – zugleich der frühen Soziologie und ihren Modellen zur Beschreibung des

714 Vgl. etwa Beeker, Käthe van: Heddas Lehrzeit in Süd-West. Erzählung für Mädchen. Stuttgart o. J. [1909], S. 6, S. 10, S. 18. 715 Vgl. ebd., S. 11 zur Abgrenzung der ›heutigen Großstadtjugend‹ von ›Kleinstadtkindern‹. 716 Ebd., S. 3. 717 Vgl. ebd., S. 3. 718 Ebd., S. 3. 719 Ebd., S. 23. 720 Ebd., S. 23. 721 Die Überseeliteratur teilt nicht nur das Ideal einer vormodernen, organischen Gemeinschaft in Abgrenzung zur modernen Gesellschaft mit dem sozialen Roman des Naturalismus, auch im Überseeroman wird die Idylle einer einstmaligen sozialen Natur durch analeptische Rückblicke zu Beginn der Romantexte (vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 263) aufgerufen, die mit den modernen Verhältnissen kontrastiert werden. Es handelt sich auch hier in aller Regel entweder um die Enteignung von Grund und Boden oder um den wachsenden Konkurrenzdruck durch industrielle Produktion (vgl. ebd., S. 263). Die Überseeliteratur entfaltet ferner ebenfalls den »Prozess der Modernisierung im Wesentlichen durch Mythen schuldhafter Entzweiung« (ebd., S. 308). Wie im sozialen Roman ist auch in der Überseeliteratur Gemeinschaft »nicht nur die Markierung eines narrativen Anfangs, der im fortschreitenden Erzählprozess allmählich zerstört wird, sondern der Signifikant für einen sozialen Ursprung, der – anders als die Abstraktionen der modernen Gesellschaft – gewollt und begehrt wird.« (Ebd., S. 272) Es handelt sich um eine Gesellschaftsform, die historisch ungedeckt ist, die insofern einen supplementären Status als Name für den Verlust eines Ursprungs hat, der nie stattgefunden hat (vgl. ebd., S. 301).

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gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses nahe.722 Die Parallelen zwischen Überseeliteratur und Naturalismus beruhen auf ihrem Kreisen um ein vermeintlich verlustig gegangenes Ideal organischer Gemeinschaftlichkeit, das sich zugleich konstitutiv auf die moderne Gesellschaft in Europa bzw. Deutschland bezieht; in ihren wesentlichen Aspekten und Konnotationen stimmt der Rückgriff auf die Konzepte von Gemeinschaft und Gesellschaft zunächst überein. Anders als im sozialen Roman des Naturalismus – und hier liegt die spezifische Akzentuierung der Überseeliteratur – stellt diese dem Verlust von Gemeinschaft in Europa dann jedoch eine Re-Vergemeinschaftung in der überseeischen Kolonie entgegen. So greift der Überseeroman zwar wie der soziale Roman des Naturalismus auf die Konzepte von Gemeinschaft und Gesellschaft zurück – beschränkt das damit verbundene Verlustnarrativ aber dann auf diejenigen (im Übrigen meist knapp gehaltenen) Textpassagen, die erzählerisch in Europa situiert sind. Sie sind gewissermaßen als Bestandsaufnahme eines fortschreitenden Modernisierungsprozesses zu verstehen. Anders als der soziale Roman des Naturalismus belässt es der Überseeroman dann gerade nicht bei der allmählichen Zerstörung gemeinschaftlicher Nahwelt. In der Kolonie, die in dieser Lesart wesentlich Rückzugsraum von der (Über)Zivilisation und der Moderne in Europa ist, ist Gemeinschaft noch erfahrbar : Gute Gesellschaft! – Frau Lotte seufzte, und dann rang es sich doch in ihr empor, daß hier, auf diesem weltverlorenen Erdenfleckchen, richtigere Begriffe über gute Gesellschaft herrschten, als drüben in den Kreisen, die bisher ihren Verkehr gebildet hatten. Hier galt der Mensch nach seiner Tüchtigkeit, galt wirklich als Bruder und Schwester in der Gemeinschaft seiner Landsleute, und war diesem auch Bruder und Schwester in allen Fällen der Not, und dadurch wurde jeder Standesunterschied aufgehoben. Drüben ging jeder seinen Weg für sich und seinen eigenen Vorteil, und das Band, das die Menschen zusammenhielt, war nur ein äußerliches, eines der Kaste und des Besitzes, ein Band, das im Augenblicke riß, da Stand und Besitz wankten und fielen. In Fällen der Not und Sorge stand jeder alleine. Das hatte sie erfahren. Hier hielten die wenigen, die einer Rasse angehörten, zusammen in Freud und Leid, und die gemeinsame Kulturarbeit und Landesmannschaft machte alle gleich.723

Der Text rückt mit dieser Beschreibung von Gesellschaft, in der die Menschen nur durch ein ›äußerliches‹ Band verbunden, vereinzelt seien, in die Nähe der Tönnies’schen Beschreibung von der der städtischen Sphäre zugeschriebenen 722 Vgl. zum Zusammenhang von Naturalismus und früher Soziologie die Habilitationsschrift von Ingo Stöckmann (Stöckmann: Der Wille zum Willen), hier insbesondere Kapitel IV »Wille zur Gemeinschaft«, S. 250–345. Das vorliegende Kapitel schließt einerseits hieran an, indem die Parallelen des deutschen Überseeromans zum sozialen Roman des Naturalismus herausgestellt werden, um andererseits die spezifische Akzentuierung der Überseeliteratur in diesem Kontext herauszuarbeiten. 723 Beeker: Heddas Lehrzeit in Süd-West, S. 104.

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Gesellschaft. Zugleich lässt sich hier die Spezifik der Überseeliteratur ablesen. Sie ist konstitutiv über ein narratives Schema organisiert, das dem allgemeinen Verfall von Gemeinschaft in Gesellschaft einen Alternativentwurf entgegen stellt: Der Überseeroman ergänzt die sentimentalische Grammatik des Verlustes vormoderner Gemeinschaftlichkeit um die Möglichkeit einer Re-Vergemeinschaftung, überführt das Verlustnarrativ in einen Alternativentwurf zur Moderne. Gemeinschaft in der Kolonie meint dabei zunächst schlicht Gemeinschaft der Weißen: Sonst ist es eine schöne Sitte, ja ein ungeschriebenes Anstandsgesetz in ganz Innerafrika: Wenn zwei Weiße tausend Kilometer fern von jeder Zivilisation sich begegnen, so begrüßen sie sich wie Freunde, so helfen sie einander mit allem, was sie haben, aufs freigebigste aus.724

Voraussetzung dieser Form von Vergemeinschaftung ist die grundlegende Differenzwahrnehmung weißer Europäer und indigener Bevölkerung. Ohne im engeren Sinn dem Riehlschen Modell des ›ganzen Hauses‹, das im Gemeinschaftskonzept des sozialen Romans des Naturalismus nachwirkt725, verpflichtet zu sein, ist auch dieser Gemeinschaftsbegriff mit ähnlichen Konnotationen versehen wie es der Tönnies’sche Gemeinschaftsbegriff ist: Die Weißen begrüßten sich wie alte Freunde, obgleich sie sich noch nie gesehen hatten. Das ist ein menschlich schöner Zug in dem oft so unmenschlichen Afrika: Wenn zwei Deutsche im Innern sich begegnen, so herrscht eine warme, wahrhafte Herzlichkeit zwischen ihnen, daß sie einander helfen in Kampf und Krankheit, in Not und Tod.726

In der Betonung der Selbstverständlichkeit gegenseitiger Hilfe und der Herausstellung von Wärme, Wahrhaftigkeit und Herzlichkeit zeigen sich gleichermaßen die Nähe zum Ideal organischer Gemeinschaft und die Abgrenzung von der modernen Gesellschaft innerhalb Europas. Über die sich aus der Differenz Europäer – indigene Bevölkerung konstituierende Gemeinschaft hinaus umfasst der Gemeinschaftsbegriff insbesondere im Siedlungsroman dann ein Konzept von Gemeinschaft, das im engeren Sinn dem Ideal des Riehlschen Modells des ›ganzen Hauses‹, welches seinerseits auf Vergemeinschaftung zielt, entspricht. Den Kern dieses Modells bildet (zu Zeiten, in denen es in Deutschland längst eine organisierte Frauenbewegung und emanzipatorische Bestrebungen gegeben hat) ein patriarchalisches Familienmodell, in dem Männer Feldarbeit leisten und auf die Jagd gehen während Herd und Hof angestammter Platz der Frau ist:

724 Dose: Ein alter Afrikaner, S. 295/296. 725 Vgl. hierzu Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 261ff. 726 Dose: Ein alter Afrikaner, S. 206.

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»Alles eigenes Erzeugnis,« erklärte Narmi. »Wir haben viel Obst im Garten, besonders Beerenobst, das hier gut fortkommt. Vater hat schon gesagt, daß Sie von allem Stecklinge und auch ein paar ganze Sträucher haben sollen. Hier ein Napfkuchen, genau wie in Deutschland gebacken, mit viel Eiern, Fräulein Suse. Denn wir haben große Hühnerzucht, und Mutter gibt Ihnen gerne einen Stamm Federvieh ab, damit Sie sich auch einen Geflügelhof anlegen können. Die Männer haben mit solchen Dingen nicht anfangen wollen. Es mach ihnen keinen Spaß und zuviel Arbeit. Aber jetzt mit Ihnen ist das ganz etwas anderes.«727

Die Arbeitsteilung in Orla Holms »Pioniere« ist vergleichbar und kann ebenfalls exemplarisch angeführt werden. Dieses Familienbild ist mit einem nach der Dichotomie natürlich versus künstlich organisierten Frauenbild verbunden. Diejenigen Frauen, die der Sphäre der ländlichen Gemeinschaft zugeordnet sind, werden üblicherweise als ›natürlich‹ und ›schlicht‹ charakterisiert, in Abgrenzung zu den der städtischen Sphäre zugeordneten ›künstlichen‹, häufig als nervös charakterisierten Damen von Welt. Dem »still[en], gleichmäßig[en] Wesen Marias, das so gar nichts gemein hatte mit dem Benehmen der anderen Frauen, die er bisher kennen gelernt, deren Herzen ihm zugeflogen waren«728, etwa wird die nervöse Baronin Woltek gegenüber gestellt, für die »der Reiz des Lebens nur in der Durchsetzung ihres Willens, im Unterordnen Anderer Wünsche, den ihren, und im tändelnden Spiel mit dem Ernst des Lebens, mit der Gegenwart, ohne einen Gedanken an Zukunft oder Vergangenheit«729 besteht. Auch auf der Seite der Europäer ist die Personendarstellung insofern bipolar. Die Personenordnung ist genauer über die Diskursfigur der Kolonialtauglichkeit organisiert: Es gehört zu den zentralen kolonialdiskursiven Figuren, dass es kolonialtaugliche (willensstarke, natürliche, dem Land und der Gemeinschaft zugeordnete) und kolonialuntaugliche (nervöse, künstliche, der Großstadt und damit der Gesellschaft zugeordnete) Europäer gibt. Das am Modell des ›ganzen Hauses‹ orientierte Lebensmodell umfasst weiterhin die Integration nicht nur mehrerer Generationen unter einem Dach, sondern auch der Angestellten des Hofes in die Arbeits- und die häusliche Lebensgemeinschaft: »Ach Heddachen, ich bin ja doch man ’n alter Dienstbot un ihr seid nu alle Verwandschaft –,« schluchzte Suse matt. Da stand auch schon Frau Lotte neben der Gekränkten. »Suse, was sind das für dumme Reden! Du wirst doch nicht böse sein, weil wir dich anscheinend einen Augenblick vergaßen? Du gehörst zu uns, wirklich, wie Hedda

727 Beeker: Heddas Lehrzeit in Süd-West, S. 98. 728 Holm: Pioniere, S. 34/35. 729 Ebd., S. 165.

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sagte, wie der Finger zur Hand. Du bist unserem Herzen ebenso verwandt wie der neue Bruder.«730

Über den Vergleich mit der Hand wird die organische Konnotation des Gemeinschaftskonzeptes aufgerufen. Darüber hinaus zeigt sich das Ideal vorgängiger Gemeinschaftlichkeit auch im Ideal des Kleinbauerntums731, dem die Siedlungsliteratur verpflichtet ist: »Ein Geflügelhof! Wie bei uns im Dorf! Danach hab ich ja mein leb’lang gejankert!« jauchzte Suse, ein Körbchen mit frischen Eiern zärtlich an sich drückend. »Nei, das ist zu viel Glück! Dies Afrika ist ja ’n reines Paradies! Ein’n Geflügelhof, – und Enten un Gänse vielleicht! Das muß ich mein’m gnä’gen Frauchen gleich erzählen gehen!«732

Die Figur des afrikanischen Paradieses gehört wie dargelegt zu den zentralen kolonialdiskursiven Figuren. An dieser Stelle ist das Paradies nicht nur ökonomisch, sondern vor allem gesellschaftlich konnotiert: Das ›Paradies‹ ist hier mit der Rückgewinnung dörflicher Gemeinschaft und dem Ideal des Kleinbauerntums gleichzusetzen. Damit ist – die angeführte Feststellung der alten Haushälterin Suse verdeutlicht dies – der Gang in die Kolonie zugleich der Schritt zurück hinter die Schwelle der Moderne.733 Die Figur des Paradieses ist zu allen Zeiten auch im Zusammenhang mit der sentimentalischen Erinnerung an vergangene Zeiten als verlustig gegangenes Paradies und der Hoffnung auf Wiederkehr der alten, paradiesischen Zeit verbunden gewesen – insofern greift die Überseeliteratur auf eine uralte Figur zurück. Die Forschung hat darauf hingewiesen hat, dass der Heimatkunstroman mit seiner Betonung der Provinz die Schwelle zu den Gründerzeitjahren und zu den Entwicklungen der industriellen und gesellschaftlichen Moderne rückwärts überschreitet.734 Die Kolonie ist vor diesem Hintergrund als systematische Überbietung der (europäischen) Provinz zu verstehen. Schließlich ist mit der Re-Vergemeinschaftung in der Kolonie und der diskursiven Figur der Kolonialtauglichkeit auch die des Wiedererstarkens des Willens verbunden. So muss die topische Gegenüberstellung von kolonialtauglichen Siedlerfrauen und nervösen Großstadtfrauen vor dem Hintergrund des Willensdiskurses um 1900 verstanden werden. Nicht nur Frauen, auch kolonialtaugliche Männer sind in der Überseeliteratur auffallend häufig starke Willenspersönlichkeiten: »Sein Wille wollte so, und da geschah es. Da habe ich Beeker: Heddas Lehrzeit in Süd-West, S. 153. Vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 305. Beeker: Heddas Lehrzeit in Süd-West, S. 98. Vgl. hierzu Wolfgang Struck: »[…] der Weg in die Kolonie ist ein Weg in die deutsche Vergangenheit, und der Weg in die Vergangenheit ist ein Weg in die deutsche Provinz.« (Struck: Die Eroberung der Phantasie, S. 111). 734 Vgl. Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 154.

730 731 732 733

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gemerkt, daß Wille zehnmal mehr wert ist als Wissen«735, heißt es etwa, und weiter : »Was haben die Menschen doch für Kraft in sich und harten Willen, daß sie so in die Ferne fahren und dort leben, handeln, forschen und herrschen wollen.«736 Ähnlich wie im Naturalismus werden auch im Überseeroman Willenspersönlichkeiten und nervöse Kultur gegeneinander ausgespielt. Während jedoch der naturalistische Roman um eine Konfiguration kreist, »die am Beispiel ›großer Einzelner‹ und willensmächtiger Persönlichkeiten all das verteidigt, was der Modernisierungsprozess an traditionalen Lebenszusammenhängen und Sozialformen ausscheidet und zu historischen Relikten erklärt«737 und dabei willensstarke Figuren gerade von den Erfahrungen der nervösen Kultur abtrenne738, schreiben sich die kolonialen Erzähltexte zwar in die grundlegende Anlage dieser Konfiguration ein, akzentuieren sie jedoch anders. Neben die schicksalshafte Eliminierung kolonialuntauglicher, sprich nervöser und willensschwacher, Figuren (hierauf wird zurückzukommen sein) tritt als Gegenentwurf das Wiedererstarken in Bezug auf die Nerven und damit auch auf den Willen. Das wird dann am Beispiel einzelner Figuren aufgezeigt: Ina von Keßler bietet eingangs das negativ konnotierte Bild einer nervösen, gelangweilten, an Willensschwäche leidenden Frau739 : Sie selbst fühlte es manchmal, daß etwas wie Willensschwäche über sie kam. Ach, wie oft war sie, von einem starken Tätigkeitsdrang beseelt, schon ganz früh des Morgens aufgestanden: Nützen wollte sie den Tag – voll und ganz ausnützen! Aber wie bald, und sie hatte ihr Wollen wieder vergessen. Zum Fenster hin trieb es sie – irgend ein unbestimmtes Verlangen war in ihr.740

Verkörpert diese Figur anfangs also all jene negativen Eigenschaften, die die moderne Großstadt und die Kultur hervorrufen, durchläuft sie während des Kolonialkriegs einen Genesungsprozess: »Sieh, Ina, hinter uns liegt der Krieg, und vor uns der Kampf – der Kampf um eine neue Existenz. Leicht wird es nicht sein – und doch bitte ich dich, bleib du mein guter Kriegskamerad.« Still schmiegte sich Ina an den Gatten – wie ein scheues Kind, das sich verlaufen hat und nun endlich wieder daheim ist.741

Die nervöse Frau wurde durch die Erfahrungen des Krieges geheilt: Nun entspricht sie dem Typ Frau, der für die Kolonie geeignet und als Stammmutter für die neue gemeinschaftliche Ordnung vorgesehen ist. Die Figuren sind dabei 735 736 737 738 739 740 741

Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 65. Ebd., S. 27. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 251. Vgl. ebd., S. 252. Vgl. zum Beispiel Holm: Ovita, S. 15. Ebd., S. 24. Ebd., S. 275.

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– und hierin liegt die spezifische Akzentuierung des Überseeromans gegenüber dem Naturalismus begründet – gerade nicht von Beginn an starke Persönlichkeiten; vielmehr geht die Re-Vergemeinschaftung auf der Ebene des sozialen Zusammenlebens auch mit einem Wiedererstarken des Willens einher. Im Detail gehören schließlich einige weitere Aspekte zum skizzierten Moderneschema, die sich ebenfalls unschwer am Textkorpus der Überseeliteratur nachweisen lassen – so gehören eine Parasoziologie der Persönlichkeit742 (»Hier galt nur die Persönlichkeit etwas, nicht der Rang.«743) sowie das Schweigen als wesenhafte, natürliche Art der Gemeinschaft zu sprechen744 (»Ich sprach nun oft mit ihm, nicht viel mit Worten […].«745) ebenso zu den Eckpfeilern des gemeinsamen Vorstellungshaushaltes von früher Soziologie und Naturalismus wie auch der Überseeliteratur wie der Entwurf von gemeinschaftlichem Leben als Arbeit746 : Nur der Sterbetag und der Tag darauf, an dem die Mutter der kühlen Erde anvertraut worden war, hatten den gleichmäßigen Gang der Arbeit unterbrochen, diese beiden Tage waren, seit Peter Hardt in der neuen Heimat angelangt, die einzigen Feiertage, die dem Andenken der Mutter geweiht, Feiertage der Seele. Aber von diesen ruhigen Stunden ging ein Gefühl der Klarheit auf die folgenden Zeiten über, so sehr, daß manchmal, mitten in der Arbeit, es Peter Hardt schien, als seien auch die Arbeitstage Feiertage, als gäbe es eine Stelle in seinem Innern, die von keinem Vorfall in der Welt berührt würde, die ein eigenstes, allein stilles Dasein führte, eine Stelle, die für das Leben tot, die ein zweites nichtmenschliches Leben führte und die ihm verhalf, im wirklichen Leben zu bleiben.747

Auch im Überseeroman wird Gemeinschaft abgeleitet bzw. hergestellt über gemeinsame (Kultur-)Arbeit. Eine spezifische Wendung des Narrativs der Re-Vergemeinschaftung in der Kolonie ist die Indienstnahme des Kolonialkrieges, insbesondere des Aufstandes der Herero und Nama, zur Vergemeinschaftung.748 In gewisser Weise werden hier bereits Versatzstücke augenfällig, die sich rund ein Jahrzehnt später in den »Ideen von 1914« zu dem »wohl wirkungsmächtigsten Deutungsmuste[r], […],

742 743 744 745 746 747 748

Vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 257. Steffen: Im Orlog, S. 200. Vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 316. Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 102. Vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 259. Holm: Pioniere, S. 196. Bei den folgenden Ausführungen zur Darstellung des Kolonialkrieges handelt es sich um eine überarbeitete Version meiner Überlegungen, die unter dem Titel »Kulturkriege. Zum Zusammenhang von Kulturkritik, Kolonialismus und Krieg 1884–1918« veröffentlich wurden (vgl. Brasch: Kulturkriege).

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mit dem die deutsche Gesellschaft zwischen 1914 und 1933 Bilder von sich selbst entwirft«749, formieren. Bereits dieser Krieg hat vor allem einen Sinn: Er soll die deutsche Gesellschaft in eine Gemeinschaft zurückverwandeln. In einem Zug will sich die moderne, auf typische Weise zerrissene, verunsicherte und sich selbst unübersichtlich gewordene Gesellschaft mittels Krieg therapieren und das weltgeschichtliche Profil Deutschlands als Kulturnation schärfen.750

Das Narrativ der Re-Vergemeinschaftung durch Krieg zielt auf eine doppelte Vergemeinschaftung der Deutschen in der Kolonie im Allgemeinen und der Soldaten im Besonderen einerseits sowie auf die innere Reichsgründung751, die Vergemeinschaftung der Deutschen in Deutschland, andererseits. Vorbereitet wird der Zusammenhang von Kolonisation und innerer Reichsgründung in der weltanschaulich-konservativen Kulturkritik des 19. Jahrhunderts, etwa bei Paul de Lagardes Indienstnahme des Grenzkolonialismus für die innere Reichsgründung, die nationale Vergemeinschaftung. Im kolonialen Kriegsroman wird dieser Zusammenhang systematisch entfaltet und der Krieg für die nationale ReVergemeinschaftung in Dienst genommen. So soll bereits dieser Krieg Gesellschaft in Gemeinschaft rückverwandeln: Wenn ich hundert Jahre alt werde, so vergesse ich doch niemals diese nächtliche Stunde, als Tausende von Menschen mit uns zogen und in unsere Sektionen drangen, uns anriefen, grüßten und winkten, und Blumen auf uns warfen und unsere Gewehre trugen und uns zum Bahnhof brachten. Der Platz vor dem Bahnhof war schwarz von Menschen.752

Was sich wie eine Beschreibung aus dem Jahr 1914 liest, wurde knapp zehn Jahre zuvor verfasst; nicht in den Weltkrieg, sondern in den Kolonialkrieg in DeutschSüdwestafrika zieht der Protagonist. Die Beschreibung entstammt dem wohl 749 Schöning, Matthias: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–33. Göttingen 2009, S. 7. Schöning arbeitet die Geschichte des Deutungsmusters der »Ideen von 1914« heraus und verfolgt ihre Entwicklung über verschiedene Bruchstellen hinweg von den frühesten Äußerungen Intellektueller über eine Radikalisierung nach den ersten beiden Kriegsjahren bis in die Weimarer Republik und den Kriegsroman. 750 Ebd., S. 7. Der Unterschied zu den »Ideen von 1914« ist dabei nur ein gradueller – viele der Ideen von 1914 führen hier ein Vorleben. 751 Medardus Brehl hat auf den Zusammenhang von innerer Einigung und Kolonialkrieg hingewiesen: »Erst im Kampf gegen die feindlichen Eingeborenen wird schließlich diese Zersplitterung der deutschen Nation – zumindest im kolonialen Raum – überwunden. Dem Krieg mit den ›Eingeborenen‹, der in den Texten gemeinhin als unvermeidlicher ›Rassenkampf‹ geschildert wird und der somit als welthistorische Notwendigkeit erscheint, wird also, im zeitgenössischen Diskurs über kollektive Identität in Deutschland durchaus konventionell, eine sozialintegrative Kraft zugeschrieben«, so Brehl (Brehl: Vernichtung der Herero, S. 188). 752 Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 9.

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auflagenstärksten, sicher bekanntesten Überseeroman der Zeit, Gustav Frenssens »Peter Moors Fahrt nach Südwest«. Die literarische Beschreibung des Januars 1904 nimmt in einem zentralen Aspekt das sogenannte Augusterlebnis vorweg: Die Leistung des Kolonialkrieges ist die, die deutsche Gesellschaft in Gemeinschaft zurück zu überführen. Voraussetzung für die Vergemeinschaftung der Deutschen im ›Januarerlebnis‹ ist auch hier zunächst die grundlegende Differenzkonstruktion von Eigenem und Fremdem: Angesichts der Bedrohung von außen rücken die Deutschen wieder zur Gemeinschaft zusammen, verteidigen die Soldaten in Übersee Deutschland und die Deutschen. In »Peter Moors Fahrt nach Südwest« etwa werden die Koordinaten für die Deutung des Kriegs als Motor der Inneren Reichsgründung bereits auf den ersten Seiten des Textes abgesteckt: Suggeriert wird zunächst ein Angriff auf die deutsche Nation und die Notwendigkeit ihrer Verteidigung in Afrika. Abgrenzung nach außen und Einigung nach innen sind dabei konstitutiv aufeinander bezogen: »Sind diese Ermordeten deutsche Menschen?« »Natürlich,« sagte er : »Schlesier und Bayern und aus allen andern deutschen Stämmen, und auch drei oder vier Holsteiner. Und nun, was meinst Du, wir vom Seebataillon…« Da erkannte ich plötzlich in seinen Augen, was er sagen wollte. »Wir müssen hin!« sagte ich753,

»um an einem wilden Heidenvolk vergossenes deutsches Blut zu rächen.«754 Der Krieg gegen die Herero wird zum einheitsstiftenden Moment für die Nation: »Der wirklich großdenkende Mensch erstarkt im Kampf, ein nationaler Krieg hebt das Volksbewußtsein, vereinigt alle Klassen der Bevölkerung«755. Das nationale Gemeinschaftserlebnis wird bei Frenssen jedoch nur wenig später relativiert, wenn im Vergleich mit England – wohlgemerkt eine der größten Kolonialmächte der Zeit – die Uneinigkeit der Deutschen herausgestellt und beklagt wird: »Wir Seeleute denken anders über die Engländer, als die Menschen drinnen im Lande: Wir treffen sie in allen Häfen der Erde und wissen, daß sie von allen die respektabelsten Leute sind. Da hinter den großen Kreidefelsen wohnt doch das erste Volk der Erde, vornehm, weltklug, tapfer, einig [sic!] und reich. Wir aber? Eine einzige ihrer Eigenschaften haben wir von alters her : die Tapferkeit. Eine andere gewinnen wir langsam: den Reichtum. Ob wir den Rest jemals bekommen: das ist unsre Lebensfrage.«756

Vor diesem Hintergrund wird dann der koloniale Krieg für die Innere Reichsgründung in den Dienst genommen: Die Frage der inneren nationalen Einheit erhält den Status einer nationalen Lebensfrage; die koloniale Thematik im All753 754 755 756

Ebd., S. 6. Ebd., S. 6. Holm: Pioniere, S. 267. Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 14.

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gemeinen wie der Kolonialkrieg und die Verteidigung Deutschlands in DeutschSüdwestafrika im Besonderen werden in den Dienst der zu leistenden Inneren Reichsgründung gestellt. Gemeinschaft bedeutet folglich auch im Kriegsroman Gemeinschaft der Soldaten und Gemeinschaft der Deutschen in der Kolonie. Diese Gemeinschaft intensiviert sich zum einen angesichts des gemeinsamen Feindes: »›[…] Alle Streitereien mögen nach dem Orlog ausgetragen werden. Für uns ist jetzt dort der gemeinsame Feind!‹ Er deutete nach Osten, den Onjatibergen zu. ›Dort sitzen die Mörder unserer Ansiedler. Bedenken Sie das! […]‹«757 Zum anderen wird soldatische Gemeinschaft über das gemeinsame Leben, Erleben und Erdulden der Strapazen dieses Kolonialkrieges hergestellt. Es kann in diesem Zusammenhang als paradigmatisch angesehen werden, dass Frenssen »Peter Moors Fahrt nach Südwest« fast vollständig im kollektiven »Wir« gehalten ist: Viele von uns kauerten schlaftrunken, andere standen, andere saßen auf dem Wagenrand; jeder hatte seine weiße Wolldecke um sich gelegt. Wir sagten nicht viel. Viele waren wohl mit ihren Gedanken zu Hause, oder sahen sich heimkommen und von allen geschauten Wundern fröhlich erzählen. […] Wir fuhren auch noch den größten Teil des anderen Tages, der wieder sehr heiß und sonnig war, in den Tälern des schrecklichen, kahlen Gebirges. Da wir meinten, daß wir unsere Wassersäcke an einer der nächsten Stationen wieder füllen könnten, tranken wir bis sie fast leer waren. Als wir aber dann am Mittag wirklich an einer Station hielten und die Maschine Wasser bekam und wir uns auch nehmen durften, konnten wir es nicht trinken, weil es widerlich salzig war.758

Der Text ließe sich beliebig weiter zitieren. Auf diese Weise wird auf der sprachlichen Ebene soldatische Gemeinschaft vermittelt. Zugleich konstituiert sich auch die Einheit, mithin Gemeinschaft, der deutschen »Stämme« über den gemeinsamen Feind – ohne dabei die Differenz vollständig aufzugeben: Dann schrieb er eine Postkarte an seine Frau und Kinder, und wir alle mußten unterschreiben: ein Leineweber aus Oberschlesien, ein Schornsteinfeger aus Berlin, ein Knecht aus Oldenburg, ein Graf aus Bayern, ein Schlossergeselle aus Holstein und andere.759

Deutlich wird zum einen die Gemeinschaft der Soldaten, die Gleichheit der unterschiedlichen Stände und Berufsstände, zugleich bleibt aber – und hier deckt sich das Ideal erneut mit der weltanschaulich-konservativen Kulturkritik – trotz nationaler Gemeinschaft die Differenz der »Stämme« bestehen. Im Übrigen weist bereits die Deutung dieses Krieges ein kathartisches Moment in Bezug auf die Gemeinschaft auf – hierauf wird zurückzukommen sein. 757 Steffen: Im Orlog, S. 151, Hervorhebung im Original. 758 Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 38/39. 759 Ebd., S. 180.

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Eng mit der kulturkritischen Beobachtung und Beschreibung des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses und dem daraus resultierenden Alternativentwurf in der Kolonie ist weiterhin die Vorstellung einer auch ökonomischen Regeneration in der Kolonie verbunden. Diese richtet sich – und insofern stehen diese Texte grundsätzlich anders zur ökonomischen Moderne als die Handelsromane Christian Benkards – zum einen wesentlich gegen die moderne Geldwirtschaft, zum anderen wird die Vorstellung einer (wieder) wesentlich auf dem Agrarsektor ruhenden Volkswirtschaft formuliert. Johannes Doses Roman »Ein alter Afrikaner« etwa zeichnet sich zunächst durch eine auf Figurenebene formulierte kritische Haltung gegenüber dem europäischen Wirtschaftssystem im Allgemeinen und den Börsen im Speziellen aus: »Es ist ja mein altes, unseliges Laster, daß ich dumme Witze und bösartige Bemerkungen mir nicht verkneifen kann… auch fuchst es mich, daß ich nicht, sondern ein Grünhorn den grandiosen Gedanken gebar. Die Idee nehme ich sehr ernst und werden wir sehr energisch ausführen. Wir beide gründen eine Gesellschaft mit beschränktem Horizont oder noch besser eine Kompagnie mit einem stockenglischen Namen, was den dummen Deutschen am meisten imponiert, wir gründen die Maneater-salt-compagnie, und jeder Sozius zahlt zwanzigtausend Rupien als Stammkapital ein.« »Au, ich hab keine tausend und kann mich nicht beteiligen.« »Doch! Deine Idee wird als Sacheinlage mit 19500 Rupien bewertet. Wir machen es wie die korrekten und ehrlichen Aktiengesellschaften.«760

Hinter der ins Lächerliche gezogenen Beschreibung des Börsenhandels steht die Überzeugung, dass Geld im Gegensatz zu immateriellen Werten (Ideen ebenso wie etwa Erfahrung und Willenskraft), die an den ›ganzen Menschen‹ gebunden sind, keinen eigentlichen, sondern nur einen scheinbaren Wert darstellen. Aus diesem Grund ist das Verhältnis nicht nur zu europäischen Aktiengesellschaften, sondern auch zu Banken und Geld sowohl des ›alten Afrikaners‹ Jobst als auch seines Neffen distanziert. Der ›alte Afrikaner‹ etwa trägt sein gesamtes Barvermögen – »wohl zwanzig bis dreißigtausend Rupien«761 – in einer Büchse am eigenen Körper : »›Du wirst mich doch nicht draußen in der Wildnis abmucksen… ich lasse sonst keinen einen Blick in meine Bank tun… zu viele Spitzbuben, Diebe und Hochstapler laufen in Afrika herum.‹«762 Selbiger rechnet zu Beginn des Salzgeschäftes seinem Neffen, der Bedenken darüber äußert, dass das Geschäft fast vollständig vom Onkel finanziert wird, Geld gegen immaterielle Dinge auf:

760 Dose: Ein alter Afrikaner, S. 198. 761 Ebd., S. 55. 762 Ebd., S. 55.

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»Du hättest deine guten Sitten und deine moralische Entrüstung in Deutschland lassen sollen… du wirst es in der Welt nicht weit bringen mit so schlechten Grundsätzen. Weißt du, ob wir einen Heller gewinnen oder alles, sogar das Leben, verlieren? Es ist ein ungeheuer riskantes Geschäft, du Grünhorn, nicht das bißchen Geld, sondern Kraft, Courage, Schießenkönnen ist die Haupteinlage… es geht auf Halbpart.«763

Dass diese Rechnung aufgeht, der Wert von Geld vom Protagonisten also weit überschätzt wird, muss dieser am eigenen Leib erfahren; am Ende einer Expedition auf Leben und Tod steht die Erkenntnis: »›Was ist mir das Geld? Afrika gab mir ein anderes Gut… ich habe einen wahren, zwar etwas wunderlichen, guten, edlen Vater gefunden… und ich habe Gott gesehen und gefunden in dieser Schreckensnacht.‹«764 Die wertende Beobachtung der ökonomischen Moderne verdichtet sich schließlich in der Ablehnung des Wirtschaftssystems Amerikas – ein Land, das für die Reinform des als solchen negativ konnotierten Kapitalismus steht: »›Wohin? Nach Amerika, der großen Abhubtonne für alle unsauberen Elemente Europas? Nein, das gemütlose Land, wo der allmächtige Dollar als Tyrann regiert, hat mir nie gefallen… ich möchte in Ostafrika mein Glück versuchen.‹«765 Der Roman stellt einer den USA zugeschriebenen ökonomischen Moderne mit zweckrationalem und kaltem Denken, dessen einziger Wert das Geld ist, einen afrikanischen ›Haudegen‹-Handel, der Ellenbogenfreiheit bietet und bei dem Geld nur eine neben- wenn nicht untergeordnete Rolle spielt, gegenüber. Die Kolonie ist vor diesem Hintergrund dann ein Ort, an dem fernab des kapitalistischen Wirtschaftssystems Handel noch unabhängig von den Regularien des ausdifferenzierten Wirtschaftssystems möglich ist und man es – angesichts der Ablehnung des Kapitalismus ist dies mehr als paradox – zu einem Vermögen bringen kann. Zu einem Vermögen bringen es diese Personen aber vor allem deshalb, weil das Wirtschaftssystem der Kolonie ebenso wie die Kolonie selbst ein Raum der »Ellbogenfreiheit«766 gegenüber der »stickigen Enge«767 Europas ist: So hat es etwa der Onkel des Protagonisten zu der »gute[n], goldene[n], ja diamantene[n] Zeit der Händler und Südafrikas«768 zu einem Vermögen gebracht; in Ostafrika beginnen Onkel und Neffe ein extrem rentables Geschäft mit dem Salz: »Erb zeigte mit dem Instinkt des Kaufmanns ein ungemein lebhaftes Interesse für die Salzquellen, und der Onkel gab ihm viel Aufschlüsse.«769 Ist also in Benkards Romanen die Kolonie als Faktor innerhalb der ökonomischen Moderne, die als internationales Netzwerk beschrieben wird, 763 764 765 766 767 768 769

Ebd., S. 221/222. Ebd., S. 335. Ebd., S. 35/36. Ebd., S. 380. Ebd., S. 380. Ebd., S. 121. Ebd., S. 197.

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interessant, ist es in »Ein alter Afrikaner« gerade der Rückzug vom europäischen überregulierten Wirtschaftssystem, das den Wirtschaftsort Kolonie attraktiv und für den je einzelnen rentabel macht. Doses Roman ist kein reiner Handelsroman: Er durchläuft im Laufe der Erzählung alle Phasen der Kolonialisierung, von der Entdeckung und Eroberung (Pfadfinder-Safari/Expedition zu Beginn) über den Aufbau einer Handelsgenossenschaft und die Durchführung einer Handels-Safari (beide Phasen sind in Ostafrika situiert), schließlich die Verteidigung der deutschen Gebiete gegen Aufstände der einheimischen Bevölkerung (Herero-Aufstand 1904 in DeutschSüdwestafrika) und die Gründung einer Farm in Süd-West – der Roman endet also in der Überführung in die Siedlungsphase. Als das Diamantenfieber bei Lüderitzbucht ausbrach und bald in der ganzen Kolonie grassierte, wurde Erbenheim auch von der Krankheit angesteckt und zog mit Ochsenwagen, Schürfgerät, Wassersäcken und närrischer Hoffnung in die Namib hinein. Er kehrte aber bald recht kleinlaut zurück und sagte offen allen, die es hören wollten: »Nicht die Blendsteine im Wüstensand, sondern das blinkende Wasser und die grünende Weide sind Südwestafrikas Reichtum, Schatz und Zukunft.«770

Der Roman mündet im (vormodernen) Ideal des Kleinbauerntums, in einem antikapitalistisch ausgerichteten Siedlungsplädoyer, das dem zweckrationalen und kalten Kapitalismus diametral entgegengestellt wird. Es wird damit ein Wirtschaftsmodell angedeutet, das in der Kolonie (noch) möglich ist, wie es in der Siedlungsliteratur systematisch entfaltet wird. Der Siedlungsroman, hier am Beispiel von Orla Holms »Pioniere« exemplarisch dargelegt, gestaltet dann den (Wieder)Aufbau eines solchen Wirtschaftssystems, dessen Grundpfeiler die mehr oder weniger autarke Farm ist, die zwar ihrerseits in ein Handelsnetz eingebunden ist, das aber ebenfalls an vormodernen Handelsformen orientiert ist, narrativ aus. Für die Beobachtung und Beschreibung des ökonomischen Modernisierungsprozesses771 sind auch hier zunächst vor allem die Diskursfigur des Erbhof-Verlustes einerseits und die der modernen Großstadt als Ort und Figuration moderner Wirtschafts- und Sozialformen andererseits konstitutiv. Auch zur Beschreibung ökonomischer Modernisierung bedient sich die Siedlungsliteratur üblicherweise eines Verlustnarrativs: Das Kleinbauerntum wird als primäre Stütze der Volkswirtschaft idealisiert, zugleich aber der Vormoderne zugeschrieben und sein Untergang 770 Ebd., S. 449/450. 771 Vgl. hierzu schon Benninghoff-Lühl, die darauf hingewiesen hat, dass Frieda von Bülow in »den neuen Wirtschaftsmethoden […] ebenso wie viele Gebildete ihrer Zeit zersetzende Kräfte [vermutete], die ihre eigene Klasse, die Aristokratie, erreicht und z. T. zur Auswanderung gezwungen hatten, die zugleich aber auch das Lebensgefühl der gesamten abendländischen Gesellschaft bedrohten.« (Benninghoff-Lühl: Deutsche Kolonialromane 1884–1914 in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang, S. 149).

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erzählt; die ökonomische Moderne, die genauer industrielle Produktion einerseits und moderne Geldwirtschaft andererseits umfasst, ist dagegen sowohl in Bezug auf ihre Schuldhaftigkeit am Verlust des idealisierten Kleinbauerntums als auch in Bezug auf sich selbst und ihre negativen Begleiterscheinungen, die sich im Schlagwort der ›sozialen Frage‹ verdichten, negativ konnotiert. Auch dieses Verlustnarrativ teilt die Überseeliteratur zunächst mit dem Naturalismus. Anders als der Naturalismus setzt die Überseeliteratur diesem dann auch mit Blick auf die wirtschaftliche Dimension der Modernisierung ein Narrativ des (Wieder)Aufbaus einer anderen Wirtschaftsform, genauer einer primär auf Landwirtschaft basierenden Volkswirtschaft mit Handel im kleinen Stil, bereinigt von den großen Geldspekulationen, entgegen. Holms Familie Hardt baut nach dem Verlust ihres Traditionshofes an die ökonomische Moderne einen neuen Hof in Deutsch-Südwestafrika auf: Tom erging sich vor dem Einschlafen in kühnen Plänen. Seine Phantasie verwandelte das kahle Gebiet in einen blühenden Garten; er sah bereits ein freundliches Haus, umgeben von hohen Bananenstauden, vor sich, linkerseits sollte eine feste Kakteenhecke den Hühnerhof abgrenzen und gegen das Flußbett zu würden Mais und Kaffernkorn angebaut werden und prächtig gedeihen.772

Analog funktioniert der Aufbau der Farm in »Heddas Lehrzeit in Südwest«. Der Rückgriff auf eine traditionelle Gesellschaftsordnung und die Verbindung von Landwirtschaft und Kriegsführung zeigt sich im Übrigen auch in der sprachlichen Gestaltung der Werke: Die eingestreuten Vokabeln für längst veraltete Produktionshilfen wie »Pflug« und »Schwert« (anstelle von Dynamit und Maschinengewehr) sind keine lyrischen Finessen. Sie umschreiben in Reaktion auf bedrohlich empfundene Auswüchse der in Deutschland einsetzenden Verstädterung und Entfremdung der Menschen voneinander ein Bedürfnis nach Wiederbelebung alter Werte. Vor dem Hintergrund der Erfahrung einer zerstörten Industrielandschaft erholen sich die Verfasser in schwärmerisch-lyrischen Ergüssen über die Schönheit von Panoramen, die sich angeblich dem Kolonistenauge auftun.773

Es ist insofern der im Wesentlichen autarke Hof, der im Kern des Wirtschaftsmodells des kolonialen Siedlungsromans steht, der zugleich das präferierte Wirtschaftssystem einer wesentlich auf dem landwirtschaftlichen Sektor ru772 Holm: Pioniere, S. 13/14. 773 Benninghoff-Lühl: Deutsche Kolonialromane 1884–1914 in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang, S. 167. – Die Protagonisten in »Heim Neuland« etwa treten am Ende des Romans zum zweiten Mal »die große Reise […] nach der [afrikanischen, ASB] Heimat [an], die aufs neue gegründet werden sollte mit Pflug und Schwert […].« (Kraze: Heim Neuland, S. 334).

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henden Volkswirtschaft figuriert.774 Damit ist auch in ökonomischer Hinsicht der Gang in die Kolonie zugleich der Schritt zurück hinter die Schwelle der Moderne. Die Farmen sind nun durchaus in ein Handelsnetz eingebunden; in einem Gespräch zwischen einem ›alten Afrikaner‹, dem Händler Kurmann, und dem neu in der Kolonie eingetroffenen Penz, verdichtet sich das Wirtschaftssystem, das die Siedlungsliteratur schreibt: »Ja, Sie verstehen das noch nicht,« meinte der Kurmann. »Jetzt sieht unsereins so schnell noch kein bar Geld. Die Frachten gehen mit der Eisenbahn, und wo die aufhört, übernehmen die Stores die Weiterbeförderung. Wir aber müssen, um leben zu können, uns als Frachtfahrer bei den Stores verdingen. Dafür gibt’s als Lohn Waren, keine klingende Münze, Gott bewahre!« »Was tun Sie aber mit den Waren?« fragte Penz immer erstaunter. »Teilweise brauchen wir sie ja für uns selbst – unter Waren versteht man ja auch Getränke – teilweise aber verkaufen wir sie an die Eingeborenen weiter, und da die nur mit Vieh bezahlen, gibt’s wieder kein Geld. Wir werden halt Händler, einfache Wanderhändler.«775

Das koloniale Wirtschaftssystem umfasst zum einen die sogenannten »Stores«, Knotenpunkte des Handelsnetzwerkes, sowie zum anderen Eisenbahn, Ochsenkarren und Wanderhändler als Verbindung. Der Handel selbst ist allerdings denkbar einfach: Geld spielt grundsätzlich eine untergeordnete Rolle – moderne Geldwirtschaft und Spekulation entsprechend gar keine – in der Kolonie ist die vorherrschende Wirtschaftsform Tauschwirtschaft. Geld ist in diesen Roman überwiegend negativ konnotiert: »Die Blicke der beiden Männer kreuzten sich, dann kam Strömer näher heran, wie angezogen von einem Magnet, wie bezwungen von einer Macht, und diese Macht hieß Geld!«776 Das schnelle Geld, an das Strömer durch seine Verstrickung in den Waffenhandel mit den Engländern kommt777 (wodurch darüber hinaus der Aufstand der Herero gegen die Deutschen befördert wird) steht dem Ideal der harten778 Arbeit auf dem eigenen Hof diametral gegenüber : Und der Farmer hatte fröhlich geantwortet: »Gerade die stille, bescheidene Arbeit fördert; sie ist’s ja, die uns langsam dem Ziel entgegen führt. Wenn jeder, der seinen Sinn auf schnelles Reichwerden richtet, wüßte, wieviel Freude und Befriedigung ihm dadurch entgeht, daß er dem langsamen aber stetigen Wachsen, dem folgerichtigen 774 Die Rückkehr zu vormodernen Produktions- und Handelsformen ist zugleich eng mit der dargelegten Rückkehr zu vormodernen Sozialformen verbunden. 775 Holm: Pioniere, S. 103/104. 776 Ebd., S. 190. 777 Vgl. ebd., S. 190/191. Der positive konnotierte Protagonist Tom Hardt lehnt die Verwicklung in diese Geschäfte selbstverständlich ab: »›Ich dächte, daß wir Deutschen zu gut sein sollten, um in Diensten fremder Gelder dem eigenen Vaterland zu schaden.‹« (Ebd., S. 186). 778 Vgl. den Namen der Protagonisten »Hardt«.

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Aufbauen nicht zusehen kann, dann würd’s manch einer lassen, würd’ die Sucht nach dem, was ihm ›Groß‹ erschient, verlieren und mit dem stillen ›Kleinen‹ zufrieden sein.«779

Ähnlich ist die Konnotation des Geldes in den Romanen Frieda von Bülows780, die den positiv konnotierten vormodernen adeligen oder zumindest aristokratisch (im Sinn der Semantik weltanschaulicher Kulturkritik) gesinnten Protagonisten den Typus des modernen ökonomischen Aufsteigers gegenüber stellen. Diese seien »Auswanderer kleinbürgerlicher Herkunft, denen kein Mittel zu schlecht ist, das Land und seine Bewohner auszubeuten.«781 Sie verkörpern den unheilvollen »›[…] Krämergeist […]‹«782, es wird gegen »›[…] die Macht, die heute durch das Geld repräsentiert wird […]‹«783 gewettert. Vor diesem Hintergrund werden schließlich Handel bzw. Händler als Personalisierung des Handels überwiegend negativ gezeichnet. Holms Figur des Peter Hardt etwa weist darauf hin, dass die Erregung über die Händler bei den Herero groß sei, und unterstützt Behsens Bestrebungen, sich ein Bild über die Lage in der Kolonie zu machen784. Zugleich wird das Verhalten der Händler innerhalb der Gemeinschaft der Europäer negativ gezeichnet – ein gewisser Braster etwa, der seinerzeit bei einem Großkaufmann in Holstein gearbeitet hat, hat es in der Kolonie durch seine Gewissenlosigkeit mit dem Handel zu einem Vermögen gebracht.785 Sowohl hinsichtlich der gesellschaftlichen als auch hinsichtlich der ökonomischen Dimension beobachten und beschreiben die Texte dieser Deutungslinie den Modernisierungsprozess also als Verlust, ihr Alternativentwurf ist an der Vergangenheit als normativem Punkt orientiert. Damit stehen die Texte der Moderne grundsätzlich ablehnend gegenüber. Angestrebt wird eine an der Vormoderne orientierte Regeneration von der Moderne, die nur in der möglichst vollständigen Abkehr von derselben möglich wird. Die Kolonie wird in diesem Modell gleichermaßen zum Rückzugsort von der Moderne wie zum Ausgangspunkt dieses konservativen Gegenentwurfes. Bei aller Ablehnung moderner Wirtschaftsformen bleibt die Siedlungsliteratur dabei aber immer konstitutiv an die ökonomische Moderne gebunden insofern das Narrativ der Regeneration immer auf den Umbau des Wirtschaftssystems vom Agrar- zum 779 Ebd., S. 136/137. 780 Wolfgang Struck hat für die Texte Frieda von Bülows bereits darauf hingewiesen, dass diese eine kritische Perspektive auf bestimmte Bereiche des wilhelminischen Deutschlands entwickelt haben, darunter auch auf Kapitalismus und Wirtschaftsliberalismus (vgl. Struck: Die Eroberung der Phantasie, S. 96). 781 Benninghoff-Lühl: Deutsche Kolonialromane 1884–1914 in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusammenhang, S. 149. 782 Bülow : Tropenkoller, S. 161. 783 Ebd., S. 161. 784 Vgl. Holm: Pioniere, S. 97. 785 Vgl. ebd., S. 105.

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Industriestaat und die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen als Bezugspunkt gebunden bleibt. Erlösung in der Kolonie. Lebensreformerische Entwürfe eines Moderne-Korrektivs Es wäre nun verkürzt, den kulturkritischen Überseeroman ausschließlich als antimoderne Frontstellung zu lesen. Neben konservativen, an der Vergangenheit orientierten Entwürfen einer ›anderen‹ Moderne stehen gerade in reformorientierter Perspektive auch solche, die die Modernisierung grundsätzlich anerkennen, jedoch Fehlentwicklungen herausstellen. Ihnen dient die Kolonie sowohl gesellschaftlich als auch ökonomisch als Korrektiv einer fehlgeleiteten Moderne. Friede Krazes Roman »Heim Neuland« kann als Beispiel für die narrative Ausgestaltung des lebensreformerischen Prinzips der Gesellschaftsreform durch Selbstreform gelesen werden.786 Auch dieser Text beobachtet und beschreibt den ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozess in Europa auf einer allgemeinen Ebene zunächst als Verlust: Am Anfang steht der Verlust des Erbhofes an die Moderne. Es ist nicht zufällig die alternde, wenig später sterbende Mutter des Protagonisten, die sich an das ›Paradies‹ Annenhof erinnert: Als sie, ein kleines Ding mit Flachshaaren, noch in Westedt wohnte in der Probstei, war Annenhof mit seinen Veilchen im Frühling und Gravensteinern im Herbst ihr schon immer als Paradies erschienen. Und das Haus mit seiner kreuzgewölbten Halle und dem Riesenkamin – das konnte erzählen! Dreihundert Jahre stand es.787

Der Hof, der rückblickend als »Paradies« beschrieben wird, ist auf das Engste mit der Vorstellung von Kontinuität (300 Jahre stand der Hof) und dem Konzept Heimat verbunden. In der Gegenwart ist der Hof gleich zweifach verloren gegangen: Nicht nur musste der Sohn und Erbe Dirich Dierksen den Hof verkaufen788, darüber hinaus verliert er auch noch den gesamten Erlös durch Spekulation bei einem Berliner [sic!] Bankhaus789. Der Hof figuriert auch hier als Symbol einer vermeintlich seit Jahrhunderten währenden Beständigkeit des Kleinbauerntums, das vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Modernisierungsprozesse im 19. Jahrhundert einerseits und den damit verbundenen ge786 Bei der folgenden Darstellung zu Aspekten der Lebensreform in Friede H. Krazes Roman »Heim Neuland« handelt es sich um eine überarbeitete Version meiner Überlegungen, die unter dem Titel »Invisible (Colonial) Cities and Reformed Modernity. Some comments on the Relation between German Colonial Literature and Reform Movements around 1900« veröffentlicht wurden (vgl. Brasch: Invisible (Colonial) Cities and Reformed Modernity). 787 Kraze: Heim Neuland, S. 18. 788 Vgl. ebd., S. 13. 789 Vgl. ebd., S. 50.

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sellschaftlichen Veränderungen andererseits gefährdet ist und schlussendlich an die Moderne verloren geht. Auf den Verlust des Erbhofes in der Heimat folgen der Gang in die Kolonie und die Phase des Neuanfangs. Aufgebaut wird zunächst eine Art ›Urhütte‹, die Keimzelle und Ausgangspunkt eines Lebens im Sinne der neuen Weltanschauung ist: »Dann ging’s zum Häuschen, in dem sie wohnen sollten, bis das eigentliche Wohnhaus gebaut war. Der Fußboden lag fertig aus Lehm, Kuhdünger und Harz von Anabäumen. Lehm allein würde zu sehr stäuben. Das hatte man den Eingeborenen abgesehen.«790 Von dieser Hütte aus werden das eigentliche Wohnhaus wie auch der zu bewirtschaftende Garten aufgebaut; ihr eigener »Garten Eden«791, wie es heißt. An dieser Stelle ist die kolonialdiskursive Figur des Paradieses in Afrika in das lebensreformerische Geschichtsmodell einzuordnen: Während das alte Paradies durch den Sündenfall Moderne verloren gegangen ist, wird in Afrika ein neues Paradies aufgebaut. »Heim Neuland« liegt die Rückverfolgung wirtschaftlicher Entwicklung bis hin zu ihrem imaginierten Nullpunkt zugrunde, von dem aus dann mit dem Aufbau der Farm zugleich der Aufbau einer alternativen Wirtschaftsordnung verbunden ist. Zugleich ist der ökonomische Faktor gerade nicht ausschließlich gegenmodern zu verstehen: Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass der Roman nicht in einem einfachen Zurücktreten hinter die sozioökonomische Moderne verharrt. Ausdrücklich – und eher überraschend vor dem Hintergrund, dass er nach dem Ausbruch des Herero-Aufstandes 1904 eine Durchhalte-Rede hält – thematisiert der Protagonist Dirich Dierksen die großen Veränderungen und Umbrüche des 19. Jahrhunderts: »[Das Deutsche Reich] steht im Begriff, sich aus einem ackerbautreibenden in einen Industrie- und Handelsstaat zu entwickeln, und es weiß, daß es diese Umwandlung vollziehen muß, wenn es seine Stellung unter den führenden Mächten beibehalten will. […]«792

Der Text beobachtet und beschreibt die tiefgreifenden Umbauprozesse des Wirtschaftssystems – und akzeptiert diese vergleichbar den Handelsromanen Benkards als notwendigen Faktor der ökonomischen Modernisierung ebenso wie er diese als geschichtliche Notwendigkeit im Kampf ums Dasein der Nationen wertet. Der Umbau des Wirtschaftssystems kann vor diesem Hintergrund dann als Umbau unter lebensreformerischen Vorzeichen im Sinne eines ›bereinigten‹ Wirtschaftssystems verstanden werden: Der Text verharrt gerade nicht in der Beschreibung des Status Quo, sondern liefert einen Alternativentwurf. Gerade 790 Ebd., S. 140. 791 Ebd., S. 171. 792 Ebd., S. 291.

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dieser Roman lässt daher das Wirtschaftsmodell Hof in ein Modell des Kleinhandels ein; die Protagonisten verkaufen, was sie an Überschuss im Garten produziert haben: Förmliche Triumphe feierte der »Wecksche«! Ettas Ehrgeiz gipfelte in einer Art Konservenfabrik. Wenn auch die Gemüsepreise in den letzten Jahren heruntergegangen waren, so meinten Dierksens, in einem Lande, wo das Pfund Kartoffeln immerhin noch dreißig Pfennige kostete, müßten sich durch Gartenkultur doch nennenswerte Überschüsse ergeben.

Auffällig ist an dieser Passage zweierlei: Erstens werden sowohl mit dem Rekurs auf Konjunkturzyklen als auch mit der »Konservenfabrik« moderne Wirtschaftsformen adressiert, die – im Kleinen – positiv konnotiert sind. Und zweitens ruft die konkrete Benennung des ›Weckschen‹ Apparates den Vegetarier und Antialkoholiker Johannes Carl Weck und damit auch einen lebensreformerischen Kontext auf den Plan: Der Lebensreformer Weck wollte mit seinen Produkten unter anderem gegen den Alkoholmissbrauch praktisch zu Felde ziehen. Das Weck-Verfahren ermöglichte eine schonende, naturnahe und alkoholfreie Verarbeitung des Obstes wie sie etwa in lebensreformerischen Siedlungsgemeinschaften wie der Obstbaukolonie Eden verfolgt wurde. Die Abstinenzbewegung propagierte unter anderem Saft als Alternative zum Alkohol.793 Der Gegenentwurf, den dieser Roman schreibt, erscheint vor diesem Hintergrund dann weniger als ein Zurück-zur-Agrargemeinschaft als vielmehr als die (lebensreformerische) Suche nach einem dritten Weg im Umgang mit der Moderne. Vor diesem Hintergrund ist die prominente Rolle des Gartens im Roman auffällig: Die Protagonisten sind in Afrika beständig mit Gartenarbeit beschäftigt (vgl. schon oben die ›Gartenkultur‹ als Grundlage der Weckschen Konservenfabrik) – und nicht etwa mit Feld- oder Ackerbau. Und dann scheint durch die Beschreibung bestimmter Stadtviertel Hamburgs das sozialreformerisch motivierte Gartenstadt-Konzept durch. Der Protagonist erklärt seiner Mutter : »Wir können dann irgendwo im Grünen wohnen, damit du das Land nicht zu sehr vermissest. Es gibt so hübsche geteilte Villen. Da bist du ganz Herrin in deinem Hause

793 Vgl. zur Antialkoholbewegung den gleichnamigen Beitrag Judith Baumgartners in Kerbs, Diethart/Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880– 1933. Wuppertal 1998, S. 141–154. Der Alkoholkonsum stieg im 19. Jahrhundert aufgrund der enormen Verbilligung durch den Einsatz neuer, industrieller Herstellungsverfahren bei im Wesentlichen gleichbleibenden Reallöhnen stetig; die Jahre nach der Gründerzeit und die Jahrhundertwende gelten als weitere Höhepunkte des Alkoholmissbrauchs. Der jährliche Prokopfverbrauch von Bier lag etwa 1871 (erste verfügbare Zahl) bei 79,4 Litern, 1900 bereits bei 108 Litern (vgl. ebd., S. 153).

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wie immer, hast dein Gärtchen und frische Luft und dabei alle Bequemlichkeiten der Großstadt!«794

An dieser Stelle zeigt sich ein gegenüber einer ausschließlich negativ konnotierten Großstadt differenziertes Bild: Zwar kann die Stadt dem Landleben und der verlorenen Heimat niemals ebenbürtig sein; auch alles das, was die Großstadt an negativen Attributen trägt, ist nicht beiseite gewischt – die Probleme, die die sozioökonomische Moderne mit sich gebracht hat, bestehen zunächst weiter. Wohl aber wird mit dem sozialreformerischen Gartenstadt-Konzept ein dritter Weg aufgezeigt, ein Leben, das die Errungenschaften der Moderne partiell akzeptiert, sie aber mit einem naturnahen Leben verbindet, gewissermaßen also eine ›bessere‹, eine ›reformierte‹ Moderne im Sinne der Lebensreform ermöglicht – auch in Europa selbst. Im Übrigen lässt sich von der Lebensreform, die ihrerseits wenigstens in Teilen starke quasi-religiöse Züge aufweist795, her erklären, weshalb der Aufbau des neuen Wirtschaftssystems in »Heim Neuland« fast religiösen Charakter annimmt. Das zeigen die zahlreichen Bewährungsproben, die die Protagonisten beim Aufbau der Farm zu bestehen haben: Von einer Heuschrecken-Plage796 – die der indigenen Bevölkerung zufolge alle sieben Jahre auftritt797 – über den Ausbruch einer Lungenseuche, die das Vieh bedroht798 und die Heimsuchung der Felder von Erdmännchen und Würmern799 bis hin zur Eingliederung des Aufstandes der Herero und Nama 1904 in die Reihe der Prüfungen reicht das Spektrum. Der Aufbau des Alternativentwurfes zur gesellschaftlichen und ökonomischen Moderne, die Erlösung in der Kolonie, wird dann wesentlich über die Entwicklung der Figuren erzählt. Infolge der ›richtigen‹ Lebensweise durchläuft vor allem der Protagonist Dirich Dierksen eine Verwandlung: War er in Deutschland unter dem Einfluss der Gesellschaft ein »schlaffer, haltloser Mann, schwerfällig vor der Zeit, ohne Willen zur Tat«800, lernt er in der Kolonie in einem ersten Schritt – wohlgemerkt unter Anleitung seiner Frau – Autorität über seine Frau zu erlangen. »›Was meinst du, Etta?‹ ›Ich möchte, du entschiedest zuerst, Dirich.‹«801 In der Kolonie erstarkt er in der Folge sowohl körperlich als auch in Bezug auf seinen Willen: »›Hermes Dierksen!‹ Schlank und hoch wie damals, da 794 Kraze: Heim Neuland, S. 17/18. 795 Vgl. zur Transformation des Erlösungsbegriffs im Verlauf des 19. Jahrhunderts sowie zur ersatzreligiösen Struktur insbesondere der Lebensreform Abschnitt III.1 »Kulturkritik. Vorbemerkungen zu Geschichte und Konzeptualisierung eines Beobachtungsmodus der Moderne (und ihrer Alternativen)«. 796 Kraze: Heim Neuland, S. 158. 797 Ebd., S. 158. 798 Ebd., S. 170. 799 Ebd., S. 200. 800 Ebd., S. 16. 801 Ebd., S. 95.

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er den Namen erhielt, stand er neben ihr. Aber etwas war hinzugekommen, besser als die Schönheit, das war die ruhige Zuversicht, die stolze Kraft des Mannes, der sich selbst gefunden hatte«802, stellt die Protagonistin fest, und: »Wie war er ihr Herr und Hort geworden, der träge Knabe von einst, dem sie ihr Herz in süßem Mitleid gegeben!«803 Das Korrektiv Kolonie, das zunächst auf die allgemeine Ebene des sozialen Zusammenlebens und der ökonomischen Grundlagen der Gemeinschaft abzielt, hat Auswirkungen auf das einzelne Individuum: Einmal auf ›gesunde‹ Grundlagen gestellt, erstarkt das Individuum körperlich und willentlich wieder, findet zu alter Form zurück – auch hier kommt der Kolonie also eine therapeutische Wirkung in Bezug auf das Kranken an der Moderne zu. Nachdem die Protagonisten ihre persönliche Erlösung in der Kolonie gefunden haben, nehmen sie dann Menschen aus ihrem Umfeld, die ihrerseits etwa dem Alkohol oder hochgradig nervösen Großstadt-Damen verfallen sind, unter ihre Fittiche. Dies ist zunächst der Jugendfreund Chrischan Möller : Sie pflegen nicht nur den infolge falschen Lebenswandels geschwächten und an Fieber leidenden alten Freund gesund804, sie führen ihn zugleich an eine andere, an ihre Lebensweise heran: »Die Arbeit und die Verantwortlichkeit bekam ihm ausgezeichnet, und nichts mehr als ein zeitweiliges Zittern der Hände erinnerte an den verlotterten Strolch, der vor acht Monaten einen Band Reuter bei Dierksens verlangt hatte.«805 Mit dem Alkoholismus ist – an dieser Stelle nicht mehr nur implizit wie über die Adressierung des ›Weckschen‹ Apparats, sondern nun explizit – ein weiteres Problem aufgerufen, das nicht nur in den größeren Kontext der sozialen Frage gehört, sondern dem die Lebensreform mit der AntiAlkoholbewegung den Kampf angesagt hat. Abstrahiert man an dieser Stelle von der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung der Beziehung zwischen den drei Personen, so ergibt sich folgendes Bild: Der Roman führt dem Leser letztlich genau das vor Augen, was nach Krabbe806 als Grundprinzip der Lebensreform identifiziert werden kann: Lebensreform will Gesellschaftsveränderung durch Selbstreform; es handelt es sich letztlich um die Privatisierung der sozialen Frage.807 Auf den Roman bezogen bedeutet dies: Nachdem die Protagonisten im Roman in ›Selbstreform‹ das naturnahe Leben einer ›besseren‹ Moderne in der Kolonie umgesetzt haben, zieht die Selbstreform ihre Kreise. Afrika wird so zu dem Ort, an dem und von dem aus die 802 803 804 805 806

Ebd., S. 139. Ebd., S. 268. Vgl. ebd., S. 120. Ebd., S. 138. Vgl. Krabbe: Lebensreform/Selbstreform sowie Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. 807 Vgl. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, S. 15.

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Gesellschaftsveränderung ihren Ausgangspunkt nimmt. Die Kolonie ist das »Land der Zukunft«808 (der Titel »Heim Neuland« ist auch hier Programm) in dem für und wider die sozioökonomische Moderne experimentiert werden kann – und wird als solches auch im Roman selbst bestimmt: »Experimentieren könnte da einer und wahrscheinlich oft genug danebenhauen.«809 Es ist mit Theodor Hertzka ein Österreicher, der in seiner Freiland-Utopie den raumutopischen Charakter für die Korrektur einer fehlgeleiteten ökonomischen Moderne in Gänze ausreizt und den afrikanischen Kontinent für seine unter anderem von der Lebensreform beeinflusste Wirtschaftsutopie nutzt.810 Auf die ökonomischen Aspekte seines Alternativentwurfes wurde bereits ausführlich eingegangen; an dieser Stelle sollen nun literarische Form und Strategie des Textes – allen ästhetischen Schwächen zum Trotz – noch einmal genauer in den Blick genommen werden. Damit die ›Kolonie‹ zum Ausgangspunkt einer Korrektur des modernen Wirtschaftssystems werden kann, verschränkt Hertzka Kolonial- und Wirtschaftsdiskurs zu einer Wirtschaftsutopie. Dafür greift er – zu einer Zeit, zu der die Zeitutopie längst etabliert ist811 – zunächst auf den raumutopischen Gehalt der ›Kolonie‹ zurück und entwickelt die Raum- dann zur Zeitutopie weiter. Der Text schließt hierfür an die klassischen kolonialdiskursiven Figuren812 des her808 Vgl. beispielsweise Kraze: Heim Neuland, S. 66. 809 Ebd., S. 66. 810 Die – überschaubare – Forschung zu Hertzkas Freiland-Roman hat darauf hingewiesen, dass Hertzka an koloniale Bestrebungen der Zeit anknüpft (vgl. exemplarisch Rosner, Peter : Theodor Hertzka and the utopia of »Freiland«, hier insb. S. 116ff.); eine systematische Aufarbeitung der Verschränkung von Kolonialdiskurs und Wirtschaftsutopie unter dem Aspekt der Funktion des Kolonie-Begriffes für den Entwurf fehlt allerdings bis heute. 811 Hertzkas Freiland-Utopie erscheint ungefähr zur selben Zeit wie Bellamys »Looking Backward« und Morris »News from Nowhere«. 812 Die Verschränkung von Wirtschaftsutopie und Kolonialdiskurs erschöpft sich dabei nicht im raumutopischen Gehalt des Kolonialdiskurses; vielmehr findet eine Reihe typischer diskursiver Figuren des machtpolitischen Kolonialdiskurses Eingang in die Wirtschaftsutopie. Das fängt bei der Darstellung der einheimischen Bevölkerung als schutzbedürftig und auf der Entwicklungsstufe unterhalb der der Europäer stehend an: »Es hielt […] schwer, in dieser entzückt durcheinander schwatzenden und wogenden Masse Ordnung zu halten« (Hertzka: Freiland, S. 57); »Wegen Verteilung der Letzteren entstand zwar eine ausgiebige Balgerei unter unseren zukünftigen Freunden, als aber diese glücklich ohne ernsten Unfall vorüber war, ging es an Beteuerungen überschwänglicher Zärtlichkeit und Dienstbeflissenheit uns gegenüber.« (Ebd., S. 72) In engem Zusammenhang mit der Schutzbedürftigkeit der Bevölkerung steht ferner die Diskursfigur der nicht-Kultivierung des fruchtbaren Bodens: »Das Land scheint von großer natürlicher Fruchtbarkeit zu sein, ist aber gerade an seinen besten Stellen unangebaut und verlassen, da die Bewohner der unablässigen Einfälle der Massai halber sich aus ihren unzugänglichen Dschungeldickichten kaum hervorwagten.« (Ebd., S. 36) Die Verschränkung der Wirtschaftsutopie mit dem Kolonialdiskurs zeigt sich dann in der Darstellung des Verhältnisses der vorausgeschickten Expedition zur indigenen Bevölkerung – sie tauscht »reiche Geschenke und

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renlosen und fruchtbaren Landes813 auf dem afrikanischen Kontinent an, »›[d]essen centrales Innere […] der Hauptsache nach herrenlos [ist], dort finden wir nicht bloß schrankenlosen Raum und ungestörte Ruhe zur Entfaltung, sondern, bei richtiger Wahl, auch die denkbar günstigsten Verhältnisse des Klimas und der Bodenbeschaffenheit. […]‹«814 Diese diskursiven Figuren werden dann – und zwar expliziter als im deutschen Überseeroman – mit der Raumutopie verschränkt. Der Text ist zunächst nach der klassischen kolonialen Raumordnung (altes Europa – afrikanische Küste – Landesinneres815) organisiert. Damit ist zugleich der Übergang zur Raumutopie markiert, den Hertzka gegenüber dem deutschen Überseeroman stärker ausreizt, indem er an klassische raumutopische Erzählmuster anschließt816. Die »Pfadfinder« der Vorhut müssen zunächst auf beschwerlichem Weg durch Wüste und Dürre, durch Steinfelder und Dornendickicht gehen817, bevor sie auf das Paradies treffen. Ebenso gehört es zu den klassischen Mitteln der Raumutopie, dass bei der Ankunft zunächst dichter Nebel herrscht818, bevor die Vorhut das ›Land der Verheißung‹ erblickt, das »schöner, herrlicher [ist], als wir zu träumen gewagt,

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schlo[ss] Freundschaftsbündnisse« (ebd., S. 52), die der indigenen Bevölkerung Schutz gegen fremde Angriffe gewährleisten sollen (vgl. ebd., S. 60). Die Darstellung der Reaktion der einheimischen Afrikaner folgt ferner der kolonialdiskursiven Figur der Dankbarkeit und Treue gegenüber dem weißen Mann – junge Krieger streiten sich »um die Ehre […], uns dienlich zu sein« (ebd., S. 61). Schließlich sind die klassische Dichotomie des unzivilisierten Afrikas in Abgrenzung zu »unserer civilisierten Heimat« (ebd., S. 61/62) und die für den Kolonialdiskurs typische Wahrnehmung des afrikanischen Landes als Paradies und Schlaraffenland (»Wir schwammen förmlich in Milch, Honig, Butter, allerlei Fleisch- und Geflügelsorten, Mtamakuchen, Bananen, süßen Kartoffeln, Yams und einer großen Auswahl sehr wohlschmeckender Früchte.« [Ebd., S. 73]) Voraussetzung für die Etablierung der Kolonie als Wirtschaftsutopie. Die Liste der Beispiele klassischer kolonialer Diskursfiguren könnte hier beliebig weitergeführt werden; es sollte an dieser Stelle aber deutlich geworden sein, wie der Text an den Kolonialdiskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts anschließt. Vgl. ebd., S. 3. Vgl. ebd., S. 8. Der Text selbst zeigt im Übrigen, dass es sich keinesfalls um nicht besiedelten Raum handelt – so wird von Anbeginn darauf geachtet, dass die vorausgeschickten »Pfadfinder« (ebd., S. 9) »nicht zu schwach sein [durften], da gerade jener Volksstamm, inmitten dessen wir uns niederzulassen beabsichtigten – die zwischen dem Kilima und Kenia nomadisierenden Massai –, der kriegerischeste von allen des äquatorialen Afrika ist und ihm nur durch kräftiges, machtvolles Auftreten imponiert werden kann.« (Ebd., S. 13). Vgl. etwa ebd., S. 28. Richard Saage hat darauf verwiesen, dass »in diesem Roman das gesamte utopische Szenario beschrieben wird, wie es seit Morus’ Schrift Schule gemacht hat: Es reicht von der Sozialkritik über die Schilderung und Begründung des ökonomischen und politischen Systems bis hin zum Geltungsanspruch dieses fiktiven Gesellschaftsmodells« (Saage: Utopische Profile, Band III: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert, S. 186) und dass der Text »das alte Ideal einer konfliktfreien Gesellschaft« erneuere (ebd., S. 193). Vgl. Hertzka: Freiland, S. 43. Ebd., S. 78.

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die Wiege einer beglückenden Zukunft für uns und, wenn unser Hoffen und Wollen nicht eitel ist, noch für die späteren Geschlechter«819. Der Einsatz des Textes mit einer Raumutopie hat zwei entscheidende Vorteile: Erstens ermöglicht die Raumutopie zur Jetzt-Zeit einen Nullpunkt, von dem aus man ohne Rücksichten auf vorhandene Institutionen etc. ein Gemeinwesen und ein Wirtschaftssystem frei aufbauen kann. Und zweitens ermöglicht die Tatsache, dass der Aufbau des Wirtschaftssystems in der Jetzt-Zeit bei Null beginnt, zugleich, die einzelnen Phasen der hypothetisch in die Zukunft projizierten Entwicklung, des Aufbaus eines idealen Gemeinwesens mit seiner politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verfasstheit, zu schildern – was zugleich eine potentielle Umsetzbarkeit suggeriert: Freiland stellt ja inhaltlich zusammengefasst nichts anderes als die positive Wendung und Projektion einer Fortentwicklung der Industrialisierung in der Zukunft dar. Damit ist zugleich der Übergang zur Zeitutopie markiert. Ausgehend von der raumutopischen terra incognita wird die Entwicklung des idealen Gemeinwesens in die Zukunft projiziert: »Abermals sind zwanzig Jahre verflossen, fünfundzwanzig Jahre, seitdem unsere Pfadfinder den Kenia erreichten«, heißt es zu Beginn des dritten Buches.820 Zielpunkt der Entwicklung Freilands ist dann ein im Gleichgewicht befindliches Wirtschaftssystem auf der Grundlage der skizzierten Reformen. Voraussetzung ist allerdings, dass eine »hohe Stufe der Produktivität der Arbeit«821 erreicht ist – solange dies nicht der Fall ist, nimmt Hertzka eine Übergangsordnung an, die durchaus noch Eingriffe in die Associationen und das Führungsprinzip kennt. Während der Phase der Gründung und Konsolidierung des Gemeinwesens kann es insofern noch zu Störungen im System kommen. Die Wahrnehmung dieser ersten Phase als »Stadium der Kindheit«822 verweist darauf, dass das Wirtschaftssystem und seine Entwicklung einer biologistischen Deutung unterzogen werden: Die Zeitutopie wird sozialdarwinistisch fundiert. Die Evolutionstheorie ermöglicht im 19. Jahrhundert nicht nur den Blick in die Vergangenheit der Menschheit und seine niedrigeren Stufen der Entwicklung – so wird wie dargelegt die afrikanische Bevölkerung als auf der Kindheitsstufe der Menschheitsentwicklung stehend wahrgenommen – sondern umgekehrt auch den Blick in eine potentielle Zukunft, in die künftige Weiterentwicklung des Menschengeschlechts: »Aus der Evolutionstheorie wird nicht nur die un819 Ebd., S. 79. 820 Ebd., S. 261. 821 Ebd., S. 157. Vgl. daneben ebd., S. 408, wo die Ausrüstung der Arbeitskräfte, welche auf der Grundlage wissenschaftlicher und technischer Errungenschaften der europäischen überlegen ist und somit trotz weniger Arbeit eine höhere Produktivität ermöglicht, als der fundamentale Unterschied zum europäischen Kapitalismus bestimmt wird. 822 Ebd., S. 410.

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spezifische Erwartung abgeleitet, daß Zukunft anders, sondern noch besser und schöner sein werde als die Gegenwart, die ihrerseits gegenüber der Vergangenheit einen markanten Fortschritt repräsentiert.«823 Damit kann die Evolutionstheorie zugleich zur wissenschaftlichen Grundlage der Zeitutopie werden.824 Hertzkas Freiland-Utopie schließt hieran an: Er deutet die Entwicklung der Menschheit (und ihres Wirtschaftssystems) darwinistisch aus; Freiland ist der potentielle Entwurf der Weiterentwicklung dieses Prozesses in die Zukunft. Die alte und die neue Wirtschaftsordnung werden entsprechend erstens in eine zeitliche Abfolge gebracht. Die fehlerhafte Wirtschaftsordnung der Gegenwart ist vor diesem Hintergrund keinesfalls als vorübergehende Verirrung der Menschheit zu verstehen, sondern hat vielmehr den Status einer »Kulturnotwendigkeit«825 in der Höherentwicklung der menschlichen Rasse: […] um uns zu dem zu entwickeln, was wir geworden sind, mußten wir von der Natur mehr verlangen, als sie freiwillig zu bieten in der Lage ist; um es zu erlangen, blieb lange Jahrtausende hindurch kein anderer Ausweg, als das zur Befriedigung unserer höheren Bedürfnisse Erforderliche uns gegenseitig abzujagen und abzupressen.826

Es ist dies der Daseinskampf eines jeden gegen jeden, der in Hertzkas Deutung aus dem »Mißverhältnis unserer Bedürfnisse und unserer natürlichen Mittel zur Befriedigung derselben entstand«827, ein Daseinskampf, der auf dem Konflikt von Partikularinteressen basiert und der – und hier unterscheidet sich Hertzkas Darwin-Lektüre von anderen sozialdarwinistischen Lesarten der Zeit – als widernatürlich begriffen wird828 : »Unablässiger Kampf, stete, leidenschaftliche Erregung ist also die zweite, notwendige Konsequenz dieser verkehrten Einrichtung.«829 Insofern der Kampf ums Dasein auch von Hertzka als biologisches Grundgesetz begriffen wird, gilt es nun nicht, diesen als solchen zu überwinden; zu überwinden ist lediglich die »unnatürliche Form desselben«830. Der Daseinskampf ist bei Hertzka wesentlich wirtschaftlich konnotiert. Das Wirtschaftssystem (und in Abhängigkeit von diesem die politischen und sozialen Einrichtungen des Staates, wobei das Wirtschaftssystem eindeutig Priorität 823 Schnackertz: Darwinismus und literarischer Diskurs, S. 63. Anton Berentsen hat darauf hingewiesen, dass mit der »Durchsetzung der Vorstellung von einer geschichtlichen Evolution […] im Hinblick auf die Planeten auch die Idee plausibel [wurde], auf ihnen könnten vergangene oder zukünftige Entwicklungsstadien der Erde wahrgenommen werden.« (ders.: ›Vom Urnebel zum Zukunftsstaat‹. Zum Problem der Popularisierung der Naturwissenschaften in der deutschen Literatur [1880–1910]. Berlin 1986, S. 329). 824 Kurd Laßwitz’ Marsroman »Auf zwei Planeten« (Weimar 1897) wäre als Beispiel zu nennen. 825 Hertzka: Freiland, S. 340. 826 Ebd., S. 340/341. 827 Ebd., S. 341. 828 Vgl. ebd., S. 341/342. 829 Ebd., S. 220. 830 Ebd., S. 341.

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hat831) gehört gewissermaßen zu der ›natürlichen Umgebung‹ des Menschen, innerhalb derer er seinen Daseinskampf führt – deren Einrichtungen aber, und das ist der Clou dieser Argumentation, die Art und Weise, wie der als notwendig begriffene Daseinskampf geführt wird, bestimmen. Handelt es sich im Kontext der alten Ordnung Europas um den Kampf eines jeden gegen jeden, ist der Daseinskampf in Freiland mit seiner neuen Wirtschaftsordnung anders gelagert832 : »›[…] Auch wir kämpfen den Kampf ums Dasein, denn mühe- und arbeitslos fällt auch uns der Genuß nicht in den Schoß. Aber nicht gegeneinander, sondern miteinander stehen wir in unserem Streben […].‹«833 Hertzka greift mit seinem Sozialdarwinismus also auf einen Aspekt des Darwinismus zurück, der vom zeitgenössischen Sozialdarwinismus gemeinhin wenig berücksichtigt worden ist – den Aspekt der Kooperation von Organismen. Der Schlüssel, um die Entwicklungsstufe, auf der der Mensch diese ›natürliche‹ Form des Daseinskampfes ausficht, zu erreichen, liegt dann erstens in der Synthese von Partikularinteressen und Gemeinschaftsinteressen, die sich, wie gezeigt wurde, ihrerseits aus der Einrichtung einer idealen Wirtschaftsordnung ableiten: »›[…] Anders in Freiland; bei uns giebt es keine dem Gesamtinteresse entgegenstehenden oder auch nur nicht vollkommen mit diesem harmonisierenden Sonderinteressen. […]‹«834 Darüber hinaus begreift Hertzka zweitens Konsum nicht nur als Motor wirtschaftlicher Entwicklung, sondern zugleich als Motor für die kulturelle Höherentwicklung der Menschheit:

831 Vgl. zum politischen System, das den ökonomischen Verhältnissen Freilands zugeordnet ist, Saage: Utopische Profile, Band III: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert, S. 199–204; zusammengefasst handelt es sich vor dem Hintergrund der Vorstellung, dass mit dem richtigen Wirtschaftssystem alle anderen gesellschaftlich-sozialen Probleme gelöst werden, die klassischen Aufgaben des Staates damit obsolet werden (vgl. ebd., S. 203), um ein politisches System, das lediglich der Verwaltung des Wirtschaftssystems dient, mithin um Abschaffung des Staates im herkömmlichen Sinn (vgl. ebd., S. 203) und damit zugleich um die Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen (vgl. ebd., S. 203). Das politische System ist zugleich – aufgrund seiner Bindung an die ökonomischen Institutionen allerdings in weit geringerem Umfang als das Wirtschaftssystem – ein Korrektiv gegenüber den europäischen repräsentativen Demokratien, deren Fehlentwicklung Hertzka vor allem in den Wahlmodalitäten begründet sieht (vgl. ebd., S. 201). 832 Zu den Eckpunkten der freiländischen Wirtschaftsordnung gehören wie dargelegt die Bodenreform sprich Aufhebung privaten Bodenbesitzes, Aufhebung des Kapitalzins sowie gemeinschaftlicher Besitz der Produktionsmittel und die Gleichsetzung von Arbeitswert und Arbeitsertrag. Das Wirtschaftssystem basiert mithin auf der Synthese von Gemeinschafts- und Individualinteressen; ohne die friedliche Konkurrenz aufzugeben, wird jedoch etwa über die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses Geschäftspraktiken der Boden entzogen, die in der alten Wirtschaftsordnung den als widernatürlich klassifizierten Kampf eines jeden gegen jeden fördern würden. 833 Hertzka: Freiland, S. 339, Hervorhebungen im Original. 834 Ebd., S. 221.

