Inszenierungen eines Affekts: Scham und ihre Konstruktion in der Literatur der Moderne 9783737001359, 9783847101352, 9783847001355

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Inszenierungen eines Affekts: Scham und ihre Konstruktion in der Literatur der Moderne
 9783737001359, 9783847101352, 9783847001355

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Zäsuren. Neue Perspektiven der Literaturund Kulturwissenschaft

Band 5

Herausgegeben von Claudia Öhlschläger

Michael Heidgen

Inszenierungen eines Affekts Scham und ihre Konstruktion in der Literatur der Moderne

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0135-2 ISBN 978-3-8470-0135-5 (E-Book) Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

… die endlosen Wälder der Scham … Wilhelm Genazino: Die Flucht in die Ohnmacht

Inhalt

Einleitung: Zur Relevanz des Scham-Affekts . . . . . . . . . . . . . . . . I. Phänomenologie des Scham-Affekts . . . . . . . . . . . . . . 1.0 Die innere Perspektive: Scham als existenzielles Erlebnis 2.0 Bedingungs- und Strukturanalyse . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Schamzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Schamanlassquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zeitlicher Verlauf und körperlicher Ausdruck . . . . . 3.0 Die ›Familie der Schamgefühle‹ . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne . . . . . . . . . . 1.0 Literaturanalyse: Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater [1810] – Makel als Merkmal des Menschlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.0 Die Idee des Zivilisationsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Internalisierung und Disziplinierung . . . . . . . . . . . . . 2.2 Informalisierung und Individualisierung . . . . . . . . . . 3.0 Zwei anthropologische Herleitungen der Scham . . . . . . . . . 3.1 Genital- und Nacktscham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Selbstverhältnis und Seinsgewissheit . . . . . . . . . . . . . 4.0 Literaturanalyse: Franz Kafkas Brief an den Vater [1919] und Der Proceß [1915] – Scham, Schuld und das Unbehagen in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.0 Die existenzielle Dimension von Blick und Sichtbarkeit . . . . 5.1 Im Blick des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Sichtbarkeit des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.0 Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925] – Domestikation zur Bürgerlichkeit . . .

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Schluss: ›Ein Angebot des Beistands‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft . . . . . . . . . . 1.0 Literaturanalyse: Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz [1870] – Zur Inszenierung von Norm und Störung am Beispiel des Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.0 Inszenierung und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Maske und Gesicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Ver- und Enthüllen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.0 Die sozialen Funktionen der Scham . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Schutz des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Schutz der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Leistung und Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.0 Scham und Beschämung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Image, Status und Prestige: ›An-Sehen‹ . . . . . . . . . . . 4.2 Akte der Beschämung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Exkurs I: die ›obszöne Gesellschaft‹ . . . . . . . . . . . . . 4.4 Kynischer Trick/Schamlosigkeit als Widerstand . . . . . . . 4.5 Exkurs II: ›Utopia Liebe‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.0 Literaturanalyse: Elfriede Jelineks Lust [1989] – Zur Inszenierung der Norm zwischen Kritik und Lust . . . . . . . . IV. Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino . . . . . . . . . . . . 1.0 Sprachstrategien und Motivik . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Wahrnehmen und Ordnen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Alltag, Dinge und das Motiv des Rettens . . . . . . . . . . 1.3 Sprache und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.0 Scham und Individuation: zur Genealogie eines Typus . . . . 2.1 Die Liebe zur Einfalt [1990] . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman [2003] . . . . . . . 2.3 Ein Regenschirm für diesen Tag [2001] und Die Kassiererinnen [1998] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Liebesblödigkeit [2005] . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zwischen Schmerz und Nachsicht: verschiedene Momente der Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.0 Scheitern und Einfühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 ›Lob des Scheiterns‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Übungsaufgaben der Einfühlung . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Zur Relevanz des Scham-Affekts

Kafka und das ›drosselnde‹ Leiden an der Scham Franz Kafka, der – im wörtlichen Sinne – ›Seismograf‹ menschlichen Leidens, beschreibt in seiner am frühesten erhaltenen Prosaskizze die Erschütterungen, die die Scham dem empfindenden Subjekt zufügt. Eingebettet in einen Brief vom 20. Dezember 1902 an Oskar Pollak entfaltet Die Geschichte vom schamhaften Langen und vom Unredlichen in seinem Herzen1 in prototypischer Kafka-Manier, wie das reflexive Gefühl der Scham das Individuum zu peinigender Selbstbefragung nötigt und in sozialer Hinsicht herabsetzt. Dabei werden von Kafka beispielhaft verschiedene Elemente der Scham vorgeführt. Die Einteilung des Personals in den ›schamhaften Langen‹ und den ›Unredlichen in seinem Herzen‹ entspricht Kafkas wiederkehrendem Verfahren, psychische Strukturen surrealistisch zu externalisieren und als Personengeflecht zu veranschaulichen.2 Die Selbst-Objektivierung in der Ich-Spaltung ist grundlegend für die Emotion der Scham. Die Übernahme eines ›fremden‹ Blicks auf das eigene Ich zerrüttet bisherige Selbstgewissheiten und stiftet ein nunmehr schmerzliches Bewusstsein von der eigenen Identität. Kurz bevor der ›Unredliche in seinem Herzen‹ auftritt, heißt es in Kafkas kleiner Erzählung:

1 Vgl. Kafka, Franz: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Gerhard Neumann u. a. Briefe 1900 – 1912. Hrsg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1999. Brief vom 20. Dezember 1902. Lizenzausgabe mit Genehmigung von: New York: Schocken Books 1999. S. 17 – 19. Zur Einordnung der Erzählung in die Werkphasen Kafka vgl. Engel, Manfred: Drei Werkphasen. In: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Manfred Engel und Bernd Auerochs. Stuttgart, Weimar : Verlag J. B. Metzler 2010. S. 81 – 90. S. 81. 2 Zum Aspekt der Figurenspaltung in Die Geschichte vom schamhaften Lange und vom Unredlichen in seinem Herzen vgl. Kurz, Gerhard: Schnörkel und Schleier und Warzen. Die Briefe Kafkas an Oskar Pollak und seine literarischen Anfänge. In: Der junge Kafka. Hrsg. v. dems. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1984. Reihe: suhrkamp taschenbuch 2035. S. 68 – 101. S. 89.

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Vor Weihnachten einmal saß der Lange geduckt beim Fenster. In der Stube hatten seine Beine keinen Platz; so hatte er sie bequem aus dem Fenster gestreckt, dort baumelten sie vergnüglich. Mit seinen ungeschickten mageren Spinnenfingern strickte er wollene Strümpfe für die Bauern. Die grauen Augen hatte er fast auf die Stricknadeln gespießt, denn es war schon dunkel.3

Diese für Kafka-Verhältnisse fast schon idyllisch zu nennende Ausgangslage wird gestört durch das Eintreten des ›Unredlichen‹ und der damit provozierten Scham: Jemand klopfte fein an die Plankentür. Das war der Unredliche in seinem Herzen. Der Lange riß das Maul auf. Der Gast lächelte. Und schon begann sich der Lange zu schämen. Seiner Länge schämte er sich und seiner wollenen Strümpfe und seiner Stube. – Aber bei alledem wurde er nicht rot, sondern blieb zitronengelb wie zuvor. Und mit Schwierigkeit und Scham setzte er seine Knochenbeine in Gang und streckte schämig dem Gast die Hand entgegen. Die langte durch die ganze Stube. Dann stotterte er etwas Freundliches in die wollenen Strümpfe hinein.4

Die Koordinaten seiner sozialen Identität – Länge, Arbeit, Wohnung – sind nun Quellen der Scham und drängen den Langen gegenüber seinem Gast in die Defensive. Radikalisiert wird dies durch das fehlende Erröten, kommt diesem doch in der akuten Scham eine Signalfunktion zu, die das Unangenehme der Situation sichtbar nach außen kommuniziert. Das Leidvolle dieses schambehafteten Aufeinandertreffens bleibt bestehen und steigert sich in surrealistischen Bildern; Worte, herausgeputzt als »feine Herren mit Lackschuhen und englischen Halsbinden und glänzenden Knöpfen«5, und das Stechen mit einem Spazierstock fügen dem schamhaften Langen fortwährend Schmerzen zu. Im Vergleich zur Ausgangslage stehen am Ende des Besuchs eine Minderung der Lebensqualität und eine Zerrüttung bisheriger (Selbst-)Gewissheiten. Der Lange war wieder allein. Er weinte. Mit den Strümpfen wischte er sich die großen Tränen ab. Sein Herz schmerzte ihn und er konnte es niemandem sagen. Aber kranke Fragen krochen ihm von den Beinen zur Seele hinauf. Warum ist er zu mir gekommen? Weil ich lang bin? Nein, weil ich …? Weine ich aus Mitleid mit mir oder mit ihm? Hab ich ihn am Ende lieb oder haß ich ihn? Schickt ihn mein Gott oder mein Teufel? So drosselten den schamhaften Langen die Fragezeichen. Wieder nahm er die Strümpfe vor. Fast bohrte er sich die Stricknadeln in die Augen. Denn es war noch dunkler.6 3 Kafka, F.: Brief vom 20. Dezember 1902. S. 18. 4 Ebd. 5 Ebd. Zur sexuellen Konnotation dieser Szene vgl. Kurz, G.: Schnörkel und Schleier und Warzen. S. 90. 6 Kafka, F.: Brief vom 20. Dezember 1902. S. 19.

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Neben den für Schamsituationen so charakteristischen Merkmalen – peinigende Selbstbefragung, soziale Degradierung, Irritation des bisherigen Selbstverständnisses – markiert Kafka in seiner kleinen Prosaskizze vor allem das ›drosselnde‹ Element der Scham. Zum einen drückt diese Vokabel die Hemmungen aus, die mit Schamsituationen einhergehen, vor allem ist es aber zum anderen auch Ausdruck der schmerzlichen, zuschnürenden Seite dieser Emotion. Die Scham führt nicht nur zu einer kritischen Befragung des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses, sondern stößt das Subjekt auch tiefer in Passivität, soziale Einsamkeit und Leiden. Die Struktur der Scham Widmet man sich der innerpsychischen Dimension der Scham, dann bleibt vor allem festzuhalten: sich zu schämen ist nicht angenehm. Sich zu schämen heißt, sich selbst unter dem Gesichtspunkt einer offenkundig gewordenen Verfehlung in strengen Augenschein zu nehmen. Gleichsam Subjekt wie Objekt seiend, wird mit der Aufmerksamkeitsfokussierung eine Feststellung getroffen, die wertend das eigene Selbstbild nach unten hin korrigiert. Das Leiden am Makel potenziert sich im Maße seiner Sichtbarkeit. »Scham […], Schamgefühl, Sich-schämen, eine Reaktionsform zum Erleben des Bloßgestelltseins, des Schuldigseins, des Versagthabens, des Prestigeverlustes u. ä. – oft einhergehend mit vegetativen Sensationen (Erröten, Herzklopfen).«7 Das Schamgefühl ist genuin eine Emotion, die auf Selbstreflexion fußt. Doch unterläuft sie die Steuerungshoheit einer willentlichen, allzeit souverän geleiteten intellektuellen Reflexion und zieht ihre Kraft gerade aus dem opaken Feld von Affekt und Emotion.8 In ihrem Vollzug entgleitet zugleich der 7 Scham. In: Dorsch Psychologisches Wörterbuch. Hrsg. v. Hartmut O. Häcker und Kurt-H. Stapf. 15. überarbeitete und erweiterte Auflage. Bern: Verlag Hans Huber 2009. S. 873. 8 »Anders als im Alltagssprachgebrauch«, so Hilge Landweer in der Enzyklopädie Philosophie, »wird in der Geschichte der Philosophie der Begriff ›Affekt‹ (A.) – von lat. afficere: in einen Zustand versetzen, beeinflussen; griech. pathos, lat. passio: Leidenschaft – durchaus nicht immer nur vorübergehenden heftigen Gefühlserregungen vorbehalten, sondern auch allgemeiner für Gefühle überhaupt verwendet.« (Landweer, Hilge: Affekt/Affektenlehre. In: Enzyklopädie Philosophie. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Bd. 1, A-N. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1999. S. 29 – 34. S. 29) In ihrer Philosophie der Gefühle halten Landweer und Christoph Demmerling bezüglich der Begrifflichkeit weiterhin fest: »Den Ausdruck ›Gefühl‹ verwenden wir in diesem Buch in zwei Bedeutungen. Zum einen beziehen wir uns mit diesem Begriff auf die gesamte Klasse der affektiven Phänomene: auf Empfindungen, auf Stimmungen, auf Emotionen. Zum anderen gebrauchen wir den Begriff des Gefühls auch in einem engeren Sinne und beziehen uns auf diejenigen Phänomene, die in der philosophischen und wissenschaftlichen Diskussion häufig auch mit dem Ausdruck ›Emotion‹ bezeichnet werden. Gefühle in diesem engeren Sinne haben Objekte und sind in spezifischer Weise auf die Welt bezogen, wie beispielsweise Scham, Neid und Trauer.« (Demmerling, Christoph und Landweer, Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart: J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag 2007. S. 5) Der Begriff des ›Gefühls‹

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Körper in seiner Funktion als gelenktes Mittel der Selbstdarstellung – Erröten, Herzklopfen oder auch das Senken des Blickes sind unmittelbare Signale, die die menschliche Ausdrucksautonomie aushebeln. Darüber hinaus hemmt Scham bestehende Rede- und Handlungsimpulse. In ihrer sozialen Ausrichtung ist die Emotion Scham intentional bezogen 1) auf etwas, das geachtet oder respektiert werden soll (z. B. Gottheit, Autorität, Sitte, Forderungen der Humanität, Anstand usw.), 2) auf eine beurteilende Instanz (den Mitmenschen, die Gesellschaft, eine anerkannte Autorität, auch das eigene Ich bzw. Über-Ich), 3) auf das redende oder handelnde Subjekt, dem bei Verletzung der genannten Werte Bloßstellung, Blamage oder Schande droht oder zuteil wird.9

Als affektiv-emotionaler Konnex ist Scham per se ausgerichtet auf die soziale Verknüpfung von Individuum und Gemeinschaft; sie gleicht konkretes Verhalten mit rahmengebenden Erwartungshaltungen ab. Mehr noch als die Scham selbst ist es die Furcht vor ihr, die menschliches Handeln und Unterlassen flankiert. Der Wunsch, nicht in Situationen zu gelangen, die Scham und Missgunst provozieren, umreißt als hintergründiges Leitmotiv denjenigen Bereich, in dem sich das Subjekt seinem Selbstverständnis nach in Freiheit und Verantwortung als handelndes Individuum konstituiert. Michel Foucault operiert hinsichtlich dieser Melange aus Selbst- und Fremdorganisation in seinen Untersuchungen von Subjekt-Macht-Beziehungen mit dem Begriff der ›Führung‹. So heißt es bei ihm in einem seiner späteren Texte aus dem Jahr 1982: Der Ausdruck ›Führung‹ (conduite) vermag in seiner Mehrdeutigkeit das Spezifische an den Machtbeziehungen vielleicht noch am besten zu erfassen. ›Führung‹ heißt einerseits, andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten. Machtausübung besteht darin, ›Führung zu lenken‹, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen.10

Indem Scham (und damit auch der sie betreffende Vermeidungswunsch) als internalisiertes, sozial überformtes Medium der Verhaltenssteuerung agiert, ist sie als ›Führungs‹-Emotion im Sinne Foucaults stets Teil von Macht- und Subwird in dieser Arbeit bezüglich der Scham in dem engeren Sinne von Demmerling und Landweer als intentional ausgerichtete ›Emotion‹ verstanden. Der Begriff des ›Affektes‹ wird weitestgehend synonym zu Gefühl verwendet werden, unterstreicht aber noch einmal deutlicher den plötzlich eintretenden, vegetativen Aspekt der Schamemotion. 9 Ruhnau, Jürgen: Scham, Scheu. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 8, R-Sc. Basel: Schwabe & Co. 1992. Lizenzausgabe für : Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. 1208 – 1215. S. 1208. 10 Foucault, Michel: Subjekt und Macht. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Bd. 4, 1980 – 1988. Hrsg. v. Daniel Defert und FranÅois Ewald. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2005. S. 269 – 294. S. 286.

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jektskonfiguration. »Das Wort ›Subjekt‹ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht«, wie Foucault ausführt, »und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist.«11 Im Zusammenspiel von Gesellschaftlichkeit, Machtstrukturen und Subjektbildung sind Schamemotionen doppelt wirksam: Als ›Führung‹ verankern sie Herrschafts- und Machtstrukturen emotional im Haushalt der Individuen, als reflexive Momente einer kritischen Selbst-Schau sind sie Teil des Prozesses der Identitätsstiftung. Vergesellschaftung und Individualisierung sind gleichermaßen ihr Programm. Scham als Währung Aus gesellschaftspolitischer Sicht wird Scham als Währung inszeniert. Eingefordert, sanktioniert, außer Kraft gesetzt – Scham wird gehandelt als Wert, in einem Übermaß als pathologisch zur Behandlung empfohlen, vor allem aber in ihrem Fehlen als Signatur eines allgemeinen Sitten- und Moralverfalls skandalisiert. Dies steht in einem Zusammenhang mit einer Ökonomie von Machthierarchisierungen und Deutungshoheiten, bei der es darum geht, zu bestimmen, wer sich für was mehr oder weniger zu schämen habe. Die Frage nach der Scham wird eingesetzt im Sinne einer sozialen und moralischen Normierung angesichts bestehender oder aber verlustig gegangener und eingeforderter Verhaltensstandards. Im Gegensatz zum letztendlich verstaatlichten und institutionell geführten Diskurs der Schuld bewegt sich das Verhandeln der Scham zumeist in einem Raum nicht im rechtlichen Sinne bindender Regeln und Forderungen. Die juristische Unverbindlichkeit von Schamnormen wird durch eine demonstrative Überhöhung der Diskussion bezüglich moralischer Tonlage und anskizzierter gesamtgesellschaftlicher Bedeutung konterkariert. Zu dieser Inszenierung moralinsaurer Schamdiskurse einige Beispiele: Der Familienpsychologe Wolfgang Hantel-Quitmann veröffentlichte 2009 sein Werk schamlos! Was wir verlieren, wenn alles erlaubt ist. Ausgehend von Beobachtungen aus Klinikalltag und bundesrepublikanischer Gegenwartskultur attestiert Hantel-Quitmann unserer derzeitigen Gesellschaft zunehmende Tendenzen hin zu moralisch fragwürdigem Verhalten und systematisierten Asozialitäten. Für ihn steht der zunehmende Verlust von Schamgefühlen bzw. offenkundiges schamloses Verhalten im Zentrum des diagnostizierten Sittenverfalls. Ausgehend von Bemerkungen zur global ausgerufenen Finanzkrise, dem Schreckensbild gieriger, von jedem Solidaritätsgefühl unbeleckt bleibender Manager, menschenunwürdigen Fernsehunterhaltungsformaten und dergleichen mehr ist dort in düster-plakativen Sentenzen zu lesen: 11 Ebd. S. 275.

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Die Liste der Schamlosigkeiten könnte allein schon dieses kleine Buch füllen. Leider sind dies alles keine Auswüchse einer ansonsten gesunden Kultur mehr, und es ist auch nicht der Preis, den wir für einen vermeintlichen zivilisatorischen Fortschritt zahlen müssen. Es sind Symptome einer Kultur, die ihre Menschlichkeit zu verlieren droht. Denn es ist mittlerweile ein großer Teil der Bevölkerung, der an den falschen Stellen klatscht und die leisen Skandale hinnimmt, während er die großen nicht einmal mehr bemerkt. Unserer Kultur gehen die Maßstäbe für gut und böse, richtig und falsch, anständig und unanständig verloren. Dieser Verlust ethischer Prinzipien betrifft insbesondere das menschliche Mitgefühl und die soziale Verantwortung, aber auch Respekt, Achtung, Mitleid, Rücksicht oder Solidarität.12

Im Zuge eines fragwürdigen Verständnisses von Individualität und Freiheit sieht Hantel-Quitmann Egoismus, Verantwortungslosigkeit und rücksichtsloses Genuss- und Gewinnstreben den einst als Solidaritätsgemeinschaft geschmiedeten gesellschaftlichen Zusammenhalt erodieren. Unterfüttert mit aktuellen Beispielen aus Politik, Wirtschaft und Kultur skizziert er das Horrorszenario einer pathologischen Gesellschaft, die sich in einer »Abwärtsspirale der Schamlosigkeit«13 mehr und mehr entmenschlicht. Dem zunehmenden Verfall moralischer Normen und dem Werterelativismus stellt er das Bild einer positiv durchfärbten Scham gegenüber. »Der Sinn der Scham ist ein soziales Denken, Fühlen und Handeln der Menschen. Wer die Scham als Lehrerin hat«, so Hantel-Quitmann, »der achtet andere, begegnet ihnen respektvoll, fühlt mit ihnen, denkt an die Gemeinschaft und verhält sich sozial verantwortlich.«14 Als Königsweg hinaus aus dem Teufelskreis zunehmender Schamlosigkeiten und kollektiver ethischer Degeneration bietet der Familienpsychologe das pädagogische Konzept der emotionalen Bildung an. In neoromantischer Wiederbelebung des alten HerzBildes heißt es bei ihm: Emotionale Bildung ist möglich und dringend notwendig, auch um der Schamlosigkeit in unserer Kultur zu begegnen. Denn Bildung hat in erster Linie nichts mit Fachwissen zu tun. In unserer Quiz-Gesellschaft ist der Bildungsbegriff pervertiert worden. Bildung ist eine Neugier, ein Interesse an anderen Menschen, der Welt und sich selbst. Ihr Kern ist die Bildung der Gefühle, oder – um es in einem alten deutschen Wort zu sagen – eine Herzensbildung.15

Was Hantel-Quitmann in seinem Buch schamlos! betreibt, ist weniger eine nüchterne Gegenwartsanalyse unter dem Blickpunkt eines allgemeinen Umgangs mit Schamgefühlen, sondern eine politische Positionierung mit Hilfe einer normativen Vereinnahmung des Schambegriffes. Indem er seinen 12 Hantel-Quitmann, Wolfgang: schamlos! Was wir verlieren, wenn alles erlaubt ist. Freiburg im Breisgau: Herder 2009. S. 14. 13 Ebd. S. 16. 14 Ebd. S. 137. 15 Ebd. S. 150.

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Schambegriff an Respekt gegenüber alten Menschen, an Solidarität mit Schwachen, an gutes Benehmen und Interesse an Kunst und Kultur koppelt,16 hat er das Gebiet der Phänomenbetrachtungen überschritten und befindet sich nunmehr im Spiel um Deutungshoheiten, Macht und Moral. Folglich ist auch dieser Satz bei ihm zu lesen: »Und Scham braucht nur derjenige zu empfinden, der sich von einer humanistischen Ethik entfernt, eine Scham angesichts einer inhumanen Ethik ist falsche Scham.«17 Hantel-Quitmann tritt als Apologet eines Kulturkonservatismus auf, der in seiner Interpretation zeitgeistiger und historischer Phänomene einer Gesellschaft den Untergang predigt, die seiner Sicht nach im Begriff ist, ›ihre Menschlichkeit zu verlieren‹. Unabhängig von der Frage nach der Schlüssigkeit seiner Beobachtungen und Interpretationen sowie der Bewertung seiner ethisch-politischen Positionen liegt die Problematik seines Ansinnens darin, die aus seiner Sicht anzustrebenden Werte über Scham verankern zu wollen. Als Psychologe mit den Mechanismen von Schamgefühlen vertraut, umgeht er mit der Bestimmung und Verknüpfung von ›richtigen‹ Werten und ›richtiger‹ Scham den Bereich des Argumentes und präferiert ein anti-aufklärerisches und anti-emanzipatorisches Menschenbild unter dem Deckmantel der ›Herzensbildung‹. Hierbei geht es letztlich nicht um die Überbrückung eines vermeintlichen Hiats zwischen Verstand und Gefühl oder eine angemessene Beachtung von Gefühlen für Entscheidungsfindungen und menschliche Gemeinschaftsstrukturen, sondern um eine Instrumentalisierung von Schammechanismen zur Durchsetzung eigener Wertvorstellungen. Nicht nur im Untertitel, sondern auch von der Ausrichtung her ähnlich wie Hantel-Quitmann gibt sich Martin Simons in seinem 2009 mit Vom Zauber des Privaten. Was wir verlieren, wenn wir alles offenbaren betitelten Beitrag zur Gegenwartskritik. Simons nähert sich seiner These dabei hauptsächlich medienkritisch an. Der in Rechtswissenschaften und Philosophie studierte freie Autor und Journalist konstatiert: Wir sitzen in einem Treibhaus der Schamlosigkeit. Das Aufkommen der Handys, die Organisation des Privatlebens über soziale Netzwerke im Internet, aber auch zum Beispiel die Boulevardmedien mit ihrer Fixierung auf das private Treiben sogenannter Prominenter und pseudo-therapeutische Fernsehshows fördern schamloses Verhalten. Nach und nach formt sich so eine neue kulturelle Realität mit neuen sozialen Konventionen. Selbstentblößungen jeder Art sind inzwischen gesellschaftlich weithin akzeptiert.18

16 Vgl. ebd. S. 17 f. 17 Ebd. S. 46. 18 Simons, Martin: Vom Zauber des Privaten. Was wir verlieren, wenn wir alles offenbaren. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2009. S. 11 f.

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Einleitung: Zur Relevanz des Scham-Affekts

Angesichts einer Medienkultur mehr oder minder profaner Selbstentblößungen, einer allgemein progressiven Offenheit im Umgang miteinander bei gleichzeitiger Verflachung sozialer Kontakte setzt Simons zum Lob der Distanz und des exklusiveren Umganges mit Intimitäten an. In »unserer hedonistischen Zeit«19 generiert, so Simons, falsch verstandene Selbstverwirklichung in Kombination mit einem vorherrschenden Diktum nach Offen- und Lockerheit einen »kulturellen Narzissmus«20 – analog dazu spricht Hantel-Quitmann vom ›modernen Narzissten‹21 –, dem das Bewusstsein einer gesunden Trennung von ›privat‹ und ›öffentlich‹ abhandengekommen ist. Demgegenüber setzt auch er auf das positive Prinzip der Scham, da Schamgefühle »unablässige Voraussetzung für die Ausbildung eines selbstbewussten, souveränen Charakters [sind]. Denn erst durch das Empfinden von Scham entwickelt man ein konsistentes Selbstgefühl.«22 Simons, der das von ihm Kritisierte z. T. performativ in seinem Text vorführt,23 ordnet seine Kritik historisch und in einem Land-Stadt-Gefälle: Einer früheren, ländlichen und »altväterliche[n] Lebensart, die sich in Einklang mit urtümlichen Kräften wusste (des Himmels, des Bodens, der Jahreszeiten)«24, stellt er das Bild einer urbanen, postmodernen Entwicklungsvielfalt gegenüber, die schließlich in eine »verwirrende, angsteinflößende Unübersichtlichkeit«25 mündet. Neben dem Starkreden des Wertetableaus ›Freundschaft‹, ›Liebe‹ und ›Familie‹ bietet er als Weg zu einem geglückten Leben die nicht öffentliche Erschließung eines ›eigenen inneren Kontinents‹ an, der dann im zweiten Schritt wieder als Anreizmarke nach außen gerichtet ist. Bildreich heißt es bei ihm zum Abschluss: 19 20 21 22 23

Ebd. S. 27. Ebd. S. 35. Vgl. Hantel-Quitmann, W.: schamlos! S. 90. Simons, M.: Vom Zauber des Privaten. S. 36. Simons, der sich über die medial ausgebreitete, als öffentliches Spektakel inszenierte Entblößungswut echauffiert, beginnt sein Buch mit dem Darlegen einer an ein erzählendes Ich gekoppelten schamvollen Kindheitserinnerung. Als rhetorisches Merkmal zieht sich dieses Spiel mit einer stark vertretenden ›Ich‹-Figur und immer wieder eingestreuten Beispielen aus dem Bekanntenkreis durch die ganze Argumentations- und Beispielsstruktur. So heißt es: »Ich schreibe von mir nicht, weil ich denke, dass meine Entwicklung ungewöhnlich oder besonders interessant wäre. Sondern um den Standpunkt zu markieren, der die Perspektive dieses Buchs prägt.« (ebd. S. 19) Zwar maskiert er seine Beispielfiguren aus dem Privatbereich, codiert sie allerdings dabei mit Vornamen. Beispiel: »Wesentlich für diesen Milieuwechsel war die Bekanntschaft mit einer Person, die hier Julie heißen soll, durch die ich eine mir bis dahin ganz fremde Lebensweise entdeckte.« (ebd.) Die Markierung des inhaltlichen Standpunktes durch ein plauderndes ›Ich‹ und das Aufführen von Beispielfiguren und -szenen wie ›Julie‹, ›Violetta und ihr Freund Max‹, ›Hans‹ und ›Lydia‹ sowie ›Maltes Geburtstag‹ imitieren dabei den intimen und ausufernden Tonfall nachmittäglicher Talkshows und schlüpfrig-luzider Klatsch-Kolumnen. 24 Ebd. S. 30. 25 Ebd.

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Wer ein intimes Verhältnis zu sich selbst pflegt, ist deswegen zwar öfter allein, dafür aber selten wirklich einsam. Wer eine eigene Melodie hat, kann zur Not auch mal auf die Welt pfeifen. Im Zweifel erhöht es aber nur die Strahlkraft seiner Persönlichkeit. Unabhängige Menschen, die in ihrem Inneren einen exotischen, noch unbekannten Kontinent einzuschließen scheinen, wirken besonders anziehend auf andere. Sie reizen dazu, entdeckt und entschlüsselt zu werden, wie ein sagenhaftes Geheimnis.26

Unabhängig von inhaltlichen Bewertungen ist auch hier, wie schon bei HantelQuitmanns Plädoyerschrift schamlos!, festzuhalten, dass dem Schamgefühl eine zentrale Funktion bei der Steuerung von Verhalten und Entwicklungen zugesprochen wird. Der in beiden Büchern beklagte Verlust von Scham im gesellschaftlichen Umgang miteinander und die damit einhergehende Forderung nach einer Rückkehr zur Scham entspricht einer gesellschaftspolitischen Agenda, die Entwicklungen maßgeblich über ein sozial strukturiertes und machthierarchisch relevantes Selbstwertgefühl zu regulieren wünscht. HantelQuitmann und Simons sind sich der Bedeutung und der Funktionsweisen von Schamemotionen bewusst und instrumentalisieren sie, indem sie den Aufruf zu mehr Scham zur wesentlichen Forderung ihrer Anliegen machen. Etwas anders funktioniert die Thematisierung der Scham in Maximilian Dorners 2010 erschienenem Werk Ich schäme mich. Ein Selbstversuch. Im Zuge einer autobiographisch skizzierten Krankengeschichte wird hier nicht aus der Beobachterposition heraus explizit Gesellschaftskritik betrieben und zur Rückkehr nach mehr Scham aufgerufen. Während Hantel-Quitmann und Simons zum Lob der ›gesunden‹ Scham ansetzen, fokussiert Dorner die ›pathologische‹ Seite der Scham und sagt ihr den Kampf an. Ausgehend von einer erhöhten Sensibilität Schamnormen und -empfindungen gegenüber, bedingt durch den Umgang mit dem eigenen Nervenleiden, wuchert die Scham und das damit verbundene schmerzliche Bewusstsein der eigenen Insuffizienz in alle Bereiche der Lebensgestaltung hinein. Dorners Agenda ist es nun, sich »die Scham abzugewöhnen«27, um das Leiden zu mindern und ein unbefangeneres Sozialleben wieder zu ermöglichen. Hierfür dekliniert er mehrere »Ausweg[e] aus der Hölle [der Scham]«28 auf ihre Brauchbarkeit hin durch. Die Palette der Strategien zur Re-Normalisierung des Selbstverhältnisse reicht dabei von Versuchen der demonstrativen Umwandlung von Scham in Stolz29 über die Herstellung angemessener Proportionen zwischen Anlass und Empfindung30 bis hin

26 Ebd. S. 158. 27 Dorner, Maximilian: Ich schäme mich. Ein Selbstversuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2010. S. 11. 28 Ebd. S. 141. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. ebd. S. 142.

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zur Verklärung der Scham in der künstlerischen Aufarbeitung31. Zwar scheitert das Ich in Dorners ›Selbstversuch‹, da es sich die Scham nicht abgewöhnen kann, aber im Durcharbeiten kommt es zu einem versöhnlichen Umgang mit der eigenen Scham. Die Pointe in Dorners Auseinandersetzung liegt dabei in der Koppelung von inwendiger Scham und nach außen getragenem Takt: »Das Einzige, was ich dem Unvermeidlichen entgegensetzen kann, ist die Form, in der ich es lebe. Deswegen werden Umgangsfragen für mich immer wichtiger. Der Takt, mit dem ich anderen begegne und sie mir.«32 Die durch die Scham ausgelöste Selbstreflexion erweitert sich zu einer grundsätzlichen Betrachtung über Scham und ihrer Mechanismen und führt zu einer Verhaltensmodifikation im Auftreten des empfindenden und denkenden Subjekts. Allerdings verfällt Dorner bei dieser Koppelung von Scham und Verhalten nicht wie Hantel-Quitmann und Simons den Verlockungen einer Inbesitznahme der Schammechanismen für die normative Setzung der eigenen Wertvorstellungen. Die Beschränkung der Perspektive auf ein erlebendes Ich ermöglicht es ihm, die machttheoretische Seite der ›Führung‹ durch Scham zwar deutlich zu markieren, den Fokus seines ›Selbstversuchs‹ aber auf die Mechanismen der selbsterkenntnisrelevanten Seite zu legen. Unabhängig davon, ob der Scham-Diskurs nun darauf abzielt, implizit oder explizit Schamgefühle politisch zu instrumentalisieren, oder ob er via Innenschau versucht, die Wirkung der Scham beispielhaft offenzulegen, als gemeinsamer Bezugspunkt bleibt bestehen, dass Schamgefühle das Verhalten von Individuen in Gesellschaften über emotionale Teilhabe sanktionieren. Das Einfordern von Scham agiert dabei im gesellschaftlichen Spiel um Deutungshoheit und Meinungsdurchsetzung als Zuweisungsmittel von moralischen Insuffizienzen und als Hierarchisierungsmethode. Der Ruf nach Scham wächst mit der moralischen Entrüstung der Sender und je weniger Schuld im ›harten‹ juristischen Sinn zu verhandeln ist, desto mehr wird Scham oftmals als letzte und wirksamste Hemmschwelle vor dem Abrutschen ganzer Gesellschaften in vermeintliche Unkultur stilisiert. Die konkrete Scham in ihrer Bedeutung für das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft wird somit flankiert von medial und plakativ geführten Diskursen, die den Begriff der Scham im Sinne der eigenen politischen Position instrumentalisieren. ›Schäm dich!‹ wird zum ultimativen Schlachtruf, der je nach Position mit unterschiedlichen Wertvorstellungen aufgeladen werden kann und herrisch Unterordnung via Emotion und nicht über die Seite des Arguments einfordert. Scham ist grundsätzlich ein soziales Gefühl, im alltäglichen Umgang historisch und politisch überformt. Dem gegenüber steht die Notwendigkeit einer Kritik der Scham, die ihre Me31 Vgl. ebd. S. 167. 32 Ebd. S. 146.

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chanismen und Funktionszusammenhänge offenlegt, ohne sie ihrerseits wieder mit Wertvorstellungen füllen zu wollen. Zu dieser Arbeit Dem Alltagsgebrauch des Schambegriffes und seiner Instrumentalisierung im gesellschaftspolitischen Spiel um Deutungshoheiten, emotionale Führung und moralische Standortbestimmungen stehen fachwissenschaftliche und kulturhistorische Untersuchungen der Scham zur Seite. Die sich im 19. und 20. Jahrhundert etablierenden neuen Wissenschaften vom Menschen – Soziologie und Psychologie – betten ihre Untersuchungen zur Scham ein in grundlegende Überlegungen zur Bedeutung und zu Funktionsweisen von Gefühlen. Standpunkte der philosophischen Anthropologie greifen die Thematik im Hinblick auf spezifische menschliche Selbst- und Weltverhältnisse auf. Gemäß dem fächerübergreifenden Interesse an der Thematik bedient sich diese Arbeit einer breiten kulturwissenschaftlichen Herangehensweise und führt kritisch verschiedene Ansatzpunkte der einzelnen Wissenschaften zusammen. Im Zentrum des kulturwissenschaftlichen Zugangs stehen dabei die Fragen, wie Schamgefühle grundsätzlich im Verhältnis zum Menschen zu denken sind und wie sie sich in Alltagsstrukturen, Macht- und Gesellschaftsverhältnissen konkretisieren. Das literaturwissenschaftliche Interesse wendet sich vor diesem Hintergrund der Frage zu, wie diese gleichsam anthropologisch ausgedeuteten wie historisch überformten Scham-Vorstellungen sich in paradigmatischen literarischen Texten der Moderne wiederfinden lassen und poetisch gewendet zu ästhetischer Anschauung gelangen. Textanalyse und diskursive Verortung werden aufzeigen, wie gerade literarische Werke als verdichtete Kulminationspunkte kollektiver lebensweltlicher Erfahrungsmuster fungieren sowie präjudizierend Entwicklungen vorwegnehmen und zur Anschauung bringen. Der mit der Moderne ab 1800 gewählte Einsatzpunkt leitet sich von umfassenden gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und philosophischen Veränderungen im Selbstverständnis ›des Menschen‹ ab, die mit der Französischen Revolution einen ersten Höhe- und Ausgangspunkt fanden. Wenn, wie Winfried Wehle schreibt, »gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Individuum sich als Subjekt zu begreifen beginnt«33, dann im doppelten Sinne der Selbstermächtigung und der Selbstüberlassenheit. Mit dem Wegfallen metaphysisch-christlicher Autoritätsgewalten bei gleichzeitigen Umwälzungen der ökonomischen 33 Wehle, Winfried: Kunst und Subjekt: Von der Geburt ästhetischer Anthropologie aus dem Leiden an Modernität – Nodier, Chateaubriand –. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Hrsg. v. Reto Luzius Fetz u. a. Bd. 2. Berlin: Walter de Gruyter 1998. S. 901 – 941. S. 907.

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und sozialen Fundamente stellte sich die Frage nach den Möglichkeiten und Notwendigkeiten zur Gesellschaftsorganisation neu. Neben dem Appell an die Vernunft – Motor und Bruchpunkt der Entwicklungen zugleich – und dem Aufkommen biologistisch-evolutionärer Denkkategorien läuft eine dritte Möglichkeit der Sinn- und Gemeinschaftsstiftung über den Bereich der Emotionen. Gerade die emotionale Mobilisierbarkeit der Menschen in Kombination mit wirtschaftlichen Interessen und technischen Möglichkeiten formiert geschichtliche Entwicklungslinien. Die Untersuchung der literarischen Texte aus dem Kanon der Moderne trägt diesen Entwicklungen Rechnung. Wehle hält in Bezug auf die Moderne fest, dass die Kunst dem Menschen nicht mehr eine ›Bestimmung‹ gibt, sondern eine ›Stimme‹.34 Den Unterschied von ›Stimme‹ und ›Bestimmung‹ betreffend schreibt er dazu in Kunst und Subjekt: Der Unterschied ist grundlegend. Er bezeichnet den Aufstieg der Kunst von einer Dienerin zur Herrin menschlicher Erkenntnis. Statt vorgesetzter Wahrheiten vermittelte sie dann Gespräche zwischen ›Kopf‹ und ›Bauch‹. Damit ist ihr jahrhundertelanger Auftrag eines ›prodesse‹ durch ›delectare‹, der Repräsentation, Illustration, der Nachahmung vorgegebener Wahrheiten zu Ende. Sie tritt, auf verhaltene Weise, vom Zeitalter der Klassik in das moderne der Diskurse über.35

Gerade vor dem Hintergrund der Befreiung der Kunst von den Vorgaben des ›prodesse‹ und ›delectare‹ gewinnt Literatur eine entscheidende Dimension. Nicht mehr auf Vorgegebenes angewiesen und auf ihren pädagogischen Gehalt hin beschränkt, tritt sie mehr und mehr auf als feinfühliges Reflexionsmedium gesellschaftlicher Veränderungen. Demgemäß werden die Analysebeispiele in dieser Arbeit als visionäre Leuchtmarken moderner Befindlichkeiten und Ansichten begriffen und im Hinblick auf Schamgefühle entschlüsselt. Die Arbeit gliedert sich in vier Großkapitel, die in thematischer Ordnung aufeinander aufbauen. Die Literaturanalysen markieren dabei die historisch gewachsenen Variationen und Bruchstellen der thematischen Schwerpunktsetzungen, mit deren Hilfe die jeweiligen Scham-Diskurse kritisch zur Anschauung gebracht werden können. Eine Ausnahme bildet hierbei das einführende Kapitel zur Phänomenologie des Scham-Affekts, in welchem die Grundzüge des Schamgefühls systematisch erschlossen und in ihren Funktionszusammenhängen dargestellt werden. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach Bedeutung und literarischer Reflexion von Scham in der Moderne setzt im zweiten Kapitel mit einer Untersuchung von Heinrich von Kleists Text Über das Marionettentheater ein. Dieses Kapitel stellt die Frage nach dem Menschen in den Mittelpunkt und 34 Vgl. ebd. S. 936. 35 Ebd.