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Indessen erwies sich diese gänzliche Bedürfnislosigkeit ebenso auch als Hindernis intensiveren Wachstums der Kultur und wir gaben uns daher – wenn auch nicht ganz ohne Bedauern – ernstlich Mühe, diesen paradiesischen Zustand insofern zu stören, als wir den Leutchen Geschmack an vermehrten Bedürfnissen beizubringen suchten, was langsam zwar, aber schließlich doch gelang. Erst zugleich mit diesen schlugen dann höhere Gesittung und geistige Kultur in jenem Erdenwinkel tiefere Wurzel.835

Was am Beispiel der ansässigen »einfachen Völkchen«836 expliziert wird, muss ebenso auf die europäischen Zustände, an denen ja vor allem die Unterkonsumption bemängelt wird, wie auf Freiland selbst, wo umfangreiche Produktion und Konsumption im natürlichen Gleichgewicht sind, bezogen werden. Damit wird die Wirtschaftsentwicklung nicht nur mit dem für das 19. Jahrhundert so zentralen Entwicklungsgedanken enggeführt – mehr noch: Freiland stellt in dieser Wirtschaftsutopie zugleich Zielpunkt der Entwicklung und stärkste Zivilisationsform837 dar, deren Evolutionsmotor genuin wirtschaftliche Faktoren sind.838 Schließlich liegt die dritte Bedingung für eine kulturelle Höherentwicklung in den technischen Errungenschaften, die zur endgültigen Erhebung und also absoluten Herrschaft des Menschen über die Natur führen. Die Fortentwicklung des Wirtschaftssystems basiert wesentlich auf Maschinenkraft und Industrie, allerdings unter anderen Vorzeichen als im Zeitalter der europäischen Industrialisierung: Die freiländische Produktion hat sich auf nahezu alle Bedarfsartikel des Kulturmenschen ausgedehnt, der hauptsächlichste Produktionszweig aber ist die Maschinenindustrie geblieben. […] Freiland hat eben für wesentlich mehr Maschinen Verwendung, als die ganze übrige Welt zusammengenommen, denn die Arbeit seiner Maschinen ersetzt ihm die Sklaven- oder Knechtesarbeit der Anderen […].839

Der Text löst die soziale Frage der industriellen Moderne mit ihren eigenen Mitteln: Die technischen Weiterentwicklungen werden zur Lösung derselben eingesetzt, indem die Arbeit durch den Einsatz der Maschinen zugleich erleichtert, verkürzt und rentabler gemacht wird840. Dies ermögliche den Ausgleich 835 836 837 838

Ebd., S. 238. Ebd., S. 238. Vgl. ebd., S. 281. Nicht unerwähnt bleiben kann im Zusammenhang der Darwin-Deutung jenes nur einmal erwähnte, im Detail nicht weiter bestimmte »Institut für ›animalische Zuchtversuche‹, welches den Zweck hat, durch Experiment und Beobachtung festzustellen, welchen Einfluß Erblichkeit, Lebensweise, Nahrung auf die Entwicklung des menschlichen Organismus äußern« (ebd., S. 314). 839 Ebd., S. 264. 840 Vgl. etwa ebd., S. 270/271: »Die motorische Kraft aber, die all diese Verkehrsmittel und die zahllosen Maschinen unserer Landwirtschaft und unserer Fabriken, unserer öffentlichen und privaten Anlagen, in Bewegung hält, beträgt nicht weniger als 245 Millionen indizierter

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zwischen Bedürfnissen und den Mitteln zu deren Befriedigung, was ihm die Bedingung der Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Daseinskampfes sei. Damit setzt der Text zugleich einen deutlich anderen Akzent als die technikfeindlichen Texte der konservativen, auf an der Vormoderne orientierte Regeneration abzielenden Deutungslinie, die wie gezeigt veraltete Produktionshilfen wie den Pflug idealisieren. Dem utopischen Freiland-Entwurf liegen hingegen der für das 19. Jahrhundert typische Glaube an die unaufhaltsame Höher- und Weiterentwicklung der Technik und der damit verbundenen endgültigen Erhebung des Menschen über die Natur zugrunde: Der Mensch sei »geworden, was wir Jahrtausende hindurch erstrebten, ein Geschlecht, das der Natur Überfluß und Muße für alle seine Angehörigen abzugewinnen vermag«841. In der grundsätzlichen Bejahung der modernen Technikentwicklung bei gleichzeitiger Kritik der Fehlentwicklungen zeigt sich erneut die Nähe zur Lebensreform. Der Text ist dabei über ihr Geschichtsmodell Vormoderne – Sündenfall Moderne – Erlösungshoffnung organisiert. So teilt Hertzkas FreilandEntwurf mit der Lebensreform nicht nur die Vorstellung vom fundamentalen Sündenfall der Moderne (Kapitalismus), sondern – das manifestiert sich in dem an lebensreformerische Lichtmetaphorik anknüpfenden Namen des Gesellschaftsgründers Dr. Strahl842 ebenso wie in der Namensgebung der ersten Siedlung (Eden bzw. Edenthal843) – auch die Erlösungslehre: […] [D]er Gedanke an die Stunde, in der ich Hand in Hand mit dem Freunde die stolze und doch reine Freude empfand, den ersten, schwersten Schritt zur Erlösung unserer leidenden, enterbten Mitbrüder aus den Martern vieltausendjähriger Knechtschaft vollbracht zu haben, [wird] niemals seine beseligende Kraft einbüßen […].844

Darüber hinaus zeigt sich der Gesellschaftsentwurf Freilands auch in einzelnen Aspekten deutlich von zentralen Gedanken der Lebensreform beeinflusst. So entspricht die Anlage der Siedlungen von Beginn an den Vorstellungen der Gartenstadtbewegung845 ; auf Hygiene wird in Freiland besonderer Wert ge-

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Pferdekräfte, d.i. reichlich das Doppelte der mechanischen Kraft, über welche derzeit die ganze übrige Welt verfügt. Es kommen sohin in Freiland nahezu 9 12 Pferdekraft mechanischer Arbeitsenergie auf den Kopf der Bevölkerung, und da eine indizierte Pferdekraft die Leistungsfähigkeit von 12 bis 13 Männern entwickelt, so ist der Arbeitseffekt der nämliche, als ob jeder Freiländer Kopf für Kopf ungefähr 120 Sklaven zur Verfügung hätte. Was Wunder, daß wir ein Herrendasein zu führen vermögen, trotzdem es in Freiland keine menschlichen Knechte gibt.« Ebd., S. 441/442. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 89. Ebd., S. 130. Vgl. etwa ebd., S. 91: »Dieser – zunächst allerdings bloß in unserem Geiste existierenden Stadt – reservierten wir vorerst einen Raum für 25000 Familienhäuser, deren jedem auch ein ansehnliches Gärtchen zugedacht war, was insgesamt 35 Quadratkilometer beanspruchte.« Vgl. auch ebd., S. 125, S. 175, S. 319; im Verlauf der Entwicklung Edenthals wird

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legt846 ; das Bildungssystem greift reformpädagogische Impulse auf847 und die nachwachsende Freiland-Generation wird letztlich zum Ideal des neuen Menschen848 herangezogen: Dafür bot aber auch unsere Schuljugend ein anderes Bild, als wir es in der alten Heimat und insbesondere in deren Großstädten zu sehen gewohnt waren. Rosige, von Gesundheit, Kraft und Lebensfreude strotzende Gesichter und Gestalten, Selbstvertrauen und sichere Intelligenz aus jeder Miene, aus jeder Geberde hervorleuchtend – so traten unsere Kinder in den Ernst des Lebens ein.849

Auch die erwachsenen Freiländer entsprechen in ihrer Beschreibung lebensreformerischen Vorstellungen insofern sie ebenfalls als »[s]trotzend vor Kraft und Gesundheit«850 beschrieben werden – der lebensreformerische Körperkult (erinnert sei an die Nudistenbewegung oder aber auch das Gemälde »Lichtgebet« des Malers Fidus [d.i. Hugo Höppener], das einen nackten Mann bei der Anbetung der Sonne zeigt) schreibt sich insofern in den Text ein. Die Kleidung,

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ferner der Ausbau des Kanal- und Wasserleitungsnetzes erläutert, was zur Folge hat, dass – anders als in europäischen Großstädten der Jahrhundertwende – »nach jeder Richtung für die Salubrität und Sanität der jungen Städte bestens vorgesorgt war.« (Ebd., S. 244) Auf Edenthal als europäische Gartenstadt hat bereits Catherine Repussard hingewiesen; vgl. dies.: »Lebensreform im Schatten des Kilimandscharo. In: Cluet, Marc/Repussard, Catherine (Hrsg.): »Lebensreform«. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht – La dynamique sociale de l’impuissance politique. Tübingen 2013, S. 267–281, hier S. 273ff. »Die Tagesordnung war die folgende: Gegen 4 Uhr wurde aufgestanden, im Edensee – es waren zu diesem Behufe mehrere Badehütten errichtet – ein Bad genommen und hierauf Toilette gemacht. […] Da wir Kleidungsstücke zum Wechseln besaßen, so wurden des Morgens immer die während des gestrigen Tages gereinigten gebracht, dafür die gestern gebrauchten abgeholt, um im Laufe des Tages für den morgigen Gebrauch in Stand gesetzt zu werden.« (Hertzka: Freiland, S. 123) Diese Vorstellung wird später gegenüber dem aus Europa eintreffenden Besucher noch einmal explizit betont (vgl. ebd., S. 299 sowie S. 311), so dass die Bedeutung der lebensreformerischen Inhalte für die Wirtschaftsutopie wohl kaum überschätzt werden kann. »Und auch bei der geistigen Ausbildung wurde weniger auf die Ansammlung von Kenntnissen, als auf die Anregung des jungen Geistes zu selbständigem Denken gesehen, daher nichts ängstlicher und sorgfältiger gemieden ward, als Überbürdung mit geistiger Arbeit. Kein Kind sollte – die häuslichen Repetitionen mit eingerechnet – länger als höchstens 6 Stunden täglich geistig beschäftigt sein […]. Ein fernerer Grundsatz des freiländischen Unterrichtswesens war, daß auch die Kinder so wenig wie die Erwachsenen zur Thätigkeit gezwungen werden sollten; einer zielbewußten, konsequenten und in ihren Mitteln nicht beschränkten Pädagogik – so meinten wir – könne es unmöglich schwer fallen, das lenksame Kindergemüt zu freiwilliger und freudiger Erfüllung vernünftig bemessener Pflichten zu bringen.« (Ebd., S. 245/246). Richard Saage hat ohne den Zusammenhang zur Lebensreform zu sehen darauf hingewiesen, dass Hertzka den neuen Menschen und dessen äußere Erscheinung feiere; vgl. Saage: Utopische Profile, Band III: Industrielle Revolution und Technischer Staat im 19. Jahrhundert, S. 200. Vgl. daneben auch Catherine Repussard zum »Altneumensch« (Repussard: Lebensreform im Schatten des Kilimandscharo, S. 275ff.). Hertzka: Freiland, S. 246. Ebd., S. 290. Vgl. zum Körperkult auch ebd., S. 357.

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»ebenso einfach als kleidsam«851, erinnert zusammen mit den Sandalen – der Text selbst zieht einen Vergleich zur »antik griechischen«852 Kleidung – an die von den ›Aposteln‹ der Lebensreform oft gewählte Kluft. Zugleich werden Impulse der Kleidungsreform, die sich insbesondere gegen das Korsett der Frau richtet, aufgegriffen. Die freiländischen Frauen wollen durch Natürlichkeit statt Künstlichkeit gefallen: »[…] wir wollen nicht prunken, sondern gefallen. Deshalb sind Kleid und Zierat einer Freiländerin nie Selbstzweck, sondern Mittel zum Zwecke. Eine richtige Modedame in Europa entstellt sich oft in der greulichsten Weise, weil es ihr weniger auf den Effekt ihrer Person, als auf den ihrer Kleider, ihres Putzes ankommt; sie wählt nicht das Gewand, welches ihre persönlichen Reize am günstigsten hervorhebt, sondern das kostbarste, welches ihre Mittel ihr gestatten. […] Wir begreifen es nicht, daß man, um zu gefallen, am besten thue, sich möglichst mannigfaltig zu entstellen; insbesondere aber halten wir, darin abermals unterstützt von unseren Männern, zähe an dem Glauben, daß die menschliche Gestalt durch das Kleid zwar bedeckt und verhüllt, aber nicht verzerrt werden dürfe.«853

Nicht zuletzt wird auch die Alkohol-Thematik (in der lebensreformerischen Anti-Alkohol-Bewegung in zwei Lagern, den auf absolute Abstinenz ausgerichteten Abstinenzlern einerseits und den auf Mäßigung bedachten Temperenzlern andererseits, diskutiert854) aufgegriffen. Das in Europa um die Jahrhundertwende so allgegenwärtige Problem ist in Hertzkas Wirtschaftsutopie gelöst insofern die soziale Frage und damit das Problem des Pauperismus, das ihm als Ursache des übermäßigen Alkoholkonsums gilt, gelöst ist. In Freiland wird aufgrund des allgegenwärtigen Wohlstandes und der allgemein hohen Bildung nur mäßig getrunken.855 Schließlich finden ökologische Aspekte Eingang in den Text: Obgleich der Industriesektor einem ungebrochenen Wachstum unterliegt, werden 851 852 853 854 855

Ebd., S. 290. Ebd., S. 290. Ebd., S. 330/331. Vgl. zum steigenden Alkoholkonsum im 19. Jahrhundert Anm. 793. »›Und doch ist dem so, wie meine Mutter sagt. Wir trinken gern einen guten Tropfen und gönnen uns einen solchen nicht gerade selten; auch will ich nicht leugnen, daß bei festlichen Gelegenheiten die Begeisterung des Weines hie und da in ziemlich hellen Flammen emporschlägt; ein sinnlos trunkener Freiländer gehört aber trotzdem zu den allerseltensten Erscheinungen. Wenn Sie das gar so sehr Wunder nimmt, so werfen Sie doch die Frage auf, ob denn in Europa und Amerika gesittete und gebildete Menschen sich zu betrinken pflegen. Das geschieht, wie ich weiß, auch bei Ihnen bloß in seltenen Fällen, obwohl dort die öffentliche Meinung in diesem Punkte minder rigoros ist, als hierzulande. In Freiland aber gibt es keinen Pöbel, der im Rausche Vergessenheit seines Elendes suchen müßte, und das Beispiel dieses Pöbles kann daher auch nicht dazu dienen, an den Anblick dieses erniedrigendsten aller Laster zu gewöhnen.‹« (Hertzka: Freiland, S. 440/441).

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nur solche Fabriken in Edenthal oder am Oberlaufe des Dana angelegt […], die weder die Luft, noch das Wasser verdarben; die minder reinlichen Betriebe siedelten sich entweder am Ostende des Danaplateaus, hart am Wasserfalle, oder auch unterhalb desselben an.856

In der ebenfalls bereits 1890 bei E. Piersons erschienenen eigentlich gekürzten Ausgabe ergänzt Hertzka diesen Absatz und verschärft so den ökologischen Aspekt seiner Gesellschaftsutopie: Nun wurden später zusätzlich »Einrichtungen getroffen, die der Vergiftung der Wässer durch industrielle Abfälle ganz im Allgemeinen ein Ende machten.«857 Hertzkas Schlusswort verdeutlicht schließlich, was bereits angedeutet wurde: Es ist dies durchaus erst gemeint, Hertzkas literarischer Text will zugleich Anleitung zur realen Umsetzung sein und gliedert sich somit gleichermaßen in die Tendenz der Utopie im 19. Jahrhundert, vom Literarischen in die Lebenspraxis überzugehen, und in die Lebensreform, die ihrerseits auf die lebenspraktische Umsetzung setzt, ein.858 Vor diesem Hintergrund ist nicht nur die augenfällige ästhetische Schwäche des Freiland-Textes, sondern auch die unterschiedliche erzählerische Ausgestaltung der einzelnen Bücher zu verstehen: Jede der gewählten Erzählformen erfüllt ihre eigene Funktion mit Blick auf die Überzeugungsarbeit am Leser. Der auktoriale Erzähler zu Beginn (1. Kapitel) hat zunächst die Deutungshoheit inne; er leitet zu Beginn des zweiten Kapitels in die Tagebuchform – deren Authentizität der auktoriale Erzähler unterstreichen soll, auch hier greift der Text auf klassische raumutopische Gestaltungsmittel zurück – über. Bis zum Ende des ersten Buches ist der Text, der der Phase der Pioniere entspricht, in Tagebuchform gehalten, was einen Eindruck unmittelbarer Erfahrungen, der Authentizität und schließlich der potentiellen Umsetzbarkeit des Vorhabens vermitteln soll. Das zweite Buch – das der Phase der Konsolidierung des neuen Gemein- und Wirtschaftswesens gewidmet ist – setzt wieder auf einen auktorialen Erzähler ; dieser Teil gleicht nicht von ungefähr am ehesten einer Abhandlung, werden hier doch die zentralen Eckpfeiler des künftigen Wirtschaftssystems erläutert. Das dritte Buch behandelt dann – nach einem Zeitsprung von mehreren Jahrzehnten (mit Ausnahme des einleitenden 13. Kapitels) in Briefform die Perspektive eines aus Europa zugereisten Fremden, der aus Edenthal nach Europa berichtet. Es ist auch dies ein klassisches Mittel der Raumutopie: Der Reisende, am Nicht-Ort eingetroffen, vermittelt zwischen der Perspektive des Europäers und der der Bewohner des utopischen Gemeinwesens. Er verkörpert die europäische Perspektive, die europäischen 856 Ebd., S. 187. 857 Hertzka, Theodor : Freiland. Ein sociales Zukunftsbild. Leipzig/Dresden o. J. [1890] (Vierte durchgesehene Auflage bei E. Piersons), S. 107. 858 Vgl. Hertzka: Freiland, S. 675–677, Hervorhebung im Original.

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Fragen und Einwände, ist also auch Rezeptionsangebot an den Leser. Und er dient schließlich als Anlass zur (erneuten) Schilderung und Erläuterung der Einrichtungen des idealen Gemeinwesens. Aufgabe des vierten und letzten Buches der Freiland-Utopie ist schließlich, dem Leser die potentielle Umsetzbarkeit des Freilandgedankens auseinanderzusetzen.859 Dieser Abschnitt schildert im Wesentlichen einen in der Zukunft stattfindenden Weltkongress, auf dem der Anschluss sämtlicher Länder an Freiland und sein Sozial- und Wirtschaftssystem diskutiert wird. Die Wiedergabe der Diskussionsbeiträge in Protokollform ermöglicht es Hertzka, Einwände gegen seinen Wirtschaftsentwurf und dessen potentielle Umsetzbarkeit zu entkräften. In Lene Haases Roman »Raggys Fahrt nach Südwest« wird das überseeische Gebiet zum Ort, an dem die Entwicklung des Wirtschaftssystems von der ursprünglichen Agrarwirtschaft zum modernen Kapitalismus im Kleinen und im Zeitraffer beobachtet werden kann: Der Ort der kapitalistischen Moderne in Reinform ist in diesem Roman nicht die moderne Großstadt, sondern die Kolonie. Damit erlaubt die Kolonie, auch wenn der Roman dies nicht expliziert, einen Blick in die zukünftige Entwicklung des europäischen Wirtschaftssystems. Anders als bei Kraze und Hertzka wird bei Haase die Kolonie gerade nicht zum Ausgangs- und Gegenentwurf einer anderen Moderne. Dennoch belässt es auch dieser Roman nicht bei der Beobachtung und Beschreibung des Modernisierungsprozesses allein, sondern schreibt den Entwurf einer alternativen Moderne. Die Protagonistin des Romans ist eine junge Frau, die nach dem Tode ihres Vaters umherreist und in diesem Zuge alte Bekannte in Deutsch-Südwestafrika besucht. Die Hauptperson – eine Amerikanerin mit deutschen Wurzeln – ist insofern alles andere als der Prototyp der Kolonisten- bzw. Farmersfrau: Sie lebt ein emanzipiertes Leben, ist nur sich selbst verantwortlich, lebt das Leben eines unverheirateten Mannes und kümmert sich dabei wenig um die Meinung der Gesellschaft860 – das weiß auch ihr zwischenzeitlicher Verlobter : »›Du wilder kleiner Kerl! […] Man kann dich gar nicht so beurteilen wie alle anderen. Du bist ja überhaupt ein lebendiger Widerspruch gegen jede Regel, gegen alles Althergebrachte. […]‹«861 Ihr Umgang mit Geld ist ein genuin moderner – sie ist aufgrund ihres Erbes reich, lebt jedoch vom Kapital statt von den Zinsen.862 Anders als viele Siedlungsromane stellt Lene Haase damit eine genuin moderne Frau in den Mittelpunkt ihres Romans, die darüber hinaus den Typus des mo-

859 Vgl. ebd., S. 519; siehe auch Abschnitt III.2 » ›Kolonien‹ und ›Kolonisation‹ in der Kulturkritik. Eine Wortkarriere«. 860 Vgl. insbesondere die Schiffspassage nach Afrika. 861 Haase: Raggys Fahrt nach Südwest, S. 103. 862 Vgl. ebd., S. 44.

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dernen Nomaden bedient – Raggy fährt permanent zwischen Europa und Afrika hin und her. Auch dieser Roman partizipiert zunächst an der dichotomischen Gegenüberstellung von Stadt und Land: Das Ideal des Bauern und seines Hofes als autarkes Wirtschaftsmodell wird bereits zu Beginn eingeführt863. Raggy selbst – die sonst vornehmlich umher hetzt – kommt auf der Farm ihrer Freunde zur Ruhe, entschleunigt: »Dann ging’s wieder hinauf ins Innere, das freie, fröhliche, ungebundene Farmerleben begann wieder.«864 – »Raggy machte ein sehr vergnügtes Gesicht; sie freute sich, endlich einmal wieder die Zivilisation hinter sich zu haben!«865 – »Wochen vergingen, Monate vergingen. Ab und zu ritt man einmal wieder auf Pad oder machte kleine Spritztouren nach Seeheim und Keetmanshoop.«866 Im Übrigen ist die Kolonie auch hier zugleich der Ort, an dem die Protagonistin, fernab der Zivilisation, körperlich erstarkt: »Strapazen, gelegentlicher Hunger und Durst machten ihr nichts aus. Das solide Leben und das wochenlange Kampieren unter freiem Himmel bekamen ihr sehr gut uns stählten ihren gesunden Körper.«867 Der Roman schießt hier an den Körperkult der Lebensreform an. Anders als in vielen Siedlungsromanen ist in »Raggys Fahrt nach Südwest« die Großstadt, hier Hamburg, nun allerdings nicht negativ konnotiert. Raggy genießt es, nach ihrer Zeit in Südwest wieder in der europäischen Stadt zu sein: »Der Lärm einer großen Werft klang dröhnend durch die frostige Morgenluft. Man war wieder in Europa, in der Großstadt mit ihrem Hasten und Treiben, dem Brausen ihrer rastlosen Arbeit.«868 – »Raggy lehnte sich behaglich neben Fred in die Polster zurück, als sie jetzt durch die belebten Straßen mit ihren eleganten Geschäften und Caf8s dem Bahnhof zu rollten. ›Weißt du, Fred, Großstadtluft ist doch einmal wieder was Schönes!‹«869 Der Rückzug von der Moderne kann zwar der vorübergehenden Erholung dienen, ist aber gerade kein letztgültiges Alternativmodell zum Leben in der Moderne: Die Unhintergehbarkeit der Moderne wird grundsätzlich anerkannt. Die Kolonie ist darüber hinaus doppelt besetzt: Zwar ist sie der Ort, an dem das Wirtschaftsmodell des Hofes noch existieren kann – zugleich ist sie aber auch derjenige Ort, an dem sich abseits korrigierender Kräfte die kapitalistische Moderne in ihrer ganzen Konsequenz entfalten kann. Raggy selbst beteiligt sich in Deutsch-Südwest am Diamantengeschäft – und das zunächst recht erfolg863 864 865 866 867 868 869

Vgl. ebd., S. 89. Ebd., S. 356. Ebd., S. 358. Ebd., S. 365. Ebd., S. 272. Ebd., S. 336. Ebd., S. 337.

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reich, da sie nicht nur im Gegensatz zu allen anderen – also allen Geschäftsmännern – die Diamantenfelder tatsächlich begutachtet870, sondern darüber hinaus sehr geschickt das so erworbene Wissen um die Machenschaften vor Ort einsetzt, um sich günstig Anteile zu sichern871. Zunächst florieren Diamantenabbau und -handel: »Die meisten Papiere gingen mächtig in die Höhe. Ein Börsenverein war ins Leben gerufen, mit einem Präsidium und offiziellen Maklern.«872 Mit dem Beginn der Diamantenspekulation wird Lüderitzbucht zum Ort genuin moderner Wirtschaftsformen. Infolge dessen durchläuft die Stadt eine Phase des Wachstums, der Modernisierung: »Lüderitzbucht schien sich sehr herauszumachen. Die Leute erzählten, daß mächtig gebaut würde.«873 Die zunächst positiven Entwicklungen kommen jedoch im Laufe der Zeit aufgrund politischer Entscheidungen in Berlin zum Erliegen: Raggy war nun wieder in Lüderitzbucht und wartete auf die Abfahrt des Dampfers. Hier herrschten jetzt merkwürdige Verhältnisse. Es war kein Leben mehr im Geschäftswesen, der ganze erst so gewaltige Aufschwung war wie abgeschnitten. Die Anteile waren stark im Kurs gesunken, standen zum Teil unter Nominalwert und waren unverkäuflich. An der Börse war kein Betrieb. Es herrschte in jeder Beziehung eine sehr flaue Konjunktur.874

Das Diamantengeschäft in Deutsch-Südwest unterliegt erkennbar dem Konjunkturzyklus. Es steht für ein modernes Wirtschaftssystem, für eine zweckrationale, auf Gewinnmaximierung ausgerichtete kapitalistische Denkweise ebenso wie für moderne Geldwirtschaft (Börsen-Diskurs, Konjunkturabhängigkeit). Im Übrigen verschränkt der Text den Wirtschaftsdiskurs mit einem Antisemitismus – mehrfach treten im Diamantengeschäft negativ gezeichnete Juden auf.875 Mit der ökonomischen geht ferner die gesellschaftliche Modernisierung in Lüderitzbucht einher : Der Ort wächst zwar, verändert sich dabei allerdings nicht nur zum Positiven. Neben Vergehen wie Diamantendiebstahl und -schmuggel876 scheint außerdem »halb Lüderitzbucht miteinander verfeindet zu sein.«877 Lüderitzbucht durchläuft den Prozess der ökonomischen Modernisierung, den Deutschland in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung durchlaufen hat, in verkürzter Zeit. Dem konjunkturabhängigen Diamantenhandel in der Kolonie, der zugleich für die wirtschaftliche Moderne steht, wird dann nicht nur das Hof-Ideal, son870 871 872 873 874 875 876 877

Vgl. ebd., S. 190ff. Vgl. ebd., S. 195ff. Ebd., S. 275. Ebd., S. 275. Ebd., S. 390. Vgl. etwa ebd., S. 162 und S. 164. Vgl. ebd., S. 275. Ebd., S. 275.

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dern vor allem die hanseatische Patrizier-Wirtschaft in Europa entgegengestellt. In persona verkörpert wird diese von Raggys Cousin Freddy878 : »Na, ich danke! Was meinst du wohl, kleiner Raggy, wenn das Wohl und Wehe von Hunderten von Menschen von einem abhängt und man eine große alte Firma auf derselben Höhe erhalten will, wie man sie übernommen hat, dann ist es einfach Pflicht, zu arbeiten. Auf die persönlichen Wünsche kommt’s gar nicht an, sondern daß man seinen Platz ausfüllt, auf den man gestellt ist.«879

Es ist dies ein Wirtschaftsmodell, in dem die Pflicht über die individuellen Wünsche gestellt wird, es ist ein Wirtschaftsmodell, in dem nicht der persönliche Profit im Vordergrund steht, sondern die Verantwortung für alle der Firma angehörigen Menschen; es ist dies ein Wirtschaftsmodell, das gegen einen Wirtschaftsliberalismus, gegen ein kaltes, zweckrationales, egoistisches Denken der Gewinnmaximierung gerichtet ist.880 Zugleich darf das Modell des PatrizierHandels nun auch nicht in antimoderner Frontstellung als Ablehnung der ökonomischen Modernisierung verstanden werden. Vielmehr wird dem absoluten Wirtschaftsliberalismus in der Kolonie ein moderater Wirtschaftsliberalismus, der auf dem verantwortungsvollen Handeln des Patriziers basiert, entgegengestellt: Der Patrizier fungiert als Korrektiv innerhalb der modernen Wirtschaftsform. Es ist dies ein Modell, das die Werte der vormodernen Wirtschaftsordnung mit der modernen Wirtschaftsordnung zu verbinden sucht: Der dritte Weg im Umgang mit der Moderne besteht in diesem Entwurf aus der Synthese der vormodernen und der modernen Wirtschaftsordnung. Hans Paasche verschränkt in »Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland«881 schließlich systematisch Kolonialdiskurs 878 Vgl. ebd., S. 344/345. 879 Ebd., S. 311. 880 Es ist dies ein Firmenmodell, dass typisch für die Literatur des 19. Jahrhunderts ist – vgl. etwa Gustav Freytags »Soll und Haben«. 881 Der Text ist von der Forschung kaum wahrgenommen worden. Erwähnung fand der Text bei Thomas Bleicher, der den Text ohne umfassendere Analyse in den Kontext des AfrikaRomans der Zwischenkriegszeit stellt (vgl. ders.: Das Abenteuer Afrika. Zum deutschen Unterhaltungsroman zwischen den Weltkriegen. In: Bader, Wolfgang/Riesz, J#nos [Hrsg.]: Literatur und Kolonialismus I. Die Verarbeitung der kolonialen Expansion in der europäischen Literatur. Frankfurt/Main 1983, S. 251–290, hier S. 270/71. Eine Ausnahme stellt Pierre Kodjio Negui8 dar, der sich in verschiedenen Aufsätzen mit dem Text beschäftigt: In seinem Aufsatz »Ein Deutscher mit schwarzafrikanischer Seele besucht das Kolonialdeutschland: Zu Hans Paasches Anti-Globalisierungsdiskurs in den Werken ›Ändert euren Sinn!‹ und ›Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins Innerste Deutschland‹« (in: Literatur für Leser, Heft 2 [2007], S. 97–109) verfolgt Negui8 die These, dass Paasche »in mancher Hinsicht von linken Intellektuellen und Globalisierungsgegnern vertretene Positionen vorwegnimmt« (ebd., S. 97); im Aufsatz »Interkulturalität, Modernisierung und Nachhaltigkeit: Eine postkoloniale Lektüre von Hans Paasches Werk« (in: Monatshefte, Volume 103 Nummer 1 [2011], S. 36–59) hebt er unter anderem auf Paasches

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und Lebensreform – sieht den Alternativentwurf zur Moderne allerdings ebenfalls nicht in der überseeischen Kolonie, sondern wendet den Kolonialdiskurs in einer kulturrelationalen Perspektive gegen Deutschland und die industrielle Moderne. Der Text schließt zunächst an die grundlegende Dichotomie von Eigenem und Fremdem an – wendet diese aber gegen Europa selbst: Aus der Perspektive eines »Inner-Deutschland«882 bereisenden Afrikaners werden alle aus seiner Sicht negativen Seiten der sozioökonomischen Moderne herausgestellt.883 Voraussetzung hierfür ist, dass zu Beginn des kurzen Textes einem vermeintlich gesicherten kolonialen Wissen und dem damit verbundenen normativen Kulturbegriff die Grundlage entzogen wird. Bereits im (fiktiven) Vorwort zu den Briefen Lukanga Mukaras des fiktiven Herausgebers Hans Paasche etabliert dieser – aus europäischer Perspektive – einen grundsätzlichen Kulturrelativismus: »Der fremde Mann legt an die Zustände in Deutschland seinen Maßstab. Was uns gewohnt erscheint, fällt ihm auf.«884 Nicht nur der fiktive Herausgeber, auch der afrikanische Forschungsreisende Lukanga Mukara reflektiert im Text die Abhängigkeit der Beobachtungs- und Beurteilungsperspektive von der eigenen kulturellen Verortung: »[E]in jeder sieht die Welt und seine eigne Stellung von der Mitte seines Kreises aus.«885 Um diese Anlage herum ist der gesamte Text organisiert. Über die grundsätzliche Einsicht in die Relativität und Konstruktion von Wissen hinaus ist es dann vor allem jene für den imperialistischen Ausgriff Europas auf die restliche Welt konstitutive Dichotomie von Kultur(völkern) und Natur(völkern), der der Text die Grundlage entzieht: Ja, wenn ich ihnen sage (ich spreche die Eingeborenensprache schon ganz gut), daß wir in Kitara mit anderer Münze zahlen, dann sagen sie, was sie hätten, sei besser, und

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Zivilisationskritik im Allgemeinen und Alkohol- und Tabakthematik, Konsumkritik und Vegetarismus im Besonderen ab. Negui8 verortet Paasche im »industrie- und technikkritischen Diskur[s] der Jahrhundertwende« (ebd., S. 53), sieht auch, dass Kolonialprozesse in Afrika und europäische Modernisierungsprozesse bei Paasche miteinander verflochten werden (vgl. ebd., S. 36), stellt aber auch heraus, dass Paasche aufgrund der »Umkehrung der Perspektive von Kolonisierten und Kolonisatoren […] in der deutschen Kolonialliteratur nach wie vor als Sonderfall« gelte (ebd., S. 37). An dieser Stelle soll dahingegen dargelegt werden, dass Paasches Realisierung der Verschränkung von kulturkritischem Beobachtungsmodus und Kolonialdiskurs zwar ungewöhnlich sein mag, aber keinesfalls vollständig aus der Reihe fällt, sondern in der breiteren diskursiven Formation der Verschränkung von Kulturkritik und Kolonialdiskurs im Allgemeinen und Lebensreform und Kolonialdiskurs im Speziellen verortet werden muss. Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, S. 14. Bereits Montesquieu hat in seinen »Persischen Briefen« mit dem Blick eines fiktiven NichtEuropäers europäische Verhältnisse beschrieben. Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, S. 12. Ebd., S. 32.

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fragen, ob sie kommen sollten und Dir das Bessere bringen. Sie nennen alles, was sie bringen wollen, mit einem Worte »Kultur«. Da aber niemand etwas Besseres bringen kann, als er hat, und da mir das, was diese »Menschen« (so nennen sie sich in vollem Ernst!) haben, nicht gefällt, antworte ich jedesmal, Du ließest »bestens danken«. Das ist nämlich der Ausdruck, den sie anwenden, wenn sie sagen wollen, was in unserer Sprache heißt: »Nein, ich will nicht!«886

Hier wird nicht nur die eurozentrische Perspektive des Arguments der kulturellen Höherentwicklung offen gelegt, sondern das Argument selbst wird, insofern es vom Afrikaner seinerseits gegen Europa angeführt wird, vollständig beliebig und verliert damit zugleich jeglichen außersprachlichen Bezugspunkt. Damit wird dem Argument der kulturellen Höherentwicklung auch seine vermeintlich wissenschaftliche Grundlage entzogen – es wird als das offengelegt, was es ist: ein Instrument, um Kolonialherrschaft zu legitimieren. Der Text spielt dann mit den Basisdichotomien des Kolonialdiskurses, mit den damit verbundenen Wertmaßstäben, mit den klassischen kolonialdiskursiven Figuren. Schon der Titel, »Die Forschungsreise […] ins innerste Deutschland«, verweist gleichermaßen auf eine klassische koloniale Textform wie er diese insofern sie mitten in Europa situiert wird zugleich unterläuft.887 Die Beobachtungen des Forschungsreisenden ermöglichen allererst den lebensreformerischen Blick auf Deutschland: Mit der Dichotomie des Eigenen und des Fremden ist vor diesem Hintergrund der Binarismus von negativ konnotierter moderner Industriegesellschaft auf der einen und positiv konnotiertem lebensreformerischen Ideal einer Agrargesellschaft auf der anderen Seite, von künstlich und natürlich888 verbunden. Auf der Grundlage dieser Basisdichotomie werden dann die unterschiedlichen lebensreformerischen Diskursfiguren bzw. Bewegungen – man könnte fast sagen: durchdekliniert. So beklagt Lukanga Mukara ausführlich »das wilde Getriebe der Städte«889 in Deutschland, in dem sehr viel Rauch [ist]. Aber das ist kein Rauch, der eines Wanderers Augen auf sich zieht, der die Schritte beschleunigt oder das Herz höher schlagen läßt. Es ist kein Rauch in frischer Luft; es ist Rauch im Dunst, ja Rauch im Rauch. In langen steinernen Röhren wird er zum Himmel geleitet. Aber der Himmel will ihn nicht, und so liegt er wie ein Frühnebel über der Erde.890 886 Ebd., S. 15. 887 Die Verbindung von Reise zum Nicht-Ort und Herausgeberfiktion verweist zugleich auf das klassische raumutopische Schema, ohne dass hier jedoch eine ›ideale‹ Gesellschaft imaginiert wird. 888 Vgl. Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, S. 34, hier im Vergleich der »künstlich mißgestalteten« deutschen Frauen (infolge falscher Kleidung, Hygiene, mangelnder Bewegung etc.) mit der »natürlichen, schönen Frauengestalt, wie wir sie bei den Wakintu kennen«. 889 Ebd., S. 18. 890 Ebd., S. 19.

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Das Spektrum lebensreformerischer Bewegungen, die adressiert werden, reicht weiter von Vegetarismus891, Anti-Alkohol- und Anti-Tabak-Bewegung892, Kleidungsreform893 und Nudismus-Bewegung894 über Themenkomplexe wie Hygiene895, Sport896 und übermäßigem Zuckerkonsum897 bis hin zur Huldigung der Schönheit des menschlichen Körpers898. Der Forscher hat im Übrigen eine ausgesprochene Abneigung gegen das deutsche Bildungs- und Wissenschaftssystem im Allgemeinen899 und das Verbindungswesen im Besonderen900 und weist der Mündlichkeit den Vorrang vor der Schriftlichkeit zu901. Darüber hinaus reflektiert der Afrikaner gewissermaßen auf der Makroebene das Wirtschaftssystem als Ganzes, jene »Narrheit, die die Wasungu ›Volkswirtschaft‹ nennen«902 ; auf der Mikroebene werden unter anderem die Entfremdung von der Arbeit903, insbesondere durch Arbeitsteilung, und schlechte Arbeitsbedingungen904 beschrieben. Dagegen wird das idyllische Bild der Heimat gestellt, wo Rauch dem Wanderer Zeichen für Wärme und warme Speisen [ist]. Ein Handwerker brennt Schnitzwerk aus, die Eisenschmelzer sitzen in freier Lust an den Blasebälgen oder ein Schmied schmiedet

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Vgl. ebd., S. 48ff. Vgl. ebd., S. 70ff. Vgl. ebd., S. 23f. Vgl. ebd., S. 23ff. Vgl. ebd., S. 25 und S. 34. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 64f. Vgl. ebd., S. 24. Vgl. hierzu auch Frecot: Die Lebensreformbewegung. Frecot unterscheidet drei historische Phasen der Lebensreformbewegung: Die erste beginne mit der Entwicklung der Naturheilkunde, die zweite sei geprägt durch die sozialen Probleme des technischen Zeitalters, die dritte (um die Jahrhundertwende) schließlich durch die Entdeckung des menschlichen Leibes. Vgl. etwa Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, S. 66. Vgl. ebd., S. 68ff. Vgl. ebd., S. 28ff. So der Titel des sechsten Briefes (vgl. ebd., S. 55). Die Beschreibung eines permanent auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftskreislaufes bietet der »Vierte Brief: Weshalb die Wasungu hin und her laufen und fahren« (ebd., S. 38ff.); folgender Auszug gibt einen grundlegenden Eindruck: »So entsteht eine große Stadt, eine Kulturzentrale, wie die Wasungu sagen, und das alles nur, weil ein Bote den Weg von Niansa nach Rubengera schneller zurücklegen sollte. Diese Stadt vergrößert sich und dann müssen mehr Wagen fahren und immer mehr. Dann braucht man Häuser, in denen die Wagen untergestellt werden und wieder Menschen, die diese Häuser bauen, bewachen, zählen und darüber schreiben. Weil aber die Menschen in solcher Stadt und bei solcher Beschäftigung verrückt werden, muß man große Häuser außerhalb der Städte bauen, in die man die Verrückten einsperrt. Dadurch entsteht wieder Arbeit und neues wirtschaftliches Leben.« (Ebd., S. 40). Vgl. ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 43/44.

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Speerspitzen, Hacken und Nadeln. Drum ist dort reges Leben, und viele Menschen freuen sich über die Kraft und Kunst, die dem Volke innewohnt.905

Ergänzt wird dieses Ideal des Kleinhandwerks durch das des Kleinbauerntums906, zu dem es auch in Deutschland – so die Moral von der Geschicht – letzten Endes zurückzukehren gilt: »Da stand ein Sungu auf und sagte: ›Wir wollen, daß jeder Sungu Land habe, und hassen es, daß viele beisammen wohnen. Nur wer Land hat und eine Vaterhütte, hat eine Heimat und kann für das Volkland kämpfen.‹«907 Nicht zuletzt ist dem Text eine tiefe Erlösungs-Hoffnung eingeschrieben. Durch sämtliche der fiktiven Briefe zieht sich ein emphatischer Lebensbegriff, der mit der für die Lebensreform so typischen Lichtmetaphorik einerseits und dem Motiv des Wanderers andererseits verbunden wird; es wird so ein Gegenpol zu den negativen Auswirkungen der Industrialisierung in Deutschland geschaffen. Schließlich verdichtet sich die Erlösungshoffnung im letzten Brief des Forschungsreisenden, der seine Erlebnisse auf dem Hohen Meißner schildert: »Es kamen da die, welche mich lehrten, daß es eine große Hoffnung gibt in dem Volke der Wasungu.«908 Der Afrikaner beschreibt sowohl die Vorbesprechung der beteiligten Organisationen zum Ersten Freideutschen Jugendtag auf der Burg Hanstein als auch das Fest auf dem Hohen Meißner selbst – das geht aus den editorischen Notizen des fiktiven Brief-Herausgebers Hans Paasche hervor, die nicht nur eben jenes historische Ereignis, sondern auch die Köpfe der Bewegung wie Ferdinand Avenarius und Knud Ahlborn benennen. Die von der Jugend offensiv vertretenen Werte und Anschauungen entsprechen jener Grundhaltung, aus der heraus Lukanga Mukara in den vorangehenden Briefen Deutschland beobachtet – noch einmal werden grundlegende Vorstellungen und Strömungen der Lebensreform wie Anti-Alkoholbewegung, Anti-Tabak-Äußerungen, Kleidungsreform und Freikörperkultur aufgegriffen909, nun nicht als positiv konnotiertes Gegenbild sondern als in die Praxis übersetzte Anschauung: Diese jungen Menschen riefen Freude, weil es ihnen erlaubt sein sollte, täglich etwas für ihr Volk und Land zu tun. Ich fühlte dies: Die Wasungu werden jetzt sehr groß werden, weil die Zeit der Mästlinge sehr klein werden wird. […] [Achtzehn Monde] bin ich im Lande der Wasungu und sehe jetzt das neue Volk entstehen, auf dem Berge, bei den Wäldern.910

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Ebd., S. 19. Vgl. etwa ebd., S. 22, S. 28ff., S. 43. Ebd., S. 86. Ebd., S. 85. Ebd., S. 85ff. Ebd., S. 89.

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Zugleich wird deutlich, wie der Text an die leitende Vorstellung der Lebensreform, einer Gesellschaftsreform durch Selbstreform, anschließt: Indem die Jugend »täglich etwas für ihr Volk und Land« tut (Selbstreform), soll eine gesamtgesellschaftliche Sozialreform (»das neue Volk«) erreicht werden.911 Es ist – nach dem ursprünglichen Paradies (welches der Afrikaner figuriert) und dem Sündenfall Moderne – die lebensreformerisch orientierte Jugendbewegung, speziell der Wandervogel, auf der die Erlösungshoffnungen liegen: »Ich sah, als Fremder, die Zukunft eines Menschenvolkes.«912 Ohne also im engeren Sinn dem Genre der Utopie anzugehören, schreibt Paasche mit seinem kleinen Bändchen einen utopisch-hoffnungsvollen, lebensreformerisch motivierten Wirtschaftsund Gesellschaftsentwurf. Die Erlösungshoffnung ist auch hier mit einer konkreten Wirkabsicht verbunden. Die afrikanische Bevölkerung wird nicht nur zum positiven Beispiel natürlicher Lebensformen: Ich brachte den Eindruck mit heim, daß unerschlossene Länder und Urvölker für uns ein Segen seien, weil wir an ihnen, die alle Errungenschaften unserer Kultur nicht kennen und nicht entbehren, die unsere Vorzüge nicht haben, aber auch von unseren Fehlern und Gewohnheiten frei sind, lernen können, uns selbst besser zu erkennen.913

Der fiktive Herausgeber formuliert die (lebensreformerische) Hoffnung einer Gesellschaftsreform, die sich an den natürlichen Lebensgrundlagen indigener Völker ein Beispiel nimmt [sic!] und die Fehler der modernen Gesellschaft ausmerzt. Symbolische Selbstreinigung. Zur kulturkritischen Bedeutungsdimension kolonialer Diskursfiguren Sowohl die konservative Vorstellung einer ökonomischen und gesellschaftlichen Regeneration in der Kolonie als auch die lebensreformerische Vorstellung der Kolonie als Korrektiv einer fehlgeleiteten Moderne, einer Gesellschaftsreform durch Selbstreform in der Kolonie, sind Vorstellungen, die als ›Selbstreinigung der Moderne‹ gelesen werden können. Das zeigt sich nicht nur auf der Ebene des Inhalts, sondern auch auf der Ebene der literarischen Form: Einerseits weisen einige der auf den ersten Blick machtpolitischen Diskursfiguren bei genauerer Betrachtung nicht nur eine machtpolitische, die Moderne bejahende Bedeu-

911 Vgl. hierzu Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, hier insbesondere S. 171/172. 912 Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, S. 90. 913 Ebd., S. 11.

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tungsdimension, sondern zugleich eine kulturkritische, modernekritische Bedeutungsdimension auf. Die Diskursfigur der ›Fremden Heimat‹ ist mit Blick auf ihren machtpolitischen Bedeutungsgehalt wie dargelegt ein Akt der Bemächtigung des überseeischen Gebietes: Fremdes Territorium wird semantisch als nationales aufgeladen und so als weitere Region mit ihren regionalen Spezifika in das noch junge Reich eingegliedert. Nun erschöpft sich die Diskursfigur der ›Fremden Heimat‹ nicht in ihrer machtpolitischen Bedeutung: Die Inszenierung der Fremde als Heimat hat darüber hinaus eine zweite, eine kulturkritische Bedeutungsdimension. In dieser Deutungslinie greift die Diskursfigur auf die Semantik des ›Eigenen‹ und des ›Fremden‹, wie sie sich in der Semantik der Kulturkritik und der frühen Soziologie um 1900 ausbildet, zurück. Hier wird Gesellschaft als ›fremd‹ und Gemeinschaft als ›Eigenes‹, als Bekanntes, wahrgenommen – es wurde bereits dargelegt, dass der Mensch in Tönnies’ Dichotomie der Gemeinschaft »von der Geburt an«914 angehöre, wohingegen man in die Gesellschaft »wie in die Fremde«915 gehe. Der Gang in die (koloniale) Fremde ist insofern zugleich als Flucht vor der (städtisch-gesellschaftlichen) Fremde zu verstehen – und wird so zum Gang in die Gemeinschaft, in die ›Heimat‹, ins ›Eigene‹. Vor diesem Hintergrund ist die Diskursfigur des Paradieses, machtpolitisch mit Blick auf die Ausnutzung von Ressourcen wesentlich ökonomisch codiert, zugleich Ausdruck und Hinweis auf das kulturkritische Geschichtsmodell und seine Erlösungslehre. Im Anschluss daran lassen sich auch für die Diskursfigur der Pioniere zwei Bedeutungsdimensionen herausarbeiten. In ihrer machtpolitischen Bedeutung stellen die Pioniere wie gezeigt Kolonialpioniere dar, sie erobern das überseeische Territorium und bereiten die politische Inbesitznahme vor, sind zugleich ›Kulturpioniere‹ insofern sie, der Diskursfigur der ›Hebung‹ und der Zivilisierungsmission folgend, der indigenen Bevölkerung ›Kultur‹ bringen. Darüber hinaus sind diese Pioniere aber auch Pioniere gegenüber der europäischen Gesellschaft, und das im kulturkritischen Sinn: Ihre Bemühungen, in der Kolonie eine ›bereinigte‹, eine ›andere‹ Moderne zu schaffen, stehen der europäischen Moderne diametral gegenüber. In diesem Kontext ist die (Selbst-)Inszenierung der Kolonisten als eine Art ›Avantgarde‹ gegenüber Europa zu verstehen, die viele Überseeromane betreiben: »›[…] Wir Kolonisten schaffen hier von neuem in Mühe und Schweiß Werte, die die Heimat einmal schätzen wird […]‹«916, spricht in »Heim Neuland« der Protagonist Dierksen. Gerade in diesem Text ist diese Avantgarde doppelt besetzt: Einerseits umfasst sie eine imperialistische Dimension, in der das praktische Wissen der Kolonisten 914 Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 3. 915 Ebd., S. 3. 916 Kraze: Heim Neuland, S. 285.

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und ihre Arbeit trotz widriger Bedingungen vor Ort gegen eine vermeintlich falsche Kolonialpolitik aus Berlin und eine generelle Ignoranz gegenüber dem kolonialen Projekt in der Heimat ausgespielt werden. Die zweite Dimension – und diese ist für den Zusammenhang zur Moderne die wichtige – zielt auf die Schaffung neuer Werte in der Kolonie. Diese Werte entsprechen der Weltanschauung, die in der Kolonie umgesetzt wird. Die Darstellung einer Avantgarde in Afrika ist als Haltung strukturell dem Selbstverständnis des Lebensreformers vergleichbar, der sich selbst, so Krabbe, »dazu aufgerufen [fühlte], die ›irrenden Mitmenschen‹ zu bekehren.«917 Diese Diskursfigur verweist insofern zugleich auf die ersatzreligiöse Struktur der Lebensreformbewegung. Nun ist der Entwurf alternativer Gesellschaftsordnungen in der Kolonie, fern der europäischen Moderne, immer schon davon bedroht, selbst in der äußersten möglichen Peripherie von der Durchschlagskraft des vielschichtigen Modernisierungsprozesses eingeholt zu werden, sei es in Form von ökonomischen Entwicklungen, sei es in Form von Personen, die die ideale Gesellschaftsform stören. Distriktchef Behsen etwa hat in Holms »Pioniere« »schon oft darüber nachgedacht, warum gerade hier das Zusammenleben der wenigen Weißen so unerquicklich war«918 ; zugleich sind die Protagonisten, die Familie Hardt, »endlich einmal Ansiedler nach seinem Herzen, Leute, die wie geschaffen waren, in diesem Land zu wirken.«919 Selbst Romane, die ein ›reines‹, ausschließlich an vermeintlich vormoderne Werte und Lebensweisen anknüpfendes Gemeinschaftsmodell einfordern, können daher keine in letzter Konsequenz ›reine‹ Gemeinschaft beschreiben; sie schreiben immer auch gesellschaftliche Störfaktoren mit. Die ›Störmomente‹ innerhalb der kolonialen Gemeinschaft drücken sich wesentlich in zwei Diskursfiguren aus, der des ›Tropenkollers‹ und der der ›Verkafferung‹. Der Begriff ›Verkafferung‹ zielt zunächst, wie dargelegt, auf sexuelle Verbindungen europäischer Kolonialisten mit afrikanischen Frauen. Politisch bedroht dieses Szenario, das eine zunehmende Annäherung und Angleichung von Kolonist und Kolonisierten beinhaltet, den Herrschaftsanspruch der Europäer. In seiner kulturkritischen Bedeutung steht das Szenario der ›Verkafferung‹ für die Verunreinigung der eigenen, der neuen Gemeinschaft. Vom Landesinneren kommend hat Peter Moor, der wie gezeigt mit Unwillen auf die sexuell willigen afrikanischen Frauen reagiert, die Vision einer Maria mit Kind: Und da, im Schatten einer Veranda, stand eine deutsche Frau; sie hatte ein kleines Kind auf dem Arm. Wie wir hinsahen! Wie wir uns über das helle, saubere Kleid freuten und über das reine, freundliche Gesicht und über das kleine weiße Kind. Wie auf ein 917 Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, S. 169. 918 Holm: Pioniere, S. 30. 919 Ebd., S. 29.

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Himmelswunder starrten wir auf das, was man in Deutschland alle Tage sehen konnte. Wie die heiligen drei Könige, die auch aus der Wüste kamen und vom Pferd herab Maria mit ihrem Kinde sahen.920

Erkennbar steht die afrikanische Frau für Unreinheit, die deutsche für Reinheit; die Diskursfigur der ›Verkafferung‹ ist zugleich diskursive Figur der sozialen Verunreinigung der Gemeinschaft. Insofern die weiße Frau zur Hüterin der ›Rassenreinheit‹ wird, verhindert sie also zugleich die Verunreinigung der Gemeinschaft. Der Begriff der ›Verkafferung‹ steht folglich zugleich in engem Zusammenhang zum Gegenentwurf einer neuen Gesellschaftsordnung in der Kolonie, insofern die deutsche Frau921 den deutschen Mann nicht nur vor dem Verlust an Kultur bewahrt, sondern zugleich als Mutter, Haus- und Ehefrau stilisiert und überhöht wird.922 Nicht zuletzt kommt ihr die Rolle zu, Stammmutter der künftigen neuen Gemeinschaft zu werden. Die Darstellung der Frau als Kulturträgerin und Stammmutter der Gemeinschaft trägt im Übrigen ebenfalls deutlich religiöse Züge: Die idealen Frauen tragen überdurchschnittlich häufig die Namen biblischer ›Urmütter‹ – Eva923, Maria924 oder Anna925. Die deutsche Frau ist Teil der ›Schöpfung‹ der neuen Gemeinschaft in der Kolonie als Gegenentwurf zur fehlgeleiteten Moderne. Die ideale Gesellschaft ist nicht nur der Gefahr ›rassischer‹ Verunreinigung ausgesetzt, sie läuft zugleich immer Gefahr, selbst in der äußersten Peripherie von der europäischen Moderne und ihren negativen Auswüchsen eingeholt zu werden. Die Fehlentwicklungen der Moderne und ihr Eindringen in die Kolonie werden wesentlich über Gesellschaftsmenschen dargestellt, Menschen also, die in der Kolonie leben, nicht jedoch dem Ideal der neuen Gemeinschaft entsprechen, sondern der städtischen Sphäre, der Gesellschaft zuzuordnen sind. Die Anordnung der Personen im Überseeroman ist insofern nicht nur mit Blick auf die über den Rassediskurs abgestützte Differenz zwischen Europäern und in920 Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 111. 921 Das Bild, das die Kolonialliteratur zeichnet, steht weitgehend in Einklang mit dem, das der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft propagiert. In dessen Zeitschrift »Kolonie und Heimat« heißt es: »[…] so kann in den Kolonien nur eine Frau, die in ihrer Häuslichkeit wurzelt und in der Betätigung häuslicher Pflichten ihre Befriedigung findet, sich auf Dauer wohl fühlen« (Brandeis, Antonie von: Die deutsche Hausfrau in den Kolonien. Vom Pflichtenkreis der Frau. In: Kolonie und Heimat, Jahrgang I Nr. 4 [1907], S. 13); die Frau soll »dem Manne eine Mitarbeiterin sein« (ebd., S. 13). Tugenden sind ein »den Verhältnissen angepasstes sparsames Wirtschaften« (ebd., 13), eine der Hauptaufgaben der Frau sei es, »Licht und Behagen um sich zu verbreiten. Ihr Einfluss muss sich über den Kreis ihrer Häuslichkeit hinaus erstrecken, den Freunden des Hauses sei dieses ein Ort, wo sie sich nach der Last der Arbeit körperlich und auch geistig erholen können« (ebd., S. 13). 922 Vgl. auch Wassink: Auf den Spuren des Deutschen Völkermordes in Südwestafrika, S. 233. 923 Vgl. Bülow : Tropenkoller. 924 Holm: Pioniere. 925 Steffen: Im Orlog.

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digener Bevölkerung bipolar, auch die Deutschen selbst folgen wie dargelegt einer bipolaren Personenanordnung, die entlang der Demarkationslinie der für die Kolonie (und ihren Gesellschaftsentwurf) tauglichen und der untauglichen Personen erfolgt. In Holms »Pioniere« wird wie angedeutet dem Siedlerleben der Familie Hardt das Großstadtleben des Ehepaars von Woltek, deren »ganzes Denken rein […] äußerlich«926 ist, das den »Begriff Gefühl, inneres Empfinden«927 nicht kennt, Luxus und Sensation liebt, Alkohol und Zigaretten zuspricht, gegenübergestellt. Auch in Wendens »Tropenkoller« wird dem Negativbeispiel des Kurt von Zangen mit Leutnant Schelling ein positives Gegenbeispiel für den geeigneten Kolonisator entgegengestellt: Leutnant von Schelling, der kaum fünfundzwanzig Jahre alt war, gehörte zu jenen Offizieren der Schutztruppe, denen nicht wegen irgendwelcher toller Streiche der Boden in der Heimat zu heiß geworden war, sondern die aus unbezähmbare[m] Tatendrang, aus Abenteuerlust und nicht zuletzt aus Ehrgeiz sich in die Kolonien hatten versetzen lassen.928

Das kolonialuntaugliche Personal des Überseeromans zeichnet sich auch und gerade dadurch aus, dass sie in persona Störfaktoren in der Gemeinschaft der Kolonie sind – sie stehen stellvertretend für die Fehlentwicklungen der Moderne. Orla Holms nervöse Frau von Woltek verkörpert in ihrem ganzen Sein das negativ besetzte Gegenmodell zum Ideal der patriarchalisch organisierten Familie Hardt: »Manchmal fühlte er [Woltek] freilich, wie jämmerlich er anderen erscheinen mußte, wie kläglich sein Mannestum war, das nicht stark genug, um auch nur die kleinste Autorität über seine Frau zu gewinnen.«929 Seine Frau spielt regelrecht mit ihm: »In ihren Zügen sprach deutlich die innere Befriedigung über ihren Sieg, den Sieg, den sie täglich und eben wieder über ihren schwachen Mann davongetragen.«930 Der Mann kann ersichtlich seine angestammte Rolle nicht mehr ausfüllen, ist insofern mitverantwortlich für eine falsche Geschlechterverteilung, die – über die der städtischen Sphäre angehörigen Wolteks – der modernen Gesellschaft zugeschrieben wird. Vor diesem Hintergrund ist die Diskursfigur des ›Tropenkollers‹ noch einmal neu zu bestimmen: In der Figur des ›Tropenkollers‹ verdichten sich alle negativen Eigenschaften der Moderne; in ihrer kulturkritischen Bedeutungsdimension stehen ›Tropenkoller‹ und Kolonialuntauglichkeit für gesellschaftliche Störfaktoren der Gemeinschaft, für Verunreinigungen der Gemeinschaft. Sowohl die Diskursfigur der ›Verkafferung‹ als auch die des ›Tropenkollers‹ 926 927 928 929 930

Holm: Pioniere, S. 47. Ebd., S. 47. Vgl. Wenden: Tropenkoller, S. 103. Holm: Pioniere, S. 164. Ebd., S. 164.

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symbolisieren Verunreinigungen der neuen Gesellschaftsform – die es zu entfernen gilt. Schon dem Siedlungsleben im Allgemeinen werden im kulturkritischen Überseeroman ›reinigende‹ Kräfte mit Blick auf das Kranken an der Moderne zugeschrieben – das zeigt sich etwa im willentlichen und körperlichen Wiedererstarken der Figuren fernab der Moderne. Der Kolonialkrieg überbietet den ›reinigenden‹ Effekt des Siedlungslebens: Ihm wird auf mehreren Ebenen ein kathartischer Effekt mit Blick auf die Störfaktoren der Gemeinschaft zugeschrieben.931 Zunächst wird dem Krieg eine therapeutische Wirkung in Bezug auf das Kranken einzelner Figuren an der Moderne zugeschrieben. »Der wirklich großdenkende Mensch erstarkt im Kampf«932, heißt es bei Orla Holm, ausdrücklich wird der »läuternd[e] Einfluß, den oft ein Krieg mit sich bringt«933, hervorgehoben. Das gilt zunächst für einzelne Figuren wie etwa Holms Ina von Keßler, die im Krieg ihre Nervosität ablegen und in Bezug auf ihren Willen wieder erstarken. Das betrifft im Übrigen nicht nur Frauen, sondern beide Geschlechter : »›[…] Es wird dem Herrn sehr gesund sein, mal ein bißchen frisches Orlogleben mitzugenießen. […]«934 Die Deutung der Niederschlagung des Aufstandes als »frischer« und »fröhlicher« Krieg935 gehört zu den zentralen diskursiven Figuren der Kolonialkriegsromane. Über die therapeutische Wirkung in Bezug auf die Gemeinschaftsfähigkeit einzelner Figuren hinaus hat der Krieg dann eine dezidiert reinigende Wirkung in Bezug auf die Störfaktoren der Gemeinschaft. Hier wird erneut mit einer bipolaren Figurenanordnung gearbeitet: Die Binnendifferenzierung der zunächst nicht der Gemeinschaft angehörigen Personen erfolgt nun entlang der Demarkationslinie potentiell gemeinschaftsfähig – grundsätzlich nicht gemeinschaftsfähig. Orla Holms potentiell gemeinschaftsfähige und daher den Krieg überlebende Figur der Ina von Keßler hat im nervösen, verweichlichten Dr. Nielsen eine Gegenfigur. Auch er wird der Sphäre der Gesellschaft zugeschrieben, als nervös charakterisiert: »Nielsen schauerte unwillkürlich. Seine Nerven vibrierten, beklemmend fühlte er den Gedanken in sich aufsteigen, daß er selbst, sein Wollen, sich vor der Macht dieses Aberglaubens hatte beugen müssen.«936 Einige Zeit verbindet Ina von Keßler und Dr. Nielsen eine Freund931 Bei den folgenden Ausführungen zur Darstellung des Kolonialkrieges handelt es sich um die systematische Entfaltung eines Arguments, dass ich bereits in einem Aufsatz, der unter dem Titel »Kulturkriege. Zum Zusammenhang von Kulturkritik, Kolonialismus und Krieg 1884– 1918« veröffentlich wurde, angedeutet habe (vgl. Brasch: Kulturkriege). 932 Holm: Pioniere, S. 267. 933 Ebd., S. 267. 934 Steffen: Im Orlog, S. 168. 935 Vgl. auch Steffen: Im Orlog, S. 188. 936 Holm: Ovita, S. 123.

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schaft – anders als Ina von Keßler geht Dr. Nielsen eine grundsätzliche Gemeinschaftsfähigkeit jedoch vollständig ab, im Erzählverlauf verstärken sich bei ihm die negativen Züge, er wird schließlich als »Tropenkolleriger«937 bezeichnet. Darüber hinaus vertritt er eine unkonventionelle Haltung gegenüber der indigenen Bevölkerung: Er hat eine »hohe Wertschätzung der urwüchsigen Weltund Lebensauffassung der Naturvölker«938, fragt sich zugleich aber auch: »Überschätzte er nicht am Ende dieses Volk?«939 Dr. Nielsens Lösung lautet: »Neues Blut brauchte der welke Stamm der europäischen Kulturvölker ; nur eine absolute Rassenkreuzung konnte vor dem völligen Untergang – vor der langsamen aber stetigen Vernichtung die europäische Menschheit bewahren.«940 Infolge dieser Haltung, die die ›Verkafferung‹, sprich die gesellschaftliche Verunreinigung, nicht nur billigt, sondern sogar ausdrücklich einfordert – und hierin liegt die kathartische Funktion des Kolonialkrieges in Bezug auf die Gemeinschaft begründet – stirbt er im Krieg ebenso wie seine schwangere afrikanische Geliebte Magdalena: »Tot – Tot! Er [Dr. Nielsen], dem sie mit dem Krieg im Herzen sich genaht, und der Frieden, tiefen Frieden ihr gespendet – er ist tot. Und nun muß auch sie [Magdalena] sterben, unter deren Herzen sein Leben sich zu regen beginnt…«941 Damit ist nicht nur die rassische Verunreinigung der Gemeinschaft im wahrsten Sinne des Wortes eliminiert, sondern auch die Gemeinschaft – durch den Krieg – von der nervösen, verweichlichten, modernen Person des Dr. Nielsen befreit. Gleich zwei gesellschaftliche Störfaktoren werden damit durch den Krieg schicksalhaft entfernt.942 Es handelt sich hier nicht um eine einmalige Anlage der Erzählung – die Konstellation der Erzählstränge in Krazes »Heim Neuland« funktioniert analog: Neben demjenigen, der das positive Einleben der Protagonisten in der Kolonie behandelt, weist der Roman zwei weitere Erzählstränge auf943, deren jeweilige Hauptfiguren aus unterschiedlichen Gründen nicht für die Kolonie geeignet sind – beide Erzählstränge sind also gesellschaftlichen Fehlentwicklungen in der Kolonie gewidmet. Der eine Erzählstrang betrifft das Schicksal einer Freundin 937 938 939 940 941 942

Ebd., S. 145. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164. Ebd., S. 161. Ebd., S. 256. Die Figur des Krotte in Maximilian Bayers »Im Orlog« funktioniert analog – vgl. Steffen: Im Orlog, S. 168. 943 Bei der folgenden Darstellung zur Funktion der ergänzenden Erzählstränge in Krazes »Heim Neuland« handelt es sich um die systematische Entfaltung eines Arguments, dass ich bereits in einem Aufsatz, der unter dem Titel »Invisible (Colonial) Cities and Reformed Modernity. Some comments on the Relation between German Colonial Literature and Reform Movements around 1900«, angedeutet habe (vgl. Brasch: Invisible (Colonial) Cities and Reformed Modernity).

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der Protagonistin, die nach Afrika verheiratet wurde. Dort lebt sie mit ihrem Mann in einem Haus, das wie folgt beschrieben wird: Wie jedes Zimmer des Hauses war auch dieses mit verschwenderischem Luxus ausgestattet. Aber die Einrichtung in chinesischem Geschmack, die Lackmöbel, Porzellandöschen, die seidengestickten Flamingos und elfenbeinernen Drachen, machten einen fremden, künstlichen Eindruck.944

Dieses Haus und dieses Leben entsprechen genau dem Gegenteil dessen, was der Erzählstrang um die Protagonisten an naturnaher Lebensweise entwickelt. Es ist ein Leben, das mit künstlichen und überflüssigen Zivilisations-Gegenständen angefüllt ist – und also all das in die Kolonie trägt, was die Protagonisten auf ihrem Weg in die Kolonie gerade abgeworfen haben. Der Herr des Hauses wird als ehrgeiziger »Emporkömmling«945 beschrieben, der vor zwanzig Jahren […] mit zerschlissenen Stiefeln und geschenktem Rock als Zwischendeckspassagier in Kapstadt gelandet [war.] Ein verunglückter Primaner, der gespielt und gekneipt und Schulden gemacht und, um die Schulden zu decken, seines Vaters Pult erbrochen [hatte.]946

Schon in Europa steht er mit Spielsucht und starkem Alkoholkonsum auf der Seite der städtischen Moderne. In der Kolonie steht er für den parvenühaften Aufsteiger, den Prototypen des ›Tropenkollerigen‹; er wird im Verlauf der Erzählung gewalttätig gegen seine Frau. Der zweite Erzählstrang behandelt eine hochgradig nervöse Baronin, deren Schönheit ausschließlich auf künstlichen Hilfsmitteln basiert. Aus einer nervösen Langeweile am beständigen Reisen von einem Bad zum nächsten heraus ebenso wie wegen eines von der Lebensweise strapazierten Geldbeutels947 ist sie in die Kolonie gegangen – die Baronin »war ihrer Lebensweise überdrüssig«948. In der Kolonie betört sie mit ihrer gekünstelten Schönheit, ohne jemals ernsthafte Absichten zu hegen, reihenweise die Männer : »›Daß du denkst, du könntest dich lösen. Daß du wegbleibst, um deine Freiheit wiederzuerlangen! Weißt du nicht, wen Zo[ Gensdorff einmal hält, der hat keinen eigenen Willen mehr!‹«949, flüstert die Baronin ihrem Liebhaber ins Ohr. Beide Erzählstränge sind als Ergänzung zu demjenigen, der den ›dritten‹ Weg der Moderne vor Augen führt, zu verstehen: Sie verkörpern die ›falsche‹ Moderne, stehen jeweils für bestimmte Facetten der Moderne in der Kolonie. Darüber hinaus sind die drei Erzählstränge und ihre Personenkonstellationen 944 945 946 947 948 949

Kraze: Heim Neuland, S 98. Ebd., S. 102. Ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 153. Ebd., S. 152. Ebd., S. 213.

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über Dispositionen des Willens organisiert. Während dem Haupterzählstrang wie gezeigt (wieder erstarkte) Willenspersönlichkeiten zugeordnet sind, erstarken die Figuren der Nebenerzählstränge in Bezug auf ihren Willen in der Kolonie nicht wieder. Die drei Erzählstränge, die während des Romans in erster Linie über die Protagonisten zusammen gehalten werden, verdichten sich am Ende des Romans im Ausbruch des Aufstandes der Herero 1904, in dem die willensstarken und gemeinschaftsfähigen Personen überleben, die nervösen und ›tropenkollerigen‹ hingegen zu Tode kommen. Für die Frage nach der ›reformierten‹ Moderne ist dies aufschlussreich: Der Gang in die Kolonie reicht allein nicht aus, um eine Gesellschaftsveränderung zu bewirken; es müssen die richtigen Werte, die richtige Weltanschauung dahinter stehen. So sind es ausschließlich diejenigen, die die ›Avantgarde‹ gegenüber Europa verkörpern, die im Roman überleben und im Anschluss an den Aufstand die Kolonie von neuem aufbauen wollen. Im deutschen Überseeroman wird damit ein Konzept der Moderne präfiguriert, das kurz vor 1914 in Deutschland in Bezug auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges virulent werden wird: Der Krieg als Katharsis.950 Bereits die Not des Kolonialkriegs bietet Anlaß zum Verzicht auf schädliche Stimulantien, sie schiebt der weiteren Verweichlichung des Menschen und der Rückbildung seiner Organfunktionen einen Riegel vor. Nicht zuletzt bestätigt sie ein vertrautes System von Stigmatisierungen. Denn sie trifft diejenigen am härtesten, die sich vom natürlichen Leben am weitesten entfernt haben: den »modernen Kulturmenschen«, den überspannten und erschöpften Neurastheniker, den Großstädter. […] Der Krieg, so grausam er sein mag, lässt sich als Chance betrachten, um Verunreinigungen zu tilgen.951

Die kathartische Wirkung wird schließlich mit sozialdarwinistischen Vorstellungen enggeführt, wenn sie als ›natürliche Selektion‹ der gemeinschaftsunfähigen Menschen gedeutet wird. Das gilt einerseits schon für gemeinschaftsunfähige Europäer : »In Afrika ist der Daseinskampf und die natürliche Zuchtwahl intensiver als anderswo… was nicht taugt, geht zugrunde. […]«, erläutert der Onkel als Erfahrener, als alter Afrikaner, dem Neffen, dem jungen Afrikaner, in Johannes Doses »Ein alter Afrikaner«.952 Vor diesem Hintergrund ist schließlich auch die offene Darstellung des Ge950 Albrecht Koschorke zeigt auf, dass für die Entwicklung des Motivs »Krieg als Reinigung« vier Etappen unterschieden werden können: Erstens die Vorstellung vom »faulen« Frieden und der Naherwartung der Gewalt vor 1914; zweitens die Wahrnehmung des Kriegsausbruchs als Befreiung; drittens die Katharsis des Grauens und schließlich viertens die Vollendung des Krieges nach dem Krieg. Vgl. Koschorke, Albrecht: Moderne als Wunsch. Krieg und Städtebau im 20. Jahrhundert. In: Graevenitz, Gerhart von (Hrsg.): Konzepte der Moderne. Stuttgart 1999, S. 656–674, hier Abschnitt II, S. 658–664. 951 Ebd., S. 657. 952 Dose: Ein alter Afrikaner, S. 105.

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nozids an den Herero zu verstehen, der nicht nur, wie in der Forschung953 herausgearbeitet, unter machtpolitischen Gesichtspunkten legitimiert wird, sondern zugleich als Teil der Selbstreinigung der Gemeinschaft verstanden werden muss. Frenssens »Peter Moors Fahrt nach Südwest« etwa schildert offen die Vertreibung der Herero in die Sandwüste und damit den konsequenten Tod eines ganzen Volkes aufgrund von Wassermangel: Dann kam die Nachricht, daß der Feind nach Überwindung und Umgehung der großen Durststrecke, auf der Tausende von ihm umgekommen waren, weit im Osten, am jenseitigen Rand des Sandfeldes, an kümmerlichen Wasserstellen säße. Da beschloß der General, ihm dorthin zu folgen, ihn anzugreifen und zu zwingen, nordostwärts in den Durst und in den Tod zu gehen, damit die Kolonie für alle Zeit vor ihm Ruhe und Frieden hätte.954

Legitimiert wird der Genozid sowohl über die sozialdarwinistische Argumentation des Daseinskampfes und des Rechtes des Stärkeren, als auch über die fehlende Kulturleistung der vermeintlich unterentwickelten Afrikaner. Zentral ist dann die Passage, in der der übergeordnete Zusammenhang des Krieges beleuchtet wird: Darauf sagte [der Oberleutnant]: »Diese Schwarzen haben vor Gott und den Menschen den Tod verdient, nicht weil sie die zweihundert Farmer ermordet haben und gegen uns aufgestanden sind, sondern weil sie keine Häuser gebaut und keine Brunnen gegraben haben. […]«955

Weiter äußert sich der Oberleutnant: Er sah auf und sagte mit seiner heiseren, schmerzenden Stimme: »Wir müssen noch lange hart sein und töten; aber wir müssen uns dabei, als einzelne Menschen und als Volk, um hohe Gedanken und edle Taten bemühen, damit wir zu der zukünftigen, brüderlichen Menschheit unseren Teil beitragen.«956

Der Genozid wird als kulturhistorische Notwendigkeit, als ›reinigende‹ Maßnahme für die weitere Entwicklung der Menschheit begriffen. Auch die Darstellung des Genozids muss insofern wie die Diskursfiguren der ›Verkafferung‹ und des ›Tropenkollers‹ auch in Bezug gesetzt werden zur Deutung des Kolonialkrieges als kathartisches Moment für die Gemeinschaft: Nicht mehr einzelne 953 Die Forschung hat sich in den letzten Jahren ausführlich mit der Darstellung des Krieges zwischen deutscher Kolonialmacht und Herero und Nama 1904 bzw. 1904 bis 1907 beschäftigt und unter anderem darauf verwiesen, dass die Darstellung des Völkermordes an den Herero keinesfalls kaschiert, sondern vielmehr legitimiert wird. Zur Forschungslage zum kolonialen Kriegsroman im Allgemeinen und zum Genozid an den Herero im Besonderen vgl. Anm. 491. 954 Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 170/171. 955 Ebd., S. 200. 956 Ebd., S. 201.

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Figuren wie die der Magdalena in Holms »Pioniere« werden eliminiert, sondern ein ganzes Volk. Über den Genozid an einem ganzen Volk wird buchstäblich Raum für die neue Gesellschaft geschaffen. Erkennbar reagiert der kulturkritische Überseeroman mit der Eliminierung Gemeinschaftsunfähiger schließlich auch auf die moderne Kontingenz-Erfahrung. Die Erfahrung des – vielfach über rückblickende und umfassende Vorgeschichten dargelegten – Verlustes von Gemeinschaft an Gesellschaft ist auch und gerade als Kontingenzerfahrung zu verstehen: Angesichts der wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Modernisierung verliert das Leben seine Vorhersehbarkeit; Schicksal, Vorsehung und vorgezeichnete Lebenswege fallen der prinzipiellen Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen zum Opfer. Insofern am Ende dieser Romane nun nur die kolonialtauglichen Menschen, die gemeinschaftsfähigen Menschen überleben, werden die Störfaktoren der Gemeinschaft durch den Krieg geradezu schicksalhaft eliminiert. Allgemeiner formuliert: Wurde die vorgängige, vormoderne Gemeinschaft durch die Erfahrung moderner Kontingenz gestört, werden mit der Re-Vergemeinschaftung der Gesellschaft in der Kolonie und der Selbstreinigung der Gemeinschaft auch Schicksal, Vorsehung und angestammte Lebenswege wieder eingeführt. Zum Ensemble der Diskursfiguren, auf die der deutsche Überseeroman zurückgreifen kann, gehört die Trias Eisenbahn – Dampfschiff – Telegraph. Damit werden alle drei Insignien der industriellen Moderne aufgerufen und in den Kontext machtpolitischer Expansion gestellt. Nun fällt auf, dass insbesondere die Eisenbahn nicht ausschließlich positiv konnotiert ist. Auch die Figur der Kolonialeisenbahn scheint doppelt codiert zu sein. Der kulturkritische Überseeroman arbeitet sich am Zeichen der industriellen Moderne ab und modifiziert dieses: »›Wann geht der nächste Personenzug?‹ war natürlich die erste Frage. ›Ist gestern abgefahren. Alle fünf Tage geht einer!‹ Sieh da. Hier war die Klingelbahn von daheim noch bei weitem übertroffen.«957 In Holms »Pioniere« gehöre »[d]ie Eisenbahnfahrt von Swakopmund nach Windhuk […] entschieden zu den zweifelhaftesten Vergnügungen des Südwestafrikaners«, die Insassen waren seit »eineinhalb Tagen unterwegs […] und [hatten] immer noch sechs Stunden Fahrt vor sich […].«958 Schließlich werden die Mitreisenden belehrt: »›Ja, ja, mein Lieber, hier muß man sich das Temperament des Treckochsen angewöhnen, sonst kommt man nicht weiter! […]«959 Der Erzähler in Jonk Steffens »Im Orlog« geht sogar soweit, eine Fahrt mit der entschleunigten Eisenbahn in Südwest als Heilmittel gegen europäische Nervosität einzusetzen: 957 Kraze: Heim Neuland, S. 94. 958 Holm: Pioniere, S. 100. 959 Ebd., S. 101.

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Ich möchte sogar hervorheben, daß es gerade für nervöse, mit Eisenbahnfieber behaftete Menschen nichts Heilsameres gab, als dazumal eine Fahrt durch Sandstrecken, Felsgebirge und Steppen von Südwest. Eine Strecke, die im hastigen Europa in vier Stunden durchrast wird, erledigte die Wüstenbahn in vier Tagen […]. Nachts lag die Lokomotive still, wurde beruhigt, ausgebessert, geölt und mit Wasser versorgt; sie sammelte Kräfte für die Strapazen des nächsten Tages.960

Hier werden noch einmal jene Erfahrungen der Desorientierung aufgrund der Auflösung traditioneller Raum-Zeit-Zusammenhänge einerseits und der Reizüberflutung aufgrund der als ungeheuer empfundenen Geschwindigkeit und vor allem aufgrund nicht angepasster Wahrnehmungsformen andererseits aufgegriffen. Gegenüber der ›rasenden‹ Eisenbahn im ›hastigen‹ Europa wird die Bahn in der Kolonie als Entschleunigung erfahren, als reizarme (vormoderne) Reiseform. Schließlich werden der Lokomotive die Eigenschaften eines Pferdes und also des vor der Transportrevolution vorherrschenden Transportmittels, zugeschrieben: Hier werden moderne Reiseformen und die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als unheimliche Bedrohung erlebte Technik961 auf sonderbare Weise mit der vorindustriellen, ›natürlichen‹ Reiseform verschränkt, die sie eigentlich ablöst. Damit ist die eigentümliche Ambivalenz der Diskursfigur der Eisenbahn in Bezug auf den Modernisierungsprozess herausgearbeitet: Wird mit der Eisenbahn einerseits das klassische Bild der industriellen Moderne aufgegriffen und in die Kolonie gebracht, wird das Signum europäischer Moderne vor diesem Hintergrund zugleich umgedeutet. Die Eisenbahn wird einerseits als Gewinn gegenüber früheren Reiseformen in der Kolonie angesehen und dieses moderne Fortbewegungsmittel insofern grundsätzlich bejaht – zugleich wird aber ihre Langsamkeit gegenüber der europäischen Eisenbahn lobend hervorgehoben. Gezeichnet wird eine ›entschleunigte‹ Eisenbahn, die als Zeichen einer Verlangsamung, einer Entschleunigung des europäischen Modernisierungsprozesses gelesen werden kann. In der diskursiven Figur der Eisenbahn verdichtet sich so symbolisch das Ringen um einen dritten Weg im Umgang mit der Moderne. Zugleich wird anhand dieses Symbols das gespaltene Verhältnis des kolonialen Romans zur Moderne deutlich: Einerseits wird in ihm die Hoffnung auf eine ›andere‹, eine ›bereinigte‹ Moderne, die nur an der äußersten Peripherie der Welt überhaupt noch möglich ist, deutlich. Andererseits lässt sich an diesem für die Überseeliteratur typischen Bild der ausgebremsten Eisenbahn ablesen, dass die Beschreibung kolonialer Sozialformen keinesfalls als Stillstand zu verstehen ist: Wenigstens ein Teil der die überseeische Kolonisation behandelnden Ro-

960 Steffen: Im Orlog, S. 18. 961 Vgl. Schievelbusch: Eine Geschichte der Eisenbahnreise, S. 117ff.

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mane beschreibt die »Bimmelbahn Swakopmund – Windhuk«962 bereits aus rückblickender Perspektive – und rückt damit dann doch wieder vom utopischen Alternativentwurf ab und zurück in die Nähe einer sentimentalischen Verlustgrammatik. Insofern mit den Diskursfiguren ›Fremde Heimat‹, Pioniere, Paradies, ›Verkafferung‹, ›Tropenkoller‹, Krieg und Genozid, Eisenbahn und Dampfschiff nun zahlreiche der auf den ersten Blick kolonialdiskursiven Figuren neben einer machtpolitischen eben auch eine kulturkritische Bedeutungsdimension aufweisen, steht um 1900 ein Kontingent an doppelt codierten Diskursfiguren bereit, auf das die (Übersee)Literatur zurückgreifen und das sie je nach Beobachtung und Beschreibung der Moderne arrangieren kann. Sowohl der machtpolitische als auch der kulturkritische Überseeroman verhandeln also, das kann an dieser Stelle in einem ersten, resümmierenden Zugriff festgehalten werden, Moderne – mit dem Unterschied, dass der nur machtpolitische Kolonialroman es bei der Beobachtung und Beschreibung belässt, während der kulturkritische Überseeroman anknüpfend an das triadische Geschichtsmodell der Kulturkritik und das utopische Potential des Koloniebegriffs zugleich Alternativentwürfe zur Moderne schreibt. Diese Texte sind wesentlich vom weltanschaulich-kulturkritischen Denken der Jahrhundertwende beeinflusst, das seinerseits nicht nur das Textkorpus der ›Weltanschauungsliteratur‹ im Sinne Horst Thom8s, sondern auch das Korpus der ›Weltanschauungsromane‹ hervorbringt. Der kulturkritische Überseeroman ist dann, so die eingangs aufgestellte These, von diesem Texttypus her zu verstehen. Insofern nun wie skizziert die ›Weltanschauungsdichtung‹ von der Forschung bislang weitgehend vernachlässigt worden ist, muss zunächst der weltanschaulichkulturkritische Roman im Allgemeinen behandelt werden, bevor im Anschluss aufgezeigt werden kann, dass und wie Überseeliteratur und Weltanschauungsdichtung tatsächlich wechselseitig aufeinander bezogen sind.

IV.3 »[I]m Roman ein ganzer Weltzustand«963. Zum Weltanschauungsroman und zur Re-Lektüre des deutschen ›Kolonialromans‹ IV.3.1 Der Weltanschauungsroman: Ein Texttypus der Jahrhundertwende Im Umfeld des weltanschaulich-kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende ist mit dem weltanschaulich-kulturkritischen Roman ein ergänzendes 962 Steffen: Im Orlog, S. 18/19. 963 Bartels: Heimatkunst, S. 17.

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literarisches Textkorpus entstanden, der sich seinerseits inhaltlich am gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierungsprozess abarbeitet. Das Spezifische dieses Textkorpus ist die Synthese von kulturkritischer Beobachtung und Beschreibung des Modernisierungsprozesses im Sinne des kulturkritischen Beobachtungsmodus einerseits und weltanschaulichem Klärungsprozess andererseits. Die spezifische Form der Modernereflexion führt zugleich zu spezifischen literarischen Erzählverfahren, die dann den Formtypus des Weltanschauungsromans im engeren Sinn ausmachen. Wider die Moderne. Kulturkritik und Weltanschauung in der Literatur um 1900 Der Weltanschauungsroman entsteht in der Nachfolge des Naturalismus. Nicht nur kommen viele der Autoren selbst aus dem Naturalismus – zu nennen wären Wilhelm Bölsche und Eduard von Keyserling ebenso wie die sogenannten Heimatkunstautoren –, auch inhaltlich sind die Texte in der Nachfolge des Naturalismus zu verstehen. Sie knüpfen – zunächst – an die Beschreibungsmodelle, die der naturalistische Roman für den Modernisierungsprozess des 19. Jahrhunderts entwickelt, an, insofern Moderne hier – dies in kulturkritischer Perspektive – als Verlust von Ganzheitlichkeit und Sinnhaftigkeit, sozial als Übergang von Gemeinschaft in Gesellschaft sowie ökonomisch als Untergang des Wirtschaftsmodells des ›ganzen Hauses‹ am Übergang zur kapitalistischen Wirtschaftsform beschrieben und reflektiert wird.964 Insbesondere im sogenannten Heimatkunstroman, der – insofern Heimat wie gezeigt ein Synonym für Weltanschauung ist – Weltanschauungsroman ist, verdichtet sich dieses Beschreibungsmodell auf der inhaltlichen Ebene in der Ausgestaltung des Erbhof-Verlustes. Als paradigmatisches Beispiel dieser heimatkünstlerischen Modernebeschreibung und -reflexion kann Gustav Frenssens »Jörn Uhl«965 gelesen werden. Die beiden Familien des Romans, die Familie 964 Für den Zusammenhang der Stadt/Land-Dichotomie und Tönnies’ Kategorien von Gemeinschaft und Gesellschaft in der Literatur um 1900, der auch hier relevant ist, sei auf die entsprechenden Hinweise in Abschnitt IV.2.2 »Regeneration und Erlösung in der Kolonie. Der kulturkritische Überseeroman« verwiesen, er wird hier nicht ein weiteres Mal entwickelt, steht aber im Hintergrund der nachfolgenden Ausführungen zum Weltanschauungsroman. 965 Vgl. zu »Jörn Uhl« neben den einschlägigen Studien zur Heimatkunst im Allgemeinen (vgl. Anm. 259) auch Wimmer, Ruprecht: »Buddenbrooks« und »Jörn Uhl« – zwei norddeutsche Erfolgsromane des Jahres 1901. In: Heftrich, Eckhard/Sprecher, Thomas/Wimmer, Ruprecht (Hrsg.): Thomas Mann Jahrbuch, Band 15, Frankfurt/Main 2002, S. 117–133. Wimmer vergleicht unter anderem die Verfallsgeschichten, die Figuren, die Schauplätze der beiden Romane; herausgearbeitet werden unter anderem auktorialer Erzähler, Anknüpfungen an den Bildungsroman (›Seelenbildung‹ des Jörn Uhl) und Heimatoptimismus auf der Seite Gustav Frenssens im Gegensatz zu einem Erzähler, »der niemals auktoriale Verantwortung für seine Geschichte übernimmt« und insofern auch »jede allgemeinere Ver-

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Thiessen mütterlicherseits und die Familie Uhl väterlicherseits, stehen zunächst stellvertretend für Vormoderne und Moderne: Während der Erbhof der Familie Thiessen weit abgelegenen [sic!] und von der Moderne weitgehend unberührt ist, mithin für das Ideal vormodernen Arbeitens und Lebens steht, sind der Erbhof des Vaters und dessen Bewohner nicht nur räumlich näher an der Moderne, sondern bereits von der gesellschaftlichen und ökonomischen Moderne berührt. Der Erbhof der Väter ist insofern immer schon davon bedroht, von der Moderne eingeholt zu werden, an die Moderne verloren zu gehen. Der Tod der Mutter am Beginn des Romans präfiguriert dann den Untergang des Erbhofes der Uhlen und der damit verbundenen Lebensform, den der Text im weiteren Verlauf über knapp 500 Seiten entfaltet: Lebt und arbeitet die Familie Uhl zu Beginn noch mit dem Großmädchen Wieten Penn, Großknecht, Knechten usw. in (vermeintlich) intakter Arbeits- und Sozialgemeinschaft, löst sich diese im weiteren Verlauf der Erzählung bis hin zum völligen Auseinanderbrechen auf. Bereits früh arbeitet Jörn Uhl auf dem Hof des Vaters mit, steckt der trinkfreudige und nicht besonders arbeitsliebende, mithin von den Begleiterscheinungen der Moderne berührte Vater in finanziellen Schwierigkeiten: Der Alte sah bedächtig auf den Steig. »Ich erinnere mich jetzt, daß Klaus Uhl in unserer letzten Sparkassensitzung mit Karsten Rievert über allerlei Papiere sprach und das Wort ›Ultimo‹ dabei genannt wurde. Was ist denn das, Herr Landvogt? Ultimo?« »Ja, … wenn ein Bauer anfängt, mit Geld zu spekulieren, dann verliert er sein Geld, nicht?« »Ja… immer! Jochen Mill verlor in drei Wochen seine ganzen 150 000 Mark.« »Na, sehen Sie! Und wenn nun einer ›Ultimo‹ spielt, dann kann er nachher ganz genau bindlichkeit beanspruchende Lebensdeutung« (ebd., S. 127) unterlasse in der »kühl-pessimistischen Hanseatengeschichte« (ebd., S. 132) Thomas Manns. Hieran anknüpfend soll hier argumentiert werden, dass die Demarkationslinie zwischen den beiden Romanen, deren Verfallsnarrative zunächst Gemeinsamkeiten aufweisen, genau im weltanschaulichen Gehalt des Frenssenschen Romans liegt: Der bei Wimmer als ›auktorial‹ gekennzeichnete Erzähler ist ein weltanschaulicher, die ›Seelenbildung‹ ein weltanschaulicher Bildungsprozess; liegt den »Buddenbrooks« ein pessimistisches Verfallsnarrativ zugrunde, wird dieses in »Jörn Uhl« durch ein utopisch-hoffnungsvolles Erlösungsnarrativ überboten, das sich aus dem Geschichtsmodell weltanschaulicher Kulturkritik ableitet. Vgl. daneben Jarchow, Klaas: Geboren 1902. Von der Entstehung des Schriftstellers Gustav Frenssen durch den Erfolg des Romans »Jörn Uhl«. In: Dohnke, Kay/Stein, Dietrich (Hrsg.): Gustav Frenssen in seiner Zeit. Von der Massenliteratur im Kaiserreich zur Massenideologie im NS-Staat. Heide 1997, S. 262–284; Zohlen, Gerwin: Jörn Uhl von Gustav Frenssen. In: Weil, Marianne (Hrsg.): Wehrwolf und Biene Maja. Der deutsche Bücherschrank zwischen den Kriegen. Berlin 1986, S. 127–147. Daneben auch in der DDR-Germanistik: Ebert, Walter : Zum Weltbild konservativer und völkisch-nationaler Autoren um 1900/1910: Gustav Frenssens »Jörn Uhl«, Paul Ernsts »Der Schmale Weg zum Glück« und Hermann M. Poperts »Helmut Harringa«. Drei Kapitel einer »anderen« Literaturgeschichte. Leipzig, Karl-MarxUniversität, Dissertation März 1990. Ebert hebt wesentlich auf ideologische Aspekte innerhalb der drei Romane ab.

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sagen, wann er sein Geld verloren hat. Das ist der ganze Unterschied… Was war mit Jochen Mill? In drei Wochen sagen Sie?«966

Hier deutet sich die weitere Entwicklung an: Immer tiefer rutscht der Vater in die Schulden, immer höher ist die Uhl verschuldet, gerät in die Fänge der modernen Geldwirtschaft. Kurze Zeit später wird Klaus Uhl der Kredit gekündigt: »›Ich bin nicht hierhergekommen, um gefeiert zu werden, sondern um meine 80 000 Mark zu kündigen. […]‹«967 Jörn Uhl »sagte mit stockender Stimme: ›Vater, wenn wir so viele Schulden haben, müssen wir den Hof wohl bald verkaufen,‹ und er weinte laut auf.«968 Als Jörn Uhl den Hof schließlich (gegen die eigentliche Erbfolge) übernimmt, ist er bereits überschuldet – mit der Hypothek der Moderne belastet: »›Jetzt‹, sagte der Alte, ›ist der Hof etwas über Wert belastet; denn da sind noch einige Wechselschulden, und das Inventar ist nicht das beste. Wir würden also Geld verlieren, wenn wir den Hof zum Zwangsverkauf brächten. Darum lassen wir dir den Hof.‹«969 Während der Protagonist – vorerst – den Hof noch bewirtschaftet, verlieren zahlreiche Familien in der direkten Umgebung den Hof direkt aufgrund von Überschuldung: Als er [Jörn Uhl] seine Schwester nun also in Sicherheit gebracht hatte, wie er meinte, und er wieder der Großknecht auf der Uhl war, da merkte er wohl bald, daß es auf der Uhl und auf mehreren anderen Höfen schlimm stand und das Ende von dem wilden Liede nicht mehr fern war. […] Ein Mann in Uniform besuchte einige Höfe, und alles fragte, wer das wäre. Kein Mensch hatte diesen Mann und diese Uniform jemals gesehen. Als dann ein Kluger sagen konnte, es könnte kein anderer sein als ein Gerichtsvollzieher, und als es vom Wirtshaus aus bekannt wurde, daß Junge Siek betrunken gesagt hatte, er würde seinen schönen Hof verlassen müssen, es jammere ihn um seine Kinder : da standen an diesem dunklen, wolkenschweren Novembertag unter den kahlen Linden an allen Hausthüren die Handwerker und Arbeiter, und die Fenster im Dorfe waren bis in die Nacht erleuchtet.970

Die Hypothek der Moderne wiegt auch auf der Uhl schwer – allen Bemühungen zum Trotz kann der Protagonist den Hof nicht nur nicht wirtschaftlich rentabel machen, schlussendlich fällt der Erbhof schicksalhaft den Flammen zum Opfer.971 Der Hof der Familie Uhl steht insofern gleichermaßen symbolisch für das Leben der Vorväter wie für dessen Verlust an die Moderne. Der ländlichen Sphäre im Allgemeinen und dem Erbhof im Besonderen stehen dann nicht nur der positiv konnotierte, der Vormoderne zugeschlagene Hof der Thiessens, sondern auch die negativ konnotierte städtische Sphäre, die für 966 967 968 969 970 971

Frenssen, Gustav : Jörn Uhl. Berlin 1901 (1. Aufl. 3. Tsd.), S. 88, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. Ebd., S. 310/311. Ebd., S. 223. Vgl. ebd., S. 412ff.

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die Moderne steht, gegenüber. Der der Vormoderne zugeordnete Thieß Thiessen etwa fühlt sich in der Stadt ausgesprochen unwohl: »[…] Das ist ja gerade die Sache: Sie haben nämlich beide Heimweh. Fiete! Fiete! Wieviel Heimweh überhaupt in dieser großen Stadt ist, das glaubst du nicht. Jeder dritte Mensch hat Heimweh, nicht bloß die, welche auf dem freien Lande geboren sind, nein, es liegt auch noch ihren Kindern im Blut. Erst das dritte Geschlecht begreift, daß es klug und schlau ist, übereinander in engen Straßen zu wohnen… […]«972

Zugleich wird hier auch deutlich, dass die Texte die Unhintergehbarkeit der Moderne durchaus wahrnehmen: Markiert werden die Anpassungsschwierigkeiten des Menschen an die sozioökonomische Moderne und ihre Begleiterscheinungen, die emotional von den Menschen der Gegenwart nicht bewältigt werden. Die Hoffnung liegt hingegen auf einer rationalen Bewältigung in der Zukunft. Das skizzierte Beschreibungsmodell der Modernisierung und ihrer Zumutungen, das auf der Basisdichotomie Stadt/Land basiert und sich in der Figur des Erbhof-Verlustes verdichtet, steht als Deutungsmuster dann auch in jenen Weltanschauungstexten, die nicht wie die sogenannte Heimatkunstliteratur in der ländlichen, sondern wie Eduard von Keyserlings »Die dritte Stiege« in der städtischen Sphäre angesiedelt sind und die moderne Großstadt anklagen, immer als Gegenfolie im Hintergrund. Der Fokus mag hier inhaltlich in erster Linie auf der Suche der jungen Generation nach Sinnhaftigkeit in der modernen Welt liegen – diese bleibt aber konstitutiv an den Untergang der alten Welt und ihrer Werte gebunden. In »Die dritte Stiege«973 ist die Deutung der sozialen und 972 Ebd., S. 289. 973 Keyserling gehört zu jenen Weltanschauungsautoren, die den »Prozeß der weltanschaulichen Klärung überhaupt nur literarisch behandel[n]« (Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 366), ohne »korrespondierende expositorische Weltanschauungsschrift« (ebd., S. 366), wie es sie etwa mit Bölsches »Das Liebesleben in der Natur« zum Roman »Die Mittagsgöttin« gibt. Thom8 führt Keyserlings »Die dritte Stiege« zugleich exemplarisch für den Trend zur »Amalgamierung von Roman und Weltanschauungsliteratur«, auf den Thom8 nur verweist, an (ebd., S. 366). Vgl. zu Keyserlings Roman daneben auch ders.: Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993, hier S. 494–513; vgl. weiterhin das Nachwort zur Neuausgabe von Fritz Martini: Nachwort. In: Keyserling, Eduard Graf von: Die dritte Stiege. Mit einem Nachwort versehen von Fritz Martini. Faksimile-Ausgabe, herausgegeben von Helmut Kreuzer. Heidelberg 1985, S. 259–336; Martini geht unter anderem auf die naturalistische Herkunft des Autors und die soziologischen Aspekte des Romans ein und behandelt autobiographische Züge ebenso wie realhistorische Bezugspunkte, weist aber auch auf die »Abkehr von der Geschichte und Gesellschaft in den stillen Winkel«, die der Protagonist am Ende des Romans vollzieht, hin (ebd., S. 310). Zur Sprachskepsis im Roman siehe insb. Steinhilber, Rudolf: Eduard von Keyserling. Sprachskepsis und Zeitkritik in seinem Werk. Darmstadt 1977, hier S. 40–50. Tatjana Kuharenoka hat darauf hingewiesen, dass »Auge und Blick im Roman von Keyserling als optimale ästhetische Instrumente der Wirklichkeitserkundung und gleichzeitig der inneren Erfor-

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ökonomischen Modernisierung Voraussetzung des weltanschaulichen Klärungsprozesses des Protagonisten Lothar. Der Protagonist wächst bei seiner Tante auf dem Land auf. Diese Tante widmete sich ganz der Landwirtschaft und fuhr täglich mit ihrem alten, ruppigen Schimmel umher. Am Nachmittage, in der dämmerigen großen Stube, empfing sie ihre Leute, fragte nach ihren Angelegenheiten, ertheilte Rathschläge, verordnete Heilmittel; dazwischen schlummerte sie auch ein wenig. Im Winter, um sieben Uhr Abends, ward die Lampe gebracht. Lothar mußte dann ein französisches Buch vorlesen. Draußen vor den Fenstern rauschten die Tannen. Im Flur gingen der Hausknecht und die Mägde ab und zu und stampften sich auf den Fliesen den Schnee von den Schuhen.974

Anders als in der modernen, hektischen und naturfernen Großstadt sind hier Ruhe, Verbundenheit mit der Natur und Abhängigkeit von den Jahreszeiten vorherrschend. Die Tante steht stellvertretend sowohl für althergebrachte Methoden der Landwirtschaft als auch für den Sozialverbund der vormodernen Gemeinschaft. Formuliert werden daneben an späterer Stelle anlässlich des Todes der Tante das Ideal des vormodernen, gemeinschaftlichen Landlebens und ein daran gebundenes Arbeitsideal, die Sinnhaftigkeit vermitteln und die in scharfem Kontrast zum modernen Leben in der Großstadt stehen: Diese Todte – dort ferne in der Einsamkeit des Waldes, brachte ihm das Gefühl trauriger Ruhe. Sie hatte Recht gehabt, die alte Frau, sich von der Welt in jenem stillen Winkel zu bergen und ihrem friedlichen Tagwerk nachzugehen. […] Was die alte Frau dort, unter ihren Tannen, in ihrer ruhigen Art geschaffen, war vollwichtige Arbeit, und er? Er hatte geglaubt, seine Arbeit gefunden zu haben, hatte sich dafür begeistert, wie man sich eben begeistert, wenn man seine Seele durch dreißig Jahre langes, unnützes Suchen ermüdet hat und endlich zu finden geglaubt. Gott! Wie Großes glaubte er zu thun, das ein Leben dafür nicht ausreicht; und nun – nun war es doch nur Narrheit, ein Mißverständniß – Gemeinheit gewesen – – Nichts – Nichts!975

Mit dem Tod der Tante wird auch in diesem Text das alte, vormoderne Leben, das Sinnhaftigkeit vermittelt hat, symbolisch ausgelöscht – ein Zurück hinter die Moderne ist unmöglich geworden. Der Tod der Tante fällt zugleich mit der letzten großen Sinnkrise des Protagonisten zusammen. Der ländlichen Sphäre steht dann auch hier die moderne Großstadt diametral gegenüber : schung des Selbst« erschienen (dies.: Wiener Roman eines Deutschbalten. Großstadt, Visualität, Erinnerung in Eduard von Keyserlings »Die dritte Stiege«. In: Jaumann, Michael/ Schenk, Klaus [Hrsg.]: Erinnerungsmetropole Riga. Deutschsprachige Literatur- und Kulturvielfalt im Vergleich. Würzburg 2010, S. 219–235, hier S. 229); vgl. schließlich auch Gross, Gabriele: Der Neid der Mutter auf die Tochter. Ein weibliches Konfliktfeld bei Fontane, Schnitzler, Keyserling und Thomas Mann. Bern 2002, hier insb. S. 196–204. 974 Keyserling, Eduard Graf von: Die dritte Stiege. Mit einem Nachwort versehen von Fritz Martini. Faksimile-Ausgabe, herausgegeben von Helmut Kreuzer. Heidelberg 1985, S. 10. 975 Ebd., S. 252/253, Hervorhebung im Original.

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Weiter fort erhoben sich mächtige Fabrikgebäude. Lothar konnte durch die Fenster der Untergeschosse die riesigen schwarzen Arme der Maschinen sich regen sehen; russige, halbnackte Menschen gingen zwischen ihnen hin und her. Ein Pusten und Zischen und eine heiße Luft voll von Oel- und Kohlengerüchen drang heraus, der unreine Athem dieses schwitzenden, stöhnenden Ungeheuers dort unten.976

Der Text partizipiert an jenen klassischen, negativ konnotierten Bildern, die der modernen Großstadt als Symbol der Moderne überhaupt in der Literatur der Jahrhundertwende zugeschrieben werden. Die Basisdichotomie Stadt/Land bestimmt dann die bipolare Anordnung weiterer Personen des Romans. So ist die Familie Gerstengresser in ihrer männlichen Linie, obwohl der Lebensmittelpunkt aller Familienmitglieder in der Stadt liegt, über die Binäropposition Landleben (ältere Generation) – Stadtleben (jüngere Generation) organisiert: »Herr Gerstengresser hatte heute keinen Dienst, und wenn er keinen Dienst hatte, dann machte er mit seiner Familie eine Landpartie. Er verstand es überhaupt nicht, wie man seine freie Zeit anders verwenden konnte.«977 Anders sein Sohn Leopold, der sich an der Landpartie nicht beteiligt, seine Freizeit im Bierhaus verbringt978 und sein Vergnügen bei einer Theaterschauspielerin sucht979. In der Figur Leopold Gerstengressers wird zugleich die Nähe Keyserlings zum Naturalismus im Allgemeinen und zum Milieu-Gedanken im Besonderen deutlich. Leopold Gerstengresser wird straffällig, verstößt gegen die Moral und die Zusammengehörigkeit der Gemeinschaft. Vor Gericht legt der Text seinem Verteidiger Benze eine mehrseitige Verteidigungsrede in den Mund, die auf dem Milieu-Gedanken basiert: »Doch giebt es – andererseits – Milderungsgründe, die uns die Umstände, unter denen das Verbrechen stattfand, nicht als verführend – nein, als zwingend zeigen; sie üben auf den Menschen einen so gewaltsamen Druck, daß seine Handlungsweise, so tadelnswerth sie sei, verständlich, erklärlich, ja nothwendig erscheint. Ich sage – nothwendig, denn die Verkettung der Ereignisse, – mehr noch die Atmosphäre, welche der Mensch einathmet – das ist Alles, was er sieht und hört – was er achten und bewundern lernt und verachten und mißbilligen nicht lernt – muß so mächtig auf ein junges, weiches Gemüth wirken, daß seine That logisch aus diesen Voraussetzungen zu fließen scheint und wir zögern, die Verantwortung ganz dem Handelnden zuzuschieben. […]«980

Und so verhandelt der weltanschaulich-kulturkritische Roman »Die dritte Stiege« am Ende weniger individuelle Schicksale als vielmehr exemplarisch anhand der Stadt Wien die Zumutungen der Moderne im Allgemeinen: »›[…] Nicht Leopold Gerstengresser saß auf der Anklagebank, sondern – Wien – – 976 977 978 979 980

Ebd., S. 119. Ebd., S. 102. Vgl. ebd., S. 105. Vgl. ebd., S. 104. Ebd., S. 275.

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Wien selbst! […]‹«981 Die Stadt Wien steht dabei zugleich stellvertretend für die moderne Großstadt überhaupt: »›[…] Solche Stiegen hat wohl jede Großstadt aufzuweisen; die sind keine wiener Spezialität!‹«982 Insofern formuliert der Text zugleich in kulturkritischer Perspektive exemplarisch die Zumutungen der Moderne überhaupt. »Der Weg des Thomas Truck«983 schließlich schließt nicht nur allgemein an das dargelegte kulturkritische Deutungsmuster des Modernisierungsprozesses an, hier wird der Prozess darüber hinaus am explizitesten als ›Vertreibung aus dem Paradies‹, als ›Sündenfall Moderne‹ im Sinne des triadischen Geschichtsmodells gedeutet. Der Garten der Mutter, der für die die ländliche Vormoderne steht, figuriert in diesem Roman zunächst das Paradies: »Der Garten war wie ein Paradies, in dem alles rein und keusch und unberührt nach Entfaltung und Wachstum rang.«984 Die Bedeutung dieses Gartens wird durch eine ausführliche Beschreibung zu Beginn des Romans herausgestellt: Dieser Garten, den sie eigentlich erst geschaffen hatte, war eine Sehenswürdigkeit der Stadt, auf die der Fremde aufmerksam gemacht wurde. Hier standen düstere Pappeln und Ebereschen, die ihren süßen, schweren Duft ausströmten. Dort Buchen, dicht neben Erlen und nicht weit davon Birken mit ihren weißen Stämmen und feinen Zweigen, die wie weiches, seidenes Haar im Winde sich bewegten. Dann kamen große Gebüsche, wo Rot- und Weißdorn wild verschlungen zusammenwuchsen, und ein paar Schritte weiter ein kleines Stückchen Wiese, wo Schafgarbe, Huflattich, roter Sauerampfer, Hahnenfuß, Klee und Mohn, Ranunkeln und Anemonen bunt und lustig durcheinander wucherten. Etwas entfernt davon, getrennt durch einen kleinen Kiesweg, sah man ein Stückchen Ziergarten mit farbschillernder Nelkenpracht und starkem Rosenduft. Schwertlilien und Levkojen, Tausendschönchen und Goldlack, Reseda und zarte, sammetweiche Stiefmütterchen gruppierten sich um hochragende, schwermütige Cypressen.985

Die Kindheit des Protagonisten findet wesentlich in diesem Garten statt, der Garten der Mutter ist ein Rückzugsraum insbesondere vor dem (der Moderne zuzuordnenden) Vater.986 Mit dem Tod der Mutter und dem Einzug der Stiefmutter ins Haus des Vaters ist die Kindheit des Protagonisten vorbei, er muss das väterliche Haus und damit den Garten der Mutter verlassen und in die (moderne Groß)Stadt gehen: »›Wir müssen aus dem Garten,‹ sagte er [Thomas] bitter, ›der mir und Bettina gehört. Wir müssen unter fremde Leute […].‹« Der Gang in die 981 Ebd., S. 279. 982 Ebd., S. 279. 983 Zu Hollaenders Roman »Der Weg des Thomas Truck« vgl. Saly#mosy : Der Weltanschauungsroman, S. 107–111. 984 Hollaender, Felix: Der Weg des Thomas Truck. Ein Roman in vier Büchern. Berlin 1902, Erster Band, S. 116. 985 Ebd., Erster Band, S. 9/10. 986 Vgl. ebd., Erster Band, erstes Buch, Kapitel 2.

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Stadt ist zugleich der Gang von der Heimat in die Fremde: Es ist dies buchstäblich die Vertreibung aus dem Paradies, der fundamentale Sündenfall Moderne.987 Es folgt die lange Episode in der modernen Großstadt, die Episode der Heimatlosigkeit (Thomas ist »heimatlos und von der Scholle verjagt«988, bei einem späteren Besuch beim Vater fühlt er sich »entwurzelt«989), der Orientierungslosigkeit und der Weltanschauungsangebote unterschiedlicher Couleur. Hier werden zugleich die Einwände gegen die Zumutungen der Moderne formuliert: Im Symbol der modernen Großstadt, das dem vormodernen Landleben gegenüber steht und das so zugleich einen zeitlichen Index erhält (Vergangenheit – Gegenwart) verdichten sich all jene kulturkritischen Einwände, die um 1900 gegen die Zumutungen der Moderne ausgesprochen werden.990 Allen diesen Texten liegt mithin die diskursive Grundfigur Stadt/Land zugrunde, die zugleich an ein von der Kulturkritik her zu verstehendes Verlaufsmodell, ein Narrativ (Paradies Vormoderne – Sündenfall Moderne), gebunden ist, das seinerseits zu einem allgemeinen Deutungsmuster des Modernisierungsprozesses wird – der Weltanschauungsroman teilt dieses (zunächst) erkennbar mit anderen Literaturströmungen und Texttypen der Jahrhundertwende. Angesichts der formulierten Einwände gegen die Zumutungen der Moderne stellt sich den Romanen der Weltanschauungsdichtung dann die Frage nach dem – mit Paul Ernst formuliert – »Weg zum Glück« in der Moderne angesichts der Moderne im Speziellen. Es ist dies mit Blick auf den kulturkritischen Beobachtungsmodus von der Semantik des Kulturbegriffs her zu verstehen, beinhaltet der moderne Kulturbegriff doch auf der sachlichen Ebene die Frage nach dem glücklichen oder unglücklichen Menschen. Es fällt zunächst auf, dass der weltanschaulich-kulturkritische Roman ganz grundsätzlich beständig damit beschäftigt ist, die Frage menschlichen Glücks im Allgemeinen zu verhandeln – Paul Ernst nimmt die Frage nach dem Glück gar in den Titel seines

987 Der Dichter Liers formuliert im weiteren Verlauf der Erzählung explizit das Bedürfnis einer Rückkehr zu einem vorgängigen ›Urzustand‹, aus dem der Mensch aufgrund des Sündenfalls vertrieben wurde: »›Arbeiten haben Sie sich so ziemlich abgewöhnt?‹ ›Ich glaube, diesem Ziel nahe zu sein,‹ erwiderte der Dichter. ›Arbeit ist ein künstlich gewordener Kulturbegriff, der mit Menschenwürde und Freiheit meiner innersten Auffassung nach nichts zu thun hat. Das tiefste Symbol dafür,‹ schloß er ernsthaft, ›ist die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradiese. […]‹« (Ebd., Zweiter Band, S. 62) Arbeit figuriert hier erkennbar Moderne. 988 Ebd., Erster Band, S. 134. 989 Ebd., Zweiter Band, S. 155. 990 Auch in Hollaenders »Der Weg des Thomas Truck« werden typische Diskursfiguren der Modernebeschreibung aufgegriffen – etwa eine Variante des Verlusts des väterlichen Erbes, wenn der Vater das Vermögen des Sohnes durch Spekulation verliert (vgl. ebd., Zweiter Band, S. 162) oder die Arbeiterfrage (vgl. ebd., Erster Band, S. 142 sowie ebd., Zweiter Band, S. 204, wo von den ›Privatsklaven der Großindustrie‹ gesprochen wird).

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Weltanschauungsromans auf: »Der schmale Weg zum Glück«991 lauten Titel und Thema des Romans. Die Frage menschlichen Glücks wird in diesem Roman vor allem auf der Figurenebene verhandelt, genauer wird das persönliche Glück oder Unglück aller Figuren, insbesondere der Ehepaare, dargestellt. Jede Figur hat zunächst ein individuelles Glücksverständnis, das ihr selbst bewusst oder unbewusst ist: Die Figur des Krechting etwa sucht nach einem »Ziel […] jenseits des banalen Glückes für sich selbst oder andere«992 ; die Figur des Heller propagiert, dass »wir […] doch immer in unserm Leben das größte Glück zu erringen suchen, das uns möglich sei, ohne unsern Mitmenschen zu schädigen«993 ; Karls »Mädchen aus dem Volke« verfügt über einen »Drange nach Freiheit und nach ungestümem Glück«994. Es ist dies paradigmatisch für den Weltanschauungsroman im Allgemeinen – eine ähnliche Bedeutung hat die Glücksthematik in Hollaenders Roman »Der Weg des Thomas Truck«, dessen Protagonist ebenfalls ein Glückssuchender ist: In ihm »war ein so unendliches Verlangen nach Glück«995. Nicht nur er, auch die anderen Figuren des Romans suchen unablässig nach ihrem Lebensglück: Katharina hat sich mit Thomas verheiratet, weil »[j]eder Mensch […] es eben einmal gut haben [will]«996, und der Pastor zehrt seinerseits vom »großen und kargen Glück«997, das ihm die Seelenverwandtschaft mit Thomas’ Mutter kurz vor deren Tod beschert hat. Die individuelle Suche nach dem Glück mündet im Weltanschauungsroman, das deutet sich hier an und zeigt sich in besonderer Weise in Ernsts »Der schmale Weg zum Glück«, bei der Mehrzahl der Figuren in der Ehe – hierauf wird zurückzukommen sein. Paul Ernst verhandelt gar sämtliche Ehen innerhalb des Textes unter der Basisdichotomie Glück/Unglück998. Schließlich wird das Leben eines Men991 Zu Paul Ernsts »Der schmale Weg zum Glück« vgl. Saly#mosy : Der Weltanschauungsroman, S. 111–114; Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 365; Schönert, Jörg: Der schmale Weg zum Glück und die Tradition des Bildungsromans. In: Der Wille zur Form. Zeitschrift der Paul-Ernst-Gesellschaft, Heft 6 (2006), S. 5–36. Vgl. daneben auch in der DDR-Germanistik: Ebert: Zum Weltbild konservativer und völkisch-nationaler Autoren um 1900/ 1910. 992 Ernst, Paul: Der schmale Weg zum Glück. Ein Roman. Stuttgart/Leipzig 1904, S. 148. 993 Ebd., S. 159. 994 Ebd., S. 192. 995 Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 245. 996 Ebd., Zweiter Band, S. 284. 997 Ebd., Zweiter Band, S. 168. 998 Das beginnt mit dem späten Eheglück des Pfarrerehepaares, die sich »beide gefunden, nachdem sie des Lebens Höhe schon überschritten und sich seit frühen Jahren nacheinander gesehnt; und als sie sich dann heirateten, da war es, als ob alles Glück, das für sie bestimmt gewesen und nicht verbraucht war in den langen Jahren, als ob das sich angesammelt habe und nun um sie sei […].« (Ernst: Der schmale Weg zum Glück, S. 69) Demgegenüber ist das Eheapaar Löwe, bei dem der Protagonist während seiner Schulzeit lebt, unglücklich (vgl. ebd., S. S 73); die Figur des Weiland findet in der Ehe zunächst das individuelle »Leben und das Glück, das sich jedesmal wiederholt, wo eine Familie we-

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schen in diesem Roman darüber hinaus bei seinem Tod rückblickend in generalisierender Perspektive als ein geglücktes oder aber unglückliches beurteilt. So wird ein Mensch, der »ein recht unglücklicher Mensch gewesen«999 sei, beerdigt; demgegenüber kann der Protagonist Hans beim Tod seines Vaters nicht weinen, »›[…] denn er ist sehr glücklich geworden.‹«1000 Was der Roman, abstrahiert man von der Ebene der Einzelschicksale, also liefert, ist ein breites Panorama menschlichen Glücks und Unglücks und damit eine vom kulturkritischen Denken her zu verstehende systematische Vermessung menschlichen Glücks. Konstatiert werden muss nun weiterhin, dass sich die Frage nach dem Glück allererst stellt, sobald die Figuren die Kindheit, die Heimat, die Vormoderne hinter sich lassen und mit der Stadt, der Fremde, der Moderne konfrontiert werden – sprich nach der Vertreibung aus dem Paradies bei Hollaender, mit Beginn der akademischen Bildung von Paul Ernsts Hans Werther. Vor dem Hintergrund der formulierten Zumutungen der Moderne lautet die Antwort des weltanschaulich-kulturkritischen Romans auf die Frage, wie der Mensch trotz der Moderne angesichts der Moderne glücklich werden könne, nun in einem ersten Zugriff: Der Weg zum Glück führt über den weltanschaulichen Klärungsprozess als Antwort auf die Erfahrung des Verlustes von vermeintlich vorgängiger Ganzheitlichkeit, Gemeinschaftlichkeit, Sinnhaftigkeit, auf die Erfahrung der transzendenten Obdachlosigkeit1001 in der Moderne. Insofern ergänzen diese Romane die kulturkritische Abbildung von Zeit – und an dieser Stelle überbietet der weltanschaulich-kulturkritische Roman den sozialen Roman des Naturalismus und dessen Beobachtung und Beschreibung des Modernisierungsprozesses – durch den weltanschaulichen Bildungs- oder Klärungsprozess des Protagonisten1002, der dem Modernisierungsprozess entge-

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nigstens nicht mit allzu großem Leichtsinn gegründet ist« (ebd., S. 225; vgl. auch ebd., S. 99/100, wo das Glück einer Mutter bei der Taufe ihres ersten Kindes beschrieben wird), das er im Laufe des Romans allerdings wieder verliert, weil er politisch verfolgt und inhaftiert wird und sich infolgedessen seiner Frau entfremdet (vgl. ebd., S. 253/254); während Karl in seiner Ehe unglücklich wird – seine Frau klagt beständig, dass sie »vom Unglück verfolgt« seien und »alle andern Menschen mehr Glück haben« (ebd., S. 254) – ist die Ehe von Jordan mit Karls ehemaliger Geliebten von so »großem Glück« (ebd., S. 255), »daß es gar kein größeres Glück geben konnte« (ebd., S. 260). Kurz: »Heiraten [ist] immer ein Glücksspiel« (ebd., S. 228). Ebd., S. 103. Ebd., S. 270. Dies in nur loser Anlehnung an den bekanntlich von Luk#cs geprägten Terminus der »transzendentalen Obdachlosigkeit«. Unter »transzendente Obdachlosigkeit« wird hier dann die fundamentale Erschütterung vormals gesicherter Sinngebungs- und Orientierungssysteme und der sich daraus ableitende Sinnverlust in der Moderne verstanden. Vgl. ähnlich schon Mikljs Saly#mosy, allerdings stark am Schema des Entwicklungsromans orientiert: Auf der Ebene der Handlung sei der Weltanschauungsroman durch biographische Handlungslinien strukturiert, »im Mittelpunkt seiner ideellen Struktur steht das Individuum bzw. die Entfaltung eines Menschen zum Individuum, und dieser

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gensetzt wird. Die inhaltliche Ausgestaltung des weltanschaulichen Klärungsprozesses ist dabei durchaus heterogen, angefangen bei der eher implizit belassenen Ausbildung des ›ganzen Menschen‹ mit ›Persönlichkeit‹ (»Jörn Uhl«) bis hin zur expliziten Abarbeitung an spezifischen Themen wie dem der Religion in »Hilligenlei« oder der Kunstanschauung in Carl Hauptmanns »Einhart der Lächler«. In Paul Ernsts »Der schmale Weg zum Glück« hängen – auf der individuellen Ebene – die Frage menschlichen Glücks und der weltanschauliche Bildungsprozess des Protagonisten konstitutiv zusammen.1003 Grundsätzlich verläuft der Prozeß geht in der Dialektik der Wechselbeziehungen des Einzelnen und des zu einem objektiven Sein geformten Außer-Ichs vor sich« (Saly#mosy : Der Weltanschauungsroman, S. 129). Allerdings ende der Entwicklungsprozess des Individuums nicht in einer Harmonie zwischen reif gewordenem Individuum und Welt, sondern in einer Trennung der beiden, die bruchartig erfolge (vgl. ebd., S. 129) – »[d]as Individuum, nach dem Wortgebrauch der Zeit eher ›Persönlichkeit‹ genannt, geht in die Einsamkeit, die aber eine weltenthaltende ist: seine Reife besteht darin, daß es die Welt in sich aufgenommen hat.« (Ebd., S. 129) Auf der Ebene der Handlung zeigen sich der Aufbruch in die Welt, die Krise, schließlich der Rückzug und die Besinnung des Individuums auf sich selbst. 1003 Das tun im Übrigen verschiedene Weltanschauungsromane mehr oder weniger explizit, so auch Felix Hollaenders »Der Weg des Thomas Truck«. Mikljs Saly#mosy begreift in seiner Monographie »Der Weltanschauungsroman. Der Entwicklungsroman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« diesen als den Entwicklungsroman der Jahrhundertwende/des beginnenden 20. Jahrhunderts (vgl. Anm. 515). Saly#mosy liegt nicht ganz falsch, verkennt allerdings, dass das Individuum im Weltanschauungsroman gerade keine echte Entwicklung durchläuft – hierauf wird zurückzukommen sein. Der Weltanschauungsroman wird in der vorliegenden Arbeit daher nicht als Entwicklungs-, sondern als spezifische Unterform des Zeitromans des 19. Jahrhunderts begriffen. Vgl. zum Anschluss an das Bildungsromanschema in »Der schmale Weg zum Glück« bereits Schönert: Der schmale Weg zum Glück und die Tradition des Bildungsromans. Schönert arbeitet durchaus richtig heraus, dass einerseits die handlungsorganisierende Funktion des Protagonisten geschwächt sei, andererseits die Funktion der Figuren und Ereignisse für die Notwendigkeit ethischer Entscheidungen verstärkt werde (vgl. ebd., S. 9; vgl. daneben auch S. 16f.); ferner arbeitet er heraus, dass der Roman die Orientierungskrisen der Moderne durch Flucht löse (vgl. ebd., S. 10); er zeigt auf, dass es »bei Paul Ernst nicht um die psychischen und intellektuellen Prägungen, die sich für den Protagonisten aus dem Zusammenspiel individueller Voraussetzungen und milieutypischer Bedingungen ergeben« gehe (ebd., S. 14) und das ›Bildungsziel‹ sich nicht kontinuierlich entwickele, sondern über eine Erweckung erreicht werde (vgl. ebd., S. 20); schließlich weist Schönert auch auf den ›allmächtigen‹, kommentierenden Erzähler (vgl. ebd., S. 18) und das wirkungsästhetische Programm, das auf ›Belehrung‹ abziele (vgl. ebd., S. 18), sowie auf den »Dreischritt vom geordneten eben in die Unordnung hin zum Wiedergewinn der Ordnungskraft des Ethos« (ebd., S. 35) hin. Er sieht den Roman dann allerdings wesentlich in der Tradition des Bildungsromans und gerade nicht in der des Zeitromans (vgl. ebd., S. 25 und S. 34): »Wo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Bildungsroman zum Gesellschafts- und Zeitroman erweitert wurde, da schränkt Ernst solche Erweiterungen wieder ein auf Porträts und Milieuskizzen zum überschaubaren Figuren-Ensemble seines Romans; er entwickelt keinen Ehrgeiz, die ›gesellschaftliche Totalität‹ darzustellen und die Sozialmilieus in signifikanter Weise zu verschränken.« (Ebd., S. 34) Dahingegen soll hier argumentiert werden, dass der Roman zwar in gewisser Weise an das Bildungsromanschema anschließt,

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Bildungsprozess in den drei Schritten des Bildungsromans: Der Protagonist verlebt zunächst eine glückliche Kindheit in einer Familie, die nach dem Modell des ›ganzen Hauses‹ organisiert ist.1004 Mit dem Gang in die Stadt – und damit in die Sphäre der Moderne – beginnt eine lange Zeit des Unglücks; die Gymnasialzeit sind »die fünf schlimmsten Jahre seines Lebens«1005. Es ist dies zugleich die Zeit der ersten Religionskrise sowie der ersten Berührungen mit weltanschaulichen Angeboten (Büchners »Kraft und Stoff«1006 wird explizit genannt), die in die Erfahrung der transzendenten Obdachlosigkeit münden: »Karl hatte recht, in dem Buch war ganz klar nachgewiesen, daß es keinen Gott gab […].«1007 Glück empfindet der Protagonist in dieser Zeit nur während seiner Heimatbesuche, insbesondere in der Natur1008. Die Stadt steht dem als Ort des Unglücks gegenüber : »Da fühlte er sich wieder recht elend und unglücklich, und mit Sehnsucht dachte er an seine Heimat und an den Wald […].«1009 Die weitere Ausbildung an der Universität steht unter denselben Vorzeichen wie die Gymnasialzeit1010. In der Stadt kommt Hans mit unterschiedlichen weltanschaulichen Angeboten – etwa dem Sozialismus – in Berührung. Am Ende seiner ›Jünglingsjahre‹ büßen diese Angebote an Bedeutung ein: [A]m Ende der Jünglingsjahre [verliert] das Bewußtsein gemeinsamer Ueberzeugungen seine Bedeutung, das leicht Menschen zur Freundschaft zusammenbringt, denn in Wahrheit fängt jetzt das Alter an, wo die Ehe eintreten muß und die erfolgreiche Berufsarbeit, in welcher die Fähigkeiten und Kenntnisse verwendet werden, die suchende Jünglingsjahre erworben haben.1011

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in erster Linie aber Weltanschauungsroman, verstanden als spezifische Unterform des Zeitromans um 1900, ist – was unter anderem den weltanschaulichen Erzähler, die NichtEntwicklung des Protagonisten, den erwähnten ›Dreischritt‹ und das wirkungsästhetische Programm zur Folge hat. Vgl. Ernst: Der schmale Weg zum Glück, S. 5/6; zum Haushalt gehört neben den drei Generationen der ›inneren‹ Familie unter anderem auch die Magd Dorrel. Ebd., S. 75. Der Text schließt hier über den weltanschaulichen Erzähler an den im weltanschaulich-kulturkritischen Denken allgegenwärtigen Antiakademismus und die Unterscheidung von ›wahrer‹ und falscher Bildung an (vgl. ebd., S. 77). Schönert hat auch darauf hingewiesen, dass hier »nur im Stenogramm des bilanzierenden Erzählerkommentars […] die Geschichte erzählt [wird], aus der Hermann Hesse (Unterm Rad, 1906) oder Emil Strauß (Freund Hein, 1902) den neuen Typus des Schülerromans formen« (Schönert: Der schmale Weg zum Glück und die Tradition des Bildungsromans, S. 20/21); in der »Darstellung der Kinder- und Jugendzeit wie auch in der Geschichte der Jünglingsbzw. Studentenjahre werden Möglichkeiten zu psychologisierenden Erkundungen von Pubertät und Adoleszenz durch Paul Ernst nahezu gar nicht genutzt.« (Ebd., S. 22). Ernst: Der schmale Weg zum Glück, S. 83. Ebd., S. 82. Vgl. ebd., S. 80 beim Blumensammeln. Ebd., S. 130. Vgl. ebd., S. 136. Ebd., S. 280.

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Krise und Wendepunkt der weltanschaulichen Entwicklung des Protagonisten werden eingeleitet, »die unreife Begeisterung der Jugend war erloschen, und Erfahrung und Verständigkeit hatten noch nicht ein neues Bild der Welt erschaffen«1012. Der Bildungsprozess wird als Erschaffung eines Weltbildes, einer Weltanschauung, markiert. Es bedarf nunmehr nicht mehr viel, um den weltanschaulichen Klärungsprozess abzuschließen: Und als Hans an dieses dachte, ging es ihm wie Schuppen von den Augen und sank ihm wie eine Last von den Schultern und sein Herz ward leicht, und er wußte, daß wir einen Vater im Himmel haben, der uns lieb hat und sich freut, wenn wir zu ihm kommen, keinen Vorwurf sagt, sondern uns rühmt und lobt und spricht: »Laßt uns fröhlich sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden.« So geschah in einem Augenblick die Wendung in Hansens Leben und wurden seine Jünglingsjahre abgeschlossen, denn nun sah er einen ebenen Weg vor sich, der durch Tage ruhiger Arbeit zu einem friedsamen Alter führt.1013

Es ist dies im Grunde die Rückkehr zu einem naiven Gottesglauben – insofern ist auch der Rückzug des Protagonisten mit seiner Frau aufs Land, der einer Rückkehr zu vormodernen Lebensformen entspricht, nur konsequent. Carl Hauptmanns »Einhart, der Lächler«1014 behandelt den weltanschaulichen 1012 Ebd., S. 281. 1013 Ebd., S. 334. 1014 Zu Carl Hauptmann Roman »Einhart der Lächler« vgl. Saly#mosy : Der Weltanschauungsroman, S. 115–120; Müller, Dominik: Vom Malen erzählen. Von Wilhelm Heinsens »Ardinghello« bis Carl Hauptmanns »Einhart der Lächler«. Göttingen 2009, hier insb. S. 337–345. Der Fokus der Studie liegt auf der Frage, was und wie im Malerroman von Kunst erzählt wird (vgl. ebd., S. 13); Müller arbeitet heraus, dass der »Wegweiser für Einharts Entwicklung ganz in dessen Innerem« liege (ebd., S. 339), die Akademie vor diesem Hintergrund ein »Ort des Behauptens, des Festhaltens am Eigenen, gegen Ansprüche einiger Lehrer, die den Jüngling zu normgerechten Arbeiten führen möchten« (ebd., S. 339). Darüber hinaus wird die Bedeutung des Blicks und der Augen innerhalb des Romans herausgestellt: »Der Landschaftsmaler sieht und sieht doch nicht. Das Auge scheint sich verselbständigt zu haben. […] Das genaue Hinschauen, das scharfe Beobachten, das dem grünen Heinrich als Königsweg zur Landschaftserkenntnis wurde, führt den Landschaftsmaler Carl Hauptmanns nicht mehr zum Ziel. Künstlerisch relevantes Sehen ist mehr als das bloße Registrieren optischer Daten.« (Ebd., S. 343) Ohne den Bezug zur Weltanschauungsdichtung zu sehen, wird hiermit verbunden schließlich nicht nur die Abkehr vom Naturalismus sowohl auf der Ebene des Inhalts als auch hinsichtlich des eigenen literarischen Verfahrens konstatiert (vgl. ebd., S. 340), sondern auch herausgearbeitet, dass Kunst hier dem »Ideal einer Art Totalwahrnehmung der Natur« verpflichtet sei (vgl. ebd., S. 344) – es ist dies, das sei an dieser Stelle ergänzt, der weltanschauliche Blick aufs Ganze. Vgl. weiterhin Bonter, Urszula: Eine gefährliche Maske. Das Grinsen Einhart des Lächlers. In: Bialek, Edward/Czarnecka, Miroslawa (Hrsg.): Carl und Gerhart Hauptmann. Zwischen regionaler Vereinnahmung und europäischer Perspektivierung. Wroclaw/Dresden 2006, S. 86–96. Szafarz, Jolante: Das Motiv der Entfremdung im Roman »Einhart der Lächler« von Carl Hauptmann. In: Bialek, Edward/Czarnecka, Miroslawa (Hrsg.): Carl und Gerhart Hauptmann. Zwischen regionaler Vereinnahmung und europäischer Perspektivierung. Wroclaw/Dresden 2006, S. 138–143; Schmitz, Walter : Wege der

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Klärungsprozess als Ausbildung von Kunstanschauung. Die Grundspannung des Protagonisten zwischen Wissenschaft und Kunst erklärt sich aus dem beiderseitigen Erbteil von Vater und Mutter. Sein Vater ist Geheimrat und ein »berühmter Altertumsforscher gewesen, ein versunkengrabender Kenner aller ehrwürdigen Dokumente deutscher Vergangenheit«1015, seine Bücher werden als uniformiert und »kalt papieren gebunden in Grau«1016 charakterisiert, der Vater »beherrschte«1017 die Familie. Die Mutter ist dahingegen in ihrer Jugend eine »wohlhabende Zigeunerdirne«1018 gewesen und also der Naturseite zuzuordnen. In der Schule scheitert der Protagonist, da er sich nicht an das intellektuelle Lernen anpassen kann und die Institution Schule seinen Zugang zur Welt nicht anerkennen kann.1019 Während der Ausbildung in einer Steindruckerei kommt er erstmals mit einem anderen Zugriff auf die Welt als dem rein intellektuellen, nämlich dem künstlerischen, in Kontakt: »Und man sah auf den Tafeln allerhand Dinge aus der Welt. Nicht nur Buchstaben. Auch Bilder. Manches davon bewegte Einhart.«1020 Hier fällt die Entscheidung, Kunst zu studieren – es beginnt zugleich der eigentliche weltanschauliche, genauer : kunstanschauliche, Klärungsprozess des Protagonisten. Dieser umfasst mehrere Phasen: In einer ersten Phase muss sich Einhart gegen die moderne Kunstauffassung der Akademie absetzen. »Ach, was braucht es zur heutigen Kunst noch eines Menschen von Fleisch und Blut, mit Sehnsuchten noch Erlösung und Überraschung? Das alles weiß man, das kennt man!« rief Einhart dann verächtlich, »diese ganze akademische Kunst! Original, das heißt, aus dem Ursprünglichen, Drängenden, Schauenden neugeboren. Alles andere ist Handlangerei.« »Diese modernen Künstler sind Modeherren, die aus allen Weltgegenden den Wind fangen möchten,« rief er dann.1021

Der modernen Kunst werden Individuum und Persönlichkeit als Prinzipien entgegen gestellt: »›[…] Ich finde es selber, was mich hält, und was sich lohnt, daß ich es tue. Oder ich werfe es hin – alles! das Leben vielleicht!‹«1022 Schlussendlich wendet der Protagonist sich von der Akademie und ihrer mo-

1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021 1022

›Erlösung‹ in epischer Form: Gerhart Hauptmanns »Der Narr in Christo Emanuel Quint« und Carl Hauptmanns »Einhart der Lächler«. In: Bialek, Edward/Czarnecka, Miroslawa (Hrsg.): Carl und Gerhart Hauptmann. Zwischen regionaler Vereinnahmung und europäischer Perspektivierung. Wroclaw/Dresden 2006, S. 294–330. Hauptmann, Carl: Einhart, der Lächler. Roman in zwei Bänden, Berlin 1907, Erster Band, S. 15. Ebd., Erster Band, S. 15. Ebd., Erster Band, S. 15. Ebd., Erster Band, S. 3. Vgl. ebd., Erster Band, S. 54: »Aber das wollten die Lehrer nicht anerkennen.« Ebd., Erster Band, S. 88. Ebd., Erster Band, S. 125/126. Ebd., Erster Band, S. 126.

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dernen, intellektuellen Kunstanschauung ab und bildet einen auf den Begriffen des Lebens, der Persönlichkeit, der Seele, der Anschauung basierenden Kunstbegriff aus. Einhart mied die Akademiekneipe jetzt fast ganz […]. Es war ihm einfach zuwider, sich leeres Geschwätz anzuhören, jenen verdünnten Widerhall der weisen Akademielehren, die ihm noch dazu in der Erinnerung mit dem faden Geruch alter Süßigkeiten gemischt erschienen. […] Gelehrtes, nur mit Worten ergreifendes Wissen und Wesen der Kunst lag ganz hinter ihm. Er war darüber klar geworden, daß die Hochmomente des wirklichen Erlebens sich anfangs wie kleine, feine Sterne vor die Schau und Sinne stellen, genau und genauer besehen Keime Licht, die zu einigen Bildern und vollen Gleichnissen des eigenen Ganges und Schicksals aufwachsen. Daß es schließlich in Klängen oder Farben oder Ideen dann und wann etwas gibt, was wie ein Glück, wie ein Geschenk aus der Seele springt, geeint wie ein geschliffener Stein, unmittelbar klar dem schauenden Wesen, ein Unvergeßliches an Gestalt und Gehalt.1023

Seine Kunstanschauung bildet sich im Übrigen wesentlich anhand ausgiebiger Naturbetrachtungen, genauer Versenkungen in die Natur, aus – der Roman steht hier dem Monismus nahe.1024 Schließlich setzt der Protagonist sich mit der Philosophie, mit Spinoza1025, Schopenhauer1026, Franz von Assisi1027, Platon1028 auseinander. Die Lektüre des letzteren beeinflusst ihn maßgeblich: »›Da haben wir den Seher, den ich gesucht,‹ rief er vielemale beim Lesen.«1029 Es ist dies zugleich der Schlusspunkt seines weltanschaulichen Klärungsprozesses: »Ich will Menschen finden,« sagte er streng, »nicht Werker! – Menschen!« Das war ein Wendepunkt nach einigen Jahren. Weil er auf einmal jetzt auch gefühlt hatte, daß in den Werken der Vergangenheit sich klar Menschen und Werker unterscheiden: Menschen, die die Welt spiegeln, ihre eigene und die ewige zugleich, kristallklar in ihrem einen Wesensblick, und Werker, die im Dienste der Gesellschaftsmächte zusammenhäuften, redeten, kommentierten, alles zu wissen meinten, nicht schauten mit eigenen Sinnen, nichts lebten aus Blut und Atem, als einen Widerschein fremder Welten, fremder Gefühle und fremder Entschließungen.1030

Die wesentlichen Eckpfeiler der Kunstanschauung sind nun geklärt: Kunst soll das Allgemeine im Individuellen darstellen und auf der Grundlage der Persönlichkeit des Weltanschauungskünstlers basieren – ›mit eigenen Sinnen schauen‹, mithin weltanschauliche Fundierung, ist Voraussetzung dafür, dass Kunst ent1023 Ebd., Erster Band, S. 223. 1024 Vgl. exemplarisch ebd., Erster Band, S. 61ff. sowie Zweiter Band, S. 3ff. Zahlreiche weitere Passagen könnten hier ergänzt werden. 1025 Ebd., Zweiter Band, S. 36. 1026 Ebd., Zweiter Band, S. 37. 1027 Ebd., Zweiter Band, S. 39. 1028 Ebd., Zweiter Band, S. 41. 1029 Ebd., Zweiter Band, S. 41. 1030 Ebd., Zweiter Band, S. 41/42.

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stehen kann. Insofern läuft die Ausbildung von Kunstanschauung beim Protagonisten parallel zur Ausbildung seines Blickes: Nach Abschluss des Klärungsprozesses »besah [er] sich jetzt die Erde neu von allen Seiten«1031, weitet sich der »Blick Einharts an dem weiten Bogen des flachen Seestrandes«1032 am Meer, ja »Einhart war Seele und Auge.«1033 Am Ende des Klärungsprozesses war »sein Blick […] reich«1034 geworden, hat er weltanschaulichen Standpunkt und Weltanschauungsblick ausgebildet: »Einharts Meisterschaft lag auch in der Kraft seines Standpunktes.«1035 Damit entspricht der Protagonist am Ende seines Klärungsprozesses nun dem Ideal des Künstlers, wie es in der Programmatik der Heimatkunst – wie im Detail noch zu zeigen sein wird – formuliert wird: Er malt vom weltanschaulichen Standpunkt aus, ist Weltanschauungskünstler, bringt also Weltanschauung auf die Leinwand – Kunst kommt die Funktion zu, Weltanschauung zu vermitteln, Trost in der Moderne zu spenden. Und tatsächlich markiert der Protagonist am Ende seines weltanschaulichen bzw. kunstanschaulichen Klärungsprozesses sein Kunstideal als ›Heimatkunst‹.1036 Von den gemeinhin der Heimatkunst zugeordneten Werken gestaltet Frenssens »Hilligenlei«1037 vielleicht am explizitesten den weltanschaulichen als religionsanschaulichen Klärungsprozess eines seiner Protagonisten aus. Der Erzähler bestimmt dieses Erzählprogramm einleitend: Es gibt viele Menschen, welche schläfrig und übelgelaunt ins Leben hineinziehen. Sie sind ihren Mitmenschen eine Last und erleben nichts. Wer wollte solcher Leute Geschichten erzählen? Es gibt viele Menschen, denen von Kind an ein Verwundern in den Augen steht, welche während einer frischen Jugend das dunkle Empfinden haben, daß sie etwas Tüchtiges erleben und erwirken wollen, und welche dann auch mit hellem Mut ins Leben hineingehen. Solcher Leute Geschichte zu erzählen möchte der Mühe wert sein. Nein, laß es! Es kommt nicht viel dabei heraus. Denn womit bringen diese Gesunden und Starken ihr Leben zu? Sie suchen und laufen nach Geld oder äußerer Ehre oder dergleichen Irrtümern; sie laufen und stolpern, und finden es nicht, und stolpern ins Grab. Ihre Geschichte zu schreiben ist eine ärgerliche Sache; der Erzähler bekommt graues Haar während seines Erzählens. Wir verlangen wahrhaftig nichts Übermenschliches. Wir verlangen nicht, daß die 1031 1032 1033 1034 1035 1036 1037

Ebd., Zweiter Band, S. 74. Ebd., Zweiter Band, S. 76. Ebd., Zweiter Band, S. 156. Ebd., Zweiter Band, S. 163. Ebd., Zweiter Band, S. 165. Vgl. ebd., Zweiter Band, S. 203. Vgl. zu »Hilligenlei« neben den einschlägigen Studien zur Heimatkunst im Allgemeinen (vgl. Anm. 259) Jensen, Max Friedrich: »…ein Feuer- und Wahrzeichen für den Weg in eine neue Zeit.« »Hilligenlei« – ein aufsehenerregendes Buch in der historischen Kontroverse. In: Dohnke, Kay/Stein, Dietrich (Hrsg.): Gustav Frenssen in seiner Zeit. Von der Massenliteratur im Kaiserreich zur Massenideologie im NS-Staat. Heide 1997, S. 285–315.

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Menschen mit dem Plan hinausziehen, eine Königskrone zu suchen. Aber wir verlangen, daß sie, während sie hinter ihren Irrtümern herlaufen, eine Hoffnung haben, sie könnten auf der nächsten Wiese statt einer Eselherde eine Versammlung von Engeln finden; und daß sie eine Unruhe haben, es könnte an der nächsten Wegbiegung unterm Eichenbaum das ewige Wesen stehen, das aller Welten tausend Rätsel ruhevoll in heiligen Händen hält, und könnte ihnen einiger Rätsel Lösung sagen. Das verlangen wir. Denn das gehört nach unserer Meinung zu einem ganzen Menschen. Und nun, meine Seele, mühselige, mutige, erzähle von einem, der unruhevoll, hoffnungsvoll das Heilige suchte.1038

Es ist der ›ganze Mensch‹, von dem der Erzähler berichtet – der Mensch, der sich mit den ›Rätseln der Welt‹ auseinandersetzt, der auf weltanschauliche Klärung hofft. Das Erzählprogramm, das der Roman hier in seiner einleitenden Passage als Kommentar zum eigenen Erzählen vorbringt, ist das des Erzählens vom weltanschaulichen Klärungsprozess des Individuums. Hintergrund für den weltanschaulichen Klärungsprozess des Protagonisten bildet auch in Frenssens »Hilligenlei« die Moderne.1039 Der Protagonist selbst liefert dann vor dem Hintergrund der Eindrücke von der modernen Großstadt, in die er aufgrund des Fehlens eines Erbhofes übersiedelt, eine umfassende Diagnose der Moderne: »Du solltest sehen,« sagte [Kai Jans] mit wacher, voller Stimme, »was für ein Gewühl und für ein Gewirr es ist in dieser Zeit, nicht allein in Berlin, sondern in der ganzen Welt. Diese gewaltige wirtschaftliche Wandlung in diesen letzten dreißig Jahren! Ostelbien zieht nach Berlin, Hamburg und Westfalen. Hunderttausende ziehn mit ihren Frauen und lieben Kindern von der Heimat fort, wo der Himmel weit ist und der Wind übers grüne Land weht, darum, weil sie in elender Landlosigkeit und Unterdrückung gehalten werden. Und nun solltest du sehen, wie diese Leute in Berlin hausen! Wenn sie aus ihren Häusern heraussehen, sehen sie nicht gegen grüne Kastanien und blankes Wasser, sondern gegen elende graue Mauern und dummglotzende Fenster. Sie selbst spielten einst in ihrer Kindheit am Rain und schrien am Waldrand; ihre Kinder spielen im sonnenlosen, tiefen Häuserschacht. Da kannst du dir denken, wie dunkel und wirr es in ihren Köpfen aussieht: mit welchen Gefühlen sie an den Gutsbesitzer denken, dem weit draußen in der Heimat Wald und Feld gehören, darauf ihr Schweiß liegt; und an die Kirche, welche sie wandern ließ, ohne eine Tat und ohne ein Wort zu ihren Gunsten zu sagen; und mit welchen Augen sie auf den Reichtum sehen, der einige Straßen von 1038 Frenssen, Gustav : Hilligenlei. Berlin 1905 (1. Aufl. 100. Tsd.), S. 1/2. 1039 Anders als in anderen Romanen Frenssen ist hier das Problem des Verlustes des Erbhofes dem eigentlichen Romangeschehen bereits vorgelagert – hier kann der Protagonist Kai Jans schon keinen elterlichen Hof mehr übernehmen, lebt stattdessen in der modernen Großstadt. Dennoch knüpft der Text aber natürlich an diese diskursive Figur an. Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass aus Kai Jans etwas geworden wäre, wäre er mit dem Land verwachsen gewesen; der Protagonist selbst stellt die Diagnose, dass das Kranken an der Moderne ein Kranken an Landlosigkeit ist; vgl. ebd., S. 427.

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ihnen entfernt sein eitles Pfauengefieder breitet. Zu dieser großen wirtschaftlichen Veränderung kommt der schwerste religiöse Wirrwarr. Die wissenschaftliche Forschung hat die beiden Kirchenlehren ganz und gar durchlöchert. Es sind nur noch hohle Gestelle, durch allerlei Drapierungen und Klugheiten aufrecht gehalten, als lebten sie noch. Aber der größte Teil des Volkes weiß, daß sie tot sind, und kümmert sich nicht mehr um sie. Und nun sind die Menschen ohne Religion, und darum mißmutig und verbittert, irr und wirr, ohne Friede und Freude, ohne Weg und Ziel. Und was für ein Wirren und Suchen in allen andern Stücken des Volkslebens, im ganzen Bereich der Sitte: in Kunst, in Erziehung, in Rechtsprechung, im geselligen Verkehr. […]«1040

Erkennbar werden die soziale (Verstädterung, Pauperismus), die ökonomische (Übergang vom Agrar- zum Industriestaat), die religiöse Dimension des Modernisierungsprozesses beschrieben; markiert wird vor diesem Hintergrund insbesondere die transzendente Obdachlosigkeit in der Moderne. Es ist dies nicht nur die Diagnose bestehender Verhältnisse, sondern zugleich der Einsatzpunkt für den persönlichen weltanschaulichen Klärungsprozess des Protagonisten. Ganz allgemein wird im Roman dann von einer Vielzahl an Figuren aus dem Ort »Hilligenlei« – was ›heiliges Land‹ bedeute und auf die Hoffnung auf ein kommendes ›heiliges Land‹ verweise1041 – berichtet. Der Protagonist Kai Jans ist von Kindheit an sein ganzes Leben lang auf der Suche nach diesem: »Es muß doch irgendwo in der weiten Welt ein heilig Land geben? Wenn es das nicht gibt, ist das Leben ein wunderlich, unsinnig Ding…«1042 Es ist dies als Synonym für die Suche nach festem weltanschaulichem Boden, um die Moderne zu ertragen, zu lesen. Der Roman erzählt dann genauer den religiösen Klärungsprozess. Vor dem Hintergrund jener bereits angeführten umfassenden Diagnose der Moderne markiert der Text zugleich den Einsatzpunkt weltanschaulicher Angebote: »[…] Es geht, wie alle hundert Jahr, eine Zeit der Unruhe durchs Volk, ein Fieber, aber ein Fieber zur Genesung. Altes und Faules wird im fiebernden Blut verzehrt und ausgeschieden. Neues und Starkes, Frisches will werden. Es geht immer wieder ein Sehnen durch unser Volk, die drei gewaltigen Mächte, die es aus sich selbst erzeugt, die Obrigkeit, die Religion und die Sitte, zu verjüngen. Es geht ein Wille und Wunsch durchs Volk, zur Natur zu kommen: zu einer schlichten, schönen Religion, zur sozialen Gerechtigkeit, zu einem einfachen, edlen, germanischen Menschentum. Und sieh, Heinke: die Verjüngung und Erneuerung hat schon mit Macht angesetzt. Hier und da arbeiten und jubeln schon neue Kräfte. Viele Tausende sagen, sie sehen schon 1040 Ebd., S. 385–387. 1041 »Sie nannten sich die Hilligenleier und lebten in der Hoffnung, daß die kleine Stadt Hilligenlei und die Landschaft an der Bucht einst wirklich ›Hilligenlei‹, das heißt ›heilig Land‹, werden würde. Sie hofften auf ein Reich Gottes an dieser Bucht.« (Ebd., S. 4/5). 1042 Ebd., S. 121.

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heiliges Land. Wie wird in der Bibel geforscht! Wie tapfer rührt sich die Regierung! Wie wehen die Fahnen der Arbeiter! Welch ein Leben in Kunst und Erziehung! Aber es ist doch noch ein schweres Wühlen und Wirren. Und es packt einen zuweilen eine Angst, daß wir doch den neuen Weg und das neue, schöne Land der Zukunft nicht finden, und das Suchen wieder aufgeben, und in den alten, starren Formen bleiben. Und wenn das geschähe, wäre es mit uns und unserer Zukunft vorbei. Und nun sieh: ich habe von meiner Kindheit an ein sonderbares Wundern gehabt, ein Nichtbegreifenkönnen dessen, was ich um mich sah. Freilich Wind und Wasser und Feld und Wald konnte ich verstehen; aber in dem, was die Menschen eingerichtet haben und wie sie miteinander leben, war mir vieles unbegreiflich. Ich sah in meiner Seele immer eine andere Welt; ich sah eine Menschheit, die heilig und rein war. […] Und sieh … da bin ich nun, auf dem Weg dieses Selbstvertrauens, weiter in die Dinge hineingegangen, habe über all das Wirren und Sehnen nachgesonnen und habe vor, meinem Volke zu zeigen, wie ich, mit meinen Augen, die vom Deich und von der weiten See kommen, das Leben meines Volkes ansehe: was unnatürlich und widersinnig und veraltet und tot ist und darum böse; und wie ich meine, daß es zum Heiligen und Gesunden kommen könnte. Ich wollte ein Buch schreiben von deutscher Wiedergeburt.«1043

Rückblickend wird die Suche nach dem ›heiligen Land‹ dann als Suche nach einem weltanschaulichen Standpunkt bestimmt. Die lange Suche des Protagonisten mündet schlussendlich in der Klärung; der Protagonist verfasst eine Heilandsgeschichte, die ihrerseits ein eigenes, immerhin knapp 100 Seiten umfassendes Kapitel mit der Überschrift »Die Handschrift« (sonst trägt keines der Kapitel eine Überschrift) innerhalb des Romans ist. Die »Handschrift« markiert zugleich den Punkt, an dem der weltanschauliche Klärungsprozess des Protagonisten als abgeschlossen gelten kann. Diese »Handschrift« ist nun nichts anderes als der Versuch, vor dem Hintergrund der vom Protagonisten selbst markierten transzendenten Obdachlosigkeit in der Moderne die Religion für die Moderne, den modernen Menschen zu retten – es handelt sich um eine Weltanschauungsschrift innerhalb des Weltanschauungsromans. Die Bedeutung der »Handschrift« wird zugleich durch die Stellung innerhalb des Romans deutlich: Sie ist das vorletzte Kapitel des Romans, im letzten folgt nur noch der Abschluss. Ungewöhnlich für Weltanschauungsromane ist nun allerdings, dass der Protagonist trotz der neuen weltanschaulichen Fundierung stirbt – er muss wohl als ›Erlöserfigur‹ gelesen werden. Ausgangspunkt und Hintergrund der dargelegten Bestrebungen bildet die Suche des Menschen nach dem Sinn des Lebens: »Der Mensch kann es nicht nachlassen, nach dem Sinn des Lebens, nach dem Glück zu suchen.«1044 Innerhalb der »Handschrift« als Kommentar zu den Völkern der Römerzeit formu1043 Ebd., S. 387–389. 1044 Ebd., S. 489.

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liert, kann diese generalisierende Aussage zugleich auf die Moderne bezogen werden. Die Rückbindung an das menschliche Glück verweist zugleich auf den kulturkritischen Beobachtungsmodus. Die »Handschrift« selbst beinhaltet dann im Wesentlichen eine Nacherzählung des Lebens Jesu Christi sowie der Geschichte der Christenheit und der Institution der christlichen Kirche anhand bekannter Koordinaten, an die Kategorie der Wahrscheinlichkeit angepasst – Jesus etwa ist nicht jungfräulich empfangen worden1045 ; alle unwahrscheinlichen Ereignisse, von denen die Bibel berichtet, seien nachträgliche Zuschreibungen1046 ; der Glaube wird an naturwissenschaftliche Erkenntnis angepasst1047 und so der Versuch einer Rettung in die Moderne gestartet. Der ›neue Glaube‹, den der Pastor Frenssen literarisch entfaltet, ist nicht nur funktionsgeschichtlich, 1045 Vgl. ebd., S. 508. 1046 Vgl. etwa ebd., S. 573–575; zur Genese der heiligen Schrift ebd., S. 581–583. 1047 In einer späteren Ausgabe des Romans wird die Anpassung an das moderne Weltbild expliziert: Habe der Glaube zur Zeit des Heilands dem alten Weltbild entsprochen, sei dieser in der Moderne nicht mehr angemessen: »Wir lehnen ab alles, was zeitlich und irrtümlich in ihm [dem Heiland] war. Wir lehnen also seine Aussagen über Gott ab, die aus dem kleinen Weltbild seiner Tage stammen.« (Frenssen, Gustav : Hilligenlei. In: ders.: Werke. Band IV, Berlin 1943, S. 471) Entsprechend müsse der Glaube an das moderne Weltbild angepasst werden: »Wir Kinder dieser Zeit stehen vor einem größeren und andern Weltbilde. Es ist tausendmal größer als das des Heilands; und es ist ganz anders. […] Dies Weltbild, das Weltbild des Kopernikus, Galilei, Newton, Galvani, Darwin, Robert Mayer, Helmholtz erkennen wir an. Und wir erschrecken nicht vor ihm, sondern wir stehen vor ihm mit dem hellen Vertrauen, mit dem der Heiland vor dem Weltbild seiner Tage stand. So wie der Heiland, jener so menschliche Held, mit feurig liebender Seele, mit seinem: ›Ich will Gott lieben und die Menschen‹, vor dem Weltbild seiner Tage stand, und nirgends ihm untertan, nirgends im Widerspruch mit ihm, mit souveräner Seele es deutete: so kommen jetzt Menschen und werden kommen, von seiner Art, von seinem Vertrauen, unbelastet mit all den veralteten Glaubens- und Weltansichten, und werden dies ungeheure rätselhafte Bild der Welt ahnend verstehen, und mit schöner heiliger Phantasie, mit frei schaffender Seele herrlich deuten und werden das Bild Gottes sehen.« (Frenssen, Gustav : Hilligenlei. In: ders.: Werke. Band IV, Berlin 1943, S. 471/472) Nichts weniger als die Synthese von astronomischem Weltbild, Evolution und Glaube strebt die »Handschrift« also an. Insbesondere die Evolutionstheorie wird (dies schon in der Erstausgabe) explizit aufgenommen: »Die Menschheit ist aus Nacht und Grauen mühselig heraufgestiegen. Der Aufstieg hat viele hunderttausend Jahre gedauert. Hunderttausend Jahre lang sind die Menschen wie Füchse in wald- und baumlosem Land gewesen: In Furcht und Höhlen, in wachem Schlaf, in schlauem Anschlich, in wildem Absprung. Sie lebten nicht anders wie Tiere und wußten auch nicht, daß sie etwas anderes wären. […] Es hat wohl wieder hunderttausend Jahre gedauert, ehe sie alle merkten: es ist ein Unterschied zwischen Menschen und den Tieren. Und der Mensch wird ihr Herr werden.« (Frenssen: Hilligenlei, S. 485) Sie wird dann, dies wiederum nachträglich, mit dem Schöpfungsglauben insofern enggeführt, als die Natur mit allen ihren Erscheinungen und insbesondere dem Menschen als Schöpfungswunder begriffen wird: »[…] aber alle [Bäume], jeder für sich, ein großes Wunder der Schöpfung: so ist es auch mit den Menschen. Sie sind alle vom Weibe geboren, und unter das Gesetz der Schöpfung gestellt, und gehen, unterwegs nach Wahrheit und Schönheit suchend, ins Grab.« (Frenssen, Gustav : Hilligenlei. In: ders.: Werke. Band IV, Berlin 1943, S. 469).

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sondern auch inhaltlich vom Weltanschauungsdenken der Jahrhundertwende her zu verstehen: Die Forschung hat in diesem Zusammenhang nicht nur auf die »entscheidende Vermittlerfunktion«1048 Wilhelm Bölsches hingewiesen, sondern auch darauf, dass Frenssen den »Monismus eines Haeckel mit der eigenen, zum Pantheismus neigenden Religiosität für vereinbar«1049 gehalten habe. Schließlich weist die »Handschrift« ein starkes Sendungsbewusstsein auf – das wird insbesondere im Apellcharakter des Schlusses deutlich: »Und nun freut euch, Schulkinder im ganzen Land und ihre Lehrer! Noch müßt ihr verkehrtes, wirres Wissen traktieren, das mit Glauben nichts zu schaffen hat, unnütz ist und schädlich. Freut euch: das wird bald alles in die Rumpelkammer kommen. Ihr werdet euch an dem Handwerker Jesus freuen, dem wunderbaren, reinen Helden, und werdet seinen hohen, stolzen Kinderglauben mit ins Leben nehmen. Freu dich, erwachsene Jugend im ganzen Land! […] Gelehrte und Künstler, freut euch! […] Ihr Prediger in beiden Kirchen, die ihr hohen und freien Geistes seid, freut euch! […] Freu’ dich, Staat! […] Freu’ dich, Christenheit! […] Nun freu’ dich, meine Seele!1050

Nichts weniger als die »Wiedergeburt«1051 des deutschen Volkes aus dem Geiste der Weltanschauung ist das Ziel der Publikation zum Thema »›Das Leben des Heilands, nach deutschen Forschungen dargestellt: die Grundlage deutscher Wiedergeburt.‹«1052 Die Figur der Heinke Boje, die die »Handschrift« liest, findet am Ende zurück zum Glauben: Die ganze Ungewißheit und die ganze Last des Menschendaseins und die schreckliche Einsamkeit der einzelnen Seele erschien ihr und quälte sie sehr. […] Aber dann liefen ihre Gedanken zu dem, von dem sie eben gelesen hatte, zu dem holden, starken Menschen und zu seinem Glauben. Und sie glaubte und betete, wie er geglaubt und gebetet hatte.1053

Heinke Boje muss zugleich als Rezeptionsangebot an den Leser begriffen werden. Vermittelt über die Rezeptionsfigur muss dann die Hoffnung auf eine ›Wiedergeburt‹ des deutschen Volkes aus dem Geiste der Weltanschauung als konkrete Wirkabsicht im Sinn des kulturkritischen Beobachtungsmodus begriffen werden, die über die fiktionale Welt des Erzähltextes hinaus in die reale Welt des Lesers hineinreichen soll. Sowohl Sendungsbewusstsein und Wirkabsicht dieser in den Roman einge1048 1049 1050 1051 1052 1053

Jensen: »…ein Feuer- und Wahrzeichen für den Weg in eine neue Zeit.«, S. 308. Ebd., S. 308. Frenssen: Hilligenlei, S. 590/591. Ebd., S. 389. Ebd., S. 484. Ebd., S. 592/593.

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bundenen Abhandlung als auch der Vorschlag, den sie unterbreitet – der, abstrahiert man von den konkreten Inhalten, die Synthese der Vergangenheit (vormoderner Glaube) mit der Gegenwart (moderne Wissenschaft) beinhaltet, um eine neue Gesellschaft der Zukunft (Glaube und Wissenschaft, Synthese von Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube) zu begründen – müssen schließlich vom kulturkritischen Beobachtungsmodus her verstanden werden. Die Mehrheit der Heimatkunstromane gestaltet den weltanschaulichen Klärungsprozess nicht so explizit aus. Dennoch handelt es sich beim Heimatkunstroman um Weltanschauungsdichtung, insofern es sich auch in jenen Texten, die eher implizit die Ausbildung des ›ganzen Menschen‹ behandeln, um weltanschauliche Klärungsprozesse handelt. Exemplarisch kann Frenssens »Jörn Uhl« angeführt werden, der den Bildungsprozess verglichen mit »Hilligenlei« inhaltlich einigermaßen unspezifisch erzählt. Zwar beschäftigt sich der Protagonist am Rande mit populärer Astronomie1054, auch Religion (Luther) und Evolutionstheorie (Darwin) werden erwähnt1055 – der tatsächliche Bildungsprozess Jörn Uhls entwickelt sich aber über die Anschauung und das eigene Erleben von Schicksal: Die Entdeckungen, die er an Menschen und Ereignissen machte, verschloß und verstaute er, wie ein Schiffer die Ladung unten im dunklen Schiffsraum verstaut. Sie schien nicht vorhanden zu sein. Ohne Bedeutung und zwecklos schien sie; aber sie war nur verborgen. Sie hatte den Besitz seiner Seele bereichert, lag da und war sein Eigentum, und das Fahrzeug ging tiefer und sicherer. So kam ein Erlebnis nach dem anderen, ein Mensch nach dem anderen. Sie traten an ihn heran und gaben ihm ein Stück neuer Erkenntnis und Erfahrung und gingen wieder davon.1056

An anderer Stelle heißt es paradigmatisch: »Nichts bildet einen Menschen mehr, als Menschenschicksal zu sehen.«1057 Rossbacher wertet die Addition und Kumulation von Schicksal als die dominante Handlungsstruktur des Heimatromans1058. Das ist nicht falsch, muss dann aber vor allem als Bestandteil des Bildungsprozesses, als Faktor in der Ausbildung des ›ganzen Menschen‹, verstanden werden. Dieser wiederum ist als positiver Gegenentwurf zur negativ konnotierten Modernisierungserzählung zu verstehen. Der Klärungsprozess, der zum weltanschaulichen Standpunkt und damit zu Sinnhaftigkeit führt, wird dem Verlust an Sinnhaftigkeit in der Moderne entgegen gestellt. Als solcher ist er dann unverkennbar an die Frage nach dem menschlichen Glück bzw. Unglück 1054 1055 1056 1057 1058

Vgl. etwa Frenssen: Jörn Uhl, S. 181 und S. 196. Dies allerdings eher ablehnend – vgl. ebd., S. 515f. Ebd., S. 196. Ebd., S. 231. Vgl. Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 156ff.

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der Moderne gekoppelt: Während der Phase weltanschaulicher Orientierungslosigkeit ist der Protagonist im Allgemeinen ein Unglücklicher, der sich nach Erlösung sehnt.1059 Zugleich zeigen die Protagonisten exemplarisch auf, wie der moderne Mensch trotz des ›Unglücksfalls Moderne‹ glücklich werden kann: Erst der ›feste‹, weltanschauliche Standpunkt ist es, der Moderne, hinter die es kein Zurück gibt, erträglich macht. Es ist in diesem Zusammenhang symptomatisch, dass Frenssens »Jörn Uhl«, der die Lebensgeschichte des Jörn Uhl, seine Konfrontation mit der Moderne, berichtet, an genau der Stelle abbricht, an der der weltanschauliche Klärungsprozess abgeschlossen ist und der Protagonist eine vollständige ›Persönlichkeit‹ ausgebildet hat, ein ›ganzer Mensch‹ mit gefestigter Weltanschauung geworden ist. »Was sollen wir noch viel von Jörn Uhl erzählen? Oder wie weit sollen wir ihn noch begleiten? […] Oder was fehlt Jörn Uhl noch?«1060 fragt der Erzähler ; »Sein innerstes Wesen, der Kern von ihm, der ist nicht mehr zu ändern. Der ist auch gut so.«1061 Der Anspruch, von der Ausbildung des ›ganzen Menschen‹, der der Moderne entgegen steht, zu erzählen, wird auch auf der Programmebene formuliert: Sagen sie aber : wir wünschen nicht Flucht aus dem Modernen, sondern ein Durch, eine Ergänzung, eine Erweiterung und Vertiefung nach der menschlichen Seite hin; sagen sie: wir wünschen ganze Menschen mit einer ganzen und weiten Gedanken-, Gemütsund Charakterwelt, mit modernster und doch volkstümlicher Bildung, mit nationalund doch welthistorischem Sinn; sagen wir, wir wünschen Stadt und Land, alle vier Stände, den ganzen Organismus als Grundlage wahrhaft freier, warmer, reiner, menschlich unbefangener Dichtung: so kann ich hierin nur Erweiterung sehen, nicht einen Schatten von Reaktion.1062

1059 1060 1061 1062

Vgl. explizit etwa Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 76. Frenssen: Jörn Uhl, S. 489. Ebd., S. 489. Lienhard: Heimatkunst, S. 198, Hervorhebung im Original. Die literatursoziologische Forschung der 70er Jahre hat dies grundsätzlich richtig gesehen und herausgearbeitet (vgl. Zimmermann, Peter : Der Bauernroman. Antifeudalismus – Konservativismus – Faschismus. Stuttgart 1975, S. 97 sowie Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 41). Zimmermann etwa hat darauf hingewiesen, dass es gelte, »wieder zu sich selbst zu finden, wieder ein ganzer, harmonischer, gesunder Mensch zu werden, ein Mensch, der vom oberflächlichen Rationalismus der Wissenschaften ebenso befreit ist wie vom geschäftlichen Kalkül der bürgerlichen Romanhelden, die, ausgehend von der Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, nach neuen Lebensformen suchen.« (Zimmermann: Der Bauernroman, S. 97) Karlheinz Rossbacher zählt den Persönlichkeitskult der Heimatkunstbewegung zu ihren zentralen Topoi; er wertet den Persönlichkeitskult der Heimatkunst als »Nietzsche-Denken aus dritter Hand. Ist Langbehn schon ein Verflacher Nietzsches, so sind Lienhard und Bartels Verflacher Langbehns.« (Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 42) Die als Persönlichkeit fest umrissene Romanfigur wird, so Rossbacher, »zum nichtproblematischen Helden, zum ganzen Menschen, zum Großen, Starken, dem einzigen würdigen Gegenspieler eines undurchschaubaren Schicksals. Wenn behauptet wird, daß mit ›Individualismus‹ ein Grundzug der Literatur

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Der kulturkritische Roman der Jahrhundertwende installiert insofern den weltanschaulichen Bildungsprozess als Gegenentwurf zu den Zumutungen der Moderne im Allgemeinen und der transzendenten Obdachlosigkeit im Besonderen; die dominierende Handlungsstruktur – dies im Anschluss an Rossbacher – wird gerade über die einander ergänzenden Erzählungen des Modernisierungsprozesses einerseits und des weltanschaulichen Klärungsprozesses andererseits bestimmt. Das kulturkritische Denken wird damit zugleich weltanschaulich fundiert. Es ist die Dimension des weltanschaulichen Klärungsprozesses und des weltanschaulichen Erzählens, die den Zeitroman an der Wende zum 20. Jahrhundert zum Weltanschauungsroman macht. Weltanschauung erzählen. Die narrative Organisation weltanschaulichkulturkritischer Romane Nicht nur inhaltlich, auch mit Blick auf die narrative Gestaltung zeichnet sich der Weltanschauungsroman durch spezifische Merkmale aus. Um Einspruch gegen die Zumutungen der Moderne zu erheben, die Frage menschlichen Glücks zu thematisieren und den Weltanschauungsprozess dem Modernisierungsprozess entgegen zu stellen, steht um 1900 eine ganze Reihe weltanschaulich-kulturkritischer Diskursfiguren bereit, auf die Weltanschauungsdichtung zurückgreifen und die sie je unterschiedlich aktualisieren kann. Dazu gehört erstens eine Reihe diskursiver Figuren, mit denen vor der Folie des kulturkritischen Geschichtsmodells der Modernisierungsprozess erzählt wird und auf die im Zusammenhang mit der Analyse der Reflexion von Moderne bereits eingegangen wurde. So gehören insbesondere der topische Verlust des Erbhofes der Väter an die Moderne1063, die Diskursfigur des (verloren gegangenen vormodernen) Paradieses1064 sowie die Gegenüberstellung von vormoder Jahrhundertwende erfaßt werde, aber keinerlei poetologische Kriterien, die Rückschlüsse auf eine ästhetische Einheit der Epoche zuließen, so ist das nicht falsch; für die Erzählprosa der Heimatkunst als Teil jener Literatur liefert der Individualismus auch poetologische Kriterien: Der Anti-Psychologismus, das fehlende Räsonnement über das Innere der Helden, die Stilisierung zum ›ganzen Menschen‹, seine zunächst metaphorische, dann identifikatorische Biologisierung als Gewächs des Bodens sind die literarischen Entsprechungen und Kriterien für das Individualismus-Denken. Für die Helden in den Romanen von Frenssen bis Löns ist die souveräne, allwissende Erzählhaltung die adäquate – und erzeugt ihrerseits wiederum bestimmte Lesehaltungen, wie Vertrauen des Lesers in den Führungsanspruch des Erzählers und Genuß des Geführtwerdens.« (Ebd., S. 41). 1063 Vgl. etwa Frenssen: Jörn Uhl, S. 412ff.; vgl. auch den Hof der Tante des Protagonisten in: Keyserling: Die dritte Stiege, S. 10. 1064 Vgl. etwa Bölsche, Wilhelm: Die Mittagsgöttin. Ein Roman aus dem Geisteskampfe der Gegenwart. Herausgegeben von Gerd-Hermann Susen. In: Wilhelm Bölsche: Werke und Briefe. Wissenschaftliche Ausgabe, herausgegeben von Hans-Gert Roloff, Band 2: Romane II, Berlin 2005 [1891], S. 97; Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Erster Band, S. 116; Popert, Hermann: Helmut Harringa. Eine Geschichte aus unsrer Zeit. Dresden 1910, S. 32.

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derner ländlicher Sphäre und moderner Großstadt1065 in diese Kategorie. Es sind dies wenigstens teilweise Diskursfiguren, die nicht nur für den Weltanschauungsroman charakteristisch sind, sondern allgemein für die (kulturkritische) Beschreibung von Moderne um 1900 bereitstehen. Diesem Beschreibungsmodell von Modernisierung wird dann der weltanschauliche Klärungsprozess entgegengestellt – und das ebenfalls unter Rückgriff auf eine Reihe typischer Diskursfiguren. Dazu gehört zunächst der Rückgriff auf die Figur der Absonderung. Die Protagonisten wenden sich allesamt von der Moderne ab und suchen die Einsamkeit. Sowohl Hollaenders Thomas Truck als auch Paul Ernsts Hans Werther ziehen sich zurück in die Berge. Der Rückzug des Erzählers der »Mittagsgöttin«1066 in den Spreewald – den »entzückenden«1067, »verlorenen Erdenwinkel«1068, die »weltabgeschiedene«1069 Landschaft, den »abgeschieden[en] Weltwinkel«1070 – muss ebenfalls als individuelle Realisierung der allgemeinen Absonderungsfigur gelesen werden. Die Absonderung von der Moderne ist die Bedingung der Möglichkeit des Klärungsprozesses. Dieser wird seinerseits über die Diskursfiguren des Weges und des Wanderers verbildlicht. Die Bedeutung dieser Figur ist schon anhand der Titel verschiedener 1065 Vgl. Polenz, Wilhelm von: Der Büttnerbauer. Roman in drei Büchern. Berlin 1895, S. 361; Keyserling: Die dritte Stiege, S. 10; Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 135; Popert: Helmut Harringa, Kapitel 3 ab S. 46. 1066 Vgl. zu Bölsches »Mittagsgöttin« neben den Hinweisen bei Host Thom8 (Thom8: Weltanschauungsliteratur,) zuletzt Stöckmann, Ingo: Die Textur der Fülle. Wilhelm Bölsches Roman »Die Mittagsgöttin«. In: Berbig, Roland/D’Aprile, Iwan-M./Peitsch, Helmut/ Schütz, Erhard (Hrsg.): Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolen-Kompendium. Berlin 2011, S. 407–419; daneben Roloff, Hans-Gert: Wilhelm Bölsches Roman »Die Mittagsgöttin«. In: Adamski, Marek/Kunicki, Wojciech (Hrsg.): Schlesien als literarische Provinz. Literatur zwischen Regionalismus und Universalismus. Leipzig 2008, S. 72–82; Schneider, Lothar : Die Alte und die neue Fremde. Zu Wilhelm Bölsches Roman »Die Mittagsgöttin«. In: Jablkowska, Joanna/Leibfried, Erwin (Hrsg.): Fremde und Fremdes in der Literatur. Frankfurt/Main 1996, S. 139–158; Thom8: Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹, hier S. 241–256; Hamacher, Wolfram: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert. Studien zu Wilhelm Bölsche. Würzburg 1993, hier insb. S. 152–182; Forderer, Christof: Die Großstadt im Roman. Berliner Großstadtdarstellungen zwischen Naturalismus und Moderne. Wiesbaden 1992, hier das Kapitel I zu Bölsches »Mittagsgöttin« (ebd., S. 29–106); Susen, Gerd-Hermann: »…irgend ein Philosoph in Friedrichshagen«. Wilhelm Bölsches »Mittagsgöttin« im Spannungsfeld sozialdemokratischer Kulturpolitik. In: Susen, Gerd-Hermann/Wack, Edith (Hrsg.): »Was wir im Verstande ausjäten, kommt im Traume wieder«. Wilhelm Bölsche 1861–1939. Würzburg 2012, S. 105–136; Joachimsthaler, Jürgen: Ästhetik im Zeitalter der naturwissenschaftlichen Dominanz. Wilhelm Bölsche und der »Monismus«. In: Susen, Gerd-Hermann/Wack, Edith (Hrsg.): »Was wir im Verstande ausjäten, kommt im Traume wieder«. Wilhelm Bölsche 1861–1939. Würzburg 2012, S.395–421, hier Abschnitt II S. 403–405 zur »Mittagsgöttin«. 1067 Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 52. 1068 Ebd., S. 249. 1069 Ebd., S. 88. 1070 Ebd., S. 322.

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Weltanschauungsromane abzulesen: Paul Ernst nennt seinen Roman »Der schmale Weg zum Glück«, Felix Hollaender erzählt den »Weg des Thomas Truck«. Das Motiv des Weges ist nun seit jeher mit der Frage nach dem sinnvollen bzw. verfehlten Leben (Lebensweg) verbunden – hier wird eine uralte Figur reaktiviert und in den Kontext des Klärungsprozesses gestellt. Auch innerhalb der Texte sind die Diskursfiguren des Weges und des Wanderns omnipräsent – der weltanschauliche Bildungsprozess und die anschließende Wirkabsicht der Figur des Bloquardsen in Poperts »Helmut Harringa« etwa werden als ›Weg‹, dem ein ›eigener Stern‹ leuchtet, beschrieben1071; Bölsches Erzähler bezeichnet sich wiederholt als »Wanderer«1072 ; Carl Hauptmanns Einhart geht mehrfach auf Wanderschaft1073. Explizit als Synonym für Weltanschauungssuche wird die Wanderungs-Figur in Hollaenders »Der Weg des Thomas Truck« verwendet: Thomas schritt über den Kamm der Berge im Morgenrot, wenn auf den Gräsern Frühtau lag. Er schritt über die Gipfel am Mittag, wenn die Sonne glühte und alles in ihr weißes Licht tauchte. Und wenn das Rot des Abends heraufzog und Wälder und Höhen golden machte, so stand er da oben und blickte verträumt mit glänzenden Augen in die versinkende Helle. Kein Haus… kein Strauch… kein Mensch. […] Er kam sich gewandelt vor… Aber diesen Wandel fand er natürlich, er wunderte sich darüber nicht. Alle Dinge sah er plötzlich anders. Ihm war es, als ob bisher sein Blick verschleiert gewesen wäre. Immer wieder sagte er leise zu sich: ich habe nicht nur erkannt – ich werde auch nach meiner Erkenntnis leben. Er hatte das unabweisbare Empfinden, daß er nur so die Zweifel und Wirrnisse des Daseins, das im Hintergrunde seiner Seele kauerte, aufzulösen vermochte. Man war nicht dazu da, um für sich allein zu leben. Man trug nur dann das ewige, nie verlöschende Licht in sich, wenn man eins wurde mit dem All.1074

Über die Wanderung findet der Protagonist zu seiner monistischen Weltanschauung – Wanderung und Weg figurieren den Klärungsprozess. »War es im Verhältnis dazu wunderbar, wenn die reine, hüllenlose Wiedergeburt des Geistes eine Wanderung, deren Weg unendlich und ewig war, wie der Geist selbst, erforderte?«1075 Auch hier greift die Weltanschauungsdichtung auf eine bereitstehende Figur zurück1076 und stellt sie in den spezifischen Kontext der Welt-

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Vgl. Popert: Helmut Harringa, S. 95. Vgl. etwa Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 92, S. 163, S. 164, S. 268. Vgl. Hauptmann: Einhart, der Lächler, Erster Band, S. 202; Zweiter Band, S. 225. Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 78/79. Ebd., Zweiter Band, S. 79. Schon Odysseus ist ein ›Wanderer‹; Wanderungen und Wanderer gehören dann in je

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anschauungsausbildung. Darüber hinaus spielen die um 1900 im weltanschaulich-kulturkritischen Denken omnipräsente Höhenmetaphorik sowie der (weltanschauliche) Blick mit hinein. Die Höhenmetaphorik manifestiert sich zunächst ganz allgemein in der Präsenz der Berge – nicht nur in Hollaenders, auch in Paul Ernsts und Carl Hauptmanns Weltanschauungsromanen werden einer oder mehrere Aufenthalte in den Bergen erzählt.1077 Höhen- und Tiefenmetaphorik stehen darüber hinaus auch im übertragenen Sinn für den Klärungsprozess: Er [Thomas Truck] war untergetaucht in den Strom des Lebens, bis in seine Tiefen und Abgründe hatte er ihn durchforscht, an Steinen sich blutig und wund gerissen. Schlamm und Tang hatten sich an ihn gelegt, ihn umschlungen. Aber die Wellen hatten ihn wieder in die Höhe getragen, und sein Körper strahlte in Reinheit.1078

In der norddeutschen Heimatkunst werden die Berge durch die Weite des Meeres ersetzt. Beide ermöglichen den weiten, den freien, den panoramatischen Blick, insbesondere im Falle der Berg-Figur zudem vom privilegierten Standpunkte aus. Es ist dieser dann Welt-Anschauung (hier noch im wörtlichen Sinn verstanden) und damit zugleich Bedingung der Möglichkeit der Ausbildung eines auch weltanschaulichen Blickes. »›[…] Die einsamen Wege eröffnen nicht selten weite Blicke‹«1079, kommentiert etwa der Pastor den Klärungsprozess des Thomas Truck. Insofern Weltanschauung sich sowohl aus der Wanderung selbst als auch aus der Höhenmetaphorik bzw. der Weite des Blicks am Meer ableitet, wird auf eine Funktion zurückgegriffen, die bereits im 18. und frühen 19. Jahrhundert die poetischen Spaziergänge geprägt hat – die Wanderung als Voraussetzung der Gewinnung von Weltüberblick. In der Weltanschauungsdichtung wird diese Bedeutungsvariante mit der weltanschaulichen Fundierung enggeführt. Neben der Höhenmetaphorik sind gerade auch die Diskursfiguren des Blicks und der Augen in der Weltanschauungsdichtung omnipräsent.1080 Im Übrigen ist von hierher auch zu verstehen, dass in »Einhart, der Lächler« der weltanschauliche Klärungsprozess, die Ausbildung seiner Kunstanschauung, wie dargelegt als eine Ausbildung des weltanschaulichen Blickes erzählt wird. Der weltanschauliche Standpunkt selbst verdichtet sich schließlich in der Diskursfigur des Welt-All-Blicks, der seinerseits Voraussetzung für den pan-

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unterschiedlichen semantischen Zusammenhängen zum festen Inventar etwa des höfischen Romans, der Romantik, der Literatur der Moderne. Vgl. neben Hollaender etwa Ernst: Der schmale Weg zum Glück, S. 327 sowie Hauptmann: Einhart, der Lächler, Erster Band, S. 186. Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 369. Ebd., Zweiter Band, S. 167. Vgl. exemplarisch Popert: Helmut Harringa, S. 57 und S. 89; Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 71, S. 72, S. 79, S. 97, S. 266, S. 270 etc.; Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 79 und S. 102 – die Liste könnte fast beliebig erweitert werden.