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verweist auf das sich ändernde Menschenbild in der Moderne. Innerhalb dieses Rahmens werden Theorien zu einer Setzung der Scham als anthropologisches Merkmal untersucht und die Bedeutung von Schamgefühlen in Zivilisationsund Modernisierungsprozessen fokussiert. In einer Auseinandersetzung mit Franz Kafkas Brief an den Vater und Der Proceß wird paradigmatisch aufgezeigt, wie Schamgefühle moderne Selbst- und Weltverhältnisse durchwuchern. Anthropologisch fundierte Schamkonzepte gehen dabei in existenzialistische Vorstellungen über. Aspekte der Sichtbarkeit und des Blicks erfahren hier, sowohl bezüglich konkreter Schamsituationen im Besonderen als auch hinsichtlich der Organisation von intersubjektiver Anerkennung im Allgemeinen, insofern eine Aufwertung, als eine gesellschaftlich anerkannte Ich-Konstitution nur über den Umweg über den Anderen gedacht werden kann. Diese Problematik lässt sich an Arthur Schnitzlers Fräulein Else und Traumnovelle nachzeichnen, wobei beide Texte vorführen, wie Verbürgerlichung und Identitätsstiftung mit einer Domestikation von Schamgefühlen und Triebbedürfnissen einhergehen. Sowohl der Sichtbarkeit als auch dem Blick werden im dritten Kapitel über die existenzielle Dimension hinaus noch eine genuin ›dramatische‹ Ebene zugeschrieben, da Identität als eine Darstellungsform zu begreifen ist, in der sich der einzelne vor seinen Mitmenschen als Figur inszeniert. Anhand der Ordnungskategorie ›Geschlecht‹ wird in den Analysen zu Sacher-Masochs Venus im Pelz und Elfriede Jelineks Lust die historische und politische Gemachtheit solcher machthierarchischen und mit Schamnormen behafteter Ordnungsmuster aufgezeigt. Konterkariert wird dies durch eine explizite Darlegung der positiven sozialen Funktionen der Scham, um dann in einem weiteren Schritt Kritik an der politisch gewollten Instrumentalisierung der Scham zu üben. Das abschließende vierte Kapitel unterscheidet sich im Aufbau von den vorherigen Kapiteln. Durchgehend im Zentrum steht hier eine Auseinandersetzung mit dem deutschsprachigen Gegenwartsautor Wilhelm Genazino. Dieses Kapitel bemüht sich, mit Genazino die Möglichkeit der Literatur aufzuzeigen, durch ihre Methoden und Wirkungsweisen wesentlich einen aufgeklärten und angemessenen Umgang mit Schamgefühlen schulen zu können. Es wird erläutert, wie Genazino innerhalb seiner Werke eine Typologie von Protagonisten entwirft, die in ihren romanübergreifenden Entwicklungslinien einen Typus von geerdeter Gelassenheit und Souveränität entwickeln, ohne dabei die Aporien und Widersprüche moderner Lebensorganisationen zu verleugnen. Vor dem Hintergrund des bisher Skizzierten wird mit der Fokussetzung auf den Gegenwartsautor Genazino eine weitere wichtige Dimension der Literatur nachgezeichnet. Diesseits ihres Wertes als historisch-kulturelles Artefakt, das zeitgeistliche Entwicklungslinien menschlicher Selbst- und Weltversicherungen ästhetisch zur Anschauung bringt, wohnt der Literatur eine ethische Dimension

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Einleitung: Zur Relevanz des Scham-Affekts

inne. Mit Genazino wird hier Literatur als ein Übungsfeld der Individuation begriffen. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der ›Einfühlung‹ entstaubend aufgegriffen und die Literatur zurück in den Möglichkeitshorizont einer geleiteten Selbstaufklärung und -aussöhnung gestellt.

I. Phänomenologie des Scham-Affekts

Um sich dem Phänomen der Scham zu nähern, stehen zwei Standpunkte der Beobachtung offen. Scham kann beschrieben und interpretiert werden aus Sicht der erlebten Schammomente heraus. Hier wird, aus der gefühlten Bedeutungsschwere und der Blickrichtung des betroffenen Subjektes herkommend, Scham als fulminante Erfahrung gewertet, die von hoher Bedeutung für die Identitätsfrage des Individuums ist. Scham koppelt sich dabei an nichts Geringeres als an die Frage des Seins und wird als existenziell für das Selbstverständnis des Subjekts gewertet. Dem gegenüber steht eine Betrachtungsweise der Scham, die im eher nüchternen Blick eines äußeren, unbetroffenen Beobachters Scham relational und objektiv zu fassen versucht. In diesem Fall wird nach schamtypischen Strukturen in Bezug auf Anlassquellen, zeitlichen Verlauf und körperlichen Ausdruck gefragt. Darüber hinaus sind Schamgefühle in Anlehnung und Abgrenzung zu anderen Gefühlen zu untersuchen.

1.0

Die innere Perspektive: Scham als existenzielles Erlebnis

Das Gefühl der Scham hat sowohl Schnittstellen- als auch Unterbrechungscharakter. Als Knoten- und Schwellenpunkt zwischen der Sphäre des Körperlichen und des Geistigen, des Individuums und der Gesellschaft, zwischen Anspruch und Wirklichkeit verweist es auf einen von verschiedenen Diskursen des Ichs durchwobenen Raum eines problematisch gewordenen Selbstverhältnisses. Im Bruchfeld der Scham splittert die Illusion einer souveränen Identität und verselbstständigt sich die komplizierte Mehrschichtigkeit des Subjekts im Bild einer Krise. Dieses Auffächern der verschiedenen Ansehensweisen des Ichs im Moment einer Konfrontation im Inneren des Individuums geht einher mit der abrupten Unterbrechung eines zeitlich organisierten Handlungsverlaufs. Die Scham ist ein Einspruch, der das gefühlte Kontinuum der Zeit aufbricht, zugunsten einer geradezu obszönen Absolutsetzung des Augenblicks. Gleichzeitig explodiert das Ich in einer totalen Anwesenheit, die unerträglich geworden ist,

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Phänomenologie des Scham-Affekts

ein einziger Makel zu sein scheint. Aus der Blickrichtung des sich schämenden Subjekts heraus handelt es sich bei der Scham um eine Katastrophe globalen Ausmaßes, die die Maßstäbe der bisherigen Selbst- und Weltbeherrschung sprengt. In diesem Sinne steht im Zentrum der Scham die existenzielle Gewissheit, im so schmerzlich fehlgehenden Handeln genau und unleugbar das zu sein, was ich gerade bin. Mit der Scham geht eine Korrektur einher, über den Weg einer objektivierenden Selbst-Schau brechen die Phantasmen weg zugunsten eines affektiv-emotionalen Eingeständnisses. Die ›Wahrheit‹, die in der Scham aufblitzt, ist nicht die der objektiven, logischen Wissenschaften, sondern emotional garantierte, erlebte Gewissheit. »Wenn wir uns schämen, so schämen wir uns für etwas vor jemandem.«36 Die Trias von Subjekt, Motivation und Gegenüber ist konstitutiv für die Scham. Als Gefühl ist es notwendigerweise an ein empfindendes Ich gebunden. Darüber hinaus ist es mehrfach reflexiv : Ausgehend vom dem, dessen man sich schämt, verankert es sich existenziell in der Person, die sich schämt. Schäme ich mich angesichts eines Versagens, schäme ich mich meiner im Ganzen. Die Scham entblößt eine schmerzhafte Performanz, in der das abstrakte und vorgestellte Ich unzertrennlich mit seinem konkreten situativen Verhalten verschmilzt. Grundsätzlich sozial ausgerichtet, ist Scham doch wesentlich eine selbstwertrelevante Emotion: »Im Schamgefühl«, so Schäfer und Thompson, »verhält man sich zu sich – allerdings im Modus des Erleidens; denn das Gefühl der Scham kann weder hervorgerufen noch eingegrenzt noch beendet werden.«37 Erst vor diesem Hintergrund ist das Bedürfnis des schamgeschädigten Subjekts zu verstehen, vollkommen zu verschwinden; der Wunsch nach dem getilgten Anlass ist gleichsam ein Wunsch nach der Tilgung des Subjekts. Dieser Wunsch kann hineinreichen bis zum Urgrund der Existenz: »Das Ziel der Scham ist das Verschwinden, radikal als Selbstmord.«38 Scham ist in ihrer letzten Radikalität das Gefühl des eigenen Lebens-Unwertes. Scham ›vor jemandem‹ impliziert eine weitere Dimension der Reflexion: Der eigentliche Ursprung dieses Jemand ist ein Anderer, ein Mitmensch. Der Andere ist derjenige, der nicht Ich ist, mit dem mich aber eine gegenseitige Anerkennung verbindet. Im Zuge der kindlichen Entwicklung ist diese Bewegung von Trennung und Anerkennung das Ferment der Ich-Bildung und des damit ein36 Landweer, Hilge: Differenzierungen im Begriff ›Scham‹. In: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur. Jahrgang 12 (2001), Heft 3, fünfte Diskussionseinheit. Hrsg. v. Frank Benseler u. a. Stuttgart: Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft 2001. S. 285 – 296. S. 285. 37 Schäfer, Alfred und Thompson, Christiane: Scham – eine Einführung. In: Dies.: Scham. Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2009. S. 7 – 36. S. 25. 38 Lehmann, Hans-Thies: Das Welttheater der Scham. Dreißig Annäherungen an den Entzug einer Darstellung. In: Merkur 45, 9/10 (1991). S. 824 – 839. S. 828.

Die innere Perspektive: Scham als existenzielles Erlebnis

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hergehenden Selbst-Bewusstseins. Ausgehend von der Entdeckung und Anerkennung der Ich-Anderer-Differenz institutionalisiert sich das Ich als herrschende Größe im psychischen Haushalt durch die feste Installierung einer verinnerlichten Differenz. Der Andere, der nicht Ich ist, wird so zum verinnerlichten Prüfstein, dass Ich ich bin. Ursprünglich gebunden an erste, real gegebene Bezugspersonen geht der Andere als imaginierte und institutionalisierte Kehrseite des Ichs innerhalb des Individuums auf. Er ist charakterisiert durch einen Perspektivenwechsel, der das Ich und dessen Handeln in den Fokus schiebt. Der Jemand, vor dem ich mich schäme, ist somit nicht gekoppelt an die faktische Anwesenheit eines realen Anderen, sondern eine verinnerlichte Instanz, die es dem Subjekt ermöglicht, in eine beobachtende Distanz zu sich selbst zu treten. Hilge Landweer knüpft in ihren Überlegungen zur Scham den inneren Perspektivenwechsel los von der Existenz imaginierter Mitmenschen, die Bewegung der kritischen Selbst-Beobachtung genügt: Strukturbestimmend ist für Scham […] die Frage, vor wem man sich jeweils schämt, also die Frage nach den Zeugen oder Adressaten der Scham. Da man sich auch vor sich selbst schämen kann, ohne daß andere anwesend sind und sogar ohne daß man sich andere anschaulich vorstellt, kann die Anwesenheit oder Vorstellung dieser anderen keine notwendige Bedingung für Scham sein. Allerdings ist auch für die Scham vor sich selbst ein Perspektivenwechsel auf das eigene Tun erforderlich, von dem aus dieses kritisch bewertet wird.39

Im Zentrum steht also die Möglichkeit des Perspektivenwechsels, der vor dem Hintergrund eines entwickelten Selbst-Bewusstseins mich selbst als den Jemanden konzipiert, der der Andere als Zeuge meiner Scham ist. Der Zeuge der Scham »er-zeugt und be-zeugt die Endlichkeit des Subjektes«40, wie es Seidler in Anlehnung an Sartre in seiner psychoanalytischen Analyse der Scham schreibt. Er deckt mein Versagen auf, welches mich als Ganzes in die Scham stürzt, und konfrontiert mich zeitgleich mit meiner Endlichkeit. Zum einen bin ich in unerhörter Weise aus einer mir zugewiesenen Rolle gefallen und habe soziale Grenzen des Verhaltens verletzt, zum anderen stellt er mein eigenes Verschwinden als Ausgang vor mich hin und bindet mich innerhalb der brennenden Schamempfindung an den Erlöserabgrund meiner Sterblichkeit, an den Tod als Vollzug des absoluten Verschwindens. ›Sozialer Tod‹ – im Sinne eines »existentiellen Gesichtsverlustes«41 – und biologisch-faktischer Tod bedrängen 39 Landweer, H.: Differenzierungen im Begriff ›Scham‹. S. 287. 40 Seidler, Günter H.: Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham. Stuttgart: Klett-Cotta 1995, zweite, verbesserte und erweiterte Auflage 2001. S. 93. 41 Schmölders, Claudia: Das Gesicht verlieren. Über Physiognomik und Scham. In: Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Hrsg. v. Klaus Herding und Bernhard Stumpfhaus. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2004. S. 467 – 485. S. 474.

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Phänomenologie des Scham-Affekts

und umschmeicheln das Ich, werden zum doppelten Moment einer existenziellen, augenblicksgebundenen Seinsgewissheit.

2.0

Bedingungs- und Strukturanalyse

Ungeachtet der existenziellen Dimension lässt sich der Scham von außen mit den Augen eines nicht betroffenen Beobachters eine konkrete Struktur zuschreiben, die ihr auf der Zeitachse ein Werden, Verlaufen und Vergehen attestiert und sie in eine ›motivierte Erzählung‹ zu verpacken versteht. Um diese grundsätzliche Struktur der Scham in Bezug auf ihr Zeitverhältnis, ihre Motivationsquellen und ihre Körperlichkeit soll es im Folgenden gehen.

2.1

Der Schamzeuge

Mit Landweer wurde gesagt, dass Scham immer ein Sich-Schämen ›vor jemandem‹ ist. Dieser Zeuge der Scham ist dabei nicht zwingend ein real anwesender Mitmensch, ja nicht mal notwendigerweise ein imaginierter Mitmensch. Vielmehr liegt im Zentrum des ›vor jemandem‹ ein Perspektivenwechsel, den das Schamsubjekt vollzieht. Trotzdem spielen reale Personen im Umkreis des Schamgeschehens eine zentrale Rolle im Hinblick darauf, ob man sich in bestimmten Situationen überhaupt schämt, wofür man sich schämt, und nicht zuletzt auch darauf, wie intensiv die jeweilige Schamsituation erlebt wird. Auf dem Fundament der grundsätzlichen Bewegung des Perspektivenwechsels sind es die real anwesenden Schamzeugen, die konkrete Schamsituationen bedeutend mitkonfigurieren. Dazu Anja Lietzmann in ihrer Überblicksarbeit zu Struktur und Bedeutung des Schamgefühls: Zu Bedingungsmomenten von Scham kann weiterhin die reale Anwesenheit anderer Personen als Beobachter der Situation zählen. Prinzipiell ist die Präsenz von Anderen nicht notwendig, um ein Schamerlebnis auszulösen. Gleichwohl lässt sich feststellen, dass bestimmte Ereignisse oder Eigenschaften mit geringerer Wahrscheinlichkeit zum Anlass von Scham werden, wenn die Person allein ist, jedoch mit deutlich größerer Wahrscheinlichkeit Scham auslösen, wenn diese sich unter Anwesenheit und Beobachtung eines Publikums befindet. Die Anwesenheit einer anderen Person in einer Situation vermag mithin in besonderem Maße Scham zu provozieren bzw. diese zu intensivieren.42 42 Lietzmann, Anja: Theorie der Scham. Eine anthropologische Perspektive auf ein menschliches Charakteristikum. Hamburg: Verlag Dr. Kovacˇ 2007. Schriftenreihe: Boethiana. Forschungsergebnisse zur Philosophie. Bd. 74. S. 167 f.

Bedingungs- und Strukturanalyse

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Die Bedeutung der schamauslösenden bzw. schamverstärkenden Wirkung real anwesender Personen ist in Bezug auf den prinzipiellen Perspektivenwechsel in der Scham zu sehen. Grundsätzlich ist der Mensch ein reflexives Wesen und trägt in sich stets den eigenen Anderen. Darüber hinaus ist er als Individuum immer eingebunden in historisch gewachsene Strukturen von Gemeinschaften. Sowie der verinnerlichte Andere die Kehrseite des Ichs ist, ist das Individuum nur vor dem Horizont seiner geschichtlichen und sozialen Umgebung zu sehen. Das Verhältnis von Ich, innerem Anderen, geschichtlicher Situation und sozialem Umfeld in Form von Mitmenschen ist dynamisch und von wechselseitiger Durchdringung geprägt. Dieses Verhältnis ist ein andauernder Prozess mit benennbaren Variablen und Wahrscheinlichkeiten, aber ohne vorbestimmbare Gewissheiten und zementierte Determinanten. Persönliche Biografien wie übergreifende Geschichtsschreibungen lassen sich nur rückblickend fixieren. Gesetzestafeln, Autoritäten, arbiträre Machtstrukturen und tradierte Wertvorstellungen stellen die groben, gesamtgesellschaftlichen Koordinaten innerhalb dieses Prozesses zur Verfügung. Der alltägliche Umgang mit den gegebenen sozialen Strukturen, den angebotenen Möglichkeiten und angetragenen sowie verinnerlichten Verpflichtungen ist dabei das verbindende Zahnrädchen, das das Individuum mit seiner Umwelt und der Geschichte verbindet. Innerhalb dieses Systems sind die konkreten Mitmenschen des Alltagslebens einerseits selbst mit Wahrscheinlichkeiten aufgeladene unbekannte Größen, andererseits sind sie Agenten der Gesellschaftsapparatur und Verkörperungen von uns auferlegten Erwartungshaltungen. Dementsprechend ist die Rolle des Mitmenschen als Zeuge der Scham ambivalent und ebenfalls von mehreren dynamischen Faktoren her bestimmt. Prinzipiell liegt das schamauslösende bzw. -verstärkende Potential des real anwesenden Schamzeugen in der erleichterten Bewegung des Perspektivenwechsels: Die Aufmerksamkeit Anderer auf die eigene Person wird registriert. In der Folge rückt die eigene Person – insbesondere das kritische Ereignis bzw. die kritische Eigenschaft – verstärkt in den Blick des Betroffenen, die Selbstaufmerksamkeit steigt, weshalb der Betroffene das Ereignis bzw. die Eigenschaft nicht ignorieren und in diesem Sinne von sich abspalten kann […].43

Die Bedeutung des Schamzeugen liegt in der Fähigkeit des Schamsubjekts, den prinzipiellen Perspektivenwechsel zu einem inter-subjektiv empathischen zu machen. Indem das Subjekt den kritischen Blick auf sein Handeln an den realen Blick eines anwesenden Mitmenschen koppelt und sich in dessen Position einfühlt, gewinnt der Andere fundamental an Bedeutung. Der Mitmensch wird hier zum Prüfstein des Bewertens, dessen Urteil man antizipiert und gegen sich 43 Ebd. S. 168.

28

Phänomenologie des Scham-Affekts

wendet. Dabei ist es für die Situation an sich – nicht allerdings für den weiteren Verlauf – zweitrangig, ob der Blick des Anderen eine tatsächliche Missbilligung enthält oder nicht. Allein dadurch, dass das Gewahrwerden einer eigenen empfunden Verfehlung mit der Übernahme des Blickes eines anderen Menschen verbunden wird, entsteht eine Diskrepanz in der sozialen Wertigkeit. Die Scham unter den Augen eines Zeugen löst das Subjekt heraus aus der Gemeinschaft der Unversehrten und fungiert als Selbst-Stigmatisierung. Der Fokus der Bedeutungszumessung wird also ein Stück weit von der eigentlichen Verfehlung abgelenkt und legt sich auf den Zeugen der Scham. So ist nicht nur zu erklären, warum ein und dasselbe Fehlverhalten einmal ohne Publikum keinen Schamanlass darstellt, während es ein anderes Mal mit Publikum durchaus Grund zur Scham ist, sondern auch, warum unterschiedliche Augenzeugen der Scham die Intensität und den als Anlass empfunden Grund der Scham unterschiedlich beeinflussen. Demmerling und Landweer spezifizieren in ihrer Philosophie der Gefühle, dass man sich »insbesondere vor Personen [schämt], auf deren Urteil man besonderen Wert legt und deren Meinungen einem wichtig sind.«44 Die Bedeutungsschwere der Schamempfindung wird entscheidend von der ›Qualität‹ des Schamzeugen mit beeinflusst. Lietzmann führt für diese Qualität des Schamzeugen verschiedene soziale Faktoren zusammen. Zum einen ist die persönliche Beziehung zwischen Schamzeuge und Schamsubjekt bestimmend, d. h. wie vertraut oder fremd beide zueinander sind und ob ihre Beziehung eher von Wohlwollen, Rivalität, Missgunst etc. geprägt ist. Zum anderen hat die Stellung des Zeugen sowie die des Subjektes in der allgemeinen sozialen Hierarchie Bedeutung für die Bewertung der Situation. Schließlich spielt noch eine Rolle, bis zu welchem Grad der Schamzeuge allgemein eine bedeutsame und achtenswerte Person für das Schamsubjekt darstellt.45 Jede Scham vor sich selbst ist eine schmerzhafte Selbsterkenntnis, jede Scham vor Publikum darüber hinaus eine desaströse Öffentlichwerdung der eigenen Ungenügsamkeit.

2.2

Schamanlassquellen

Die Tatsachen, dass der innere Perspektivenwechsel des Subjektes auf sich selbst eine prinzipielle Bedingung der Scham ist und dass die anwesende Augenzeugenschaft von einem oder mehreren Schamzeugen befähigt ist, Scham zu provozieren und zu verstärken, verweisen auf einen zentralen Punkt im Schamgeschehen: das Gesehenwerden. Es ist der Moment des Öffentlichwerdens vor sich 44 Demmerling, C. und Landweer, H.: Philosophie der Gefühle. S. 230. 45 Vgl. Lietzmann, A.: Theorie der Scham. S. 168 f.