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oramatischen Weltanschauungsblick ist, für den Blick aufs Ganze, der den nur panoramatischen Rundumblick, den Welt-Blick, noch übertrifft. Zunächst ist die Diskursfigur des Himmels, der Sterne und des Alls in allen Texten präsent. Ein »Heer neuer Sterne glimmte in der schweren Wölbung auf«1081, heißt es schon zu Beginn in Bölsches »Mittagsgöttin«; im weiteren Verlauf ist von der »blauen Himmelswölbung«1082 die Rede, vom »Anblick dieser Sterne«1083, vom »[l]ichtblaue[n] Morgenhimmel«1084, vom »Himmel über dem Ganzen kristallklar, ein uferloses Meer von strahlendem Blau, in das der Blick kaum zu schauen wagte«1085, der »Himmel selbst [war] versilbert, ungeheuer groß und in überwältigender Helle [trat] hervor, – ein Komet, der nach den Planetenfernen verwies, eine einzige metallfunkelnde Riesenfeder, die sich an die blaue Wölbung schloß«1086 – um nur einige wenige Beispiele exemplarisch anzuführen.1087 Die Diskursfigur des Alls bzw. des Blickes ins All wird dann mit der des Blickes auf Welt vom privilegierten Standpunkte aus, der Welt-Anschauung, enggeführt: »Der Kahn glitt leise dahin, sie sahen in die unendliche, unergründliche Tiefe, und sie blickten in den Himmel, der sich über ihnen wölbte mit silbernen, schweren, gebirgigen Wolken…«1088, heißt es etwa bei Hollaender und bei Carl Hauptmann: »Aber er [Einhart] saß und saß doch weiter auf der Hürde, fühlte den Ätherhimmel wie eine wasserklare Wölbung hoch über sich, und den Streifen Erde darunter ohne Maß und Grenzen.«1089 Welt-Blick und All-Blick ergänzen einander zur alles umfassenden Welt-All-Anschauung, zur Weltanschauung.1090 Die Figuration von Weltanschauung als Welt-Anschauung ist vor dem Hintergrund der Ausbildung der Wahrnehmungskonvention des panoramatischen Blicks im 19. Jahrhundert zu verstehen1091. Die Entwicklungsstadien des pan1081 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090

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Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 49. Ebd., S. 130. Ebd., S. 187. Ebd., S. 193. Ebd., S. 211. Ebd., S. 292. Vgl. daneben etwa auch Hauptmann: Einhart, der Lächler, Erster Band, S. 31, S. 33, S. 37, S. 73, S. 186 etc. Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 168/169. Hauptmann: Einhart, der Lächler, Zweiter Band, S. 222. Oftmals handelt es sich wie in den voranstehenden Beispielen um eine monistische Weltanschauung; vgl. etwa die bereits angeführte Passage in Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 78/79, in der der Protagonist »eins wurde mit dem All« (ebd., S. 79); vgl. auch Hauptmann: Einhart, der Lächler, Erster Band, S. 52, S. 61–63, S. 75, wo sich der Protagonist in die Naturbetrachtung versenkt und »um sich Gewebe von feinen Fäden [hat], die ihn einwoben« (ebd., S. 61), sowie Zweiter Band, S. 4: »Er lauschte in sich und erlauschte die Welt.« Wortgeschichtlich lässt sich die Neuschöpfung des Begriffes, ein griechisches Kunstwort, das sich aus ›pa¯n‹ (alles) und ›hjra¯ma‹ (sehen) zusammensetzt, auf das Ende des

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oramatischen Blicks stehen ihrerseits in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Horizonterfahrung. Die Erfahrung des Horizonts ist zunächst eine genuin moderne, sie wird zum Schlüsselerlebnis einer ganzen Epoche.1092 Zunächst eine krisenhafte Erfahrung, ist der Blick auf den Horizont in Früher Neuzeit und Aufklärung vom Prinzip der Öffnung und des Aufbruchs geprägt; in der Romantik wird die Horizontlinie dann zur utopischen Zone. Als Folge der Entdeckung des Horizonts löst der panoramatische Rundumblick von Türmen und Bergen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert eine regelrechte Seh-Sucht verbunden mit den Erfahrungen von Reizüberflutung und Schwindelgefühl1093 aus. Das Medium Panorama ermöglicht dann, sich der Schau des Horizont immer wieder auszusetzen und so die Wahrnehmungskonvention des panoramatischen Blicks einzuüben: Im Rundgemälde etabliert sich das Erlebnis des Horizonts als Kunstform; indem es so an Dauer gewann, wurde das Panorama zur Schule des Blicks, zum optischen Simulator, in der der extreme Sinneindruck, das sensationelle, weil ungewohnte Erlebnis immer wieder und wieder geübt werden konnte, bis es zur Selbstverständlichkeit werden konnte und zum alltäglichen Bestandteil menschlichen Sehens wurde. Geprägt vom panoramatischen Blick beginnt das Panorama den panoramatischen Blick zu prägen. So wird es zum Muster, nach dem sich von nun an die Seherfahrungen organisieren.1094

So hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der panoramatische Blick stabilisiert, er ist nicht mehr mit der Erfahrung einer Haltlosigkeit des Blickes und eines Schwindelgefühls verbunden. Auch die Horizonterfahrung verändert 18. Jahrhunderts datieren. Neben der Bedeutung, die sich im engeren Sinn auf die Kunstbzw. Medienform »Panorama« bezieht, die ziemlich genau zwischen 1800 und 1900 existiert hat, wird der Begriff im übertragenen Sinn von ›Rundblick‹ bzw. ›Überblick‹ von einem erhöhten Standpunkt aus sowohl auf natürlich sich bietende Landschaftsaussichten als auch im metaphorischen Gebrauch auf die Bereiche Kunst, Literatur, Geschichte und allgemeine Verhältnisse oder Lebenszustände übertragen (vgl. Oettermann, Stephan: Das Panorama. Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt/Main 1980, hier S. 7/8). Kulturhistorisch kann das Medium Panorama, das in etwa zwischen 1800 und 1900 existierte, als Reaktion der Kunst auf die Entdeckung des Horizonts verstanden werden (vgl. hierzu Koschorke, Albrecht: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreibung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt/Main 1990; ders.: Der Horizont als Symbol der Überschreitung und Grenze: Zum Wandel eines literarischen Motivs zwischen Aufklärung und Realismus. In: Proceeding of the XIIth Congress of the International Comparative Literature Association, München 1988 in five volumes. Volume 2: Space and Boundaries in Literature, München iudicium Verlag 1990, S. 250–255); technikgeschichtlich hängen beide zudem eng mit verkehrstechnischen Neuerungen – Ballon, Dampfschiff, Eisenbahn – zusammen (vgl. zur Eisenbahn insb. Schievelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, hier insbesondere Kapitel 4 »Das panoramatische Reisen«, S. 51–66). 1092 Vgl. Oettermann: Das Panorama, S. 9/10. 1093 Ebd., hier S. 10ff. 1094 Ebd., hier S. 19.

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sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Auf die erste Phase der Horizontöffnung1095 folgt eine zweite Phase der Horizontschließung, der Wiederkehr der Grenzen.1096 Der panoramatische Blick ist dabei alles andere als beliebig – er setzt sich vielmehr aus privilegiertem Beobachterstandort einerseits und dem Blick auf das Ganze andererseits zusammen.1097 Es sind dies die Voraussetzungen dafür, dass der panoramatische Blick in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Bereich weltanschaulichen Denkens vereinnahmt wird: Panorama-Anschauung, sprich Welt-Anschauung, wird zur Anschauung des ›Ganzen‹, wird zur Weltanschauung. Bereits Alexander von Humboldt, der historisch zur Weltanschauungsliteratur überleitet1098, interpretiert den panoramatischen Blick in einen weltanschaulichen um, mit dem Wissensmaterial von einem privilegierten Standpunkt aus einer Deutung unterzogen wird. Seine Affinität zum panoramatischen Blick, der zugleich einen ordnenden Charakter hat, zeigt sich früh im Einleitungskapitel »Über die Steppen und Wüsten« in seinen »Ansichten der Natur«. Das Kapitel beginnt mit einem imaginären Wanderer (auch diese Diskursfigur verwendet also schon Humboldt im Zusammenhang mit dem Konzept der Weltanschauung), dem sich nach der Durchquerung von Bergtälern und Fluren ein panoramatischer Blick über die Ebene eröffnet: […] so ruht der Blick im Süden auf der Steppe, die scheinbar ansteigend in schwindender Ferne den Horizont begrenzt. Aus der üppigen Fülle des organischen Lebens tritt der Wanderer betroffen an den öden Rand einer baumlosen, pflanzenarmen Wüste. Kein Hügel, keine Klippe erhebt sich inselförmig in dem unermeßlichen Raum.1099

In seinem »Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung«, der das Ganze der Natur als »Naturgemälde«1100 darzustellen versucht, markiert Hum1095 Der frühe panoramatische Blick ist zugleich geprägt von der Wahrnehmung der potentiellen Überschreitung der Horizontgrenze, »hinter der, falls es gelänge, sie zu überwinden, ungeahnte Aussichten und ganz neue Möglichkeiten der Erkenntnis lägen« (ebd., hier S. 13). 1096 Vgl. Koschorke: Die Geschichte des Horizonts, S. 218ff. 1097 Oettermann etwa weist darauf hin, dass die Wahl des Standpunktes im Massenmedium Panorama keinesfalls zufällig war; die ersten Panoramen in England, Frankreich und Deutschland arbeiten mit bewusst gewählten und durchaus symbolischen Standpunkten; das »Schweifen dieses Blicks ist nur scheinbar ziellos: er geht aufs Ganze.« (Oettermann: Das Panorama, S. 19). 1098 Vgl. Thom8: Der Blick auf das Ganze, S. 398. 1099 Humboldt, Alexander von: Ansichten der Natur. Erster und Zweiter Band, herausgegeben und kommentiert von Hanno Beck in Verbindung mit Wolf-Dieter Grün, Detlef Haberland, Sabine Melzer, Eva Michels, Uwe Schwarz und Fabienne Orazie Vallino. Darmstadt 1987, S. 3. 1100 Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Teilband 1, herausgegeben und kommentiert von Hanno Beck in Verbindung mit Wolf-Dieter

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boldt den weltanschaulichen Standpunkt, von dem aus das Ganze der Natur überblickt werden kann, explizit als einen erhöhten, auf den Horizont hin orientierten: Wenn der menschliche Geist sich erkühnt, die Materie, d. h. die Welt physischer Erscheinungen, zu beherrschen, wenn er bei denkender Betrachtung des Seienden die reiche Fülle des Naturlebens, das Walten der freien und der gebundenen Kräfte zu durchdringen strebt, so fühlt er sich zu einer Höhe erhoben, von der herab, bei weit hinschwindendem Horizont, ihm das einzelne nur gruppenweise verteilt, wie umflossen von leichtem Duft erscheint. Dieser bildliche Ausdruck ist gewählt, um den Standpunkt zu bezeichnen, von dem aus wir hier versuchen, das Universum zu betrachten und in seinen beiden Sphären, der himmlischen und der irdischen, anschaulich darzustellen.1101

Vom panoramatischen Standpunkt – und nur von diesem – aus können Himmel und Welt als einander ergänzende Teile des Ganzen betrachtet werden. Die Horizontlinie markiert dabei gerade nicht mehr eine potentiell zu erweiternde oder zu überschreitende Grenze; vielmehr ergänzen sich Himmel und Erde zum Ganzen des Universums, dessen Totalschau vom privilegierten Standpunkt aus allererst möglich wird. Der Blick aufs Ganze ermöglicht schließlich den (ein)ordnenden Blick, das Geschaute und damit das Wissensmaterial kann einer einheitlichen Deutung unterzogen werden: Der panoramatische Blick wird zum Weltanschauungs-Blick. Die Diskursfiguren der Individualität, der Persönlichkeit und der Innerlichkeit sind schließlich synonym zur Ausbildung des weltanschaulich gefestigten Menschen zu lesen. Dann blieb er [der Pastor] vor Thomas stehen und legte die Hände auf seine Schultern, blickte ihm tief und fest in die Augen. »Ich freue mich an Dir von ganzem Herzen, Dein Weg ist ein richtiger Weg!« Und indem sein Gesicht sich in viele Falten zog, fügte er hinzu: »Jedes Wort, das du schreibst, kommt aus Deinem Innersten. […] Ich wünschte, daß Du Dich niemals drängen ließest… von niemandem. Daß Du jetzt und immer stark in Dir bliebest! Es könnte,« sagte er langsam, »eine Zeit kommen, da Du Dich auch von diesen [Weggefährten] trennst. Laß es Dich nicht bekümmern, werde in Deiner Einsamkeit nicht irre! Die einsamen Wege eröffnen nicht selten weite Blicke.«1102

Die Figur des Weges (= weltanschaulicher Bildungsprozess) wird mit der der Persönlichkeit, der Innerlichkeit, der Individualität als Grundlage der Ausbildung von Weltanschauung in Verbindung gebracht; darüber hinaus wird der Klärungsprozess auch hier an die Diskursfigur der Absonderung gebunden und der ›weite Blick‹, sprich der weltanschauliche Blick, als Zielpunkt markiert. Die Grün, Sabine Melzer-Grün, Detlef Haberland, Paulgünther Kautenburger, Eva MichelsSchwarz, Uwe Schwarz und Fabienne Orazie Vallino. Darmstadt 1993, S. 61. 1101 Humboldt: Kosmos, S. 61. 1102 Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 166/167.

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semantische Kontur der heimatkünstlerischen Figur des ›ganzen Menschen‹ ist vor diesem Hintergrund zu verstehen – sie ist wie bereits angedeutet synonym für einen weltanschaulich gefestigten Menschen zu lesen ebenso wie ›Heimat‹ und Verwurzelung im Heimatboden synonym für Weltanschauung stehen (und insofern gerade keine örtliche bzw. regionale Bindung aufweisen müssen).1103 Mit dem weltanschaulichen Klärungsprozess des Protagonisten verbunden ist schließlich drittens eine konkrete Wirkabsicht, die expansive Verbreitung der Weltanschauung, die sich ebenfalls in einer Reihe diskursiver Figuren ausdrückt. Das setzt zunächst die Selbstwahrnehmung als gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung ›Fortgeschrittene‹ voraus, die sich in den Figuren der Avantgarde bzw. der Pioniere verdichtet – die Spiritisten in Bölsches »Mittagsgöttin« etwa bezeichnen sich als ›Ritter vom neuen Geist‹1104 und als ›Pioniere‹1105 ; denselben Anspruch formuliert Poperts Helmut Harringa, wenn er wiederholt sagt: »›Ich will ein Krieger sein im Heere des Lichts.‹«1106 Zugleich wird hier an die um 1900 ebenfalls virulente Lichtmetaphorik angeschlossen – erinnert sei an dieser Stelle nur an Fidus’ (das ist der Maler Hugo Höppener) »Lichtgebet« – die sich ebenfalls topisch durch die Weltanschauungsdichtung zieht. Nicht nur Poperts, auch Hollaenders Protagonist macht dies explizit: »›[…] Oeffnet weit die Augen und blickt in das neue Reich! Seid eingedenk des Wortes: Wir sind das Licht der Welt. Wandelt im Lichte! Zündet die Fackeln an! Werft unser Nachtlicht überall hin – es wird Helligkeit und Tag verbreiten. – Ich will die sammeln, die nach Licht dürsten und hungern […].‹«1107

Bölsches »Mittagsgöttin«1108 knüpft ebenso an die Lichtmetaphorik an wie Carl Hauptmanns »Einhart, der Lächler«.1109 Die Verbindung von Lichtmetaphorik und dem Bemühen um eine vernünftige Weltordnung lässt sich ebenso wie die Verbindung von Lichtmetaphorik mit den Motiven des Wanderers und des Lebensweges wenigstens bis zur Aufklärung zurückverfolgen – die Reformbewegungen können hier also auf ein breites Archiv zurückgreifen. Explizit ausformuliert wird die Wirkabsicht als ›geistige Expansion‹ bei Felix Hollaender : Thomas Truck strebt mit seiner Zeitschrift Festsaal an, »›[…] Freude [zu] verkünden […]‹«1110 ; aus »,[…] unserem engen, kleinen Kreise 1103 Die Forschung hat wohl auf die Diskursfigur des ›ganzen Menschen‹ und den Persönlichkeitskult in der Heimatkunst hingewiesen (vgl. Anm. 1062), ohne diese jedoch vom Weltanschauungsdenken her zu lesen. 1104 Vgl. Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 222. 1105 Ebd., S. 375. 1106 Popert: Helmut Harringa, S. 45. 1107 Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 95/96. 1108 Vgl. etwa Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 163, S. 266, S. 73, S. 299. 1109 Vgl. beispielsweise Hauptmann: Einhart, der Lächler, Zweiter Band, S. 38. 1110 Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 96.

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›Koloniale‹ Weltanschauungsromane

[…]‹«1111 möchte er hinaustreten und Gleichgesinnte suchen. Das Prinzip, das er zur Ausbreitung seiner Weltanschauung formuliert, entspricht dem lebensreformerischen Prinzip der Gesellschaftsreform durch Selbstreform: »›[…] Heute sind wir wenige, über ein kleines werden wir wachsen, wie ein Gebirgsbach wächst, wenn der Frühling lachend den Schnee der Berge hinwegfegt. […]‹«1112 Und tatsächlich erweitert sich der zunächst kleine Kreis der Versammlungen zunehmend durch »[f]remde Gäste«1113, schließlich durch eine »ungeheure Menschenmenge«1114 : Thomas Truck erlangt Bekanntheit über weite Kreise1115. Vor diesem Hintergrund muss schließlich die mannigfache Ausgestaltung von Netzwerken im Weltanschauungsroman als Figuration der weltanschaulichen ›Kolonisation‹ begriffen werden. Das (realhistorisch gedeckte) Symbol der Abstinenzler in Poperts »Helmut Harringa« etwa, die »Weltkugel […] mit silbernem Gradnetz«1116 darauf, verweist auf den Expansionsanspruch der lebensreformerischen Weltanschauung. Bölsches »Mittagsgöttin« setzt zwar einerseits die Absonderungsfigur im Vergleich zu anderen, im Wesentlichen in der Großstadt situierten Romanen am umfassendsten in Szene; zugleich wird hier aber deutlich, dass neben dem Rückzugs-Gestus immer auch die Vernetzung mit der Welt steht. Durchaus modern beschreibt der Erzähler Berlin als Knoten innerhalb eines »Riesennetzes, das die Stadt da drüben mit der Welt verband«1117. Der Graf steht dann, »obwohl er grundsätzlich noch nichts veröffentlicht hatte, doch bereits in einer sehr ausgedehnten Privatkorrespondenz mit einer Unmasse von Personen«1118 ; ein breites Netz an Korrespondenzen verbindet den abgelegenen Erdenwinkel mit dem Rest der Welt: Wenn man überhaupt diesen Briefwechsel ansah, so schien es, daß die halbe Welt sich unausgesetzt mit Spiritismus befaßte. Es liefen Schreiben ein aus den Kreisen der höchsten russischen und österreichischen Aristokratie, mit den ältesten Adelswappen im Siegel, und daneben fast unleserliche Stilproben von armen schlesischen Webern, die in ihrer LebensmisHre noch Zeit zu mystischer Versenkung fanden. Aus fast allen Städten des Reichs meldete man Spukhäuser an. […] An allen Ecken und Enden der Welt pochte es unablässig […]. Kein Dorf, wo nicht ein »Spökenkieker« war.1119

Die spiritistische Weltanschauung breitet sich wie ein Netz über die Welt. Die Anordnung der Diskursfiguren erfolgt dann vor dem Hintergrund eines 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118 1119

Ebd., Zweiter Band, S. 96. Ebd., Zweiter Band, S. 106. Ebd., Zweiter Band, S. 149. Ebd., Zweiter Band, S. 184. Vgl. ebd., Zweiter Band, S. 184. Popert: Helmut Harringa, S. 59. Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 281. Ebd., S. 113. Ebd., S. 247.

Weltanschauungsroman und Re-Lektüre des deutschen ›Kolonialromans‹

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allgemeinen, den Weltanschauungsroman strukturierenden Narrativs, das sich aus dem Geschichtsmodell der weltanschaulichen Kulturkritik ableitet, die ihrerseits auf die hegelianische Dialektik zurückgreift. Das Modell Paradies – Sündenfall Moderne – weltanschauliche Erlösung ist insofern nicht nur auf der Ebene des Inhalts zu verorten, es bietet zugleich ein Verlaufsmodell an, dem alle Weltanschauungsromane folgen: Die Beobachtung und Beschreibung von Moderne und ihren Alternativen folgt auch tiefenstrukturell dem Geschichtsmodell der Kulturkritik. In dieses Narrativ können zunächst die Ergebnisse der Untersuchung der inhaltlichen Ausgestaltung der Moderne-Reflexion eingeordnet werden: Das skizzierte Verlustnarrativ, das der Weltanschauungsroman mit dem Naturalismus teilt, entspricht im kulturkritischen Geschichtsmodell den vorgängigen Paradies und dem Sündenfall Moderne. Hier lassen sich die herausgearbeiteten weltanschaulich-kulturkritischen Diskursfiguren (Paradies Vormoderne; Erbhof-Verlust) einordnen. Der ›Sündenfall Moderne‹, die grundlegende Entzweiung vermeintlich vorgängiger Einheitlichkeit und Ganzheitlichkeit in der Moderne, wird dann nicht nur – wie im Falle des »Jörn Uhl« – über die Geldhypothek, die als Hypothek der Moderne auf dem Hof liegt, dargestellt, sondern auch über die Figurenkonstellationen in der Elterngeneration. Es ist topisch, dass die Protagonisten einen ›modernen‹ und einen ›vormodernen‹ Elternteil haben: Eduard von Keyserlings Protagonist Lothar von Brückmann hat einen Vater, dessen Familie »zu den ältesten Familien des preußischen Landadels«1120 gehörte, der sich mit einer »Localsängerin, einer herabgekommenen Polin, die ihn in Berlin umgarnt hatte«1121 verband. Der Sündenfall Moderne liegt hier in der unpassenden Verbindung der Eltern begründet. Der der vormodernen Welt angehörige Vater ist in der Großstadt der Moderne verfallen; damit beginnt nicht nur der Untergang der Familie in der Heimat, auch die Orientierungslosigkeit des Protagonisten in der modernen Welt ist so vorbestimmt. Der Vater von Carl Hauptmanns Protagonisten Einhart ist Geheimrat und ein »berühmter Altertumsforscher gewesen, ein versunkengrabender Kenner aller ehrwürdigen Dokumente deutscher Vergangenheit«1122, mithin der modernen Wissenschaft verpflichtet, seine Mutter hingegen ist in ihrer Jugend eine »wohlhabende Zigeunerdirne«1123 gewesen und also eher der Naturseite als der Kulturseite zuzuordnen, bevor der Vater sie heiratete. Es ist dies das Erbteil und der Grundkonflikt des Protagonisten seit seiner jüngsten Kindheit – Buchstabe versus Bild1124, Schule versus Naturerleben, Wissenschaft versus Kunst – den er dann 1120 1121 1122 1123 1124

Keyserling: Die dritte Stiege, S. 8. Ebd., S. 8. Hauptmann: Einhart, der Lächler, Erster Band, S. 15. Ebd., Erster Band, S. 3. Vgl. ebd., Erster Band, S. 88.

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während seines Klärungsprozesses austragen muss. Die Figurenkonstellation in Hollaenders »Der Weg des Thomas Truck« ist ebenfalls nach diesem Muster angelegt: Der Vater, ein »starke[r], breitschultrige[r] Mann mit den aufgedunsenen Zügen und dem militärisch zugestutzten Schnurrbart«1125, hat die der ländlichen Sphäre zugeordnete Mutter lediglich aus Berechnung geheiratet: »Bevor er noch das Doktorhaus betreten, hatte er kühl und sachlich mit der Möglichkeit gerechnet, in die Praxis seines älteren Kollegen, der noch dazu als ein wohlhabender Mann galt, hinein zu heiraten.«1126 Die Mutter hingegen ist im Gegensatz zur »knochige[n] Struktur«1127 des Vaters ein »zerbrechliche[s] Geschöpfe«1128, ein »feine[s], überschlanke[s] Wesen«1129 mit »schimmernden Augen«1130, von »geistige[r] Überlegenheit«1131. Vor dem Hintergrund des ›Sündenfalls Moderne‹ als Entzweiung in der modernen Kultur sind dann all jene Formulierungen der Zumutungen der Moderne einzuordnen, die in den voranstehenden Abschnitten herausgearbeitet worden sind. Nun ist nicht nur der Modernisierungsprozess selbst, sondern gerade auch der diesem entgegen gestellte weltanschauliche Bildungsprozess über ein Narrativ organisiert, das sich wesentlich aus der kulturkritischen Beobachtung und Beschreibung von Moderne ableitet. Der Klärungsprozess ist zunächst nach dem Muster Kindheit – weltanschauliche Verwirrung – weltanschauliche Klärung organisiert. Die Kindheit ist der Vormoderne zugeordnet, die weltanschauliche Verwirrung in der Stadt der Moderne, die weltanschauliche Klärung, gegebenenfalls auch die sich daran anschließende Wirkabsicht, schließlich der Phase der erträglich gewordenen bzw. der alternativen Moderne. Damit wird die Beobachtung und Beschreibung von Moderne durch einen alternativen Zukunftsentwurf ergänzt: Das Verlustnarrativ wird in ein Erlösungsnarrativ überführt. Auch an dieser Stelle lassen sich die Ergebnisse der voranstehenden Abschnitte noch einmal rekapitulieren und in den größeren Kontext des textstrukturierenden Narrativs einordnen. Die Überführung von Verlust- in Erlösungsnarrativ ist zugleich die systematische Stelle, an der Erlösungshoffnung bzw. Erlösungserlebnis einzuordnen ist. So wird bei Hollaender nicht nur der ›Sündenfall Moderne‹ als Vertreibung aus dem Paradies, sondern auch der Erlösungsgedanke explizit formuliert. Mehrfach wird zunächst – in verschiedenen Kontexten, von verschiedenen Figuren und unter verschiedenen inhaltlichen 1125 1126 1127 1128 1129 1130 1131

Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Erster Band, S. 3. Ebd., Erster Band, S. 20/21. Ebd., Erster Band, S. 21. Ebd., Erster Band, S. 21. Ebd., Erster Band, S. 21. Ebd., Erster Band, S. 21. Ebd., Erster Band, S. 21.

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Vorzeichen – der Erlösungsgedanke intradiegetisch diskutiert – wie etwa zwischen der Studentin Ingolf und dem Mechaniker Fründel: »Sie halten den Erlösergedanken für etwas Pathologisches?« »In Bezug auf die Allgemeinheit – ja. In Bezug auf den einzelnen – nein.« »Wie meinen Sie das?« brachte sie kleinlaut und bedrückt hervor. In seinen schmalen, geschlitzten Augen funkelte es auf. »Der einzelne bin ich selbst, nur ich kann mich erlösen.«1132

Eine ähnliche Position vertritt Volksschullehrer Heinsius wenig später während einer weltanschaulichen Diskussion: »›Fort mit dem Erlöserschwindel, jeder erlöse sich selbst.‹«1133 Für den Handlungsverlauf und das textstrukturierende Narrativ ist dann vor allem das Erlösungserlebnis, das zur weltanschaulichen Klärung des Protagonisten führt, von Relevanz. Bereits bei seiner ersten Flucht aus der Großstadt gewinnt der Begriff der »Wiedergeburt« – nicht zufällig auf dem Berggipfel beim Wandern in der Natur – an Bedeutung für den Protagonisten.1134 Hier wird die weltanschauliche Erlösung von der Moderne vorbereitet; das eigentliche Erlösungsmoment findet dann wie dargelegt während eines Konzertes Bettinas statt. Das Erlösungsmoment des Protagonisten ist konstitutiv an den weltanschaulichen Klärungsmoment gekoppelt: Der innerste Gedanke dieser Sätze ist der : Christus lebte seine Erkenntnis, wie Buddha sie lebte. Beide stellen für uns die großen Lebensführungen dar und deshalb die Erlösung, die Erfüllung. Lebensführung bedeutet nichts anderes, als Erkenntnis und Leben in Einklang zu bringen.1135

Diese Erkenntnis nun aber ist der monistische All-Glaube: »Jeder einzelne ist geistiges Bewußtsein und All-Bewußtsein. Was den Menschen zum Menschen macht, ist erst sein Verschmelzen mit der Allheit.«1136 Eine Variante des Modells ist der lebensreformerische Roman, der nach dem Prinzip Gesellschaftsreform durch Selbstreform gestaltet ist, das seinerseits als spezifische Variante des kulturkritischen Geschichtsmodells zu verstehen ist.1137 1132 1133 1134 1135 1136 1137

Ebd., Erster Band, S. 307. Ebd., Erster Band, S. 375. Vgl. ebd., Zweiter Band, S. 78. Ebd., Zweiter Band, S. 399/400. Ebd., Zweiter Band, S. 400. Poperts »Helmut Harringa« kann als Lebensreformroman gelten; daneben finden sich Motive der Lebensreform aber auch in anderen Weltanschauungsromanen – etwa der Vegetarismus im »frugale[n] Abendmahl« in Bölsches »Mittagsgöttin« (Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 315) oder das »vegetarisch[e] Speisehaus« mit den »sonderbaren Gestalten« in Hollaenders »Der Weg des Thomas Truck« (Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 136) ebenso wie der Alkoholismus der ersten Frau des Protagonisten.

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›Koloniale‹ Weltanschauungsromane

Exemplarisch kann Poperts »Helmut Harringa«1138 angeführt werden: Auch dieser Roman basiert zunächst auf der grundlegenden Dichotomie von Stadt und Land, von Vormoderne und Moderne.1139 Die Großstadt Hamburg ist bereits auf den ersten Seiten mit Lärm und ›dicker Luft‹ konnotiert1140, im Kapitel, das die Mohlenhoffstraße mit ihren Wirtshäusern und Dirnen beschreibt, verdichten sich alle negativen Auswüchse der modernen Großstadt1141. Das Vorland, wo die Eltern (und damit die Elterngeneration) des Protagonisten Harringa leben, wird hingegen als »grüne[s] Paradies«1142 wahrgenommen. Der Roman erzählt dann den weltanschaulichen Klärungsprozess des Protagonisten, genauer dessen Hinwendung zur lebensreformerischen Anti-Alkoholbewegung. Bereits im ersten Kapitel wird im Zuge einer Gerichtsverhandlung, der Landrichter Harringa beiwohnt, die Alkohol-Thematik installiert. Am Ende des zweiten Kapitels, das einen Osterbesuch [sic!] bei den Eltern auf dem Land behandelt, entscheidet der Protagonist, inhaltlich noch ohne konkretes Ziel: »›Ich will ein Krieger sein im Heere des Lichts.‹«1143 Im weiteren Verlauf kommt er mit Paul Bloquardsen

1138 Zu Poperts »Helmut Harringa« vgl. insbesondere Sievert, Kai Detlev : Antialkoholismus und Völkische Bewegung. Hermann Poperts Roman »Helmut Harringa«. In: Bachleitner, Norbert/Begemann, Christian/Erhart, Walter/Hübinger, Gangolf (Hrsg.): Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Band 29 Heft 1 (2004), S. 29–54. Sievert arbeitet insbesondere die völkische Intention bei gleichzeitigen lebensreformerischen Anschauungen heraus (ebd., S. 51); daneben wird auf zivilisationskritische Diskursfiguren einerseits und Zukunftsentwürfe andererseits (so etwa das utopische Ende des Romans) eingegangen (vgl. ebd., S. 31/32, S. 36 und S. 37–39). In diesem Zusammenhang geht er unter anderem auf die Darstellung von Stadt und Land (vgl. ebd., S. 31, S. 43, S. 45 und S. 50), Körperdarstellung (vgl. edb., S. 31), Lichtmetaphorik (vgl. ebd., S. 40/41) und die Diskursfigur der Zeitschriftengründung (vgl. ebd., S. 49) ein. Sievert weist daneben darauf hin, dass der Name »Helmut Harringa« in Anlehnung an den nordfriesischen Künstler und revolutionären Politiker Harro Harringa (1798–1870) gewählt sein könnte (vgl. ebd., S. 30). Die Referenz auf zeitgenössische Persönlichkeiten gehört zu den Charakteristika des Zeitromans. Vgl. daneben auch Bock, Bertram G.: Gesund genug, um fühlen zu können. Hermann Poperts »Helmut Harringa« (1910). In: Scheuer, Helmut/ Grisko, Michael (Hrsg.): Liebe, Lust und Leid. Zur Gefühlskultur um 1900. Kassel 1999, S. 147–162. Hartung, Günter : Deutschvölkische Religiosität in der Belletristik vor dem Ersten Weltkrieg. In: ders.: Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik. Gesammelte Studien: Band 1. Leipzig 2001, S. 43–59; Hermann, Ulrich: »Ein Krieger im Heere des Lichts« – Hermann Poperts »Helmut Harringa« als Spiegel-Bild lebensreformerischen Strebens in der Jugendbewegung. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Band 16. Witzenhausen 1986/1987, S. 45–62; schließlich in der DDR-Germanistik: Ebert: Zum Weltbild konservativer und völkisch-nationaler Autoren um 1900/1910. 1139 Vgl. schon Sievert: Antialkoholismus und Völkische Bewegung, S. 31, S. 43, S. 45 und S. 50. 1140 Popert: Helmut Harringa, S. 1. 1141 Vgl. ebd., Kapitel 3 ab S. 46. 1142 Ebd., S. 32, Hervorhebung im Original. 1143 Ebd., S. 45.

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(der bezeichnenderweise in der Osterstraße1144 wohnt), einem Vertreter und Verkünder der Anti-Alkoholbewegung, in Kontakt, dem er sich anschließt: »›[…] Ihrem Wege, das sehe ich wohl, leuchtet ein eigener Stern; der gibt Ihnen Richtung und Stete. Wollen Sie mir den Stern zeigen?‹ ›Ja,‹ sagte Paul Bloquardsen und reichte ihm die Hand.«1145 Helmut Harringa erhält nachfolgend eine Druckschrift mit dem Titel »Wie ich wurde, was ich bin. Meinen Freunden gewidmet. Von Paul Bloquardsen«1146 zur Lektüre. Es folgt eine Phase des Nachdenkens und der unterschiedlichen Eindrücke. Unter dem Eindruck des Suizids des Bruders, der sich unter Alkoholeinfluss eine Syphilis zugezogen hat1147, schließlich wendet er sich endgültig der Anti-Alkoholbewegung zu: »Und über all den Jammern weg klang es durch seine Seele wie Glockenton von eherner Glocke: ›Ich will ein Krieger sein im Heere des Lichts.‹«1148 Anders als andere Weltanschauungsromane enden jene von der Lebensreform beeinflussten Texte nun nicht im Moment der Erweckung. Das Prinzip der Lebensreform, Gesellschaftsreform durch Selbstreform, wird in der lebensreformerischen Arbeit der Figuren dargestellt – die dieses auch als solches benennen: »›Wissen Sie, Herr Landrichter,‹ sagte Bloquardsen zu Helmut, ›seitdem habe ich nicht wieder an Christian Thormählens Wort gezweifelt, daß diese Treppe ausnahmsweise von unten gescheuert werden muß. Und dann haben wir angefangen, sie von unten zu scheuern, von ganz unten.‹«1149 – »›[…] Ja, Peter, es wächst und geht weiter. Niemand und nichts hält es auf. Immer mehr kommen zu uns. Und immer mehr wachsen heran von den Unsern. […]‹«1150 Diesem Prinzip folgt die weitere Entwicklung des Protagonisten, der zunächst selbst dem Alkohol abschwört, diese Überzeug dann in seinem persönlichen Umfeld kundtut, wo sie wesentlich auf Ablehnung stößt, aber auch einzelne Personen ›bekehrt‹: »[…] Kurz und gut, lieber Helmut, sympathisch gewesen ist mir die Sache immer, seit du dabei bist. Aber es bedurfte Herrn Wendbergs vortrefflicher Worte, um mir zu zeigen, wo ich selbst hingehöre. Von heute an stehe ich an deiner Seite.« »Und ich«, sagte Hildegard Anderson, trat auf ihren Bruder zu und reichte ihm die Hand.1151

1144 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151

Vgl. ebd., S. 96. Ebd., S. 95. Ebd., S. 97, Hervorhebung im Original. Neben der dominanten Alkohol-Thematik verhandelt der Roman auch weitere Lebensreform-Thematiken wie die der sexuellen Aufklärung und in Verbindung damit der Vermeidung von Geschlechtskrankheiten. Popert: Helmut Harringa, S. 175. Ebd., S. 180, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 188. Ebd., S. 210, Hervorhebung im Original.

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Der Text mündet schließlich darin, dass die Abstinenz-Bewegung umfassenden gesellschaftlichen Zuspruch erhält; in einer Massenveranstaltung eines »fünften deutschen Abstinententag[s]«1152 folgen tausende Menschen dem Banner der Abstinenzler : Jetzt konnte man deutlich die Weltkugel darauf erkennen. Und hinter dem Banner schritten hunderte und Tausende. Männer und Frauen. Freudeglänzende Augen in entschlossenen Gesichtern. Immer fester wurde der Takt der Schritte und immer dröhnender ihr Hall, wie sie die Toosbüystraße hinabstiegen. Und lauter und lauter der jauchzende Zuruf des Volkes.1153

Enggeführt wird dies mit der Geburt des ersten Kindes des Protagonisten, das die Erlösung für die neue Generation, das kommende Zeitalter figuriert.1154 Den Fluchtpunkt des Romans bildet nichts weniger als die von der Lebensreform in letzter Instanz intendierte Gesellschaftsreform. Zugleich wird der Wirkmechanismus Gesellschaftsreform durch Selbstreform vom Text selbst offen gelegt: Ein kleines Feuer hatten sie angezündet, langsam hatte es gebrannt und schüchtern vor mehr als zwanzig Jahren. Und Paul Bloquardsen war hinzugetreten und hatte es geschürt mit eisernen Sehnen und stählernem Sinn. Da war es aufgeflammt, daß Flugfeuer hinübergeflogen in die große freie Stadt an der Elbe […], lichtsäend und funkensprühend über ganz Deutschland bis hin zur bierberühmten Brauerstadt im Isartal.1155

Damit werden dem Leser nicht nur Wirkmechanismus und potentielle Wirkmacht vor Augen geführt – zugleich ist hier die Wirkabsicht des Textes selbst markiert. Diese Variante der narrativen Ausgestaltung des kulturkritischen Geschichtsmodells zielt nicht nur darauf, Moderne durch den festen weltanschaulichen Standpunkt erträglich zu machen; hier geht es vielmehr darum, eine alternative, eine bereinigte Moderne zu gestalten. Der Roman gestaltet zugleich das Grundprinzip der Lebensreform, Gesellschaftsreform durch Selbstreform, narrativ aus, erzählt also von der breiten Wirkabsicht des Protagonisten. Das ist schließlich nichts anderes als die Ausgestaltung des weltanschaulich-kulturkritischen Prinzips der geistigen Kolonisation Deutschlands, Europas und der Welt und also der diskursiven Figur der Expansion. Vor dem Hintergrund der Diskursfigur des Welt-All-Blicks sowie neueren Forschungen zur Weltanschauung und zu Weltanschauungstexten im 19. Jahrhundert lassen sich schließlich auch Erzähltechnik1156 bzw. poetologisches 1152 1153 1154 1155 1156

Ebd., S. 270. Ebd., S. 266. Vgl. ebd., S. 275. Ebd., S. 266/267. Mikljs Saly#mosy thematisiert in seiner Monographie zum »Weltanschauungsroman« am Rande auch narratologische Eigenheiten des Texttypus, wenn auf die Bedeutung von

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Programm der Weltanschauungsdichtung genauer konturieren.1157 Die literarische Form der Texte leitet sich aus dem Wunsch nach vermeintlich verlustig gegangener ›Ganzheitlichkeit‹ und Sinnhaftigkeit als Reaktion auf moderne Kontingenzerfahrungen ab: Weltanschauungsdichtung verfolgt das Konzept weltanschaulich-panoramatischen Erzählens vom Ganzen, eine Poetik der totalen Anschauung. Nun gehört es zu den Spezifika insbesondere der heimatkünstlerischen Programmatik, dass sie nicht eigentlich bestimmt, was ›Heimatkunst‹ ist. Die vielleicht bekannteste Bestimmung stammt von Adolf Bartels: Heimatkunst ist die Kunst der vollsten Hingabe, des innigsten Anschmiegens an die Heimat und ihr eigentümliches Leben, Natur- und Menschenleben, aber dabei eine Kunst, die offene Augen hat, die weiß, daß Wahrheit und Treue der Darstellung unumgänglich, der Würde der Kunst allein entsprechend sind, daß nicht die blinde, sondern die sehende Liebe das höchste ist.1158

Diese zwar positive, in der Sache aber unspezifische Bestimmung entstammt immerhin einer Schrift, die den Titel »Heimatkunst. Ein Wort zur Verständigung« trägt. Sie ist symptomatisch für das Selbstverständnis der Heimatkunst und dessen ästhetisches und poetologisches Nicht-Programm: Heimatkunst war uns nie die Kunst, wie Naturalismus und Symbolismus ihren Anhängern die Kunst waren, sie war uns auch keine Kunstrichtung, da sie ihrer Natur nach auf keiner besonderen ästhetischen Doktrin beruhen konnte, wir haben sie aus praktischen, wesentlich nationalen Gründen auf den Schild erhoben und unter ihr weiter nichts als die Gesamtheit aller Werke, die heimischem Boden natürlich, gesund und kraftvoll entwachsen, verstanden.1159

Auch wenn sich Weltanschauungsdichtung überwiegend einer expliziten Definition entzieht, so lassen sich doch etwa in den Abhandlungen Paul Ernsts1160, Adolf Bartels, Friedrich Lienhards und Ernst Wachlers Eckpunkte einer Bestimmung von ›Weltanschauungsdichtung‹ erkennen. Die spezifische Form

1157

1158 1159 1160

Monologen und Dialogen und den »starke[n] Zug der persönlich stilisierten Erörterungen, in Form von Disput und Reflexion«, infolge dessen man von ›essayistischen‹ Romanen spreche, hingewiesen wird (vgl. Saly#mosy : Der Weltanschauungsroman, S. 136). Bei der folgenden Darstellung zum weltanschaulichen Erzählen handelt es sich um eine überarbeitete Version meiner Überlegungen, die unter dem Titel »Poetische Totalität. Zur literarischen Form heimatkünstlerischer Modernereflexion um 1900« veröffentlicht werden (vgl. Brasch: Poetische Totalität). Bartels: Heimatkunst, S. 13. Bartels: Heimatkunst, S. 5. Hervorhebungen im Original. Die Bestimmung von Weltanschauungsdichtung ist wesentlich in den Programmschriften der Heimatkunst geleistet worden; daneben hat auch Paul Ernst in »Der Weg zur Form« den Zusammenhang von Weltanschauung und Dichtung formuliert. Der nachfolgende Abschnitt bezieht sich wesentlich auf diese programmatischen Schriften; damit kann zugleich die Heimatkunst, die bislang vor allem aus literatursoziologischer Perspektive untersucht worden ist, mit Blick auf ihren genuin weltanschaulichen Gehalt neu perspektiviert werden.

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›Koloniale‹ Weltanschauungsromane

weltanschaulichen Erzählens wird zunächst programmatisch aus der weltanschaulichen Fundierung des Autors selbst abgeleitet, die als Voraussetzung dafür, dass Weltanschauung allererst in eine literarische Form gebracht werden kann, begriffen wird. Paul Ernst etwa bestimmt den Künstler als einen »Mensch[en], der in seiner ganzen Persönlichkeit und mit ihr verbunden ein besonderes Weltbild hat, das er mit bestimmten, ihm eigentümlichen Mitteln zu gestalten und […] aus sich herauszustellen sucht.«1161 Ernst entwirft dann sein Konzept von Weltanschauungsdichtung1162 in erster Linie in Abgrenzung zum Naturalismus und seinen weltanschaulichen Grundlagen; gegenüber dem Milieu-Denken soll das Individuum wieder gestärkt werden, soll die »geheimnisvolle Verbindung von Schicksal und Wesen des Helden«1163, sprich der (weltanschauliche) Bildungsprozess des Protagonisten, erzählt werden. Weltanschauungsdichtung wird zugleich die Funktion zugeschrieben, beim »Wiederaufbau unseres Volkes«1164 zu helfen – ihr wird also, und insofern ist sie vom kulturkritischen Beobachtungsmodus her zu verstehen, eine konkrete Wirkabsicht zugeschrieben. Der Naturalismus wird dabei als notwendige Übergangsstufe1165 auf dem Weg zur neuen, zur weltanschaulichen Dichtung – hier des Dramas – begriffen: Vor allem wird es sich für uns darum handeln, uns wieder eine sittliche Weltanschauung zu erringen. Denn das Drama ist Weltanschauungsdichtung […]. Gelingt es uns, auf irgendeine Weise die Pöbelmeinung zu überwinden, daß der Mensch nichts für sich kann, nur ein Resultat der materiellen Verhältnisse sei, und finden wir irgendwie die sittliche Freiheit des Menschen wieder, dann wird es uns auch gelingen, mit den durch den Naturalismus geschaffenen Mitteln ein neues volkstümliches Drama, ein nicht nur »modernes«, zu erzeugen.1166

Ähnlich argumentiert die Heimatkunst, die ihrerseits auch personell vielfach aus dem Naturalismus hervorgegangen ist: Auch hier wird der Dichter als einer, der 1161 Ernst, Paul: Weltbild und Mittel des Künstlers. In: ders.: Der Weg zur Form. München 1928 (3. Auflage), S. 332–336, hier S. 332. – Dieser Text wird erst in die dritte Auflage der ›ästhetischen Abhandlungen‹ aufgenommen, die Erstveröffentlichung datiert dem Inhaltsverzeichnis zufolge auf 1910. 1162 Ernst bezieht sich im Wesentlichen auf das Drama; aus seiner Geringschätzung des Romans und dessen Formlosigkeit macht er keinen Hehl – den Roman sieht er als »Halbkunst« an (vgl. Ernst, Paul: Bemerkungen über mich selbst. In: ders.: Der Weg zur Form. Ästhetische Abhandlungen vornehmlich zur Tragödie und Novelle. Berlin 1906, S. 3–12, hier S. 12). 1163 Ebd., S. 10. 1164 Ebd., S. 12. 1165 Vgl. Ernst, Paul: Das moderne Drama. In: ders.: Der Weg zur Form. Ästhetische Abhandlungen vornehmlich zur Tragödie und Novelle. Berlin 1906, S. 46–52, hier S. 52. 1166 Ernst, Paul: Das Drama und die moderne Weltanschauung. In: ders.: Der Weg zur Form. Ästhetische Abhandlungen vornehmlich zur Tragödie und Novelle. Berlin 1906, S. 13–32, hier S. 52.

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»im Boden der Geschichte und seines Landes Wurzeln hat und deshalb von festem Standpunkt aus die Welt überschaut«1167, bestimmt. Kunst soll den Programmschriften der Heimatkunst zufolge zuvörderst ›Ganzes‹ zur Anschauung bringen – und das aus weltanschaulicher Perspektive. Den naturalistischen »Fragmentarier[n]«1168 wird vorgeworfen, sie würden nur »Bruchstückchen der Welt«1169 darstellen. »Auf das Ganze sieht der Dichter von Gottes Gnaden, der große Dichter«1170 dahingegen, und das vom weltanschaulichen Standpunkt aus: Auf das Ganze zu sehen, das Elend mit Sonne zu überwinden und im Glück Maß zu halten, ist aber nur dem möglich, dem das Weltall bis in die tiefsten Sternennebel eine gewaltige Harmonie ist, nur dem möglich, der den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht gefunden hat: nur dem, der aus einer irgendwie religiösen Weltanschauung seine Kunstanschauung ableitet.1171

Lienhard verallgemeinert das in einer der späteren Auflagen der »Neuen Ideale« weiter : »Erst aus großer Weltanschauung fließt große Kunstanschauung.«1172 Bekanntlich meint ›Weltanschauung‹ im emphatischen Sinn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die fundierende Perspektive, von der aus Wissensmaterial gedeutet wird; zugleich entspringt ›Weltanschauung‹ einem kreativen Akt, sie ist mehr oder weniger offen auf ein Subjekt zurückzuführen1173. Von hier aus wird deutlich, weshalb Weltanschauungsdichtung einem ausgesprochenen Persönlichkeits- und Schöpfungskult frönt: Dieses Prinzip heißt eben Kunst. Und unter der Kunst verstanden alle Zeiten und Völker : Schöpfung lebendiger Gestalten und Vorgänge, entsprechend der Art, wie der Weltschöpfer seine Gestalten und Vorgänge schafft. Entsprechend: – wie dort, nämlich auf seinem Gebiete, Gott seine Menschen und Vorgänge schafft, so will ich, von ihm lernend, hier auf meinem Gebiete meine Menschen und Vorgänge schaffen. Die Übersetzungsarbeit aus der wirklichen Welt Gottes in die Sprache und Welt des Dichters nennt man Kunst.1174

1167 Lienhard, Fritz [Friedrich]: Persönlichkeit und Volkstum – Grundlagen der Dichtung. In: ders.: Neue Ideale. Gesammelte Schriften. Leipzig/Berlin 1901, S. 1–14, hier S. 6. 1168 Lienhard, Fritz [Friedrich]: Große Dichtung. In: ders.: Neue Ideale. Gesammelte Schriften. Leipzig/Berlin 1901, S. 15–32, hier S. 21. 1169 Ebd., S. 21, Hervorhebung im Original. 1170 Ebd., S. 22. 1171 Ebd., S. 22, Hervorhebung im Original. 1172 Lienhard, Friedrich: Große Dichtung. In: Neue Ideale. Stuttgart 1920 (5. Aufl.), S. 60–70, hier S. 65. 1173 Vgl. Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 342; zum Begriff der Weltanschauung vgl. Abschnitt III.1 »Kulturkritik. Vorbemerkungen zu Geschichte und Konzeptualisierung eines Beobachtungsmodus der Moderne (und ihrer Alternativen)«. 1174 Lienhard: Persönlichkeit und Volkstum – Grundlagen der Dichtung, S. 10, Hervorhebungen im Original.

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Die Programmatik der Heimatkunst stattet den idealen Autor (wieder) mit Persönlichkeit aus, er wird so zugleich zum schöpferischen Ursprung der Weltanschauungsdichtung. Die zentrale Rolle, die der ›Blick‹ über die Welt, der panoramatische Blick und die hieraus abgeleitete Metaphorik der »Höhenkunst«1175 für die Programmschriften haben, ist nicht nur hier auffallend: Ernst Wachler etwa fordert zunächst den dichterischen Panoramablick ein: »Wir aber fordern eine landschaftliche Poesie von größerer Höhe des Standortes«1176, eine Kunst, die »in der Heimat wurzelt, aber das Weltgetriebe überblickt«1177. Wachler deutet den panoramatischen Blick sodann als einen weltanschaulichen, von dessen Standpunkt aus eine leitende Idee (Weltanschauung) zum Grundprinzip der Dichtung wird: Er fordert eine Kunst, die nur das ›menschlich Allgemeine‹ darstellen solle, der »allein die Idee wichtig [ist], der Stoff nur Mittel«1178. Ebenso Lienhard, der klagt: »Ihr überschaut nicht mehr weitsichtig und weitherzig diese buntfarbenen Landschaften und Berufe unseres großen Volkes«1179 ; die »Freiheit […] des Weltblicks«1180 stelle zugleich das ›Geheimnis echter Poesie‹ dar, erläutert er weiter, um sogleich den Weitblick als Weltanschauungsblick zu deuten, der seinerseits zur Grundlage der Dichtung wird: »Erst aus ihrer [Homers, Dantes, Äschylos’ u. a.] Weltanschauung floß ihre Kunstanschauung.«1181 An anderer Stelle schreibt er : »Auf den Blick kommt alles an«1182. Panoramatische Anschauung von Welt – die wie dargelegt zur Jahrhundertwende bereits auf eine hundertjährige Geschichte zurückblicken kann – wird allerdings erst dann auch zur Weltanschauung, wenn die Diskursfigur des panoramatischen Überblicks durch den weltanschaulichen Standpunkt ergänzt wird. Die ›Verwurzelung‹1183 im Boden als Metapher für einen gefestigten 1175 Vgl. etwa Bartels: Heimatkunst, S. 20; Wachler : Die Läuterung deutscher Dichtung im Volksgeiste, S. 328. – Nicht vor dem Hintergrund des Weltanschauungsdenkens der Jahrhundertwende, sondern aus literatursoziologischer Perspektive hat Karlheinz Rossbacher die Metaphorik der »Höhenkunst« bewertet; vgl. Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 114/115: »Wie im Falle der ›Höhenkunst‹ idealtypische Vorstellungen sich mit Materialisierungen mischen – ›Höhenkunst‹ als Haltung der Enthobenheit, die sich am besten in topographischer Höhe (oben) oder Weite (draußen – Meer) einstellt –, so vermischen sich auch hier elitäre ethisch-ästhetische Vorstellungen (›Adel des Geistes‹) mit ständischen Entsprechungen bzw. Lieferanten solcher Vorstellungen.« 1176 Wachler : Die Läuterung deutscher Dichtung im Volksgeiste, S. 327. 1177 Ebd., S. 327. 1178 Ebd., S. 327. 1179 Lienhard: Litteratur-Jugend von heute, S. 241. 1180 Lienhard: Große Dichtung, S. 24. 1181 Ebd., S. 24. 1182 Ebd., S. 23, meine Hervorhebung. 1183 Das Beharren der Programmschriften darauf, dass die Dichtung aus »heimischem Boden natürlich, gesund und kraftvoll entwachsen« (Bartels: Heimatkunst, S. 5.) und ein »inti-

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Standpunkt und die panoramatische Überschau über das Welt-Ganze ergänzen einander auch hier zur Weltanschauung und damit zum weltanschaulich-panoramatischen Standpunkt des Dichters, der seinerseits Voraussetzung dafür ist, dass seine Werke literarisch gewordene Weltanschauung werden können. Heimatboden und Höhenmetaphorik, Welt und All als Komplemente: Die heimatkünstlerische Figur von Scholle und Firmament, die nicht nur für die Programmatik, sondern gerade auch für die Romane zentral ist, ist aus literatursoziologischer Perspektive als verschlüsseltes Gesellschaftsbild der Heimatkunst gedeutet worden.1184 Tatsächlich scheint sich in der Figur von Scholle und Firmament vor allem der weltanschauliche Zugriff auf Welt zu verdichten. Vor diesem Hintergrund sei noch einmal an die Diskursfigur des Wanderers erinnert, der ebenfalls eine weltanschauliche Bedeutungsschicht aufweist: In den Programmschriften wird die Figur des Wanderers in Bezug auf den Künstler aufgegriffen. Friedrich Lienhard macht in seinen »Wasgaufahrten«, die einen Zwischenstatus zwischen Erzähltext und programmatischer Reflexion einnehmen, Wanderungen und Gipfelerlebnisse gar zum Ausgangspunkt seiner Reflexion über Weltanschauungskunst: »Mein Beruf ist jetzt, eine Wanderung durch diesen schlichten Wasgau in Worte zu bringen.«1185 Und auch Wachler greift die Figur des Wanderers und der Wanderung in »Die Läuterung deutscher Dichtkunst im Volksgeiste. Eine Streitschrift« auf: »[…] vielmehr muß er [der Künstler], wandernd oder seßhaft, mit Gefühl und Denkart in die Volksgemeinschaft eintauchen und aus ihr heraus gestalten.«1186 Der eben auch ›erwanderte‹ panoramatische Blick auf die Welt, der zur Ausbildung von Weltanschauung beiträgt, ist zunächst Bedingung der Möglichkeit von Weltanschauungsdichtung. Aus der weltanschaulichen Fundierung des Autors selbst und seines panoramatischen Überblicks über das Weltganze wird schließlich das Konzept des weltanschaulich-panoramatischen Erzählens abgeleitet. Lienhard will die Horizontlinien im übertragenen Sinn des ›geistigen Horizonts‹ des Dichters verstanden wissen: Wenn ich »weitere Horizonte« verlange, so ist das nicht wörtlich und stofflich zu fassen. Das Wesentliche ist, daß der Dichter in sich selbst weite Horizonte trage, daß er auch bei Idyllen und Lenzstimmungen al Fresko denkt und fühlt. Daß er nicht untergeht im meres Verhältnis zum Heimatboden« haben müsse (ebd., S. 11) sowie die Forderung nach dem »Wurzeln im Heimatboden« (ebd., S. 14; vgl. ebenso Wachler : Die Läuterung deutscher Dichtung im Volksgeiste, S. 327) müssen insofern als Metapher für den weltanschaulichen Standpunkt – und zwar sowohl der Dichtung als auch des Dichters – gelesen werden. 1184 Vgl. Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 106–108. 1185 Lienhard, Fritz [Friedrich]: Taubenschlagfelsen. In: Wasgaufahrten. Ein Zeitbuch. Berlin 1895, S.13–24, hier S. 23, Hervorhebung im Original. 1186 Wachler : Die Läuterung deutscher Dichtkunst im Volksgeiste, S. 328.

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engbrüstigen Stubengeist, der unser modernes Vier-Wände-Drama mit seiner geistreichen oder geistreichelnden Unterhaltung, seiner seelischen Selbstzergliederung, seinen pikanten Stöffchen so unerquicklich, so volksverderblich, so durch und durch erschlaffend macht.1187

›Panoramatisches Erzählen‹ ist insofern im weiteren, metaphorischen Sinn eines überblickhaften Erzählens vom Ganzen zu verstehen, nicht im engeren Sinn eines Erzählens, bei dem das Panorama zum Modell der Wahrnehmung des Raumes und seiner ästhetischen Inszenierung wird.1188 Nun ist die Konsequenz aus der Rückführung der Dichtung auf das schöpferische Subjekt als Ursprung der Weltanschauungsdichtung auf programmatischer Ebene im Grunde mit der Verweigerung einer erzähltheoretischen Konzeption von Weltanschauungsdichtung verbunden: »Die Technik selbst, die hierbei ganz aus dem Spiele blieb, ist zwar durchaus nicht Nebensache; aber die Persönlichkeit, nicht undankbar gegen die Vorarbeit von Gruppen, schafft sich ihre Technik schon zurecht.«1189 Aussagen über ein eigenes Erzählkonzept lassen sich daher wesentlich aus der Ablehnungshaltung gegenüber alterierenden Erzählkonzepten ableiten. Abgelehnt wird in der Heimatkunst insbesondere die ›moderne Großstadtdichtung‹ des Naturalismus. Erzähltheoretische Konzepte, wie sie im Naturalismus entwickelt worden sind – die naturalistischen »exakten Studien«1190 – werden zurückgewiesen; gegen das Konzept der wissenschaftlich-objektiven Beobachtung und der ›exakten‹ Beschreibung insbesondere im Experimentalroman wird das Subjekt, die ›Persönlichkeit‹ des Dichters, als Ursprung des Weltanschauungsromans stark gemacht. Das geht mit einem Wechsel der Beobachtungsperspektive des Erzählens einher. Zu den wenigen erzähltheoretisch zu deutenden Aussagen der Programmatik der Weltanschauungsdichtung gehört Friedrich Lienhards folgende Aussage: Alle Welt rühmte die Entdeckung naturalistischer Kleinmalerei; und alle Welt vergaß über dem mikroskopischen Beobachten das teleskopische Schauen, den Heroismus, den

1187 Lienhard, Fritz [Friedrich]: Hohkönigsburg. In: Wasgaufahrten. Ein Zeitbuch. Berlin 1895, S. 135–166, hier S. 156. 1188 Vgl. hierzu Neubauer-Petzoldt, Ruth: Panoramatisches Erzählen in der Moderne. In: Mehigan, Timothy J. (Hrsg.): Raumlektüren. Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne. Bielefeld 2013, S. 297–315. 1189 Lienhard: Heimatkunst, S. 199. 1190 Lienhard: Persönlichkeit und Volkstum – Grundlagen der Dichtung, S. 2. Lienhard fasst dies in einer späteren Auflage auch unter den Schlagworten der »exakt[en] Analyse« und der »Zergliederung«; vgl. Lienhard, Friedrich: Persönlichkeit und Volkstum als Grundlage der Dichtung. In: ders.: Neue Ideale, Stuttgart 1920 (5. Aufl.), S. 49–59, hier S. 50.

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Schwung. »Modern« wurde das Schlagwort jedes unreifen Mitläufers: – geschichtlich aber zu denken und zu empfinden, schien »überwundener Standpunkt«.1191

Dem negativ besetzen naturalistischen Erzählen des ›mikroskopischen Beobachtens‹ wird das ›teleskopische Schauen‹ positiv entgegengestellt. Erzählen als ›teleskopisches Schauen‹ kann als Übersetzung des panoramatischen Überblicks des Dichters vom weltanschaulichen Standpunkt in das Konzept eines weltanschaulich-panoramatischen Erzählens begriffen werden. Anhand der literarischen Texte lassen sich dann die spezifischen Merkmale weltanschaulich-panoramatischen Erzählens genauer bestimmen. Grundvoraussetzung des panoramatischen ›Blicks auf das Ganze‹ ist der auktoriale Erzähler, der souverän über Figuren, Ort und Ablauf der Handlung verfügt; es handelt sich um singulatives Erzählen im narrativen Modus, in der Regel chronologisch da inhaltlich am Lebensweg des Protagonisten orientiert, gelegentlich ergänzt durch einordnende Vorausdeutungen oder Rückblenden. Insofern die Handlung an der Biographie des Protagonisten orientiert ist, wird eine Zeitspanne von mehreren Jahrzehnten zeitraffend abgedeckt – Formulierungen wie »Jahre kamen und gingen«1192 sind für die Heimatkunst typisch. Die auktoriale Erzählsituation ist allerdings nur dann auch eine ›panoramatische‹, wenn sie eine überblickshafte ist: Genau wie der panoramatische Blick nicht beliebig ist, sondern sich aus privilegiertem Beobachterstandort einerseits und dem Blick auf das Ganze andererseits zusammensetzt1193, geht auch panoramatisches Erzählen aufs Ganze. In Bezug auf die literarischen Texte heißt das: Erstens bilden die Figuren, insofern sie stellvertretend für gesellschaftliche Sphären stehen, gesellschaftliche Totalität ab.1194 Exemplarisch lässt sich dies an Polenz’ »Büttnerbauer«1195 1191 Lienhard: Persönlichkeit und Volkstum – Grundlagen der Dichtung, S. 4, Hervorhebungen im Original. 1192 Etwa Frenssen: Jörn Uhl, S. 523, S. 535. 1193 Vgl. Oettermann: Das Panorama, hier S. 19. Oettermann weist darauf hin, dass die Wahl des Standpunktes im Massenmedium Panorama keinesfalls zufällig war; die ersten Panoramen in England, Frankreich und Deutschland arbeiten mit bewusst gewählten und durchaus symbolischen Standpunkten; das »Schweifen dieses Blicks ist nur scheinbar ziellos: er geht aufs Ganze.« (Ebd., S. 19). 1194 Insofern handelt es sich um Zeitromane; vgl. zur Figurendarstellung im Zeitroman Hasubek: Der Zeitroman, S. 223–228. 1195 Vgl. zur Heimatkunst im Allgemeinen Anm. 259. Zum Roman »Der Büttnerbauer« im Speziellen vgl. Ronald Horwege, der sich mit dem Untergang des Büttnerhofes sowie der völkischen Idee im Roman auseinandersetzt (ders.: The German Farmer Confronts the Modern World: An Analysis of Wilhelm von Polenz’s »Der Büttnerbauer«. In: Bjorklund, Beth/Cory, Mark E. [Hrsg.]: Politics in German Literature. Columbia, SC 1998, S. 83–102); vgl. daneben die beiden in der DDR erschienenen Beiträge von Stepan H. Kaszynski und Günter Hartung; Kaszynski arbeitet verschiedene Lesarten des Romans heraus, so u. a. Lenins Lesart des Romans (vgl. ders.: Wilhelm von Polenz’ »Der Büttnerbauer« – Lesarten.

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zeigen, in dem der Großbauer Büttner stellvertretend für den Bauernstand steht1196 ; ebenso steht die adelige Herrschaft des Ritterguts für einen ganzen Stand. Für die Abbildung der Gesamtheit der Dorfgesellschaft ist weiterhin der Gasthof von Bedeutung, dessen Inhaber und Wirt Ernst Kaschel im Falle des »Büttnerbauern« zugleich dessen Schwager ist, der auch für den Fortgang der Handlung von Bedeutung ist. Ergänzt wird die dörfliche Sphäre schließlich über für die Handlung weniger wichtige, für die dörfliche Totalität aber dennoch relevante Personen wie den Pastor oder die Angestellten des Ritterguts. Kontrastiert wird die dörfliche Sphäre mit der städtischen, die ebenfalls über einzelne Personen, die stellvertretend für ganze Gesellschaftsschichten stehen, abgebildet wird: Der Händler Samuel Harrassowitz steht für die städtische Geldwirtschaft, den modernen Kapitalismus als neue ökonomische und gesellschaftliche Kraft; ebenfalls der städtischen Sphäre zugeordnet werden Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie, personifiziert in Gustav Büttners Freund Karl Häschke. Gustav Büttner schließlich, Sohn des Traugott Büttner, steht zunächst für das Militär, später für Saison- bzw. Wanderarbeit. Die Figuren verbleiben entsprechend typenhaft, nicht die individuelle Lebensgeschichte, sondern die Lebensgeschichte eines ganzen Standes wird erzählt. Der Verlauf der Erzählung, die in der Regel mehrere Jahrzehnte umfasst, ist dann an den einzelnen Lebensstationen des Protagonisten orientiert, die ihrerseits jeweils stellvertretend für die Wegmarken des Untergangs der entsprechenden gesellschaftlichen Schicht im Zuge der Modernisierung stehen. Ähnlich funktioniert Keyserlings »Die dritte Stiege«, obgleich der Roman nicht auf dem Land, sondern in der Stadt selbst situiert ist. Keyserlings »Die dritte Stiege« liefert in ihrer Abgeschlossenheit ein Abbild gesamtgesellschaftlicher Realität: Im Erdgeschoss des Hauses lebt das Hausmeisterehepaar mit seiner Tochter ; im ersten Stock die verwitwete Hausbesitzerin Würbel mit ihrer unverheirateten Stieftochter Clementine; im zweiten Stock Advokat Zweigeld mit Frau und Tochter Gisela; im dritten Stock leben der Protagonist Lothar bei seiner Wirtin Frau Fliege, der Tagelöhner Hempel mit Familie sowie die Klavierlehrerin Amalie Remder ; im vierten Stock schließlich ist nicht nur die Redaktion der »Zukunft« untergebracht, hier lebt auch der Telegraphenbeamte Gerstengresser mit seiner Frau, den beiden Töchtern und Sohn Leopold. Sämtliche Figuren stehen stellvertretend für ganze Gesellschaftsschichten, vom In: Hartung, Günter/Orlowski, Hubert [Hrsg.]: Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus. Band 3, Halle [Saale] 1987, S. 71–82); Hartung, Günter : Literatur und Ästhetik des deutschen Faschismus. Drei Studien. Köln 1983 (zuerst: AkademieVerlag, Berlin 1983), hier insb. S. 29–31. 1196 Vgl. Polenz: Der Büttnerbauer, S. 275–279, wo das Schicksal Traugott Büttners in die historische Entwicklung seines ganzen Standes eingeordnet wird, für den er stellvertretend steht.

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Kapitalisten über den Akademiker, den Angestellten (Leopold Gerstengresser), bis zum Tagelöhner (Hempel) – die grundsätzlich in besitzende und arbeitende aufgeteilt sind. Auch diese Figuren interessieren insofern nicht individuell, sondern als Vertreter ihres Standes. Der Text selbst macht dies – über die Figurenrede des Anwalts Benze – explizit: »›Sehen Sie sich, meine Herren Geschworenen, die Stiege an, auf der Gerstengresser wohnt; ist sie nicht wie ein kleiner Auszug – der größeren Welt – die uns umgiebt. […]‹«1197 Das Bild der ›dritten Stiege‹ ist eine Verdichtung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse: Gerade in der räumlichen Begrenztheit der Stiege wird gesellschaftliche Totalität abgebildet, Gesellschaft als solche dargestellt. Zweitens zielt auch die Raumgestaltung auf ein Erzählen vom Ganzen insofern auch die Schauplätze Totalität in mehrfacher Hinsicht abbilden.1198 Die charakteristische Abgeschlossenheit, Abgeschiedenheit und panoramatische Überschaubarkeit wird zunächst über exemplarische Schauplätze generiert. Diese bilden ihrerseits jeweils für sich Ganzheitlichkeit ab; einer der Hauptschauplätze in Polenz’ »Büttnerbauer« etwa ist der Büttnerhof, der seinerseits »am obersten Ende des Dorfes«1199 gelegen und dadurch gekennzeichnet ist, dass man Hof und Felder vom »oberen Hofthore […] in ihrer ganzen Ausdehnung überblicken«1200 [sic!] kann. Eingelassen ist der Hof in die dörfliche Sphäre, die durch ein Rittergut einerseits und das Dorf in Gestalt von Kirche, Gasthof und dem Haus der (zukünftigen) Frau des Büttnerschen Sohnes andererseits repräsentiert wird.1201 Die Überschaubarkeit der dörflichen Sphäre steht der modernen Großstadt und ihrer Unüberschaubarkeit diametral gegenüber. Schließlich hat der ›Blick aufs Ganze‹ drittens insofern einen zeitlichen Index, als nicht nur die aktuelle gesellschaftliche Realität abgebildet und reflektiert wird, sondern im souveränen Verfügen über ganze Familiengeschichten auch der Überblick über große Linien historischer Entwicklungen gegeben und die aktuelle Situation hergeleitet wird.1202 Im Falle des »Büttnerbauern« etwa wird 1197 Keyserling: Die dritte Stiege, S. 277/278. 1198 Vgl. zur Darstellungsperspektive des Dorfes schon Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 143: »Bevorzugt wird entweder die Darstellung des Dorfes vom einzelnen her, wobei dann das Dorf kaum präsent ist, oder aus der Totalen, von oben und als Ganzes. Differenzierende Präsentationen sind selten.« 1199 Polenz: Der Büttnerbauer, S. 6. 1200 Ebd., S. 70. 1201 Die wenigen aber exemplarischen Schauplätze werden ihrerseits als abgeschlossene Schauplätze beschrieben (vgl. die ausführliche Beschreibung etwa des Büttnerhofes, ebd., S. 21ff., auch der Kirche am Anfang, später des Rittergutes). 1202 Vgl. zum Zeitgerüst des Heimatkunstromans schon Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 149 und S. 150: »[D]ie Möglichkeit, Lebensstrecken in einem einzigen Satz zu referieren, gehört zu den Normalmerkmalen des Heimatromans. […] Man darf im Heimatroman im Durchschnitt mit langen bis sehr langen Spannen von erzählter Zeit rechnen.« (Ebd., S. 149) – »Auffallendes Merkmal ist dabei die Beschwörung eines

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die Geschichte des Geschlechtes der Büttner bis zu Zeiten des Großvaters Traugott Büttner und der Bauernbefreiung zurückverfolgt1203, so dass die Entwicklung des Kleinbauerntums vom Ende des Feudalismus bis in die Industrialisierung hinein dargestellt werden kann. Ebenso funktioniert der Erzähler in Keyserlings »Die dritte Stiege«, der souverän über die Familiengeschichte seines Protagonisten verfügt: Die Brückmann’s gehörten zu den ältesten Familien des ostpreußischen Landadels. Meist gute Jäger, gute Reiter, schöne breitschultrige Gestalten mit starkem blonden Bartwuchs, pflegten sie nicht viel zu lernen. Sie heiratheten früh, traten ein Landgut an, oder gingen in’s Militär.1204

Totalität der Gesellschaftsrepräsentation, Abgeschlossenheit und Totalität der Schauplätze und Totalität der Zeitdarstellung sind die drei Grundpfeiler, auf denen die Generierung einer poetischen Totalität ruht, die zugleich vom Erzähler überblickt wird. Damit steht der Weltanschauungsroman in der Tradition des realistischen Erzählens des 19. Jahrhunderts mit seiner Abschließung der Horizonte1205 und seinem Bemühen, Anschauung von Totalität zu produzieren. Damit im weltanschaulich-kulturkritischen Roman allerdings das panoramatische Erzählen, das sich vor dem Hintergrund der Herausbildung der panoramatischen Sehkonvention bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildet, auch zum panoramatisch-weltanschaulichen Erzählen wird, muss der Erzähler – und hier unterscheiden sich Realismus und Weltanschauungsdichtung – zugleich von einem weltanschaulichen Standpunkt aus erzählen. In Frenssens »Jörn Uhl« etwa wird der weltanschauliche Erzähler zu Beginn des Romans initialisiert: Wir wollen in diesem Buche von Mühe und Arbeit reden. […] Aber obgleich wir die Absicht haben, in diesem Buche von so traurigen und öden Dingen – wie viele sagen – zu erzählen, gehen wir doch fröhlich, wenn auch mit zusammengebissener Lippe und ernstem Gesicht, an die Schreibung dieses Buches; denn wir hoffen, an allen Ecken und ›Ur‹-Anfangs, von dem her der Geschehnisraum aufgerollt wird. Er kann mit dem Beginn des Romans zusammenfallen, aber auch in seinem Verlauf nachgeholt werden.« (Ebd., S. 150) – »An der Oberfläche ist es der sprichwörtliche Sprung in die gute alte Zeit; realchronologisch entspricht dieser Sprung bei allen Heimatschriftstellern jener Generation einem Sprung hinter einen Zeitpunkt, an dem die wichtigste Ursache für ihr heimatkünstlerisches Engagement sich zu entwickeln beginnt: die ökonomische und soziale Gefährdung ihrer Herkunftsschicht. Jugend und Kindheit bedeuten für sie die Zeit vor dem ersten ›großen Spurt‹ 1857ff., mindestens aber die Zeit vor den Gründerjahren, die das wirtschaftende Kleinbürgertum folgenreich gesiebt haben. Dies sind die Schwellen, die in der Erinnerung rückwärts übersprungen werden, wobei man ›Schwelle‹ noch einmal bildlich übertragen kann: als Schwelle, über die das ›ganze Haus‹ verlassen werden muss.« (Ebd., S. 154). 1203 Vgl. Polenz: Der Büttnerbauer, S. 272–279. 1204 Keyserling: Die dritte Stiege, S. 8. 1205 Vgl. Koschorke: Die Geschichte des Horizonts, S. 218ff.

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Enden zu zeigen, daß die Mühe, die unsere Leute sich machen, der Mühe wert gewesen ist.1206

Die bereits angeführte Markierung des Erzählprogramms durch den weltanschaulichen Erzähler in Frenssen »Hilligenlei«1207 funktioniert analog. Die weltanschauliche Perspektivierung des Erzählten – die notwendig den überblickenden, auktorialen Erzähler voraussetzt1208 – kommt dann vor allem an einzelnen, inhaltlichen Gelenkstellen der Romane zum Tragen – in »Jörn Uhl« ergänzt der bereits angeführte Erzählerkommentar zum Abschluss der ›Persönlichkeits‹-Bildung Jörn Uhls kurz vor Ende des Romans die Initialisierung des weltanschaulichen Erzählers zu Beginn.1209 Der weltanschauliche Erzähler tritt noch einmal hervor, es entsteht eine weltanschauliche Klammer um das Erzählte selbst, um die Entwicklung des Protagonisten zum ›ganzen Menschen‹, 1206 Frenssen: Jörn Uhl, S. 1; der vollständige weltanschauliche ›Vorspann‹ umfasst mehr als eine Seite: »Wir wollen in diesem Buche von Mühe und Arbeit reden. Nicht von der Mühe, die der Bierbauer Jan Tortsen sich machte, der versprochen hatte, seinen Gästen einen besonders guten Eiderfisch vorzusetzten, und sein Wort nicht halten konnte und darüber tiefsinnig wurde und nach Schleswig mußte. Wir wollen auch nicht von der Mühe reden, welche jener reiche Bauernjunge sich machte, dem es trotz seiner Dummheit gelang, seines Vaters Geld in vier Wochen durchzubringen, indem er tagelag die Thalerstücke über den Fischteich schunkte. Sondern wir wollen von der Mühe reden, auf welche Mutter Weißhaar zielte, wenn sie auf ihre acht Kinder zu sprechen kam, von denen drei auf dem Kirchhof lagen, einer in der tiefen Nordsee, und die übrigen vier in Amerika wohnten, von welchen zwei seit Jahren nicht an sie geschrieben hatten. Und von jener Arbeit, über welche Geert Doose klagte, als er am dritten Tage nach der Schlacht bei Gravelotte noch nicht sterben konnte, obgleich er die furchtbare Wunde im Rücken hatte. Aber obgleich wir die Absicht haben, in diesem Buche von so traurigen und öden Dingen – wie viele sagen – zu erzählen, gehen wir doch fröhlich, wenn auch mit zusammengebissener Lippe und ernstem Gesicht, an die Schreibung dieses Buches; denn wir hoffen, an allen Ecken und Enden zu zeigen, daß die Mühe, die unsere Leute sich machen, der Mühe wert gewesen ist.« Bereits der Vorspann erzählt einerseits von Vereinzelung in der modernen, zunehmend globalisierten Welt (›Mutter Weißhaar‹ wird nicht von ihren Kindern versorgt, wie es die vormoderne Gemeinschaft vorsieht), zugleich wird aber über die Gemeinschaft von Autor und Leser, das kollektive ›wir‹, in dem der Vorspann gehalten ist, eine Gemeinschaftlichkeit erzeugt. 1207 Vgl. Frenssen: Hilligenlei, S. 1/2. 1208 Schon Rossbacher hat – ohne dabei den Zusammenhang zum weltanschaulichen Erzählen zu sehen – auf den Zusammenhang zwischen auktorialem Erzähler und generierter Lebenstotalität im Heimatkunstroman hingewiesen: »Auf den Heimatroman angewendet bedeutet dies: Der bevorzugte Erzählstandpunkt des allwissenden Erzählers suggeriert allein noch nicht die totale Überschaubarkeit des ländlich-dörflichen Lebens. Aber die geschlossene Szenerie des Sozialmodells Dorf/Kleinstadt, die Tendenz zur Gestaltung generationenlanger Zeiträume, die Abwehr des von außen Kommenden, die Hereinnahme der offen anschaubaren und auch in der Katastrophik naturgesetzhaft agierenden Landschaft sowie die Tendenz, den Menschen als Bodengesetz zu sehen, tragen dazu bei, daß die allwissende Erzählhaltung schließlich eine Lebenstotalität hervorbringt, die zeitweise sogar vergessen lassen, daß sie um den Preis der Verkürzung entsteht.« (Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 216). 1209 Vgl. Frenssen: Jörn Uhl, S. 489.

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um seine weltanschauliche Entwicklung herum. Die weltanschauliche Erzählperspektive äußert sich ferner in umfassenden Exkursen1210, die für die Handlung nur einordnende, keine handlungsantreibende Bedeutung haben. Exemplarisch kann der vierseitige Exkurs zur Geschichte des Bauernstandes in Polenz’ »Büttnerbauer« angeführt werden, der aufgrund der Länge hier nur ausschnitthaft zitiert werden kann: Sein Eigentum! In diesen Stunden entschied es sich, wer künftig Herr dieser Wiesen und Felder, dieses Hauses und Hofes, sein würde. Drüben in der Stadt, vor Gericht, unter Leuten, die seinen Acker nicht kannten, von Fremden, kalten, gleichgültigen Juristen, wurde der Würfel über sein Eigentum geworfen. […] Wenn der Vater das gahnt hätte! Er, der recht eigentlich den Besitz zu dem gemacht hatte, was er war, zu einem selbständigen, freien Bauerngute. Wenn Leberecht Büttner hätte ahnen können, was jetzt, dreißig Jahre nach seinem Tode, aus seinem Werke werden sollte! Dieser Mann, der den Familienbesitz in schwerer Zeit angetreten, der die Nachwehen der Kriegszeiten und der jüngst überwundenen Hörigkeit durchzukosten hatte, der Zeit seines Lebens mit einem mächtigen und beutelustigen Nachbar zu ringen gehabt, und der, all diesen Gefahren und Nöten zum Trotze, sich selbst zu einem wohlhabenden, unabhängigen Wirte emporgearbeitet und sein Gut zum bestgepflegtesten der ganzen Gegend gemacht hatte; wenn der Mann hätte voraussehen können, was aus der Erbschaft, die er den Seinen hinterließ, sich für Unsegen entwickeln würde! – Traf den Büttnerbauern die Schuld, daß alles so gekommen, wie es gekommen war? Traugott Büttner hatte sicher viele Versehen begangen, mancherlei verdorben durch Eigensinn und beschränkten Trotz. Viel Schaden hätte abgewendet werden können, wenn ihm Beweglichkeit des Geistes, höhere Bildung und besseres Verstehen der Zeit und ihrer Bedürfnisse eigen gewesen wäre. Aber, größere Fehler, als die seinem Stande eigentümlichen, durften ihm mit Recht nicht vorgeworfen werden. […] Oder, lag die Schuld nicht tiefer und ferner? Reichte sie nicht zurück, über die sechzig Jahre dieses Lebens, in die Zeiten der Väter und Vorväter? […] Oder, lag das Versehen nicht außerhalb der Familiengeschichte überhaupt! Waren es nicht vielmehr die Verhältnisse, die Entwicklung, der Gang der Weltereignisse, die auch auf dieses winzige Zweiglein am großen Baum des Volkes gewirkt hatten? Stand nicht auch dieser kleine Ausschnitt aus dem Menschheitsganzen unter den Gesetzen des Prozesses von Werden und Vergehen, dem das Völkerleben wie die Geschichte der Familien und des einzelnen unterworfen sind! – […] Und lag der letzte und tiefste Grund der Unbilden, die dem Bauern durch alle Stände widerfahren, mochten sie sich Fürsten, Ritterschaft, Geistlichkeit, KaufmannsRichter- und Gelehrtenstand nennen, nicht noch viel weiter zurück in der Entwicke1210 Bereits Horst Thom8 hat darauf hingewiesen, dass etwa Paul Ernsts »Der schmale Weg zum Glück« und Wilhelm Bölsches »Die Mittagsgöttin« konventionellen Romanschemata des 19. Jahrhunderts folgen (Bildungsroman/sozialer Roman), sich von diesen jedoch durch die »umfangreichen und erzählerisch schwach integrierten expositorisch-essayistischen Einlagen, etwa durch die Erörterungen der Möglichkeit der spiritistischen Theorie« (Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 365) unterschieden.

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lung? War da nicht in unser Volksleben ein Feind eingedrungen, der für Kolben und Flegel unerreichbar war, der mit noch so derben Fäusten nicht aus dem Vaterlande getrieben werden konnte, weil er körperlos war, ein Prinzip, eine Lehre, ein System, aus der Fremde eingeschleppt, einer Seuche gleich: der Romanismus! […] Am schwersten aber sollte unter dem fremden Produkt der leiden, welcher von allen am wenigsten davon wußte und verstand: der Bauer. […] Dem freien deutschen Bauernstande aber grub das fremde Recht die Lebenswurzeln ab. […] Der Büttnerbauer wußte von der Geschichte und Entwicklung seines Standes nichts.1211

Der Exkurs nimmt seinen Ausgangspunkt bei den Gedanken des Büttnerbauern, leitet dann aber in eine allgemeine Betrachtung des weltanschaulichen Erzählers über die Entwicklung des Büttnerhofes im Speziellen, die Anlass für eine Abhandlung über die Geschichte des Bauernstandes im Allgemeinen gibt, über. Erst kurz vor Ende des Exkurses wird explizit markiert, dass es sich hier nicht mehr um Betrachtungen des Protagonisten, sondern um Betrachtungen des weltanschaulichen Erzählers handelt – der Übergang ist fließend, fast unmerklich. Eine spezifische Form dieser Exkurse ist die Weltanschauungsschrift, die im Weltanschauungsroman eingefügt ist – die »Handschrift« in Frenssens »Hilligenlei« ist ebenso ein Beispiel wie die Druckschrift Paul Bloquardsens in Poperts »Helmut Harringa«, und auch die Erzählung des Grafen von seinem eigenen weltanschaulichen Bildungsprozess in Bölsches »Mittagsgöttin« kann als Form eines in den Weltanschauungsroman eingelassenen Weltanschauungsromans gelesen werden. Dichtung müsse dann, so Lienhard in den »Neuen Idealen«, »immer in gewissem Maße ein ganzes Weltbild geben«1212. Sie ist also literarisch gewordene Weltanschauung, ist Weltanschauungsdichtung. Das hat erstens Konsequenzen für die Gestaltung des Erzählens selbst: Die angemessene Erzählweise einer Weltanschauung – dies im Übrigen im doppelten Sinn sowohl bezogen auf die Weltanschauung des Textes als auch intradiegetisch auf den weltanschaulichen Klärungsprozess der Figuren als ein erschaffen eines »neue[n] Bild[es] der Welt«1213 – ist bildhaftes Erzählen.1214 Gustav Frenssen leitet den Prolog zu 1211 1212 1213 1214

Polenz: Der Büttnerbauer, S. 272–279. Lienhard: Große Dichtung, S. 25. Ernst: Der schmale Weg zum Glück, S. 281. Lothar Schneider hat am Rande auf die Bildmetaphorik schon in Wilhelm Bölsches »Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena zu einer realistischen Ästhetik« (1886) hingewiesen; vgl. Schneider: Die Alte und die neue Fremde, S. 144/145. Zugleich hat Schneider auf die erzählerischen Probleme der »Mittagsgöttin« hingewiesen: »[E]in involvierter Romancier [muss] entweder auf Totalitätsansprüche der Darstellung verzichten […] – was der ›Naturalist‹ nicht kann –, oder [er verliert] buchstäblich den ›Überblick‹ […] und seine Darstellung [muss] unter jenen perspektivischen Verzerrungen des Blicks leiden […], die Bölsche an den Berliner Romanen seiner Zeit bemängelt, die er jedoch wie in vorausweisender Selbstcharakteristik beschreibt […].« (Ebd., S. 149).

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»Hilligenlei« mit den Worten »Seht hier die Bilder, die ich gemalt […]«1215 ein. Bildhaftes erzählen äußert sich dann insbesondere in der Wiedergabe von ›Zeitbildern‹ im Sinn des Zeitromanschemas. Zugleich leitet sich die bildhafte Erzählweise weltanschaulicher Romane auch aus der Weltanschauungsliteratur (hier verwendet im Sinne Horst Thom8s) ab: Schon Alexander von Humboldt setzt sowohl in den »Ansichten der Natur« als auch in seinem »Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung«, der das Ganze der Natur in einem ›Naturgemälde‹ darzustellen versucht, auf das Bildhafte der Naturanschauung. Darüber hinaus thematisieren die Romane zweitens selbst die Praxis des bildhaften Erzählens: Weltanschauung bzw. genauer der weltanschauliche Klärungsprozess sei, so heißt es in Bölsches »Mittagsgöttin«, »›[…] ein Gebiet […] wo man schauen muß […]‹«1216. Der Text legt die Worte der Figur des SpreewaldGrafen während seines Berichts über seine eigene weltanschauliche Entwicklung zum Spiritisten in den Mund. Auf der rein inhaltlichen Ebene ist dies zunächst ein Kommentar zum Erzählverfahren des Grafen. Zugleich charakterisiert der Erzähler der »Mittagsgöttin« auf der Metaebene die textimmanente Erzählstrategie des Grafen als ein Erzählen von Bildern: »Die greifbaren Bilder schienen vor ihm zu stehen, von denen seine Erzählung nur den schweren Gedankeninhalt wiedergab.«1217 Jedes dieser Bilder steht stellvertretend für eine Station seiner »Seelenkämpfe«1218, seines weltanschaulichen Bildungsprozesses

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Schließlich hat Schneider auch auf die im Grunde zirkuläre Anlage des Textes hingewiesen: »Der Gang der Handlung führt von Berlin nach Berlin; vom mühseligen Erwerbsleben zum Erwerbsleben; von der kalten, nur durch die enge Vertraulichkeit kleinbürgerlichen Interieurs gemilderten Anonymität der Großstadt in die Anonymität der großstädtischen Kleinfamilie, führt von der Verlobung zur Hochzeit.« (Ebd., S. 152) Vgl. daneben insb. auch Stöckmann, Ingo: Im Allsein der Texte. Zur darwinistisch-monistischen Genese literarischer Moderne um 1900. In: Danneberg, Lutz/Schmidt-Biggemann, Wilhelm/ Thom8, Horst/Vollhardt, Friedrich (Hrsg.): Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften. Band 9. Berlin 2005, S. 263–291, hier S. 282. Frenssen: Hilligenlei, o. S. Der vollständige Wortlaut lautet: »Seht hier die Bilder die ich gemalt, von allerlei Krankheit, die uns jetzo verwirrt: von Sinnengier, Trägheit und Trunksucht, und von Goldgier, von Armut, und Lüge, und von der Seele bitterer Not, die auf staubigem Weg das Ew’ge verloren. Notland hab ich gemalt und wilde mühselige Meerfahrt. Fragst du, warum ich das tat? Aus Freude an Not und am Irren? Aus Erbarmen malte ich dies. Es mache dich fähig, das Gesunde zu sehn, das Natürliche, und wie es jammert unter der Peitsche der Gier und dem Joch der engenden Sitte, und zu stellen dein Leben auf Grund, der heilig und ewig.« Markiert wird erstens der Anspruch, aktuelle Probleme literarisch aufzugreifen – es handelt sich insofern um einen Zeitroman; erkennbar ist zweitens die Wirk- bzw. Erlösungsabsicht, das kulturkritische Geschichtsmodell scheint hier also durch; inhaltlich wird drittens insbesondere die transzendente Obdachlosigkeit in der Moderne, aber auch die soziale Frage adressiert; schließlich greift schon der kurze Prolog auf zentrale Diskursfiguren weltanschaulichen Denkens (Weg, Meer) zurück. Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 71. Ebd., S. 59. Ebd., S. 66.

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– der seinerseits stellvertretend für den »Geisteskampfe der Gegenwart« (so der Untertitel der »Mittagsgöttin«) steht: »Mir war, als donnere die Brandung des ganzen modernen Geisteskampfes aus diesen Bekenntnissen an mein Ohr.«1219 Vor diesem Hintergrund lohnt schließlich ein Blick auf die Funktion, die der Weltanschauungskunst im Allgemeinen und dem weltanschaulichen Erzählen im Speziellen auch intradiegetisch zugeschrieben wird. In Bölsches »Mittagsgöttin« wird Literatur mehrfach die Funktion zugeschrieben, die Erlösung der Menschheit zu forcieren. Das gilt einerseits auf der Ebene des Inhalts: Walter bekam das Wort und las uns ungefähr eine Stunde lang aus einem groß angelegten Epos in vierzeiligen Trochäen vor. […] Grundgedanke war die Bekehrung eines modernen, grob materialistischen Geistes zur Anerkennung einer mystischen Weltanschauung und Rückkehr zum Gottesglauben.1220

Zwar handelt es sich um ein Epos – der Text kann dennoch als Verdichtung des inhaltlichen Programms und damit zugleich als Kommentar zum Texttypus des Weltanschauungsromans überhaupt verstanden werden. Diesem wird dann in allgemeiner Perspektive eine größere agitatorische Reichweite zugeschrieben, als es ›Agitatoren‹ hätten: Der Graf bemerkte schließlich mit einem träumerischen Blick, in dem wohl manche enttäuschte Hoffnung nachschimmerte: »Ich glaube, die Poeten der werdenden Generation werden die eigentlichen Träger der sozialen Befreiungstheorie sein, und sie werden mehr leisten, als alle Agitatoren und Arbeiterapostel zusammen genommen. Ein Ideal wie den Sozialismus können nur die Männer des Ideals ohne Trübung in die Menge tragen.«1221

Was intradiegetisch als Kommentar zur Funktion der Literatur für die sozialistische Weltanschauung geäußert wurde, kann zugleich als selbstreferentieller Kommentar zum Roman verstanden werden: Der Text versteht sich selbst als Beitrag zur Ablehnung der spiritistischen Weltanschauung – damit zur expansiven Ausbreitung seiner wissenschaftlichen Weltanschauung, zur ›geistigen Kolonisation‹ Deutschlands.1222 In Felix Hollaenders Roman kommt Kunst – hier vor allem bildender Kunst und Musik – eine doppelte Funktion zu. So ist das »große, künstlerische Problem, dem er [der Maler Brose] nachging«1223, wie er »das flache, ärmliche Land, 1219 1220 1221 1222

Ebd., S. 60. Ebd., S. 252. Ebd., S. 104. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass es sich bei der »Mittagsgöttin« um einen Roman handelt, der mit Bölsches »Das Liebesleben in der Natur« eine »korrespondierende expositorische Weltanschauungsschrift« hat (Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 366). 1223 Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Erster Band, S. 199.

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da, wo es hart an die letzten Häuser der Großstadt stößt, und wo Himmel und Erde gleichsam sich berühren, malen«1224 könne. Ins Bild gebracht werden soll die Grenze zwischen moderner Großstadt und Land, die nichts weniger als den Übergang zwischen Vormoderne und Moderne figuriert. Kunst – ›echte‹ Kunst – wird ferner vom Protagonisten Thomas Truck als eine der »›[…] wahrhaftigsten und elementarsten Lebensäußerungen des Menschen […]‹«1225 definiert – Kunst soll also erstens Weltanschauungskunst sein. Darüber hinaus kommt der Musik mit Blick auf den weltanschaulichen Klärungsprozess des Protagonisten eine erkenntnisproduzierende Funktion zu: Erst, als er das Konzert Bettinas hört, findet er zu seiner endgültigen Weltanschauung. Insofern also (Weltanschauungs-)Kunst Weltanschauung befördert, wird ihr zweitens nichts weniger als eine erkenntnisleitende Funktion zugeschrieben. In Frenssens »Jörn Uhl« wird bildhaftem Erzählen im Speziellen – die Betonung liegt hier gleichermaßen auf der Bildhaftigkeit und auf dem Erzählen – wenigstens ein wissenschaftlichen Texten vergleichbares Erkenntnispotential zugeschrieben. Anlässlich einer (ebenso ausführlichen1226 wie kuriosen) Ahnenerzählung, die Liesbeth Junker und Jörn Uhl von Heim Heiderieter hören, unterhalten sie sich über Funktion und Erkenntnisleistung von Wissenschaft und menschlicher Erzählung: Sie standen noch und sahen ihm nach, wie er zum Moor hinabstieg; da fuhr Jörn Uhl auf, als käme er jäh aus tiefem Schlaf, und sagte: »Dieser Mensch! Vier Jahre lang war er auf der Universität und kam ohne Examen wieder. Er hatte mit der Wissenschaft Streit bekommen. Natürlich! Frau Wissenschaft ist eine nüchterne, ehrbare Frau. Aber solche brotlosen Künste: die kann er.« »Es ist doch ein fein Ding um solch Erzählen, Jürgen. Du hättest sieben wissenschaftliche Bücher über unsere Vorfahren lesen können und sieben andere über das Wesen der Menschenseele: und hättest vielleicht nicht so viel Erkenntnis und Freude gewonnen, als durch das kleine, bunte Bild, das er uns eben gemalt.«1227

Wird die Frage Wissenschaft versus Erzählung auch nicht abschließend geklärt – Jörn Uhl gesteht zwar zu, dass er trotz der ›Lügen‹ gerne zugehört habe, fordert aber dennoch den ›Beweis‹ ein – dem bildhaften Erzählen wird dennoch eine wenigstens vergleichbare Erkenntnisleistung zur Wissenschaft zugeschrieben. Heim Heiderieter ist zugleich das intradiegetische Alter Ego des extradiegetischen, auktorialen, weltanschaulichen Erzählers:

1224 Ebd., Erster Band, S. 199. 1225 Ebd., Zweiter Band, S. 361. 1226 Die Erzählung nimmt immerhin einen Umfang von 13 Seiten ein – vgl. Frenssen: Jörn Uhl, S. 441–454. 1227 Ebd., S. 455/456.

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»Du hast Schweres durchgemacht, Jörn. Ich möchte wissen, was du selbst darüber denkst.« »Willst du meine Lebensgeschichte schreiben, Heim? Es ist wohl nicht der rechte Stoff.« »Dein Leben, Jörn Uhl, ist nicht ein geringes Menschenleben. […] Was soll man denn in Deutschland erzählen, Jörn, wenn solch schlichtes, tiefes Leben nicht erzählenswert ist?«1228

Der Kommentar zur Erzählung des Heim Heiderieter innerhalb der Erzählung des Romans kann insofern zugleich als Kommentar zum eigenen, weltanschaulichen Erzählen des Romans – und damit in letzter Konsequenz als Kommentar zur Erkenntnisleistung weltanschaulicher Dichtung überhaupt gelesen werden. Carl Hauptmann schließlich macht dies gar zum eigenen Thema seines Weltanschauungsromans: Der Klärungsprozess, den Einhart durchläuft, ist der der Klärung seiner Kunstanschauung. Er malt vom weltanschaulichen Standpunkt, ist Weltanschauungskünstler, bringt Weltanschauung auf die Leinwand – als solche kommt der Kunst hier dann ebenfalls die Funktion zu, Weltanschauung zu vermitteln. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt seines weltanschaulichen Klärungsprozesses, an der Kunstakademie, kommt der Protagonist mit der Auffassung des einzigen von ihm einigermaßen geschätzten Lehrers in Berührung, dass Kunst dem Betrachter einen ›Augenblick wirklicher Erlösung‹1229 verschaffen solle – Einhart begreift dies (noch) nicht, er »ahnte es nur. Aber er ahnte es so drängend und so tief, jetzt, wenn er hastig durch die Menge lief, straßauf, straßab, daß ihm das Herz aufschwoll und er nicht wußte, wo er in seiner inneren Erglühung eigentlich gelaufen war.«1230 Kunst kommt die Funktion zu, dem Betrachter einen Moment der Erlösung zu verschaffen – mithin weltanschauliche Erkenntnis zu vermitteln. Es ist nun das Kunstideal der Heimatkunst, in der der Klärungsprozess Einharts mündet: »Ich wollte nur sagen: zuerst kommt die Meisterschaft des Meisters, der den Schüler vorwärts führt. Mag der Meister nun ein Mensch oder die Natur selbst sein.« »Aber von dem Meister muß der sich befreien,« sagte er nachdrücklich, »der ein Meister werden will. Von der Natur sich befreien! Die Natur zum Eigentum seiner selbst überwinden! Ja! Das taten alle Großen. Da redet das Innerste, was in uns selber redet. Dem müssen wir ganz untertan werden. Es zur Sprache bringen, das ist die Meistersprache.« »Mit dieser Sprache verstehen sich die Großen aller Zeiten,« redete er sanftmütig zu Verena hinüber. »Sie reden aus einem heimlichen Reiche, daraus wir wohl alle ausgetrieben sind. Eine Art Heimat.« 1228 Ebd., S. 532. 1229 Vgl. Hauptmann: Einhart, der Lächler, Erster Band, S. 110. 1230 Ebd., Erster Band, S. 110/111.

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»Das ist dann Heimatkunst,« sagte er lachend. »So kommt es mir wenigstens manchmal vor,« gab er noch ein wenig kleinlaut hinzu, weil er die Augen Verenas zärtlich auf sich gerichtet gesehen ohne Absicht. Er wußte nicht sonst groß, was er geredet.1231

Auf den ersten Blick markiert der Protagonist hier am Ende seines kunstanschaulichen Klärungsprozesses sein Kunstideal als Heimatkunst, die in Übereinstimmung mit der Programmatik der dichterischen Heimatkunst über die Kategorien der Persönlichkeit und Innerlichkeit bestimmt wird. Zugleich ist dies eine jener Passagen, an denen Figurenbewusstsein und weltanschaulicher Erzähler nicht mehr klar voneinander zu trennen sind – der Protagonist selbst »wußte nicht sonst groß, was er geredet«. Es ist dies offenbar nicht nur intradiegetisch die Kunstauffassung des Protagonisten, sondern über den weltanschaulichen Erzähler vermittelt zugleich jene Kunstauffassung, die für den Roman selbst gilt. Intradiegetisch kommt den Kunstwerken vor dem Hintergrund der so gelagerten Kunstauffassung die Funktion zu, den Betrachtern Weltanschauung vor Augen zu führen; insofern aber die intradiegetische Kunstauffassung des Protagonisten und die Kunstauffassung des extradiegetischen Erzählers nicht mehr klar zu trennen sind, kann dies zugleich als Kommentar zur Funktion des eigenen Erzählens und damit ebenfalls in letzter Konsequenz als Kommentar zum weltanschaulichen Erzählen überhaupt verstanden werden. Vor diesem Hintergrund gilt es, einen Blick auf die Abgrenzung der Kunst von der Wissenschaft im Roman zu werfen, über die die Funktion, die weltanschaulicher Kunst zugeschrieben wird, präzise gefasst wird: Der Roman thematisiert vor dem Hintergrund der Ausbildung einer weltanschaulich fundierten Kunstauffassung nichts weniger als das Erkenntnispotential von Kunst und Wissenschaft. Unmittelbar nach dem wichtigen Wendepunkt in der Kunstanschauung des Protagonisten in Folge seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie lernt dieser den Wissenschaftler Dr. Poncet kennen – mit ihm unterhält er sich mehrfach über Kunst und Wissenschaft. Die grundlegenden Fragen, die die beiden Figuren umtreiben, sind dieselben, allein im Zugriff unterscheiden sie sich: Und sie [Einhart und Dr. Poncet] kamen auch voll überein, dass sie die Welt von verschiedenen Seiten, aber die eine Welt angefaßt. Poncet war seines Faches ein Mann, der nach den Gesetzen des Lebens der Vielen suchte. Und Einhart sehnte sich und suchte die Träume und Geschichte zu erschauen, die ihm sein eigenes Blut als Glück und Stillung verraten wollte.1232

1231 Ebd., Zweiter Band, S. 203/204. 1232 Ebd., Zweiter Band, S. 48.

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Während Einhart also in der Kunst Erkenntnis aus sich selbst heraus sucht, ist Dr. Poncet Soziologe und wissenschaftlichen Methoden verpflichtet. Ist »Poncets Organ […] gemeinhin mehr das Wissen, womit er sich viele Menschen und Dinge scheinbar nahe brachte, und das Einhart tatsächlich nicht kannte«1233, ist Einhart eines dieser »feinen, schauenden Wesen, die das Denken gar nicht brauchen, um die treibenden Mächte aufzuspüren«1234 ; »›Seele‹ schaute er. ›Die Welt ist Seele,‹ sagte Einhart. Er philosophierte aus seiner Herzschau. ›Die Welt ist Seele. Nicht, wie die Alten gesagt: die Welt ist Vernunft.‹«1235 Bilder versus Buchstaben1236, Schauen (Welt-Anschauen) versus Wissen und Intellekt – kurz: individuell-persönlicher versus wissenschaftlich-systematischen Zugriff: Das sind die beiden erkenntnisgenerierenden Zugriffe, die hier anhand der Figuren Einhart und Dr. Poncet gegeneinander ausgespielt werden. »›Einfälle und Zufälle machen es bei euch,‹ sagte Poncet einmal. ›Bei uns ist alles System, System, System! Das ganze Leben System! Schrecklich! schrecklich! schrecklich!‹«1237 Die beiden konkurrierenden Erkenntnismodelle stehen nun nicht gleichberechtigt nebeneinander ; vielmehr wird dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess eine Begrenzung zugewiesen, die der künstlerische Erkenntnisprozess nicht habe. Die Figur des Dr. Poncet steht weiterhin auch auf Seiten Einharts, der Wissenschaftler lernt im weiteren Verlauf des Romans vom Künstler : Aber wenn jetzt Poncet zu Einhart kam, begann sich ihm eine neue Welt aufzutun. All die kleinen Handreichungen des Lebens, die er nie geachtet, gewannen einen tiefen Glückseligkeitssinn auch für ihn. »Das Leben ist gar keine Idealität. Es ist immer nur das einfache Leben,« sagte Einhart. Er wusste nicht, daß er damit den tiefsten Lebenssinn gegen all die großen Worte in Wissenschaft und Religion verteidigte.1238

Einmal mehr übersteigt hier die Figurensprache das eigentliche Figurenbewusstsein, sind Figurensprache und weltanschaulicher Erzähler nicht klar voneinander zu trennen; es folgt ein einseitiger, dem Protagonisten in den Mund gelegter weltanschaulicher Exkurs über das Leben, der vom Weltanschauungserzähler mit dem Worten beendet wird: »das war, wie es Einhart jetzt und immer lebhaft verkündete.«1239 Es ist dies der Erkenntnisweg, den schließlich auch der Wissenschaftler Dr. Poncet – anders als Einhart allerdings nicht unbewusst, sondern bewusst – als den eigentlich wahren anerkennt: 1233 1234 1235 1236 1237 1238 1239

Ebd., Zweiter Band, S. 119. Ebd., Zweiter Band, S. 97/98. Ebd., Zweiter Band, S. 117/118. Vgl. ebd., Erster Band, S. 88. Ebd., Zweiter Band, S. 56. Ebd., Zweiter Band, S. 65/66. Ebd., Zweiter Band, S. 67.

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Er [Dr. Poncet] begann einzusehen, daß er durch alle sogenannte Idealität durchmüßte zu der kleinen, großen, einsamen Seele. Er begann beglückt zu sein von ferne. »Man muß es mit den Sinnen greifen. Nur mit den Sinnen hält der Mensch sich fest in der Welt, wie der Baum mit den Wurzeln in der Erde.«1240

Wissenschaft und Intellekt, genauer die Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis, werden – vom Wissenschaftler – in Frage gestellt und gegen einen emphatischen Lebensbegriff und eine Weltwahrnehmung und -erkenntnis durch die Sinne gestellt. Es sei dies der Weg zu einer (im Vergleich zur Wissenschaft) tieferen Erkenntnis: Aber Poncet liebte jetzt die Weise, wie Einhart mit der Seele der Dinge und der Menschen umging. Poncet hatte längst auch angefangen, sich zu sehnen, ins Wasser der großen Ahnungen einzutauchen und aus aller engen, irdischen Notdurft heraus dem ursprünglichen Quelleben sich zu nahen.1241

Es handelt sich bei der skizzierten Diskussion im Übrigen um eine PseudoDebatte im Sinn des Zeitromans, deren Funktion es ist, dem Leser gegenüber die erkenntnisfördernde Seite der Kunstanschauung des Protagonisten schärfer zu konturieren (die ihm selbst gar nicht notwendig bewusst sein muss; sie wird über die Gegenfigur des Dr. Poncet eingeführt) und das erkenntnisgenerierende Potential der Künste und der Wissenschaften gegeneinander auszuspielen. Damit ist die erkenntnistheoretische Dimension von Hauptmanns Weltanschauungsroman markiert. Vom Zeitroman zum Weltanschauungsroman. Gattungsgeschichtliche Einordnung Mit Blick auf die Frage der Gattung des Weltanschauungsromans lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass die herausgearbeiteten Spezifika auf den ersten Blick mit denen des Zeitromans deckungsgleich sind. So macht der Weltanschauungsroman zunächst und vor allem, insofern er ganz allgemein die gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierungsprozesse, moderne Kontingenzerfahrung und die transzendente Obdachlosigkeit in der Moderne zum Thema hat, die Zeit zu ihrem eigentlichen Helden. Aber auch im Speziellen ist der Zeitbezug der Texte sichtbar – Keyserlings Roman etwa ist ein Beispiel für den Aktualitätsbezug der Texte insofern der Roman das sozialdemokratische Milieu Wiens abbildet.1242 Damit lässt sich der weltanschauliche Zeitroman im 1240 Ebd., Zweiter Band, S. 67. 1241 Ebd., Zweiter Band, S. 119. 1242 Vgl. dazu Fritz Martini: »In der ›dritten Stiege‹ hat sich Keyserling mit genauer Kenntnis auf die Kampfjahre der sozialistischen Bewegung in Wien, die sozialistischen Hoffnungen und Enttäuschungen und die Rollen, die in ihnen die bürgerlichen Intellektuellen und die

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Übrigen in die allgemeine Entwicklung des Texttypus des Zeitromans im Verlauf des 19. Jahrhunderts eingliedern: Greift der Zeitroman um die Jahrhundertmitte noch wesentlich politische Ereignisse auf, verschiebt sich der Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hin zu langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen.1243 Zweitens folgt der Weltanschauungsroman auch formal dem Texttypus des Zeitromans. Die Praxis bildhaften Erzählens etwa ist nicht nur als angemessene Form des Erzählens von Weltanschauung zu begreifen – in der diachronen Perspektive leitet sie sich auch aus dem Zeitromanschema ab. Schon die Struktur des Zeitromans des 19. Jahrhunderts sei durch die Wiedergabe von Momentaufnahmen, von »Zeitbildern«1244, gekennzeichnet, die »mosaikartig angeordnet, in ihrer additiven Gesamtheit den Kosmos der Zeit«1245 bilden. Die formale Herkunft aus dem Zeitromanschema zeigt sich weiterhin in der Fülle unterschiedlicher Personen, die in den Texten auftreten – erinnert sei etwa an die Vielzahl der allein die ›dritte Stiege‹ bewohnenden Personen bei Eduard von anarchistischen Proletarier spielten, eingelassen. In diesem Roman wird mit dem Anschein der Authentizität eine wesentliche Phase der sozialistischen Zeitgeschichte beschrieben […].« (Martini: Nachwort, S. 300/301). 1243 Vgl. Göttsche: Zeit im Roman, S. 574/575 (unter Bezug auf Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 3: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914. München 1995, S. 251 und S. 450 sowie Siemann, Wolfram: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849–1871. Frankfurt/Main 1985, S. 90): »Anders als die Revolution von 1848 sind politische Ereignisse wie die Stationen von Bismarcks Hegemonialpolitik, die von ihm vorangetriebene ›Revolution von oben‹ oder der deutsch-französische Krieg 1870/71 und die Reichsgründung zwar Themen einzelner Zeitromane, bilden aber keine eigenständigen thematischen Gruppen im Zeitroman des späteren 19. Jahrhunderts mehr ; auch die 1873 einsetzende große Wirtschaftskrise am Ende der Gründerjahre interessiert nicht mehr als Ereigniszusammenhang, sondern als Symptom einer grundlegenden Krise der Gesellschaft im Prozeß der Industrialisierung und Modernisierung. In den Vordergrund treten in den sechziger bis neunziger Jahren damit die Reflexion der langfristigen gesellschaftlichen Veränderungen im Zeichen des ›Modernisierungssprungs‹, der sozialen Mobilität und der ›Beschleunigung aller Lebensverhältnisse‹, die zumeist moralische Kritik am Kapitalismus der Gründerzeit und später illiberalen, autoritären und nationalistischen Tendenzen im Deutschen Reich, vorsichtige Wiederannäherung an die ›soziale Frage‹ und die sich formierende Sozialdemokratie sowie die Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis, der Sozialkultur und den mentalen Prägungen insbesondere der bürgerlich-adeligen Führungsschichten einer Gesellschaft, die durch eine spannungsvolle Gleichzeitigkeit von Tradition und Wandel, von Kontinuitäten und tiefgreifenden Veränderungen gekennzeichnet ist.« Am Jahrhundertende sind Naturalismus und Heimatkunst schließlich durch eine Vertiefung der kritischen Auseinandersetzung des realistischen Zeitromans mit dem Modernisierungsprozess, mit Industrialisierung, Urbanisierung und ihren sozialen Folgen, gekennzeichnet, ohne dass hier formale Neuerungen hinzukommen – »sie sind durch die Verbindung moderner Themen, Motive und Figurentypen mit vergleichsweise konventionellen Erzählverfahren gekennzeichnet« (Göttsche: Zeit im Roman, S. 763). 1244 Vgl. Hasubek: Der Zeitroman, S. 233. 1245 Ebd., S. 234.

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Keyserling, alle anderen Figuren sind dabei noch gar nicht berücksichtigt – die schon infolgedessen eher typenhaft verbleiben und gerade nicht individuell, sondern als Stellvertreter eines ganzen Standes interessieren. Vom Texttypus des Zeitromans her zu verstehen sind ferner jene ›Pseudo-Debatten‹, die auch dem Weltanschauungsroman eigen sind – Keyserling »Die dritte Stiege« etwa enthält eine mehrere Seiten umspannende Debatte über die unterschiedlichen Gründe für Verschuldung von Kapitalisten und Arbeitern sowie ihre moralische Beurteilung in Keyserlings »Die dritte Stiege«.1246 Wenn es sich nun aber beim Weltanschauungsroman um Zeitromane handelt – dann kann es sich nicht, wie es Saly#mosy vorschlägt, um den Entwicklungsroman des 19. Jahrhunderts handeln. Dagegen spricht insbesondere auch, dass es gerade nicht – auch dann nicht, wenn ein weltanschaulicher Klärungsprozess erzählt wird, in dem das Bildungsromanschema bis zu einem gewissen Grad nachwirkt1247 – die individuelle Entwicklung der Figuren ist, die interessiert, sondern die Entwicklung ganzer Gesellschaftsschichten. Die Protagonisten der Weltanschauungsdichtung machen darüber hinaus in der Regel gerade keine echte Entwicklung durch. Zwar müssen sie sich – hier schließt die Weltanschauungsdichtung tatsächlich an das Bildungsromanschema an – mit ihrer Umwelt, genauer der Moderne, auseinandersetzten, tatsächlich hat dies aber keinen nennenswerten Einfluss auf das Individuum, ist der Zielpunkt des weltanschaulichen Bildungsprozesses ausschließlich die Rückbesinnung auf das, was im Individuum schon von Geburt an vorhanden war. Der Weltanschauungsroman ist also in einem ersten Zugriff Zeitroman. Er weist dann in einem zweiten Zugriff jedoch spezifische Eigenschaften auf, die nicht für den Zeitroman im Allgemeinen gelten: Während der Zeitroman seine Zeit prinzipiell wertneutral beobachten kann, ist der Weltanschauungsroman dahingegen – dies zunächst inhaltlich, dann mit Blick auf das die Texte organisierende Narrativ – bestimmt worden als literarische Ausgestaltung des kul1246 Keyserling: Die dritte Stiege, S. 170ff. Ausführlich werden etwa die Praxis des Schuldenmachens der Kapitalisten einerseits und der Arbeiter andererseits nicht nur bei einer Abendgesellschaft hinsichtlich der unterschiedlichen Gründe und der jeweiligen moralischen Bewertung diskutiert (vgl. ebd., S. 170ff.), sondern mit den Figuren des kleinen Angestellten Leopold Gerstengresser einerseits und des Advokaten Dr. Zweigeld, andererseits auch auf der Ebene des Inhalts in bipolarer Personenanordnung gegeneinander ausgespielt: Zweigeld – nomen est omen – lebt über seine finanziellen Verhältnisse und geht bankrott (vgl. ebd., S. 177/178), Leopold Gerstengresser hingegen wird aufgrund seiner geringen finanziellen Mittel straffällig, versetzt bei einem jüdischen Wucherer Waren aus dem Geschäft, in dem er arbeitet (vgl. ebd., S. 133). Daneben greift der Text am Rande auch den Spekulationsdiskurs auf (vgl. ebd., S. 45, wo Backrath Clementine »das Wesen einer Actie zu erklären, berechne[n]« versucht). 1247 Damit wird auch hier auf das von Dirk Göttsche für den bürgerlichen Realismus herausgearbeitete Strukturmodell, die Mischform aus Individual- und Gesellschaftsroman, zurückgegriffen; vgl. Göttsche: Zeit im Roman, S. 576.

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turkritischen Beobachtungsmodus und des ihm zugrunde liegenden Geschichtsmodell insofern er von normativem Standpunkt aus Einspruch gegen die Zumutungen der Moderne erhebt und in Abhängigkeit davon die Frage menschlichen Glücks verhandelt. Vor allem aber wird das Verlustnarrativ vom weltanschaulichen Denken kommend durch das Komplement des weltanschaulichen Klärungsprozesses ergänzt, der Moderne allererst erträglich macht. Um 1900 verdichten sich weltanschauliche Kulturkritik einerseits und Zeitromanschema andererseits zu einem eigenen Texttypus1248 : Es entsteht mit dem weltanschaulich-kulturkritischen Roman der Jahrhundertwende eine spezifische Unterform des Zeitromans.

IV.3.2 Weltanschauliche Überseeromane – Übersee im Weltanschauungsroman. Eine Engführung Wurden bisher deutsche ›Kolonialromane‹ und weltanschaulich-kulturkritischer Roman der Jahrhundertwende weitestgehend getrennt voneinander betrachtet, stellt sich nun die Frage ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander. Weltanschaulicher Klärungsprozess in Übersee und weltanschauliches Erzählen. Weltanschauliche Überseeromane In einem ersten, resümierenden Zugriff auf den Überseeroman ist es vor dem Hintergrund der Analysen der voranstehenden Abschnitte offensichtlich, dass die Doppelcodierung kolonialdiskursiver Figuren vom weltanschaulich-kulturkritischen Denken her zu verstehen ist: Die Überseeliteratur greift mit den Diskursfiguren von Großstadt/Land, des Erbhof-Verlustes, des in Europa an die Moderne verloren gegangenen Paradieses, des Absonderungsgestus’, der Kolonialtauglichkeit, in der sich die Betonung von Persönlichkeit, Individualität und Willenskraft verdichtet, sowie nicht zuletzt mit den Diskursfiguren der Pioniere und der geistigen Expansion auf das Ensemble weltanschaulich-kulturkritischer Diskursfiguren zurück. Ausgehend von diesen offensichtlichen Überschneidungen stellt sich dann noch einmal die Frage, inwieweit der 1248 In der Forschung ist auf die Nähe von Zeitkritik bzw. Kulturkritik und Zeitroman hingewiesen worden. Bereits Hasubek hebt nicht nur hervor, dass das wesentliche Ziel des Zeitromans die Abbildung der Gegenwart ist; zu dieser Sinnschicht komme ferner die Schicht der Zeitkritik, die in einem Teil der Texte durch einen utopischen Zukunftsentwurf, der der Ausgestaltung nach ein »von Mängeln und Schäden befreite[s] Hier und Jetzt« (Hasubek: Der Zeitroman, S. 243; vgl. ebd., S. 244) ist, ergänzt werden. Bei Dirk Göttsche klingt ebenfalls die Nähe des Zeitromans zur Kulturkritik mehrfach an (vgl. etwa Göttsche: Zeit im Roman, S. 165, S. 167, S. 763).

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Überseeroman auch weitere charakteristische Merkmale des weltanschaulichkulturkritischen Romans aufweist, die aus postkolonialer Perspektive zunächst nicht in den Blick geraten. Auffallend ist vor diesem Hintergrund zunächst – und hierfür musste die postkoloniale Forschung notwendig blind bleiben – dass ein weltanschaulicher Klärungsprozess auch zum inhaltlichen Kern des kulturkritischen Überseeromans gehört. In Übersee kann der von der Moderne verunsicherte Mensch noch einmal Totalität erfahren, sich als Teil eines abgeschlossenen Ganzen wahrnehmen und so zu einer Weltanschauung gelangen. Organisiert ist dieser Prozess häufig um ein Erweckungsmoment (Erlösungs-Figur) herum, das sich auch hier in der weltanschaulich-kulturkritischen Diskursfigur des All-Blicks verdichtet. So setzt Gustav Frenssen das Bild des Sternenhimmels in »Peter Moors Fahrt nach Südwest« beinahe inflationär ein. Ich sah aber im Dunkeln nichts weiter als von den Lichtern des Schiffs einen gelblichen, wirren Schein in schwarzen, schwer rauschenden Wellen, und in der Ferne einige stillstehende Lichter, wohl von Leuchttürmen oder Feuerschiffen; und am Himmel die Sterne. Da wurde ich von dem Gedanken bedrückt, daß ich fortgebracht würde und mich nicht dagegen wehren könnte und in der Fremde viel Furchtbares erleben müßte. Ich fand aber Hilfe, als ich vor Gott gelobte, daß ich gut und fröhlich und mutig sein wolle, was mir auch geschähe1249,

heißt es da, oder : »Oft zogen wir bis in die Nacht. Wunderlich fahl, wie helle Spinnweben, lag der Mondschein über dem weiten, buschigen Land; wunderlich wirr und unruhig funkelten die fremden Sterne.«1250 Und weiter : »[…] da ich in heißer Mittagsstunde im Schatten des hohen Kapwagens und in bitterkalten Nächten hungrig und unruhig in dünner Decke auf der blanken Erde lag und am schönen, blauen Himmel die fremden Sterne standen: da, glaube ich, gerade in diesen schweren Wochen habe ich das wunderliche, endlose Land lieb gewonnen.«1251

Ferner : »Und die Sterne waren auch schön. Wie wunderbar heiß glühten sie am tiefschwarzen Himmel«1252 ; »Der Leutnant hatte alles mit mir durchgesprochen: Wasserstelle, Wegspur und Richtung nach dem Kreuz, das klar am Himmel stand«1253 ; »Mondschein war nicht; aber das wirre Sternenheer funkelte am ganzen Himmel«1254 ; »Es war eine Nacht, wie die vorige: kalt, und die Sterne klar.«1255 Das Bild des Sternenhimmels ist dann eng mit der Wendung der 1249 1250 1251 1252 1253 1254 1255

Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 12. Ebd., S. 60. Ebd., S. 69. Ebd., S. 115. Ebd., S. 133. Ebd., S. 134. Ebd., S. 142.

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Protagonisten zur Spiritualität oder Religiosität verbunden – nicht nur Frenssens Peter Moor findet in der Kolonie zurück zur Religion. »Vor dem Einschlafen dachte ich [Peter Moor] lange an die Eltern und an Itzehoe und an mein bisheriges Leben. Es fiel mir dabei ein, daß ich wohl länger als ein ganzes Jahr nicht gebetet hatte und ich beschloß, daß ich wieder damit anfangen wollte.«1256 Zu den Koordinaten, innerhalb derer der All-Blick wirksam wird, gehören die Abkehr von der Zivilisation (Absonderung), hieran gebunden das Erleben von ›unzivilisierter‹ Natur und ihrer Macht, schließlich häufig, jedoch nicht immer, die Erfahrung existenzieller Not etwa vor dem Hintergrund anstehender Kriegshandlungen oder Kriegsverletzungen: Erb hatte starke Schmerzen, aber eine stille Ergebung. An seine Mutter und ihr Wort – Wenn du mal in einer ungeheuren Not bist, dann schreie zu Gott, und du wirst ihn sehen – muß er unaufhörlich denken; sein Auge starrt ins Dunkel, seine Seele betet. »Du Ewiger, im endlosen All der Erste und Letzte, ich habe dich hinter Kerkermauern verloren, aber in der Wildnis deine Nähe geahnt, in hundert Gefahren deinen Hauch gespürt. Befreie mich aus den Händen der Menschentiere so weiß ich, daß du bist du warst und sein wirst, so will ich dich fürchten und ehren, dir danken und dienen.«1257

Für den von der Moderne verunsicherten Menschen stellt der Blick in die Unendlichkeit des Weltalls dann einen Erweckungsmoment dar : Der Offizier blickte hinauf zum Himmel, und sein Auge fiel unwillkürlich auf das strahlende Sternbild des Orion. Eine Vorstellung tauchte in ihm auf: Gegen die Mächtigkeit des Weltalls, das sich dort oben in ewiger Sternenschrift kundgab, was bedeuteten da all die kleinen Menschenhändel? Der Krieg hier, heut so wichtig – wer dachte seiner wohl noch in tausend Jahren – und was waren tausend Jahre in den Äonen der Schöpfung? Wie winzig und nichtig schien doch ein Menschenschicksal! Nie hatte Krafft dies stärker empfunden als jetzt, am Vorabend des Gefechts, in einsamer, weiter Steppe, unter dem sternbesäten Himmel. – Eine andächtige Stimmung überkam ihn, und unwillkürlich faltete er die Hände; und war’s auch kein Gebet, was ihm auf die Lippen kam, so hielt er doch in seiner Weise Zwiesprache mit dem Herrgott und legte, wie ein vertrauendes Kind, sein Schicksal in Seine Hände.1258

In der Anschauung des Weltalls wird sich der Mensch bewusst, dass er selbst Teil eines größeren Ganzen ist. Aus der All-Anschauung leiten sich gleichermaßen Totalitätsbewusstsein, Schicksals- und Sinnhaftigkeit, Spiritualität und Religiosität ab – also genau jene im kulturkritischen Denken in sentimentalischer Perspektive der Vergangenheit zugeschriebenen Erfahrungen. Die All-Anschauung hat auch im Überseeroman ein Komplement: WeltAnschauung im buchstäblichen Sinn. In Haases »Raggys Fahrt nach Südwest« 1256 Ebd., S. 47. 1257 Dose: Ein alter Afrikaner, S. 329. 1258 Steffen: Im Orlog, S. 203.

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folgt unmittelbar auf die Figur der All-Anschauung die Beschreibung des ›kolonialen‹ Blicks auf die unendlich sich ausdehnende Welt zu den Füßen der Protagonisten: »Er setzte sich neben sie auf einen Felsblock. Zu ihren Füßen dehnte sich eine endlose, schneeweiße Ebene aus.«1259 Das All über den Protagonisten, die Welt zu ihren Füßen – All und Welt ergänzen einander zu einem Ganzen. Angesichts der Weite des Landes und des Weltalls kann Raggy eins werden mit dem Universum: Sie hatte das Gefühl eines unendlichen, wohligen Nirwanas, der Erlösung von allem Irdischen. Sie hatte immer dieses Gefühl in der großen, freien Wildnis. Dann merkte sie, daß ihr Herz eigentlich an gar nichts hing. Mit dankbarer Andacht konnte sie sich in die Wunder des Weltalls versenken, ohne Grübeln, ohne Sinnen über ihre Rätsel. Die Zeiten von Angst und Zweifel lagen weit zurück für Raggy. In den schlimmsten Lagen ihres Lebens hatte sie sofort eine tiefe Ruhe gefunden, wenn sie in dunkler Nacht zum Sternenhimmel emporblickte, auf tobender See, im tiefen Wald oder auf weiter, freier Prärie. Raggy konnte sich nur in zivilisierten Verhältnissen unglücklich fühlen.1260

In der Diskursfigur des Welt-All-Blicks verdichtet sich auch hier der weltanschauliche Klärungsprozess: In der Kolonie, wo die Weite des Landes und des Himmels einander ergänzen, kann der moderne Mensch Welt noch einmal als Ganzes schauen; All-Anschauung und panoramatische Welt-Anschauung ergänzen sich so zur Weltanschauung. Der panoramatische Blick ist für den Bereich der Überseeliteratur in der postkolonialen Germanistik bisher wesentlich als ›kolonialer Blick‹ behandelt und in den Kontext europäischer Hegemonie über die Kolonie gesetzt worden: Aus Weltmacht-Perspektive werde das Land mit dem ›kolonialen Blick‹ als herrenlos, als ein zu eroberndes Territorium, wahrgenommen.1261 Vor dem Hintergrund der Ausbildung der panoramatischen Wahrnehmungskonvention im 19. Jahrhundert und ihrer weltanschaulichen Umdeutung gegen Ende des Jahrhunderts konnte dargelegt werden, dass der ›koloniale‹ Blick im Bereich weltanschaulich-kulturkritischer Literaturproduktion auch ein weltanschaulicher Blick ist: Der panoramatische, alles überblickende, privilegierte Standpunkt ist eben nicht oder wenigstens nicht nur europäischer, kolonisierender Blick, der ein Machtgefälle zwischen Kolonisten und Kolonisierten ausdrückt, sondern auch weltanschaulicher Blick und Standpunkt. Wenn nun aber der koloniale Blick auch oder gerade ein Weltanschauungsblick ist – dann muss die Funktion der Überfahrt ebenfalls einer Re-Lektüre 1259 Haase: Raggys Fahrt nach Südwest, S. 200. 1260 Ebd., S. 199. 1261 Vgl. etwa Honold: Raum ohne Volk, S. 52.

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unterzogen werden. Auch sie wurde in der Forschung wesentlich aus postkolonialer Perspektive untersucht. Die Überfahrt initialisiert, das ist soweit richtig, den Blick, mit dem die Protagonisten auf die Kolonie treffen, wie etwa in »Unter deutschen Palmen«: »›[…] Sie werden es begreiflich finden, daß ich mich freue, nach einer vierzehntägigen Seefahrt etwas anderes zu sehen als Wasser und Himmel‹«1262. Dieser Blick sei, so die landläufige Meinung, für die Konstruktion des afrikanischen Kontinents als ›herrenlos‹ konstitutiv : Der Eindruck des gewaltigen Ozeans, wie ihn die Überfahrt nach Südwest-Afrika über mehrere Wochen gewährte, war geradezu eine Propädeutik des kolonialen Blicks; eine Lektion in nachholender Weltmacht-Perspektive. Auf dem Titelblatt der Deutschen Kolonialzeitung prangte das Bild eines von Kanus umringten Dampfers vor afrikanischer Küstenlandschaft. Die lange Schiffspassage auf einem Dampfer der WoermannLinie ist ein geradezu stereotypes Handlungselement in Reiseberichten und auch in Kolonialromanen […].1263

Indem die Überfahrt in den Überseeromanen ausführlich geschildert werde, werde ein Blick initialisiert, der weit offen ist, keine Grenzen kennt und nur durch den Horizont beschränkt wird. Mit diesem Blick treffen die Protagonisten und mit ihnen die Leser auf das ›herrenlose‹ Land, das es zu besiedeln gilt – ihm kommt insofern eine wichtige Funktion für den Kolonisationsprozess zu. Diese Interpretation ist nicht falsch – aber auch nicht erschöpfend. Insofern der koloniale Blick eben auch ein weltanschaulicher ist, kommt der Überfahrt für den weltanschaulich-religiösen Klärungsprozess eine vorbereitende Funktion zu: Auf der Überfahrt wird der Blick, der auf das Ganze (Himmel und Meer) geht, eingeübt. Die Diskursfigur des kolonialen Blicks oszilliert damit zwischen einer genuin modernen Stoßrichtung einerseits insofern er Bemächtigungs- und Herrschaftsstrukturen ausdrückt, Teil der expansiven Erweiterung des nationalen Territoriums ist und damit als Teil des Kolonisierungsprozesses ein Faktor der politischen und ökonomischen Modernisierung, sowie einer gegenläufigen, auf Totalitätserfahrung und Sinnhaftigkeit abzielenden Stoßrichtung andererseits, insofern er in den sich ergänzenden Diskursfiguren der All-Anschauung und der panoramatischen Welt-Anschauung den Blick auf das abgeschlossene Ganze richtet. Die tatsächliche Form der Weltanschauung, Spiritualität oder Religiosität bleibt nun – wie im weltanschaulich-kulturkritischen Roman im Allgemeinen auch – ebenso heterogen wie unspezifisch. Es ist zumeist gerade nicht die christliche Kirchen-Religion, in deren Schoß die Protagonisten zurückkehren1264 ; tatsächlich ist in einer Vielzahl ›kolonialliterarischer‹ Texte eine gewisse 1262 Benkard: Unter deutschen Palmen, Erster Band, S. 3/4. 1263 Honold: Raum ohne Volk, S. 52, Hervorhebung im Original. 1264 Ein Gegenbeispiel wäre Jonk Steffens »Im Orlog«, in dem Krafft zumindest an das

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Grundskepsis gegen die Kirche im Allgemeinen und gegen Missionare im Besonderen zu verzeichnen. Das gilt insbesondere für den Kriegsroman, der den christlichen Missionaren eine Mitschuld am Aufstand der Herero zuschreibt: »[…] Die Missionare predigen ihnen: Ihr seid unsere Brüder! Und verwirrten ihnen die Köpfe! Sie seien nicht unsere Brüder ; sondern unsre Knechte, die wir menschlich aber streng behandeln müßten! Diese sollten unsre Brüder sein? Sie mögen es einmal werden, nach hundert oder zweihundert Jahren! Sie mögen erst mal lernen, was wir aus uns selbst erfunden hätten: Wasser stauen und Brunnen machen, graben und Mais pflanzen, Häuser bauen und Kleider weben. Danach mögen sie wohl einmal Brüder werden. Man nimmt niemanden in eine Genossenschaft auf, der nicht vorher seinen Einsatz bezahlt hat.«1265

Aus der diskursiven Figur des All-Blicks spricht eine gewisse Affinität zur monistischen Kosmologie, die mehr oder weniger explizit in verschieden Werken wirkt – nicht nur die bereits angeführte Passage aus »Raggys Fahrt nach Südwest« lässt auf eine Nähe zum Monismus schließen.1266 Im Dunkeln bleibt jedoch hier wie anderswo das Grundprinzip, auf das alle Weltsicht zurückzuführen sei: Bei aller Affinität der Überseeliteratur zur darwinistischen Entwicklungslehre (Rassediskurs) wird diese nicht notwendig mit dem All-Erlebnis als weltanschaulichem Erweckungserlebnis enggeführt. Festhalten lässt sich daher nur eine gewisse Nähe zum populären Monismus des 19. Jahrhunderts. Neben monistischen Anklängen stehen zudem freireligiöse Tendenzen: Peter Hardt gehörte zu den Naturen, die eine tief[e] innere Religion haben, die sich nicht an bestimmte Formen hält, die nicht frägt: bist du Protestant, bist du Katholik?, die nicht nach Äußerem geht, deren Hauptinhalt ein gottesfürchtiges, reines Herz ist, die nie aufhört, nach Wahrem zu suchen und allein im Gemüte ihren Platz hat.1267

Die inhaltliche Unbestimmtheit religiöser Konzepte ist von der grundsätzlichen Pluralität religiöser Aufbruchsstimmungen der Jahrhundertwende her zu begreifen. Das Spektrum religiöser Sinn-Angebote reicht von Erneuerungsbewegungen innerhalb der beiden großen christlichen Kirchen über die Konjunktur von Buddhismus und Theosophie bis hin zu Alternativangeboten wie Freidenkern und Freireligiösen, Anthroposophie und ›Urreligiösen‹. Alle diese Bewegungen – die auch im Zusammenhang mit der genuin religiösen Dimension zahlreicher Reformbewegungen der Jahrhundertwende und ihres Einspruchs gegen die industrielle Moderne verstanden werden müssen – sind insofern christliche ›Vaterunser‹ anknüpft: »Dann betete er ein Vaterunser, so inbrünstig wie er’s seit der Kinderzeit nicht mehr getan hatte. Mit Frieden im Herzen schlief er ein.« (Steffen: Im Orlog, S. 204). 1265 Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 68; vergleichbar auch Holm: Pioniere, S. 243/244. 1266 Vgl. Haase: Raggys Fahrt nach Südwest, S. 199. 1267 Holm: Pioniere, S. 244.

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gleichermaßen als Gegenbewegung zur Säkularisierung und als Ausdruck bürgerlicher Erlösungshoffnung zu begreifen. Damit sind sie zugleich in das triadische Geschichtsmodell des kulturkritischen Denkens eingelassen, das seinerseits, wie zu zeigen sein wird, den Überseeroman strukturiert: Wird der Vormoderne in Europa die christliche Religion zugeschrieben und dem modernen Europa der Verlust von Religiosität und Sinnhaftigkeit, kann der Mensch in der Kolonie Religiosität bzw. Weltanschauung (wieder)finden. Ex negativo ist diese Diskursfigur damit auf die transzendente Obdachlosigkeit der europäischen Moderne bezogen. Schließlich dienen das Leben in der Kolonie im Allgemeinen und der Kolonialkrieg im Besonderen als Bewährungsfeld, das es im Europa der Moderne nicht mehr gibt. In Afrika, in der »Freiheit der Wildnis«1268, gibt es noch Helden: »›Überhaupt die alten Afrikaner!‹ sagte ein Neuling bewundernd. ›Das sind Helden!‹«1269 Hier kann der Mensch reifen und so zum vollwertigen Mitglied der (neuen) Gemeinschaft werden: »Er hatte mir einmal gesagt: ›Siehst Du, man muß einmal was Ordentliches erlebt haben: Wie soll man sonst ein tüchtiger, ernster Mensch werden? Darum bin ich hierhergekommen!‹«1270, heißt es in »Peter Moors Fahrt nach Südwest«. Erst auf dem Bewährungsfeld kann aus dem modernen Menschen ein »tüchtiger« und »ernster« Mensch werden – ein Mensch, der selbst unter Beschuss im Kampf die Ruhe in Person ist: »Die Kugeln schlugen um ihn; der Lauf seines Gewehrs flog getroffen klappernd zur Seite. Er legte sich ruhig wieder an seinen Platz.«1271 Das Ideal, das gezeichnet wird, ist das Ideal des (verlustig gegangenen) ›ganzen Menschen‹, des im Sinne der Heimatkunst weltanschaulich gefestigten Menschen. Der Gang in die Kolonie und die Bewährung in Übersee sind mithin synonym für den weltanschaulichen Klärungsprozess zu lesen. Die dichotome Darstellung von Großstadt und Land in der Überseeliteratur, die Diskursfiguren des Erbhof-Verlustes, des in Europa an die Moderne verloren gegangenen Paradieses, der weltanschauliche Klärungsprozess und die Ausbildung eines gefestigten weltanschaulichen Standpunktes (Erlösung), der sich in der Diskursfigur des Welt-All-Blicks verdichtet, schließlich die auch gesellschaftlichen Alternativentwürfe in der Kolonie deuten es an: Der kulturkritische Überseeroman greift nicht nur auf weltanschaulich-kulturkritische Diskursfiguren zurück, er ist darüber hinaus nach demselben Narrativ organisiert. Vor diesem Hintergrund überlagern sich in der Deutung der kolonialen Raumord1268 Vgl. Steffen: Im Orlog, S. 244. 1269 Steffen: Im Orlog, S. 263. Die Bewunderung der ›alten Afrikaner‹ (die nicht die indigene Bevölkerung, sondern lange in der Kolonie lebende Europäer bezeichnen), gehört zu den zentralen diskursiven Figuren der deutschen Überseeliteratur. 1270 Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 150. 1271 Ebd., S. 153.

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nung machtpolitische und kulturkritische Dimension nicht nur, sondern verdichten sich zu einer ›kolonialen Erlösungslehre‹, die die Überseetexte tiefenstrukturell organisiert. Vor dem Hintergrund des Schemas Europa – Überfahrt – Kolonie wird letztere gleichermaßen als Rückzugsort von der europäischen Moderne und als ein Experimentierfeld für Gesellschafts- und Wirtschaftsformen wahrgenommen. Die ›koloniale Erlösungsordnung‹ bietet so zugleich ein Verlaufsmodell an, das den Überseeroman, soweit er vom kulturkritischen Denken der Jahrhundertwende her zu begreifen ist, tiefenstrukturell organisiert. Voraussetzung ist das bereits dargelegte Zentrum-Peripherie-Modell, das der Mehrheit der Überseeromane zugrunde liegt. Während nun die machtpolitische Bedeutungsdimension der Texte in der Erweiterung des nationalen Raumes und des politischen und ökonomischen Einflusses liegt, der koloniale Raum also als ein nationaler semantisch aufgeladen und so gerade in das Reich integriert und also gewissermaßen an das Reich herangerückt wird, ist für die kulturkritische Bedeutungsdimension gerade die geographische Entfernung als Bedingung der Möglichkeit eines Rückzugs von der Moderne, sprich der Absonderung in der äußersten Peripherie, relevant. Die geographischen Orte Europa und die Kolonie erhalten zunächst einen zeitlichen Index (vormodernes Europa – modernes Europa – geschichtslose Kolonie). In einer wesentlich sentimentalischen Perspektive gilt Europa als an die Moderne verloren gegangen. Dem steht dann die Kolonie mit ihrem als halbzivilisiert inszenierten Küstenstreifen und dem unzivilisierten, unberührten und geschichtslos inszenierten Landesinneren gegenüber. In dieser Konstellation kommt der Überfahrt die Funktion zu, Abstand zwischen Europa und der Kolonie zu generieren. Abstand wird zunächst, das zeigt etwa das Beispiel »Peter Moors Fahrt nach Südwest«, narrativ über die Verbindung von Zeit und Raumdurchquerung erzeugt1272 : Immer, Tag und Nacht, zitterte das Schiff vom Gang der Maschine, wie der menschliche Körper vom Schlag des Herzens. Das Meer war immer gleichweise sonnig, scheinend weithin. So jagten wir nach dem Süden, immer weiter, Tag und Nacht. Ich wunderte mich, wie groß die Welt war.1273

Lang erscheint die Zeitspanne jedoch nur aufgrund der Reizarmut, der die europäischen Reisenden während der Fahrt ausgesetzt sind:

1272 Daneben wird Abstand auch über die bereits erörterten sparsam eingesetzten Differenzerfahrungen, über Fremdheitserfahrungen generiert – es ist dies ein weiterer Grund, weshalb in der Überseeliteratur Exotismus in erster Linie während der Überfahrt und der Ankunft, nicht jedoch während der Phase des Neuanfangs etwa auf einer Farm, auftaucht (vgl. zur Funktion der sparsam eingesetzten Differenzerfahrungen im machtpolitischen Kontext Abschnitt IV.2.1 »Koloniale Moderne. Der machtpolitische Kolonialroman«). 1273 Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, S. 21.

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Sieben Tage war man auf See, ohne Land gesehen zu haben. Nun freute sich jeder auf den Augenblick, da es auftauchen, da sich zwischen die tiefe, goldig schimmernde Bläue der endlosen Wasserfläche ein Stückchen Fels, ein Fleckchen Grün, ein Bild des gewohnten Menschenlebens schieben würde.1274

Der panoramatische Blick über das Meer ist hier vor allem eines: eintönig. Er vermittelt gleichermaßen den Eindruck von Abstand zu Europa wie er die Reisenden auf die Kolonie und ihr entsagungsreiches Leben fern der modernen Überzivilisation vorbereitet – der Überfahrt kommt somit nicht nur mit Blick auf die weltanschauliche Klärung, sondern auch mit Blick auf die Gesellschaftsreform eine zentrale Funktion in der Erlösungslehre des kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende zu. Schließlich stellen Kolonialstädte, manchmal auch nur bekannte geographische Punkte wie Lüderitz-Bucht, die letzten topographischen Referenzen bzw. Markierungen auf dem Weg ins Landesinnere dar. Küste und Kolonialstädte wie Swakopmund und Windhuk, das zeigen Beispiele wie Orla Holms »Pioniere«1275 und Friede Krazes »Heim Neuland«, sind, insofern sie von der Zivilisation berührte Orte sind, Orte des Übergangs: Sie sind ein Ort des Übergangs zwischen Europa und dem ›Landesinneren‹, jedenfalls was den Siedlungsroman betrifft. Der von der Zivilisation berührte Küstenstreifen bietet noch (reduzierten) europäischen Komfort, bevor die Protagonisten auf dem Weg ins Landesinnere und auf ihren Farmen auf das Lebensnotwendige beschränkt sind. Den Ankömmlingen aus Europa bietet er nicht mehr den aus Europa gewohnten modernen Komfort, wohl aber noch eine gewisse Bequemlichkeit. Es ist dies die Voraussetzung dafür, dass auf dem Weg ins unerschlossene, herrenlose Landesinnere, das etwa in Krazes »Heim Neuland« als »öde, […], grenzenlos leer und verlassen«1276 beschrieben wird, »alle Zivilisation so weltfern«1277 und ringsum nur »Schweigen«1278, dann symbolisch auch die letzten Überreste moderner (Über)Zivilisation abgeworfen werden können und nur übrig bleibt, was zum Überleben notwendig ist: »Zehn Tage lebten sie in der Ochsenkarre. Jeden Tag wurden sie ein wenig klüger, ein groß Teil praktischer, und immer mehr europäische Notwendigkeiten wurden, als gänzlich überflüssig, beiseitegelassen.«1279 1274 Beeker : Heddas Lehrzeit in Süd-West, S. 44. 1275 Vgl. Holm: Pioniere, S. 100 und 115. Zwar liegt Windhuk nicht an der Küste, wird hier jedoch der räumlichen Sphäre der Küste zugerechnet, da es sich um einen der kolonialen Gesellschaft zugerechneten Raum handelt, mithin einen Übergangsraum zum Landesinneren. 1276 Kraze: Heim Neuland, S. 128. 1277 Kraze: Heim Neuland, S. 128. 1278 Ebd., S. 128. 1279 Ebd., S. 97.

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Mit dem Weg ins Landesinnere wird dann der durch geographische Punkte markierte Raum zugunsten eines unmarkierten Raumes verlassen, die Zivilisationsgrenze überschritten. Bekannte topographische Referenzen gliedern den Raum, ordnen die ›vorgestellte Geographie‹ – ihre Abwesenheit bereitet die raumutopische Öffnung vor. Der Überseeliteratur eigen ist dabei eine eigentümliche Verschränkung räumlicher und zeitlicher Dimensionen: Durch die raumutopische Öffnung des Romans wird im Rahmen der Überseeliteratur die (narrative) Realisierung einer Gesellschaftsform, die in ihren Umgebungsdiskursen der Vergangenheit zugeschrieben wird, allererst möglich. Der Absonderungscharakter der Raumstruktur des Überseeromans ist als Zeichen der radikalen Abwendung von der modernen (Über-)Zivilisation zu lesen. In der Kolonie kann schließlich ein neues Leben im Sinn einer alternativen Gesellschaftsform aufgebaut werden – die unterschiedlichen Entwürfe wurden dargelegt, die inhaltliche Ausgestaltung der ›Erlösung in der Kolonie‹ sieht je nach weltanschaulichem Hintergrund unterschiedlich aus und bewegt sich wie gezeigt zwischen konservativen, an der Vergangenheit orientierten Entwürfen einerseits und lebensreformerischen Konzeptionen andererseits. Gemeinsam ist den Texten, dass sie in die Erlösungslehre des kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende eingebunden sind. Auf die historisch gewordene gesellschaftliche und ökonomische Vormoderne folgt der Sündenfall Europäische Moderne; der Gang in die Kolonie bietet die Erlösung von der (fehlgeleiteten) Moderne. Nun müssen die Texte, um über diese narrative Struktur organisiert zu sein, nicht notwendig auch über den Dreischritt Europa – Überfahrt – Kolonie aufgebaut sein – während Romane wie Krazes »Heim Neuland« sich auch in ihrem Aufbau wesentlich am skizzierten Raummodell und seinen kulturkritischen Geschichtsimplikationen orientieren, die Handlung also in Europa einsetzt und sich dann über die Überfahrt in die Kolonie hinein erstreckt, sind Texte wie Holms »Pioniere« nach demselben Verlaufsnarrativ organisiert, obgleich die Handlung erst in der Kolonie einsetzt. Der ›Sündenfall europäische Moderne‹ wird hier nachträglich über eingeschobene Berichte und Erzählungen etwa über den Verlust des Erbhofes eingespeist. Paradies Alteuropa – Sündenfall europäische Moderne – Erlösung in der Kolonie: Es ist dies das Erzählsystem, das sich aus der Engführung der kolonialen Raumordnung und dem triadischen Denken der Kulturkritik ableitet, und das der kulturkritische Überseeroman narrativ ausgestaltet. Es ist dies insofern zugleich die Basisstruktur, die sowohl den inhaltlichen Programmen der Re-Vergemeinschaftung in der Kolonie und der Gesellschaftsreform durch Selbstreform in der Kolonie, als auch der symbolischen Ausgestaltung einer Selbstreinigung der Moderne zugrunde liegt. In der Diskursfigur des Welt-All-Blicks verdichten sich nicht nur die koloniale Herrschaft Europas über die überseeische Gebiete und der weltanschauliche

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Klärungsprozess der Protagonisten in Übersee, sie verweist zugleich auf das poetologische Prinzip des weltanschaulich-panoramatischen Erzählens vom Ganzen, dem der deutsche Überseeroman, insofern er vom kulturkritischen Denken der Jahrhundertwende her zu verstehen ist, verpflichtet ist – und das er überbietet. Erstens generiert auch der kulturkritische Überseeroman Totalität über die Trias gesellschaftliche – räumliche – zeitliche Totalität. Auch hier werden lange Zeitabschnitte abgebildet (Erbhof); die Reaktualisierung des Modells des ›ganzen Hauses‹ ist Ausdruck der Abbildung räumlicher und gesellschaftlicher Totalität und Abgeschlossenheit, ohne dass dabei jene dargelegten gesellschaftlichen Störmomente (zunächst) ausklammert werden – die einander ergänzenden Erzählstränge in Krazes »Heim Neuland« wären als Beispiel zu nennen. Auf die bipolare Figurenkonstellation im deutschen Überseeroman wurde im Zusammenhang mit den Diskursfiguren der Kolonialtauglichkeit und der ›kolonialen Katharsis‹ bereits verwiesen; auch im kulturkritischen Überseeroman stehen die Figuren stellvertretend für bestimmte Typen wie den kolonialtauglichen Siedler, den untauglichen Kolonisten, den Missionar, den Schutztruppler, den Seefahrer etc. Zweitens erzählt der kulturkritische Überseeroman vom weltanschaulichen Klärungsprozess, entweder implizit in der Ausbildung des ›ganzen Menschen‹ oder aber auch expliziter unter Rekurs etwa auf monistische Vorstellungen der Zeit. Vor allem aber greift er drittens auf das Konzept des weltanschaulichen Erzählers, der von Zeit zu Zeit die von ihm überblickte Handlung aus weltanschaulicher Perspektive einordnet, zurück. Die Farmarbeit von Orla Holms Pionieren etwa sei ernüchternd für den Zuschauer, der nicht in die Tiefe dieses gleichmäßigen Lebens blicken konnte. Denn gerade während emsiges Schaffen die Familie trennte, jeden seinem eigenen Wirken überließ, fanden sich die Gedanken zusammen, trafen sich in dem Wunsch, die einzelne Arbeit möchte ein großes Ganzes schaffen. Und dieser Wunsch fand beredten Ausdruck in dem freundlichen Zunicken, wenn eins den andern sah, fand dankbares Anerkennen in warmen Worten.1280

Für den ›modernen‹ Zuschauer uninteressant, ist die ewige Wiederkehr des Gleichen für den weltanschaulichen Beobachter und Erzähler Ausdruck eines Anderen, Ausdruck der Einheit von Mensch und Welt, Ausdruck von Weltanschauung. Das lediglich überblickshaft-panoramatische Erzählen wird so auch im kulturkritischen Überseeroman in doppelter Hinsicht – als Erzählen von einem weltanschaulichen Standpunkt aus und als Erzählen von Weltanschaulichem – zum weltanschaulich-panoramatischen Erzählen vom Ganzen. Zugleich überbietet der Überseeroman den weltanschaulichen Heimatroman hinsichtlich der Darstellung von Totalität insofern er das totale Lebensmodell in 1280 Holm: Pioniere, S. 87.

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der Kolonie als Überbietung des totalen Lebensmodells Heimat inszeniert, die Kolonie also die Totalisierung des totalen Lebensmodells erlaubt. Schon die Programmatik der Heimatkunst beurteilt den Rückzug von der Moderne nicht nur als Voraussetzung eines weltanschaulichen Klärungsprozesses, sondern sieht diese zugleich als die Bedingung der Möglichkeit einer weltanschaulichen Kolonisation und damit Korrektur einer fehlgeleiteten Moderne an. Vor dem Hintergrund dieser Grundeinstellung ist die narrative Ausgestaltung des Rückzugs in die Kolonie als Überbietung des Rückzugs in die Heimat (wie sie etwa in Frenssens »Jörn Uhl« geschildert wird) das konsequente Zuendedenken des heimatkünstlerischen Grundgedankens. In der überseeischen Kolonie wird Ganzheitlichkeit noch als erfahrbar begriffen. Die Kolonie, insbesondere das ›Landesinnere‹, bietet aufgrund des maximal möglichen Abstands zur europäischen Metropole einen Rückzugsort, einen abgeschlossenen, wesentlich autarken Ort, der wenig Kontakt zur Außenwelt und damit zur Moderne bietet: »Willkommen in Glückshafen!« sagte sie, indem sie freimütig die Hand ausstreckte und dem Offizier mit ruhigem Blick in die Augen sah. »Mein Vater wird sich freuen, daß sie da sind; er hat schon alle Tage nach Ihnen gefragt. Wir wußten nicht, wann der Dampfer ankam – wir leben hier draußen so abgeschlossen.«1281

Die geographische Abgeschiedenheit der Kolonie ist Voraussetzung für die Erfahrbarkeit von Ganzheitlichkeit und Sinnhaftigkeit, die im gemeinschaftlichen Leben und Arbeiten erlebbar werden. Diese wird nicht nur durch die räumliche Abgeschlossenheit – nicht Abgeschiedenheit, sondern dezidiert die räumliche Umgrenzung der Abgeschlossenheit – sowie Autarkie des Hofes generiert, sie hat zugleich einen zeitlichen Index insofern Kontinuität und ein Erleben von Totalität durch die Wiederkehr des ewig Gleichen konstituiert wird: »So im gleichmäßigen Einerlei der verschiedenen Arbeiten, verlief bei den Hardts der Tag; so war es schon in Deutschland gewesen, und so ging es auch hier, ohne Abwechselung […].«1282 Damit ist im Sinnhorizont der Kolonie noch bzw. wieder erfahrbar, was in Europa selbst im Sinnhorizont der Heimat schon nicht mehr erfahrbar ist – im Überseeroman wirkt eine Vorstellung des totalen Lebensmodells fort, das selbst für den Heimatkunstroman bereits brüchig geworden ist1283. Insofern die Kolonie die Heimat als Rückzugsraum von der Moderne also noch überbietet, überbietet sie zugleich das Sozialmodell Dorf: Ist das Dorf, so es nicht ohnehin bereits von der Moderne berührt ist, potentiell immer gefährdet, von der Moderne eingeholt zu werden, kann das totale Le1281 Steffen: Im Orlog, S. 67. 1282 Holm: Pioniere, S. 87. Der Verweis auf Deutschland bezieht sich auf den an die Moderne verloren gegangenen Hof der Familie. 1283 Vgl. zum Sozialmodell des Heimatromans insb. Rossbacher : Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 139–149.

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bensmodell in der Kolonie (noch) in seiner größtmöglichen Reinheit existieren. Die Farm kann dabei aufgrund ihrer kolonialen Abgeschiedenheit gleichermaßen zum Modell und zum Brennglas allgemeiner Verhältnisse werden – vor dem Aufstand der Herero Ideal gemeinschaftlichen Zusammenlebens, wird die »Farm Glückshafen […] ein kleines Spiegelbild solcher Verhältnisse.«1284 Festgehalten werden kann an dieser Stelle, dass der deutsche Überseeroman, jedenfalls insofern er der kulturkritischen Deutungslinie zuzuordnen ist, nicht nur auf der Ebene des Inhalts vom kulturkritischen Denken der Jahrhundertwende beeinflusst ist. Auch formal muss er – ohne notwendig immer im wirklich engen Sinn Weltanschauungsroman zu sein – stärker als es die Forschung bislang wahrgenommen hat vom Texttypus des weltanschaulich-kulturkritischen Romans her verstanden werden. Nicht nur lassen sich auf den ersten Blick genuin kolonialdiskursive Figuren in einem zweiten Zugriff auf das Ensemble weltanschaulich-kulturkritischer Diskursfiguren zurückführen, darüber hinaus sind diese Texte über dasselbe zugrunde liegende Narrativ organisiert und folgen derselben Praxis weltanschaulichen Erzählens wie der Weltanschauungsroman der Jahrhundertwende.

Weltanschauliche Kolonisation und Flucht nach Übersee. ›Koloniale‹ Weltanschauungsromane Wenn der ›kulturkritische Überseeroman‹ vom Texttypus des weltanschaulichkulturkritischen Romans der Jahrhundertwende her zu verstehen ist, dann stellt sich umgekehrt die Frage, inwieweit überseeische Gebiete mit ihrem utopischen Potential auch in weltanschaulich-kulturkritischen Texten, die nicht explizit in Übersee situiert sind, eine Rolle spielen. In einem ersten Zugriff partizipieren Weltanschauungsromane an der Semantik des Wortfeldes Kolonie und Kolonisation. Gleich zwei Mal werden der Rückzug von der Moderne und der weltanschaulich-expansive Anspruch der Spiritisten in Bölsches »Mittagsgöttin« mit Expeditionen in unerforschte Weltteile verglichen. »Wie wir,« sagte der Graf, »so mögen sich Männer vereinigen, die im Herzen des dunklen Weltteils oder zwischen den Eisschollen des Pols sich die Hände reichen unter der zerschlissenen, aber nach endloser Arbeit kühn emporgepflanzten Fahne am Ziel. Sie sind allein, zwischen heulenden Wilden, die nicht ahnen, was dieser schwache Wimpel besagen soll, zwischen krachenden Schollen von Eis, die über ihnen zusammenbrechen, sie zerschmettern möchten. Keiner weiß, ob der Pfad zurück sich ebenso 1284 Steffen: Im Orlog, S. 130. Damit nimmt sie für den Roman eine vergleichbare Funktion ein wie die ›dritte Stiege‹ für Keyserlings Weltanschauungsroman, die ein Abbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse gibt.

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öffnen wird, wie der Weg hierher, ob nicht der Kampf sie alle aufreiben, die Natur sie zum Verschmachtungstode einkerkern wird, ehe sie die Kunde von ihrer Entdeckung zu anderen Menschen heimgebracht. Dennoch: die Fahne weht, der Stolz des Moments preßt Hand auf Hand, – warum sollten sie nicht weiter siegen, die bis hierher gesiegt? Ich trinke auch auf die geheimnisvollen Jenseitsmächte, die mit uns sind.«1285

Der Vergleich der Entdeckung neuer geographischer mit der neuer ›geistiger‹ Welten durch eine Vorhut (Pionier-Figur) und die darauf folgende Rückkehr der Pioniere in die Gesellschaft mit der Kunde von fremden Weltteilen bzw. Weltanschauungen, die auf die Bekehrung der Mitmenschen abzielt, greift auf das Konzept der ›geistigen Kolonisation‹ der weltanschaulichen Kulturkritik der Jahrhundertwende zurück. Dem Rückgriff auf das Konzept der ›geistigen Kolonisation‹ über den Vergleich mit Expeditionen ins Innerste Afrikas und an den Pol tut es auch keinen Abbruch, dass diese Passagen sich auf die am Ende gescheiterte Weltanschauung des Spiritismus beziehen. Der Vergleich mit der Polarexpedition wird an anderer Stelle vom Erzähler wieder aufgegriffen: Bei der Arbeit bemerkte ich eine wachsende Unfähigkeit, scharfe logische Ketten zu verfolgen. Es war zweifellos nicht leicht, diese ganzen Studien jahrelang ohne Schaden an der Verstandeskraft fortzusetzten. Aber ich sagte mir, daß es sich eben um eine Polarfahrt handle, – wer erfror, erfror, die Wissenschaft schritt unentwegt über seine Leiche.1286

Die Pionier-Figur wird hier zusätzlich mit der Aufopferung für die Gesellschaft, die es ›geistig‹ zu ›kolonisieren‹ gilt, enggeführt. Darüber hinaus steht auch hinter der im voranstehenden Abschnitt herausgearbeiteten konkreten Wirkabsicht der Romane das kulturkritische Konzept der ›geistigen Kolonisation‹. Erinnert sei an dieser Stelle nicht nur an das Ende von Poperts Roman »Helmut Harringa«, der das Grundprinzip der Lebensreform narrativ ausgestaltet, von der breiten Wirkabsicht des Protagonisten erzählt und darin mündet, dass die Abstinenz-Bewegung umfassenden gesellschaftlichen Zuspruch erhält – und dessen Wirkabsicht insofern intradiegetisch vorausnimmt, was realhistorisch folgen soll. Auch die Abhandlung des Protagonisten in Frenssens »Hilligenlei« soll wie gezeigt über die Erzählung hinaus in die Lebenswelt der Leser hineinreichen, soll nichts weniger als die ›Grundlage deutscher Wiedergeburt‹1287 sein. Die Thematisierung der erkenntnisgenerierenden Funktion von (Weltanschauungs-)Kunst im Allgemeinen und Dichtung im Speziellen ist in diesem Zusammenhang die Bedingung der Möglichkeit nicht nur weltanschaulicher Klärung, sondern auch der anschließenden ›geistigen‹, der weltanschaulichen Kolonisation. Insofern partizipieren der Heimatkunst1285 Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 222/223. 1286 Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 324. 1287 Vgl. Frenssen: Hilligenlei, S. 484.

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roman im Speziellen – es sei auch daran erinnert, dass Heimatkunst wesentlich von Langbehn her zu verstehen ist, der das Konzept der ›geistigen Kolonisation‹ in den Kern seiner weltanschaulich-kulturkritischen Abhandlung gestellt hat – und der Weltanschauungsroman im Allgemeinen am Konzept der ›geistigen Kolonisation‹ Deutschlands. Bezieht sich der Rückgriff auf das Wortfeld Kolonie und Kolonisation in einem ersten Zugriff wesentlich auf dessen allein kulturkritische Bedeutungsdimension zur Zeit der Jahrhundertwende, greifen die Texte in einem zweiten Zugriff auch auf den doppelten, politischen und kulturkritischen Kolonie-Begriff zurück, wenn sie überseeische Territorien entweder als Ort der Erprobung alternativer Gesellschaftsformen oder aber als weltanschaulichen Rückzugsort adressieren. Bölsches »Mittagsgöttin« etwa weist Amerika die Funktion eines Ortes zu, an dem eine alternative Gesellschaftsform und Weltanschauung gelebt und forciert werden kann. Amerika ist zunächst der Ort, an dem – dies in wesentlich kulturkritischer Perspektive – für den Aufbau einer anderen Gesellschaftsordnung, genauer einer sozialistischen Gesellschaft, gekämpft werden kann. Beeinflusst von der Nationalökonomie1288, mit der der Graf noch in Deutschland an der Universität in Berührung kommt, fühlt er sich zunächst »[…] gerade durch die Seite der Doktrin angezogen, die streng genommen mit der Kapitalsherrschaft auch die Wurzeln meiner eigenen gesellschaftlichen Stellung untergrub. […] [M]it dem tieferen Eingehen auf soziale, ja nach und nach schon mehr sozialistische, einer bestimmten Partei sich nähernde Meinungen und Theorien fand ich mich auf einmal zwischen neuen Gesichtern, neuen Bekannten, kurz, der theoretische Weg floß sehr schnell mit dem praktischen zusammen. […]«1289

Ganz im Sinn kulturkritischen Denkens träumt der Graf nicht nur von »›[…] Erlösung der Welt durch eine riesenhafte, aber rein soziale That […]‹«1290, sondern setzt sich auch aktiv für die Umsetzung der neuen Gesellschaftsform ein. In dieser Zeit lebt er, um der »›[…] großen, heiligen Sache zu dienen […]‹«1291, unter »›[…] einfachem bürgerlichen Namen […]‹«1292 zunächst in Belgien und der Schweiz, schließlich für einige Jahre in den USA: »›Fünf Jahre des hoffnungsreichen Kampfes waren um. Ich lebte in Nordamerika, ein neuer Mensch [sic!]. […]‹«1293 Das überseeische Gebiet bietet dem Grafen und der sozialistischen Bewegung hier also ganz im Sinne der Semantik der Kulturkritik einen Raum des Kampfes für eine andere Gesellschaftsform. 1288 1289 1290 1291 1292 1293

Vgl. Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 58. Vgl. ebd., S. 58/59. Ebd., S. 59. Ebd., S. 59. Ebd., S. 59. Ebd., S. 60.

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Darüber hinaus durchläuft der Graf hier einen vollständigen ersten weltanschaulichen Klärungsprozess – vom Schüler und ›Jünger‹ über den weltanschaulich gefestigten ›Apostel‹ bis hin zum Zweifler und zur Aufgabe der sozialistischen Weltanschauung: »[…] Und hier beginnt eine sonderbare Leidensgeschichte von fast zehn Jahren, der Roman des Aristokraten, der sozialistischer Schriftsteller, sozialistischer Redner, sozialistischer Führer wurde, der sich zuerst als begeisterter Schüler, dann als ehrgeiziger Apostel, zuletzt als Narr, als Zweifler, in gewissem Sinne als Apostat erwies. […]«1294

Amerika hat insofern nicht nur die Funktion eines Raumes für die Erprobung einer anderen Gesellschaftsform, es ermöglicht damit zugleich die Erprobung der zugrundeliegenden Weltanschauung nicht nur im geistigen Sinn, sondern auch im Abgleich mit der Lebenswelt. Für den Grafen besteht die sozialistische Weltanschauung den Realitätscheck nicht, wird vielmehr in ihren Grundfesten erschüttert: »[…] An jedem hellen Sonnenmorgen, der mir nach solcher Nacht [des Notrufs an die Sterne, sic!] heraufstieg, festigte sich in mir der Gedanke tiefer : hier liegt ein Problem, noch schwerer als alle sozialen Dinge, und ist alle sozialistische Hoffnung lautere Wahrheit: kein endgiltiger Trost wird selbst jenen kommenden, materiell glückseligen Geschlechtern zu teil, wenn zu dem grauenhaften Bilde einer seelenlosen Natur, die den Gerechten wie den Ungerechten zermalmt oder erhebt in vollkommener Willkür, keine Erlösung tritt, – das Geschlecht, das wir säen, das Geschlecht, in dem jeder unterschiedslos zu essen und zu atmen hat, wird ohne diese andere Erlösung in Wahrheit elender, weil wissender sein als alle zuvor, über dem befriedigten Magen wird der sehnende, hungernde Geist sich erheben, ruhelos, freudlos, die Welt, die wir träumen, wird auch wieder nur eine Marterkammer sein, wie es unsere ist.«1295

Auf den weltanschaulichen Bildungsprozess, der sich für den Grafen wie für den Erzähler der »Mittagsgöttin« anschließt, sowie die unterschiedlichen Konsequenzen, die beide Figuren aus dem Scheitern der spiritistischen Weltanschauung ziehen, wurde eingegangen. Während nun die sozialistische Weltanschauungsphase des Grafen aus guten Gründen in Übersee situiert wird, kann die spiritistische, sprich auf Erlösung von der transzendenten Obdachlosigkeit der Moderne abzielende Weltanschauungsphase im zwar abgeschiedenen Schloss des Grafen, aber doch auch innerhalb der bestehenden europäischen Gesellschaftsordnung einer praktischen Erprobung unterzogen werden. Hier handelt es sich insofern nicht um äußere ›Kolonien‹, wohl aber – ist doch der Rückzug von der Moderne Bedingung der Möglichkeit weltanschaulicher Klärung – um eine ›innere Kolonie‹. Sprachlich wird dies über den Vergleich des innerdeutschen Rückzugsortes mit überseeischen Gebieten realisiert: 1294 Ebd., S. 59. 1295 Ebd., S. 63/64.

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Immerhin, mochten die Mysterien des Ortes noch so verrückt sein: einen schöneren Tempelhain hätte man sich dazu nicht ausersehen können. Der alte Gartenkünstler, der hier gewaltet, hatte sein Meisterstück in Verwertung des sumpfigen Urwaldterrains geleistet, und wenn der Park vielleicht ein Fiebernest war, so war er wenigstens ein Paradies für den Augenblick.1296

Der Spreewald ist hier ein Gebiet, das kolonisiert wurde, das von Urwald in Kulturlandschaft verwandelt, das ein »Fiebernest« gleich den Tropen gewesen, das nun ein Paradies geworden ist. In anderen Weltanschauungstexten haben überseeische Gebiete gemeinhin die Funktion eines Fluchtortes, wenn (politische) Weltanschauung und Staatsgewalt in Europa zu Konflikten führen: Scheitert das Projekt der ›geistigen Kolonisation‹ in Deutschland, so bieten die überseeischen Gebiete den Protagonisten der Weltanschauungsromane immer noch einen Rückzugsort, an dem die eigene Weltanschauung gelebt und verbreitet werden kann. In Keyserlings »Dritter Stiege« etwa wird Australien zur letzten Fluchtmöglichkeit für die Figur des Branisch, sofern er seine politische Weltanschauung weiter offen vertreten will: »›[…] Branisch wird an hinabgewürgtem Thatendrang ersticken. Er spricht schon von Australien. […]‹«, berichtet Lippsen nach der Auflösung der Redaktion, die der Staat von Spitzeln hatte überwachen lassen. In ähnlicher Funktion greift Paul Ernst in »Der schmale Weg zum Glück« Amerika auf: Die Figur des politisch verfolgten Weiland beschließt hier, »daß er Deutschland gänzlich verlassen wollte und nach Amerika gehen, um in eine gänzlich neue Umgebung zu kommen und hier durch die Arbeit der Anpassung vielleicht neuen Sinn zu kriegen«1297. In Amerika angekommen, arbeitet sich der ehrgeizige Wieland schnell hoch und heiratet eine Amerikanerin, »und so bereitete er mit die neue Gesellschaft vor, die freilich ganz andrer Art ist wie die einst von ihm geträumte, und die einmal unbarmherzig Krieg führen wird gegen uns Altväterische.«1298 Amerika kommt hier eine doppelte Funktion zu: Es ist zugleich Zufluchtsort für in Deutschland nicht geduldete politische Weltanschauungen wie es auch die Funktion eines fast utopischen Raumes hat, in dem ergänzend zu den kulturkritischen Einwänden gegen die Moderne eine inhaltlich wie auch immer geartete alternative Gesellschaftsform aufgebaut und erprobt werden kann.1299 In der ebenfalls als Weltanschauungsdichtung zu verstehenden Heimatliteratur spielt insbesondere in den Werken Gustav Frenssens Afrika immer wieder eine wichtige Rolle – zunächst, dies unter den Vorzeichen einer gemeinschaft1296 1297 1298 1299

Ebd., S. 97. Ernst: Der schmale Weg zum Glück, S. 277. Ebd., S. 280. An dieser Stelle ist Amerika allerdings erkennbar ambivalent gezeichnet.

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lichen Sozialform, schlicht als konkrete Bezugnahme auf überseeische Gebiete. Am deutlichsten greift sein Roman »Hilligenlei« auf das therapeutische Moment des Narrativs der Re-Vergemeinschaftung in Übersee zurück: Deutsch-Südwestafrika bietet dem auf dem Land aufgewachsenen Protagonisten Kai Jans nach einem Aufenthalt in der modernen Großstadt die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen und der Reizüberflutung der Moderne zu entkommen. Die moderne Großstadt und Südafrika werden als Gegenpole explizit aufeinander bezogen: Kai Jans schrieb aus Berlin, daß er zwar angefangen hätte, an seinem Buch zu arbeiten. Aber die viele Einzelnot, die er täglich so dicht bei sich und rund um sich sähe, hielte ihn zurück, daß er fröhlich und frei ins Weite sehen und denken könnte. […] Zuweilen habe er Neigung, mit seinem Freunde eine Studienreise zu machen, die nach Südafrika gehen sollte. Vielleicht daß er in dem weiten, fremden Land, auf dieser jahrelangen, mühseligen Reise ein Reifer und Ruhiger werde.1300

Doch Afrika bietet in diesem Roman noch mehr. Das eigentliche Problem des Protagonisten ist, dass er keinen elterlichen Hof übernehmen kann. Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass aus Kai Jans etwas geworden wäre, wäre er mit dem Land verwachsen gewesen, und dass er besser nach Südafrika als nach Berlin gegangen wäre. Der Protagonist selbst stellt die Diagnose, dass das Kranken an der Moderne ein Kranken an der Landlosigkeit ist: [Kai Jans] lag vor den Kindern [der Großstadt] auf den Knieen und streichelte sie: »Die Menschen haben die Schuld; sie wollten eurem Großvater und Vater kein Land geben; sonst wäret ihr ernste Bauern geworden. Sie gönnen euch nicht einmal eine Stelle zum stehen; von Mutter Erde heben sie euch weg, drei vier Stockwerke hoch, da dulden sie euch. Der Mensch aber, der nicht in der Erde wächst, der Mensch ohne Land, ist verwirrt und verweht.« Er weinte laut auf.1301

Bezeichnenderweise erhält er direkt im Anschluss das Angebot, nach Südafrika zu gehen. Die Kolonien bieten, was in Europa nicht mehr verfügbar ist: Sie gestatten den größtmöglichen Rückzug von der Moderne und sie bieten Land im Überfluss. Auch »Jörn Uhl« nimmt ganz konkret auf überseeische Gebiete Bezug: Der Roman enthält einen zehnseitigen Exkurs1302, der auf den ersten Blick in keinem ersichtlichen inhaltlichen Zusammenhang zum Rest der Handlung steht: Inhaltlich wird hier beschrieben, wie der Sohn einer vor Jahrzehnten nach Südafrika ausgewanderten Familie nach Deutschland zurückkehrt, um sich eine Frau zu suchen, die er nach Afrika heimführen kann. Dort leben sie, so der Ausblick am Ende des Exkurses, glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage. Weder besagte Auswandererfamilie, noch die Braut spielen für den Rest des 1300 Frenssen: Hilligenlei, S. 403/404. 1301 Ebd., S. 427. 1302 Vgl. Frenssen: Jörn Uhl, S. 236–247.

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Romans auch nur irgendeine Rolle. Der einzige Berührungspunkt ist, dass sich Braut und Bräutigam während eines Dorffests begegnen und verloben, auf dem neben fast allen Dorfbewohnern auch Jörn Uhls Schwester Elsbe tanzt. Die Funktion dieser Passage ist eine doppelte: Erstens trifft der vor 20 Jahren als zehnjähriges Kind ausgewanderte Besucher mit dem Blick eines in der Abgeschiedenheit Afrikas lebenden und somit von den Modernisierungsprozessen der Gründerzeit unberührt gebliebenen Bauern auf das norddeutsche Dorf. Mit Irritation reagiert der Rückkehrer auf das Sozialverhalten im Dorf, auf die Festivitäten. Er wählt schließlich diejenige Frau zur Braut, die normalerweise völlig zurückgezogen [sic!] lebt und infolgedessen von der zunehmenden Vergnügungssucht der Dorfbewohner unberührt gebliebenen ist. »Du paßt sehr gut zu den Meinen. Du mußt mit mir gehen«1303, lautet das Fazit des Rückkehrers. Die Perspektive des Rückkehrers, der in Afrika von den gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Entwicklungen im Europa der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unberührt geblieben ist, ermöglicht die schonungslose Offenlegung der negativen Auswirkungen der Moderne und ihrer in der Perspektive der Heimatkunst zersetzenden Kräfte auch auf das Sozialmodell Dorf. Zweitens verkörpert dieser Besucher die Utopie der Re-Vergemeinschaftung: Sein Bericht an die potentielle Braut vom Leben in Südafrika macht deutlich, dass dort die von der Heimatkunst idealisierte vorindustrielle, agrarische Gemeinschaft noch intakt ist, weil sie von der Moderne und ihren zersetzenden Einflüssen auf das Dorfleben weit entfernt ist. Vor diesem Hintergrund ist dann das Ende des Romans, der Rückzug des Protagonisten auf den Erbhof der Mutter, als Rückzug von der Moderne gelesen werden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Raumdarstellung des Romans – obwohl oder gerade weil dieser Roman nicht in Übersee situiert ist. Auch dieser Erzähltext kennt drei verschiedene Orte: Das ist zunächst die moderne Großstadt, dann das Dorf und die Uhl, der Hof von Jörn Uhls Vater, und schließlich, nur nach langem Weg durch Heide und Wälder erreichbar, da weit abseits gelegen, der Hof von Thieß Thiessen, der Erbhof der Familie mütterlicherseits: »So«, sagte Elsbe, als die Jungen oben auf der Heide angekommen waren, »nun man zu! Wohin nun, Fiete?« »Immer der Nase nach!« sagte Fiete Krey. »Wir wollen auf den Baum da zugehen.« Und er deutete auf einen Baum ganz fern am Horizont. Unbegreiflich ist ihnen, und es ist Fiete Kreys großer Ruhm, daß sie immer, obgleich sie so ins Geratewohl hineingehen, erst über die weglose Heide, dann durch den Wald, wo sie ihn gerade treffen, doch immer bei Thieß Thiessen ankommen, der irgendwo hinter 1303 Ebd., S. 244; es ist dies zugleich die Diskursfigur kolonialer Tauglichkeit wie grundsätzlicher Gemeinschaftsfähigkeit.