Bedingungs- und Strukturanalyse

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selbst – im Sinne einer Selbstbewusstwerdung – als unabdingbare Bedingung der Scham und das Öffentlichwerden vor anderen Menschen als dramatisierende Erweiterungsoption, die das Gesehenwerden im Bild des Blicks als grundlegend bestimmen: Der niederwerfende, mißachtende ›Sehstrahl‹, der Blick, der vielleicht nicht biologisch, aber doch sozial töten kann: er gibt Anlaß zur Scham, die offenbar nur dort entstehen kann, wo eine solche Übermacht des Blickens möglich ist, wo ein solches ›großes Auge‹ uns beobachtet – und wir uns fürchten müssen.46

Der Blick als prinzipielle Grundbedingung des Perspektivenwechsels und die Macht des Blickes als Mechanismus einer sozialen Fixierung sind aber nicht gleichzusetzen mit den eigentlichen potentiellen Gründen, weshalb wir uns schämen. Perspektivenwechsel und die Antizipierung des Blickes eines Anderen figurieren das ›vor jemandem‹, nicht das ›für etwas‹. Soll also diese Position in Landweers Kurzbestimmung ›Wenn wir uns schämen, so schämen wir uns für etwas vor jemanden‹ fokussiert werden, muss von der Bedeutung des Blicks an sich an dieser Stelle Abstand genommen werden. Vielmehr ist die Frage nach den Schamquellen die Frage nach dem, was im weitesten Sinne angesehen werden kann. Prinzipiell gibt es nichts, was nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden kann, aber ebenso wenig etwas, was in diesen Fokus gerückt werden muss. Auch hier gibt es in Bezug auf konkrete Inhalte historisch gewachsene Wahrscheinlichkeiten und durch die Gemeinschaft aufgelegte Erwartungshaltungen, aber keine Garantien. Es gibt keinen Mechanismus, nach dem sich ein Mensch etwa seiner Sexualität schämt, seiner körperlichen oder psychischen Defizite, seiner Arbeitslosigkeit und Armut, seines Rufes als Verräter. Alle diese Eigenschaften oder Ereignisse mögen ein schamverursachendes Potential enthalten; diese können Scham hervorrufen, stehen aber mit der Scham keineswegs in einem klaren Ursache-Wirkungs-Verhältnis. Sie sind als Anlässe von Scham kontingent. Ob sie tatsächlich Schamgefühle auslösen, hängt von einer Reihe zusätzlicher – etwa situationaler, persönlicher, sozialer und kulturell-historischer – Faktoren ab.47

Dieser Bestimmung folgend, gibt es keine zwingenden Anlässe der Scham bzw. ist jeder Anlass zur Scham eingebettet in ein Korsett kulturell bedingter Kodizes. Umgekehrt stellt die einfache Möglichkeit des reflexiven Perspektivenwechsels auf das eigene Tun nicht einen Automatismus zur Scham dar. Dementsprechend kristallisiert sich jede konkrete Schamsituation aus dem Zusammenspiel von prinzipieller Potenz und kulturellem Anlass heraus. 46 Bastian, Till: Der Blick, die Scham, das Gefühl. Eine Anthropologie des Verkannten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. S. 48. 47 Lietzmann. A.: Theorie der Scham. S. 29.

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Phänomenologie des Scham-Affekts

Lässt sich in dieser Bestimmung somit zwar kein verbindlicher, raum- und zeitübergreifender Katalog von Schamanlässen aufstellen, so aber doch Kategorien, in die sich die jeweiligen auslösenden Eigenschaften oder Ereignisse, also die Schamanlassquellen, einordnen lassen. Notwendigerweise orientieren sich diese Kategorien dabei an den grundlegenden Pfeilern dessen, was der Mensch ist: Körper, Geist, Gemeinschaftswesen. An dieser Narbe der menschlichen Wesensbestimmung entlang unterteilt dann auch Lietzmann zwischen Körperscham, psychischer Scham und sozialer Scham. Der Körper in »Beschaffenheit und Aussehen, insbesondere Auffälligkeiten und Abweichungen«48, in seinen Funktionen und Beschränktheiten begleitet den Menschen auf Schritt und Tritt als potentielle Schamanlassquelle. Die psychische Scham umkreist das Feld der Gefühle und Gedanken, der emotionalen Ausdrucksleistungen, aber auch der Charaktereigenschaften und -fehler, wie »etwa Feigheit, Falschheit oder eine Sucht.«49 Im Bereich der sozialen Scham dreht sich die peinigende Erkenntnis der eigenen Minderwertigkeit um Verstöße gegen gegebene Normen und die mannigfaltigen Faktoren des sozialen Standings, von Geschlecht über Alter und Gruppenzugehörigkeit bis hin zu Arbeitsstellung, finanziellem Background, rechtlichem Status etc.50 »Häufig gerät der Mensch gleichzeitig mit mehreren, auch sphärenüberschreitenden Aspekten seiner selbst in jene Differenz, die Scham verursacht.«51 Dieser Hinweis ist ebenso richtig, wie die Aufteilung und Rückführung der Schamanlässe auf konkrete Merkmale und Ereignisse aus der Sicht einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Scham berechtigt und sinnvoll ist. Dennoch sei an dieser Stelle nochmals auf die existenzielle Dimension des Schamgefühls hingewiesen. Für das sich schämende Subjekt ist der Anlass der Scham plötzlich alleiniger Nabel des Welt-SelbstVerhältnisses. Die in der Scham aufgeworfene Differenz ist nur denkbar vor dem Moment der totalen Identität mit der eigenen unleugbaren Seinshaftigkeit. Im akuten Schamgefühl löst sich das bisherige Selbst- und Weltverhältnis des Subjektes explosionsartig auf und eine korrigierte, affektiv-emotional garantierte Seinsgewissheit bricht hervor; ich bin eins mit der Verfehlung, derer ich mich als Ganzes schäme. Die globale Dimension des Schamgefühls stellt nicht dieses eine Merkmal oder dieses eine Ereignis zur Diskussion, sondern verschmilzt die entsprechende körperliche, psychische und/oder soziale Verfehlung in der Empfindung des Schamsubjektes mit seinem ganzen Wesen. Egal, in welcher der drei oben aufgeführten Kategorien die konkrete Schamquelle an-

48 49 50 51

Ebd. S. 27. Ebd. S. 28. Vgl. ebd. Ebd. S. 121 f.

Bedingungs- und Strukturanalyse

31

zusiedeln ist, das Schamgefühl greift den Menschen – analog zum Tod – immer in seiner ganzen Existenz an.

2.3

Zeitlicher Verlauf und körperlicher Ausdruck

Die Diskrepanz zwischen unbeteiligter wissenschaftlicher Beobachtung und emotional empfundener Wirklichkeit des Schamgefühls greift auch innerhalb der Beurteilung des zeitlichen Verlaufs der Schamempfindung. Das plötzliche und heftige Auftreten der Scham setzt in seiner emotionalen Aufgeladenheit nicht nur die Verfehlung absolut, sondern bremst auch die Empfindung des Augenblicks hin zu einem schmerzhaft empfundenen Bruch im Kontinuum. Die durch die Scham aufgeworfene Krise im Selbstbild und die offenkundig gewordene Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit stören zum einen die Integrität der Person und durchbrechen zum anderen den Verlauf der bisherigen Handlungs- und Verhaltensketten. Der Moment der Scham ist ein doppelter Bruchpunkt im Selbst- und Weltverhältnis des Ichs, verknotet in der Gleichsetzung von Person und Handlung. Diesem Unterbrechungs- und Krisencharakter trägt der körperliche Ausdruck des Schamempfindens dabei Rechnung. Als ein Affekt, der explizit das psychische Wesen des Menschen mit einbezieht, schlägt sich die Scham gerade dort innerhalb des Körpers nieder, wo unser geistiges Selbst seinen körperlichen Ausdruck findet: im Gesichts- und Ausdrucksfeld. Erröten, entgleitende Gesichtszüge, gestörte Gestik, verhindertes Sprechen, abgewandter oder gesenkter Blick, allgemein eine demütige Körperhaltung sind typische körperliche Ausdrucksweisen eines akuten Schamerlebnisses. Im Moment der Scham handelt das »Gefühl als agierendes Quasi-Subjekt«52 und reißt den Körper hinein in eine Kette un- oder nur schwer kontrollierbarer Ausdruckszeichen. In der Scham ist das Sein der Person in jeder ihrer Dimensionen problematisch geworden: Die psychische Konstitution steckt in einer tiefen Verwirrung, der soziale Status ist prekär geworden, der bisherige Handlungs- und Verhaltensverlauf stockt, die Kontrolle des Körpers entgleitet der Person und sie stürzt als Ganzes in den Abgrund der Scham. Gleichwohl holt die Gnade der Wirklichkeit das emotionale Erleben der Scham ein und bindet es in eine feste Zeitlichkeit. Scham überkommt einen überfallartig, ohne Vorankündigung und ohne daß man es unmittelbar verhindern könnte. […] Scham […] ist gekennzeichnet durch Plötzlichkeit, Heftigkeit und eine […] verhältnismäßig kurze Dauer.53

52 Landweer, H.: Differenzierungen im Begriff ›Scham‹. S. 287. 53 Ebd. S. 288.

32

Phänomenologie des Scham-Affekts

Neben der impulsiven Heftigkeit ist die Scham in Bezug auf den zeitlichen Charakter gerade durch ihre relative Kürze gekennzeichnet. Die relative Kürze der Schamempfindung steht nicht im Widerspruch zu ihrer Heftigkeit, sondern unterstützt sie durch ihren überfallartigen Habitus und die Unmöglichkeit, Gewöhnung aufkommen zu lassen. Eine wichtige Unterscheidung, die hier zu treffen ist, ist die zwischen Scham als akutem und zeitlich begrenztem Moment der Irritation sowie Schamhaftigkeit als vorgeschalteter psychischer Einstellung. Letztere ist eine vorgeschobene, strategische Charakter- oder Stimmungshaltung, die Erstere schon im Vorfeld zu vermeiden wünscht. »Während also Scham das Scheitern der personalen Einheit und eine Identitätskrise beinhaltet«, so Lietzmann, »wirkt in der Schamhaftigkeit diese Krise bereits drohend und löst eine Rückzugsbewegung […] aus, um Scham noch vor ihrer Entstehung zu verhindern.«54 Demmerling und Landweer pointieren diesbezüglich: Insbesondere der Schamhaftigkeit kommt im sozialen und psychischen Leben eine ganz wesentliche Funktion als Disposition zur Schamvermeidung zu. Eine Disposition zur Schamvermeidung liegt dann vor, wenn eine Person Verhaltensweisen, Einstellungen und Haltungen an den Tag legt, die darauf zielen, Scham und damit vor allem auch Situationen, die im Prinzip Scham erzeugen könnten, zu vermeiden.55

Scham und Schamhaftigkeit sind somit einerseits zu unterscheiden, allerdings ist andererseits Schamhaftigkeit als Disposition und soziales Verhaltensregulativ nur vor der Folie drohender Scham zu verstehen. Innerhalb ihres Auftretens als Krisenmoment eines in sich verwirrten Selbstund Weltverhältnisses und als handlungs- und verhaltensdurchbrechender Einspruch lässt sich der Scham eine motivierte Struktur zuweisen, die auf ihre eigene Überwindung abzielt. Ihr nach außen orientierter Charakter markiert für alle sichtbar den Moment einer Krise, ihre innere Geschichte ist die einer Reintegration. Als Unterbrechung und Bewusstwerdung stellt die Scham einen Augenblick des Innehaltens dar, der seine Krisenhaftigkeit aus dem in der Scham bewusst gewordenen und anerkannten Makel zieht. Das Ausklingen des Schamempfindens geht einher mit einer versöhnlichen Neujustierung des Ichs unter dem Zeichen einer bewusst bzw. öffentlich gewordenen Verfehlung. Wenn vorher von der existenziellen Dimension der Scham gesprochen und auf die Koppelung mit dem Tode hingewiesen wurde, so kann hier ein teleologischer Moment im Schamverlauf festgemacht werden. Der Weg durch die Scham führt zu einer Resurrektion des Ichs und gliedert das Subjekt wieder ein in den Lauf der Welt. Nicht das Im-Boden-Versinken- und Sterben-Wollen hat den Sieg 54 Lietzmann, A.: Theorie der Scham. S. 143 f. 55 Demmerling, C. und Landweer, H.: Philosophie der Gefühle. S. 242.

Die ›Familie der Schamgefühle‹

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davon getragen, sondern die profan-schnöde Wahrheit eines zeitlich organisierten Es-geht-immer-Weiter. Auch der in der Scham gefürchtete Gesichtsverlust glättet seinen Horror von dem Zeitpunkt an, von dem das Ich sich mit sich selbst ausgesöhnt hat und wieder zu einer widerspruchsfreien, kohärenten Identität im Kreuzungsbereich von Anspruch und Erscheinung gelangt. Der ›soziale Tod‹ entpuppt sich in diesem Fall nicht als Endstation der Existenz, sondern schlimmstenfalls lediglich als Wiedergeburt auf einer niedrigeren sozialen Stufe. Allerdings steht als Drohung weiterhin die Tatsache im Horizont, dass die Scham das Subjekt in ihrer Plötzlichkeit und Heftigkeit jederzeit neu zu überfallen vermag.

3.0

Die ›Familie der Schamgefühle‹

So wie Scham einerseits in ihren Anlassquellen variabel ist, so ist sie andererseits in ihrem Auftreten gnadenlos, so dass man sich ihr nicht entziehen kann. Die Zweiseitigkeit aus Variabilität und Kernbestimmung ermöglicht es, zum einen das Feld zu öffnen und auf das Verwandtschaftsverhältnis von Scham zu anderen emotional-reflexiven Phänomenen hinzuweisen, zum anderen die Scham in ihrer Bedeutung zu diesen abzugrenzen. Lietzmann trägt als schamverwandte Phänomene vor allem Schamhaftigkeit, Scheu, Schüchternheit, Schamangst, Verlegenheit und Peinlichkeit zusammen. Sie stützt sich hier vor allem auf die Untersuchungen zur Scham von L¦on Wurmser und Micha Hilgers. Hilgers geht davon aus, dass es eine Reihe von unterschiedlichen Affekten gibt, die sich zur Familie der Schamgefühle zählen lassen: Verlegenheit, Schüchternheit, Scham angesichts abbrechender Kompetenz, Abhängigkeitsscham, Intimitätsscham, Scham als ausgeschlossener Dritter (ödipale Scham), Scham gegenüber der Diskrepanz zwischen einem (Selbst-)Ideal und dem Istzustand. Schließlich entstehen Schamgefühle in Zusammenhang mit empfundener Schuldhaftigkeit, was sich oftmals unauflösbar zu einer Scham-Schuld-Spirale entwickelt, und Scham kann auch infolge von Demütigung und Erniedrigung auftreten.56 56 Hilgers, Micha: Scham. Gesichter eines Affekts. 3., überarbeitete Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. S. 15. Auch Mario Jacoby spricht in seiner psychoanalytischen Studie zur Scham explizit von einer ›Familie der Schamgefühle‹: »Scham hat sehr viele Varianten, es gibt eine ganze ›Familie‹ verwandter Schamaffekte. Dazu gehören zum Beispiel Gefühle der Minderwertigkeit oder des Gedemütigtseins, aber auch Schüchternheit, ›Hemmungen‹, Peinlichkeitsgefühle etc. Es ist dem Betroffenen nicht immer klar, daß diese Gefühle Varianten der Schamemotion sind.« (Jacoby, Mario: Scham-Angst und Selbstwertgefühl. Ihre Bedeutung in der Psychotherapie. Olten: Walter-Verlag 1991. S. 9) Gemeinsam ist fast allen psychoanalytisch orientierten Untersuchungen der Hinweis auf die Möglichkeit, dass andere Emotionen und Verhaltensweisen – von Angst über exhibitionis-

34

Phänomenologie des Scham-Affekts

Ebenfalls psychoanalytisch orientiert, aber auch geöffnet gegenüber Philosophie, Literatur und Alltag, ist die Untersuchung L¦on Wurmsers. Auch Wurmser geht von einer engen Verwandtschaft von Scham mit Gefühlen wie Verlegenheit, Schüchternheit, Scheu und Bescheidenheit aus, verweist darüber hinaus aber auch auf die Bedeutung des Schamgefühls für Momente der Demütigung, Verachtung und Kränkung.57 Für Wurmser steht fest, daß Scham in ihren typischen Grundzügen komplex und variabel ist, viel eher eine Palette von eng verwandten Affekten als ein simpler, klar abgegrenzter Affekt. Sie geht auf der einen Seite in Stimmungen und auf der anderen Seite in Charakterhaltungen über. Darüber hinaus ist klar, daß Angst einer ihrer Hauptanteile ist. Und doch ist Scham offensichtlich mehr als Angst und Angst mehr als Scham.58

Neben der engen Verwobenheit von Scham und Angst ist hier der Verweis auf die prinzipielle Nähe von akutem Affekt und Stimmung und Charakterhaltung bedeutend. In der Tat sind überfallartige Plötzlichkeit und emotionale Heftigkeit der akuten Scham als Reaktionsmuster kein Widerspruch zu vorgeschobenen Charakter- oder Stimmungshaltungen wie Scheu oder Verlegenheit bzw. Schamhaftigkeit. Dies sind unterschiedliche Ausformulierungen der gleichen Scham-Angst, entblößt und makelbeladen erkennbar zu sein. Vor diesem Hintergrund eines Verwandtschaftsbildes rund um die Scham fächert nun auch Lietzmann das Umfeld der Scham auf: In einem ersten Zugang können Schamhaftigkeit, Scheu, Schüchternheit und Schamangst als gegenüber der Scham qualitativ andere Phänomene vorgestellt werden, die innerhalb eines ›Vorfeldes‹ der Scham verortet werden müssen; Verlegenheit und Peinlichkeit hingegen stellen quantitativ schwächere Schamerlebnisse dar.59

Dabei versteht sie Schamhaftigkeit als einen Oberbegriff, unter dem Scheu, Schüchternheit und Schamangst zu gruppieren sind. Als Momente, Stimmungen oder Charaktereigenheiten sind sie der Scham vorangestellt und dienen wesentlich der strategischen Schamvermeidung. Als im Vorfeld der Scham geschaltete Modi unterscheiden sie sich von der Scham an sich, indem sich z. B. in ihnen zwar ein Unbehagen, aber noch kein Bruch im Selbstbild artikuliert. Darüber hinaus unterscheidet sie auch der zeitliche Verlauf, weil Schamhaftigkeit sich durchaus zu einem permanenten Charakterzug gestalten kann, während Scham als Affekt hingegen immer von kurzer Präsenz ist.60 Verlegenheit

57 58 59 60

tisches Verhalten bis zu plakativem Mutgebaren – oftmals nur Verschleierungen einer tiefer liegenden Scham sind. Vgl. Wurmser, L¦on: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. 3., erweiterte Auflage 1998. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag 1990. S. 25. Ebd. Lietzmann, A.: Theorie der Scham. S. 141. Vgl. ebd. S. 141 f.

Die ›Familie der Schamgefühle‹

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und Peinlichkeit sind die kleineren Schwestern der Scham und unterscheiden sich von dieser lediglich durch die Intensität und Häufigkeit ihres Auftretens, wobei Verlegenheit sich graduell am erträglichsten ausnimmt, während die seltenere konkrete Scham am intensivsten erlebt wird. Ebenso wie jene zeichnen sich Verlegenheit und Peinlichkeit durch ihren vorübergehenden Charakter aus und beziehen sich auf konkrete Anlässe und bedrohen das Ich mit einer Identitätskrise.61 Ausgehend von Ähnlichkeitsverhältnissen auf der Verlaufsstrukturebene lässt sich eine Kernverwandtschaft zu Peinlichkeit und Verlegenheit aufbauen. Eingebettet in den strategischen Haushalt des Gefühlsmanagements wiederum ist Scham ein zu vermeidendes Ziel, das schamhaftes, schüchternes und generell normangepasstes Verhalten provoziert. Darüber hinaus sind, wie mit Wurmser bereits angedeutet, Scham bzw. die Fähigkeit zur und die Bedrohung durch Scham entscheidend für Momente der Demütigung, Verachtung und Kränkung. Erweitert lässt sich sagen, dass Schamgefühle und schamverwandte Gefühle überall da eine wichtige Rolle spielen, wo Sozialverhältnisse entscheidend über emotionale Anteilnahme organisiert werden. Auch Scham und Schuld, Scham und Liebe, Scham und Ehre, Scham und Schamlosigkeit sind Verquickungsmomente von Weltorganisation und Ichbehauptung, in denen Scham mal als Scharnier, mal als Sanktionsdrohung, mal als Schutzmechanismus fungiert. Ihre strukturelle und inhaltliche Verknüpfungsoffenheit im Zusammenspiel mit ihrer breit gefächerten Funktionspalette macht Scham zu einer Emotion, die funktional das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft mitbestimmt.