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dem Walde im Moor wohnt. Daß sie nicht zu Menschenfressern kommen! Oder in die Raubhöhle geraten, die es noch immer im nördlichen Teile des Waldes giebt! … […] Ja, nun war es wie immer. Wenn sie in den Wald hinein mußten, hatte er sie glücklich so weit gebracht, daß die Mädchen in großer Angst hineingingen und selbst Jörn unsicher war. […] Endlich schien die Helle des freien Feldes vor ihnen durch die Stämme. »Nun lauft!« sagte Fiete. Und so rasch sie konnten, liefen sie zwischen den Stämmen durch, erreichten den freien Weg, sahen den Heeshof unten im Moore liegen und schrieen und riefen und winkten mit Mützen und Taschentüchern.1304

In der Wahrnehmung der Kinder ist der Weg fort von der Heimat ins ›Landesinnere‹ ein Abenteuer, eine Erkundung unbekannter Wege, deren Beschreibung nicht nur an den ebenso abenteuerlichen wie beschwerlichen Weg ins Landesinnere erinnert, sondern darüber hinaus nicht von ungefähr den Verweis auf »Menschenfresser« enthält. Damit wird der Rückzug des Protagonisten auf den Hof des Onkels am Ende des Romans systematisch vorbereitet: Während das Dorf von der Moderne berührt ist und die Uhl aufgrund von Alkohol- und Spielsucht des Vaters und der Brüder verloren geht, ist die Welt in der totalen Abgeschiedenheit des mütterlichen Hofes noch in Ordnung. Nach dem Verlust der Uhl zieht sich Jörn Uhl zurück ins ›Landesinnere‹ und wird dort – vergleichbar dem Afrika-Auswanderer – in aller Abgeschiedenheit glücklich. Es lässt sich also ein ganz ähnliches Raumschema wie jenes im Überseeroman festhalten – mit einem Unterschied: Statt des Rückzugs von der Moderne nach außen wie in der deutschen Überseeliteratur findet hier ein Rückzug nach innen, zu den noch weitestgehend unberührten Landstrichen statt. Im Übrigen sind koloniale »Fremde« und Heimat kein Widerspruch, sondern fallen vielmehr zusammen. So verkörpert die Figur des Thieß Thiessen den ›sitzengebliebenen Weltenbummler‹ (»›[…]Ich, der ich am liebsten eine Fußtour durch Rußland über China nach Bangkok gemacht hätte, bin hier auf dem Heeshof sitzen geblieben und habe nicht einmal Hamburg, ja nicht einmal Rendsburg gesehen. […]‹«1305), der zwar einerseits von der Fremde träumt1306, andererseits aber,

1304 Ebd., S. 62–66. 1305 Ebd., S. 69. 1306 Thieß Thiessen stillt den Hunger nach der Fremde über Bücher : »Ein Stapel von Büchern lag auf den Stühlen. Hier machte Thieß Thiessen seine weiten Reisen und stillte seinen Hunger nach der Fremde. Er zeigte ihnen in einem kurzen Vortrage, wie er in dieser Woche mit Livingstone durch Mittelafrika an manchem Nachtfeuer gesessen und von getrocknetem Ziegenfleisch sich mühselig genährt hatte. Er nahm das Buch her und las ihnen den Höhepunkt der Reise vor, die Stelle, wo der englische Missionar und der Forscher den Friedensvertrag mit dem schrecklich wilden Negerkönig schließt. Er hatte die Hände erhoben und las mit feierlich getragener Stimme.« (Ebd., S. 76).

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sobald er auch nur seinen Hof1307 verlässt, tief unglücklich ist.1308 Schließlich wird dem Rückzug auf den Hof des Onkels dieselbe therapeutische Wirkung in Bezug auf die Moderne zugesprochen wie dem Gang in die Kolonie: Jörn Uhl vertraut seine Schwester Elsbe, nachdem diese sich einige Kapriolen geleistet hat, dem Onkel an: »Lieber Thieß! Ich thu’ Dir zu wissen, daß ich Elsbe heute nachmittag zu Dir schicke, denn ich will nicht, daß sie hier ins Unglück kommt; sie soll einen ordentlichen Kerl heiraten, einerlei was, auch einen Knecht. Ich wollte wohl selbst aufpassen wie ein Hühnerhund; aber die Nacht ist lang und schwarz, und ich schlafe fest. Und ihre Zeit ist gekommen. Du weißt ja, wie es auf dem Hofe hergeht, wenn es nahe am Maitag ist: der ganze Stall ist in Unruhe. Also bringe ich sie lieber auf eine andere Weide, und du bekommst die Aufsicht. Paß gut auf! Laß sie in der Stube nebenan schlafen oder in Deiner Stube. Du kannst das Bett unter Afrika stellen. Jürgen Uhl.«1309

Mit »Afrika« ist auf der Ebene des Inhalts die Wandbemalung des Onkels gemeint (»Auf den Wänden waren von oben bis unten mit starken Blaustiftlinien die fünf Weltteile und die beiden Halbkugeln der Erde gezeichnet.«1310); zugleich figuriert Afrika als Symbol jener therapeutischen Wirkung des Rückzugs von der modernen Gesellschaft.

IV.4 »[W]o kein Erzählen mehr hilft«1311. Paradoxien (kolonialer) Weltanschauungsromane und ihre literarische Reflexion IV.4.1 Weltanschauliches Scheitern, narratives Scheitern. Inhaltliche und erzählerische Probleme (überseeischer) Weltanschauungsromane Weltanschauliche Kulturkritik ist, wie gezeigt, in vielfacher Hinsicht durch innere Widersprüche gekennzeichnet, die sie nicht aufzulösen vermag.1312 Es ist insofern wenig überraschend, dass auch die Erlösungslehren des weltanschau1307 Thieß Thiessen und sein Hof haben ein symbiotisches Verhältnis zueinander ; vgl. ebd., S. 71/72: »Das Haus, in dem Thieß Thiessen fast sein ganzes Leben zugebracht hatte, und der Kopf, den Thieß Thiessen auf den Schultern trug, hatten eine unzweifelhafte Ähnlichkeit miteinander. Unaufgeklärt blieb allerdings für alle Zeiten, wer sich nach dem anderen gerichtet hatte […].« 1308 Vgl. ebd., S. 251. 1309 Ebd., S. 221. 1310 Ebd., S. 76. 1311 Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 71. 1312 Vgl. Abschnitt III.2.4 »›Zu beweisen ist hier nichts; nur zu fühlen‹. Zu den Paradoxien weltanschaulicher Kulturkritik und zur Funktion des Koloniebegriffs« in dieser Arbeit.

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lich-kulturkritischen Romans im Allgemeinen und des weltanschaulich-kulturkritischen Überseeromans im Speziellen in vielfacher Hinsicht ausgesprochen problembehaftet sind. Mehr noch: Da sie im Gegensatz zu den auf die Gegenwart bezogenen kulturkritischen Diagnosen den Fokus genau auf die ›Therapie‹, auf die Entwicklung eines alternativen Modells legen und dieses narrativ ausgestalten müssen, mithin den Anfangspunkt selbst ebenso wie die weitere Entwicklung der neuen Gesellschaftsordnung genauer in den Blick nehmen müssen als die wesentlich auf die negativen Gegenwartsdiagnosen bezogenen kulturkritischen Texte, kommen die inneren Spannungen der Projekte hier in besonderem Maße zum Tragen. Vom Widerstreit zwischen kolonialer Moderne und kulturkritischen Alternativentwürfen. Paradoxien ›kolonialliterarischer‹ Erlösungslehren Das gilt zunächst für das zugrunde liegende Zeitverständnis, das sich aus der Kulturkritik ableitet. Mit ihrem Rückgriff auf das triadische Geschichtsmodell sind auch die fiktionalen Texte konstitutiv dem zukunftsoffenen Geschichtsverständnis der Moderne verpflichtet. Gleichzeitig wollen sie, wie schon weltanschauliche Kulturkritik im Allgemeine, letztgültige Gesellschaftsmodelle schreiben, Gesellschaftsentwicklung mithin gerade feststellen – auch die Literatur ist insofern durch zwei widerstreitende Zeit-Konzeptionen gekennzeichnet. Über die problematische Zielvorstellung hinaus kommen dann die Anfangs- und die Entwicklungsproblematik kulturoptimistischer Alternativentwürfe in der fiktionalen Literatur in besonderem Maße zum Tragen. Das gilt insbesondere für den weltanschaulichen Überseeroman. Die Kolonie ist hier zunächst Mittel zum Zweck, um mehr schlecht als recht einen Anfangspunkt imaginieren zu können, einen Nullpunkt der Entwicklung: Der maximale Rückzug von der Moderne ist hier die Bedingung der Möglichkeit einer neuen Gesellschaft. Die raumutopischen Anteile der Texte – das Beispiel Friede Krazes und ihre Imagination der ›Urhütte‹ als Ausgangspunkt einer neuen Gesellschaftsordnung in »Heim Neuland« verdeutlicht dies – ermöglichen zunächst ein naives ›zurück zur Natur‹. Nicht umsonst ist die sogenannte deutsche Kolonialliteratur als Erweiterung der sogenannten Heimatliteratur gelesen worden: Ist die Heimat von der Moderne berührt, geht an die Moderne verloren, bietet die Kolonie (noch) einen von der Moderne unberührten Ort. Der Gestus ist vergleichbar dem von Theodor Fritsch, der seine Gartenstadt-Kolonie einfach weiter von der modernen Großstadt abrückt als die bestehenden Villenkolonien, lediglich die räumliche Distanz wird im Überseeroman noch einmal vergrößert, ins Maximale erweitert. Wie schon in der weltanschaulichen Kulturkritik wird nun auch hier nicht genügend reflektiert, dass es ein Außerhalb der Gesellschaft auch in der äußersten Peripherie nicht geben kann, geschweige denn, dass ein ursprünglicher

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›Naturzustand‹ selbst bloße Imagination ist. Das aber führt in der Folge zu weiteren logischen Problemen. Aus der Anfangsproblematik ergibt sich zwingend die Entwicklungsproblematik: Der literarische Text muss ausgehend vom imaginierten Anfangspunkt dann auch die Weiterentwicklung narrativ ausgestalten. Das aber bedeutet, dass die Texte eine Antwort darauf finden müssten, weshalb der Alternativentwurf zur Moderne nicht auch in der äußersten Peripherie immer schon davon bedroht sein sollte, von der Moderne eingeholt zu werden, oder sich gar selbst in einem zweiten Modernisierungsprozess wieder zur Moderne zu entwickeln. Die Gefahr gesellschaftlicher und ökonomischer Moderne in der Kolonie verdichtet sich dann zwar wie dargelegt in der Diskursfigur des Tropenkollers. Nur wenig überzeugend vermag die Überseeliteratur das Problem gesellschaftlicher und ökonomischer Moderne in der Kolonie durch die Wiedereinführung vormoderner Schicksalshaftigkeit über die Diskursfigur des Kriegs als Katharsis zu lösen: Auch der Überseeroman schafft es nicht, plausibel darzulegen, weshalb die Moderne nicht auch die äußerste Kolonie erreichen sollte. Nicht nur die zeitliche Anlage der Texte, auch die räumliche ist im weltanschaulich-kulturkritischen Überseeroman durch zwei widerstreitende Konzepte gekennzeichnet. Die inneren Widersprüche ergeben sich hier aus dem Verhältnis der machtpolitischen zur kulturkritischen Dimension der Texte. Einerseits rückt die Literatur die Kolonien vor dem Hintergrund der technischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts als Voraussetzung der systematischen Bemächtigung fremder Territorien gerade an Europa heran, der Raum wird erreichbar. Zugleich dient die Kolonie in kulturkritischer Perspektive dem Rückzug von der Moderne – es ist gerade die räumliche Entfernung und Trennung, die Bedingung der Möglichkeit des gesellschaftlichen und ökonomischen Alternativentwurfes zur Moderne ist. Diese beiden Raum-Bewegungen stehen in einem permanenten Spannungsverhältnis zueinander, das die Texte nicht aufzulösen vermögen. Die inneren Widersprüche der Raumkonzeption der Überseeliteratur verweisen zugleich auf ein übergeordnetes Paradoxon des weltanschaulich-kulturkritischen Überseeromans, nämlich das permanente Spannungsverhältnis aus kolonialer Moderne und kulturkritischer Moderne-Kritik: Die kulturkritische, anti-moderne Bedeutungsdimension der Texte ist als Bedingung ihrer Möglichkeit an die machtpolitische Expansion und damit an die (koloniale) Moderne gebunden, die es unter Rückgriff auf dieselbe gerade zu überwinden gilt – aus diesem inneren Widerspruch vermag sie sich nicht zu lösen. Ein weiteres Paradoxon, das in der Folge den kulturkritischen Gesamtentwurf unterläuft, leitet sich aus der Engführung von Nervositäts-1313 und Rassediskurs 1313 Vgl. hierzu schon früh die Arbeiten von Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München/Wien 1998; ders.: Die wilhelmi-

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ab – es ist dies ein Spezifikum gerade der Erlösungslehren des in Übersee situierten weltanschaulich-kulturkritischen Romans. Die indigene Bevölkerung wird, anschließend an den Sozialdarwinismus, zunächst als auf einer Vorstufe der Zivilisation stehend dargestellt. In der Literatur werden erwachsene Afrikaner wie dargelegt in der Regel mit europäischen Kindern verglichen1314, die indigene Bevölkerung wird unter Rückgriff auf sozialdarwinistische Vorstellungen und die Basisdichotomie Kultur versus Natur – »›[…] Glauben Sie mir, der Neger ist als Tropenprodukt verweichlichter als jeder Kulturmensch gemäßigter Zonen […]. Ein Volk, das keiner Kultur fähig, ist auch keines wirklichen Erfassens einer Idee fähig! […]‹«1315 – als auf der Kindheitsstufe der Menschheitsentwicklung stehend wahrgenommen. Aus dieser Argumentation wird bekanntlich die sogenannte ›Zivilisierungsmission‹, die ›white man’s burden‹, abgeleitet: Es gehe darum, »der Zivilisation die Wege zu ebnen«1316, formuliert es etwa Benkard. Die Charakterisierung der Europäer als ›Kulturvolk‹ erfolgt über die Zuweisung der Vernunft hinaus maßgeblich über das Merkmal der Nervosität1317, wohingegen Afrikaner als ›Naturvolk‹ diese (noch) nicht kennen, vielmehr unverbrauchte Nerven haben – hier werden Nervositäts- und Rassediskurs mithin enggeführt: Dieses glücklichste Volk, das von der Hand in den Mund lebt, dem die Arbeit zum Spiel wird und die Nacht zum Freudenfest, dessen unverbrauchte Nerven es gegen tausend Leiden, die dem Kulturmenschen Qual bereiten, ganz unempfindlich macht! Nicht diese fröhlich spielenden und genießenden Naturkinder sind zu bemitleiden, sondern wir.1318

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nische Ära als nervöses Zeitalter, oder : Die Nerven als Netz zwischen Tempo- und Körpergeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft. 20. Jahrgang, Heft 2: Sozialgeschichtliche Probleme des Kaiserreiches. April – Juni 1994. S. 211–241; daneben Link-Heer, Ursula: Nervosität und Moderne. In: Gerhart von Graevenitz (Hrsg.): Konzepte der Moderne. Stuttgart 1999, S. 102–119. Vgl. etwa Bülow : Tropenkoller, S. 59. Holm: Ovita, S. 188/189. Benkard: Unter deutschen Palmen, Erster Band, S. 5. Vgl. beispielsweise Bülow : Tropenkoller, S. 12, S. 19, S. 54 usf. Nervosität dient grundsätzlich als Kennzeichen einer höheren kulturellen Entwicklungsstufe, wird in der Überseeliteratur aber unterschiedlich bewertet. Während beispielsweise in Orla Holms »Ovita« die Nervosität Ina von Keßlers und Dr. Nielsens negative Folge der Moderne ist und die Figuren wie dargelegt eliminiert werden, ist sie etwa bei Frieda von Bülow ›nur‹ unvermeidliches Kennzeichen des modernen Kulturmenschen, der Zivilisation (vgl. etwa Bülow : Im Lande der Verheißung, S. 152). Dies steht im Einklang mit den verschiedenen Richtungen, in die sich der Nervositätsdiskurs entwickelt: Zum einen wird Nervenschwäche in Folge der Degenerationsängste der Zeit als eine mehr oder weniger hoffnungslose Verfallserscheinung aufgefasst (vgl. Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, S. 264). Anders der zweite Trend, der ein kulturoptimistischer ist. Er begreift Nervosität als eine »im Kern gutartige Störung ohne körperliche Ursachen, die auf psychischem Weg, insbesondere durch Willensschulung, zu überwinden sei.« (Vgl. ebd., S. 264). Bülow : Tropenkoller, S. 20.

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Genau hier liegt nun das grundlegende Paradoxon kulturkritischer Überseeromane begründet: Der moderne Kulturmensch krankt an der (Über-)Zivilisation, deren Kennzeichen seine Nervosität ist. Zugleich bewundert er die Nerven der indigenen Bevölkerung – ohne auf die Idee zu kommen, dass die indigene Bevölkerung ihrerseits als Vorbild dienen könnte, dass der Europäer sich an ihr ein Beispiel nehmen sollte. Diese Grundspannung ist im Übrigen bereits dem Nervositätsdiskurs selbst inhärent – schon der Begründer der Neurasthenie, der amerikanische Neurologe George Beard, beschreibt die Indianersquaw als ein Kontrastbild zur modernen weißen Amerikanerin1319 : Er vergleicht sie mit einem »Mühlwehr« an einem großen Teich, »in welchem der Zu- und Abfluß des Wassers stets einander folgen und die Kraft, das Mühlrad zu treiben, infolgedessen nie versiegt«. Die Neurasthenikerin dagegen gleiche einem Mühlwehr mit kleinem Reservoir und raschem Abfluß.1320

Erkennbar wird Neurasthenie bzw. Nervosität hier in Abgrenzung zu den indigenen Völkern Amerikas zum Kennzeichen der Kulturvölker. Schon bei Beard jedoch stehen die negativ bewertete Nervosität und die gleichzeitige Abwertung indigener Völker in einem Grundwiderspruch: Statt sich also ein Beispiel an den ›glücklichen‹ und nervenstarken indigenen Bevölkerungen zu nehmen, soll diesen – das verdichtet sich in der Diskursfigur der ›Hebung‹ – die verhasste moderne Zivilisation gerade gebracht werden.1321 Die Kolonie ist also gleichermaßen Ort der Regeneration von der modernen Zivilisation wie er Ort der Entwicklung derselben ist. Dieses Problem kann der kulturkritische Überseeroman nicht nur nicht verdecken – es stellt in letzter Konsequenz das gesamte Programm in Frage.

Erzählen von Anderem. Narratives Scheitern des Weltanschauungsromans Nicht nur der weltanschauliche Überseeroman im Speziellen, auch der Weltanschauungsroman im Allgemeinen ist auf der Ebene des Inhalts durch inhärente Paradoxien gekennzeichnet. Zunächst gilt für ihn dasselbe, was mit Blick auf die Anfangs-, Entwicklungs- und Zielproblematik für den weltanschaulichen Überseeroman gilt: Auch hier stehen zwei Zeitmodelle in einem inneren Wi1319 Vgl. Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, S. 52. 1320 Ebd., S. 52, nach: Beard, Sexuelle Neurasthenie, S. 29ff., in: ders., Amer. Nervousness. S. 100f. Fn. 1321 Vgl. schon Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, S. 52: »Es fällt Beard jedoch nicht ein, in der Logik dieser Ausführungen die Indianerfrau als Vorbild hinzustellen; im Gegenteil, er perhorresziert ihre vermeintliche Rohheit, die sie im Streit mit ihrem Mann handgreiflich werden lasse, und preist die Zartheit und Sensibilität der nervösen weißen Amerikanerin.«

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derspruch zueinander, auch hier ist die Frage der Absonderung und der potentiellen Einholbarkeit des Alternativentwurfes durch die Moderne ungelöst. Darüber hinaus erzählt der Weltanschauungsroman, dessen inhaltliches Gewicht weniger als im weltanschaulichen Überseeroman auf dem Absonderungsgedanken als stärker auf der auch inhaltlichen Ausgestaltung des weltanschaulichen Klärungsprozesses liegt, bei genauerem Hinsehen im Grunde gar nicht das, was er vorgibt zu erzählen. Was er erzählt ist vielmehr – und zwar mehrheitlich ohne dies zu intendieren und auch ohne es selbst zu durchschauen – gerade das Scheitern des weltanschaulichen Klärungsprozesses. So machen die Protagonisten der Weltanschauungsdichtung erstens in der Regel gerade keine echte Entwicklung durch. Zwar müssen sie sich – hier schließt die Weltanschauungsdichtung tatsächlich an das Bildungsromanschema an – mit ihrer Umwelt, genauer der Moderne, auseinandersetzen, tatsächlich hat diese aber keinen nennenswerten Einfluss auf das Individuum, ist der Zielpunkt des weltanschaulichen Bildungsprozesses ausschließlich die Rückbesinnung auf das, was im Individuum von Geburt an vorhanden war. Paul Ernsts Hans Werther etwa durchläuft gerade keine Entwicklung, sondern kehrt nach einer Phase der Verirrung zu alten Werten und Lebensformen zurück.1322 Vergleichbar funktioniert sowohl die (nicht-)Entwicklung von Carl Hauptmanns Einhart, der der Kunstanschauung der Akademie lediglich zu Zwecken der Selbstvergewisserung, nicht der eigentlichen Entwicklung ausgesetzt wird, und von Felix Hollaenders Thomas Truck. Unmittelbar nach seiner endgültigen weltanschaulichen Klärung erkennt Bettina in ihm genau den Menschen wieder, der er in ihrer gemeinsamen Kindheit gewesen war : »Das war der Thomas, dem sie als Kind im Garten zugejubelt und Kränze ins Haar geflochten. Das war der Thomas, an dem sie mit wehem Herzen all die Jahre gehangen hatte.«1323 Auch hier hat keine echte Entwicklung stattgefunden. Zweitens ist die Phase, in der die Protagonisten in der modernen Großstadt Weltanschauungsangebote erhalten, die erste Phase der weltanschaulichen Klärung, eine Phase des weltanschaulichen Scheiterns – als solche ist sie im auf dem triadischen Geschichtsmodell basierenden Narrativ auch angelegt, das ausgehend vom festen, unproblematisierten Standpunkt der Vormoderne der modernen Großstadt gleichermaßen transzendente Obdachlosigkeit und heterogene Weltanschauungsangebote zuordnet, um in einem dritten Schritt nach Abschluss des Klärungsprozesses den festen Standpunkt zu erreichen. Entsprechend scheitern die Protagonisten der Weltanschauungsromane zunächst in der Stadt an ihren weltanschaulichen Projekten: Carl Hauptmanns Einhart 1322 Vgl. hierzu schon Schönert: Der schmale Weg zum Glück und die Tradition des Bildungsromans, hier etwa S. 20 und S. 30. 1323 Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 369.

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scheitert an der Akademie; Felix Hollaenders Thomas Truck gründet während der vermeintlichen ersten Klärung eine Zeitschrift, die am Ende des Romans aufgegeben wird; Paul Ernsts Hans Werther ist gar einer Vielzahl unterschiedlicher, zum Scheitern verurteilter Weltanschauungen ausgesetzt. Vor allem aber wird drittens die vermeintliche weltanschauliche Klärung am Ende der Romane deutlich überlagert durch den Rückzug ins Private, den Rückzug in das individuelle Eheglück, die Abkehr von der Welt und damit auch von den Problemen der Moderne. Hans Werther findet nach der Phase weltanschaulicher Verirrung sein individuelles Glück – er und seine künftige Frau Maria sind »zu dem Punkt gekommen, wo die Liebe das größte Glück für sie werden mußte, denn die zeigte [ihnen] ein Ziel und Ende des Lebens.«1324 Und so »war [es], als ob alles Glück, nach dem sie sich vergeblich gesehnt, so lange Jahre, jedes allein für sich, als ob das aufgesammelt gewesen sei und nun auf sie herniederregnete«1325. Dahingegen sind all jene Figuren des Romans, die ihr Glück außerhalb der privaten Sphäre in Weltanschauungsangeboten suchen, zum Scheitern verurteilt – Weiland etwa verspielt aufgrund seiner weltanschaulichen Ansichten das individuelle Eheglück. Hans Werthers individuelles Glück ist dabei nicht an die Ehe allein, sondern zugleich an das Ideal eines vormodernen, arbeitsamen Lebens gebunden: Hans und Maria »glaubten, daß wir nur glücklich sein können in einer angestrengten Arbeit, die einen Erfolg hat.«1326 Hans übernimmt die Verwaltung der Herrschaft, für die schon sein Vater gearbeitet hatte und die zwischenzeitlich durch moderne Wirtschaftsformen herabgewirtschaftet wurde, und will diese wieder rentabel machen – nach vormoderner, auf Beständigkeit abzielender Art und Weise: Deshalb forstete er auch nicht mit Kiefern auf, wo Buchen abgetrieben waren, denn er wollte, daß wieder Buchen wuchsen, wo Buchen gestanden hatten; wenn er alte Bäume mußte schlagen lassen, so war es ihm, als müsse ihm das Herz bluten, und nur, weil er doch Einnahmen wegen der Zinsen nötig brauchte, ließ er abtreiben; dann schlief er nachts nicht, ging ans Fenster und sah im Mondschein seufzend über den stillen Wald hin; mit Freuden aber ließ er jungen Bestand ausholzen, wo Licht und Luft geschaffen werden mußten für die Bäumchen.1327

Es ist dies ein Leben und Arbeiten nach den Werten, nach denen bereits der Vater gelebt und gearbeitet hat und vor ihm dessen Vorfahren – ein Leben im Einklang mit der Natur, nicht nach kapitalistischen Prinzipien.1328 Der Roman knüpft hier 1324 1325 1326 1327 1328

Ernst: Der schmale Weg zum Glück, S. 336. Ebd., S. 354. Ebd., S. 360. Ebd., S. 361. Vgl. ebd., S. 11 zum Verständnis des Vaters: »Es war ein Schreiben von der gräflichen Güterverwaltung gekommen, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß der Bocksklee abgetrieben werden solle. Der Förster wurde tief erregt und sprang auf. Er hatte immer verlangt, daß

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an jene kulturkritischen Einsprüche gegen die Moderne an und koppelt sie zugleich an die Frage menschlichen Glücks. So stellt sich den ›einfachen Leuten aus dem Volk‹, die der ländlichen Sphäre zuzuordnen sind, jene Glückproblematik, mit der der moderne Mensch in der Stadt konfrontiert wird, erst gar nicht: »Wenn Leute aus dem Volk recht gesund und in ihrer Art wohlgeordnet leben, so haben sie einen zutraulichen Glauben an sich selbst und an alles, was sie tun, der sie sehr glücklich macht.«1329 Dagegen kann das Unglück der gräflichen Familie – nicht nur ökonomisch, auch familiär – als paradigmatische Ausgestaltung des »Unglücksfalls Moderne« gelesen werden.1330 Vergleichbar ist die Konstellation in Hollaenders »Der Weg des Thomas Truck«. Während seiner Zeit in Berlin wird Thomas Truck zunächst als ›Unglücklicher‹ bezeichnet1331; im Gespräch mit dem Pastor seiner Kindheit (und also außerhalb der modernen Großstadt und über die Kindheit der Vormoderne zugeordnet) über die Einsamkeit [sic!] hingegen überkommt ihn ein »großes, weites Glücksgefühl«1332. Der Protagonist sucht sein Glück angesichts der Orientierungslosigkeit in der Moderne dann zunächst in der weltanschaulichen Arbeit. Diese kann allerdings die Hoffnung auf Erfüllung, Sinnhaftigkeit, Glück nicht erfüllen: »Und er empfand deutlich, wie einsam er immer gewesen war – glücklos bei seinen Arbeiten. Die einzige Erfüllung besteht ja nur darin, daß man einen anderen befreit. Das ist der tiefste Sinn des Lebens und der Liebe.«1333 Nicht in der weltanschaulichen Arbeit, sondern im privaten Glück liegen Erfüllung und Sinnhaftigkeit begründet. Der Protagonist erreicht den Zielpunkt des weltanschaulichen Klärungsprozesses in dem Moment, in dem er ein Konzert Bettinas – der Frau, die ihm nach dem Tod seiner ersten Frau zur Partnerin wird – hört. Nun legte sie den Bogen an. Nach den ersten Tönen war es allen, die in dem fast leeren Saal sich eingefunden hatten, klar, daß etwas Außergewöhnliches ihrer wartete. Groß, voll und feierlich klangen die Töne. […] Das Spiel war von einer Reinheit und Kraft getragen, von einer Größe der Auffassung, daß es atemlose Stille schuf. […] In ihm [Thomas Truck] war Widersteit und Auflösung.[…] Und ohne daß er sich völlig darüber klar wurde, stieg in ihm die Erkenntnis auf, daß er die ganzen Jahre die Augen gewaltsam geschlossen hatte, um das blühende Leben nicht zu sehen. Daß er in seinem Freiheitsrausche, in seinem heißen Bemühen, das Leben zu kneten und zu gestalten,

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der Bocksklee ungestört bliebe, weil er den Westwind abfing und dadurch ein großes Gebiet vor Windbruch schützte. Aber der Herr hatte Geld nötig, und da war es ihm gleichgültig, was geschehen mochte.« Ebd., S. 191. Vgl. ebd., S. 199–218, insb. S. 217. Vgl. Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 76. Ebd., Zweiter Band, S. 167. Ebd., Zweiter Band, S. 236/237.

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alles Lebendige, alles Empfindende in sich ausgeschaltet hatte: den Frühling und die Musik, wie Bettina es nannte. Und in dieser Stunde hellsten Bewußtseins hörte er seine Glocken läuten.1334

Diese neue Weltanschauung – die »›Weltanschauung und Religion des selbstbewußten Ich‹«1335 – ist in diesem Roman konkreter ausformuliert als etwa bei Paul Ernst: Thomas Truck publiziert diese in der letzten Ausgabe der Zeitschrift »Festsaal«1336. Die Eckpfeiler sind die Ablehnung der materialistischen Geschichtsauffassung1337 und der Idee des Zukunftsstaates1338, der Weltanschauung des Sozialismus1339 ; dagegen werden die »Persönlichkeit«1340, die »Religion im tiefsten Sinne«1341, die »wesentlich unterschieden vom dogmatischen Buchstabenglauben«1342 sei, schließlich die Einheit von Mensch und All1343, die in der »Gleichung: Ich = All«1344 verdichtet wird, gestellt. Unter diesen monistischen Glauben werden alle Religionen von Buddhismus bis zum Christentum (als Formen der Einheit von Individuum und All) subsumiert.1345 Auch in diesem Roman wird jedoch die eigentliche weltanschauliche Klärung – die immerhin erst angesichts der Musik der künftigen Partnerin vonstatten geht – durch das individuelle Eheglück überlagert. Der Protagonist zieht sich zunächst in die Einsamkeit zurück (das gibt dem Erzähler die Möglichkeit, über die Tagebucheinträge des Thomas Truck noch einmal die wesentlichen Eckpunkte der weltanschaulichen Klärung darzulegen); schließlich kehrt er nach Berlin zurück, wo seine erste Ehefrau, mit der er unglücklich verheiratet war, verstirbt, so dass er mit Bettina sein individuelles Glück finden kann. Sein künftiges Leben soll in der Einsamkeit stattfinden, der Protagonist zieht sich von der Moderne zurück: »Er wollte fort aus der Großstadt in die Stille, in den Frieden zu wohltätiger Arbeit und Hilfe.«1346 Wenn nun im Weltanschauungsroman zwar der weltanschauliche Klärungsprozess narrativ ausgestaltet wird, zugleich aber der eigentliche Fluchtpunkt dieses Prozesses tatsächlich weniger der weltanschauliche Standpunkt selbst, als vielmehr das individuelle Eheglück ist, dann zeigt das vor allem eines: Was als 1334 1335 1336 1337 1338 1339 1340 1341 1342 1343 1344 1345 1346

Ebd., Zweiter Band, S. 345/346. Ebd., Zweiter Band, S. 351. Vgl. ebd., Zweiter Band, S. 351. Vgl. ebd., Zweiter Band, S. 351. Vgl. ebd., Zweiter Band, S. 352. Vgl. ebd., Zweiter Band, S. 352. Ebd., Zweiter Band, S. 351. Ebd., Zweiter Band, S. 351. Ebd., Zweiter Band, S. 351. Vgl. ebd., Zweiter Band, S. 352. Ebd., Zweiter Band, S. 352. Vgl. ebd., Zweiter Band, S. 353/354. Ebd., Zweiter Band, S. 416.

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weltanschauliche Klärung, als Syntheseleistung gedacht wird, ist offenbar nicht zu erreichen. Das aber ist gleichbedeutend mit dem Scheitern des weltanschaulichen Klärungsprozesses. Damit aber scheitert in letzter Konsequenz auch das Erzählprogramm des Weltanschauungsromans selbst: Anstatt den weltanschaulichen Klärungsprozess zu erzählen, erzählen die Romane nolens volens genau dessen Scheitern. Die Paradoxien weltanschaulich-kulturkritischen Denkens führen in der Folge nicht nur zu inhaltlichen Problemen, die die fiktionale Weltanschauungsliteratur nicht zu lösen vermag, auch die erzählerische Anlage selbst gerät an ihre Grenzen. Zunächst ist das Konzept der Weltanschauung wie dargelegt in sich bereits paradox insofern man Welt in ihrer Ganzheitlichkeit gerade nicht zur Anschauung bringen kann. Das nun stellt aber auch den Weltanschauungsroman, dessen Selbstanspruch es ist, Weltanschauung und ihre Ausbildung erzählerisch auszugestalten, vor massive narrative Probleme, die er am Ende nicht zu bewältigen vermag: Weltanschauung ist »›[…] ein Gebiet, wo kein Erzählen mehr hilft, wo man schauen muß […]‹«1347, wie es Bölsche in »Die Mittagsgöttin« formuliert. Auf der rein inhaltlichen Ebene des Romans ist dies zunächst ein Kommentar zum eigenen Erzählverfahren des Grafen und zu den Grenzen dessen, was er selbst über die Erzählung seines eigenen weltanschaulichen Klärungsprozesses mitzuteilen im Stande ist: Den weltanschaulichen Klärungsprozess kann man dieser Einschätzung zufolge nicht über eine Erzählung vermitteln, man muss ihn selbst erleben, muss Weltanschauung aus Welt-Anschauung ableiten. Der Graf behilft sich angesichts dieser Problematik gegenüber dem Erzähler damit, ihm am Ende seiner Erzählung Bilder, die stellvertretend für die von ihm erlebten Bilder stehen, faktisch vor Augen zu stellen – konkret handelt es sich um Fotographien seiner verstorbenen Frau und Lilly Jacksons sowie den Ausblick aus seiner Wohnung: »Ich trat zu ihm ans Fenster, er legte die Hand auf meine Schulter, als wolle er mich nicht mehr lassen. Jetzt zum erstenmal gewahrte ich, wie hoch das Zimmer lag, weit und frei schweifte der Blick hinaus.«1348 Es folgt eine ausführliche Beschreibung des panoramatischen Ausblicks über das Stadtviertel und den Friedhof der Georgengemeinde. Der Graf kommentiert dieses Bild: »›Blicken Sie hin, dort liegt das Rätsel der Menschheit. […]‹«1349 Mit Erzählen allein schafft der Graf es nicht, seinen weltanschaulichen Klärungsprozess zu vermitteln – er muss seinem Gegenüber einen Moment der Welt-Anschauung im Wortsinn vor Augen stellen. Zugleich gehört das ›vor Augen stellen‹ der panoramatischen Welt-Anschauung 1347 Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 71. 1348 Ebd., S. 71. 1349 Ebd., S. 72. Es folgen Ausführungen zum weltanschaulichen Klärungsprozess des Grafen, berichtet von ihm selbst.

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konstitutiv zur Initiation des weltanschaulichen Klärungsprozesses des IchErzählers. Erkennbar scheitert der Graf hier nicht nur an seinem eigenen weltanschaulichen Erzählen, sondern stößt an die Grenzen weltanschaulichen Erzählens überhaupt. Das sind zunächst Befunde, die lediglich das Erzählen des Grafen betreffen, also die inhaltliche Ebene der »Mittagsgöttin«. Insofern nun aber die Erzählung des Grafen mehrfach selbst als ›Roman‹ bezeichnet wird – der Graf selbst charakterisiert seine Erzählung insgesamt als »›[…] Roman des Aristokraten […]‹«1350, die Episode seiner Ehe als »[…] kurze[n] Roma[n] […]«1351 – erhält die Binnenerzählung vom weltanschaulichen Bildungsprozess des Grafen den Charakter eines Weltanschauungsromans im Weltanschauungsroman. Damit kann die Äußerung des Grafen zugleich als Kommentar zur »Mittagsgöttin« selbst begriffen werden: Weltanschauung – in diesem Fall die spiritistische – kann man am Ende nicht mehr erzählen, man muss sie erleben, muss Anschauung – Weltanschauung – gewinnen über das Schauen, über das Bild, das Welt in ihrer Totalität fassen soll. Bildhaftes und panoramatisches Erzählen vom Ganzen sind die beiden Strategien, mit denen versucht wird, Weltanschauung auch bildhaft zu produzieren. Und doch kann dieser Geisteskampf, kann der weltanschauliche Bildungsprozess nur in Bildteilen wiedergegeben werden, ist das Erzählen von Weltanschauung notwendig Einschränkungen unterworfen: Es bleibt ein Erzählen von Bildern, und insofern auch bildhaftes Erzählen gegenüber der Bildbetrachtung auf ein erzählerisches Nacheinander angewiesen ist, kann Erzählen im Gegensatz zur Bildbetrachtung gerade nicht die Bild-/Weltanschauung zu einem Zeitpunkt in ihrer Totalität abbilden, sondern bleibt konstitutiv auf das zeitliche Nacheinander einzelner Eindrücke im erzählerischen Ablauf gebunden. Weltanschauliches Erzählen kann mithin am Ende nur scheitern – der Gegenstand kann letztlich nicht mehr angemessen erzählt werden, die Literatur ist mit ihrem Gegenstand überfordert. Damit aber markiert der Text in letzter Konsequenz zugleich die Grenzen weltanschaulichen Erzählens überhaupt. Auch das Erzählen selbst gerät mit der Weltanschauungsdichtung Ende des 19. Jahrhunderts an seine Grenzen. Der Weltanschauungsroman behandelt zunächst, insofern er Moderne verhandelt, seine Zeit – und dies anhand exemplarischer Figuren und Problemstellungen. Nicht das Individuum interessiert infolge dessen, sondern das Allgemeine: Weltanschauungsromane erzählen von Typen. Hauptmanns Protagonist Einhart etwa interessiert den weltanschaulichen Erzähler nur als Exemplum für das Allgemeine. Zwei Passagen des Romans, dessen Gegenstand auch hier natürlich der weltanschauliche Klärungsprozess, 1350 Ebd., S. 59. 1351 Ebd., S. 61.

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genauer – und das macht den Text an dieser Stelle aufschlussreich – der kunstanschauliche Klärungsprozess des Protagonisten ist, verdeutlichen dies. Intradiegetisch sind Menschentypen Gegenstand der Kunst des Protagonisten: Denn wo Einhart ging und stand, sann er sich jetzt in die Typen des Menschen hinein. An allen Ecken und Enden der Straßen und Plätze und in den Lokalen kannte er Mienen und Geberden und all die Stimmungen und Ereignisse. Sein Blick war fremdartig und sicher, weil er etwas darin jetzt besaß, was wie Härte von Steinen stach. […] Und Einhart saß jetzt wieder bald wirklich fest und zeichnete und malte.1352

Das wäre nicht weiter beachtenswert, spiegelte es nicht den Charakter des weltanschaulichen Erzählens des Romans selbst wieder. Das zweite Buch beginnt mit einem umfangreichen allgemeinen Exkurs des weltanschaulichen Erzählers: Es ist eine Gefahr, wenn Menschen ein Leben vertun mit Dingen, die ihnen und ihrer Erinnerung ewig entweichen, und die nichts zurücklassen, als müde Arme und ein müdes Entsagen. Und die so in den Abgrund ihrer eigenen Zeit, der ihres Sehnens einziges Gefäß sein kann – den vollen Lebenstrank einzubrauen, nur Nieten um Nieten werfen, und auf ihrem Herzen beim letzten Atemhauche gellt es aus der tiefen Leere eines weggeworfenen Lebens nach. Da kommt es wohl auch schon mitten in der Zeit, daß der Verarmte, der nicht mehr seine Arme oder auch seine Sinne regen kann, nach Troste greift und hingeht im Trunk und Taumel, seine Leere auszulöschen, und vollends zu vergessen, was er an Wünschen und Begehrungen emporblühen gesehen, einmal als noch das natürliche Drängen mit Jugendfühlen ihn hinaustrug ins Leben zu Tat und Traum. Es ist weit und breit ein solches ödes Land. Ein Großes, Ganzes, Gewaltiges in der Zeit, und doch nur ein Zusammenklingen aus zerpflückten, zerstückten Sehnsuchten des Menschen, gebaut wie aus heiligen Steinen. Und die daran schufen, gehen seelenlos einher, das große, steingeschaffene Bauwerk anzustaunen, aber offen oder heimlich möchten sie sich in den Staub werfen und weinen nach ihrer verlorenen Seele. Aus solchen tiefen Erkennungen gehen schon Kinder und Jünglinge in freie Wildnisse, wenn sie die Öde wittern, und suchen sich mit Leidenschaft und Inbrunst anzuklammern an die Verheißungen, die in eigenen Träumen leben. Wie sie immer sein mögen, solche, die mit Inbrunst und wie heilig wandelnd, zärtliche Schwärmer mit Augen, wie fromme Engel, oder solche, die die Einfalt ewig lächeln macht, sanft und voll üppigen Vergnügens, über die Torheiten, mit denen sich die Welt von Anbeginn betrog. So war es auch mit Einhart.1353

Erkennbar wird hier der vermeintlich individuelle weltanschauliche Klärungsprozess vor dem größeren Horizont allgemeiner Entwicklungen erklärt. Die hierfür notwendige Generalisierung wird, auch das zeigt das Beispiel, über den weltanschaulichen Erzähler und seine Exkurse realisiert. Vergleichbar funktioniert der Gerichtsprozess in Keyserlings »Die dritte Stiege«, in dem wie dargelegt 1352 Hauptmann: Einhart, der Lächler, Erster Band, S. 226/227. 1353 Ebd., Erster Band, S. 85/86.

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nicht so sehr das Einzelschicksal Leopold Gerstengresser interessiert; er steht vielmehr stellvertretend für eine ganze Schicht. Ebenso interessiert die ›dritte Stiege‹ selbst nicht aufgrund ihrer Individualität, sondern aufgrund ihrer Exemplarität1354. Die entsprechende Generalisierung wird über die Figurenrede des Anwalts Dr. Benze generiert, die, auf der Ebene der Erzählung selbst als Verteidigungsrede des Anwalts angelegt, allmählich von einer Beschreibung der dritten Stiege in einen allgemeinen weltanschaulichen Exkurs über gleitet: »[…] Unten ein Hausbesorger, dessen Tochter mit einem öfters abgestraften Individuum auch solch’ einen Bund der Lebensfreude geschlossen und zu diesem Behuf ihrem Geliebten behilflich ist bei jenem furchtbaren Raubmord, der hier nächstens verhandelt werden soll; höher wohnt jene Marie Hempel, die – nachdem sie Gerstengresser in das Unglück gebracht hat, sich ruhig einem glücklicheren und reicheren Liebhaber zuwendet; höher wieder Gerstengresser… Ueberall in diesen engen, ärmlichen Wohnungen der heiße, maßlose Appetit nach buntem, berauschenden Vergnügen. Und über diesem endlich die Redaktion des sozialdemokratischen Blattes, welches den ungestümen Schrei nach Wohlleben in ein System bringt. Meine Herren Geschworenen – –, eine Seele, welche in dieser Luft aufgewachsen ist – kann sie moralisch gesund sein? Und ist sie es nicht, ist auch sie von der Krankheit ergriffen, die alle Gesellschaftsschichten dieser schönen Stadt durchdringt und auch das Schönste und Reinste zu morden droht, dann meine Herren Geschworenen, – frage ich Sie: können Sie dem Beklagten die ganze Schuld geben? Oder wird nicht jene große Mitschuldige – die niemand auf die Anklagebank ziehen kann, einen großen Teil der Verantwortung zu tragen haben?« Er war zu Ende und setzte sich. Er wußte selbst nicht recht, was er gesagt hatte.1355

Der Anwalt Dr. Benze wartet hier mit Informationen zum Haus in der Margarethenstraße 2 und zu seinen Bewohnern auf, die eigentlich über seine eigenen Kenntnisse gehen müssten. Die weltanschauliche Generalisierung muss offenbar notwendig über die Bewusstseinsebene der Figuren hinausgehen. Zugleich tun sich die Texte erkennbar schwer, dies erzählerisch zu integrieren: Die Figur des Dr. Benze weiß am Ende »nicht recht, was er gesagt hatte«1356. Die Gegenrede des Staatsanwaltes – »›[…] Solche Stiegen hat wohl jede Großstadt aufzuweisen; die sind keine wiener Spezialität!«1357 – wirkt vor diesem Hintergrund dann auch weniger als Gegenrede denn mehr als Bekräftigung der Allgemeingültigkeit von Benzes Darlegung. Mehr noch: Diese Aussage kann als Verweis auf den Beispielcharakter auch des Erzählten selbst gelesen werden – der Text markiert seinen Anspruch, nicht das Individuelle, sondern das Allgemeine abzubilden. So

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Vgl. Keyserling: Die dritte Stiege, S. 277/278. Ebd., S. 277/278. Ebd., S. 278. Ebd., S. 279.

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verstanden ist dies zugleich ein Kommentar des weltanschaulichen Erzählers zum Erzählen des Weltanschauungsromans selbst. Man kann sich vor diesem Hintergrund schließlich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Texte am Ende eine Ausgestaltung des grundlegenden Narrativs ausschließlich über die Aktualisierung und Verdichtung der im Archiv bereitstehenden weltanschaulich-kulturkritischen Diskursfiguren vornehmen. Exemplarisch sei dies anhand eines kurzen Abschnitts aus Hollaenders »Der Weg des Thomas Truck« aufgezeigt: Thomas schritt über den Kamm der Berge im Morgenrot, wenn auf den Gräsern Frühtau lag. Er schritt über die Gipfel am Mittag, wenn die Sonne glühte und alles in ihr weißes Licht tauchte. Und wenn das Rot des Abends heraufzog und Wälder und Höhen golden machte, so stand er da oben und blickte verträumt mit glänzenden Augen in die versinkende Helle. Kein Haus… kein Strauch… kein Mensch… Er horchte in Einfalt und Andacht auf die Einsamkeit. Er hörte das Rauschen ihrer Flügel… er vernahm ihre lautlosen Lieder.1358

Der Erzähltext schaltet – nicht nur an dieser Stelle – lediglich bereitstehende Diskursfiguren hintereinander : Die Diskursfigur des Wanderers, Höhen- bzw. Gipfel-Metaphorik, Lichtmetaphorik, der (Weltanschauungs-)Blick von der Höhe auf die Welt, die diskursive Figur der Einsamkeit und des Rückzugs, des Pioniers, das monistische Schwelgen in der Natur. Ähnlich in Carl Hauptmanns »Einhart, der Lächler«: Und er selber [Einhart] dünkte sich durch sein eigenes, langes Herumkommen eingeschnürt und ermüdet. Er verlangte den freien Horizont des Lebens zu sehen, wie es den Wandervogel fortreißt in den Höhenwind. Er wollte weit ausblicken und aus der Höhe hinab, einmal zu sehen, wo er eine Erfüllung fände, eine Feier, einen Festtag in einer Reihe der eintönigen, einsamen Wandertage, die sein Leben jetzt lange hingegangen.1359

Das Aneinanderreihen weltanschaulich-kulturkritischer Diskursfiguren wird zur Textstrategie des Weltanschauungsromans. Nichts ist hier mehr individuell – ja die Texte müssen offenbar angesichts der Typenhaftigkeit ihres Gegenstandes zugleich notwendig jede literarische Individualität zugunsten eines typenhaften Erzählens preisgeben. Infolgedessen funktionieren sie am Ende auch nicht als individuelle Texte, sondern als Typen, als unterschiedliche Realisierungen ein und desselben Erzählmusters, als Textreihen1360 : Es könnte anstelle des einen auch jeder andere Weltanschauungstext sein. 1358 Hollaender : Der Weg des Thomas Truck, Zweiter Band, S. 78. 1359 Hauptmann: Einhart, der Lächler, Zweiter Band, S. 142/143. 1360 Das gilt nicht nur für Weltanschauungsdichtung im Speziellen, sondern bereits für die Texte des Naturalismus, die bekanntlich im Anschluss an Zola als Serien konzipiert sind (vgl. etwa Conrad Alberti, »Der Kampf ums Dasein«).

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Weltanschauungsdichtung ist mithin, das lässt sich an dieser Stelle festhalten, in doppelter Hinsicht eine Dichtung des Scheiterns: Nicht nur erzählt sie mehrheitlich ohne dies zu durchschauen den weltanschaulichen Klärungsprozess als einen zum Scheitern verurteilten, auch das Erzählen selbst scheitert in letzter Konsequenz an seinem Gegenstand. Es ist dies ebenso wie das typenhafte Erzählen und das Funktionieren der Texte über Textreihen anstelle des individuellen Textes der Grund für die ästhetischen Schwächen der Romane. Reflexionen des Scheiterns. Selbstreflexive Ansätze im Weltanschauungsroman Während nun die Mehrheit der Texte eher nolens volens die Geschichte des Scheiterns des weltanschaulichen Klärungsprozesses erzählen und ihr eigenes Unvermögen angesichts des Gegenstandes selbst nicht wahrnehmen, gibt es einzelne Texte wie Bölsches Roman »Die Mittagsgöttin« und Keyserlings Roman »Die dritte Stiege«, in denen eine Reflexion dieser Paradoxien – ob nun bewusst oder unbewusst sei an dieser Stelle dahingestellt – an einzelnen Stellen durchscheint. Das gilt zunächst für die Ebene des Inhalts: Neben solche Texte, die ihre eigene Selbst-Dekonstruktion nicht erkennen, treten solche, die das Scheitern des weltanschaulichen Klärungsprozesses durchaus wahrnehmen. Eduard von Keyserlings Protagonist Lothar etwa findet weder zur endgültigen weltanschaulichen Klärung, noch kann er sich in das private Eheglück zurückziehen.1361 Die Orientierungslosigkeit in der Welt beginnt zunächst auch für Lothar in genau dem Moment, in dem er zum Lernen in die Stadt gehen muss – und also in genau jenem Moment, in dem er die vormoderne Gemeinschaft verlässt und in die moderne Gesellschaft eintritt. Seine Studien beendete er dort [in der Stadt] mit Müh und Noth; geordnetes Lernen war seine Sache nicht. Dabei war er beständig vom heißen Durst nach Vergnügungen geplagt und zerstreut. Als er die Universität bezog, überließ er sich ein wenig zügellos diesem Hange; trat in die glänzendsten Corps ein, trank und liebte, war ein beliebter Kamerad und ein bewunderter Corpsbursche. Von Bonn zog er nach Göttingen, von Göttingen nach Leipzig und verstand es überall in seinen Kreisen eine angesehene Rolle zu spielen. Dabei schien er zu vergessen, daß die Zeit verrann, daß er älter wurde und

1361 Vgl. schon das Nachwort zur Neuausgabe von Fritz Martini, der nicht nur auf die »Abkehr von der Geschichte und Gesellschaft in den stillen Winkel«, die der Protagonist am Ende des Romans vollzieht, hingewiesen hat (Martini: Nachwort, S. 310), sondern auch auf die Umkehr des Entwicklungsromans zum »Desillusionsroman« (ebd., S. 316) sowie auf das von der Forschung herausgearbeitete Versagen von Sprache, die auch vor dem Hintergrund der Sprachskepsis der Jahrhundertwende zu lesen sei (vgl. ebd., S. 331). Zur Sprachskepsis im Roman siehe insb. Steinhilber : Eduard von Keyserling, hier S. 40–50.

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diese Erfolge kaum im Stande sein konnten, sein Leben dauernd auszufüllen. Doch begann er allmählich, eine gewisse Leere und Müdigkeit zu spüren.1362

Die Stadt ist in Abgrenzung zum Land mit Vergnügungssucht, Unbeständigkeit, Zügellosigkeit, Alkohol, außerehelichen Liebschaften, schließlich mit der Universität und damit mit jenem von der Kulturkritik der Jahrhundertwende abgelehnten Bereich intellektuellen Arbeitens verbunden.1363 Nicht zuletzt ist die moderne Großstadt mit dem Verlust an Sinnhaftigkeit verbunden – der Protagonist Lothar empfindet »eine gewisse Leere«, ist auf der Suche nach Orientierung und infolge dessen anfällig für Sinnangebote jeglicher Art. Und so lässt er sich von einem Dr. Faltl für die sozialistische Weltanschauung begeistern: »Das war es! Hinter diesem Manne ahnte Lothar ein bewegtes, wohlausgefülltes Leben, ahnte etwas, an dem er gern theilgenommen hätte […]«.1364 Es ist dies gleichermaßen Ausdruck der transzendenten Obdachlosigkeit der Moderne wie es Ausgangspunkt für den Klärungsprozess – und damit des Weltanschauungsromans selbst – ist. Zunächst zieht der Protagonist Sinnhaftigkeit aus der ihm zugedachten Tätigkeit – »eine Zeitschrift herauszugeben, welche in gemäßigter Form die Lehre vortragen, das Bestehende angreifen und den Grund zu einer organisirten Partei legen sollte«1365. In dieser Zeit hat er »viel zu thun, das war es, was ihn befriedigte; er brauchte nie mehr mit dem schläfrigmüden Gefühl eines unnützen Menschen sich zu fragen … was jetzt beginnen?«1366 Und doch ist auch in dieser Phase einer ersten Orientierung seine Sehnsucht nach Orientierung nicht befriedigt. Stets an die Zukunft denken, über den Staat spotten, tiefe Gedanken aufhören, macht müde. Auf eine Stunde wenigstens sehnt er sich nach jenem einfachen, das auch nur durch einen Händedruck gesagt werden kann und tiefer sein sollte als manches Gerede. Und dann dachte er plötzlich an Tini, da ihm nichts Besseres einfiel.1367

Es deutet sich hier an: Trotz der weltanschaulichen Arbeit fehlt das individuelle Glück der Ehe. Umgekehrt ist für die Figur des Klumpf das persönliche Lie1362 Keyserling: Die dritte Stiege, S. 10. 1363 Zunächst vermag in dieser hektischen, modernen Lebenswelt übrigens noch ein Brief der Tante, der vom Landleben, von der Sommerernte und vom Schicksal der der Gemeinschaft angehörigen Menschen berichtet (vgl. ebd., S. 153), den Protagonisten zu beruhigen: »Diese einfachen Zeilen beruhigten Lothar, thaten ihm wohl… Ja dort… dort hatte er auch leben können ohne Theorien – hatte er die Erde verstanden ohne Gedanken.« (Ebd., S. 154) Erkennbar steht das ursprüngliche Landleben für Ruhe, Glück und Sinnhaftigkeit, das jetzige Stadtleben hingegen für Unruhe, Unglück, Sinnsuche und Intellektualismus. 1364 Ebd., S. 17/18. 1365 Ebd., S. 21. 1366 Ebd., S. 118. 1367 Ebd., S. 126.

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besglück Bedingung der Möglichkeit seiner Arbeit an der Gesellschaftsreform und damit am menschlichen Glück überhaupt: »›[…] Ich bedarf dieses Mädchens, um weiter arbeiten zu können. Ich kann nicht anders.‹«1368 Der »Erlöser der Gesellschaft«1369 ist wie alle anderen auch auf der Suche nach dem individuellen, privaten Glück, das für ihn letztlich über dem gesellschaftlichen steht. Das gesellschaftsreformerische Projekt der Zeitschrift »Zukunft« scheitert – und zwar nicht nur, weil die Redaktion von Polizeispitzeln unterwandert war, sondern vor allem, weil Lothar beginnt, am Projekt selbst, an dessen weltanschaulichen Grundlagen zu zweifeln. Sein Klärungsprozess endet mit der vollständigen Abkehr von der Redaktion und ihrer Weltanschauung. Zugleich ist ihm gerade kein privates Glück vergönnt. Zwar wünscht er sich dieses: »›[…] Ich wollte, wir wären irgendwo in der Welt allein bei einander. Ich wollte Holz spalten und Wasser tragen, Du könntest kochen. Wir wollen nichts denken – nur leben. […]‹«1370 Anders als andere Weltanschauungsromane bleibt der Roman Keyserlings diese Lösung jedoch gerade schuldig, Lothar findet seine ›Erlösung‹ nicht im individuellen Glück – Tini wird von ihrem Liebhaber Chawar zuvor ermordet. Was bleibt, ist der resignierte Rückzug, ist die radikale Absonderung: »›Die Wissenden!‹ eine große Bitterkeit stieg in Lothar auf. ›Ich fürchte, die Wissenden haben nicht verstanden, und sie müssen umlernen. Leben ist doch anders, als wir meinten. Vielleicht giebt es noch einen Winkel, wo man es lernt.‹«1371 Insofern ein Zurück zur Vormoderne nicht mehr möglich ist, stellt der Rückzug auf den Lebensbegriff nach dem Scheitern des Weltanschauungsprojektes in Wien den letzten möglichen Fluchtpunkt des Klärungsprozesses dar. In Bölsches Roman »Die Mittagsgöttin«1372 schließlich – der sich übrigens mit dem textimmanente Verweis auf die »Rousseauzeit«1373 selbst in den Kontext der Kulturkritik stellt – steht anders als in anderen Weltanschauungsromanen am 1368 1369 1370 1371 1372

Ebd., S. 223. Ebd., S. 224/225. Ebd., S. 254. Ebd., S. 294. Host Thom8s hat darauf hingewiesen, dass Paul Ernsts »Der schmale Weg zum Glück« ebenso wie Wilhelm Bölsches »Die Mittagsgöttin« konventionellen Romanschemata des 19. Jahrhunderts folgen (Bildungsroman/sozialer Roman, vgl. Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 365). Vgl. zum Forschungsüberblick zu Bölsches »Mittagsgöttin« auch Anm. 1066. 1373 Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 108; der vollständige Zusammenhang lautet: »[W]er mochte hier schon vor mir gewohnt haben? Vielleicht ein niedliches kleines Mädchen, irgend eine verschollene Spreewaldcomtesse, die mit dem zierlichen Händchen sich vom Fensterkissen aus an jedem Frühlingsmorgen ihre Rosen brach, die nachts zum Monde hinaufschwärmte in der Rousseauzeit, vielleicht auch dem Ständchen irgend eines getreuen Galans lauschte, den ihr zartes Gesichtchen mit den Puderlocken und den Schönheitspflästerchen der Erdbeerwangen von den Wassern Trianons oder von der Brühlschen Terrasse hierher gelockt in die wendische Urwaldöde!«

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Ende nicht eine ›neue‹ Weltanschauung, sondern die Rückkehr zur Wissenschaft. Insofern variiert dieser Roman auch das übliche Erzählmuster Land – moderne Großstadt und weltanschauliche Verwirrung – Rückzug, privates Glück und weltanschauliche Klärung. »Die Mittagsgöttin« setzt in der Großstadt ein, der Protagonist ist der materialistischen Weltanschauung, den Naturwissenschaften, zugeneigt. Es folgt die Phase der Absonderung, des Rückzugs und der weltanschaulichen Verirrung in den Spiritismus. Der Roman endet schließlich dort, wo er begonnen hat: Der Gang der Handlung führt von Berlin nach Berlin; vom mühseligen Erwerbsleben zum Erwerbsleben; von der kalten, nur durch die enge Vertraulichkeit kleinbürgerlichen Interieurs gemilderten Anonymität der Großstadt in die Anonymität der großstädtischen Kleinfamilie, führt von der Verlobung zur Hochzeit.1374

Der Roman macht mit der Rückkehr zur Wissenschaft gerade das Scheitern des weltanschaulich-spiritistischen Bildungsprozesses zum Thema – insofern ist er mehr noch als Keyserlings »Die dritte Stiege« nicht eigentlich ein Weltanschauungsroman. Infolge dessen muss auch die diskursive Grundfigur Stadt/Land für diesen Roman differenziert werden. Auch dieser Roman ist auf der Ebene des Inhalts1375 über die Basisdichotomie organisiert – die Stadt ist Ort der Moderne, das Land Rückzugsort und Ort des (wenn auch scheiternden) weltanschaulichen Klärungsprozesses. Auch an das Deutungsschema der Modernisierung als Übergang von vormodernen zu modernen Wirtschaftsformen knüpft der Roman an – allerdings wesentlich auf der Ebene der Figuren, nicht als textstrukturierendes 1374 Schneider: Die Alte und die neue Fremde, S. 152. 1375 Ingo Stöckmann hat darauf hingewiesen, dass, was »auf der ›Oberfläche‹ semantischer Bestimmung, ganz in der Tradition ihrer binären Symbolwelten, distinkt wirkt […], sich bei genauerem Zusehen als Manifestation einer Zeichenpraxis der ›copia‹, die das Prinzip binärer Unterscheidungen (Stadt vs. Land, Individuum vs. Masse, Heimat vs. Fremde) unterläuft« erweise. (Stöckmann: Die Textur der Fülle, S. 417/418). Stöckmann weist zudem darauf hin, dass der Text entgegen der Einschätzung seines Autors mit seiner eigenen erzählerischen Ökonomie zerfallen sei – dies dokumentiere der Umstand, dass das Schicksal der Figuren nurmehr über ihre Eliminierung durch Tod überhaupt bewältigt werden könne (vgl. ebd., S. 419). Vor diesem Hintergrund wertet er den Roman als einen Übergangstext: Bölsche re-inszeniere ein Erzählschema, indem er es in dieser nur mehr rudimentären, weil semiotisch überwucherten Form gewissermaßen ›ein letztes Mal‹ erzählt, und er tut dies, um die Stadt als eine literarische Hinterlassenschaft kenntlich zu machen, für die künftig neue und andere Darstellungsverfahren als bisher gefunden werden müssen. Fast scheint es damit, als überreiche Bölsches Text das Großstadt-Sujet einer Zukunft des Erzählens, die er selber nicht mehr gestaltet.« (Ebd., S. 419) Es bleibt zu zeigen dass der Roman zugleich – und das bereits früh! – das Ende des weltanschaulichen Erzählens mit reflektiert. Vgl. zur Darstellung der Stadt ebenso wie des Spreewaldes bei Bölsche daneben auch Forderer: Die Großstadt im Roman, hier das Kapitel I zu Bölsches »Mittagsgöttin« (ebd., S. 29–106).

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Prinzip. So wird dem Grafen die Beschreibung des Umbauprozesses vom Bauern- zum Industriestaat und des damit verbundenen Vergesellschaftungsprozesses in den Mund gelegt, wenn er einen Mühlbetrieb samt Wirtschaftshof beschreibt: »›Sie haben hier das Älteste und das Neueste beisammen,‹ sagte der Graf, ›die Linde, die einst der Charakterbaum des Spreewaldes war und jetzt fast verschwunden ist – und die moderne Fabrik, die den Bauernstand zum Industrieproletariat umformt.‹«1376 Auf den ersten Blick partizipiert der Roman dann ebenfalls an der Dichotomie von moderner Großstadt und vormoderner Ländlichkeit. Die Stadt wird mit den Attributen des »wogende[n] Treiben[s]«1377, mit »heiß[er], staubdurchsättigte[r] Luft«1378, des »Geklingel[s] und Gestampfe[s] der Wagen und Hufe«1379, des »flutenden Menschenstrome[s]«1380 beschrieben – kurz: die »Stadt [ist] ein Spiegel der echten modernen Welt […], – der Welt, die ungeheure Räder rollt […], der Welt, in der nur die rohe Kraft, nur der Ellenbogenstoß des Rudernden eine mitzählende Macht, der Schmerz aber ein heimatloser Fremdling ist«1381. Dem steht das Land bipolar gegenüber : »War die unermeßliche Todesruhe der Landschaft während der Kahnfahrt das eine Extrem gewesen, so war nun hier der andere Pol.«1382 Steht die Stadt für beständige Veränderung, Hast und Geschwindigkeit, kann auf dem Land die Zeit geradezu stillgestellt werden, wie wenig später die Beschreibung einer ländlichen Wirtsstube zeigt: In der fahlen Beleuchtung hatte das Ganze etwas von einem verwunschenen Schlosse, in dem die Zeit seit Jahrhunderten stille stand. Nur die tickende Pendule war modern, und ein schlecht gedrucktes Kreisblättchen auf dem groben Tisch redete der fernen Welt des Tages das Wort.1383

Die Moderne fällt dann zunehmend in diese noch der Vormoderne zugehörigen Welt ein: Ein unendlich weicher Farbton lag über dem Ganzen, hundert Abstufungen von Schatten und Grün in dem welligen Kiefernkranze ringsum, – und doch in dem rauchenden Schornstein eine dräuende Mahnung, daß der Gigant hinter jener Baumwelle, die Weltstadt, schon gierig herankroch bis in die Waldöde hinein, bereit, alles zu überfluten mit ihren roten Backsteinkolossen, über deren Dächern der blaue Himmel

1376 1377 1378 1379 1380 1381 1382 1383

Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 91/92. Ebd., S. 135. Ebd., S. 135. Ebd., S. 135. Ebd., S. 135. Ebd., S. 135. Ebd., S. 135. Ebd., S. 180.

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so im Dunst der Essen verschwand wie der Waldesfrieden erstarb unter klirrendem Stampfen und Kollern des Räderwerks.1384

Natur und Stadt scheinen in dieser Perspektive in einem permanenten Kampf um Raum zu sein. Dennoch bleibt der Roman in seiner Bewertung dieses Prozesses ambivalent. So ist die Natur – das verdeutlicht die Wahrnehmung der »Todesruhe der Landschaft«1385 – nicht ausschließlich positiv konnotiert. Zudem wird zu Beginn des Romans der Übergang der Deutungshoheit über die Welt von der Religion bzw. Philosophie an die Naturwissenschaften mit der Modernisierung verbunden. Das 19. Jahrhundert wird (zunächst) begriffen als das »helle, strahlende, geistesgewaltige neunzehnte Jahrhundert«1386, als das Zeitalter der Wissenschaft, der Wahrheit und des Fortschritts und ist als solches positiv konnotiert. Insofern dieser Roman in seiner zirkulären Anlage dort endet, wo er begonnen hat, also in Berlin und bei der Wissenschaft, mithin in der Moderne, liegt dieser Beobachtung und Beschreibung von Moderne also gerade kein Verlustnarrativ zugrunde. Darüber hinaus steht am Ende des Romans die Verlobung des Erzählers vor dem Signum der Moderne: Die Bahnhofshalle, jene »eiserne Riesenhalle, das Symbol der Kraft«1387 wird zum »Symbol dessen, was werden konnte, wenn wir nur wollten«1388. Die Verlobung des Erzählers1389 figuriert zugleich die Versöhnung mit der Moderne. Im Übrigen verhandelt auch Bölsches Roman die Frage menschlichen Glücks in der Moderne – bricht diese aber kritisch. Zunächst wird – auf der Figurenebene, hier dem Spiritismus-Apostel zugeordnet – der Verlust an Sinnhaftigkeit in der Moderne markiert. Der Graf moniert die »›[…] kalte, egoistische Weltanschauung, die unsere moderne Erziehung gibt […]‹«1390 und als Folge dessen die »›[…] leere graue Wüste meines verödeten Innern […]‹«1391. Die Religion vermag es nicht mehr, Sinn zu stiften: »›[…] Meine moderne Bildung wurzelte zu tief, als daß ich den Traum der Erlösung so noch einmal hätte träumen dürfen, wie ihn vor achtzehnhundert Jahren ein mächtiges Gehirn am Jordanstrande geträumt. […]‹«1392, so der Graf. Der Erzähler, der vor dem Treffen mit dem Grafen den Verlust an Sinnhaftigkeit in der Moderne gar nicht als solchen empfunden hatte, folgt dann zunächst dem Grafen: Er konstatiert, »wie leer das

1384 1385 1386 1387 1388 1389 1390 1391 1392

Ebd., S. 270. Ebd., S. 135. Ebd., S. 47. Ebd., S. 404. Ebd., S. 405. Vgl. ebd., S. 405. Ebd., S. 57. Ebd., S. 68. Ebd., S. 66.

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Weltbild sei, das unser modernes Wissen als Endergebnis hinstellte.«1393 Das moderne Weltbild vermag es nicht mehr, Sinn zu vermitteln: Du hast auf die Wissenschaft geschworen, ihr hast Du alles geopfert – Du und Deine Zeit in Dir – aber Du warst nicht glücklich dabei. Auch in Dir hat das Sehnen genagt, im innersten Sinn warst Du neidisch auf den Gläubigen, der in seiner Hingabe an das unfaßbare Mysterium Trost fand.1394

Es ist dies der Ausgangspunkt der weltanschaulichen Verirrung des Erzählers. Vor diesem Hintergrund wird auch die Frage nach dem menschlichen Glück nun allererst zum Problem. Das moderne Weltbild macht den Menschen nicht mehr glücklich – genauer : es macht ihn unglücklich. Weltanschauung stiftet insofern nicht nur Sinn, sie trägt zugleich zum Glück des Menschen bei. Nachfolgend thematisiert der Text – als Binnenerzählung, der Graf erzählt dem Erzähler seinen bisherigen weltanschaulichen Klärungsprozess gewissermaßen als Weltanschauungsroman im Weltanschauungsroman – unterschiedliche Weltanschauungsangebote; gegeneinander ausgespielt werden sozialistische und spiritistische Weltanschauung mit zwei unterschiedlichen Glücksversprechen.1395 Zunächst wird die sozialistische Weltanschauung des Grafen thematisiert. Als Sozialist (und also an die Wissenschaft anknüpfend, der Graf hat neben den Naturwissenschaften auch Nationalökonomie studiert1396) hat er von der »›[…] Erlösung der Welt durch eine riesenhafte, aber rein soziale That […]‹«1397 geträumt, von einem »›[…] kommenden ungeheuren, nie dagewesenen Glücke der Menschheit infolge fundamentaler Umgestaltung der gesamten Verhältnisse von Lohn und Arbeit. […]‹«1398 Angestrebt wird ein »kommende[s], materiell glückselige[s] Geschlech[t]«1399. Die sozialistische Weltanschauung zielt auf das materielle Glück. Das aber – so die Erkenntnis, zu der der Graf kommt – löse in letzter Konsequenz nicht das Sinnproblem der Moderne: »›[…] über dem befriedigten Magen wird der sehnende, hungernde Geist sich erheben, ruhelos, freudlos […]‹«1400. Der Graf sucht Zuflucht in der spiritistischen Weltanschauung, die nicht materielles, sondern ›geistiges‹ Glück, Sinnhaftigkeit, Trost und Orientierung verspricht. Der weltanschauliche Bildungsprozess des Ich-Erzählers folgt zunächst den bereits skizzierten Erfahrungen des Grafen. Im Zusammenhang mit einem Traum, der den Tod eines Freundes im Duell antizipiert – der Erzähler wertet 1393 1394 1395 1396 1397 1398 1399 1400

Ebd., S. 198. Ebd., S. 197. Daneben schwingt immer auch die monistische Weltanschauung mit. Vgl. Bölsche: Die Mittagsgöttin, S. 58. Ebd., S. 59. Ebd., S. 59. Ebd., S. 63. Ebd., S. 64.

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dies als Vision – wägt er mechanisches und metaphysisches Weltbild gegeneinander ab und durchläuft eine erste weltanschauliche Krise. »Ich hatte mich eingelebt mit aller Kraft meiner Seele in die Weltanschauung des modernen Naturforschers, ich war ihr Herold gewesen an so manchem Kampftage.«1401 – »Und der Dienst dieser naturwissenschaftlichen Erkenntnis hatte nichts von mir verlangt als Anerkennung ihrer großen Fundamentalsätze vom mechanischen Verlaufe alles Geschehens.«1402 Dieses Weltbild wird nun (vorübergehend) in seinen Grundfesten erschüttert und durch eines, das das nur mechanische durch ein auch metaphysisches ergänzt: Dann war die Welt nicht bloß eine Zweiheit von mechanischem Geschehen und rätselvollem Selbstspiegeln dieses Mechanischen im Bewußtsein, sondern sie war allerdings im Sinne der urältesten Metaphysik der Kampfplatz zweier vollkommen verschiedener Welten, einer psychischen und einer physischen, von denen die erste im günstigsten Falle willkürlich eingreifen konnte in die zweite.1403

Auf der Grundlage dieser Einführung werden dann darwinsche Entwicklungstheorie sowie die »moderne materialistische Geschichtsforschung«1404 und die von ihr propagierte »natürlich[e] Bahn der menschlichen Kulturentwicklung«1405 gegen teleologische Inspirationstheorie, Offenbarungshypothese und »erbliche[s] Gottesgnadentum«1406 ausgespielt; »Humboldt, Darwin, Laplace, Haeckel, Helmholtz, Tyndall, Albert Lange, Claude Bernard«1407 werden gegen »die Mystiker und Wunderthäter aller Zeiten«1408 gestellt und der Erzähler fragt sich: »und wenn diese nun die Wahrheit besessen, wenn sie die echten Forscher im Dienste der Erkenntnis gewesen?«1409. Ist das naturwissenschaftliche Weltbild einmal in Frage gestellt, wirkt ein Telegramm, das dann den tatsächlichen, im Traum antizipierten Tod des Freundes Edmund antizipiert, (zunächst) wie eine Bestätigung des spiritistischen Weltbildes. Was folgt sind die innerliche Absage des Erzählers an die Wissenschaft, ein erstes Erweckungsmoment und die Hinwendung zum Spiritismus: »Die vollendete Thatsache stand vor mir : – sie wirkte für den Augenblick wie eine Erlösung.«1410 Die ersatzreligiösen Züge des Spiritismus werden im Übrigen nicht nur im Erlösungsbegriff, sondern auch in

1401 1402 1403 1404 1405 1406 1407 1408 1409 1410

Ebd., S. 153. Ebd., S. 153/154. Ebd., S. 154. Ebd., S. 155. Ebd., S. 155. Ebd., S. 155. Ebd., S. 155. Ebd., S. 155. Ebd., S. 156. Ebd., S. 158.

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der Beschreibung des Herrenhausgartens, die mehrfach an die Diskursfigur des Paradieses anknüpft, deutlich: Immerhin, mochten die Mysterien des Ortes noch so verrückt sein: einen schöneren Tempelhain hätte man sich dazu nicht ausersehen können. Der alte Gartenkünstler, der hier gewaltet, hatte sein Meisterstück in Verwertung des sumpfigen Urwaldterrains geleistet, und wenn der Park vielleicht ein Fiebernest war, so war er wenigstens ein Paradies für den Augenblick.1411

Der Graf selbst beschreibt sein Erbe als das, »was ich und die Welt von ihm als Erbe erhalten haben: einen Fleck voll grüner Bäume, ein Paradies, wenn die Menschen darin glücklich sind, ein düsterer Opferhain, wenn blutende Seelen darunter wohnen«1412, als »›[…] die Arche, die uns in eine bessere Welt führen soll, dafür ist es noch gut genug. […]‹«1413 ; schließlich wird das Gefolge des Grafen vom Erzähler – durchaus nicht unkritisch, er beobachtet es mit einem »Gefühl innerer Lustigkeit«1414 – als »Jünger des neuen Messias«1415 beschrieben. Bleibt die wissenschaftliche Weltdeutung unbefriedigend, bricht die dagegen gestellte spiritistische Weltanschauung am Ende des Romans vollständig zusammen – es ist dies sowohl für den Grafen als auch für den Erzähler die zweite große weltanschauliche Krise.1416 Graf und Erzähler ziehen nun allerdings zwei grundsätzlich unterschiedliche Konsequenzen, die ihrerseits mit der Frage nach dem menschlichen Glück zusammenhängen: Der Graf begeht Suizid, er kann im Leben – des Spiritismus als Trost, als geistigen Glücks beraubt – kein Glück mehr finden, steht vor dem Nichts: Aber was war geblieben? Das vollkommene Nichts. Er war im Leben nicht glücklich gewesen. Nach seinem Tode blieb keine Spur von ihm zurück. Und hatte er Glück gestiftet? Kaum. Vielleicht damals dem armen Weibe in Amerika, das er geliebt.1417

Dahingegen kann der Erzähler sein Glück noch finden, weil er im Gegensatz zum Grafen sein individuelles Glück noch im Privaten, in der Ehe finden kann. Glück stellt hier die Synthese aus der Rückkehr zu Wissenschaft und individuellem Liebesglück dar ; diese Synthese bildet die Mauer gegen den ›Geisteskampf‹ des Jahrhunderts, und zwar gleichermaßen gegen die transzendente Obdachlosigkeit in der Moderne wie gegen die heterogenen Weltanschauungsangebote. Den Erzähler erfasst eine »große Sehnsucht nach Frieden, nach einer Seelenehe, nach 1411 1412 1413 1414 1415 1416

Ebd., S. 97. Ebd., S. 56. Ebd., S. 93. Ebd., S. 94. Ebd., S. 94. Vgl. zur Krise des Erzählers etwa ebd., S. 400: »Diese Nacht war schwer, aber sie war doch wie eine Krisis zur Gesundheit.« 1417 Ebd., S. 400.

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einem eigenen Heim, an dessen Glück die wilden Wogen des Jahrhundertkampfes zerschäumen sollten…«1418 Was bleibt ist auch hier der Rückzug ins Private. Im Anblick [sic!] Thereses synthetisieren sich die allgemeine Frage nach dem menschlichen Glück und das individuelle Glück: »Mit einem Blick sah ich beides: die Welt des Kampfes, der ich angehörte als Glied der Gesamtheit – und mein individuelles Glück.«1419 Der Klärungsprozess ist hier abgeschlossen: Ich selbst war allerdings wohl für mein Leben fertig mit diesen Dingen. […] Mochten andere suchen wie ich, – vielleicht waren sie glücklicher. So vieles, was ich gelesen, war ja nicht erklärt mit diesem einen Fall. Nur diese ganze wahnsinnige Jagd nach der letzten Erkenntnis schien mir im Prinzip nicht mehr so erhaben, hier hatte ich gelernt.1420

Markiert wird hier nichts weniger als das weltanschauliche Scheitern. Nicht nur auf der Ebene des Inhalts, auch hinsichtlich der eigenen literarischen Form weisen die Romane Bölsches und Keyserlings selbstreflexive Ansätze auf. In Bölsches »Mittagsgöttin« deutet sich dies bereits in der Reflexion des eigenen nicht-Erzählens an. Anders als in anderen Weltanschauungsromanen steht hier dann am Ende auch nicht eine ›neue‹ Weltanschauung, sondern die Rückkehr zur Wissenschaft. In diesem Zusammenhang folgt der Text wie dargelegt auch nicht dem Muster vormodernes Land – moderne Großstadt und weltanschauliche Verwirrung – Rückzug, privates Glück und weltanschauliche Klärung auf dem Land; die »Mittagsgöttin« setzt in der Großstadt ein und endet in der Großstadt. Der Roman macht mit der Rückkehr in die Stadt und zur Wissenschaft sowie der Absage an weitere weltanschauliche ›Geisteskämpfe‹ nicht nur vor dem Hintergrund des Weltanschauungsbedürfnisses und Sinnproblems das Scheitern des spiritistischen Klärungsprozesses zum Thema, er stellt zugleich die zirkuläre Anlage des Narrativs der weltanschaulichen Klärung und damit auch das erzählerische Scheitern vor Augen. Dieses eher implizit verbleibende reflexive Moment des Textes in Bezug auf das Erzählen vom weltanschaulichen Klärungsprozess und seinem Scheitern hat im Übrigen auch Auswirkungen auf die literarische Form des Textes: Nicht nur hat es Auswirkungen auf das narrative Schema des Weltanschauungsromans, daneben wird dieser Text auch nicht von einem auktorialen weltanschaulichen Erzähler, sondern von einem Ich-Erzähler erzählt. Infolgedessen fehlen auch die für den Weltanschauungsroman typischen einordnenden Kommentare und Exkurse des übergeordneten Erzählers. Nicht zuletzt markiert der Text wie gezeigt explizit die Grenzen weltanschaulichen Erzählens – es deuten sich hier Ansätze einer Reflexion über die Unzulänglichkeiten der Sprache an. 1418 Ebd., S. 401. 1419 Ebd., S. 405, Hervorhebung im Original. 1420 Ebd., S. 402.

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Deutlicher zeigt sich die Sprachskepsis in Keyserlings Roman »Die dritte Stiege«: »Der radikale Antagonismus von Wort und Tat, zwischen denen es keine Vermittlung mehr gibt, ist die zentrale Figur in Keyserlings Roman.«1421 Das erste weltanschauliche Scheitern ist in Keyserlings Roman ein Scheitern nicht nur der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, sondern gerade ein Scheitern der Theorie selbst und ihrer Sprache: »›[…] und ich Narr – ich wollte – mit ein wenig Gerede das Volk retten! […]‹«1422 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Rückzug auf den Lebensbegriff, der die Abkehr von Theorie und Sprache impliziert, ein Spezifikum des Keyserlingschen Romans ist. Dies ist nun seinerseits von der Sprachskepsis, die der Roman beinhaltet, her zu verstehen: Der als Möglichkeit zur Rettung propagierte Verzicht auf Gedanken und Theorie impliziert den weitgehenden Verzicht auf die Sprache: aus den […] Sätzen, die das Endstadium der Entwicklung der Hauptfigur dokumentieren, spricht eine kaum mehr zu überbietende Sprachskepsis.1423

Damit aber ist in letzter Konsequenz keine abschließende, intellektuelle weltanschauliche Klärung, kein gesicherter weltanschaulicher Standpunkt, von dem aus Moderne erträglich wird, mehr möglich. Der Roman endet in der radikalen Abkehr des Protagonisten von jeglicher Theorie und Weltanschauung und dem Rückzug ins Private, dem Rückzug in den entfernten Erdenwinkel: »Was nun?« sagte Kumpf und blieb stehen. »Fort« – meinte Lothar. »Ja – fort –; natürlich. Hier können sie uns nicht brauchen; und wir sie nicht – wir, die Wissenden.« »Die Wissenden!« Eine große Bitterkeit stieg in Lothar auf. »Ich fürchte, die Wissenden haben nicht verstanden, und sie müssen umlernen. Leben ist doch anders, als wir meinten. Vielleicht giebt es noch einen Winkel, wo man es lernt.« Klumpf zuckte die Achseln: »Versuch’s!«1424

Vor dem Hintergrund der Sprachskepsis macht der Roman explizit stark, was im Weltanschauungsroman im Allgemeinen gemeinhin als Ausdruck des eigenen Unvermögens, die endgültige weltanschauliche Klärung in Sprache zu fassen, zu werten ist: Als letzer Ausweg aus dem weltanschaulichen Dilemma bleibt nurmehr der Rückzug ins Private, das individuelle (Ehe)Glück. Anders als andere Weltanschauungsromane, die bei gleichzeitigem Unvermögen der Darstellung, die sich in der Überlagerung der Weltanschauungsproblematik durch das individuelle Eheglück und den Rückzug ins Private äußert, doch einen solchen Ausweg annehmen, bleibt der Roman Keyserlings diesen nun wie dargelegt 1421 1422 1423 1424

Steinhilber : Eduard von Keyserling, S. 44. Keyserling: Die dritte Stiege, S. 286. Steinhilber : Eduard von Keyserling, S. 47. Keyserling: Die dritte Stiege, S. 294.

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gerade schuldig. Mehr noch: Ist das individuelle Eheglück im Weltanschauungsroman allgemein zwar auch Ausdruck des Scheiterns sowohl des Klärungsprozesses selbst als auch seiner literarischen Darstellung, so wird es bei Keyserling dahingegen explizit stark gemacht. Und so ist es dann nur konsequent, dass Keyserlings Protagonist Lothar seine ›Erlösung‹ auch nicht im individuellen Glück finden kann – Tini wird von ihrem Liebhaber Chawar ermordet. Der Roman Keyserlings ist nun zwar einerseits noch dem Weltanschauungsroman zuzuordnen, markiert aber zugleich ebenso wie schon früh der Roman Bölsches gewissermaßen die Schwelle zu jenen Texten, die ihrerseits ohne selbst mehr Weltanschauungsromane im engeren Sinn zu sein weltanschauliches Erzählen reflektieren.

IV.4.2 Ironisierung – Paradoxierung – Historisierung. Formen literarischer Reflexion weltanschaulichen Erzählens Bisher stand der Weltanschauungsroman im engeren Sinn im Mittelpunkt, herausgearbeitet wurden inhaltliche wie erzählerische Charakteristika dieses Texttypus der Jahrhundertwende. Nun hat schon Horst Thom8 am Rande darauf hingewiesen, dass auch literaturwissenschaftliche Prestigeobjekte wie Thomas Manns ›Der Zauberberg‹ oder Robert Musils ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ […] in diese Linie eingeordnet werden [können]. Beide Romane erzählen die verwirrende Konkurrenz der Weltanschauungen mit dem Ziel, auf der Ebene der Figuren die Genesis von Überzeugungen zu erfassen und zugleich einer Desorientierung der Zeit entgegenzuwirken, die die Instanz des Autors teilt.1425

Nachfolgend soll daher ohne Anspruch auf Vollständigkeit schlaglichthaft auch auf einige Beispiele literarischer Reflexion des Texttypus – und seiner inhaltlichen wie narrativen Paradoxien und Probleme – in der Literatur eingegangen werden. Ironisierung. Zur frühen Reflexion weltanschaulichen Erzählens [Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann] Sowohl Gerhart Hauptmann1426 als auch Hermann Hesse1427 zeigen Affinitäten zur Lebensreformbewegung; Hesse etwa lebt eine Zeitlang in Gaienhofen am 1425 Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 366/367. 1426 Zu Hauptmanns Bezug zur Lebensreform vgl. unter anderem Zimmermann, Rolf Christian: Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«. Melodram einer Trinkerfamilie oder Tragödie

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Bodensee in einem nach Prinzipien der Lebensreform eingerichteten Haus. In den Texten beider Autoren hinterlassen die Reformbewegungen dann gleichermaßen Spuren – der vielleicht bekannteste Bezug ist der Sozialreformer Alfred Loth in »Vor Sonnenaufgang«, der nicht nur erkennbar von der Lebensreform, insbesondere der Anti-Alkoholbewegung her zu lesen ist, sondern zugleich für Siedlungsprojekte in Übersee steht. Dennoch sind diese Texte nicht als ›literarisch gewordene Lebensreform‹ misszuverstehen, denn sie beobachten und beschreiben die Reformbewegungen mit kritischer Distanz und stellen ihre innere Widersprüchlichkeit, ihre Paradoxien heraus. Nicht nur im Drama, auch im Erzähltext »Der Apostel«1428 setzt sich Hauptmenschlicher Blindheit? In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Stuttgart, Jahrgang 69 Heft 3 (September 1995), S. 494–511; Sprengel: Nacktkultur mit Püriermaschine; ders.: Konversion eines Apostaten? Gerhart Hauptmann und die Lebensreform. In: Carstensen, Thorsten/Schmid, Marcel (Hrsg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900. Bielefeld 2016, S. 231–250; Crepl-Kaufmann, Gertrude/Kauffeldt, Rolf: »Natureinsamkeit bei brausender Weltstadt«. Der Friedrichshagener Dichterbund und die Neue Gemeinschaft in Berlin. In: Buchholz, Kai/Latocha, Rita/Peckmann, Hilke/Wolbert, Klaus (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bände. Darmstadt 2001, Band 1, S. 515–520. 1427 Zu Hesses Bezug zur Lebensreform vgl. Rademacher, Martin: Hermann Hesse – Monte Verit/. Wahrheitssuche abseits des Mainstreams zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für junge Religionswissenschaft, Vol. vi (2011), URL http://www.zjr-online.net/ vi2011/zjr201104_radermacher.pdf (Abrufdatum 20. 12. 2015); Geist, Kathrin: Der Nacktkletterer vom Monte Verit/. Hermann Hesses »In den Felsen« als kritische Auseinandersetzung mit der Lebensreform. In: Carstensen, Thorsten/Schmid, Marcel (Hrsg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900. Bielefeld 2016, S. 193–207. Daneben auch Hinweise in Radkau, Joachim: Die Verheißungen der Morgenfrühe. Die Lebensreform in der neuen Moderne. In: Buchholz, Kai/Latocha, Rita/ Peckmann, Hilke/Wolbert, Klaus (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bände, Darmstadt 2001. Band 1, S. 55–60 sowie in Sprengel: Nacktkultur mit Püriermaschine. 1428 Explizit zur Novelle »Der Apostel« Fattori, Anna: Gerhart Hauptmann – Der Apostel (1890). In: Tarot, Rolf (Hrsg.): Erzählkunst der Vormoderne. Bern 1996, S. 281–393. Fattori hebt wesentlich auf eine narratologische und erzählhistorische Textanalyse und -einordnung ab; daneben gibt es aber auch einzelne Hinweise auf zivilisationskritische bzw. kulturpessimistische Momente des Textes, die mit dem Wahnsinn der Hauptfigur enggeführt werden (vgl. ebd., S. 286 und S. 300). Neymeyr, Barbara: Landschaft und Pathographie. Goethes »Werther« als Subtext für Büchners »Lenz« und Hauptmanns »Apostel«. In: Kim, Hee-Ju (Hrsg.): Wechselleben der Weltgegenstände: Beiträge zu Goethes kunsttheoretischem und literarischem Werk. Heidelberg 2010, S. 219–243; Neymeyr, Barbara: Jesus-Imitation – Savonarola-Mimikry – Derleth-Echo. Strategien zur Inszenierung religiöser Hybris in Gerhart Hauptmanns »Apostel« sowie in Thomas Manns »Gladius Dei« und »Beim Propheten«. In: Beßlich, Barbara/Martin, Dieter (Hrsg.): ›Schöpferische Restauration‹. Traditionsverhalten in der Literatur der Klassischen Moderne. Würzburg 2014, S. 171–192. Daneben Hinweise auf »Der Apostel« auch in Bernhardt, Rüdiger : Literarische Wanderer zwischen Künstlerkolonien. Von Skandinaviern, Deutschen und Polen. In: Neumann, Bernd/Albrecht, Dietmar/Talarczyk, Andrzei (Hrsg.):

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mann mit dem Phänomen der Reform-Apostel um 1900 auseinander. Hauptmanns novellistischer Text zielt auf die Darstellung der charakterlichen und psychischen Disposition jener Prediger der Jahrhundertwende. Dieser Text ist in Gänze weniger vom Texttypus des Weltanschauungsromans her zu verstehen, sondern als narrative Ausgestaltung eines jener zur ›Diskursgrammatik‹ gehörenden Diskursfiguren, der Apostel-Figur, die ihrerseits kritisch beleuchtet wird. Der sehr kurze Erzähltext knüpft zwar inhaltlich an den weltanschaulichen Klärungsprozess an – in einer kurzen Rückblende erinnert sich der »Apostel« flüchtig, »wie er zu dem Kostüm, das er trug und das ihn von allen übrigen Menschen unterschied, gekommen war : die Gestalt Meister Dieffenbachs ging vorüber. – Dann war es ein Sprung in frühe Jahre: Er sah sich selbst in der sogenannten Normaltracht zur Schule gehen«1429 – legt den Schwerpunkt jedoch dann auf die psychische Disposition des ›Apostels‹. Der lebensreformerische Kontext des »Apostels« wird auch hier zunächst über die Aktivierung jener bekannten weltanschaulich-kulturkritischen Diskursfiguren aufgerufen: Schon das Aussehen der Hauptfigur, die Sandalen, Frieskutte und einen Strick als Gürtel, lange Haare und einen keilförmigen Bart trägt1430, verdeutlicht ihre Zugehörigkeit zur Lebensreform. Ihre kulturkritische Grundhaltung gegenüber der Moderne1431 wird gleich zu Beginn markiert: Der Kopf schmerzte ihn. Er schob es auf die lange Eisenbahnfahrt vom gestrigen Tag. Um so etwas auszuhalten, mußte man Nerven wie Seile haben. Er haßte diese Bahnen mit ihrem ewigen Gerüttel, Gestampf und Gepolter, ihren jagenden Bildern; – er haßte sie und mit ihnen die meisten anderen der sogenannten Errungenschaften dieser sogenannten Kultur.1432

Erkennbar schließt der Text hier sowohl an das Symbol der Eisenbahn als Signum der Moderne als auch an den Nervositätsdiskurs der Jahrhundertwende an.1433 Der kulturkritischen Grundhaltung entspricht ferner die Ablehnung der modernen Großstadt:

1429 1430 1431 1432 1433

Literatur, Grenzen, Erinnerungsräume: Erkundungen des deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraums als einer Literaturlandschaft. Würzburg 2004, S. 323–338; Requardt, Walter/ Machatzke, Martin: Gerhart Hauptmann und Erkner. Studien zum Berliner Frühwerk. Berlin 1980. Hauptmann: Der Apostel, S. 71/72. Vgl. ebd., S. 72. Vgl. schon Fattori: Gerhart Hauptmann – Der Apostel (1890), S. 286, die auf die zivilisationskritischen Aspekte insbesondere der Eisenbahnszene zu Beginn hingewiesen hat. Hauptmann: Der Apostel, S. 71. Es ist an dieser Stelle der Erzählung noch nicht absehbar, dass der »Apostel« offensichtlich psychische Probleme hat und also auch in kritischer Distanz an den Wahnsinn als Gegenpol zur Bürgerlichkeit angeschlossen wird – hier kann der Text als Vorläufer des Expressionismus gelesen werden.

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Nun war es die Stadt unten, die ihn anzog und abstieß. Wie ein grauer, widerlicher Schorf erschien sie ihm, wie ein Grind, der weiterfressen würde, in dies Paradies [sic!] hineingeimpft: Steinhaufen an Steinhaufen, spärliches Grün dazwischen. […] Jawohl, das stand außer Zweifel: Städte waren nicht besser als Beulen, Auswüchse der Kultur. Ihr Anblick verursachte ihm Ekel und Weh.1434

Der negativen Kultur stellt der »Apostel« dann ein monistisches Naturerleben entgegen: Zwischen den Buchen angelangt, ließ er sich nieder. Lang ausgestreckt, den Kopf dicht an der Erde, Humus- und Grasgeruch einziehend, die transparenten Halme dicht vor den Augen, lag er da. Ein Behagen erfüllte ihn so, eine schwellende Liebe, eine taumelnde Glückseligkeit.1435

Die Passage folgt unmittelbar auf die vorherige, die den Blick vom Berg (Höhenmetaphorik) auf die tiefer gelegene Stadt eröffnet – hier wird die diskursive Figur des weltanschaulichen Blickes aufgegriffen. Darüber hinaus wird die Lichtmetaphorik herangezogen (»Auf der Straße war noch niemand. Einsamer Sonnenschein lag darauf.«1436). Schließlich wird der weltanschauliche Klärungsprozess bzw. die Wirkabsicht des ›Apostels‹ als »Weg« verstanden, genauer als »Weg zum Frieden«1437, zum »Weltfrieden«1438 : »Er kannte diesen Weg. Man betrat ihn durch ein Tor mit der Aufschrift: Natur.«1439 Nachfolgend glaubt der »Prediger des Friedens«, Jesus gleich zu sein und die Menschheit erlösen zu können: »Die Zeit war gekommen. Etwas mußte geschehen. In ihm war eine Kraft, die Menschheit aufzurütteln.«1440 Der Anschluss an das Erlösungsdenken der Lebensreform ist deutlich, zugleich ist die religiöse Dimension der Bewegung markiert. Im Übrigen interessiert der namenlos verbleibende ›Apostel‹ nicht im Individuellen, sondern im Allgemeinen – er ist »ein Typus; nicht das Individuum, sondern die Gattung ist gemeint.«1441 Damit steht er stellvertretend für jene Apostel der Jahrhundertwende, wie sie insbesondere im Umfeld der Lebensreform auftauchen. Insoweit also die Figur des Apostels in diesem Erzähltext aufgegriffen und vor dem Hintergrund kulturkritischer Moderne-Beobachtung dessen weltanschaulicher Standpunkt und seine Wirkabsicht thematisiert werden, kann auch dieser Text in einem ersten Zugriff vor dem Hintergrund jener Erzähltexte der Jahrhundertwende, die den weltanschaulichen Klärungsprozess narrativ aus1434 1435 1436 1437 1438 1439 1440 1441

Hauptmann: Der Apostel, S. 74. Ebd., S. 74/75. Ebd., S. 72. Ebd., S. 76. Ebd., S. 82. Ebd., S. 76. Ebd., S. 81. Requardt/Machatzke: Gerhart Hauptmann und Erkner, S. 236.

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gestalten, verstanden werden. Ein zweiter Zugriff zeigt jedoch, dass der Text den weltanschaulichen Impetus gerade bricht: Er ironisiert und karikiert diesen nicht nur, insofern der selbsternannte Apostel offensichtlich psychisch krank ist, werden seine reformerischen Bestrebungen einer Menschheitserlösung ad absurdum geführt. Die Distanz zur lebensreformerischen Weltanschauung realisiert Hauptmann (erzählhistorisch ausgesprochen modern1442) über eine interne Fokalisierung, genauer Wiedergabe der Bewusstseinsebene des Protagonisten. Das ermöglicht zum einen, die Selbstverliebtheit des Friedens-Predigers offen zu legen: Ihm war wohl und zufrieden. Nur daß er sich selbst nicht sehen konnte, bedauerte er. Er selbst mit seinem edlen Gange, einsam in der Frühe auf die Berge steigend: das hätte ein Motiv abgegeben für einen großen Maler ; und das Bild stand vor seiner Phantasie.1443

Vor allem aber ermöglicht es, die psychische Verfasstheit des Wanderpredigers offen zu legen. Wirkt er zu Beginn der kurzen Erzählung noch psychisch stabil, wird recht schnell deutlich, wie psychisch labil er tatsächlich ist: »Übrigens fing das merkwürdige Schwatzen – im Ohr oder gar im Kopf drinnen, er wußte nicht wo – wieder an. Seit einigen Wochen plagte es ihn.«1444 Vor diesem Hintergrund muss der Rezipient nicht nur die eingangs geäußerte Selbsteinschätzung der Kopfschmerzen als Folge der Eisenbahnfahrt – und damit die kulturkritischen Einsprüche gegen die Moderne überhaupt – potentiell einer kritischen Neubewertung unterziehen. Nachfolgend ist darüber hinaus für den Rezipienten nicht mehr deutlich zu unterscheiden, wo äußere Realität in Tagtraum oder in Traum übergeht und umgekehrt.1445 Die narrative Ausgestaltung der Apostel-Figur wird so zum Psychogramm eines dem Wahnsinn verfallenen, eines pathologischen Lebensreform-Apostels. Auch Hermann Hesses Erzähltext »Doktor Knölges Ende«1446 stellt eine Apostel-Figur in den Mittelpunkt. Von Beginn an wird hier eine distanzierte Haltung gegenüber der Lebensreform eingenommen, wäre doch der Protagonist selbst, Doktor Knölge, »gewiß niemals in Verbindung mit den Vegetariern und 1442 Insofern ist der Text hinsichtlich seines Erzählens gerade nicht von der Weltanschauungsdichtung her zu verstehen. 1443 Hauptmann: Der Apostel, S. 73. Vgl. auch ebd., S. 72: »Mit Wohlgefallen spiegelte er sich. Warum sollte er es auch nicht? Warum sollte er sich selbst nicht bewundern in allem, da er doch nicht aufhörte, die Natur zu bestaunen in allem, was sie hervorbrachte?« 1444 Ebd., S. 73. 1445 Vgl. insbesondere ebd., S. 83/84, wo der Prediger sich zunächst auf eine Bank setzt, dann (scheinbar oder nicht-scheinbar?) aus einem Traum erwacht und sich in der Züricher Kammer wiederfindet, schließlich erneut erwacht und sich wieder auf der Bank befindet. Ähnlich auch ebd. S. 76/77, wo der Protagonist zwischen Bewusstsein und »Tollheit« (ebd., S. 76) schwankt. 1446 Hinweise auf »Doktor Knölges Ende« und »Der Weltverbesserer« in Rademacher : Hermann Hesse – Monte Verit/.

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dem Vegetarismus gekommen, wenn nicht eine Neigung zu Atemnot und Rheumatismen ihn einst zu einer vegetarischen Diätkur getrieben hätten.«1447 Und so pflegt er anlässlich verschiedener Kuraufenthalte und schließlich seiner Reise in eine Vegetarier-Kolonie in Kleinasien gleichermaßen eine Nähe wie Distanz zur eigentlichen Lebensreform, gegenüber der er so eine Position des teilnehmenden Beobachtens einnehmen kann. Das ermöglicht es, differenziert die recht heterogenen ›Aposteltypen‹ vorzustellen, deren Bandbreite »flüchtig gegangene Priester und Lehrer aller Kirchen, falsche Hindus, Okkultisten, Sprachlehrer, Masseure, Magnetopathen, Zauberer, Gesundbeter«1448 umfasst. Vor allem aber ermöglichst es, die charakterliche und psychische Disposition dieser Wanderprediger zu beobachten: Dieses ganz kleine Volk exzentrischer Existenzen bestand weniger aus Schwindlern und bösen Menschen als aus harmlosen Betrügern im Kleinen, denn große Vorteile waren nicht zu gewinnen, und die meisten suchten denn auch nichts anderes als ihren Lebensunterhalt, der für einen Pflanzenesser in südlichen Ländern sehr wohlfeil ist. Die meisten dieser in Europa und Amerika entgleisten Menschen trugen als einziges Laster die so vielen Vegetariern eigene Arbeitsscheu mit sich. Sie wollten nicht Gold und Genuß, Macht und Vergnügen, sondern sie wollten vor allem ohne Arbeit und Belästigung ihr bescheidenes Leben führen können.1449

Während nun die Mehrheit der Apostel als an der eigentlichen Menschheitserlösung nicht primär interessiert und also als scheinheilig abqualifiziert wird, gibt es eine Figur, die gleichermaßen dogmatisch der eigenen Weltanschauung verpflichtet ist wie sie keine andere Weltanschauung daneben gelten lässt: Er ist der »konsequenteste und erfolgreichste Vertreter«1450 der Frugivoren in der Lebensreform-Kolonie in Kleinasien. Doktor Knölge selbst steht diesem Frugivoren skeptisch gegenüber – dies kann als Rezeptionsangebot an den Leser gelesen werden – er verkörpert intradiegetisch den Typus des fanatischen Weltanschauungs-Apostels: Dieser Jonas der Vollendete, dieser ›Gorilla‹, war unserem Doktor Knölge im Innersten seiner bescheidenen Seele zuwider. Alles, was er in seinem Herzen je gegen die Auswüchse vegetarischer Weltanschauung und fanatisch-tollen Wesens schweigend bewegt hatte, trat ihm in dieser Gestalt schreckhaft entgegen und schien sogar sein eigenes maßvolles Vegetariertum grell zu verhöhnen.1451

1447 Hesse, Hermann: Doktor Knölges Ende. In: ders.: Sämtliche Werke, Band 7, Die Erzählungen 1907–1919, hrsg. von Volker Michels, Frankfurt/Main 2001, S. 369–375, hier S. 369. 1448 Ebd., S. 371. 1449 Ebd., S. 371. 1450 Ebd., S. 373. 1451 Ebd., S. 374.

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Indem nun die Figur des »Jonas« Doktor Knölge lediglich deshalb umbringt, weil dieser sich ihm bei einer zufälligen Begegnung entgegenstellt »mit so viel Hohn und Beleidigung in der Stimme, als er aufzubringen vermochte: ›Sie erlauben, daß ich mich vorstelle. Doktor Knölge‹«1452 wird nun die Figur des Apostels soweit überzeichnet, dass er ins Gegenteil umschlägt und auch hier das Psychogramm eines Irren entsteht. Hesses Erzählung »Der Weltverbesserer«1453 schließlich greift nicht nur eine Diskursfigur des Weltanschauungsdiskurses auf, gestaltet sie narrativ aus und reflektiert sie zugleich literarisch, diese Erzählung kann darüber hinaus gleichermaßen als verdichtete Version des Texttypus Weltanschauungsroman und als dessen kritische Brechung gelesen werden. Erzählt wird der weltanschauliche Bildungsprozess des Protagonisten Berthold Reichardt, der – zunächst – dem Schema des Weltanschauungsromans folgt: Kindheit und Studium sind der Erzählung zeitlich vorgelagert, die Erzählung setzt mit der Ankunft des Protagonisten in München ein. Schon während seines Studiums ist eine gewisse Orientierungslosigkeit kennzeichnend für Reichardt1454, bei der Ankunft in München fehlen ihm noch »ein festes, klares Verhältnis zum Leben und eine berechtigte Stelle im Gefüge menschlicher Tätigkeiten«1455 ; er »dürstete […] danach, am Entstehen neuer Zeiten und Werke mitzuraten und mitzubauen und im Werden und Emporkommen seiner Generation mitzuwachsen.«1456 In der Großstadt erhält er zunächst mit der Künstlergruppe um Hans Konegen ein erstes Weltanschauungsangebot, erkennt jedoch schnell die Egozentrik seines Künstlerfreundes: Und so ging es weiter, munter Plan auf Plan, bis Reichardt beinahe wieder lachen konnte. Überall sollte er der Unternehmer sein, das Geld aufbringen und riskieren, Konegen aber war der Direktor, der technische Leiter, kurz die Seele von allem. Zum erstenmal erkannte er deutlich, wie eng alle Kunstgedanken des Malergenies nur um dessen eigene Person und Eitelkeit kreisten, und er sah nachträglich mit Unbehagen, wie wenig schön die Rolle war, die er in der Vorstellung und den Absichten dieser Leute gespielt hatte.1457

Es kommt zum Bruch mit der Künstlergruppierung. Es folgt ein zweites Weltanschauungsangebot: Nach einem Aufeinandertreffen mit dem LebensreformApostel van Vlissen wendet sich Reichardt der Lebensreform zu. An dieser Stelle greift der Text auch die kulturkritischen Einwände gegen die Zumutungen der 1452 1453 1454 1455 1456 1457

Ebd., S. 374. Hesse: Der Weltverbesserer. Vgl. ebd., S. 454 – der Protagonist wechselt wiederholt das Studienfach. Ebd., S. 454. Ebd., S. 454. Ebd., S. 461.

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Moderne, denen im Weltanschauungsroman der weltanschauliche Bildungsprozess gegenübergestellt wird, auf: Der gelehrige Gelehrte sah sich rings von Falschheit und Schwindel umgeben, er sah die Städte vom Kohlenrauch beschmutzt und vom Geldhunger korrumpiert, das Land entvölkert, das Bauerntum aussterbend, jede echte Lebensregung an der Wurzel bedroht. Dinge, die er noch vor Tagen mit Gleichmut, ja mit Vergnügen betrachtet hatte, enthüllten ihm nun ihre innere Fäulis.1458

Erkennbar sind hier nun allerdings jene kulturkritischen Diskursfiguren, die der Weltanschauungsroman auf der Ebene der Erzählung selbst ansetzt, ausschließlich auf die Ebene der Figurenwahrnehmung verschoben – und werden darüber hinaus von vornherein problematisiert insofern es sich gerade nicht um die unmittelbare Wahrnehmung des Protagonisten selbst, sondern um vermittelte Weltwahrnehmung handelt. Der Lebensreformer van Vlissen vermittelt ein Weltbild, vermittelt Orientierung – was in der Folge dazu führt, dass der Protagonist ein Haus mit Obstgarten in Tirol kauft und sich von der Stadt auf das Land zurückzieht, um das Leben eines Lebensreformers in letzter Konsequenz zu leben. Dass auch dieses Weltanschauungsexperiment zum Scheitern verurteilt ist, wird von Beginn an deutlich gemacht, wird die Zeit vom Erzähler doch mit den Worten eingeleitet: »Es begann jetzt Berthold Reichardts Martyrium.«1459 Gegeneinander aufgerechnet werden nachfolgend, um das an dieser Stelle nur kurz zu skizzieren, Theorie und Praxis bzw. Erfahrungswissen1460, auch die Lebensreformer erscheinen als egoistische Zeitgenossen1461, der Protagonist findet als Städter sein Glück auf dem Land nicht1462. Es kommt, wie es kommen muss: Anlässlich eines Lebensreform-Kongresses zurück in der Stadt, muss der Protagonist seine weltanschauliche Verirrung erkennen, wendet sich von seinen Überzeugungen ab und findet sein privates Glück bei einer Frau. Auch hier erinnert der Text nun an den Texttypus des Weltanschauungsromans – anders als in diesem ist das private Glück aber nicht mit einer endgültigen weltanschaulichen Klärung, sondern mit dem endgültigen Bruch mit allen Weltanschauungsangeboten verbunden. Am Ende des Textes steht im Übrigen nicht nur das Scheitern der Welterlösung im Speziellen, sprich das weltanschauliche Scheitern des Protagonisten, sondern insofern der Kongress als solcher ebenfalls scheitert, das Scheitern der Welterlösung im Allgemeinen: Als der Redner zu Ende war, meldeten sich viele zur Erwiderung, und es machte sich bereits die erste Woge der Rechthaberei und Unduldsamkeit bemerklich, welche fast 1458 1459 1460 1461 1462

Ebd., S. 463. Ebd., S. 470. Vgl. ebd., S. 471. Vgl. ebd., S. 472ff. Vgl. ebd., S. 470.

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allen diesen ehrlichen Köpfen die Weite und Liebe nahm und woran auch dieser ganze Kongreß, statt der Welterlösung zu dienen, kläglich scheiterte.1463

Der Text greift also auf der inhaltlichen Ebene zunächst auf jene weltanschaulich-kulturkritischen Muster des Weltanschauungsromans zurück, ohne sie aber auf einer den Figuren übergeordneten Erzählebene anzuordnen; vielmehr wird der weltanschauliche Bildungsprozess auf der Ebene der Erzählung selbst kritisch gebrochen, werden die Paradoxien der weltanschaulichen Angebote und Bewegungen herausgearbeitet. Während der Text also inhaltlich an die Weltanschauungsdichtung anschließt, gilt dies hinsichtlich der Organisation des Erzählens selbst nicht: Der Text installiert gerade keinen weltanschaulichen Erzähler. Schon der Künstlerkreis wird von Beginn an vom Erzähler kritisch beobachtet: »Es fiel ihm [Reichardt] nicht auf, wie wenig und mit wie geringer Leidenschaft in den Ateliers seiner Freunde gearbeitet wurde.«1464 Der Text setzt also einen extradiegetischen Erzähler ein, der den weltanschaulichen Bildungsprozess von Beginn an begleitet, kritisch kommentiert und reflektiert. Auch dieser Erzähler verfügt zunächst souverän über die Entwicklung seines Helden und dessen weltanschaulichen Klärungsprozess – unterscheidet sich vom weltanschaulichen Erzähler dann aber wesentlich hinsichtlich seiner kritischen Haltung gegenüber dem weltanschaulichen Klärungsprozess.1465 Darüber hinaus setzt der Text – auch hier anders als der Texttypus des Weltanschauungsromans – mit der Figur der Agnes auch intradiegetisch eine Beobachterin und Kritikerin des weltanschaulichen Klärungsprozesses ein, die als Korrektiv der fehlgeleiteten Entwicklung des Protagonisten dient: Als er dem Fräulein Weinland zum erstenmal davon berichtete, wurde sie aufrichtig betrübt. […] Sie sagte ihm ihre Meinung recht deutlich und meinte, jeder, der auch nur eine Stiefelsohle mache oder einen Knopf annähe, sei der Menschheit gewiß nützlicher als diese Propheten.1466

Es ist dies die Frau, zu der der Protagonist am Ende der Erzählung nach seiner Abwendung von den ›Aposteln‹ reumütig zurückkehrt – intradiegetisch siegt also die weltanschauungskritische Position gegenüber der weltanschaulichen. Nicht nur die kulturkritischen Einsprüche gegen die Moderne und der weltanschauliche Bildungsprozess als deren Gegenbewegung, auch das der Weltanschauung zugrunde liegende Narrativ Paradies – Sündenfall – Erlösung 1463 Ebd., S. 480. 1464 Ebd., S. 455. 1465 Daneben unterscheidet sich das Erzählen hier vom weltanschaulichen Erzählen, insofern kein Weltanschauungsautor vorausgesetzt wird, weltanschauliche Exkurse fehlen und schließlich das Erzählen selbst nicht auf die Generierung von Totalität abzielt. 1466 Hesse: Der Weltverbesserer, S. 463.

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in seiner lebensreformerischen Ausprägung, sprich Gesellschaftsreform durch Selbstreform, wird kritisch gebrochen. Dieser einfache, kindliche Mann machte Eindruck auf Reichardt. Er predigte nicht Haß und Kampf, sondern war in stolzer Demut überzeugt, daß auf dem Grunde seiner Lehre ganz von selbst ein neues paradiesisches Menschendasein erblühen werde, dessen er selbst sich schon teilhaftig fühlte. Sein oberstes Gebot war : »Du sollst nicht töten!«, was er nicht nur auf Mitmenschen und Tiere bezog, sondern als eine grenzenlose Verehrung alles Lebendigen auffaßte. Ein Tier zu töten, schien ihm scheußlich, und er glaubte fest daran, daß nach Ablauf der jetzigen Periode von Entartung und Blindheit die Menschheit von diesem Verbrechen wieder völlig ablassen werde. Er fand es aber auch mörderisch, Blumen abzureißen und Bäume zu fällen.1467

In der völligen Überzeichnung des lebensreformerischen Grundgedankens werden zugleich dessen Komik wie dessen Grenzen aufgezeigt – Grenzen, die der Protagonist selbst erkennt: »Reichhardt wandte ein, daß wir, ohne Bäume zu fällen, ja keine Häuser bauen könnten […].«1468 Noch bezieht der Protagonist die Erkenntnis nicht auf seine eigene Erlösungshoffnung – das Haus in Tirol verbindet er mit einer »ersehnten inneren Erlösung«1469 – am Ende des Textes erkennt aber auch er, dass seine Erlösungshoffnung nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Menschheit gescheitert ist, hat diese doch das Joch, von dem sie befreit werden sollte, offenbar so nie gespürt: »Und in den Straßen lief und fuhr das Volk wie ehemals und immer, als sei nichts Arges dabei und sei keine Sorge noch Gefahr in der Welt, elegante Wagen fuhren auf lautlosen Rädern zu den Theatern und die Soldaten hatten ihre Mädeln im Arm.«1470 Vor allem aber hat die Selbstreform erkennbar keine gesellschaftlichen Kreise gezogen – das Projekt muss an dieser Stelle für gescheitert erklärt werden. Schließlich greift der kurze Erzähltext Hesses auch auf eine Reihe der herausgearbeiteten weltanschaulich-kulturkritischen Diskursfiguren zurück, die ihrerseits kritisch gebrochen werden. Auf die Binäropposition von Stadt und Land und damit verbunden die Diskursfigur der Absonderung wurde bereits hingewiesen, ebenso auf den Erlösungsgedanken, der mit der diskursiven Figur des Paradieses verbunden ist, hofft doch nicht nur jener »halbnackte Vegetarier«1471, dem schon das Blumenpflücken als Mord erscheint, auf ein »neues paradiesisches Dasein«1472, sondern auch der Protagonist selbst erschafft sich nichts weniger als einen »Obstgarten«1473. Der weltanschauliche Klärungs- oder 1467 1468 1469 1470 1471 1472 1473

Ebd., S. 474. Ebd., S. 474. Ebd., S. 470. Ebd., S. 478. Ebd., S. 473. Ebd., S. 473. Ebd., S. 468.

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besser Verirrungsprozess des Protagonisten wird dann auch in diesem Erzähltext mit den diskursiven Figuren des Weges und des Wanderns verbunden: »Und plötzlich aufflammend rief sie [Agnes] fast heftig: ›Gehen Sie nur Ihren Weg! Gehen Sie ihn!‹«1474 Schließlich ist die Selbstwahrnehmung als Avantgarde, Pionier bzw. Apostel mit der Figur des van Vlissen adressiert. Auch diese Figur wird insofern kritisch gebrochen, als die Einflussnahme des LebensreformApostels van Vlissen auf Reichardt im Text offengelegt wird: »Am folgenden Tag merkte van Vlissen wohl, daß sein Jünger unsicher geworden und von fremden Einflüssen gestört war.«1475 Er sondert seinen Jünger von der Gesellschaft ab, fährt mit ihm in den Wald und ›impft‹ ihn hier : Aus dem Walde tretend sahen sie Äcker ausgebreitet, ein Bauer fuhr am Horizont langsam mit schweren Gäulen dahin, und langsam begann van Vlissen zu sprechen, von Saat und Ernte und lauter bäuerlichen Dingen, und entfaltete in einfachen Worten ein Bild des ländlichen Lebens, das der stumpfe Bauer unbewußt führe, das aber, von bewußten und dankbaren Menschen geführt, voll Heilung und geheimer Kraft sein müsse. Und der Jünger fühlte, wie die Weite und Stille und der ruhige große Atem der ländlichen Natur Sprache gewann und sich seines Herzens bemächtigte.1476

Offengelegt werden sowohl die agitatorische als auch die rhetorische Überzeugungskraft des Lebensreform-Apostels, in dessen Händen der Protagonist zum Spielball wird. Die Erzählung selbst schafft zugleich Distanz zum Apostel, der am Ende einigermaßen unrühmlich stirbt: Van Vlissen »hatte in einem Dorf an der russischen Grenze, wo er der Cholera wegen in Quarantäne gehalten, aber kaum bewacht wurde, in der Bauernschenke gegen den Schnaps gepredigt und war im ausbrechenden Tumult erschlagen worden.«1477 Paradoxien ›kolonialer‹ Kulturkritik. Robert Müllers »Tropen« Mit Robert Müller arbeitet ein Autor der Wiener Moderne die Paradoxien kulturkritischer Entwürfe der Jahrhundertwende nicht nur heraus, auf der Grundlage einer »Poetik der Paradoxie«1478 dekonstruiert er in »Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs«1479 – so der vollstän1474 1475 1476 1477 1478 1479

Ebd., S. 469. Ebd., S. 467. Ebd., S. 468. Ebd., S. 475. Vgl. hierzu insb. Dietrich: Poetik der Paradoxie. Mit Müllers Rekurs auf die Freiland-Bewegung im »Tropen«-Roman hat die Forschung sich bisher kaum auseinandergesetzt; eine Ausnahme stellt Thomas Schwarz dar: ders.: Robert Müllers Tropen. Ein Reiseführer in den imperialen Exotismus. Heidelberg 2006, hier insb. Abschnitt 4.1.1 Freiland-Phantasien und das Ende des imperialen Raums (S. 84– 89). Für einen umfassenden Forschungsüberblick zu Robert Müller vgl. Liederer, Christian: Der Mensch und seine Realität. Anthropologie und Wirklichkeit im poetischen Werk

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dige Titel des vielleicht bekanntesten Müllerschen Textes – die ›koloniale‹ Kulturkritik der Jahrhundertwende bei gleichzeitigem eigenen kulturkritischen Impetus. Die Anlage des Textes ist komplex und kann an dieser Stelle nur angedeutet werden: Im Vorwort des fiktiven Herausgebers Robert Müller1480 wird die Autorschaft der Binnenerzählung dem deutschen Ingenieur Hans Brandlberger zugeschrieben, der seinerseits später im Rahmen einer anderen »Expedition von sieben Nordamerikanern und drei Deutschen, die in der Absicht, eine sogenannte Freelandkolonie zu begründen, ausgezogen waren«1481. Der Roman nimmt also explizit Bezug auf die im Anschluss an Hertzkas Entwurf entstandene Freiland-Bewegung. Sowohl das herausgegebene Manuskript als auch, wie der Herausgeber den Zeitungsnachrichten entnimmt1482, die Kolonisationspläne dieser kleinen [Freiland-]Gesellschaft stammten von dem deutschen Ingenieur Hans Brandlberger, der mit amerikanischem Kapital den großzügigen Vorsatz verwirklichen wollte, fruchtbare Gebiete des inneren Südamerika, die heute noch von unendlichem Urwald überzogen sind, weißen Farmern zugänglich zu ma-

des Expressionisten Robert Müller. Würzburg 2004, hier Abschnitt I »Robert Müller – Wege der Forschung und Ziel dieser Studie«, S. 1–14. Daneben Riedel, Wolfgang: »What’s the difference?« Robert Müllers »Tropen« (1915). In: Saul, Nicholaus/Steuer, Daniel/ Möbius, Frank/Illner, Birgit (Hrsg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher. Würzburg 1999, S. 62–76. Zu Müllers Tropen allgemein vgl. Heckner, Stephanie: Das Exotische als utopisches Potential. Zur Neubestimmung des Exotismus bei Robert Müller. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft, Jahrgang XVII (1986), S. 206– 223; dies.: Die Tropen als Tropus. Zur Dichtungstheorie Robert Müllers. Wien/Köln 1991 zur Dichtungstheorie, insbesondere dem Zusammenhang von Expressionismus und Aktivismus, bei Robert Müller ; vgl. daneben Begemann, Christian: Tropische Welten. Anthropologie, Epistemologie, Sprach- und Dichtungstheorie in Robert Müllers »Tropen«. In: Bhatti, Anil/Turk, Horst (Hrsg.): Reisen, Entdecken, Utopien. Untersuchungen zum Alteritätsdiskurs im Kontext von Kolonialismus und Kulturkritik. Bern 1998, S. 81– 91; Braungart, Georg: Exotismus und Zivilisationskritik. Robert Müller »Tropen« und Alfred Döblin »Amazonas«. In: Robert, Jörg/Günther, Friederike F. (Hrsg.): Poetik des Wilden. Festschrift für Wolfgang Riedel. Würzburg 2012, S. 439–457; Zenk, Volker : Innere Forschungsreisen. Literarischer Exotismus in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Oldenburg 2003, hier insb. S. 143ff.; Mayer, Michael: »Tropen gibt es nicht.« Dekonstruktion des Exotismus. Bielefeld 2010; Besser: Pathographie der Tropen. 1480 Vgl. zum Vorwort schon früh Kreuzer, Ingrid: Robert Müllers »Tropen«. Fiktionsstruktur, Rezeptionsdimensionen, paradoxe Utopie. In: Kreuzer, Helmut/Helmes, Günter (Hrsg.): Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887–1924). Göttingen 1981, S. 101–145, hier insb. S. 102–109; daneben auch Dietrich: Poetik der Paradoxie, hier insb. S. 17–22. 1481 Müller, Robert: Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Herausgegeben von Robert Müller Anno 1915, hrsg. von Günther Helmes. Paderborn 1990, S. 5. 1482 Vgl. ebd., S. 5.

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chen und auf kommunistischer Grundlage eine ideale Verwaltung der kultivierten Gebiete durchzuführen.1483

Die Binnenerzählung selbst handelt ihrerseits von einer früheren Expedition (eines) Brandlbergers1484. Der fiktive Herausgeber gibt also nicht die FreilandPläne, sondern den Reisebericht einer anderen, einer früheren Expedition in den südamerikanischen Urwald heraus – über die Freiland-Expedition selbst erfährt der Leser über die Erwähnung im einleitenden Vorwort hinaus weiter nichts. Die geschilderte Expedition ist weiterhin zugleich als Selbsterkundung zu lesen, als Tropus innerer Zustände: »Wenn man aber den Menschen der Zukunft fragen wird, ob er schon in den Tropen gewesen sei – ah, was Tropen, sagt er, die Tropen bin ich!«1485, so der Fluchtpunkt des Textes.1486 Nicht zuletzt gehören die zahlreichen Buchprojekte, mit denen sich die Figuren der Binnenerzählung tragen, zur komplexen Erzählanlage des Romans. Brandlberger plant zunächst ein Buch mit dem Titel »Tropen«1487 [sic!], dann eines mit dem Titel »Fieber«1488 ; Slim plant anfangs ein Buchprojekt mit dem Titel »Irrsinn«, schließlich plant er seinerseits ein Buch, das »Tropen« heißen soll1489. Van den Dusen schlussendlich schlägt – in dem Moment, in dem Slim tot ist und van den Dusen ihn ›vielleicht beerbt‹1490 hat, Brandlberger ebenfalls ein Buchprojekt vor, das den Titel »Goten« tragen solle1491. Der Roman zitiert und paradoxiert1492 dann eine Reihe von um 1900 virulenten Diskursen.1493 Dazu gehören, das hat die Forschung umfassend aufgearbeitet, insbesondere Exotismus und Imperialismus, kartographischer und ethnographischer Diskurs, Nervositätsdiskurs und Rasse- bzw. biopolitischer 1483 Ebd., S. 5. 1484 Zur Problematik der zweigespaltenen Brandlberger-Figur vgl. Kreuzer : Robert Müllers »Tropen«, S. 112f. 1485 Müller : Tropen, S. 244. 1486 Vgl. daneben die Erläuterung Slims zu seinem gleichnamigen Buchprojekt: »›[…] Das Wort hat noch einen Nebensinn. Und das Schönste ist dies, ich lasse die ganze Geschichte von einem erzählen, der gar nie in den Tropen gewesen ist. Das ist nämlich die Pointe. Es stellt sich heraus, daß er, der Nordländer, die Tropen in sich hat. Er braucht gar nicht erst an den Äquator zu gehen, er hat ihn in sich. Sein Gehirn, mit einer üppigen Vegetation von Tropen und Gleichnissen angefüllt, ist aus den Rückständen seiner Abstammung zu erklären. […] Ich werde sogar so weit gehen, eine diesbezügliche Gebrauchsanweisung einzuflechten – – – ‹« (Ebd., S. 202). 1487 Vgl. ebd., S. 184. 1488 Vgl. ebd., S. 193. 1489 Vgl. ebd., S. 202. 1490 Vgl. ebd., S. 222. 1491 Vgl. ebd., S. 221. 1492 Zur »Poetik der Paradoxie« ausführlich Dietrich: Poetik der Paradoxie. 1493 Vgl. Schwarz: Robert Müllers Tropen, S. 13, wo Schwarz herausarbeitet, dass der literarische Text Fragmente aus dem System der Diskurse zitiere, manipuliere und verdichte, die sich um 1900 im Zusammenhang mit der imperialistischen Expansion formiert hätten.

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Diskurs.1494 An dieser Stelle soll dargelegt werden, dass Müllers Roman darüber hinaus auch und gerade die Verschränkung von Kulturkritik und Kolonialismus um 1900 verhandelt. An den »Urkunden« des deutschen Ingenieurs interessiert den fiktiven Herausgeber, das markiert er explizit, Brandlberger als »Typus des beginnenden 20. Jahrhunderts vor dem großen Kriege«1495 : Dieser »legt Zeugnis ab von einem Typus«1496, er »war ein junger Mann vom Beginn des 20. Jahrhunderts, und er war durchaus so, wie alle jungen Leute dieser alten Zeit.«1497 Dieser ›Typus vor dem großen Krieg‹ (und sein bereits im Vorwort angekündigter Tod1498) sowie seine Reise sind dabei nicht nur als Versuch, »aus dem ennui der Vorkriegszeit auszubrechen«1499, sondern auch und gerade als Typus des ›kolonialen‹ Kulturkritikers zu verstehen.1500 So interessiert Brandlberger allererst angesichts der gescheiterten Freiland-Expedition. Zwar habe das Manuskript dem Herausgeber bereits früher vorgelegen, war jedoch zunächst nicht veröffentlicht worden.1501 Erst die Nachricht von der gescheiterten Freiland-Expedition, die ihrerseits »von den Zeitungen ausführlich«1502 behandelt wird und also für ein breites Interesse an der Freiland-Unternehmung steht, veranlasst den fiktiven Herausgeber, die »Urkunden eines deutschen Ingenieurs« doch noch herauszugeben.1503 Insofern der Text also die geschilderte erste Expedition mit der gescheiterten zweiten, der Freiland-Expedition, enggeführt wird, steht der Ingenieur Brandlberger nicht nur für den Typus des (Kolonial-)Reisenden und des Exotisten im Allgemeinen, sondern auch für jenen Typus des Kulturkritikers, der die Kolonie zum Ausgangpunkt einer Gesellschaftsreform durch Selbstreform macht, im Besonderen. Als solcher entspricht er, so der fiktive Herausgeber, jenem ›Typus‹ des »Grübler[s]«1504, der »ohne eigentliche Begabung und ohne Charakter, ja, kaum ein Mann von Geist«1505 gewesen sei, der aber »die gewisse geistige Energie, die dieses Jahrhundert in seinem Beginne auszeichnete«1506 besessen habe. Dieser Typus wird erkennbar gleichermaßen in den Blick ge-

1494 1495 1496 1497 1498 1499 1500 1501 1502 1503 1504 1505 1506

Vgl. hierzu detailliert die Studie von Schwarz: Robert Müllers Tropen. Müller : Tropen, S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 7. Brandlberger kommt ebenso wie alle seine Begleiter bei der zweiten Expedition ums Leben. Schwarz: Robert Müllers Tropen, S. 210, Hervorhebung im Original. Die Lesarten schließen sich nicht aus, ergänzen einander vielmehr. Vgl. Müller : Tropen, S. 6. Ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 7.

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nommen wie bereits zu Beginn des Ersten Weltkrieges historisiert und kritisch gebrochen. Der Text arbeitet dann die Paradoxien des Freiland-Diskurses heraus, stellt sie aus und überspitzt sie: »Der Freiland-Kolonialismus dieses Textes scheint von vornherein an einem paradoxen Konstruktionsfehler zu leiden, ist er doch in der zugespitzten Form, in der er hier repräsentiert wird, militärisch-kapitalistisch und freiheitlich-kommunistisch zugleich.«1507 Nicht nur ist, das markiert das oben angeführte Vorwort des fiktiven Herausgebers explizit, amerikanisches Kapital die notwendige Voraussetzung für den Aufbau einer neuen Gemeinschaft auf kommunistischer Grundlage1508, Voraussetzung der Freiland-Expedition ist ferner, dass sie »von den Regierungen der in Betracht kommenden Republiken militärischen Schutz erhalten hatte«1509. Damit greift die »freiheitliche, philanthropische Utopie bei ihrer Umsetzung auf genau dieselben militärischen Methoden [zurück], die auch ein kapitalistisch organisierter Kolonialismus bei der ›Pazifizierung‹ anwendet«1510. Aller militärischen Gewalt zum Trotz scheitert die Expedition, die im vermeintlichen Niemandsland eine neue Gesellschaftsform erproben will, schlussendlich am Widerstand der indigenen Bevölkerung, die sich »gegen die immer merkbarer übergreifende Zivilisation auf den Kriegspfad begeben«1511 hatte. Der Verweis auf den Widerstand der indigenen Bevölkerung im vermeintlichen Niemandsland ist darüber hinaus nicht nur als Offenlegung der Paradoxien des Hertzkaschen Freiland-Entwurfes im Speziellen zu verstehen, zugleich wird eines der zentralen Wahrnehmungsmuster der ›kolonialen‹ Kulturkritik im Allgemeinen dekonstruiert. Im Zusammenhang mit dem Exotismus-Diskurs ist darauf hingewiesen worden, dass die eurozentrische Wahrnehmung im Roman zum Gegenstand, der narrativ verhandelt wird, avanciert1512. So missinterpretiert insbesondere Brandlberger aus europäischer Perspektive immer wieder das Geschehen um sich herum: Und dann waren es behutsame und zurückhaltende Blicke, die uns überall her aus den Behausungen folgten. Dies war gute Art, eine vorbildliche Erziehung für den Fremdenverkehr. Frauenstimmen riefen und die Kinder zogen sich vor uns zurück. Da kam Slim des Weges daher. Er schien nicht gerade gut aufgelegt. »Laßt doch eure verdammten Schießeisen zu Hause«, schrie er schon von weitem. »Ihr macht mir doch die Leute scheu. Die Mütter fürchten für ihre Rangen, und die Alten wollen angesichts

1507 1508 1509 1510 1511 1512

Schwarz: Robert Müllers Tropen, S. 85. Vgl. Müller : Tropen, S. 5. Ebd., S. 5. Schwarz: Robert Müllers Tropen, S. 87. Müller : Tropen, S. 5. Vgl. Mayer: »Tropen gibt es nicht.«, S. 178.

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solcher Manieren nicht mit ihren Weisheiten heraus.« Ach so! Dies bezog sich also alles auf unsere Revolver?1513

Insofern die eurozentrische Wahrnehmung der Fremde zugleich Bedingung der Möglichkeit einer Wahrnehmung der überseeischen Gebiete als geeignet für lebensreformerische Projekte im Allgemeinen und die speziell adressierten Freiland-Projekte im Besonderen ist, kann deren Dekonstruktion auch als Dekonstruktion der Voraussetzungen einer ›kolonialen Kulturkritik‹ gelesen werden. Zur Dekonstruktion einer ›kolonialen Kulturkritik‹ in Müllers »Tropen« gehört weiterhin die Verhandlung ihrer Diskursfiguren. Zunächst greift der Text scheinbar auf die klassischen kulturkritischen Dichotomien von Stadt und Land, von Moderne und Vormoderne, von Zentrum und kolonialer Peripherie zurück: Der »Urwald schlug über uns zusammen«1514, die »Welt der Maschinen und der Konversation«1515 liegt hinter den Abenteurern, das »träge dumpfe Glück«1516 des Urwalds wird gegen die »nervös[e], in jeder Minute fatal[e], […] unbeschaulich[e] Stadt«1517 ausgespielt. Einmal aufgerufen, werden die Basisdichotomien des kulturkritischen Denkens dann aber gerade nicht aufrecht erhalten. Stadt und Dschungel fallen zunehmend zusammen: Nicht nur unterscheidet sich die Indigene »Zana […] von keiner Boulevarddame wesentlich«1518, auch die Anlage des Dorfes im Landesinneren erinnert auffällig an die Anlage Wiens1519 : »Ich fand drei Ringstraßen, die in konzentrischen Kreisen um ein mittleres Prachtgebäude, eine große bemalte Hütte, angelegt waren.«1520 Vor diesem Hintergrund wird dann der Fluchtpunkt (kolonialer) Kulturkritik, das ›Paradies‹ in der Fremde, als Möglichkeit auch explizit negiert1521: »Gibt es eine Sehnsucht nach fernen Ländern, nach anderen Ländern, nach wunderbaren Dorados und Schlupfwinkeln des Abenteuers? Es gibt sie nicht! Was immer der Mensch findet, er findet es in sich […].«1522 Die Diskursfigur des Paradieses in der Ferne wird als Illusion entlarvt und damit zugleich dem Wunsch nach einer anderen Gesellschaft, die in Übersee gegründet werden kann, eine Absage erteilt. In diesem Zusammenhang ruft der Text auch die um 1900 verbreitete Wahrnehmung Brasiliens als ›Land der Zukunft‹ auf, die schon bei Friedrich Fabri eine Rolle 1513 1514 1515 1516 1517 1518 1519 1520 1521 1522

Müller : Tropen, S. 44. Ebd., S. 13. Ebd., S. 13. Ebd., S. 16. Ebd., S. 16. Ebd., S. 23. Vgl. hierzu schon Schwarz: Robert Müllers Tropen, S. 112. Müller : Tropen, S. 43. Vgl. ähnlich bereits Zenk: Innere Forschungsreisen, S. 128/129. Müller : Tropen, S. 243.

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gespielt hat1523 und auf die auch Brandlberger zurückgreift (»O, Brasilien ist ungeheuer und ein Land der Zukunft […].«1524). Eine genaue Lektüre des Textes verdeutlicht jedoch, dass die Nennung geographischer Referenzpunkte nicht nur nicht verlässlich ist, sondern sich zugleich zum »für die ›Tropen‹ konstitutiven Phänomen der ›paradoxen Geographie‹«1525 verdichtet. So ist das Ziel der Reise eigentlich »ein Felsen im Innern Gujanas«1526 und also gerade nicht Brasilien – während der Reise selbst wird letzteres jedoch mehrfach als Reiseort benannt, man befindet sich etwa »am Ufer eines brasilianischen Flusses«1527. Brandlbergers ›Land der Zukunft‹, hat insofern gerade keine geographische Entsprechung mehr : Es wird zum bloß Imaginierten. Damit stellt Müller eine der diskursiven Grundfiguren der ›kolonialen Kulturkritik‹ als das heraus, was sie ist: Ein Produkt des Diskurses selbst, das keine außerdiskursive Entsprechung hat. Müllers Text arbeitet damit nicht nur die zentralen Paradoxien, die gerade die Hertzkasche Utopie, aber auch andere kulturkritische Projekte in Übersee prägen, heraus, er paradoxiert und dekonstruiert ferner Voraussetzungen und zentrale Diskursfiguren der ›kolonialen Kulturkritik‹ und legt zugleich ihre eigene diskursive Verfasstheit offen. Nun ist nichts eindeutig in Müllers Roman, der das beständige Oszillieren zwischen zwei Bedeutungen ja geradezu zum poetologischen Prinzip macht: »Gleichberechtigung für das Paradoxe. Es eröffnet neue Welten, es gibt Glück, es erweitert die Möglichkeiten […].«1528 Es kann diese Äußerung Brandlbergers – der seinerseits, auch das gehört zur komplexen Erzählanlage des Textes, ein Romanprojekt mit dem Titel »Tropen« verfolgt – gleichermaßen als inhaltliches, als poetologisches und als konzeptionelles Prinzip des Müllerschen Romans gelesen werden. Und so gehört es dann auch wesentlich zur Struktur des Textes, dass er nicht nur erstens die Paradoxien ›kolonialer‹ Kulturkritik herausarbeitet und zweitens bestimmte Formen kulturkritischen Denkens paradoxiert und so dekonstruiert, sondern dass er drittens selbst paradox angelegt ist. Der Roman kann nicht nur als antikulturkritischer Roman gelesen werden, er ist zugleich selbst ein kulturkritischer Roman: »Die Tropenreise wird bei Müller zum Aufbruch in eine neue, eine andere Moderne […].«1529 Explizit artikuliert werden kulturkritische Gedanken zunächst in der Bin1523 Vgl. Fabri: Bedarf Deutschland der Colonien? S. 72/73. 1524 Müller : Tropen, S. 83. 1525 Zenk: Innere Forschungsreisen, S. 124. Vgl. ebd. auch ausführlich zu den geographischen Paradoxien des Textes. 1526 Müller : Tropen, S. 13. 1527 Ebd., S. 182. 1528 Ebd., S. 34. 1529 Schwarz: Robert Müllers Tropen, S. 40.

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nenerzählung auf der Figurenebene, genauer werden sie im Gespräch zwischen Brandlberger und Slim von letzterem geäußert: »›Das ist es: in den europäischen Zivilisationen fehlt es an physiologischer Aufklärung. […]‹«1530 Ebenso ist seine Theorie einer ›Rechtser-Kultur‹, der es an ›Links‹ fehle, als Kulturkritik zu verstehen: Die »›[…] Kultur, die sich als einzig bestehende und gegenwärtige dünkt, ist eine Rechtser-Kultur. Sie neigt zum Extrem, sie ist unausgeglichen, sie ist in ihren Wertungen ungesund. […]‹«1531 Fluchtpunkt dieser Kulturkritik ist die Synthese von ›Rechts‹ und ›Links‹: »›Ein Leben hat zwei Hände. Das Rechts haben wir entwickelt. Das Links die anderen Rassen. Nehmen Sie sich dieser links liegengelassenen Kultur an, Sie sind ein junger Mann, Sie haben vielleicht Zukunft.‹«1532 Die kulturkritischen Theorien und Diagnosen ziehen sich in ganz unterschiedlichen Varianten durch den Text. Der Amerikaner Jack Slim, über dessen »orientalische Herkunft«1533 von einem arabischen Vater und einer preußischen Mutter der fiktive Herausgeber immerhin bereits im Vorwort ausführlich Rechenschaft ablegt, äußert dann nicht nur Kulturkritik und fordert eine neue Kultur der Synthese, er figuriert seinerseits den kommenden Menschen, der Urzustand und modernen Intellekt synthetisiert1534 : Brandlberger sieht in Slim den »Prototyp des zukünftigen Menschen […], bekannte Züge, Eigenschaften der modernen Kultur, eine zerebrale Spannung, gemischt mit der eigentümlichen Relaxation des Urmenschen.«1535 Brandlberger selbst durchläuft im Roman dann nicht nur gewissermaßen einen ›Bildungsweg‹1536 bzw. Klärungsprozess, den der Leser über seinen Bewusstseinsstrom nachverfolgen kann (hierauf wird zurückzukommen sein), er figuriert zugleich die Entwicklung des ›neuen Typus‹, der dem kulturkritischen Modell Slims entspricht. Vergleichbar Joseph Conrads »Heart of Darkness« ist die Reise in den Urwald Brasiliens zunächst die Reise in die Vergangenheit der Menschheit.1537 Es folgen dann nacheinander verschiedene Erkenntnisstufen, zu

Müller : Tropen, S. 63. Ebd., S. 64. Ebd., S. 67. Ebd., S. 8. Vgl. auch Begemann: Tropische Welten, S. 83: »Punktuell und in Ansätzen scheint dieser ›zukünftige Mensch‹ […] schon realisiert zu sein: in Jack Slim nämlich, dem aus der Verbindung der verschiedensten Rassen hervorgegangenen Alter ego des Ich-Erzählers.« 1535 Müller : Tropen, S. 28, Hervorhebungen im Original. 1536 Vgl. Liederer : Der Mensch und seine Realität, S. 143/144. 1537 Vgl. u. a. Riedel: »What’s the difference?«, S. 68f.; Zenk: Innere Forschungsreisen, hier insb. S. 143ff.; Heckner : Das Exotische als utopisches Potential; Heckner liest Müllers Tropen als neue Konzeption des Exotismus, der Nimbus des Exotischen werde zerstört (vgl. ebd., S. 216); das Aufsuchen des Exotischen (indianische Kultur) werde dann zum Ausgangspunkt einer Erneuerung um des Eigenen willen (vgl. ebd., S. 223).

1530 1531 1532 1533 1534

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denen etwa die Lehre vom Phantoplasma gehört1538 ; in diesen Zusammenhang gehören sowohl umfassende erkenntnistheoretische Überlegungen1539 wie auch die Überlegungen und Gespräche mit Slim über die (Funktion der) Kunst1540. Slim nimmt für diesen ›Bildungsprozess‹ im Übrigen eine zentrale Funktion ein: »In der Tat, schon lehrte Slim mich sehen.«1541 Der Ingenieur Brandlberger steht mithin für die Moderne, die Gehirn und Bewusstsein gegen das natürliche Leben und den Urzustand des vom Körper, den Sinnen, dem Instinkt bestimmten Menschen, den die indigenen Völker figurieren, eingetauscht hat.1542 Dem kulturkritischen Geschichtsmodell folgend wird dann als drittes, noch kommendes der ›neue Mensch‹1543, der Mensch der Zukunft entworfen, der die Körperlichkeit des Urzustandes mit dem Intellekt der Moderne in einer Synthese zusammenführt: Die aus einem weit verbreiteten ›Unbehagen in der Kultur‹ heraus als defizitär erfahrene intellektuelle und technische Hochkultur der Moderne soll wieder um jene Fähigkeiten bereichert werden, die ihr im Laufe der Genese abhanden gekommen sind.1544

So imaginiert Brandlberger – im fiktiven Herausgebervorwort in eine »Art Nachfolgerschaft«1545 zu Slim gesetzt – schließlich seinerseits die Gründung einer neuen Rasse, des neuen Typus: Ich bin dazu bestimmt, der neue Mensch zu werden, und ich habe mir das Weib gesucht, das zu mir passe, das Weib mit den gut erhaltenen Urinstinkten seiner Sinnlichkeit. Wir sind ein neues Erdenpaar, wir sind Adam und Eva und gondeln einsam einen verlassenen Fluß hinab.1546

In diesem Zusammenhang hat Christian Liederer den Tod Brandlbergers, den er ebenso wie die Figur des Slim als ›Schwellenmenschen‹ auf dem Weg zum ›neuen 1538 Vgl. etwa Müller : Tropen, S. 109, wo das »Phantoplasma« als Begriff erstmals auftaucht. Im Übrigen ist das Fieber hier offenbar Motor des Erkenntnisprozesses. 1539 Vgl. ebd., S. 35f. 1540 Vgl. exemplarisch ebd., S. 84ff., S. 131f. und S. 135ff. 1541 Ebd., S. 56. 1542 Vgl. Begemann: Tropische Welten, S. 83. 1543 Vgl. exemplarisch Müller : Tropen, S. 204. 1544 Begemann: Tropische Welten, S. 82/83. Vgl. dazu auch Zenk: Innere Forschungsreisen, hier insb. Abschnitt 3.6 »Utopisch motivierte Regression: das Erreisen eines ›neuen Menschen‹« (S. 150–162), wo Zenk aufzeigt, dass Müllers Protagonist »im Urwald nach Möglichkeiten zur Erneuerung der eigenen Kultur« (ebd., S. 154) suche; ferner weist er auch darauf hin, dass der ›neue Mensch‹ als Synthese von Intellekt und Sinneswahrnehmung, von Urmensch und modernem Kulturmenschen konzipiert wird (ebd., S. 156ff.). Interessant ist der Hinweis auf die Funktion des ›Tropenkollers‹, der als »Katalysator auf dem Weg zur Realisation des ›neuen Typus‹« erscheine (ebd., S. 158). Vgl. auch Heckner : Das Exotische als utopisches Potential, S. 222, wo darauf hingewiesen wird, dass mit der Reise zum Exotischen ein ›neues Europa‹ vorbereitet werde. 1545 Müller : Tropen, S. 7. 1546 Ebd., S. 238.

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Typus‹ liest, in den Zusammenhang der Entstehung des Zukunftsmenschen gestellt.1547 Der Erbe Brandlbergers dürfte dann, so Liederer, im Leser selbst zu finden sein.1548 Es ist dies eine plausible Lesart, markiert der Text selbst doch, dass »kein Zweifel bestehen [kann], daß er [Slim] die Form des neuen Menschen nicht rein verkörperte«1549. Zugleich formuliert Slim für sein Buchprojekt »Tropen« eine konkrete Wirkabsicht, die zugleich als selbstreferentieller Kommentar zum Müllerschen Romantext gelesen werden kann: »›[…] Mein Mann ist ja ein Typus. Und es gilt, diesem Typus sich etablieren zu helfen. […]‹«1550 Der Tod Brandlbergers steht insofern gleichermaßen für – im Kontext der Kritik der Kulturkritik – den Tod des Vorkriegstypus des weltanschaulichen und kulturkritischen Grüblers wie er im eigenen kulturkritischen Entwurf für den Übergang zum neuen Menschen steht. Innerhalb dieser Konstellation wird dann die Diskursfigur des Tropenkollers aufgegriffen: Bei Müller wird diese zentrale Figur des Kolonialdiskurses positiv umgewertet, der ›neue Mensch‹ wird durch den Tropenkoller hervorgebracht: »Sein Tropenkoller erscheint als Katalysator auf dem Weg zur Realisation des ›neuen Typus‹.«1551 Müllers »Tropen« ist insofern nicht nur ein »exotischer anti-exotistischer Roman« (Zenk)1552, er ist auch ein kulturkritischer anti-kulturkritischer Roman. Daneben nimmt der Text auch Bezug auf weltanschauliche Tendenzen der Jahrhundertwende. Immer wieder finden sich in der im Bewusstseinsstrom gehaltenen Binnenerzählung Referenzen auf bestimmte weltanschauliche Tendenzen der Jahrhundertwende, genauer den Haeckelschen Monismus1553 und den Spiritismus1554. Schließlich referiert der Text explizit auf Materialismus und Idealismus, um die im 19. Jahrhundert bekanntlich weltanschauliche Debatten geführt worden sind: »Es wird sich herausstellen, daß rationaler Idealismus dem romantischen Materialismus überlegen ist.«1555 Werden hier einerseits mit Idealismus und Materialismus konträre Positionen aufgerufen, werden diese mit der Gegenüberstellung eines ›rationalen Idealismus‹ und eines ›romantischen 1547 Vgl. Liederer : Der Mensch und seine Realität, S. 92. 1548 Vgl. ebd., S. 99; Ziel des poetologischen Programms des Textes sei es weiterhin, so Liederer, den Leser zu bilden, geistig zu trainieren (vgl. ebd., S. 159). 1549 Müller : Tropen, S. 243. 1550 Ebd., S. 202. 1551 Zenk: Innere Forschungsreisen, S. 158. 1552 Ebd., S. 130. 1553 Vgl. hierzu im Detail Braungart: Exotismus und Zivilisationskritik, S. 448. 1554 Vgl. hierzu im Detail Besser : Pathographie der Tropen, S. 139. Im Roman unterhalten sich der Erzähler und Slim über ›Ströme‹, die von Mensch zu Mensch gingen, über das ›System der Gehirne‹, die in ›gegenseitigem Banne‹ stünden (vgl. Müller : Tropen, S. 203/204); Besser stellt die Vermutung eines Zusammenhangs zu den Forschungen des britischen Naturwissenschaftlers, Philosophen und Spiritisten William Crookes auf, ohne dass dies weiter verfolgt wird. 1555 Ebd., S. 35.

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Materialismus‹ zugleich paradoxiert. Insofern legt der Text nicht nur die paradoxen Strukturen kolonialer kulturkritischer Entwürfe am Beispiel des FreilandDiskurses frei, sondern paradoxiert zugleich die geistesgeschichtlichen Wurzeln des weltanschaulich-kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende im Allgemeinen. Es steht dies im Übrigen am Ende einer umfassenden Reflexion Brandlbergers über das Paradoxe im Allgemeinen.1556 Die Reflexionen des Textes sind dabei derart überzogen, dass sie das Verfahren der philosophischen Systembildung, das nur noch ironisch zitiert wird, lächerlich machen und als Wahn vorführen. In Müllers Roman ist die Schatzhöhle letztlich genauso inhaltsleer wie die Philosopheme seiner Exotisten.1557

Was Schwarz für den Exotismus herausarbeitet, gilt auch für die ›weltanschaulichen‹ Reflexionen des Romans: Nicht nur auf der Ebene des Inhalts, sondern auch auf der Ebene des literarischen Verfahrens wird das Weltanschauungsdenken paradoxiert. Müllers Paradoxierung weltanschaulicher Systeme geht insofern ihrerseits aufs Ganze: »Alle Philosopheme und Weltanschauungen sind aus Worten geboren, die man später einmal als Irrtümer bezeichnet hat.«1558 Vor diesem Hintergrund lässt sich das Urteil, das der fiktive Herausgeber über die ästhetische Qualität des Manuskriptes fällt, um eine weitere Lesart ergänzen: Der Gang der Erzählung wird durch langwierige Ausführungen unterbrochen und die Technik des Vortrages ergeht sich streckenweise in so ungeheuerlichen philosophischen Abschweifungen, daß es fraglich scheint, ob der Verfasser überhaupt je so etwas wie einen erzählenden Stil beabsichtigt habe.1559

Insofern nun Brandlberger als Typus der Jahrhundertwende interessiert, wäre es naheliegend, auch die ästhetische Beurteilung seines Textes als eine allgemeine Beurteilung jener Texte, die im Umfeld der verhandelten geistesgeschichtlichen Strömungen der Jahrhundertwende entstanden sind, zu lesen, funktionieren doch weltanschauliche Texte genau so: über Exkurse, über theoretische Abhandlungen, die erzählerisch schwach integriert sind. Unzweifelhaft ist Müllers Roman selbst von anderer Komplexität und ästhetischer Qualität. Der Roman reflektiert mithin auch Weltanschauung. Zugleich – auch dies gehört zur paradoxen Anlage des Textes – entwirft der Roman selbst Weltanschauung(en), wenngleich unter vollständig anderen Voraussetzungen als die Weltanschauungstexte der Jahrhundertwende. So will etwa Slim in seinem Buchprojekt mit dem Titel »Irrsinn« dem »Positivismus, dem, was man Ame1556 1557 1558 1559

Vgl. ebd., S. 34/35. Schwarz: Robert Müllers Tropen, S. 79. Müller : Tropen, S. 123. Ebd., S. 9.

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rikanismus nennt, das Genick brechen und einen neuen geistigeren Standpunkt aufstellen«1560 ; auch die Lehre des Phantoplasmas und der fünften Dimension, die Brandberger in seinem ›Bildungsprozess‹ aufstellt, können als ›Weltanschauungen‹ verstanden werden.1561 Die geistesgeschichtlichen Wurzeln sind nun freilich völlig andere – Bezugspunkte für Müller sind unter anderem Albert Einsteins Relativitätstheorie1562 und Ernst Machs These vom ›unrettbaren Ich‹1563. Es geht diesem Text insofern gerade nicht um die Wiederherstellung verlustig gegangener Ganzheitlichkeit, Sinnhaftigkeit und Totalität; die Müllersche Konzeption des ›Phantoplasmas‹, in dem sich seine Kultur- und Geschichtstheorie verdichtet, zielt im Gegenteil gerade auf die Relativität von Wirklichkeit ab. Es ist dies zugleich – wenigstens auf der Ebene des individuellen Textes – eine signifikante Verschiebung der Semantik des Begriffs Weltanschauung.1564 Anders als in den Weltanschauungen der Jahrhundertwende ist sich diese Konzeption von Weltanschauung denn auch ihres eigenen, paradoxen Status’ bewusst. Slim markiert dies explizit: »[…] So bin ich mir zum Beispiel wohl bewußt, daß meine Theorie von den Dimensionen höchst auffallende Fehler zeigt. Ich schaffe mir einen Standpunkt abseits aller Erklärungen, der nicht in ihr lokalisierbar ist. Damit fehle ich gegen die Natur. Es ist nichts außerhalb des Seins. […]«1565

In dieser Konstellation kommt dem Paradoxen der Status einer Erlösungslehre zu: »Ich verkündige den Spiegel, die Verkehrtheit, das Paradox! Es soll meine andere große Arbeit für die Menschheit werden.«1566 Anders formuliert: Es ist dies auch ein weltanschaulicher anti-weltanschaulicher Roman.

1560 Ebd., S. 199, meine Hervorhebung. 1561 Christian Liederer etwa liest die Konzeption des Phantoplasmas als »eine umfassende und in sich stimmige Weltanschauung«, vgl. Liederer : Der Mensch und seine Realität, S. 264. Vgl. zum Phantoplasma bei Müller auch Heckner : Die Tropen als Tropus, S. 78–90. 1562 Vgl. ebd., S. 53/54. 1563 Vgl. ebd., S. 55. 1564 Für Müller ist das ›Ignorabimus‹ »kein Defizit mehr oder Grund zur Verzweifelung; das Gegenteil ist der Fall« (Liederer : Der Mensch und seine Realität, S. 192, Hervorhebung im Original); vielmehr »ermöglicht dieses ›Ignorabimus‹ (das Geheimnis) aber auch erst Kunst, Dichtung, Philosophie, Religion, Wissenschaft allgemein: alle Formen der (schöpferischen) Welterklärungsversuche. Nur weil die Welt Rätsel hat, gibt es schöpferische Lösungsversuche. Wahr ist nicht die eindeutige Aufklärung des Rätsels, sondern die kreative Vielfalt ist die Meta-Wahrheit des unendlich schöpferischen Lebens, das sich in diesen (subjektiven) Phantoplasmen realisiert.« (Ebd., S. 323, Hervorhebung im Original.) 1565 Müller : Tropen, S. 66. 1566 Ebd., S. 35.

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Noch einmal auf den Berg. Zur Historisierung weltanschaulichen Erzählens im »Zauberberg« Thomas Manns »Zauberberg«1567 schließlich knüpft nicht nur inhaltlich, sondern auch hinsichtlich der narrativen Gestaltung an den Texttypus des Weltanschauungsromans an – und historisiert diesen. Zunächst schließt der Roman inhaltlich an das Schema des Texttypus Weltanschauungsroman an, das dem Modernisierungsprozess und dem daraus resultierenden Verlust an Sinnhaftigkeit und Orientierung den weltanschaulichen Bildungsprozess entgegensetzt. Der Modernisierungsprozess wird zunächst – auch dies dem herausgearbeiteten Texttypus (topischer Verlust des Erbhofes) entsprechend – über die Familiengeschichte, genauer den Niedergang der Firma Castorp & Sohn1568, erzählt. Die Figur des Großvaters verkörpert in diesem Kontext sowohl das (verlustig gegangene) Modell des ›ganzen Hauses‹ als auch den Schritt zurück hinter die Gründerzeit, sein Wirken war »in Jahrzehnte eines heftigen Aufschwungs und vielfältiger Umwälzungen gefallen«1569, »die Zeit [war] über Hans Lorenz Castorps Wesen und Willensmeinungen schon lange vor seinem Abscheiden hinweggegangen.«1570 In dem »lebensgroße[n] Bildnis«1571 des Großvaters verdichtet sich die vormoderne Gemeinschaftsform symbolisch, insofern die abgebildete Amtstracht, die »ernst[e], fromm[e] Bürgertracht eines verschollenen Jahrhunderts«1572, zugleich für ein Gemeinwesen steht, das die Amtstracht durch die Zeiten mitgeführt und in pomphaftem Gebrauch erhalten hatte, um zeremoniellerweise die Vergangenheit zur Gegenwart, die Gegenwart zur Vergangenheit zu machen und den steten Zusammenhang der Dinge, die ehrwürdige Sicherheit ihrer Handlungsunterschriften zu bekunden.1573

Die Amtstracht steht mithin für vormoderne Gesellschaftsstruktur, vormodernes Zeitverständnis und nicht zuletzt für Orientierung und Sinnhaftigkeit. Insofern nun diese Eigenschaften dem sterbenden Großvater zugewiesen werden, partizipiert der Text am um 1900 virulenten Modernenarrativ. Der Enkel Hans Castorp seinerseits ist der Moderne mit ihrer Orientierungslosigkeit, dem Verlust an Sinnhaftigkeit, der transzendenten Obdachlosigkeit ausgesetzt. Von 1567 An dieser Stelle wird auf einen Forschungsüberblick aus Gründen, die auf der Hand liegen, verzichtet; auf die für den vorliegenden Zusammenhang relevante Literatur wird an gegebener Stelle eingegangen. 1568 Vgl. Mann, Thomas: Der Zauberberg. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Michael Neumann. Band 5.1, Frankfurt/Main 2002, S. 34. 1569 Ebd., S. 41. 1570 Ebd., S. 40/41. 1571 Ebd., S. 42. 1572 Ebd., S. 42. 1573 Ebd., S. 43.

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Beginn an wird er als »im Leben noch wenig fest wurzelnde[r] Mensch[]«1574 charakterisiert, als Suchender, der nach »väterlicher Autorität […] ein unruhiges Herzensbedürfnis empfand«1575, der empfänglich ist für jegliche Art von Eindrücken bzw. Weltanschauungen, kurz: »den jungen Hans Castorp verlangte es herzlich, beeinflußt zu werden«1576. Der Aufenthalt im Sanatorium Berghof ist dann als Rückzug von der Moderne (beginnt der Roman doch genau mit der Erzählung von der langen, immer beschwerlicher werdenden Reise in die Abgeschiedenheit der Berge) und als Antwort auf die Orientierungslosigkeit der Moderne zu verstehen: Wie jedermann, nehmen wir das Recht in Anspruch, uns bei der hier laufenden Erzählung unsere privaten Gedanken zu machen, und wir äußern die Mutmaßung, daß Hans Castorp die für seinen Aufenthalt bei Denen hier oben ursprünglich angesetzte Frist nicht einmal bis zu dem gegenwärtig erreichten Punkt überschritten hätte, wenn seiner schlichten Seele aus den Tiefen der Zeit über Sinn und Zweck des Lebensdienstes eine irgendwie befriedigende Auskunft zuteil geworden wäre.1577

Der Aufenthalt auf dem Berg vermittelt dann Sinnhaftigkeit und Orientierung insofern er die Rückkehr zu einem Leben in der Gemeinschaft darstellt – der Weg auf den Berg ist vor dem Hintergrund des Narrativs der Re-Vergemeinschaftung zu lesen, die sich im Mannschen Weltanschauungsroman in der Wendung von ›wir hier oben‹ verdichtet. Hans Castorp wird bei seiner Ankunft erstmalig mit dieser Formel konfrontiert1578 ; solange er nur zu Besuch weilt, bleibt er noch von der Gemeinschaft ›derer hier oben‹ ausgeschlossen. Der Kauf des Fieberthermometers1579 und die Röntgenaufnahme seiner Lungen1580 entsprechen dem Aufnahmeritual in die Gemeinschaft – Settembrini bezeichnet das Diapositiv der Lungenaufnahme, das Hans Castorp in der Brieftasche trägt, auch als »›[…] Ausweis sozusagen, einen Paß oder eine Mitgliedskarte. […]‹«1581 Castorp kann sich nachfolgend darein finden, sich »›[…] richtig als einer von euch zu fühlen […]‹«1582 ; Dr. Krokowski macht zur großen Zufriedenheit des Protagonisten bei seinem Nachmittagsrundgang keinen Bogen mehr1583 um diesen und betont sogar, dass »›[…] über Nacht aus dem Gaste ein Kamerad geworden […]‹«1584. 1574 1575 1576 1577 1578 1579 1580 1581 1582 1583 1584

Ebd., S. 12. Ebd., S. 227. Ebd., S. 228. Ebd., S. 349. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. den Abschnitt »Das Thermometer« ebd., S. 245ff. Vgl. ebd., S. 320ff. Ebd., S. 367. Ebd., S. 282. Ebd., S. 290. Ebd., S. 291.

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Die Formel von den »Zugehörigen Derer hier oben«1585, die die abgeschlossene Sanatoriumswelt insbesondere vom Flachland trenne, durchzieht den Roman leitmotivisch. Die Aufnahme in die Patienten-Gemeinschaft ist dabei sowohl mit Blick auf die in Auflösung begriffene familiäre Gemeinschaft im Besonderen – schon zu Beginn seines Aufenthaltes im Sanatorium bezeichnet Hans Castorp das Verhältnis zu den Verwandten als lose, enge Verwandte hat er ohnehin nicht mehr1586, im Laufe des Aufenthaltes löst sich das Verhältnis fast vollständig auf – als auch vor dem Hintergrund der Beschreibung des Modernisierungsprozesses als Übergang von Gemeinschaft in Gesellschaft als diesem entgegengesetzter Prozess der Re-Vergemeinschaftung zu verstehen. Das streng geregelte gemeinschaftliche Sanatoriumsleben vermittelt wieder jene Sinnhaftigkeit und Orientierung, die in der Moderne verloren gegangen ist: »Er hatte die Lebensweise seiner ersten drei Wochen, dies schon vertraute, gleichmäßige und genau geregelte Leben an Joachims Seite wieder aufgenommen […]«1587, in dem das Fiebermessen tägliches Ritual ist und Kamelhaardecken »nach dem Ritus geschlagen«1588 werden. Es ist mithin ein ritualhaftes Leben, das die Bewohner des Berghofes führen, und das ihr Leben vom Leben in der Moderne unterscheidet. Zugleich handelt es sich hier gerade nicht um die Rückkehr zur vormodernen Gemeinschaft des ›ganzen Hauses‹: Der Prozess der Vergesellschaftung ist unhintergehbar, Gemeinschaft nur noch vermeintlich erlebbar – in der erwählten Leidensgemeinschaft des Sanatoriums. Vor allem aber ist das Sanatorium für den Protagonisten der Ort weltanschaulicher Angebote und seines weltanschaulichen Bildungsprozesses, der der Orientierungslosigkeit der Moderne entsprechend dem Texttypus des Weltanschauungsromans entgegen gestellt wird. Die weltanschaulichen Angebote auf dem »Zauberberg« sind bekanntlich vielfältig: Settembrinis Versuch einer expliziten pädagogischen Beeinflussung ist hier ebenso einzuordnen wie seine beiden Gegenpole – zunächst Clawdia Chauchat (Kapitel fünf), später Naphta (Kapitel sechs); Dr. Krokowski und die Psychoanalyse gehören hier ebenso erwähnt wie die eigenen naturwissenschaftlichen Studien Hans Castorps; die den Vitalismus verkörpernde Figur des Mynheer Peeperkorn gehört gleichfalls in diesen Kontext wie schließlich auch der Spiritismus als letztes Weltanschauungsangebot im Abschnitt »Fragwürdigstes«. Schließlich sei am Rande auch darauf hingewiesen, dass der Text an verschiedenen Stellen auf die Lebensreformbewegung verweist, so etwa wenn von ›Reformhosen‹1589 und vom

1585 1586 1587 1588 1589

Ebd., S. 435. Ebd., S. 299. Ebd., S. 311. Ebd., S. 411. Vgl. ebd., S. 450 und S. 473.

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»Antialkoholismus«1590 die Rede ist oder wenn Naphta Gartenstädte1591 und das prophetische Umhertreiben von Regeneratoren, Rohköstlern, Freilüftlern, Sonnenbademeister etc.1592 erwähnt. Wie sehr das Weltanschauungsdenken der Jahrhundertwende gleichermaßen in den Text einfließt und reflektiert wird, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, wie umfangreich sich der Text auf Haeckels »Welträtsel« und damit auf eine der bekanntesten Weltanschauungsschriften der Jahrhundertwende bezieht – die Forschung hat die Haeckel-Bezüge1593 des »Zauberbergs« minutiös erarbeitet. Ohne die Bezüge an dieser Stelle im Detail darlegen zu können – hierfür sei auf die entsprechenden Studien verwiesen1594 – stehen wesentliche Leitthemen und Argumente der Haeckelschen Weltanschauungsschrift erstens hinter den weltanschaulichen Debatten zwischen Settembrini und Naphta, so insbesondere in jener, die mit dem Problem ›reiner Erkenntnis‹ und ›voraussetzungsloser Wissenschaft‹1595 erkenntnistheoretische Fragestellungen behandelt: »Argumentative Züge aus dem Repertoire der ›Welträtsel‹ verschränken sich dabei im ›Zauberberg‹ auf komplexe Weise.«1596 Weiterhin ist der Gegensatz zwischen Dualismus und Monismus ebenfalls vor der Folie der Haeckelschen »Welträtsel« zu verstehen.1597 Darüber hinaus stehen die »Welträtsel« offenbar auch hinter Hans Castorps Studien der »Anatomie, Physiologie und Lebenskunde«1598 im Abschnitt »Forschungen« – sie umfassen gerade jene Bereiche des natur- und lebenswissenschaftlichen Wissenskanons, die auch Haeckel benennt (es sind dies menschliche und vergleichende Anatomie, pathologische Anato1590 Vgl. ebd., S. 642. 1591 Vgl. ebd., S. 580. 1592 Vgl. ebd., S. 700. Dass Thomas Manns Roman auch auf die Lebensreform Bezug nimmt, ist zuletzt auch der Forschung aufgefallen; vgl. Schmid, Marcel: Zauberbergischer Prototyp. Davos, der Roman und die Lebensreform. In: Carstensen, Thorsten/Schmid, Marcel (Hrsg.): Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900. Bielefeld 2016, S. 209–229. 1593 Der Name »Haeckel« selbst fällt an einer Stelle, nämlich wenn Naphta Settembrini gegenüber äußert: »[…] als ob Haeckel bei der Entstehung der Erde zugegen gewesen sei.« (Ebd., S. 148). 1594 Vgl. zu Haeckels »Welträtseln« im »Zauberberg« ausführlich das Kapitel »Thomas Manns ›Der Zauberberg‹ und Ernst Haeckels ›Die Welträtsel‹. In: Dittrich, Andreas: Glaube, Wissen und Sagen. Studien zu Wissen und Wissenskritik im ›Zauberberg‹, in den ›Schlafwandlern‹ und im ›Mann ohne Eigenschaften‹. Tübingen 2009, S. 139–203 sowie ders.: »Ich bin weder Monist, noch Esperantist, noch ein Freund von Welträtsel-Lösungen«. Bewusstsein und personale Identität in Thomas Manns ›Zauberberg‹ und Ernst Haeckels ›Welträtseln‹. In: Lörke, Tim/Müller, Christian (Hrsg.): Thomas Manns Kulturelle Zeitgenossenschaft. Würzburg 2009, S. 133–148. 1595 Mann: Der Zauberberg, S. 599. 1596 Dittrich: Glaube, Wissen und Sagen, S. 143. 1597 Ebd., S. 145ff. 1598 Mann: Der Zauberberg, S. 405.

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mie, Physiologie und Entwicklungsgeschichte1599) – Bezug genommen wird hier etwa auf die monistische These der »Urzeugung«1600. Schließlich findet im zentralen »Schnee«-Abschnitt Castorps Auseinandersetzung mit »seiner Frage und seinem Rätsel«1601 statt – hierauf wird zurück zu kommen sein. Anders als im Texttypus des Weltanschauungsromans der Jahrhundertwende steht im »Zauberberg« dann aber gerade keine endgültige weltanschauliche Klärung am Ende des Romans. So bleibt der Text, um nur ein Beispiel anzuführen, etwa dem Weltanschauungsangebot Haeckels gegenüber unentschieden: Auch wenn der Figur Naphta Einwände gegen die Argumentation der »Welträtsel« in den Mund gelegt werden1602, bleibt doch am Ende offen, welche der Positionen sich durchsetzt.1603 Das hängt mit der narrativen Struktur des Textes zusammen, der [p]hilosophische Positionen […] einander konfrontiert, ohne dass eine systematische Einigung gelänge. In der Art und Weise der Konfrontation offenbaren sich Vorannahmen der Diskutanten, polemische Absichten sowie ungedeckte Schlussfolgerungen. Auf diese Weise entfaltet sich im »Zauberberg« unter anderem eine Kritik an monistischen Philosophemen wie sie prominent in den »Welträtseln« vertreten werden.1604

Nicht nur für den Rezipienten, auch für den Protagonisten bleibt die weltanschauliche Lage verworren: Hans Castorp konstatiert bekanntlich mit Blick auf die Weltanschauungsangebote sowohl Settembrinis als auch Naphtas Widersprüchlichkeiten.1605 Die weltanschauliche Unentschiedenheit des Protagonisten, schließlich die Distanzierung von Settembrini und Naphta, von Monismus und Dualismus, mündet in einem letzten Weltanschauungsangebot, im Spiritismus1606 im Ab-

1599 Vgl. Dittrich: Glaube, Wissen und Sagen, S. 157 unter Bezug auf Haeckel, Ernst: Die Welträtsel. In: Gemeinverständliche Werke, hrsg. von Heinrich Schmidt-Jena, Bd. 3, Leipzig/Bonn o. J. (zuerst 1899, nach der 11. Auflage 1919), S. 54. 1600 Mann: Der Zauberberg, S. 429; vgl. dazu im Detail Dittrich: Glaube, Wissen und Sagen, S.160ff. 1601 Mann: Der Zauberberg, S. 720. 1602 Vgl. Dittrich: Glaube, Wissen und Sagen, S. 164. 1603 Vgl. ebd., S. 143. 1604 Dittrich: »Ich bin weder Monist, noch Esperantist, noch ein Freund von Welträtsel-Lösungen«, S. 137. 1605 Vgl. Dittrich: Glaube, Wissen und Sagen, S. 155. 1606 Vgl. zum Okkultismus im »Zauberberg« insbesondere Wünsch, Marianne: Okkultismus im Kontext von Thomas Manns »Zauberberg«. In: Sprecher, Thomas/Wimmer, Ruprecht: Thomas Mann Jahrbuch, Band 24 (2011), Frankfurt/Main 2012, S. 85–103; daneben auch Rausch, Antje: »Okkultes« in Thomas Manns Roman »Der Zauberberg«. Frankfurt/Main 2000.

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schnitt »Fragwürdigstes«.1607 Die Forschung hat diesem Kapitel »eine bemerkenswerte Stellung im Gesamtroman«1608 zugewiesen: Es ist das letzte Kapitel, in dem konzentriert ideologische Auseinandersetzungen geführt werden. […] ›Fragwürdigstes‹ markiert also einen letzten Höhepunkt und Extrempunkt in den Konfrontationen mit ideologischen Positionen, denen der Protagonist Hans Castorp ausgesetzt wird.1609

Mit Blick auf Haeckels »Welträtsel«, die spiritistische Ideen grundsätzlich ablehnen, lässt sich hier nun ein fundamentaler Unterschied feststellen: Im »Zauberberg« folgen die spiritistischen Aktionen auf den »ergebnislosen philosophischen Disput um Monismus und Dualismus«1610 und rücken nun »die Frage in den thematischen Fokus, inwieweit ein mögliches ›Wissen‹ im Unterbewussten das bewusste Wissen übersteige.«1611 Deutlich geworden ist dabei, dass es sich nicht nur um die Aufnahme Haeckelscher Argumente in den »Zauberberg« handelt, sondern auch und gerade um eine Kritik, die im »Zauberberg« explizit wie implizit an Aussagen der »Welträtsel« geübt wird, [die] nicht nur weitaus vielgestaltiger, sondern auch weitaus tiefgründiger auf erkenntnisphilosophische Grundprobleme ausgerichtet [ist] als bislang bekannt wurde.1612

Es hängt dies einerseits damit zusammen, dass im »Zauberberg« die sprachanalytische Dimension gegenüber den »Welträtseln« in den Fokus rückt1613 sowie andererseits mit der bereits angesprochenen narrativen Gestaltung des Textes, genauer den narrativen Instanzen des Romans[, die] auf scharfsichtige und scharfsinnige Weise die begrenzten Leistungen, die internen Paradoxien oder die idealisierenden Annahmen bewusstseinsphilosophischer Aussagen in den »Welträtseln« herausarbeiten und ironisch brechen. Weniger kann von einer eigenständigen Erkenntnis- oder Bewusstseinstheorie des »Zauberbergs« die Rede sein als vielmehr von literarisch überformten philosophiekritischen Strategien, die zeitgenössische Diskurse und die Zeitgenossenschaft bestimmter Denker und Denkweisen voraussetzen.1614

1607 Man erinnere sich, um den weltanschaulichen Status dieses Kapitels einordnen zu können, an dieser Stelle nur an Bölsches Weltanschauungsroman »Die Mittagsgöttin«. 1608 Wünsch: Okkultismus im Kontext von Thomas Manns »Zauberberg«, S. 102. 1609 Ebd., S. 102. 1610 Dittrich: »Ich bin weder Monist, noch Esperantist, noch ein Freund von Welträtsel-Lösungen«, S. 146. 1611 Ebd., S. 146. 1612 Ebd., S. 133. 1613 Dittrich: Glaube, Wissen und Sagen, S. 170. 1614 Dittrich: »Ich bin weder Monist, noch Esperantist, noch ein Freund von Welträtsel-Lösungen«, S. 134.