61 Vgl. ebd. S. 146.

II. Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

Spricht man von Scham, dann spricht man auch vom Menschen. Entweder man versucht zu erklären, was er ist, wie er funktioniert, wie sich der Einzelne und die Gemeinschaft prinzipiell oder konkret-historisch über Gefühle organisieren. Oder man trägt Forderungen und Werturteile an ihn heran, steckt über das Reden von ›richtiger‹ oder ›falscher‹, von ›zu viel‹ oder ›zu wenig‹ Scham einen Bereich des Ethischen ab und spielt das Sein gegen das Sollen aus. Im Reden über die Scham kreuzt sich die Frage nach dem Menschen mit der Sphäre des Politischen. Jede Anthropologie ist vor allem historisch zu begreifen; indem sie über das ›Wesen des Menschen‹ Auskunft geben will, spricht sie doch in erster Linie über die Zeit, in der sie aufkam und populär wurde. Vor diesem Hintergrund setzt dieses Kapitel zu anthropologischen Selbstdeutungen innerhalb der klassischen europäischen Moderne mit einer Untersuchung von Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater ein. Anhand dieses Textes wird aufgezeigt, wie unter den sich verändernden politischen und gesellschaftlichen Bedingungen um 1800 ein neues Menschenbild sich durchzusetzen beginnt, welches als charakteristisch für die Epoche der Moderne angesehen werden kann. Daran schließen sich kritische Betrachtungen zu dem Verhältnis von Zivilisationsprozess und Schamentwicklung sowie Scham und Anthropologie an. In einer zweiten Literaturanalyse rückt der ›moderne Klassiker‹ Franz Kafka in den Blickpunkt. Seine Werke Brief an den Vater und Der Proceß werden auf grundlegende Befindlichkeiten einer modernen Selbst- und Weltdeutung hin untersucht. Diese Deutungsverhältnisse sind, wie in den anschließenden Kapiteln dargelegt, über die Kategorien des Sehens und der Sichtbarkeit konfiguriert. Blick und Sichtbarkeit schreiben in existenzieller Weise den Menschen als Gemeinschafts- und Kulturtier fest und machen ihn verfügbar. Vor dieser Folie wird in der abschließenden Analyse von Arthur Schnitzlers Novellen Fräulein Else und Traumnovelle aufgezeigt, dass Bürgerlichkeit in der Moderne ein Projekt der Domestikation von Triebbegehren und Internalisierung von Fremderwartungen ist. Die ›Moderne‹ als geistesgeschichtliche Epoche bzw. als Schlagwort einer neu

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

sich justierenden kulturgeschichtlichen Selbstverortung gehört der »letzten Phase der Periode an, die mit der Aufklärung begonnen hat – mit Kant als ihrem unbestreitbar philosophischen Kopf und der Französischen Revolution als ihrem politischen Ferment.«62 Vor dem Hintergrund der mit dem Stichwort ›Aufklärung‹ versehenen philosophischen Neudurchdringung der Welt mit einem erstarkten Subjekt in ihrem Zentrum breiten sich Vorstellungen von Mensch und Wirklichkeit aus, die zum ideologischen Fundament der Moderne werden und gleichzeitig von dieser auch wieder innerhalb ihrer geschichtlichen Entwicklung in Frage gestellt und dekonstruiert werden. Zentrale Momente dieses dialektischen Zirkels von Bestimmung und Verwerfung sind der Glaube an die Befreiung des Menschen hin zu einem mündigen Wesen dank der Kraft seines Verstandes, eine Entflechtung von Religion und Welt bei einer gleichzeitigen Mythologisierung der wissenschaftlichen Vernunft, das Aufstellen und wieder Negieren eines teleologischen Geschichtsbildes, die Technisierung und Maschinisierung der Lebenswelt und die philosophische Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Welt sowie die Aufwertung des Individuums bei zeitgleichem Aufstieg der Massen. Die Französische Revolution ist dabei erster Höhepunkt des gesamtgesellschaftlichen Aufklärungsrausches und doppelter historischer Umschlagspunkt zugleich. Als struktureller politischer Kipppunkt in der Binnenorganisation von Staaten – (theoretische) Einführung des Gleichheitsgrundsatzes, Demokratiebestrebungen, institutionelle Festigung der Säkularisierung, Bedeutungsverlust monarchistischer Strukturen – und Ausgangspunkt von politischen Umwälzungen auf europäischer Ebene – der Aufstieg und Niedergang Napoleons, die Koalitionskriege, die sich durchsetzende Idee souveräner Nationalstaaten – läutet sie ein Zeitalter ein, dass die Welt mit dem Doppelgesicht von Erfüllung und Schrecken nachhaltig prägt. Als Ausdruck und hoffnungsvoll aufgeladener Verwirklichungsmoment der humanistischen Ideale des 18. Jahrhunderts verfehlt die Französische Revolution schließlich ihre eigenen Ansprüche und zwingt in ihrem Zwitterwesen aus politischem Gelingen und moralischem Scheitern die Denker der Zeit dazu, die humanistisch-ideologischen Ideale von Mensch und Welt erneut auf ihren Wert hin abzuklopfen. Die Reaktionen auf diese aufgeworfene Notwendigkeit des Neu-Denkens sind dabei – auch und vor allem im symbiotischen Konglomerat von Philosophie und Kunst – höchst unterschiedlich. Angelehnt an das lebende Denkmal Goethe und in Gedenken an Schiller versucht eine weiterhin an der Klassik orientierte Kunst das Licht der Aufklärung gegenüber den Schattenseiten derselben – zumeist weniger revolutionär, dafür aber den Reformbewegungen eines aufgeklärten Absolutismus 62 Duque, Felix: Moderne/Postmoderne. In: Enzyklopädie Philosophie. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Bd. 1, A-N. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1999. S. 859 – 864. S. 859.

Literaturanalyse: Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater [1810]

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zugetan – weiterzutragen. Demgegenüber – Kunst und Politik stehen spätestens seit den Ereignissen des Jahres 1789 in unauflösbarer Verquickung zueinander und Literatur bildet nun ein »Medium der geschichtlichen Erfahrung«63, das zeigt, dass Revolutionen konkrete Möglichkeiten im Raum des Politischen sind – sind die Tendenzen des Jakobinismus und der Restauration als zwei weitere widerstreitende Strömungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu nennen. Die Romantik hingegen sucht ihren Weg der Sinngebung durch eine explizite Einbeziehung des Mystischen, Transzendentalen und des von des reinen Vernunft nicht zu Erfassenden. Begleitet wird diese zunehmende Zersplitterung der Kunst- und Geisteswelt – die sich erst in der Retrospektive klar fassen und kategorisieren lässt – von grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen. Die politische Neuaufteilung Europas, die sich herausbildende Möglichkeit zur Gründung moderner Nationalstaaten, die Anfangsjahre der anlaufenden Industrialisierung, das erwachende Selbstbewusstsein einer Ökonomie tragenden Bürgerschicht und weitere Umwälzungen im Makro- wie im Mikrobereich bilden dabei eine neue Welt, in deren Mitte der Begriff des Subjektes an Bedeutungsschwere gewinnt und an deren Seite sich die Idee einer autonomen, doch extrem reflexiven Kunst und eines ebenso gearteten Künstlers aufschwingt. Abseits der gängigen literarischen und geistesgeschichtlichen Strömungen jener Zeit ist Heinrich von Kleist als ein in der Zeit vorgerückter Sonderling zu betrachten, der bereits um 1800 vieles von dem in seine Kunst einbrachte, was erst einhundert Jahre später im Zuge einer literarischen Moderne im engeren Sinne Thema, Dreh- und Angelpunkt künstlerischer Wirklichkeitsreflexion sein sollte.

1.0

Literaturanalyse: Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater [1810] – Makel als Merkmal des Menschlichen

Heinrich von Kleists kurze Prosaschrift Über das Marionettentheater, zuerst erschienen in vier Fortsetzungen in seinen Berliner Abendblättern vom 12. bis zum 15. Dezember 1810, hat innerhalb der Kleistforschung einen zentralen Platz eingenommen. Kaum ein anderer literarischer Text von Kleist erlebte eine derartige Karriere. Gleichsam wie die Kritik zu Lebzeiten Heinrich von Kleist wenig Erfolg bescherte und ihm nicht die Anerkennung zollte, die ihm aus der Sicht heutiger Literaturgeschichtsschreibung nicht mehr abgesprochen werden 63 Stephan, Inge: Kunstepoche. Zwischen Revolution und Restauration. In: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 6, verbesserte und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar : Verlag J. B. Metzler 2001. S. 182 – 238. S. 184.

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

kann, begann auch die Forschung erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sich dem Marionettentheater-Text intensiver zu widmen. Fast einhundert Jahre lang stiefmütterlich geschmäht, avancierte Über das Marienettentheater im 20. Jahrhundert zu einem Text, an dem sich die Literaturwissenschaft in einer nahezu beispiellosen Interpretationswut abarbeitete, ohne dass der Eindruck entstanden wäre, diesen kurzen Text dabei erschöpft zu haben. Ausgehend von Hanna Hellmanns richtungweisendem Aufsatz aus dem Jahre 191164 etablierte sich Über das Marionettentheater als poetologischer Schlüsseltext der Moderne, der u. a. in seiner Thematisierung der Bewusstseinsproblematik eine ästhetischphilosophische Richtung einschlägt, die sich von der Philosophie und dem Menschenbild sowohl der ausgehenden Klassiker des späten 18. Jahrhunderts als auch der angehenden Romantiker des frühen 19. Jahrhunderts unterscheidet. Kleist – in der Literaturgeschichtsschreibung oftmals als ein aus den Literaturströmungen gefallener Sonderfall bestimmt65 – fungiert hier als ein um 100 Jahre vorgelagerter literarischer Meilenstein einer Moderne im engeren Sinne.66 Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie in diesem Text eine kritische Betrachtung des Menschen und seiner Möglichkeiten vorrangig und die anthropologische Grundfrage nach dem Menschen neu gestellt wird. Durch die Problematisierung des Themenfeldes der Grazie bricht Kleist mit einer der ästhetisch-ideologischen Debatten des 18. Jahrhunderts und verwirft den noch von Schiller gezeichneten Versöhnungshorizont von Geist und Sinnlichkeit in Anmut und Grazie. Stand gerade die Grazie als »Verknüpfung von Sinnlichkeit und Moralität«67 im Zentrum der humanistischen Ästhetikdebatten des vorigen 64 Hellmann, Hanna: Über das Marionettentheater. Teilabdruck dieses Aufsatzes in: Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Studien und Interpretationen. Hrsg. v. Helmut Sembdner. Jahresausgabe der Heinrich Kleist-Gellschaft 1965/66. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1967. S. 17 – 31. 65 Beispielhaft sei hier ein 2001 erschienener Sammelband erwähnt, der Kleist in Beziehung bzw. Abgrenzung zu den beiden großen literarischen Strömungen seiner Zeit setzt: Lubkoll, Christine und Oesterle, Günter (Hrsg.): Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2001. 66 Dementsprechend werden in der Forschung immer wieder Verbindungslinien von Kleist hin zu den klassischen Themen einer Moderne im engeren Sinne ab 1900 gezogen. An neueren Forschungsbeiträgen sind da u. a. zu nennen: Heimböckel Dieter : Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleists. Ein Beitrag zur literarischen Sprachskepsistradition der Moderne. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. HallerNevermann, Maria und Rehwinkel, Dieter (Hrsg.): Kleist – ein moderner Aufklärer? Göttingen: Wallstein 2005. Ebenfalls in diese Richtung stoßend, aber schon 1962 anlässlich des 150. Todestages Heinrich von Kleists veröffentlicht: Emerich, Wilhelm: Kleist und die moderne Literatur. In: Heinrich von Kleist. Vier Reden zu seinem Gedächtnis. Hrsg. v. Walter Müller-Seidel. 2. Auflage 1965. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1962. S. 9 – 25. 67 Greiner, Bernhard: Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum ›Fall‹ der Kunst. Tübingen und Basel: A. Francke Verlag 2000. S. 197.

Literaturanalyse: Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater [1810]

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Jahrhunderts, so verweist Kleist auf die Bruchlinien und wesensinhärenten Räume der Differenz im Menschen. Während für Schiller noch die Möglichkeit des ›reinen Menschen‹ im Sinne eines in sich ungebrochenen Menschen als zu erstrebendes Ideal besteht und er die ›schöne Seele‹ als Sinnbild des harmonischen Gleichklangs zwischen Geist und Affekt propagiert, brechen sich bei Kleist all die menschlichen Krisen der kommenden Moderne bereits ihre Bahn. Bei Kleist macht nicht ein natürlicher Adel den Menschen aus, wie noch Schiller in seinen ästhetisch-philosophischen Schriften in Bezug auf die Anmut herauszustellen sucht, sondern der Makel. So ist es in Über das Marionettentheater die Kombination aus einzelnen Episoden der Unzulänglichkeit – die mangelnde Grazie des Tänzers im Vergleich zur Marionette, der Jüngling in der scheiternden Dornauszieherpose, der Fechter angesichts des Bären – und dem biblischen Sündenfallmotiv, die dem Text die Dimension eines philosophischanthropologischen Traktats gibt. Im Rahmen dieser Untersuchung zur Bedeutung von Scham und deren literarischen Figuration soll an dieser Stelle aufgeführt werden, wie Kleists Über das Marionettentheater als Schlüsseltext für eine ›moderne‹ Bestimmung des Menschen gelesen werden kann. Vor dem Hintergrund der doppelten Modernität des Textes – historisch angesiedelt in der Geburtsstunde der Moderne und inhaltlich die neuaufgeworfene Frage nach dem Menschen in Abgrenzung zum Menschenbild der Klassiker stellend – wird der Text im Hinblick auf seine Relevanz in Bezug auf die Thematisierung des Themenkomplexes der Scham betrachtet. Es wird gezeigt, dass erst auf Grund des sich veränderten Selbstbildes des Menschen in der Moderne es möglich werden konnte, in dem Gefühl der Scham eine anthropologische Konstante zu sehen. Entscheidend ist hierbei der durch die historischen Erfahrungen forcierte Bruch mit dem idealistischen Menschenbild eines aufklärerischen Humanismus und die unter dem heraufziehenden Stern der Moderne neu einsetzende Bestimmung des Menschen von seiner Makelhaftigkeit her. Die beispielhafte Auffächerung des defizitären Charakters des Menschen im Dunstkreis postrevolutionärer Erfahrungen erfolgt innerhalb von Kleists Marionettentheater-Text zum einen durch den Rückbezug auf den biblischen Ursprungsmythos vom Sündenfall, zum anderen durch eine spielerische Auseinandersetzung mit dem gescheiterten Graziendiskurs. Das »am Beginn der Moderne um 1800 einsetzende Problem der ›verschwundenen Grazie‹«68 erhält mit dem Marionettentheater einen Agent Provocateur. Mit der Frage nach der Grazie problematisiert Kleist einen zentralen Begriff der anthropologisch gefärbten Ästhetikdebatten des aufklärerisch-verklärten 18. Jahrhunderts. Sich von Schillers idealistischem Begriff der ›schönen Seele‹ 68 Meyer-Sickendiek, Burkhard: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. S. 221.

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

verabschiedend, formuliert Kleist da eine unüberbrückbare Differenz, wo vorher das Streben nach Übereinstimmung und harmonischem Gleichklang stand. Konnte der Mensch Schillers noch hoffnungsvoll über die Sphäre der Grazie quasi spielerisch-intuitiv zu einer Übereinkunft von Affekt und Willen, Sinnlichkeit und Sittlichkeit gelangen,69 so wirkt Kleists Text »in den Kernthesen wie eine direkte Umkehrung Schillers«70. Kleist koppelt die Grazie antithetisch mit dem Bewusstsein und sieht sie nicht mehr als versöhnende Verknüpfung zwischen der Sphäre des Körperlichen und des Geistigen. Durch diese ausschließende Bezugnahme rückt Kleist als Kernbereich menschlicher Wesensbestimmung das Bewusstsein des Menschen als Ausdruck und Ursache eines problematisch gewordenen Selbstverhältnisses in den Fokus. So heißt es in Über das Marionettentheater von Seiten des Ich-Erzählers her, bevor er Herrn C. die Anekdote vom Jüngling erzählt: »Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnung, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet.«71 Der Mensch tritt hier in einer geschichtlich strukturierten Opposition zu sich selbst, indem dem einst ›natürlichen Menschen‹ mit seiner ›natürlichen Grazie‹ der Bewusstseins-Mensch der Gegenwart entgegengestellt wird. Dass es sich hierbei nicht um eine zeitgleiche Opposition – im Sinne eines Nebeneinanders der Möglichkeiten von ungebrochener Grazie oder selbstreflexivem Bewusstsein – handelt, wird durch Kleists Einführung des Sündenfallmotivs deutlich. Das Motiv des biblischen Sündenfalles aus dem dritten Kapitel des ersten Buch 69 So schreibt Schiller noch in den 1790ern in seinen ästhetischen Briefen: »Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist.« (Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8, Theoretische Schriften. Hrsg. v. Rolf-Peter Janz. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992. S. 556 – 676. S. 564) Des Weiteren heißt es in Über Anmut und Würde: »Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. […] In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung.« (Schiller, Friedrich: Über Anmut und Würde. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8, Theoretische Schriften. Hrsg. v. Rolf-Peter Janz. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992. S. 330 – 395. S. 370 f.) Für einen Vergleich Kleist/Schiller unter Berücksichtigung der Schamproblematik vergleiche auch: Benthien, Claudia: Tribunal der Blicke. Kulturtheorie von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800. Köln u. a.: Böhlau Verlag 2011. 70 Eybl, Franz M.: Kleist-Lektüren. Wien: Facultas Verlag und Buchhandel 2007. S. 263. 71 Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Helmut Sembdner. Bd. 2. 6., ergänzte und revidierte Auflage 1977. München: Carl Hanser Verlag 1952. S. 338 – 345. S. 343.

Literaturanalyse: Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater [1810]

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Moses – und damit verbunden das Motiv des Paradieses – ist ein wiederkehrendes im Œuvre Heinrich von Kleists. In Über das Marionettentheater werden der Sündenfall als »erste Periode aller menschlichen Bildung«72 und das erneute Essen vom Baum der Erkenntnis als »das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt«73 als Anfangs- und Endpunkte einer gattungsgeschichtlichen Reise skizziert und markieren den gemeinsamen Punkt eines zirkulären Geschichtsbildes. Innerhalb der im Marionettentheater-Text angelegten Verknüpfungslogik von Grazie und Selbstreflexion und angesichts dessen, dass die Grazie in »demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott«74, bedeutet das Paradies ein Zustand der reinen, bewusstlosen Anmut, der zum einen in mythischer Vergangenheit liegt, zum anderen eine ebenso mythische Zukunft bebildert. »Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.«75 L‚szlû F. Föld¦nyi stellt diesbezüglich in seinem ›Wörterbuch‹ zu Kleist fest: »Das Paradies bei Kleist: die zukünftige Vergangenheit.«76 Das Paradies als Zustand lässt sich mit der gängigen Logik der Zeit nicht vereinbaren, sondern driftet ab ins Un-Zeitgemäße des Mythischen und tritt somit in Opposition zu der realen Menschen-Welt mit ihrer Geschichtlichkeit. Diese mythische Un-Zeit jenseits konkreter menschlicher Möglichkeitshorizonte zeichnet sich durch einen Zustand der absoluten Unschuld aus; das erstmalige Essen vom Baum der Erkenntnis führt die konkrete Schuld ein in die Schöpfung Gottes durch einen Vertragsbruch von Adam mit Gott.77 Innerhalb des Kleist’schen Marionettentheater-Textes ist dies ein Zustand der ungebrochenen Anmut, jenseits von Ziererei und der vom Bewusstsein angerichteten Unordnung.78 Das Paradies ist weder eine ursprüngliche Heimat 72 73 74 75 76

Ebd. S. 343. Ebd. S. 345. Ebd.. Ebd. S. 342. Föld¦nyi, L‚szlû F.: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter. München: Matthes & Seitz Verlag 1999. S. 312. 77 Zur Ausdeutung des Sündenfallmotivs vgl. vor allem: Fuhrmann, Manfred: Zum Pachtvertrag Gott/Adam und zur eigenmächtigen Besitzentziehung wegen einer Vertragsverletzung (1. Mose, 2,8 – 3,24). Und: Marquard, Otto: Felix Culpa? – Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3. Beide zu finden in: Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch. Hrsg. v. Manfred Fuhrmann u. a. München: Wilhelm Fink Verlag 1981. 78 Bei Kleist findet hier also eine Verschiebung statt: Nicht der Vertragsbruch mit Gott und dessen Bestrafung ist hier der eigentliche Urgrund der menschlichen Leidens- und Entwicklungsgeschichte, sondern die einsetzende Erkenntnisfähigkeit beim zweifelhaften Genuss des verbotenen Apfels. Allgemein zum Motiv des Sündenfalls im Œuvre Kleists siehe: Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall. Hrsg. v. Gerhard Neumann. Frei-

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noch ein zu erreichendes neues Reich, sondern einzig eine Idee, ein Gedankenkonstrukt, das seinen ganzen Zweck darin erfüllt, durch das Aufbauen einer unüberbrückbaren Kluft die Bestimmung des Menschen und seiner Welt in Abgrenzung zu ermöglichen; was immer die Welt ist, sie ist nicht das Paradies. Föld¦nyi schreibt dazu: »Die paradiesische Unschuld läßt sich nicht mit der Welt vereinbaren. Zwischen beiden besteht kein Übergang; ein Bruch, ein Abgrund trennt sie voneinander.«79 Welt und Paradies schließen einander aus und gerade in dieser ausschließenden Bezugnahme, im Bruch, kommt die Welt zu sich selbst, zu ihrem Charakter der Makelhaftigkeit. Welt und Mensch berühren sich in der strukturellen Analogie, gerade aus ihren Beschädigungen und in Abgrenzung zu dem, was ohne Bruch und Widerspruch zu sich selbst ist, ihre Bestimmung zu schöpfen. Der Mensch mit einer ungebrochenen ›natürlichen‹ Grazie ist also der Mensch vor dem Sündenfall und somit vor dem Einsetzen der Geschichte. Der nur graziöse Mensch ist ein Mythos, der makelbeladene und sich selbst erkennende, in sich selbst gebrochene Mensch ist der Mensch der Geschichte. So hält Winfried Wehle in seiner Interpretation des Sündenfallmythos vor dem Erfahrungshorizont der Französischen Revolution und der einsetzenden Moderne fest: »Die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies erzählt im Grunde auch von der Pathogenesis menschlichen Selbstbewusstseins.«80 Die Folge aus der Vertreibung aus dem Paradies ist eine Dezentrierung, in der der Mensch erst zu sich selbst und zu Bewusstsein kommt. In Bezug auf den biblischen Sündenfall hält Wehle fest: Waren Adam und Eva vorher unbewußt glücklich – jetzt sind sie bewußt unglücklich. Diese Negativumkehr nötigt ihnen ein neues, nachparadiesisches Selbstverständnis auf. Sündenfall und Vertreibung versetzt sie in einen Zustand biblischer Entfremdung. Ein Begriff von sich entsteht ihnen daher grundlegend als Verlusterfahrung. Zwischen dem, was sie (jetzt) sind – unglücklich, bedürftig, außerhalb – und dem was sie waren (und wieder sein möchten), bleibt ihnen nurmehr Raum für eine Identität der Differenz.81

Carsten Zelle pointiert in Anlehnung an Wehle: »Der Sündenfall gibt mit Bewusstsein, Emanzipation und Autonomie zugleich Dezentrierung, Schmerz und Sterblichkeit.«82 Gerade in dem, was ihm abgeht, entdeckt sich der Mensch als