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Mit anderen Worten: Der Text greift auf eine zentrale Weltanschauungsschrift und also auf das Weltanschauungsdenken der Jahrhundertwende zurück, reflektiert diese und bricht sie nicht nur hinsichtlich ihrer inhaltlichen Paradoxien auf, sondern auch hinsichtlich ihrer Zeitgebundenheit. Insofern wird hier auf der Ebene des Inhalts das Weltanschauungsdenken der Jahrhundertwende historisiert. Die Mehrzahl der Weltanschauungsangebote ist im »Zauberberg« intradiegetisch über das weltanschaulich-kulturkritische1615 Geschichtsmodell Paradies – Sündenfall Moderne – Erlösung, das zugleich das zugrunde liegende Narrativ des Romans bildet, organisiert. Am explizitesten gilt dies für die Weltanschau1615 Wie zentral und vielschichtig die inhaltliche Bezugnahme auf das kulturkritische Denken im »Zauberberg« ist, zeigt sich nicht zuletzt in den umfangreichen Bezügen des Textes insbesondere auf Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlandes«. Vgl. hierzu insbesondere Beßlich, Barbara: Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler. Berlin 2002, hier insbesondere Kapitel 3 »Spengler im Zauberberg« S. 53–87 und Kapitel 4 »Leo Naphta – ein ›Untergangster des Abendlandes‹?«, S. 89–110; daneben auch Koopmann, Helmut: Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes« in Thomas Manns »Der Zauberberg«. In: Engelhardt, Dietrich von/Wißkirchen, Hans (Hrsg.): Thomas Mann und die Wissenschaften. Lübeck 1999, S. 9–23; ders.: Der Zauberberg und die Kulturphilosophie der Zeit. In: Sprecher, Thomas (Hrsg.): Auf dem Weg zum »Zauberberg«. Die Davoser Literaturtage 1996. Frankfurt/Main 1997, S. 273–297. Mann liest Spengler 1919 während der Arbeiten am »Zauberberg« und konstatiert mit Blick auf die bereits geschriebenen Abschnitte des Zauberberges, insbesondere den Taufschalen-Abschnitt, eine Geistesverwandtschaft zu Spengler (vgl. Beßlich: Fasziniation des Verfalls, S. 60 unter Bezugnahme auf die Tagebücher Manns). Diese Geistesverwandtschaft habe Mann so beeindruckt, dass, so Beßlich, »bei der folgenden Niederschrift des ›Zauberbergs‹ nicht mehr nur zufällige Ähnlichkeiten festzumachen sind, sondern im Sinne der intertextuellen Referentialität und Kommunikativität Bezugnahmen auf Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹ zu konstatieren sind. Fühlt Thomas Mann sich anfangs durch Spengler bestätigt, verändert sich das Bezugsverhältnis im folgenden in ein rezeptives, der ›Untergang des Abendlandes‹ wird zum Prätext für den ›Zauberberg‹. Sowohl der ›Untergang des Abendlandes‹ als auch der ›Zauberberg‹ sind situiert in einem kulturpessimistischen Diskurs, der sich in Deutschland nach der Kriegsniederlage festigt, und aus dem heraus die Konservative Revolution entsteht. Diese diskursbedingten Analogien der beiden Texte bilden den Rahmen für eine sehr viel konkretere intertextuelle Beziehung.« (Ebd., S. 62, Hervorhebungen im Original) Auch hinter den weltanschaulichen Debatten zwischen Settembrini und Naphta lassen sich im Übrigen Bezüge auf Spengler nachweisen: »Während Naphta referentiell und kommunikativ Thesen Spenglers im ›Zauberberg‹ ausspricht, übernimmt Settembrini im Roman die Rolle, die in Naphta verkörperte Positionen Spenglers im Sinne der Dialogizität in Frage stellt.« (Ebd., S. 91, Hervorhebung im Original) Settembrinis Argumentation bediene sich hierfür Manns eigener SpenglerKritik aus »Über die Lehre Spenglers« (Vgl. ebd., S. 94). Offen lässt der Text – hier vergleichbar mit den Bezugnahmen auf Haeckel als Prätext – welche weltanschauliche Position am Ende den Sieg davon trägt. »Diese vehemente diaologische Distanzierung von Spenglers Überzeugungen bleibt mit Settembrini vornehmlich einer Figur im Roman überlassen. […] Auch der Erzähler legt sich nicht endgültig fest. So überläßt es der ›Zauberberg‹ letztendlich dem Leser, in diesem Weltanschauungskampf zwischen Naphta uns Settembrini zu unterscheiden.« (Ebd., S. 91).

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ungen Settembrinis und Naphtas. Settembrini etwa beklagt – ganz im Sinne des weltanschaulich-kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende – den »Sündenfall Moderne«, wenn er die »Degeneration [als] eine beklagenswerte Begleiterscheinung der Industrialisierung«1616 herausstellt und stellt auch die eigene, freimaurerische Arbeit in das kulturkritische Projekt der Erlösung der Menschheit, wenn er die ›fortschrittliche Entwicklung der Kulturmenschheit‹1617 befördern will, deren Richtschnur das »Glück [sic!] der Menschheit«1618 ist. Das Enzyklopädie-Projekt Settembrinis ist ebenfalls vom kulturkritischen Geschichtsmodell bzw. Beobachtungsmodus her zu verstehen. Explizit beziehen sich Settembrini und Naphta während eines ihrer Streitgespräche auf den kulturkritischen Beobachtungsmodus. Übereinstimmung herrscht in Bezug auf die Annahme eines »›[…] idealen Urzustandes der Menschheit […]‹«1619 ebenso wie darin, dass dieser paradiesische Urzustand durch den Sündenfall verloren gegangen sei.1620 Während Settembrini hier explizit die Aufklärung und den Gesellschaftsvertrag – und also Rousseau1621 und so zugleich die Geburtsstunde des kulturkritischen Beobachtungsmodus – ins Spiel bringt, mithin bürgerliche Revolution, Fortschrittsidee und Weltrepublik als Prinzipien und Ziel der ›Erlösung‹ ins Gespräch einführt, ist Naphtas Modell bekanntlich ein anderes, sieht er die ›Erlösung‹ in Gottesstaat und Kommunismus als »›[…] Erlösungsziel, Übergangsform vom heidnischen Staat zum himmlischen Reich […]‹«. Kapitalistische Weltrepublik und kommunistischer Gottesstaat stehen einander als inhaltlich unterschiedliche Zukunftsentwürfe ein und desselben kulturkritischen Geschichtsmodells gegenüber. Im Übrigen ist die Synthese von Katholizismus und Kommunismus, die die Figur des Naphta, deren Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der Forschung durchaus Schwierigkeiten bereitet hat1622, vertritt, vom weltanschaulich-kulturkritischen Geschichtsmodell her verstanden nur folgerichtig, liegt diesem Denkens doch der dialektische Dreischritt These – Antithese – Synthese zugrunde. Beide – Naphta und Settembrini – repräsentieren insofern Prinzipien des weltanschaulich-kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende. Aber nicht nur die Weltanschauungsangebote Settembrinis und Naphtas sind vom kulturkritischen Beobachtungsmodus her zu verstehen, auch Dr. Kro1616 1617 1618 1619 1620 1621

Mann: Der Zauberberg, S. 371. Ebd., S. 372. Ebd., S. 373. Ebd., S. 604. Ebd., S. 604. Rousseau wird erstmals bereits einige Seiten zuvor in der Debatte zwischen Settembrini und Naphta den Krieg betreffend eingeführt; vgl. ebd., S. 578. 1622 Vgl. Wysling, Hans: Der Zauberberg. In: Koopmann, Helmut (Hrsg.): Thomas-MannHandbuch. Stuttgart 1990, S. 397–422, hier S. 408.

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›Koloniale‹ Weltanschauungsromane

kowski liest wohl nicht zufällig Krankheit als den Sieg der Keuschheit über den ursprünglichen Zustand freier Liebe, der jedoch ein scheinbarer Sieg sei: »Allein dieser Sieg der Keuschheit sei nur ein Schein- und Pyrrhussieg […].«1623 Auf die ursprüngliche und natürliche Liebe folgt der ›Sündenfall‹ Keuschheit in der modernen, bürgerlichen Gesellschaft; Erlösung verspreche dann die Psychoanalyse: Es stellte sich heraus, daß Dr. Krokowski am Schlusse seines Vortrages große Propaganda für die Seelenzergliederung machte und mit offenen Armen alle aufforderte, zu ihm zu kommen. Kommet her zu mir, sagte er mit anderen Worten, die ihr mühselig und beladen seid.1624

Krokowski inszeniert sich selbst als Erlöser und Christus-Äquivalent (ApostelFigur)1625, wird dabei zugleich jedoch vom Erzähler als »Rattenfänger«1626 abqualifiziert. Aus der »Asymmetrie, da die Erlöserrolle seine Selbstklassifikation ist, während die Klassifikation als Rattenfänger eine solche der Erzählinstanz ist«1627, lässt sich zugleich die Historisierung dieses weltanschaulichen Angebotes im Besonderen und der weltanschaulichen Angebote im Allgemeinen – bleiben doch auch die Erlösungs-Angebote Settembrinis und Naphtas nebeneinander stehen – ablesen. Schließlich liegt nicht nur intradiegetisch den einzelnen Weltanschauungsangeboten das kulturkritische Geschichtsmodell als organisierendes Prinzip zugrunde, auch der Roman als solcher ist über das Modell organisiert: Über die Familiengeschichte des Protagonisten, insbesondere über die Figur des Großvaters, wird sowohl das ›Paradies‹ Vormoderne als auch der aus kulturkritischer Perspektive ›Sündenfall‹ Moderne eingespeist; es folgen die Moderne und der Rückzug auf den Berg; schließlich ist der Ausbruch des ersten Weltkrieges der »Augenblick seines [Hans Castorps] Erwachens«1628. Erkennbar schließt der Roman zwar einerseits an das gnostisch-eschatologische Geschichtsmodell der Kulturkritik an – unterscheidet sich andererseits jedoch auch signifikant vom Weltanschauungsroman: Hier steht gerade nicht der Abschluss des weltanschaulichen Bildungsprozesses, sondern vielmehr mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges der Abschluss und damit offenkundig das Scheitern der Epoche der Weltanschauungssuche und der Aufbruch in ein neues Zeitalter nach der Weltanschauungsepoche am Ende. Auch insofern kann der »Zauberberg« als Historisierung des Weltanschauungsromans gelesen werden. 1623 1624 1625 1626 1627 1628

Mann: Der Zauberberg, S. 195. Ebd., S. 198. So schon Wünsch: Okkultismus im Kontext von Thomas Manns »Zauberberg«, S. 95. Mann: Der Zauberberg, S. 199. Wünsch: Okkultismus im Kontext von Thomas Manns »Zauberberg«, S. 95. Mann: Der Zauberberg, S. 1079.

Paradoxien (kolonialer) Weltanschauungsromane und ihre literarische Reflexion

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Die heterogenen Weltanschauungsangebote sind schließlich im größeren Kontext des weltanschaulichen ›Bildungsprozesses‹ des Protagonisten zu verstehen. Grundsätzlich ist Hans Castorp offen für Eindrücke jeglicher Art, plappert diese nach – Settembrini bezeichnet Castorp als jemanden, dessen »[…] Anschauungen [sic!] nicht ohne weiteres die Ihren sind, sondern daß sie gleichsam nur eine der möglichen und in der Luft schwebenden Anschauungen aufgriffen, um sich unverantwortlicherweise einmal darin zu versuchen. So entspricht es Ihrem Alter […].«1629

Der ›Bildungsprozess‹ des Protagonisten umfasst dann die folgenden Stationen: Rückzug von der Moderne in die abgeschlossene Welt des Sanatoriums; Weltanschauungsangebote I (Settembrini, Clawdia Chauchat als Gegenpol), wobei die »Walpurgisnacht« den Höhepunkt darstellt; Weltanschauungsangebote II (Settembrini, Naphta) mit dem Höhepunkt des Schneeerlebnisses ; Weltanschauungsangebote III (Mynheer Peeperkorn, Spiritismus); schließlich der erste Weltkrieg als Erweckungsmoment und Ende der Weltanschauungssuche des Protagonisten im Speziellen und der historischen Epoche der Weltanschauungssuche im Allgemeinen. Von zentraler Bedeutung für den weltanschaulichen Klärungsprozess ist das Schneeerlebnis Hans Castorps. Nicht nur wird es mit den Kolloquien mit Naphta und Settembrini und also mit unterschiedlichen weltanschaulichen Angeboten inhaltlich enggeführt1630, der Protagonist seinerseits empfindet die Winterwildnis als »passenden Schauplatz für das Austragen seiner Gedankenkomplexe«1631, seiner »Regierungsgeschäft[e]«1632, seiner Auseinandersetzung mit »seiner Frage und seinem Rätsel«1633, kurz: seines weltanschaulichen Klärungsprozesses, der im Bekenntnis zum Leben und der Reflexion des eigenen weltanschaulichen Suchprozesses kulminiert: Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Und damit wach ich auf… Denn damit hab ich zu Ende geträumt und recht zum Ziele. Schon längst hab ich nach diesem Wort gesucht: am Orte, wo Hippe mir erschien, in meiner Loge und überall. Ins Schneegebirge hat mich das Suchen danach auch getrieben. Nun habe ich es. Mein Traum hat es mir deutlichst eingegeben, daß ich’s für immer weiß.1634

Nun ist der (weltanschauliche) ›Bildungsprozess‹ Hans Castorps bekanntlich wenig nachhaltig – »[w]as er gedacht, verstand er schon diesen Abend nicht 1629 1630 1631 1632 1633 1634

Mann: Der Zauberberg, S. 150. Ebd., S. 719. Ebd., S. 719. Ebd., S. 719. Ebd., S. 720. Ebd., S. 748/749, Hervorhebung im Original.

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›Koloniale‹ Weltanschauungsromane

mehr so recht.«1635 Im Grunde ist aber auch dies – liest man den »Zauberberg« als Historisierung des Texttypus des Weltanschauungsromans – nur konsequent, findet doch in diesem gerade kein echter Bildungsprozess statt. Nicht nur inhaltlich ist der »Zauberberg« also auch vor der Folie des Weltanschauungsromans zu lesen, auch hinsichtlich seiner narrativen Organisation ist er erkennbar auch von der Weltanschauungsdichtung her zu verstehen. Das gilt zunächst für den Rekurs auf jenes Ensemble weltanschaulicher Diskursfiguren, das das Archiv des Texttypus des Weltanschauungsromans bildet. Auf den Rückgriff auf die Figur des Verlustes des ›Erbhofes‹ – im Falle des Zauberbergs der Niedergang des Hauses und der Firma Castorp & Sohn – wurde bereits hingewiesen, ebenso auf die Diskursfigur der Re-Vergemeinschaftung. Die Höhenmetaphorik des Textes, die schon im Titel des Romans installiert wird, wird wohl nicht nur von der romantischen Tradition her zu verstehen sein, sondern auch im Zusammenhang mit der Höhenmetaphorik weltanschaulichen Denkens um 1900 gelesen werden müssen. Dasselbe gilt für die offensichtliche Rückzugs-, Absonderungs- und Abgeschlossenheitssemantik des kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende, an die der Text anknüpft – der dargelegte Rückzug von der Moderne in die abgeschlossene Welt des Berges ist nichts anderes als die narrative Ausgestaltung der Absonderungs-Figur. Mit Blick auf die Semantik der Kulturkritik lässt sich schließlich ergänzen, dass auch im »Zauberberg«, der auf den ersten Blick nicht an der Kolonie-Semantik als spezifischer Form der Absonderungs-Semantik partizipiert, doch immer wieder auf den Kolonialismus verwiesen wird: Nicht nur zeigt etwa der Kino-Abschnitt, dass trotz des Absonderungs- und Abgeschlossenheitscharakters des »Zauberberges« dieser dennoch im größeren globalen Kontext steht und die überseeischen Kolonialgebiete trotz aller Absonderung auf dem Berg präsent sind1636. Vor allem ist es Mynheer Peeperkorn als personifiziertes Weltanschauungsangebot, der als »Kolonial-Holländer, ein Mann von Java, ein Kaffeepflanzer«1637 nicht nur »mit so großem Recht das Beiwort ›international‹ in seinem Schilde führte«1638, sondern im Grunde von der Kolonie auf den Berg und also von der einen in die andere Absonderung hinüber wechselt. Vor allem aber ist an dieser Stelle die Diskursfigur des Welt-All-Blicks hervorzuheben. Schon angesichts der Studien zur Physiologie und die Reflexionen des Protagonisten über das Leben, mithin seiner Auseinandersetzung mit Weltanschauungstexten Haeckelscher Provenienz, verweist der Erzähler darauf, dass diese »über dem glitzernden Tal« unter dem »Scheine des toten Gestirnes« 1635 1636 1637 1638

Ebd., S. 751. Ebd., S. 482. Ebd., S. 827. Ebd., S. 826/827.

Paradoxien (kolonialer) Weltanschauungsromane und ihre literarische Reflexion

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stattfinde1639. Erkennbar wird die Diskursfigur der Welt-All-Anschauung hier zugleich kritisch gebrochen, die kritische Distanz zu den Weltanschauungsangeboten selbst und damit zugleich die Historisierung der Weltanschauungsepoche und des Weltanschauungsromans so unterstrichen. Im Laufe der Zeit (und unmittelbar bevor »Noch jemand« auftaucht) entwickelt Hans Castorp zudem ein Interesse am Kosmos1640. Der Lieblingsort des Protagonisten, die Bank, auf der er einst mit Nasenbluten saß und die ihm im späteren Verlauf als Rückzugsort dient, an den er »die Eindrücke und Abenteuer so vieler Monate zu überschlagen und alles zu bedenken«1641 sich begibt, bietet ein »geschlossene[s] Landschaftsbild«1642, einen panoramatischen Rundumblick, der die weltanschauliche Reflexion jener zahlreichen Eindrücke und Einflüsse, »nicht leicht zu ordnen [… ], denn sie erschienen ihm vielfach verschränkt und ineinanderfließend«1643, allererst ermöglicht. Das Schnee-Kapitel greift für die Darstellung des weltanschaulichen Klärungsprozesses systematisch auf die Diskursfigur der Welt-All-Anschauung und auf die des Weges (u. a. weltanschauliche Verirrung, Berg- und Talfahrt) zurück und verknüpft diese zusätzlich mit dem Bild des Sturmes (weltanschaulicher Sturm und Klärung). Der Rückzug in die Höhen des Schneegebirges stellt die Überbietung des weltanschaulichen Standpunktes dar : Angetreten aufgrund des tiefen Wunsches »mit seinen Gedanken und Regierungsgeschäften [d.i. weltanschauliche Reflexion] allein zu sein«1644, ermöglichen ihm auch die Skiausflüge gleichermaßen einen »hehren Weitblick über die Landschaft seiner Abenteuer«1645 wie die Annäherung an den Himmel (vgl. beispielsweise: »Er schob sich weiter, höher hinauf, gegen den Himmel«1646) – panoramatischer Welt-Blick und All-Anschauung ergänzen sich auch hier zur Diskursfigur der Welt-All-Anschauung, die Weltanschauung figuriert. Insofern weltanschauliche Reflexion hier wie an anderer Stelle als »Regierungsgeschäft« bezeichnet wird, erfolgt erneut auf der Ebene der Erzählinstanz eine Distanzierung und kritische Brechung des weltanschaulichen Bildungsprozesses. Im übrigen wird das Schneeerlebnis mit der Faschingsnacht enggeführt, »als Hans Castorp sich in ebenso toller und schlimmer Lage befunden«1647, mit jener ersten Emanzipation von der weltanschaulichen Beeinflussung namentlich durch Settembrini also – 1639 1640 1641 1642 1643 1644 1645 1646 1647

Ebd., S. 419. Ebd., S. 558. Ebd., S. 585. Ebd., S. 585. Ebd., S. 585. Ebd., S. 712. Ebd., S. 716. Ebd., S. 720. Ebd., S. 736.

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›Koloniale‹ Weltanschauungsromane

dem Schneeerlebnis kommt mithin eine vergleichbare Funktion mit Blick auf den weltanschaulichen Bildungsprozess des Protagonisten zu. Im Schneesturm verdichtet sich der weltanschauliche Klärungsprozess des Protagonisten: »[…] Ich habe viel erfahren bei Denen hier oben von Durchgängerei und Vernunft. Ich bin mit Naphta und Settembrini in hochgefährlichen Gebirgen umgekommen. Ich weiß alles vom Menschen. Ich habe sein Fleisch und Blut erkannt, ich habe der kranken Clawdia Pribislav Hippes Bleistift zurückgegeben. Wer aber den Körper, das Leben erkennt, erkennt den Tod. […] Ich verstehe mich nicht wenig auf ihn, habe viel gelernt bei Denen hier oben, bin hoch vom Flachlande hinaufgetrieben, so daß mir Armem fast der Atem ausging; doch hab ich nun vom Fuße meiner Säule einen nicht schlechten Überblick… […]«1648

Angesichts von Einsamkeit, Höhe und panoramatischem Rundumblick synthetisieren sich die weltanschaulichen Eindrücke, denen der Protagonist bis zum Schneeerlebnis ausgeliefert war, im Schneetraum, der seinerseits an die Diskursfigur des Paradieses anknüpft, zum weltanschaulichen Standpunkt, zum weltanschaulichen ›Überblick‹. Der Abschnitt »Schnee« ist dann durch eine ausgeprägte Wegmetaphorik gekennzeichnet, die den weltanschaulichen Bildungs- und Klärungsprozess figuriert: Rechts seitwärts in einiger Entfernung nebelte Wald. Er wandte sich dorthin, um ein irdisches Ziel vor Augen zu haben, statt weißlicher Transzendenz, und fuhr plötzlich ab, ohne daß er im geringsten eine Geländesenkung hatte kommen sehen. Die Blendung verhinderte jedes Erkennen der Bodengestaltung. Man sah nichts; alles verschwamm vor den Augen. Ganz unerwartet hoben Hindernisse ihn auf. Er überließ sich dem Gefälle, ohne mit dem Auge den Grad seiner Neigung zu unterscheiden.1649

Die Schneefahrt stellt mit ihrer Berg- und Talfahrt, ihrem Dazwischen zwischen Himmel und Erde, schließlich dem Sturm, die symbolische Überhöhung des weltanschaulichen Bildungs- und Klärungsprozesses dar. Die ›Herausforderung‹ dieser Schneefahrt, die Castorp antritt, um in ihrer Einsamkeit seine weltanschaulichen Eindrücke zu sortieren, Gedankenkomplexe und Rätsel zu durchdenken, sie ist zugleich das Ergebnis weltanschaulicher Eindrücke und des Bedürfnisses, diese zu sortieren, mit seinen ›Gedankenkomplexen‹, Fragen und ›Rätseln‹ alleine zu sein: Was aber in Hans Castorps Seele vorging, war nur mit einem Wort zu bezeichnen: Herausforderung. Und soviel Tadel das Wort umschließt, auch wenn – oder besonders wenn – das ihm entsprechende frevelhafte Gefühl mit so viel aufrichtiger Furcht verbunden ist, so ist doch bei einigem menschlichen Nachdenken ungefähr zu begreifen, daß in den Seelengründen eines jungen Menschen und Mannes, der jahrelang gelebt hat wie dieser hier, manches sich ansammelt, oder, wie Hans Castorp, der Ingenieur, 1648 Ebd., S. 746/747. 1649 Ebd., S. 721.

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gesagt haben würde, »akkumuliert«, was eines Tages als ein elementares »Ach was!« oder ein »Komm denn an!« von erbitterter Ungeduld, kurz eben als Herausforderung und Verweigerung kluger Vorsicht sich entlädt.1650

Die weltanschauliche Berg- und Talfahrt zwischen Himmel und Erde führt schließlich durch den Schneesturm, »der lange gedroht hatte«1651; in dem Moment, in dem der weltanschauliche Klärungsprozess beendet ist, ist auch der Weltanschauungs-/Schneesturm vorbei: »› […] Sieh da, – gut Wetter!‹«1652 WeltAll-Blick, Weg-Figur und Schneesturm figurieren mithin den weltanschaulichen Klärungsprozess des Protagonisten – erkennbar steht der »Zauberberg« hier in der Tradition des Weltanschauungsromans der Jahrhundertwende. Nicht nur an das Ensemble weltanschaulicher Diskursfiguren, auch an das weltanschauliche Erzählen vom Ganzen knüpft der Roman in historisierender Weise an. Auf die für den Weltanschauungsroman charakteristische Familiengeschichte, die vom auktorialen Erzähler, der über einen großen Zeitraum mehrerer Jahrzehnte bis Jahrhunderte souverän verfügt, eingeflochten wird und der unter anderem die Funktion hat, den Modernisierungsprozess zu figurieren, wurde bereits eingegangen (Kapitel zwei des Zauberberges, vgl. oben). Der »Vorsatz« im »Zauberberg« knüpft dann in gewisser Hinsicht an die für den Weltanschauungsroman charakteristische weltanschauliche Exposition an (ohne dabei im engeren Sinn einen Weltanschauungserzähler zu etablieren), wie er sie auch historisiert insofern die Geschichte selbst historisiert wird: »diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen.«1653 Hans Castorp interessiert dann, auch das ein Charakteristikum des Weltanschauungsromans, gerade nicht als Individuum, sondern als Exemplum, als Stellvertreter einer allgemeinen mentalen Lage: Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, – nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzählenswert scheint (wobei zu Hans Castorps Gunsten denn doch erinnert werden sollte, daß es seine Geschichte ist, und daß nicht jedem jede Geschichte passiert) […].1654

Dieser Gedanke wird an späterer Stelle mehrfach wieder aufgegriffen; im Familienkapitel wird betont, dass Castorps »Schicksal […] eine gewisse überpersönliche Bedeutung«1655 zugeschrieben werde; ferner lebe der Mensch »nicht 1650 1651 1652 1653 1654 1655

Ebd., S. 725. Ebd., S. 726. Ebd., S. 749. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 53.

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›Koloniale‹ Weltanschauungsromane

nur sein persönliches Leben als Einzelwesen, sondern, bewußt oder unbewußt, auch das seiner Epoche und Zeitgenossenschaft«1656 ; schließlich wird am Ende des Romans noch einmal betont, dass es um das Allgemeine, nicht um das Individuelle, gehe, so dass eine inhaltliche Rahmung entsteht: Lebewohl, Hans Castorp, des Lebens treuherziges Sorgenkind! Deine Geschichte ist aus. Zu Ende haben wir sie erzählt; sie war weder kurzweilig, noch langweilig, es war eine hermetische Geschichte. Wir haben sie erzählt um ihretwillen, nicht um deinethalben, denn du warst simpel.1657

Auch die – hier wie schon im Vorsatz explizit gemachte – Mittelmäßigkeit des Protagonisten ist nicht untypisch. Unter anderem von der Mittelmäßigkeit (bis Dumpfheit) der Protagonisten her sind die weltanschaulichen Erzählerexkurse zu verstehen, die die Gedanken und Handlungen der Protagonisten in den weltanschaulichen Gesamtzusammenhang einordnen. Auch hier lässt sich eine gewisse Kontinuität vom Weltanschauungsroman zum »Zauberberg« beobachten, wenn der Erzähler die unsortierten und unterkomplexen Gedanken Hans Castorps mehrfach in Exkursen sortiert – ein ganzer Abschnitt trägt im »Zauberberg« gar den Titel »Exkurs über den Zeitsinn«, der Erzähler führt hier »Bemerkungen« an, die »nur deshalb hier eingefügt [werden], weil der junge Hans Castorp ähnliches im Sinne hatte«1658, als er gegenüber seinem Vetter über die Zeit nachdenkt – eine knapp halbseitige Passage wörtlicher Rede im Übrigen, die deutlich kürzer ist, als der voranstehende über zweiseitige Erzählerexkurs selbst.1659 Im Übrigen ist es nicht untypisch, dass Weltanschauungsromane im Zusammenhang mit den Weltanschauungsschriften ihrer Autoren gesehen werden müssen. Thomas Mann habe seinerseits »die drei Aufsätze ›Goethe und Tolstoi‹, ›Von deutscher Republik‹ und ›Okkulte Erlebnisse‹ als ›Exkurse‹ zum ›Zauberberg‹ bezeichnet«1660. Wenngleich diese Schriften hier nicht in den Kontext der Weltanschauungstexte im engeren Sinne gestellt werden sollen, so ist doch zumindest festzuhalten, dass auch der »Zauberberg« in gewisser Hinsicht über begleitende Schriften verfügt. In einem zentralen Punkt unterscheidet sich das Erzählverfahren des »Zauberberges« allerdings grundsätzlich vom weltanschaulichen Erzählen der Jahrhundertwende: Im »Zauberberg« ist es gerade kein weltanschaulich fundierter 1656 1657 1658 1659 1660

Ebd., S. 53. Ebd., S. 1085. Ebd., S. 161. Vgl. ebd., S. 159–161. Neumann, Michael: Entstehungsgeschichte. In: Mann, Thomas: Der Zauberberg. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Michael Neumann. Band 5.2, Kommentar von Michael Neumann. Frankfurt/Main 2002, S. 9–46, hier S. 40/41.

Paradoxien (kolonialer) Weltanschauungsromane und ihre literarische Reflexion

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Erzähler, der die Geschichte Hans Castorps erzählt; vielmehr handelt es sich um ein Erzählen, das Ambivalenz geradezu zum Prinzip macht.1661 Das gilt nicht nur für die Ambivalenz der unterschiedlichen Weltanschauungsangebote, gegenüber denen die Erzählinstanz bewusst unentschieden bleibt und sie so auf der übergeordneten Ebene zugleich einer kritischen Reflexion unterzieht; das gilt weiter für die einzelnen Themenkomplexe wie etwa den Zeitkomplex1662 ; schließlich wirkt die Ambivalenz als Erzählprinzip bis in die sprachliche Gestaltung des Textes hinein1663. Insofern also einerseits an bestimmte Spezifika weltanschaulichen Erzählens angeknüpft wird, zugleich aber in einem wesentlichen, ja dem zentralen Punkt diesem gerade nicht gefolgt wird, wird es gleichermaßen kritisch gebrochen wie historisiert. Mit Blick auf die Frage der Gattungszugehörigkeit ist der »Zauberberg« sowohl als Bildungs-, als auch als Zeitroman1664 gelesen worden, selten jedoch als Mischform beider Texttypen.1665 Explizit als Mischform beider Gattungen sieht Michael Neumann den Zauberberg: Der Zeitroman zeigt den Untergang; der in ihn eingebettete Bildungsroman zeigt, was hier untergeht. Der Grundkonflikt des bürgerlichen Zeitalters wird als ein Kampf zwischen Aufklärung und Romantik vorgestellt. Unter dieser Polarität ordnen sich auch die repräsentativen Figuren. In Settembrini trifft Hans Castorp auf einen aufgeklärt-zivilisatorischen Humanismus, in Naphta auf einen revolutionären Totalitarismus, bei Hofrat Behrens auf einen medizinischen Materialismus und bei Dr. Krokowski auf einen mit dem Obskurantischen verbündeten Psychologismus. Zu allen diesen Positionen und Gegenpositionen wahrt er eine neugierige Distanz, deren Eigenständigkeit er mithilfe ausgedehnter Lektüre stärkt. […] Der ›Schnee‹-Traum faßt nur mehr

1661 Vgl. Dierks, Manfred: Ambivalenz. Die Modernisierung der Moderne bei Thomas Mann. In: Sprecher, Thomas/Wimmer, Ruprecht (Hrsg.): Thomas Mann Jahrbuch, Band 20 (2007), Frankfurt/Main 2008, S. 155–170, hier S. 156. 1662 Vgl. Dierks: Ambivalenz, S. 162. 1663 Manfred Dierks etwa hat auf Formulierungen wie »Hans Castorp gähnte erregt« (Mann: Der Zauberberg, S. 127), »[e]ilende Weile« (ebd., S. 1004), »sympathische Magerheit« (ebd., S. 464) und »[r]obust und spärlich« (ebd., S. 829) hingewiesen. Vgl. Dierks: Ambivalenz, S. 156. 1664 Zum Zauberberg als Zeitroman insb. Karthaus, Ulrich: »Der Zauberberg« – ein Zeitroman (Zeit, Geschichte, Mythos). In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Band XLIV, 44. Jahrgang (1970), S. 269–305; Würffel, Stefan Bodo: Zeitkrankheit – Zeitdiagnose aus der Sicht des »Zauberbergs«. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs – in Davos erlebt. In: Sprecher, Thomas (Hrsg.): Das »Zauberberg«Symposium 1994 in Davos. Frankfurt/Main 1995, S. 197–223. 1665 Michael Neumann hat darauf verwiesen, dass sich die antagonistischen Interpreten in einem Punkt einig seien, nämlich dem, dass der Roman nicht beides sein könne (ders.: Ein Bildungsweg in der Retorte. In: Heftricht, Eckhard/Sprecher, Thomas (Hrsg.): unter Mitarbeit von Ruprecht Wimmer : Thomas Mann Jahrbuch, Band 10 (1997), Frankfurt/ Main 1998, S. 133–148, hier S. 134.

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›Koloniale‹ Weltanschauungsromane

den Stand zusammen, auf den Hans Castorp seine Bildungserfahrungen gebracht haben.1666

Anders formuliert: Der Roman ist insofern ein Zeitroman, als er in rückblickender Perspektive im Sinn des Zeitromanschemas die Zeit zum eigentlichen Helden macht (Hans Castorp interessiert nicht um seiner selbst willen, vielmehr wird ein Bild der Epoche gezeichnet); eine Vielzahl unterschiedlicher Figuren, die als Stellvertreter bestimmter Anschauungen dienen, im Text auftaucht; die Gesprächsform insbesondere zwischen Settembrini und Naphta, aber auch zwischen anderen Personen und damit weltanschaulichen Positionen großen Raum einnimmt; schließlich werden für den Zeitroman zentrale Themen – erinnert sei noch einmal an die Hasubeksche Unterscheidung des gesellschaftlichen, des geistig-kulturellen, des sittlich-religiösen, des politisch-militärischen und des wirtschaftlichen Kräftefelds1667 – behandelt. Und er ist Bildungsroman, insofern er den weltanschaulichen Bildungsprozess des Protagonisten als epochenspezifischen zum Thema des Zeitromans macht. Diese Verknüpfung des Zeitromans mit dem überindividuell-weltanschaulichen Bildungsprozess ist nun gerade das Charakteristische des Texttypus des Weltanschauungsromans, an das der Text insofern (in historisierender Form) deutlicher anschließt, als an den Goetheschen Bildungsroman, in dessen Tradition Mann selbst seinen Text zu stellen versucht.1668 Entstehungsgeschichtlich1669 lässt sich ergänzend zeigen, dass sowohl die Konzeption des Textes als Zeitroman, als auch der bewusste Anschluss an den Bildungsroman erst im Verlauf der Arbeit erfolgen und an Bedeutung sukzessive zunehmen – auch das spricht für einen erst rückblickenden und zugleich historisierenden Rückgriff auf den Texttypus des Weltanschauungsromans: Bekanntlich zwischen 1913 und 1924 entstanden, werden die für den Weltanschauungsroman charakteristischen Merkmale im Laufe der Entstehung zunehmend gestärkt. So wird der Wahrnehmung der mentalen Lage der Jahrhundertwende durch den Protagonisten, die zwischen Verfall und Fortschrittsoptimismus schwankt, wohl erst nach dem Ersten Weltkrieg eine zentrale Funktion im Roman zugewiesen1670 ; der Vorsatz und die Figur des Großvaters werden ebenfalls erst im Laufe der Arbeit in den Roman einge1666 Neumann: Ein Bildungsweg in der Retorte, S. 145/146. 1667 Vgl. Hasubek: Der Zeitroman, S. 222. 1668 Nicht nur Horst Thom8 hat darauf hingewiesen, dass auch literaturwissenschaftliche Prestigeobjekte wie Manns »Zauberberg« in die Linie des Weltanschauungsromans eingeordnet werden könnten (vgl. Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 366/367), auch Barbara Beßlich hat darauf verwiesen, dass es sich bei dem Roman um einen Zeitroman, »der die weltanschaulichen Strömungen der Zeit figurativ verarbeitet, nämlich in Gestalt Naphtas und Settembrinis« handele (vgl. Beßlich: Faszination des Verfalls, S. 38). 1669 Vgl. hierzu Neumann: Entstehungsgeschichte. 1670 Ebd., S. 17/18.

Paradoxien (kolonialer) Weltanschauungsromane und ihre literarische Reflexion

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führt1671; schließlich wird der Roman erst nach dem Weltkrieg als »Zeitroman« einerseits1672 und – in Auseinandersetzung mit Goethe – erst nach 1921 als Bildungsroman andererseits1673 konzipiert.

1671 Ebd., S. 25 und S. 34 sowie S. 28. 1672 Ebd., S. 26. 1673 Ebd., S. 39.

V

Eine Geschichte des Scheiterns und eine des Aufbruchs. Engführung und Ausblick

V.1

Kolonien, Kulturkritik und Literatur um 1900. Engführung

Die vorliegende Arbeit hat als ihren Ausgangspunkt die Beobachtung genommen, dass die Probleme einer Gattungsbestimmung des deutschen ›Kolonialromans‹ möglicherweise mit der Uneindeutigkeit des Begriffes ›Kolonie‹ selbst in Zusammenhang stehen. Genauer schien der Begriff der Kolonie nicht nur um 1900 Konjunktur zu haben, er ist darüber hinaus gerade in dieser Zeit nicht auf seinen machtpolitischen Gehalt alleine zu reduzieren. Ausgehend von dieser Beobachtung konnte in einem ersten, begriffshistorischen Zugriff die Aufnahme des Begriffs in verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts herausgearbeitet werden. Auf dieser Grundlage konnte insbesondere gezeigt werden, dass der Begriff Eingang in das weltanschaulich-kulturkritische Denken der Jahrhundertwende findet: Sowohl konservative (Lagarde, Langbehn, Bartels, Lienhard) als auch lebensreformerische (Hertzka, Franz Oppenheimer, Gartenstadtbewegung, Landauer etc.) Kulturkritik greifen den Koloniebegriff auf. Diese Begriffsbesetzung ist von grundlegend anderer Qualität als es die Begriffsbesetzungen zuvor waren: Der Kolonie-Begriff wird hier nicht mehr nur in den Spezialdiskurs eines einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichs aufgenommen, sondern in generalisierender Perspektive für die Beobachtung, Beschreibung und Reflexion moderner Gesellschaft und ihrer möglichen Alternativen eingesetzt. In einem zweiten Zugriff ist dann der Eingang des Koloniebegriffs in die Semantik der Kulturkritik einer umfassenderen Analyse unterzogen worden. Kulturkritik kann als spezifischer Beobachtungsmodus der Moderne verstanden werden, der mit der Moderne entsteht und sich zugleich gegen die Moderne richtet. Als solcher bildet er eine historisch variable Semantik aus, die einer eigenen Untersuchung unterzogen werden kann. Eine der für die Kulturkritik um 1900 offenbar evidenten Metaphern ist die der ›Kolonie‹: Innerhalb des kulturkritischen Beobachtungsmodus und seines Basisnarrativs Vormoderne – Sündenfall Moderne – Erlösungshoffnung werden die Begriffe ›Kolonie‹ und

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Eine Geschichte des Scheiterns und eine des Aufbruchs

›Kolonisation‹ systematisch an die Gelenkstelle zwischen Sündenfall Moderne und Erlösung gesetzt. Der Eingang des Begriffsfeldes ›Kolonie‹ in die Semantik der Kulturkritik scheint kein zufälliger zu sein: Der Begriff wird offenbar aufgrund seiner semantischen Eigenschaften für die weltanschauliche Kulturkritik attraktiv. Vor diesem Hintergrund wurde drittens die Frage gestellt, ob und wie die Literatur der Jahrhundertwende auf den doppelten, machtpolitischen und kulturkritischen, Koloniebegriff zurückgreift. Zunächst konnte für den Überseeroman gezeigt werden, dass dieser neben einer machtpolitischen häufig auch eine kulturkritische Bedeutungsschicht aufweist. Daraus leiten sich drei wesentliche Deutungslinien ab: Der Überseeroman begreift Kolonien und Kolonialismus erstens als Faktor der ökonomischen und politischen Modernisierung. In dieser Deutungslinie steht der machtpolitische Kolonialismus im Vordergrund; es ist diese Linie, die in der Forschung aus postkolonialer Perspektive umfangreich untersucht worden ist. Die vorliegende Arbeit hat sich daher auf drei Aspekte der Beobachtung und Beschreibung des (befürworteten) Kolonisierungsprozesses als Teilprozess der Modernisierung in der Überseeliteratur beschränkt: Untersucht wurden die semantische Aufladung des kolonialen Raumes als eines nationalen, die Einordnung der Erweiterung des nationalen zum kolonialen Raum in das Deutungsmuster des Nationaldarwinismus sowie die von der Forschung bislang weitgehend vernachlässigte Wahrnehmung der Kolonien als Faktor innerhalb der ökonomischen Moderne. Daneben stehen zwei weitere Deutungslinien, die an den weltanschaulichkulturkritischen Gehalt der ›Kolonie‹ anschließen. Die Kolonie ist hier entweder zweitens aus konservativer Perspektive Ort und Ausgangspunkt einer Regeneration von Gesellschaft und Kultur im Sinne der konservativen Kulturkritik oder aber drittens Ort und Ausgangspunkt einer Erlösung im Sinne der Lebensreform, mithin eines dritten Weges im Umgang mit der Moderne: Die Kolonie wird zum Korrektiv einer fehlgeleiteten Moderne. Der konservative kulturkritische Überseeroman setzt dabei wesentlich auf die narrative Ausgestaltung einer ReVergemeinschaftung in der Kolonie, auf die Rücküberführung von moderner Gesellschaft in vormoderne Gemeinschaft. Neben einer sozialen hat das gerade auch eine ökonomische Dimension: Diese Texte verfolgen das Ideal einer Volkswirtschaft, die wieder wesentlich auf dem Agrarsektor ruht, genauer auf einem Kleinbauerntum, das nur sehr begrenzt in ein Handelsnetzwerk eingelassen ist und für das die moderne Geldwirtschaft eine untergeordnete Rolle spielt. Der lebensreformerische Überseeroman lehnt die Moderne dahingegen nicht grundsätzlich ab, verhandelt aber ihre Fehlentwicklungen und stellt ihr in kulturkritischer Perspektive den Gegenentwurf einer ›bereinigten‹ Moderne entgegen. Die narrative Ausgestaltung ist hier heterogener als im konservativen Überseeroman: Friede Kraze gestaltet das literarische Prinzip der Gesell-

Kolonien, Kulturkritik und Literatur um 1900

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schaftsreform durch Lebensreform narrativ aus; Theodor Hertzka verschränkt Kolonialdiskurs und Wirtschaftsutopie systematisch; Hans Paasche kehrt den Kolonialdiskurs in kulturrelationaler Perspektive gegen Europa selbst indem er seinen Protagonisten, den afrikanischen Forschungsreisenden Lukanga Mukara, die Fehlentwicklungen der europäischen Moderne aus lebensreformerischer Perspektive formulieren lässt. Grundsätzlich bleiben aber alle kulturkritischen Texte – auch diejenigen, die die Moderne grundsätzlich ablehnen – konstitutiv an diese gebunden. Hinsichtlich der narrativen Organisation wurde in einem ersten Zugriff insbesondere ein Ensemble kolonialdiskursiver Figuren herausgearbeitet, auf die die Überseeliteratur um 1900 zurückgreifen kann und die sie gewissermaßen zu einem Erzähltext ›arrangieren‹ kann. Der Mehrheit dieser Figuren liegt die kolonialdiskursive Grundfigur des Eigenen/Fremden, mit der sich die postkoloniale Germanistik intensiv auseinandergesetzt hat, zugrunde. Es konnte dann mit Blick auf den kulturkritischen Überseeroman in einem zweiten Zugriff gezeigt werden, dass einige der auf den ersten Blick machtpolitischen Diskursfiguren auch eine zweite, eine kulturkritische Bedeutungsschicht aufweisen – so etwa die Diskursfiguren der ›Fremden Heimat‹, der Pioniere in Übersee, des Paradieses, der ›Verkafferung‹ und des ›Tropenkollers‹ und nicht zuletzt die Eisenbahn. In ihrer kulturkritischen Bedeutung stehen diese Figuren für das Ringen um eine ›andere‹, um eine bessere, um eine alternative Moderne. Im kathartischen Moment, das Kolonialkrieg und Genozid zugeschrieben wird, verdichtet sich dieses Ringen schließlich in einer symbolischen Selbstreinigung der Moderne. Gattungsgeschichtlich ist der Überseeroman vor dem Hintergrund des Zeitromans (machtpolitischer Kolonialroman) bzw. vor dem Texttypus des Weltanschauungsromans (kulturkritischer Überseeroman) zu lesen. Im Umfeld des weltanschaulich-kulturkritischen Denkens der Jahrhundertwende ist nicht nur der Texttypus der ›Weltanschauungsliteratur‹ (Thom8), sondern auch das genuin literarische Textkorpus des ›Weltanschauungsromans‹ entstanden. Inhaltlich arbeiten diese Texte sich – vom kulturkritischen Beobachtungsmodus her verstanden – an der Moderne ab. Vor dem Hintergrund des triadischen Geschichtsmodells der Kulturkritik thematisiert der Weltanschauungsroman die Frage menschlichen Glückes und erhebt vom normativen Standpunkt aus Einspruch gegen die Zumutungen der Moderne; insofern er also Zeit behandelt, handelt es sich um eine spezifische Unterform des Zeitromans um 1900. Dem Modernisierungsprozess – und das macht den Zeitroman zum Weltanschauungsroman – wird der weltanschauliche Bildungsprozess des Protagonisten entgegengesetzt: Erst der feste weltanschauliche Standpunkt macht Moderne erträglich. Auch mit Blick auf die narrative Gestaltung zeichnet sich der Weltanschau-

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Eine Geschichte des Scheiterns und eine des Aufbruchs

ungsroman gegenüber dem Zeitroman durch spezifische Merkmale aus. Weltanschauungsdichtung setzt zunächst den Weltanschauungsdichter programmatisch voraus. Sie ist dann über ein allgemeines textstrukturierendes Narrativ (Vormoderne – Sündenfall Moderne – Erlösungshoffnung) organisiert. Dieses Narrativ leitet sich aus dem Geschichtsmodell der weltanschaulichen Kulturkritik ab, die ihrerseits auf die hegelianische Dialektik zurückgreift. Die Texte können zweitens auf ein Ensemble weltanschaulich-kulturkritischer Diskursfiguren zurückgreifen, die gewissermaßen die ›Diskursgrammatik‹ der Texte darstellen. Das Aneinanderreihen weltanschaulich-kulturkritischer Diskursfiguren kann dann als Textstrategie des Weltanschauungsromans verstanden werden. Schließlich verfolgt Weltanschauungsdichtung drittens das Konzept weltanschaulich-panoramatischen Erzählens, eine Poetik der totalen Anschauung. Dazu gehört zunächst der weltanschauliche Erzähler, genauer der auktoriale Erzähler, der aus weltanschaulicher Perspektive den panoramatischen Überblick über das ›Ganze‹ hat. An wichtigen Gelenkstellen tritt er aus der Handlung heraus und leistet eine weltanschauliche Einordnung des Geschehens; er kann damit eine Perspektive einnehmen und verfügt über Informationen und einen Weitblick, der den Figuren selbst fehlt. Weltanschauliches Erzählen ist Erzählen vom ›Ganzen‹, ist poetische Produktion von Totalität. Im Weltanschauungsroman wird dies über die Eckpfeiler Totalität der Gesellschaftsdarstellung, Totalität des dargestellten Raumes sowie Darstellung langer Zeiträume geleistet. In einer abschließenden Engführung von (kulturkritischer) Überseeliteratur und dem Texttypus des Weltanschauungsromans konnte schließlich die wechselseitige Bezogenheit beider aufeinander gezeigt werden: Nicht nur inhaltlich partizipiert der Überseeroman, ohne dabei notwendig immer im engeren Sinn Weltanschauungsroman zu sein, deutlich an diesem Texttypus, sein Basisnarrativ muss ebenso wie sein poetologisches Programm und die kulturkritische Bedeutungsschicht der auf den ersten Blick machtpolitischen Diskursfiguren vom weltanschaulich-kulturkritischen Roman kommend verstanden werden. Umgekehrt partizipiert Weltanschauungsdichtung im Allgemeinen an der kulturkritischen Kolonie- und Kolonisations-Semantik (äußere oder innere Absonderung; ›geistige‹ Expansion) und weist den überseeischen Gebieten in ihren Romanen dieselbe Funktion zu, die ihnen im kulturkritischen Überseeroman zukommt.

Funktionsgeschichtliche Einordnung weltanschaulicher Romane

V.2

373

Literarische Modernebewältigung. Funktionsgeschichtliche Einordnung weltanschaulicher Romane

Weltanschauungsdichtung beschreibt und reflektiert nicht nur auf der Ebene des Inhalts Moderne, sie ist auch funktionsgeschichtlich als Antwort auf den als Verlust von Ganzheitlichkeit und Sinnhaftigkeit erfahrenen Modernisierungsprozess zu verstehen. Der Weltanschauungsbedarf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist allgemein als Reaktion auf die Pluralität miteinander konkurrierender und einander ausschließender Meinungen, wie sie für fortgeschrittene moderne Gesellschaften kennzeichnend ist, zu begreifen. ›Weltanschauungsliteratur‹ im Sinne Thom8s komme vor diesem Hintergrund die Funktion zu, metaphysischen Trost zu spenden oder soziale Ordnung zu begründen1674, ihr Erfolg erkläre sich damit, dass sie angesichts schwindender Bedeutung von Religion, Skepsis gegenüber den Systemen des philosophischen Zeitalters und der Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften die Aufgabe der ›Sinnproduktion‹ übernehme. Insofern markiere die Konjunktur des Begriffes ›Weltanschauung‹ ebenso wie die der Weltanschauungsliteratur eine Phase im Prozess der Modernisierung. Weltanschaulich fundierter Kunst im Allgemeinen und Weltanschauungsdichtung im Speziellen kommt vor diesem Hintergrund die Funktion zu, auf der Grundlage des fundierenden weltanschaulichen Gedankens die Entzweiung der modernen Kultur rückgängig zu machen. Weltanschauungsdichtung beschreibt und reflektiert nun nicht nur ihrerseits Moderne mit spezifischen Textverfahren, sie hat ferner – die den Romanen eingeschriebene Wirkabsicht verdeutlicht dies – zugleich die Funktion, Sinn zu stiften und Moderne so erträglich zu machen. Explizit markiert wird die Funktion von Weltanschauungsdichtung in der Moderne etwa bei Paul Ernst. Schon in seinem Weltanschauungsroman wird Kunst die Funktion zugeschrieben, ein Bild von Welt, ein Weltbild zu geben, »damit die Menschen das Bild anschauen mögen und glücklicher und besser werden«1675. Kunst wird die Funktion zugeschrieben, Weltanschauung, damit zugleich einen festen weltanschaulichen Standpunkt, zu vermitteln – und damit jenen Standpunkt, der den Menschen glücklich (dies von der Kulturkritik her zu verstehen) werden lässt insofern er Moderne erträglich macht. In den Schriften »Der Weg zur Form« expliziert Ernst diesen Zusammenhang. Moderne wird hier zunächst als unerträglich markiert: Das erklärt sich, wenn wir uns von der Katalogisierungsarbeit wegwenden, die wir heute Wissenschaft nennen und unseren heute unbeachteten seelischen Fähigkeiten glauben, die uns versichern, dass unser empirisches Ich nur ein unvollkommenes 1674 Vgl. Thom8: Der Blick auf das Ganze, S. 392. 1675 Ernst: Der schmale Weg zum Glück, S. 198.

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Eine Geschichte des Scheiterns und eine des Aufbruchs

Abbild eines transzendenten Ich ist, dass unsere Sehnsucht nichts bedeutet als das Streben nach grösserer Ähnlichkeit mit ihm, die wir durch den Integrationsprozess erreichen, da die Unvollkommenheit ja wesentlich das Resultat dieser störenden, verwirrenden und in uns sich festnistenden Welt ist, in welche wir geworfen sind.1676

Weltanschauungsdichtung mache dann den »Konflikt zwischen dem Willen zur Integration und der menschlichen Bedürftigkeit«1677 zum Thema, die »sittlichen Kämpfe«1678. So bestimmt, wird Weltanschauungsdichtung dann explizit die Funktion zugeschrieben, beim »Wiederaufbau unseres Volkes«1679 zu helfen, ihr wird also eine konkrete Wirkabsicht zugeschrieben (Weltanschauungsdichtung ist hier ebenfalls vom kulturkritischen Beobachtungsmodus her zu verstehen). Und auch die Heimatkunstbewegung wird in ihrer Programmatik bestimmt »als de[r] Versuch […], zwischen Kultur und Kunst, zwischen Zeit- und Volksgeist neue Zusammenhänge zu schaffen, auf der Grundlage eines weit und frei erfaßten nationalen Gedankens […]«1680. Weltanschauungsdichtung wird auch hier die Funktion zugeschrieben, verloren gegangene Zusammenhänge über die literarische Darstellung weltanschaulicher Totalität wieder herzustellen. Folgerichtig muss also auch Weltanschauungsdichtung als Antwort auf die Moderne und ihre Wahrnehmung und Beschreibung als Verlust von Ganzheitlichkeit und Sinnhaftigkeit verstanden werden. Dementsprechend markiert sie nicht nur ebenfalls eine spezifische Phase im Prozess der Modernisierung1681, sondern muss zugleich als genuin modernes Phänomen begriffen werden.

1676 1677 1678 1679 1680

Ernst: Das Drama und die moderne Weltanschauung, S. 31. Ebd., S. 31/32. Ernst: Bemerkungen über mich selbst, S. 10. Ebd., S. 12. Lienhard: Heimatkunst, S. 199–200. Das weltanschauliche Grundprinzip, dem sich die Heimatkunst verschrieben hat, wird als Volkstum und Heimat, als nationaler Gedanke, von dem aus die Welt einer Deutung unterzogen wird, bestimmt: »Doch wird man immerhin, um auf den Ausgangspunkt zurückzukehren, diese Bewegung als den Versuch auffassen dürfen, zwischen Kultur und Kunst, zwischen Zeit- und Volksgeist neue Zusammenhänge zu schaffen, auf der Grundlage eines weit und frei erfaßten nationalen Gedankens, anknüpfend an Herder und die Brüder Grimm.« (Ebd., S. 199–200) Aus der weltanschaulichen Errettung der Ganzheitlichkeit leitet sich schließlich die Betonung des »ganzen Menschen« und des Organischen ab: »[W]ir wünschen ganze Menschen mit einer ganzen und weiten Gedanken-, Gemüts- und Charakterwelt, mit modernster und doch volkstümlicher Bildung, mit national- und doch welthistorischem Sinn; sagen wir, wir wünschen Stadt und Land, alle vier Stände, den ganzen Organismus als Grundlage wahrhaft freier, warmer, reiner, menschlich unbefangener Dichtung […].« (Ebd., S. 198, Hervorhebungen im Original). 1681 Vgl. Thom8: Weltanschauungsliteratur, S. 344.

Gattungs- und erzählhistorische Einordnung des Weltanschauungsromans

V.3

375

Ende und Aufbruch. Gattungs- und erzählhistorische Einordnung des Weltanschauungsromans

Nicht nur funktionsgeschichtlich, auch gattungsgeschichtlich und erzählhistorisch steht der Weltanschauungsroman an einer Gelenkstelle. Der Zeitroman der frühen Moderne im Allgemeinen ist, so Göttsche, durch eine Vertiefung der kritischen Auseinandersetzung des realistischen Zeitromans mit dem Modernisierungsprozess, mit Industrialisierung, Urbanisierung und ihren sozialen Folgen, gekennzeichnet, ohne dass hier formale Neuerungen hinzukommen – er ist »durch die Verbindung moderner Themen, Motive und Figurentypen mit vergleichsweise konventionellen Erzählverfahren gekennzeichnet«1682. Der Weltanschauungsroman steht am Ende dieser gattungsgeschichtlichen Entwicklung: Inhaltlich knüpft er wie dargelegt einerseits an die skizzierte Entwicklung an, ergänzt sie andererseits aber durch das spezifische weltanschauliche Profil. Weltanschauungsdichtung kann als ein letzter erzählerischer Versuch, angesichts der veränderten Problemkonstellation in der Moderne vermeintlich verlustig gegangene Ganzheitlichkeit narrativ zu realisieren und so zu retten, verstanden werden. Tatsächlich zeichnet sich der Weltanschauungsroman wie gezeigt durch ein spezifisches narratives Verfahren aus, das sich seinerseits aus seinem Gegenstand (Weltanschauung) ableitet. Zugleich kann das Erzählen diesem Gegenstand – der Anschauung des Weltganzen – notwendig nicht gerecht werden, kann nur mehr an seinem eigenen Gegenstand scheitern. Weltanschauliches Erzählen ist schon seiner Konzeption nach so problembehaftet, dass am Ende nur mehr das Eingeständnis des narrativen Versagens stehen kann. Damit markiert das Scheitern weltanschaulichen Erzählens gleichermaßen den vorläufigen Endpunkt wie den Aufbruch zu neuen Ufern. Das gilt erstens mit Blick auf die Entwicklung der Gattung Zeitroman: »Auch in der Geschichte des Zeitromans ist die Jahrhundertwende 1900 Ende und Aufbruch in einem.«1683 Im 20. Jahrhundert muss sich der Zeitroman unter anderem neuen Erzählverfahren öffnen: Veränderte Problemstellungen – seien sie sozialgeschichtlich bedingt oder Resultat eines gewandelten Geschichtsbewußtseins – erfordern veränderte Erzählverfahren, und dies gilt nicht zuletzt auch für die Jahrhundertwende 1900. Die für den epistemologischen Umbruch in der beginnenden Moderne zentrale Problematisierung personaler Identität und die entsprechenden Formen subjektzentrierter Zeit- und Gesellschaftskritik privilegieren Strukturmodelle des Erzählens, in denen gesellschaftliche Verhältnisse im Spiegel der Identitätskrisen paradigmatischer Subjekte zur 1682 Göttsche: Zeit im Roman, S. 763. 1683 Ebd., S. 761.

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Eine Geschichte des Scheiterns und eine des Aufbruchs

Darstellung gelangen und führen damit auch im Zeitroman zum neuerlichen Rückgriff auf Individualromanstrukturen. An die Stelle einer symbolischen Totalität der Zeitund Gesellschaftsdarstellung treten begrenzte, thematisch und sozial konzentrierte Reflexionsmodelle der Epoche in ihrer gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung.1684

In dieser Perspektive ist der Weltanschauungsroman nicht nur gattungs-, sondern auch erzählhistorisch in einer Umbruchsituation zu verorten: Das Erzählen vom Ganzen ist vorläufig gescheitert, was bleibt, ist der Aufbruch zu neuen erzählerischen Konzepten wie etwa dem fragmentarischen Erzählen in der ästhetischen Moderne. Beide Formen des Erzählens sind dabei unabhängig davon, ob sie ihrem Gegenstand gerecht zu werden vermögen oder nicht, ob sie ihr eigenes Scheitern eingestehen müssen oder nicht, Ausdruck der epistemologischen Umbrüche der Moderne: Der Versuch, Ganzheitlichkeit und Sinnhaftigkeit etwa im Konzept des weltanschaulichen Erzählens vom ›ganzen Menschen‹ zu retten, ist ebenso Reaktion auf die Subjektkrise wie es Erzählverfahren der ästhetischen Moderne sind. Weltanschauliches Erzählen vom Ganzen und das fragmentarische Erzählen der ästhetischen Moderne können vor diesem Hintergrund als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden, sind beide gleichermaßen Ausdruck der epistemologischen Umbrüche der Moderne. Während nun das weltanschauliche Erzählen vom Ganzen eine Geschichte des Scheiterns und des Endes ist, ist es zugleich – das zeigen nicht zuletzt die im Rahmen dieser Arbeit angerissenen Beispiele literarischer Reflexion weltanschaulichen Erzählens – unmittelbar mit dem Aufbruch in die ästhetische Moderne und der Entwicklung neuer Formen des Erzählens verbunden.

1684 Ebd., S. 762/763.

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Personenregister

Ahlborn, Knud 208 Alberti, Conrad 316 Äschylos 264 Assisi, Franz von 236 Avenarius, Ferdinand 208 Bach, Johann Sebastian 107f. Bachofen, Johann Jacob 51 Barlepsch-Valendas, Hans Eduard von 93 Barrande, Joachim 34 Bartels, Adolf 71f., 74, 107f., 123, 221, 244, 261, 264, 369 Bayer, Maximilian 123, 135, 137f., 176, 179, 212, 214f., 219–221, 285, 287–289, 294f. Beard, George 307 Beeker, Käthe van 123, 169–171, 173f., 291 Beethoven, Ludwig van 108 Behschnitt, Wolfgang 129f., 133f. Benkard, Christian 111, 123, 133, 135, 139f., 142, 145–151, 155f., 164f., 167, 180f., 187, 287, 306 Benninghoff-Lühl, Sibylle 112, 114, 123, 159, 182f., 185 Bernard, Claude 324 Bismarck, Otto von 108, 119, 141, 281, 305 Bodelschwingh, Friedrich von 33 Bollenbeck, Georg 45, 47–52, 56–58, 60, 113, 118–120, 136 Bölsche, Wilhelm 89, 101, 123, 222, 225, 242, 245–249, 253f., 257, 272–275, 295– 297, 303, 312, 317, 319–323, 326, 328, 355

Bonaparte, Napoleon 74 Brandeis, Antonie von 212 Bülow, Frieda von 115, 117, 123, 134, 136, 150f., 154f., 158f., 161, 164, 169, 182, 185, 212, 306 Burckhardt, Jacob 51 Busse, Dietrich 18f., 124f. Cabet, Ptienne 85 Christus, Jesus / Jesu Christi / Christus 23, 241f., 257, 329, 331, 358 Columbus, Christoph 25 Conrad, Joseph 345 Conze, Werner 136 da Gama, Vasco 25 Dante 264 Darwin, Charles 82, 136, 194, 196, 241, 243, 324 Dehmel, Richard 57 Diederichs, Eugen 56 Diefenbach, Karl Wilhelm 101 Dose, Johannes 111, 123, 140, 169, 172, 180, 182, 217, 285 Dürer, Albrecht 108 Einstein, Albert 349 Engelhardt, August 10, 53, 356 Ernst, Paul 123, 223, 229–233, 246–248, 261f., 272f., 299, 308f., 311, 319, 373f. Fabri, Friedrich 27, 122, 137, 142, 343f. Fichte, Johann Gottlieb 107f.

406

Personenregister

Fidus – s. Höppener, Hugo Finley, Moses 11, 36, 39–41 Foucault, Michel 18, 115 Fourier, Charles 85 Frenssen, Gustav 69, 111, 115, 123, 127f., 130, 132, 138f., 151, 157, 164, 175–179, 212, 218, 222–224, 237f., 241–245, 267, 270f., 273f., 276, 284f., 288–290, 294, 296, 299f. Freytag, Gustav 149, 163, 204 Fritsch, Theodor 58f., 93–96, 101, 103– 105, 109f., 304

Hesse, Hermann 12, 57, 233, 328f., 332– 334, 336f. Hölderlin, Friedrich 108 Hollaender, Felix 123, 228–232, 244–249, 252f., 256f., 275, 308–310, 316 Holm, Orla – s. Zürn, Dorrit Homer 264 Honold, Alexander 114, 135, 151, 286f. Höppener, Hugo 53, 101, 198, 253 Howard, Ebenezer 93, 95f. Huber, Victor Aim8 10f. Humboldt, Alexander von 251f., 274, 324

Galilei, Galileo 241 Galvani, Luigi 241 Gebhardt, Winfried 97, 104 George, Henry 81 Goethe, Johann Wolfgang von 107f., 329, 364 Gossen, Hermann 81 Göttsche, Dirk 115, 162f., 165, 281–283, 375 Gräser, Gusto 101 Gutzkow, Karl 163

Kampffmeyer, Bernhard 95f. Kampffmeyer, Hans 95 Kant, Immanuel 47, 55, 154 Ketelsen, Uwe-K. 69, 120 Keyserling, Eduard von 123, 222, 225– 227, 245f., 255, 268–270, 280, 282, 295, 299, 314f., 317–320, 326–328 Kopernikus, Nikolaus 241 Koselleck, Reinhart 17, 21, 113 Krabbe, Wolfgang R. 53f., 57, 76, 190, 209, 211 Kraze, Friede H. 123, 126–128, 130, 134f., 139, 150–152, 156, 183, 186, 189, 191, 201, 210, 215f., 219, 291–293, 304, 370

Haase, Lene 111, 123, 153, 201, 285f., 288 Haeckel, Ernst 110, 242, 324, 347, 353– 356, 360 Harnack, Otto 37 Hart, Heinrich 89, 100–102 Hart, Julius 89, 100–102 Hasubek, Peter 162–165, 267, 281, 283, 366 Hauptmann, Carl 123, 232, 234 f. , 247– 249, 253, 255, 277, 280, 308, 313 f. , 316 Hauptmann, Gerhart 12, 328, 330–332 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 49, 121, 136, 255, 372 Helmholtz, Hermann von 241, 324 Hermes, Stefan 115–117, 128 Hertzka, Theodor 12, 58f., 77–85, 87–92, 101, 123, 191–195, 197–201, 339, 342, 344, 369, 371 Herzl, Theodor 92

Lagarde, Paul de 38, 52f., 57–64, 68, 76, 101, 137, 177, 369 Landauer, Gustav 58f., 96–102, 104, 108, 369 Langbehn, Julius 9, 38, 52f., 55–60, 64– 72, 74, 76, 101, 103, 106–108, 244, 297, 369 Lange, Albert 324 Laplace, Pierre-Simon 324 Laßwitz, Kurd 194 Lessing, Gotthold Ephraim 107 Liederer, Christian 338, 345–347, 349 Lienhard, Friedrich 71–75, 103, 108, 123, 244, 261, 263–267, 273, 369, 374 Liliencron, Adda Freifrau von 156, 158 Lilienthal, Gustav 59 Linse, Ulrich 96, 99–101

407

Personenregister

Luhmann, Niklas 18f. Luther, Martin 107f., 243 Mach, Ernst 349 Malthus, Thomas Robert 80 Mann, Thomas 126, 223, 328f., 350f., 353–359, 362, 364–366 Marx, Karl 80 Mayer, Robert 241 Meister, Friedrich 111 Meister Eckhart 97, 100 Mercier, Louis-S8bastien 113 Mill, John Stuart 80f. Millet 37 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de La BrHde et de 205 Müller, Robert 338–349 Nägeli, Carl 34 Neumann, Michael 364–366 Newton, Isaac 241 Nietzsche, Friedrich 51f., 54, 119, 244 Novalis, Friedrich 108 Oppenheimer, Franz 58f., 84–94, 98, 101, 103, 108, 369 Osterhammel, Jürgen 10f., 27f., 140–142 Owen, Robert 85 Paasche, Hans 12, 123, 204–209, 371 Parr, Rolf 13, 117f., 132 Peters, Carl 164 Platon 236 Polenz, Wilhelm von 246, 267–270, 272f. Popert, Hermann 121, 123, 245–248, 253f., 257–259, 273, 296 Proudhon, Pierre-Joseph 85 Pufendorf, Samuel 45 Purom, C. B. 93 Ricardo, David 80 Riehl, Wilhelm Heinrich 172 Rossbacher, Karlheinz 71–74, 132, 174, 243–245, 264f., 269, 271, 294 Rousseau, Jean-Jacques 37f., 45–48, 51, 85f., 104, 119, 357

Saly#mosy, Mikljs 121, 228, 230–232, 234, 260f., 282 Schievelbusch, Wolfgang 129, 152f., 220, 250 Schiller, Friedrich 48, 51, 107 Schmoller, Gustav von 9 Schopenhauer, Arthur 49, 54, 236 Schubert, Dirk 93, 95f. Schwarz, Thomas 338, 340–344, 348 Shakespeare, William 107f. Siebold, C. Th. 34 Simmel, Georg 168 Smith, Adam 26, 80 Speckmann, Diedrich 12 Spengler, Oswald 356 Spinoza, Baruch de 236 Steffen, Jonk – s. Bayer, Maximilian Stöckmann, Ingo 125, 169–172, 174–176, 246, 274, 320 Strauß, Emil 10, 12, 233 Straus, Erwin 152 Struck, Wolfgang 13, 115, 117, 132, 137, 169, 174, 185 Thom8, Horst 54f., 99, 103, 110, 121f., 221, 225, 230, 246, 251, 263, 272, 274f., 319, 328, 366, 371, 373f. Thompson, William 85 Tolstoi, Leo 364 Tönnies, Ferdinand 169, 171f., 210, 222 Tyndall, John 324 Vogelweide, Walther von der

107

Wachler, Ernst 124, 261, 264f. Wagner, Richard 54, 102 Warmbold, Joachim 12, 111, 114, 127, 131, 134f., 150, 157 Weck, Johannes Carl 188 Wenden, Henry 111, 123, 127, 159f., 165f., 213 Westphal, Otto 119 Wille, Bruno 89 Zola, Pmile

126, 316

408 Zürn, Dorrit 123, 128, 134, 139, 150, 153f., 156, 164, 167f., 173, 175f., 178,

Personenregister

182–185, 211–214, 219, 288, 291–294, 306

Sachregister

Absonderung 14, 83f., 91, 94, 97–100, 110, 124, 246, 252, 254, 283, 285, 290, 292, 308, 319f., 337, 360, 372 Agrarsektor – s. Landwirtschaft Alldeutscher Verband 73 Alterität 67, 131f., 154, 156, 339 Altneuland 92 Anarchismus 77, 96–101, 281 Anarchistische Föderation Deutschlands 99 Anarchistische Gedanken über den Anarchismus 59, 98f. Ansichten der Natur 251, 274 Antisemitismus 53, 60, 93–96, 107, 203 Apostel 10, 99, 199, 275, 298, 322, 329– 334, 336, 338, 358 Ascona 9, 37, 59 Aufklärung 45, 47f., 51, 55, 113, 250, 253, 259, 345, 357, 365 Aufstand 111, 116, 139, 161, 176, 182, 184, 187, 189, 214, 217, 288, 295 Auf zwei Planeten 194 Auswanderung 10, 26f., 32f., 36, 122, 137, 142, 165, 182, 300f. Autarkie 110, 182f., 202, 294 Avantgarde 68, 82, 97, 99–101, 104f., 142, 156, 161, 200, 210f., 217, 221, 253, 283, 296, 316, 338, 371 Bedarf Deutschland der Colonien? 122, 137, 142, 344 Begriffsgeschichte 10, 17–22

27,

Bildungsroman 121, 222, 230, 232f., 272, 282, 308, 319, 365–367 Bund 59, 95, 97, 99f., 110, 156, 158, 212, 329 Burg Hanstein 208 Colere 24 Colonat – s. Kolonat Colonia 23–25, 40 Cultura 40 Dekolonisation 22, 27, 29 Der Apostel 12, 329–332 Der Büttnerbauer 246, 267–273 Der schmale Weg zum Glück 123, 223, 229–234, 247f., 272f., 299, 308f., 319, 373 Der Weg des Thomas Truck 123, 228–230, 232, 244f., 247–253, 256f., 275f., 308, 310, 316 Der Weg zur Form 123, 261f., 373f. Der Weltverbesserer 12, 332, 334–338 Der Zauberberg 328, 350–367 Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft 56, 59, 93, 95f., 101 Deutsche Kolonialgesellschaft 156, 158, 212 Deutsche Schriften 52f., 58f., 60–63, 137 Die dritte Stiege 123, 225–228, 245f., 255, 268–270, 280–282, 295, 299, 314–320, 327

410

Sachregister

Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland 12, 123, 204–209 Die Läuterung deutscher Dichtkunst im Volksgeiste 124, 264f. Die Mittagsgöttin 123, 225, 245–249, 253f., 257, 272–275, 295–299, 303, 312f., 317, 319–326, 355 Die neue Gemeinde 93–95, 103–105, 109f. Die Stadt der Zukunft 58f., 93–95, 103–105, 109f. Die Vorherrschaft Berlins 71–76 Die Welträtsel 353–356 Diskursfigur, Begriff 124f. Doktor Knölges Ende 332–334 Dualismus 353–355 Durch Absonderung zur Gemeinschaft 58f., 96–102, 104, 108 edler Wilder 133 Eigenes/Fremdes 66f., 115, 131–134, 160f., 206, 371 Ein alter Afrikaner 111, 123, 140, 169, 172, 180–182, 217, 285 Einhart, der Lächler 123, 232, 234–237, 247–249, 253, 255, 277–280, 308, 313f., 316 Eisenbahn 129, 141, 152f., 160, 184, 219–221, 250, 330, 332, 371 Emile ou de l’8ducation 119 Entschleunigung 202, 219f. Entwicklungsroman 121, 165, 231f., 282, 317 erkenntnistheoretisch 280, 346, 353 Erlösung, Begriff 54f. Erster Freideutscher Jugendtag 208 Erster Weltkrieg 32, 36, 51, 141, 159, 176–178, 324, 342, 358f., 365–367 Erweckung 232, 259 Evolution 43, 82, 89, 96, 100–102, 137f., 193f., 196, 241, 243 Exotismus 117, 130–133, 290, 339–342, 345–348 Expressionismus 116, 119, 330, 339 Fontainebleau

37

Fragmentierung 51, 61, 110, 263, 376 Frauenbewegung 172 Frauenfrage 156–158 Freihandel 71, 140, 146f. Freiland-Bewegung 100, 338f. Freiland. Ein sociales Zukunftsbild 12, 58f., 77–84, 123, 191–201 Freiland in Deutschland 58f., 84–94, 101, 103, 108 ganzer Mensch 180, 232, 238, 243–245, 253, 271, 289, 293, 374, 376 Ganzheitlichkeit – s. Totalität Gemeinschaft – s. Vergemeinschaftung Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie 169, 210 Genossenschaft 10, 78, 83–92, 182, 288 Genozid 116, 118, 139, 156, 218f., 221, 371 Georgekreis 119 Gesamtkunstwerk 102 Gesellschaft – s. Vergesellschaftung Globalisierung 140–142, 148, 153, 204, 271 Glück 46, 118, 229–245, 283, 309–311, 318–320, 322f., 325–328, 335, 357, 371 Große Depression 141 Gründerkrise 141 Heart of Darkness 345 Hebung 26, 32, 41, 64, 69, 95, 98, 116, 155f., 161, 210, 307 Heddas Lehrzeit in Südwest 123, 169–174, 183, 291 Heidjers Heimkehr 12 Heimatkunst 12f., 58f., 71–76, 103, 107– 109, 117, 119f., 122f., 132, 174, 221f., 225, 237, 243–245, 248, 253, 261–267, 269, 271, 277f., 281, 289, 293f., 296f., 299, 301, 304, 374 Heimatkunst. Ein Wort zur Verständigung 72, 261 Heim Neuland 123, 126, 128, 130, 134f., 139, 150–152, 156, 183–191, 210, 215– 217, 219, 291–293, 304

Sachregister

Helmut Harringa 121, 123, 245–248, 253f., 257–260, 273, 296 Herero 115–118, 138f., 156, 161, 176– 178, 182, 184f., 187, 189, 217f., 288, 295 Hilligenlei 123, 232, 237–243, 271, 273f., 296, 300 Höhenmetaphorik 248, 264f., 316, 331, 360f. Hoher Meißner 208 Hugenotten 25, 30 Hung Li Tscheng oder Der Drache am Gelben Meer 111 Idealismus 51, 54f., 65, 347 Ideen von 1914 176f. Ignorabimus 349 Im Lande der Verheißung 123, 134, 136, 151, 158, 161, 164, 306 Im Orlog 123, 135, 137f., 176, 179, 212, 214f., 219–221, 285, 287–289, 294f. Imperialismus 10, 22, 28, 30, 40, 62, 64, 66, 69f., 72f., 126, 136, 139, 141, 205, 210, 340 Industrialisierung 53, 62f., 76, 87, 94, 102, 120, 129, 140, 152, 162, 193, 196, 208, 270, 281, 357, 375 In ferner Inselwelt 111, 123, 133, 139f., 142–149, 151 Innere Reichsgründung 51, 62, 177–179 Jörn Uhl 123, 222–225, 232, 243–245, 255, 267, 270f., 276f., 294, 300–303 Jugendbewegung 100, 209, 258 Julie ou la Nouvelle H8lo"se 119 Jungfräulichkeit 95, 134, 136, 150f., 241 Kampf ums Dasein 88, 136–139, 187, 194f., 197, 217f., 316 Kapitalismus 52, 77–92, 140–142, 149, 165, 181f., 185, 193, 197, 201–204, 222, 268f., 281f., 309, 342, 357 Katharsis 179, 214–218, 293, 305, 371 Kleinbauerntum 168, 174, 180–186, 186, 208, 270, 370 Kleinhandwerk 60, 208 Kolonat 23f., 40

411 koloniale Moderne 112, 117, 126, 167, 290, 304f. Kolonialkrieg 111, 115–117, 127, 138, 175–179, 214f., 217f., 289, 371 Kolonialtauglichkeit 173–175, 213, 219, 283, 293, 301 Kolonieformen – Ackerbaukolonie 27, 31, 33f., 79 – Arbeiterkolonie 33, 36, 39, 41 – Armenkolonie 31–33, 36, 41 – Bakterienkolonie 31, 41 – Bienenkolonie 11, 35, 41 – Bürgerkolonie – s. Coloniae civium Romanorum – Coloniae civium Romanorum 23 – Coloniae Latinae 23f. – Dichterkolonie 9, 12, 37, 58, 100–102 – Gartenstadtkolonie 39, 59, 93–96, 105, 109 – Heimatkolonie 34 – Hippie-Kolonie 39 – Künstlerkolonie 9, 12, 37–39, 42, 76, 100–102, 329 – Lateinische Kolonie – s. Coloniae Latinae – Lebensreformkolonie 9, 12, 37f., 76, 97, 101 – Vegetarier-Kolonie 333 – Villenkolonie 39, 94, 105, 304 – Zwangsarbeiterkolonie 34 Koloniegründungen 23, 26, 32, 35, 37–39, 58f., 91, 99, 102 – Christiania 39 – Deutsche Künstlerkolonie Rom 37 – Französische Kolonie 25, 30 – Frederiksoord 32 – Freie Scholle 59 – Friedrichshagener Dichterkolonie 9, 37, 59, 89, 95, 100–102 – Gartenstadtkolonie Hellerau 39, 59, 96 – Heimland 59, 96 – Mathildenhöhe 9, 37–39, 102 – Monte Verit/ 9, 37, 59, 97f., 101, 329, 332 – Mulang 39

412 – Neue Gemeinschaft 59, 95, 98, 100– 102 – Siedlungsgenossenschaft Freiland 92 – Vegetarische Obstbaukolonie Eden 9, 37, 39, 59, 84, 92, 101, 188 – Wilhelmina-Oord 36 – Wilhelmsdorf 33 – Wilhelmsoord 36 – Worpswede 9, 37–39 Kolonisation, Formen – Binnenkolonialismus 9f., 12, 28, 35– 39, 41f., 66–68, 96, 98f., 101, 298 – Geistige Kolonisation 64, 66, 68–71, 74, 260, 275, 299 – Grenzkolonialismus 12, 27f., 35, 62– 64, 66, 76, 101, 137, 177, 294–297 Kommunismus 80f., 83, 340, 342, 357 Konjunkturzyklus 141, 144f., 149, 188, 203 Kontingenz 52, 219, 221, 261, 280 Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung 251f., 274 Kreuzungen 12 Kulturkritik, Konzeptualisierung 45–50 Kulturoptimismus 56–58, 61, 64, 70, 76, 101, 118f., 304, 306 Kulturpessimismus 52f., 56–58, 60–62, 64, 106, 329, 356 Kulturvolk 86, 138, 155, 215, 306f. L’an 2440, rÞve s’il en fut jamais 113 Landwirtschaft 24, 28, 32, 38, 40, 62, 86f., 89, 91–93, 180, 183, 185, 188, 196, 201, 206, 226, 239, 301, 370 Lebensbegriff 52, 208, 280, 319, 327 Lebensreform, Bewegungen – Abstinenz-Bewegung – s. Antialkoholbewegung – Antialkoholbewegung 56, 188, 190, 199, 254, 258–260, 296, 329 – Anti-Tabak-Bewegung 205, 207f. – Bodenreform 36, 81, 88, 93–95, 195 – Gartenstadtbewegung 93–96, 197, 369 – Gesellschaftsreform durch Selbstreform 76, 91, 109, 186, 209, 254, 257, 259f., 292, 337, 341

Sachregister

– Kleidungsreform 56, 199, 207f., 352 – Nudismus-Bewegung 11, 198, 207 – Temperenzler – s. Antialkoholbewegung – Vegetarismus 10, 53, 188, 205, 207, 257, 332f., 337 Lichtmetaphorik 197, 208, 253, 258, 316, 331 Materialismus 51, 311, 347f., 365 Missionarismus 53, 97, 164, 288, 293, 303 Modell des ›ganzen Hauses‹ 172f., 222, 233, 293, 350, 352 Monismus 236, 242, 247, 249, 257, 288, 293, 311, 316, 323, 331, 347, 353–355 Monistenbund 110 Nama 115–117, 161, 176, 189, 218 Narrativ – Erlösungsnarrativ 223, 256 – Narrativ, Begriff 125 – Verlustnarrativ 171f., 182f., 255f., 283, 322 Nationaldarwinismus 125, 136–140, 142, 166, 370 Nationalökonomie 26, 77f., 80, 84, 149, 297, 323 Nationalstaat 66, 128, 141 Naturalismus 69, 111, 119f., 125, 170– 172, 175f., 183, 222, 225, 227, 231, 234, 246, 255, 261f., 263, 266f., 273, 281, 316 Naturvolk 89, 116, 155, 215, 306 Naturzustand 104, 304f. Nervosität 72, 158–160, 173–175, 190, 213–217, 219f., 305–307, 330, 340, 343 Netzwerk 141, 147–149, 151, 153, 181, 184, 254, 370 Neue Ideale 71–73, 123, 263, 266, 273 Neurasthenie – s. Nervosität Neuromantik 119 Okkultismus 333, 354f., 358 Ovita 123, 134, 139, 154, 175, 214, 306

413

Sachregister

Panorama 152, 183, 231, 248–252, 261, 264–267, 269f., 286f., 291, 293, 312f., 361f., 372 Paradies 53, 86, 102, 130, 150f., 174, 186f., 192, 196, 209f., 221, 228f., 231, 245, 255f., 258, 283, 289, 292, 299, 325, 331, 336f., 343, 356–358, 362, 371 Peripherie 104, 128, 148, 151, 211f., 220, 290, 304f., 343 Persönlichkeit 10, 65, 72, 106–108, 110, 174–176, 121, 217, 232, 235f., 244, 252f., 258, 262–267, 271, 278, 283, 311 Peter Moors Fahrt nach Südwest 111, 123, 127f., 130, 138f., 151, 157, 164, 175–179, 211f., 218, 284f., 288–290 Pioniere (Orla Holm) 123, 128, 150, 153, 156, 164, 167f. 173, 176, 178, 182–185, 211–215, 219, 288, 291–294 Pioniere – s. Avantgarde Poetologie 124, 245, 260f., 293, 344, 347, 372 Postcolonial Studies 12, 29, 112, 114–117, 123, 125, 127, 132, 134, 149–151, 154, 204, 284, 286f., 370f. Protektionismus 141, 146 Psychoanalyse 352, 358 Raggys Fahrt nach Südwest 111, 123, 153, 201–204, 285f., 288 Rasse 67, 93, 95, 116, 136f., 139, 156–158, 171, 177, 194, 212, 215, 288, 305f., 340, 345f. Raumsemantik 128–136 Realismus 12, 163, 165, 270, 282 Regeneration 53, 58, 60, 63f., 77, 79, 82, 101, 106, 112, 125, 150, 167, 180, 185, 197, 209, 222, 307, 370 Religion 53–55, 89, 119, 165, 211f., 232, 237–243, 263, 279, 285–289, 311, 322, 324, 331, 349, 373 Rembrandt als Erzieher 9, 53, 55–59, 64–71, 103, 106, 108 Säkularisierung

52–54, 66, 289

Schicksal 175, 215, 219, 224, 227, 231, 236, 243f., 262, 268, 285, 305, 315, 318, 320, 363 Scholle 75, 97, 167, 229, 265 Schöpfung 84, 87, 212, 241, 243, 263, 285 Schutzzollpolitik – s. Protektionismus Siedlungsgemeinschaft 10, 40, 188 Soll und Haben 149, 163, 204 Sozialdarwinismus 88, 116, 136, 154, 156, 160, 193–195, 217f., 306 Sozialdemokratie 121, 246, 268, 280f., 315 soziale Frage 73f., 76, 79, 87, 94, 127, 183, 190, 196, 199, 274, 281 sozialer Roman 121, 170–172, 231, 272, 319 Sozialismus 80, 82f., 85, 97, 99f., 233, 275, 280f., 297f., 311, 318, 323 Sozialistischer Bund 59, 99f. Soziologie 10, 19, 51, 85, 169–171, 176, 210, 225, 244, 261, 264f., 279 Spiritismus 121, 253f., 272, 274f., 295f., 298, 313, 320, 322–326, 347, 352, 354f., 359 Sprachskepsis 225, 317, 327 Sündenfall 53, 66, 76, 79, 86, 102f., 187, 197, 209, 228f., 255f., 292, 336, 356–358, 369f., 372 totales Lebensmodell 72, 74f., 293f. Totalität 51, 61, 65, 71f., 103, 106f., 110, 222, 231f., 255, 261, 267–271, 273, 284f., 287, 293f., 312f., 336, 349, 372–376 transzendente Obdachlosigkeit 231, 233, 239f., 245, 274, 280, 289, 298, 308, 318, 325, 350 Tropen. Der Mythos einer Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Herausgegeben von Robert Müller Anno 1915 338–349 Tropenkoller 111, 127f., 150, 158f., 161, 211, 213, 215–218, 221, 305, 346f., 371 Tropenkoller (Frieda von Bülow) 117, 123, 136, 154f., 159, 169, 185, 212, 306 Tropenkoller (Henry Wenden) 111, 123, 127, 160, 165f., 213

414 Überfahrt 127f., 131, 151, 286f., 290–292 Überseeroman – Handelsroman 142, 147f., 180, 182, 187 – Jugendroman 114, 123, 140 – Kriegsroman 116, 128, 139, 177, 179, 214, 218, 288 – Siedlungsroman 112, 114, 169, 172, 182f., 201f., 291 – Überseeroman, Begriff 111–113 Unter deutschen Palmen 123, 135, 142, 145–148, 150f., 155f., 164f., 287, 306 Utopie 12, 60, 77–80, 83, 89, 97,106, 112f., 116f., 167, 191–201, 206, 209, 221, 223, 250, 258, 283, 292, 295, 299, 301, 304, 339, 342, 344–346, 371 Verein 10, 28, 84, 95, 100f., 110, 203 Vergemeinschaftung 100, 169–179, 210, 219, 222, 292, 300f., 351f., 360, 370 Vergesellschaftung 169–172, 210, 222, 321, 352 Verkafferung 150, 157f., 160f., 211–213, 215, 218, 221, 371 Vitalismus 352 völkische Bewegung 60, 64, 71, 93–96, 258, 267 Volk ohne Raum 28, 127, 135 Volkswirtschaft 26, 38, 144–146, 180, 182–184, 207, 370 Vom Gesellschaftsvertrag 119, 357 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 136 Vor Sonnenaufgang 12, 328f. Wanderer 75, 206–208, 246f., 251, 253, 265, 316

Sachregister

Wandervogel 209, 316 Wasgaufahrten 74f., 123, 265f. Weltanschauung – weltanschaulicher Klärungsprozess 72, 76, 122, 223, 226, 231–248, 252f., 256, 258, 273f., 276f., 282–284, 286f., 289, 293f., 298, 308, 310–314, 317–320, 323, 326, 328, 330f., 336, 345, 350, 352, 358f., 361–363, 366 – weltanschaulich-panoramatisches Erzählen 261, 265, 267, 293, 372 – Weltanschauung, Begriff 54f. – Weltanschauungsblick 237, 249, 264, 286 – Weltanschauungsessayistik 120 – Weltanschauungsliteratur 55, 99, 110, 120–122, 221, 251, 274f., 312, 371, 373f. – Weltanschauungsroman, Bestimmung 280–283 Wettlauf um Afrika 140, 161 White man’s burden 69, 116, 155, 306 Wille 173–176, 180, 189f., 214, 216f., 283, 306 Wirkabsicht 77, 84, 120, 209, 242, 247, 253, 256, 260, 262, 296, 331, 347, 373f. Wirtschaftsliberalismus 83, 185, 204 Zeitroman 114, 121, 161–167, 232f., 245, 258, 267, 274, 280–283, 365–367, 371f., 375f. Zionismus 92, 100 Zivilisation 52, 66, 85, 153f., 156, 159f., 171f., 196, 202, 205, 216, 258, 285, 291f., 306f., 329f., 342, 345 Zivilisierungsmission 43, 69, 116, 138, 155f., 161, 166, 210, 306