79 80 81 82

burg im Breisgau: Rombach Druck- und Verlagshaus 1994. Und: Seidlin, Oskar : Von erwachendem Bewußtsein und vom Sündenfall. Brentano, Schiller, Kleist, Goethe. Stuttgart: Klett-Cotta 1979. Föld¦nyi, L.: Heinrich von Kleist. S. 313. Wehle, W.: Kunst und Subjekt: Von der Geburt ästhetischer Anthropologie aus dem Leiden an Modernität – Nodier, Chateaubriand –. S. 902. Ebd. S. 903. Zelle, Carsten: Schrecken und Erhabenheit. Mündigkeit, Selbstgefühl und das aufgeklärte Subjekt am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den

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Mensch. Dermaßen gewendet wird der Verlust zur Chiffre menschlicher SelbstErkenntnis und der Makel zur anthropologischen Konstante. Hier ist der Punkt, in dem sich das ausgehende 18. Jahrhunderts im Mythos vom Sündenfall gespiegelt sieht. Ausgehend von der »›Nullpunkterfahrung‹ der Revolution«83 bricht ein neues Selbstverständnis des Menschen hervor, das versucht, dieser Erfahrung Rechnung zu tragen. »Das Bewusstsein eines Europäers ist reflexiv gebrochen. Ein nostalgischer Weg zurück ist ihm«, so Wehle, »verschlossen, wie es in Kleists ›Marionettentheater‹ ins Grundsätzliche gewendet wird.«84 An diesem Punkt setzt das spezifisch Neue und Moderne bei Kleist ein, das ihn von den Dichtern und Denkern des ausgehenden 18. Jahrhunderts unterscheidet und worin sich die literaturgeschichtliche Zäsur begründet, die Über das Marionettentheater darstellt. Kleist denkt den Menschen neu von einem Makel her und verortet sein Wesen im kritisch-reflexiven Blick des Selbst-Bewusstseins. Es ist dieser wesenseigene Bruch mit und in sich selbst, der den Menschen zum Menschen macht und ihn von allen anderen Kategorien des Seins unterscheidet. Beispielhaft festzumachen ist die im Verlust der Grazie. Burkhard Meyer-Sickendiek sieht im Kleist’schen Grazienverlust als Merkmal eines problematisch gewordenen Ich-Bewusstseins eine direkte Verbindung zum Phänomen der Scham: Dieser Verlust [der Grazie] ist das Resultat einer Ich-Blockade, die nach Kleist für den Menschen generell, aus unserer Hinsicht hingegen für die moderne Subjektivität grundlegend ist. Und sie läßt sich durch den von Norbert Elias theoretisierten Zivilisationsprozeß erklären, welcher nahe legt, daß der Affekt der Scham in seiner spezifisch neuzeitlichen Form die zentrale Voraussetzung für die Grazie wie deren Verlust ist.85

Kleist benutzte den Grazien-Diskurs seiner Zeit dazu, die verheerende Wirkung des menschlichen Selbst-Bewusstseins zu illustrieren. In der Tat lässt sich so, wie auch Meyer-Sickendiek es tut – auf Elias und seine Zivilisationstheorie wird noch eingegangen werden –, der Verlust der Grazie mit dem Aufkommen der Scham verbinden. Innerhalb des Marionettentheater-Textes lässt sich die vom Ich-Erzähler vorgetragene Anekdote des Jünglings als eine Schamsituation par excellence lesen: Ausgehend von der Wahrnehmung eines positiven Selbstbildes vor der Folie eines imaginierten Idealbildes bricht die Scham mit ihrer ganzen Kraft in die Episode ein, als der Ich-Erzähler durch seine »dazwischenfahrende Künsten. Hrsg. v. Klaus Herding und Bernhard Stumpfhaus. Berlin: Walter de Gruyter 2004. S. 400 – 418. S. 400. 83 Ebd. 84 Wehle, W.: Kunst und Subjekt: Von der Geburt ästhetischer Anthropologie aus dem Leiden an Modernität – Nodier, Chateaubriand –. S. 929. 85 Meyer-Sickendiek, B.: Affektpoetik. S. 221.

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Rede«86 die Harmonie des Bildes stört und mutwillig eine Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit herbeiredet bzw. zu Bewusstsein bringt. Entgegen besserem Wissen provoziert der Ich-Erzähler in dem Jüngling mit dem Ausspruch »er sähe wohl Geister!«87 einen Bruch in dessen Selbstwahrnehmung. Die darauf folgende Wahrnehmung der (herbeigeredeten) Diskrepanz im Bild des Ichs, einerseits das perfekte Abbild des Dornausziehers zu sein, andererseits es eben nicht zu sein, ist der zentrale Punkt des Hereinbrechens der Scham. Ausgehend von einer sozialen Situation des Sichtbarseins bricht durch eine öffentlich gewordene Verfehlung – die ausgesprochene, als falsch gebrandmarkte Selbstbezeugung des Jünglings – das brennende Unbehagen des Beschämtseins hervor. Begleitet von einem für die Schamsituation typischen Erröten des Jünglings wird der bisherige Fluss der Handlungen gestört; der Jüngling stellt nun den Fuß immer und immer wieder auf den Schemel, festigt somit sein Scheitern, stürzt in eine »von Scham verursachte[…] Verwirrung«88 und verschlimmert sein Auftreten ins Komisch-Groteske. Die Episode endet dabei überraschend radikal, indem sie schließlich zu einer grundlegenden Charakteränderung des Jünglings führt.89 Verlorene Grazie und Scham sind verbunden durch den Urgrund eines in die Krise geratenen Ichs. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung des Ins-Leere-Laufen der aufklärerischen Utopien skizziert Kleist ein ›modernes‹ Menschenbild, das diesem Erfahrungshorizont Rechnung trägt. In einer Umkehrung der bisherigen Denkrichtungen entdeckt er den offensichtlich makelhaften Charakter des Menschen – sowohl ontogenetisch den Einzelnen wie phylogenetisch die Gattung betreffend – als Urgrund der Wesens- und Identitätsbestimmung. Erst vor dem Hintergrund dieses historischen Wandels am Eingangstor der Moderne und in Ergänzung durch die Entdeckung der Bedeutung von Schamgefühlen für den Prozess der Zivilisation war es möglich, in dem 86 Greiner, Bernhard: Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants: Studien zu Goethe und Kleist. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1994. S. 151. 87 Kleist, H. v.: Über das Marionettentheater. S. 343. 88 Man, Paul de: Allegorien des Lesens. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1988. S. 220. 89 Normal verlaufende Schamsituation dauern in der Regel nicht besonders lange an und Normalität im Umgang miteinander stellt sich relativ schnell wieder ein, ohne dass sich dabei die Persönlichkeit des beschämten Individuums dauerhaft verändert. Dennoch gibt es die Möglichkeit, dass Schamsituationen, besonders bei Heranwachsenden und noch nicht charakterlich gefestigten Personen, sich mit ihren negativ erfahrenden Gefühlsbegleitungen tief in den psychischen Apparat einschreiben und tatsächlich eine dauerhafte Veränderung des Charakters herbeiführen können. In diesem Fall ist die Anekdote des Jünglings, in dem eine »unbegreifliche Veränderung« (Kleist, H. v.: Über das Marionettentheater, S. 344) nach dem Vorfall im Badehaus vorging und in dem, »als ein Jahr verflossen war, […] keine Spur mehr von der Lieblichkeit [seines früheren Charakters] […] zu entdecken« (ebd.) war, die Geschichte einer tiefgreifenden charakterlichen Neuausrichtung, ausgelöst durch eine Schamsituation.

Die Idee des Zivilisationsprozesses

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defizitären Gefühl der Scham ein wesentliches anthropologisches Merkmal zu finden.

2.0

Die Idee des Zivilisationsprozesses

Kleist reflektiert in Über das Marionettentheater die Situation des Menschen vor der Folie des biblischen Sündenfalls einerseits grundsätzlich, andererseits stehen historische Erfahrungen wie die Französische Revolution und allgemeine Modernisierungstendenzen Pate. Hinter den geschichtlichen Schwellenpunkt um 1800 zurückgehend, fragen auch wissenschaftliche Auseinandersetzungen nach dem Verhältnis von Mensch, Schambewusstsein und historischer Entwicklung. Gerade der Soziologe Norbert Elias und der Ethnologe Hans Peter Duerr bewerten diese Entwicklungslinien unterschiedlich, wie in den folgenden Kapiteln kritisch dargelegt wird.

2.1

Internalisierung und Disziplinierung

Die Diskussion um das Verhältnis von Schamgefühlen und Zivilisationsentwicklung ist gebunden an die Elias-Duerr-Auseinandersetzung und die Frage, ob es seit der frühen Neuzeit im Allgemeinen und im 20. Jahrhundert im Besonderen zu einem Vorrücken, oder im Gegenteil zu einem Absenken von Scham- und Peinlichkeitsschwellen kam. Die grundlegenden Positionen in Bezug auf das Zusammenspiel von Scham- und Peinlichkeitsgefühlen lassen sich dabei wie folgt skizzieren: Norbert Elias entwirft in seinem zweibändigen Hauptwerk Über den Prozeß der Zivilisation, erstveröffentlicht 1939, das Bild einer qualitativen Zivilisationsentwicklung, in der Scham- und Peinlichkeitsschwellen fundamental an Bedeutung für Selbst- und Gesellschaftsorganisation gewonnen haben. Seine These ist dabei, dass mit dem auslaufenden Mittelalter bzw. mit der einsetzenden Neuzeit des 16./17. Jahrhunderts ein gesellschaftlichkultureller Zivilisationsprozess der zunehmenden Arbeitsteilung und der Ausdifferenzierung gegenseitiger Abhängigkeiten einsetzt. Ein höherer Verflechtungsgrad der Individuen und Stände untereinander und sich verlängernde Interdependenzketten schreiben sich dabei notwendigerweise in den psychischen Haushalt der Individuen ein. Sowohl die technischen als auch gesellschaftlichen Entwicklungen fördern die Notwendigkeit einer langfristigen strategischen Weitsicht und verstärkte Trieb-, Affekt- und Ausdrucksregulierung. Die zunehmende gesellschaftliche Verflechtung geht mit einer erhöhten gegenseitigen Beobachtung und Selbstdisziplinierung einher, da die bestehenden Interdependenzen vom systemgerechten Funktionieren ihrer Einzelglieder

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

abhängen. Nach Elias zeichnet sich der abendländische Mensch folglich durch eine verstärkte Internalisierung von Fremdzwängen in Selbstzwänge innerhalb seines psychischen Apparates und einer zunehmenden Affektkontrolle aus. Innerhalb dieser Entwicklung bekommen Peinlichkeits- und Schamgefühle vermehrt einen regulativen Charakter und schreiben sich als gesellschaftlich und kulturell überformte Erwartungshaltungen direkt in den psychischen Haushalt der Individuen ein. Elias spricht dabei früheren Gesellschaften das Vorhandensein von Scham- und Peinlichkeitsgefühlen, gleichsam wie die Notwendigkeit eines gewissen Maßes an Affektkontrolle, nicht ab, geht aber von einem massiven Bedeutungsgewinn dieser Elemente menschlicher Selbst- und Gemeinschaftskontrolle aus. Für ihn ist die Geschichte der Moderne eine Geschichte der zunehmenden Befriedung des öffentlichen Raumes bei gleichzeitiger Dramatisierung der symbolischen Ordnung; die Furcht vor körperlicher Gewalt nimmt ab, während die Angst vor sozialer Degradierung an Bedeutung gewinnt. In Anlehnung an die psychoanalytische Theorie sieht Elias im Prozess der Zivilisation das Erstarken des Über-Ichs, das als entscheidende Kontrollinstanz regulativ an der Schwelle zwischen öffentlichem Benehmen und innerer Befindlichkeit – teils bewusst, teils unbewusst – agiert. Die zunehmende gesamtgesellschaftliche Verzahnung provoziert auf der Rückseite ihrer Funktionslogik aber wiederum ein System symbolischer Ausdifferenzierungen, das gesellschaftliche Machthierarchien bebildert, angreift oder zementiert. Zivilisationsprozess meint eben auch, daß sich mit der fortschreitenden Funktionsteilung und der stärkeren Integrierung der Menschen die großen Kontraste zwischen verschiedenen Schichten und Ländern verringern, während die Schattierungen, die Spielarten ihrer Modellierung im Rahmen der Zivilisation sich vergrößern.90

Damit einher geht eine vergrößerte Sensibilisierung für die Gesten der symbolischen Ordnung, was wiederum den Eingriff in diese Ordnung und ihre Störungen zu Akten möglicher Unlusterfahrungen werden lässt, die es zu vermeiden gilt. In diesem Zusammenhang versteht Elias Scham dann auch als »eine Art von Angst, die sich automatisch und gewohnheitsmäßig bei bestimmten Anlässen in dem Einzelnen reproduziert.«91 Es handelt sich dabei um eine »Angst vor der sozialen Degradierung, oder, allgemeiner gesagt, vor den Überlegenheitsgesten Anderer«92, wobei diese Angst gerade dadurch charakte90 Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft, Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1976. Reihe: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 159. S. 404. 91 Ebd. S. 397. 92 Ebd.

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risiert ist, »daß der Mensch, der die Unterlegenheit fürchten muß, diese Gefahr weder unmittelbar durch einen körperlichen Angriff, noch durch irgendeine andere Art des Angriffs abwehren kann.«93 Diese ›Wehrlosigkeit‹ in der Scham wird nach Elias dadurch gewährleistet, dass der Andere »sich in Einklang mit dem eigenen Über-Ich des Wehrlosen und Geängstigten befinde[t]«94, sodass eine Art Komplizenschaft entsteht. Es handelt sich also bei der Scham um einen Konflikt, der dadurch so lähmend und unabwehrbar ist, weil sich hier ein äußerer Konflikt unlöslich als ein innerer Konflikt im Individuum selbst manifestiert. Und während die Kontrolle des Affekthaushaltes immer noch ein Mindestmaß an aktiver, gewollter Beteiligung des Individuums bedarf, so erlebt sich das Individuum in der Scham als vollkommen passiv, ausgeliefert und funktional-determiniert. Aus diesem Grund sind für Norbert Elias zunehmende Schamkonfliktschwellen die am besten ausgebildeten Agenten eines fortschreitenden Zivilisationsprozesses. Hans Peter Duerr streitet in seiner fünfbändigen Auseinandersetzung Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, erschienen zwischen 1988 und 2002, die prinzipielle fundamentale Bedeutung von Scham und Peinlichkeitsschwellen für die Organisation menschlicher Gesellschaften nicht ab, sieht aber im Gegensatz zu Elias in modernen Gesellschaften kein Vorrücken von Scham- und Peinlichkeitsschwellen, sondern im Gegenteil ein Absinken von diesen. Für Duerr steht fest, dass Elias zum einen die Konsequenzen neuzeitlicher Modernisierungsprozesse falsch interpretiert, als auch zum anderen ein Zerrbild der traditionellen Gesellschaften [entwirft], das man nicht einmal mehr als Karikatur bezeichnen kann, weil es das Wesentliche dieser Gesellschaften nicht überzeichnet, sondern völlig unzutreffend darstellt.95

Duerr versucht Elias auf breiter Materialbasis zu widerlegen, indem er einerseits umfangreich ethnologische und soziologische Beobachtungen aus der Geschichte der Menschheit zusammenführt und indem er andererseits das von Elias vernachlässigte 20. Jahrhundert als Kronzeugen und psychoanalytisch ausgedeuteten Beweis für seine Gegenthese des Schamschwellenverfalls bemüht. Gleichsam ausgehend von einer verstärkten Verflechtung moderner Gesellschaften und sich verlängernder Interdependenzketten sieht Duerr im Gegensatz zu Elias in dieser Entwicklung nicht die Notwendigkeit, dass die Menschen zwangsläufig zum Funktionieren der Gesellschaft eines immer verfeinerten Umgangs untereinander bedürfen, sondern stellt dahingegen fest, dass der 93 Ebd. 94 Ebd. S. 398. 95 Duerr, Hans Peter : Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 4, Der erotische Leib. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997. S. 17.

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›moderne‹ Umgang der Menschen untereinander von steigender Anonymität und Unverbindlichkeit geprägt ist. Duerr schreibt einleitend: Dabei liegt es mir fern, zu bestreiten, daß einerseits eine Verlängerung von ›Interdependenzketten‹ Zurückhaltung und Triebverzicht begünstigt. Es mit vielen anderen Personen zu tun zu haben bedeutet auf der anderen Seite jedoch auch eine Unverbindlichkeit und damit eine Verhaltensfreiheit, die sich in einer Senkung von Schamund Peinlichkeitsschwellen bemerkbar machen kann, wie sie in unserer Gesellschaft im 20. Jahrhundert zu beobachten ist.96

Duerr spricht dabei der westlichen Zivilisationsentwicklung des letzten Jahrtausends – im Gegensatz zu Elias – eine »allgemeine Evolution der Gesinnung hin zu stärkerer Triebkontrolle und ›Affektmodellierung‹«97 ab. Vielmehr versucht er darzulegen, dass auch die vermeintlich ›weniger zivilisierten‹ vormodernen Gesellschaften stark auf Triebkontrolle und Internalisierung von Fremdin Selbstzwänge angewiesen sind. Gerade weil innerhalb dieser Gesellschaften die konkrete soziale Mit-Welt relativ klein und überschaubar ist – Familie, Dorf, Stamm – und die sozialen Interdependenzketten relativ kurz gehalten sind, ist der Einzelne stark der strengen sozialen Kontrolle ausgeliefert und kann nicht, wie zum Beispiel im ›Dschungel‹ der modernen Großstadt möglich, ein anonymisiertes liederliches Leben innerhalb einer unüberschaubar gewordenen Masse fristen.98 Neben der wachsenden Anonymität in modernen Gesellschaften macht Duerr darüber hinaus für die anwachsende ›Schamlosigkeit‹ westlicher Gesellschaften den vor allem im 20. Jahrhundert um sich greifenden Hedonismus der Konsumgesellschaft in Kombination mit einer verstärkten Verschmelzung von öffentlicher und privater Sphäre verantwortlich. Die ›Modernität‹ der gegenwärtigen westlichen Gesellschaften zeichnet sich dadurch aus, dass die »unpersönlichen Beziehungen zwischen den Menschen die Vorherrschaft über die persönlichen errungen haben.«99 Auch sieht Duerr in den ver96 Duerr, Hans Peter : Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 1, Nacktheit und Scham. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1988. S. 11. 97 Duerr, Hans Peter : Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 2, Intimität. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1990. S. 7. 98 Auch Katja Gvozdeva und Hans Rudolf Velten betonen in ihrer Untersuchung zu Scham und Schamlosigkeit in der Vormoderne im Sinne Duerrs die besondere Bedeutung der eher engmaschigen sozialen Situation: »Denn die vormoderne Gesellschaft ist durch eine hohe Dichte der interaktionalen Kontakte und der gegenseitigen Wahrnehmung geprägt. […] Diese face-to-face-Kommunikation ist durch einen hohen Ritualisierungsgrad gekennzeichnet. Dies hat zur Folge, dass Mittelalter und Frühe Neuzeit Epochen sind, in welchen moralische Normen deutlicher als später ›eingefleischt‹ und in menschliche Interaktionszusammenhänge eingebunden waren.« (Gvozdeva, Katja und Velten, Hans Rudolf: Einleitung. In: Scham und Schamlosigkeit. Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne. Hrsg. v. dens. Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2011. S. 1 – 24. S. 11 f.) 99 Duerr, H. P.: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 4, Der erotische Leib. S. 13.

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längerten Interdependenzketten moderner Gesellschaften »im psychologischen Sinne eine Ent- und keine Verflechtung der Individuen.«100 Den soziozentrischen Gemeinschaften vormoderner Gesellschaften stellt er das Bild einer hedonistisch ausgerichteten Gesellschaft von egozentrischen Individuen entgegen, die gemäß der Ideologie des Warenaustausches ihre fragmentierten Interaktionen weniger persönlich-emotional als vielmehr ökonomisch-rational betrachten. Infolgedessen verhalten sich nach Duerr die Menschen heute eher schamloser als schamvoller im Vergleich zu vormodernen Gesellschaften. Die von Duerr herausgestellte Schamlosigkeit spielt letztlich aber nur soweit eine Rolle, insofern das anscheinend so schamresistente Individuum vom Schutzmantel seiner Anonymität umgeben ist bzw. sich seine sozialen Beziehungen auf gesichtslose Geschäftsverhältnisse begrenzen, innerhalb derer die Gegenposition jederzeit neu besetzt werden kann. Doch sind auch in der modernen Welt nach wie vor der Großteil der sozialen Bindungen keine anämischen Handelsabkommen, sondern reflexive Zweck- und Wahlgemeinschaften mit komplizierten und tief greifenden Codes und sozialen Verhaltensregeln, die die eigentlichen Beziehungen der Menschen jenseits von Markt und Zahlungsquittungen tragen und prägen. Duerr korrigiert Elias und überzeugt in seinen Ausdeutungen also vor allem da, wo er die Schere zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften schließt und vorführt, dass Affektkontrolle und Schamkonflikte für jede menschliche Gemeinschaft bedeutend sind. Was sich historisch verschiebt, sind die schamsituationsrelevanten sozialen Koordinaten von Geboten, Verboten, Anlassquellen und Zeugenschaft.

2.2

Informalisierung und Individualisierung

Eine der zentralen Thesen bei Duerr ist, dass in den Modernisierungsprozessen die Interdependenzketten zwar quantitativ länger werden, aber qualitativ an persönlichen Verbindlichkeiten abnehmen: Gewiß ist heute der einzelne mit mehr Menschen verbunden als ehedem, aber die Interaktionspartner sind nicht so sehr ›Gesamtpersönlichkeiten‹, sondern eher ›Personfragmente‹, weshalb das, was man von den anderen weiß, auch viel fragmentarischer bleibt. Dies bedeutet aber wiederum, daß Normverstöße und Fehlverhalten im allgemeinen konsequenzenloser bleiben: Der Betreffende verliert nicht das Gesicht, sondern eines seiner Gesichter.101

100 Ebd. S. 15. 101 Duerr, Hans Peter : Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 3, Obszönität und Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1993. S. 28.

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

Die Feststellung einer zunehmenden Fragmentierung und Rollenhaftigkeit im menschlichen Miteinander als Merkmal der Moderne ist Commonsense. Die Vermehrung der zwischenmenschlichen Kontakte in der basalen Alltagsorganisation und die zunehmende Menschendichte in der urbanen Kultur führen dazu, dass das konkrete Wissen voneinander lückenhaft und erst mal oberflächlich bleibt. Demgegenüber ist aber festzuhalten, dass die Codes des Verhaltens diesem Umstand Rechnung tragen und Modifikationen im Verlauf von Modernisierungsprozessen erfahren. Das konkrete Nicht-Wissen voneinander wird konterkariert durch eine Erweiterung der (technischen) Möglichkeiten und Diskurse, die den Menschen zur Verfügung stehen, um in einen persönlicheren Kontakt zu treten. Gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lockerte sich diesbezüglich der Umgang, wobei die Möglichkeit dazu neigt, schnell in eine Forderung umzuschlagen. Die Aufforderung, sich in einem breiterem Spektrum als bisher und auch gegenüber relativ Fremden zu offenbaren, ergibt innerhalb eines psychologisch ausgedeuteten Zivilisationsprozesses insofern Sinn, da auf diese Weise ebenfalls eine gegenseitige Sensibilisierung und Rücksichtnahme der Individuen eingefordert wird. Der Mangel an konkretem Wissen und persönlicher Bindung im modernen Umgang miteinander wird mit dadurch kompensiert, dass auf der Grundlage eines allgemeinen VerstehenKönnens die Teilnehmer zu einer prinzipiell erhöhten Sensibilität aufgefordert sind, während Aggressionen zumeist in zugewiesenen Räumen – körperlich in den Sportarenen und virtuell durch Stellvertreterfiguren innerhalb der elektronischen Unterhaltungsmedien – abgeleitet werden. Diese Entwicklungslinie des Zivilisationsprozesses zeichnet Cas Wouters in seiner Auseinandersetzung und Weiterführung Elias’ nach. In seiner mit Informalisierung betitelten Arbeit aus dem Jahr 1999 geht es ihm um »auffällige Veränderungen der westlichen Umgangsformen im 20. Jahrhundert: Die Menschen gehen lockerer miteinander um und sprechen entspannter über ihre Gefühle.«102 Wouters nennt diese Entwicklung innerhalb des Zivilisationsprozesses hin zu mehr Offen- und Entspanntheit ›Informalisierung‹: Das bedeutet, daß allerhand Gefühle und Verhaltensweisen, die in früheren Jahrhunderten nach und nach durch eine immer straffere Zwangsjacke aus Vorschriften und Etikette blockiert worden waren, im Laufe dieses Jahrhunderts aus ihren drückenden Fesseln erlöst wurden.103

In einer spiralartigen Wechselbeziehung von Formalisierung und Informalisierung, von Lockerung der Umgangsformen und konservativem Backlash verortet Wouters die emanzipatorischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts und 102 Wouters, Cas: Informalisierung. Norbert Elias’ Zivilisationstheorie und Zivilisationsprozesse im 20. Jahrhundert. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999. S. 9. 103 Ebd.

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führt kritisch Elias’ Zivilisationstheorie fort. Explizit geht er dabei auf das Verhältnis von gesellschaftspolitischen Machtstrukturen und dem Regime der herrschenden Umgangsformen ein und führt auf, wie Veränderungen des alltäglichen Verhaltens mit Veränderungen von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen korrespondieren. Wouters geht davon aus, dass es gemessen an den demokratischen und emanzipatorischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts zu einer Abgleichung im Machtgefälle kam, welches sich wiederum im Verhalten der Menschen niederschlug. Zum einen forcierte die Abgleichung des Machtgefälles und Angleichung der Menschen unter der Ideologie der Demokratie untereinander eine Bewegung der prinzipiellen Solidarisierung und Identifizierung miteinander. Zum anderen verschärfte es den Wunsch nach Individualisierung und provoziert eine gesteigerte Nuancierung in der symbolischen Ordnung: Zugleich nahm der Zwang, sich dennoch zu unterscheiden, in dem Maße zu, wie die sozialen Gegensätze geringer wurden, und dieser Zwang und dieser Wunsch, sich als Individuum und als Gruppe zu profilieren, brachte eine weitere Differenzierung von Verhalten und Gefühlsleben in Gang, in Richtung einer größeren Sensibilität für kleine Nuancen in Verhalten und Gemüt sowie einer Verbreitung von Verhaltensalternativen und -spielarten. Zusammengenommen handelt es sich um eine Verringerung der Kontraste und eine Vergrößerung der Spielarten.104

Ähnlich wie Elias stellt Wouters einer faktischen Abnahme einer körperlichen Existenzbedrohung eine Zunahme der Bedeutung der Ordnung des Symbolischen gegenüber, die gerade auch wieder auf Scham- und Peinlichkeitsmechanismen beruht. Folglich definiert Wouters Scham analog zu Elias als eine Art Furcht, als minderwertig zu gelten, die die Menschen überfällt, wenn sie sich bei einer Absicht oder Handlung ertappt fühlen von Menschen, mit denen sie auf die eine oder andere Weise verbunden sind.105

Wieder wird Scham verstanden als eine »Angst vor sozialer Degradierung«106, die sich erst auf dem Fundament einer prinzipiellen empathischen Identifikation mit einem Anderen realisieren kann, die allerdings fernab einer bewussten Steuerbarkeit funktioniert. Des Weiteren geht Informalisierung für Wouters einher mit einer »stärkere[n] Bewusstmachung des ›Unbewussten‹«107, sie ist also gekennzeichnet durch einen Wissenszuwachs im Hinblick auf Affekte und Triebmechanismen. Der Mensch gewinnt insofern an Souveränität, da er die ihm zugrunde liegenden Mechanismen der Triebstruktur verstehen und zumindest zum Teil bewusst subli104 105 106 107

Ebd. S. 23. Ebd. S. 23 f. Ebd. S. 24. Ebd. S. 21.

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

mieren kann. Dies bedeutet zugleich auf diskursiver Ebene einen offeneren Umgang mit ›gefährlichen‹ oder ›negativen‹ Gefühlen, fordert auf der Handlungsebene aber eine stärkere und bewusste Kontrolle dieser Elemente ein. Innerhalb der Doppelbewegung von ›Verringerung der Kontraste‹ und ›Vergrößerung der Spielarten‹ löst sich das Paradox auf, dass trotz erweitertem Diskusraum, Lockerung der Umgangsformen und Bewusstwerdung der eigenen menschlichen Triebstruktur die Gesellschaft nach wie vor durchströmt und überformt von (potentiellen) Schamsituationen ist. Eine allgemeine Offenheit im Umgang miteinander und zugleich steigende Anforderungen an die Gefühlskontrolle bedingen eine zunehmende Sensibilisierung. Die Beobachtung, in einer relativ offenen Gesellschaft zu leben, widerspricht dem nicht zwingend, sondern verweist lediglich nur auf eine Seite des westlichen Modernisierungsprozesses seit der Mitte des 20. Jahrhunderts.108 Mit ein Grund, warum gegenwärtig z. T. von einer ›schamlosen‹ Gesellschaft gesprochen wird, findet sich darin, dass plakative öffentliche Mechanismen der Ächtung von Fehlverhalten im Benehmen zunehmend an Bedeutung verlieren. Auch diese Entwicklung geht einher mit einer Verschiebung der Kontrollfunktion weg von der Gesellschaft hin zum Einzelnen. Für Duerr steht fest, dass es im Prozeß der Modernisierung der Gesellschaft seit langem die Tendenz [gibt], der Öffentlichkeit immer mehr die Aufgabe der Verhaltensregulierung und -modellierung zu entziehen und diese zur Privatangelegenheit der Familien und letzten Endes der Individuen selber zu machen.109

Dem trägt auch Hans Peter Dreitzel Rechnung, wenn er darauf hinweist, dass das, was Elias für Dreitzel eher missverständlich als ›Zivilisationsprozess‹ betitelte, vor allem als ein anhaltender ›Individualisierungsprozess‹ zu verstehen ist. Individualisierungsprozess verweist in diesem Zusammenhang auf die schon von Duerr und Elias nachgezeichnete zunehmende Verantwortungsverschiebung weg von Gesellschaft und Gruppen hin zum Individuum, meint vor allem 108 Auch Axel T. Paul attestiert der Gegenwart eine ambivalente Entwicklung, »die sowohl durch einen Gestaltwandel der Scham als auch durch ein Absinken der Scham- und Peinlichkeitsstandards gekennzeichnet ist«. (Paul, Axel T.: Die Gewalt der Scham. Elias, Duerr und das Problem der Historizität menschlicher Gefühle. In: Bauks, Michaela und Meyer, Martin F.: Zur Kulturgeschichte der Scham. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2011. Reihe: Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 9. S. 195 – 216. S. 211) Paul sieht hierfür einerseits die zunehmende Aufteilung der Persönlichkeiten in multiple Rollenfragmente verantwortlich, andererseits aber auch eine zunehmende öffentliche Tabuisierung von Scham, was sich wiederum negativ auf den Umgang mit dieser Emotion – Paul koppelt hier Scham und Gewalt – auswirkt; »Man könnte vielleicht sogar sagen, die Schamanlässe nehmen zu, während sowohl die Fähigkeit, Scham zu empfinden, wie auch die Möglichkeit, sie loszuwerden, verkümmern.« (ebd. S. 213) 109 Duerr, Hans Peter : Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 5, Die Tatsachen des Lebens. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2002. S. 48.

Die Idee des Zivilisationsprozesses

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aber auch einen zunehmenden reflexiven Gebrauch der eigenen Sinnlichkeit. Dreitzel weist in der Verzahnung der Entwicklung der merkantilen-kapitalistischen Gesellschaft und des modernen Staates drei wesentliche Phasen der Gesellschaftsorganisation nach, in denen es zuerst zu einer Vervielfältigung und Verstärkung äußerlicher Verhaltensvorschriften [kommt]; danach folgt eine Verinnerlichung äußerer Zwänge, so daß ein starkes ›ÜberIch‹ entsteht, und schließlich werden die äußeren Verhaltensstandards in einem Prozeß der Informalisierung unserer Umgangsformen gelockert, der aber nicht im gleichen Maße für den Ausdruck der Gefühle wirksam ist. Stattdessen ist die neue Phase durch die wie eine Schere auseinanderlaufenden, immer widersprüchlicher werdenden Prozesse der Informalisierung der alltäglichen Umgangsformen und der Unterkühlung der emotionalen Ausdrucksweisen gekennzeichnet.110

Gerade in der letzten, gegenwärtig vorherrschenden Phase etabliert sich wieder das Paradox, dass eine Lockerung der Umgangsformen mit einer zunehmenden Nuancierung und Reglementierung der Verhaltensweisen d’accord geht. Dreitzel beschreibt die Situation wie folgt: So zeigt die Zivilisation der reichen westlichen Gesellschaften mit ihrer weltweiten kulturellen Hegemonie ein zwiespältiges, ja janusköpfiges Bild; einerseits sind die Umgangsformen viel freier und formloser geworden, andererseits ist der ungehemmte Ausdruck von Gefühlen weitgehend auf die Privatsphäre und die Medienproduktion beschränkt; einerseits werden wir zu nüchterner, sachlicher Betrachtungsweise erzogen, andererseits sind intensive emotionale Bindungen zwischen Einzelpersonen von Kindheit an die Regel; einerseits sind strikte hygienische Körperkontrolle, hohe körperliche Leistungsfähigkeit, also Jugendlichkeit und Gesundheit, heute hohe kulturelle Werte, andererseits suchen immer mehr Menschen nach ganzheitlichen sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten, die mit einer Maximierung der körperlichen Leistungsfähigkeit nichts zu tun haben; einerseits nehmen wir durch unseren Lebensstil tiefe und bedrohliche Eingriffe in die Selbstregulierung der Natur in Kauf, andererseits waren ›Natur‹ und ›Natürlichkeit‹ unserer selbst und unserer Umwelt noch nie so hohe Werte wie in der Kultur unserer Gegenwart.111

Die entscheidende Hypothese Dreitzels ist nun, daß das gegenwärtige Stadium des Zivilisationsprozesses am besten als das Entstehen eines reflexiven Naturverhältnisses begriffen werden kann. Was an der heutigen Kultur neu ist, ist der reflexive Gebrauch des Körpers, der Gefühle, der äußeren Natur und, allgemeiner, der realitätskonstruierenden Tätigkeiten in Interaktionen. Und damit ist beides gemeint, eine reflektierende Haltung, die bewußt die Qualität, die Intensität und paradoxerweise sogar den Grad der Spontaneität im Ausdruck körperlicher und 110 Dreitzel, Hans Peter : Reflexive Sinnlichkeit. Mensch – Umwelt – Gestalttherapie. Köln: Edition Humanistische Psychologie 1992. S. 165. 111 Ebd. S. 16.

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

emotionaler Bedürfnisse wählt, wie auch die eigene Selbstreflexivität solcher Ausdrucksformen.112

So wie alle drei der oben genannten Mechanismen der Gesellschaftsorganisation – äußere Verhaltensvorschriften, Verinnerlichung äußerer Zwänge und Lockerung der Umgangsformen bei gleichzeitiger Unterkühlung der emotionalen Ausdrucksweisen – für Dreitzel in »unserer Gesellschaft gleichzeitig wirksam [sind], wenn auch die Bedeutung der ersten Phase stark abgenommen hat und das Gewicht der dritten nun ständig zunimmt«113, so ist auch ein gewisses Maß an kritischer Reflexivität jeder modernen Gesellschaftsstufe inhärent, wobei diese Reflexivität durch die Etablierung der neuen Menschenwissenschaften wie Psychoanalyse, Soziologie und philosophische Anthropologie eine neue Qualität gewann. Die von Dreitzel beobachtete ›neue‹ reflexive Sinnlichkeit – er nennt hier als Beispiele u. a. die Verbreitung neuartiger Psychotherapiekonzepte, geänderte Einstellungen gegenüber Nacktheit und Sexualität, den Bedeutungsgewinn ökologischer Bewegungen, das Interesse an esoterischen Erfahrungen114 – ist Index dafür, wie sehr sich ein reflexiver Umgang der Menschen mit sich selbst und ihrer sie umgebenden Umwelt in den Alltag eingegraben hat. Dieses hohe Maß an reflexiver Wahrnehmung und reflexivem Verhalten bedingt dabei sowohl eine sinnliche Apparatur, die geschult in ihrem Gebrauch befähigt ist, immer feiner Differenzierungen und Wertungen wahr- und vorzunehmen, als auch eine Psyche, die fein gespannt auf jede Regung anspringt. Einerseits besteht die Forderung nach einem nüchternen und unterkühlten Umgang untereinander, andererseits ist gerade die gegenwärtige Gesellschaft stark von Schamkonflikten aller Art überformt und bestimmt. Es bleibt also festzuhalten, dass Schamkonflikte kein explizites Vorrecht für moderne oder vormoderne Gesellschaftsformen sind, sondern dass sie zum einen – wie Duerr schlüssig zeigt – schon immer in einem hohen Maße auch für vormoderne Gesellschaften grundlegend sind. Zum anderen aber – hier widerlegen Informalisierungs- und Individualisierungsthese Duerrs Position – sind auch moderne Gesellschaften tiefgreifend über Schamver- und -gebote reglementiert. Die Beobachtung, dass es augenscheinlich vermehrt ›schamlose‹ Verhaltensweisen in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften gibt, ist einerseits den neuen Umgangscodes geschuldet, andererseits der Verschiebung des Erziehungsauftrags hin zum Individuum, aber auch der heterogenen Struktur moderner Gesellschaften selbst. Dies sollte aber nicht zu dem Trugschluss führen, Schamkonflikte würden grundlegend an Bedeutung verlieren. Dazu Micha Hilgers: 112 Ebd. S. 30. 113 Ebd. S. 165. 114 Vgl. ebd. S. 30 f.

Zwei anthropologische Herleitungen der Scham

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Infolge von Individualisierung und Globalisierung werden die Verschiedenheiten in den schambewehrten Normen und Idealen künftig noch zunehmen. Dabei wird es für den Einzelnen zunehmend komplizierter, Werte und Schamgrenzen seiner Mitmenschen korrekt einzuschätzen, weil Mitglieder sehr unterschiedlicher Kulturen und Religionsgemeinschaften zusammenleben und innerhalb der jeweiligen Gruppen wiederum erhebliche, von Bildung, Schicht oder politischer Weltanschauung abhängige Differenzen bestehen.115

Was gegenwärtige Gesellschaften also auszeichnet, ist nicht die Abnahme von Schamkonflikten, sondern die Potenzierung von Schammöglichkeiten und ›schamlosem‹ Verhalten durch die Überschneidungen und Konflikte vieler verschiedener Schamnormen. Was zur Disposition steht, sind die Koordinaten der Scham – ihre Anlassquellen, ihre Orte und Zeiten, die Frage nach der Qualität der Zeugenschaft –, nicht die Tatsache, dass sie nach wie vor als gesellschaftsmodellierendes Regulativ wirksam ist.

3.0

Zwei anthropologische Herleitungen der Scham

Wenn Scham grundlegend für jede Gesellschaftsform ist und gänzlich schamfreie Gemeinschaften nur im paradiesisch-mythischen Jenseits empirischer Wirklichkeit zu verorten sind, so ist die Möglichkeit zum Schamgefühl eine anthropologische Konstante. »Eine Untersuchung der Scham«, wie Lietzmann treffend schreibt, »ist […] zugleich eine Untersuchung des Menschen.«116 Die Frage nach der Scham erschöpft sich dabei nicht in der Beschreibung und Ausdeutung historisch zu verortender Konkretisierungen des Beziehungsgeflechts von Individuum, Gesellschaft und Schamgefühl. Vielmehr eröffnet eine anthropologisch verstandene Untersuchung der Scham einen Horizont, der nach den ahistorischen Grundlagenbedingungen des Schamgefühls fragt, nach dem, was epochen- und gesellschaftsformunabhängig an das ›Wesen‹ des Menschen gekoppelt ist. Die Frage, was dem Menschen ›wesentlich‹ ist, ist dabei weder rein biologistisch feststellbar, noch als ethische Handlungsanweisung misszuverstehen. Die Frage nach dem Wesen des Menschen zielt auf einen ahistorischen Horizont, die Antwort hingegen bewegt sich permanent auf der Ebene des Historischen, gestützt auf Wissenschaft, Commonsense und Tradition. Die Antwort erhält sowohl von ihrem historischen wie auch von ihrem selbstreflexiven Charakter etwas Unabschließbares.

115 Hilgers, M.: Scham. S. 318 f. 116 Lietzmann, A.: Theorie der Scham. S. 16.

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

Alle Anthropologie von Belang endet zunächst bei einer Fehlanzeige: Der Mensch ist nicht definierbar […], und es ist ›gut‹, daß er nicht definierbar ist. Der Mensch ist exzentrisch, statt zentriert; er ist künstlich von Natur; er ist sich selbst und den anderen eine offene Frage, die keine geschlossene, definitive Antwort finden kann.117

Die Bestimmung des ›Wesens‹ des Menschen bewegt sich folglich im doppelten Raum einer konkreten Bestimmung und einer auf der Metaebene angesiedelten Unbestimmbarkeit, gleichsam wie sich der einzelne Mensch aus einem Pool an Potenzen bestimmt. Hierbei hält in Bezug auf die Gefühle Christina Pernlochner-Kügler in ihrer Arbeit zu Körperscham und Ekel fest: Dass ein Gefühl wesentlich ist, heißt, dass es zwar genetisch fixiert sein kann, dass es aber nicht genetisch fixiert sein muss. Auch wenn die Ursache eines Gefühls zu einem Großteil in der Auseinandersetzung mit der Umwelt zu finden ist, wie dies beim Schamgefühl der Fall ist, kann das Gefühl wesentlich sein. ›Wesentlich‹ bedeutet nicht ›angeboren‹, sondern ›notwendig‹ (oder ›substanziell‹), und notwendig kann auch etwas sein, das erlernt wird.118

Dem Versuch, Scham als ›wesentlich‹ vom Menschen her zu denken, stehen dabei zwei Herleitungswege offen. Zum einen kann von der Seite des Körpers her argumentiert werden, dass Scham wesentlich im Triebhaushalt verankert ist und somit Teil unserer biologischen Natur. Zum anderen kann versucht werden, über die geistige Konstitution des Menschen aufzuzeigen, wie die prinzipielle Möglichkeit einer reflexiven Selbst- und Weltwahrnehmung existenziell mit der Potenz zur Scham aufgeladen und der Mensch gerade in der Scham dazu befähigt ist, sein Menschsein zu erfahren. Ersterer Argumentationsstrang schlägt den Weg über eine Bestimmung der Nackt- und Genitalscham ein, letzterer über das kritische Selbst- und Umweltbewusstsein. Die grundlegende Herleitung des Schamgefühls aus der spezifischen Wesenhaftigkeit des Menschen schält dabei grundsätzliche strukturelle Gleichheiten heraus, überdeckt aber nicht die Tatsache, dass das Ahistorische sich stets historisch niederschlägt, d. h. im konkreten Auftritt immer variabel und kulturell überformbar ist.

117 Kamper, Dietmar : Mensch. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. v. Christoph Wulf. Weinheim, Basel: Beltz Verlag 1997. S. 85 – 91. S. 85 f. Kamper, der die endgültige Undefinierbarkeit u. a. von Plessner ableitet, verortet sich dabei selbst explizit historisch. Für Kamper geht die Beantwortung der Frage nach dem Menschen weg von der Idee eines rationalen Tieres (›animal rationale‹) hin zu einer phantasiebegabten, selbstreflexiven Maschine (›deus qua machina‹). Sein Aufsatz endet mit einem Verweis auf Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater, wo die prinzipielle Nähe von Maschine bzw. Marionette und Gott bereits vorweggedacht wurde. 118 Pernlochner-Kügler, Christine: Körperscham und Ekel – wesentlich menschliche Gefühle. Münster : LIT Verlag 2004. S. 18.

Zwei anthropologische Herleitungen der Scham

3.1

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Genital- und Nacktscham

An den Theorien Sigmund Freuds lässt sich zeigen, wie aus einer historischpsychoanalytischen Sichtweise heraus Nackt- und Genitalscham als anthropologische Konstanten festgeschrieben werden. Im Kontext der Triebtheorie ist diese ›Urform‹ der Scham wesentlich gekoppelt an Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit. Der ›Schambereich‹ als Ort am Körper bezeichnet die primären Geschlechtsorgane, die empfundene Nackt- und Genitalscham greift ein in den libidinösen Triebhaushalt. So versteht Freud »Scham, Ekel, Mitleid und die sozialen Konstruktionen der Moral und Autorität«119 vor allem als Hemmschwellen, die den Sexualtrieb in die gewünschten ›gesunden‹ Bahnen lenken sollen. In Bezug auf die kindliche Entwicklung des Einzelnen hält er fest: Das kleine Kind ist vor allem schamlos und zeigt in gewissen frühen Jahren ein unzweideutiges Vergnügen an der Entblößung seines Körpers mit besonderer Hervorhebung der Geschlechtsteile. Das Gegenstück dieser als pervers geltenden Neigung, die Neugierde, Genitalien anderer Personen zu sehen, wird wahrscheinlich erst in etwas späteren Kinderjahren offenkundig, wenn das Hindernis des Schamgefühls bereits eine gewisse Entwicklung erreicht hat.120

Auch auf der Ebene der phylogenetischen Entwicklung des Menschen setzt Freud an entscheidender Stelle die Genitalscham als triebregulierendes Moment. Für Freud steht am »Beginn des verhängnisvollen Kulturprozesses […] die Aufrichtung des Menschen.«121 Dabei ist es diese Aufrichtung hin zur Zweibeinigkeit, die die »bisher gedeckten Genitalien sichtbar und schutzbedürftig macht und so das Schämen hervorruft.«122 Genitalscham stellt also sowohl in Bezug auf die Menschheit als auch auf die Entwicklung des Einzelnen nach Freud einen Moment erster Regulation des Sexualtriebes dar, auf dessen Fundament sich dann die Geschichte der weiteren Sozialisation abspielt. Trotz dieser prominenten Stellung der Scham am Tor der Entwicklung bleibt allerdings festzustellen, dass es bei Freud zu seiner bemerkenswerten Überkreuzbewegung im Hinblick auf die Scham kommt. Zum einen ist es ein Verdienst Freuds, den Begriff der Sexualität von der Genitalität und Fortpflanzung entkoppelt und ihn in einen umfassenderen, nach Lust strebenden Libido-Trieb aufgelöst zu haben. Zum anderen fasst er Scham aber hauptsächlich in jenem engeren, genitalfi119 Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 5, Werke aus den Jahren 1904 – 1905. 7. Auflage 1991. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1942. S 27 – 145. S. 132. 120 Ebd. S. 92 f. 121 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, In: Ders. Gesammelte Werke. Bd. 14, Werke aus den Jahren 1925 – 1931. 7. Auflage 1991. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1942. S. 421 – 506. S. 459. 122 Ebd.

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

xierten Sinne. Allgemein sind im Zentrum der Psychoanalyse Freuds angesichts des Zwiespaltes zwischen Triebbefriedigung und auferlegten Verhaltensvorschriften nicht Scham-, sondern Schuldgefühle als antreibende Macht der Wirklichkeitsgestaltung fokussiert. Auch modernere Untersuchungen greifen diese Ausgangshypothese einer ursprünglichen Nackt- und Genitalscham auf. So steht auch für PernlochnerKügler fest, dass, gemäß der grundlegenden Bedeutung der Nackt- und Genitalscham für die Entwicklung des Menschen, jedes Schamgefühl auf dem Urgrund der Körperscham aufbaut und dass, egal in welcher Gesellschaft, der »Genitalbereich […] immer mit Schamgefühlen besetzt [ist].«123 PernlochnerKügler geht davon aus, dass die Fähigkeit zur Scham im Menschen angelegt ist, so wie die Fähigkeit zu Gehen und die Sexualität, und dass die Entwicklung von Schamgefühlen – wie das Gehen und die Sexualität – ein Reifungsprozess ist.124

In Analogie zu Sprachfähigkeit und -erwerb spezifiziert sie weiter : »Auch die Fähigkeit zur Sprache ist uns angeboren, bedarf aber eines sprechenden Umfeldes, um entwickelt werden zu können. Ebenso sehe ich die Anlage und Entwicklung der Scham.«125 Vor dem Hintergrund der prinzipiellen Schamfähigkeit und auf dem Fundament einer konkreten, sich in der Kindheit entwickelten Körper- und Genitalscham entwickeln sich also die moralischen Schamvorstellungen, die von Kultur- zu Kulturraum unterschiedlich ausfallen können und die sich in den Individuen verschieden stark in ihrem Reifegrad verankern. So hält auch Hans Peter Duerr, der sich in seinem zweiten Band von Der Mythos vom Zivilisationsprozeß der weiblichen Genitalscham widmet, fest, daß die menschliche Körperscham, ungeachtet kultureller und historischer Unterschiede der ›Schwellenhöhe‹ nicht kulturspezifisch, sondern charakteristisch für die menschliche Lebensform überhaupt zu sein scheint […].126

Die Genital- und Nacktscham wird so, ausgehend von der Triebtheorie, in einigen der modernen Schamtheorien anthropologisch gewendet und triebregulierend verstanden. Die weiteren historischen, moralspezifischen und sozialen Ausdifferenzierungen von Scham stellen in dieser Sichtweise sekundäre Entwicklungen einer primären Genitalscham dar.

123 124 125 126

Pernlochner-Kügler, C.: Körperscham und Ekel – wesentlich menschliche Gefühle. S. 137. Ebd. S. 138. Ebd. Duerr, H. P.: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 2, Intimität. S. 8.

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3.2

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Selbstverhältnis und Seinsgewissheit

Ein weiterer Argumentationsstrang zur anthropologischen Verankerung der Scham stellt nicht den Menschen als wesentlich körperliches und triebstrukturiertes Wesen in den Mittelpunkt, sondern markiert als zentrales Moment die Fähigkeit zur reflexiven Selbst- und Weltbezugnahme. Scham, ebenfalls leiblich verankert, wird hier zu einem Moment affektiv-emotionaler Seinsbezogenheit, wie es sich beispielhaft u. a. bei Helmuth Plessner, Emmanuel Levinas, Primo Levi und Giorgo Agamben festmachen lässt. Grundlage dieser subjektbleibenden Selbstobjektivierung des Menschen ist das, was Helmuth Plessner in seiner philosophischen Anthropologie ›exzentrische Positionalität‹ nennt. Plessner situiert den Menschen in einer Doppelrolle: »Der Mensch ist immer zugleich Leib […] und hat diesen Leib als diesen Körper.«127 Zum einen fällt der Mensch mit seinem Leib (»Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allem, was drin ist«128) zusammen, zum anderen hat er ein objektivierendes Bewusstsein seiner Leiblichkeit als Körper. Darum ist das körperleibliche Dasein für den Menschen ein Verhältnis, in sich nicht eindeutig, sondern doppeldeutig, ein Verhältnis zwischen sich und sich (wenn man es genau sagen will: zwischen ihm und sich).129

Auch das Tier hat Leib, den es instrumentalisiert und zielgerichtet als Körper in seiner gegebenen Umwelt einbringt, doch was ihm abgeht, ist die volle Reflexivität eines nach außen gelagerten objektivierenden Blickes auf sich und sein Handeln. In Die Stufen des Organischen und der Mensch schreibt Plessner : Es[, das Tier,] erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und Eigenes, es vermag auch über den eigenen Leib Herrschaft zu gewinnen, es bildet ein auf es selber rückbezügliches System, ein Sich, aber es erlebt nicht – sich.130

Das Tier ist für Plessner ein auf sich bezogener Gesamtkörper, aber »der Gesamtkörper ist noch nicht total reflexiv geworden.«131 Was den Menschen vom Tier wesentlich unterscheidet, ist der Grad an selbstreflexivem Abgleich des eigenen Handelns und Seins. »Die Schranke der tierischen Organisation liegt darin, daß dem Individuum sein selber Sein verborgen ist, weil es nicht in 127 Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7, Ausdruck und menschliche Natur. Hrsg. v. Günter Dux u. a. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1982. S. 201 – 387. S. 238. 128 Ebd. 129 Ebd. S. 239. 130 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Hrsg. v. Günter Dux u. a. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1981. S. 360. 131 Ebd. S. 306.

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Beziehung zur positionalen Mitte steht[…].«132 Das Tier ist die Mitte, aber es hat sie nicht. Im Gegensatz zum menschlichen ist der tierische Organismus zentrisch und frontal seiner Umwelt gegenüber organisiert. Der Mensch hingegen ist sich selbst gegenüber immer »selber ein Stück Außenwelt, irgendwo in einem Zimmer oder auf der Straße.«133 Der Bruch mit sich selbst und die Fähigkeit, sich von sich abzuheben und doch stets mit sich identisch zu bleiben, wird in dieser Anthropologie zur entscheidenden Qualität, die den Menschen von den anderen Kategorien des Seins unterscheidet: »Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch.«134 Der entscheidende Punkt ist hier, dass die exzentrische Blickposition die Zentrierung des Menschen im Körperleib nicht aufhebt, sondern als unauflöslich verschränkt darstellt. Plessner verdeutlicht wie folgt: Ich gehe mit meinem Bewußtsein spazieren, der Leib ist sein Träger, von dessen jeweiligem Standort der Ausschnitt und die Perspektive des Bewußtseins abhängen; und ich gehe in meinem Bewußtsein spazieren, und der eigene Leib mit seinen Standortveränderungen erscheint als Inhalt seiner Sphäre.135

Durch die unauflösliche Verschränkung und Abhängigkeit von Körper, Wahrnehmung und Bewusstsein entgeht Plessner zum einen der Gefahr einer dualistisch-antagonistischen Ausdifferenzierung des Menschen in Körper und Geist, zum anderen verhindert er eine rein materialistische Menschenbestimmung, die alles am Menschen als Körper nimmt. Plessner gelingt es, Körperlichkeit und geistige Verfasstheit als eigene Kategorien nicht nur zu erhalten, sondern ihren Konflikt für eine Bestimmung des Menschen noch fruchtbar zu machen: Ihm[, dem Menschen,] ist der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und als Körper 132 Ebd. S. 360. 133 Plessner, H.: Lachen und Weinen. S. 240. 134 Plessner, H.: Die Stufen des Organischen und der Mensch. S. 364. In Anlehnung an Kleists Über das Marionettentheater schreibt Plessner an anderer Stelle: »Mit der Entdeckung seiner selbst, diesem Über-sich-selbst-hinaus-Sein, dieser fatalen pr¦sence — soi hat der Mensch seine Freiheit gewonnen und die ungebrochene Sicherheit seiner Animalität verloren. Zwischen Natur und Gott, zwischen dem, was kein Selbst ist, und dem, was ganz Selbst ist, steht der Mensch, der sein Selbst sich präsentiert. Er besitzt weder die ungehemmte Präzision der Marionette bzw. die Instinktsicherheit des Tieres noch die vollkommene Ursprünglichkeit unfehlbarer Verwirklichung.« (Plessner, Helmuth: Zur Anthropologie des Schauspielers. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7, Ausdruck und menschliche Natur. Hrsg. v. Günter Dux u. a. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1982. S. 399 – 418. S. 416) 135 Plessner, H.: Lachen und Weinen. S. 240.

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und als die psycho-physisch neutrale Einheit dieser Sphären. Die Einheit überdeckt jedoch nicht den Doppelaspekt, sie läßt ihn nicht aus sich hervorgehen, sie ist nicht das den Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären überleitet, sie bildet keine selbstständige Sphäre. Sie ist der Bruch, der Hiatus, das leere Hindurch der Vermittlung, die für den Lebendigen selber dem absoluten Doppelcharakter und Doppelaspekt von Körperleib und Seele gleichkommt, in der er ihn erlebt.136

Weiter heißt es: Positional liegt ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person.137

Plessners Anthropologie – wieder wird der Mensch ›modern‹ von einem Bruch, vom Makel einer gestörten Ganzheit her gedacht – zeigt die Möglichkeit auf, den Körper nicht bloß als Maschine und den Menschen lediglich als Körper (oder eben als nur Geist oder Seele) zu betrachten, sondern den Körper mit dem Begriff des menschlichen Individuums als Person zu verschränken. Der Körper wird als Träger der Person aufgewertet, zugleich wird als entscheidendes Moment des Menschseins die reflexive Bezugnahme auf sich selbst betont. In dieser Verschränkung von faktisch-körperlichem Selbstsein und geistig-reflexivem Blick auf sich selbst sind sowohl Mensch als auch Scham anthropologisch begründbar. Eine zentrale Auseinandersetzung, die die Scham existenzphilosophisch für das Seinsverhältnis des Menschen aufarbeitet, findet sich in Emmanuel Levinas Ausweg aus dem Sein. Levinas, der es durch seinen Rückgriff auf die Tradition der jüdischen Talmudexegese vermochte, der philosophischen Phänomenologie des 20. Jahrhunderts eine ethische Wende zu geben, in deren Mittelpunkt nicht das Subjekt und seine Möglichkeiten stehen, sondern die Tatsache des Anderen als eine Aufforderung zur Infragestellung des eigenen Selbst-Seins, skizziert in dieser Schrift die Scham als Erfahrung einer problematisch gewordenen Seinsfülle. In dieser Schrift aus seinem Frühwerk – Erstveröffentlichung 1935 – beschäftigt sich Levinas in der Tradition der abendländischen Philosophiegeschichte mit dem Grundkonflikt zwischen menschlicher Freiheit und der Unerbittlichkeit des Seins. Der Ausgangspunkt ist, wie Alexander Chucholowski in seiner Einleitung zu Ausweg aus dem Sein festhält, »die unerträgliche Gleichgültigkeit des Seins gegenüber dem Seienden[…].«138 Die Gebundenheit des Menschen als ein Seiendes an ein Sein, das sich einem souveränen Zugriff verweigert und dem Menschen in seiner Körperlichkeit und Zeitlichkeit die 136 Plessner, H.: Die Stufen des Organischen und der Mensch. S. 365. 137 Ebd. 138 Chucholowski, Alexander: Einleitung. In: Levinas, Emmanuel: Ausweg aus dem Sein. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2005. S. VI – XXII. S. X.

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Schmach einer Kontingenz aufzwingt, die einer Determination gleichkommt, konterkariert auf schmerzvolle Weise die Idee eines freiheitlichen, souveränen Individuums. Die Unmöglichkeit, sich selbst zu entgehen, und die Tatsache, als ein Seiendes unauflöslich an sein Sein gekettet zu sein, konstituieren ein Dasein, das nur im Modus des ›Weltschmerzes‹ sich selbst zu Bewusstsein kommt. Levinas schreibt: Es ist kein Leichtes, eine Auflistung aller Situationen des modernen Lebens zu geben, in denen er[, der Weltschmerz,] sich manifestiert. Diese Situationen entstehen in einer Epoche, die das Leben eines jeden erfaßt und in der niemand die Macht hat, sich selbst zu entgehen. Nicht mehr das Individuum, das sich noch nicht gehört, wird von der unnachvollziehbaren Verkettung der universalen Ordnung ergriffen, sondern eine autonome Person, die sich, auf dem festen Boden, den sie erobert hat, in jeder Bedeutung dieses Begriffs mobilisierbar fühlt. In Frage gestellt kommt es zu dem quälenden Bewußtsein der letzten Realität, deren Opfer von ihr verlangt wird. Die zeitliche Existenz nimmt den unsagbaren Geschmack des Absoluten an.139

Der Mensch der Moderne ist in seiner Bestimmung zurückgeworfen auf sich selbst. Zum einen nimmt sich die Bestimmung des Menschen aus sich selbst heraus aus wie eine Befreiung von maroden und nicht mehr haltbaren Menscherklärungsmodellen; die Religion versagte, als das christliche Heilsversprechen sich korrumpierte und zu einer Frage feudaler Machtaufteilung erstarrte, und der Idealismus der Aufklärung starb zuerst unter dem Fallbeil der Guillotine und wurde dann immer und immer wieder auf den Schlachtfeldern Europas begraben. Zum anderen öffnet sich auf der Rückseite der Befreiung die Falle einer Determination, die der Mensch nicht wie einen Gott oder ein Werteoptimum von sich werfen kann. Der Zuwachs an Wissen über sich selbst geht so einher mit der wachsenden Erkenntnis, sich selbst nicht verfügbar sein. Direkt im Anschluss an das obige Zitat heißt es weiter : Die elementare Wahrheit, daß es Sein überhaupt gibt – Sein, das kostet und lastet –, enthüllt sich in einer Tiefe, die ihre Unerbittlichkeit und ihren Ernst beweist. Das harmlose Spiel des Lebens büßt seinen Spielcharakter ein. Nicht, weil die Leiden, die es bedrohen, das Leben unangenehm werden lassen, sondern weil die Unmöglichkeit, diese Leiden zu unterbrechen, und das quälende Gefühl des Angekettet-Seins den Grund dieser Leiden bilden. […] Was also in dieser ganzen Erfahrung des Seins zählt, ist nicht die Entdeckung eines neuen Charakters unserer Existenz, sondern ihre Faktizität selbst. Die Entdeckung der Unwiderrufbarkeit unserer Präsenz.140

Diesem Leiden, dessen Urgrund die Identität mit dem eigenen Sein ist, setzt Levinas ein Bedürfnis nach Evasion entgegen. Das Bedürfnis nach Evasion ist die 139 Levinas, Emmanuel: Ausweg aus dem Sein. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2005. S. 9. 140 Ebd. S. 9 f.

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Sehnsucht nach einem Ausgang aus dem Leiden am Sein. Levinas schreibt wie folgt: Diese Kategorie des ›Ausgangs‹ gilt es in seiner ganzen Reinheit zu erfassen, die weder in der Kategorie der Erneuerung noch in derjenigen der Schöpfung aufgeht. Es handelt sich um ein unnachahmliches Thema, das uns vorschlägt, aus dem Sein herauszutreten. Bei dieser Suche nach dem Ausgang handelt es sich keinesfalls um eine Nostalgie des Todes, denn der Tod ist weder ein Ausweg noch eine Lösung. Den Grundton dieses Themas bildet ein Bedürfnis – man möge diesen Neologismus nachsehen – nach Exzendenz. Dem Bedürfnis nach Evasion erscheint das Sein nicht nur als Hindernis, das ein freies Denken zu überwinden hätte, noch als Starrheit, die zur Routine einlädt und nach einer Anstrengung der Originalität verlangt, sondern als Gefängnis, dem es zu entkommen gilt.141

Die ›Exzendenz‹ als ein Heraustreten trachtet nicht nach einem versöhnlichen Ausgleich mit dem Sein, sondern nach einem Durchbrechen des Zusammenfalls von Sein und Seiendem. Was sich im Bedürfnis der Evasion also ausdrückt, ist nicht eine Mangelhaftigkeit des Seins, sondern vielmehr eine Überfülle an Seinsanwesenheit. Ein Bedürfnis, das sich nicht in Befriedung entleert, wandelt sich in leidvolles Unwohlsein. Dabei tritt das Unwohlsein »als Weigerung zu verbleiben auf, als Anstrengung, aus einer unerträglichen Lage einen Ausweg zu finden.«142 Das Bedürfnis strebt folglich nach Erlösung und wendet sich in diesem Streben, so Levinas, Gegenständen außerhalb des Selbst zu und sucht Kompensation in der Lust.143 Die Lust – und gesteigerter noch die Ekstase – bieten sich an, scheinbar das Versprechen der Evasion einzulösen, doch brechen sie im Umschlagpunkt ihrer Erfüllung als Ersatzhandlungen in sich zusammen und werfen den Menschen zurück auf den Boden seiner Seinshaftigkeit.

141 Ebd. S. 15. 142 Ebd. S. 27. 143 Der Bedürfnis-Begriff, wie ihn Levinas hier verwendet, wendet sich zum einen gegen die übliche Lesart, auf einen Mangel zu verweisen. »Es scheint also, daß nicht ein Mangel an Sein, sondern im Gegenteil die Seinsfülle die Grundlage des Bedürfnisses bildet. Das Bedürfnis zielt nicht auf die völlige Erfüllung des endlichen Wesens, die Befriedigung, sondern auf die Erlösung und die Evasion.« (ebd. S. 55) Zum anderen gilt es, diesen frühen Bedürfnis-Begriff gegen seinen späteren Gebrauch bei Levinas abzugrenzen. In seiner Auseinandersetzung mit dem ›Anderen‹ bezeichnet Bedürfnis dort ein egoistisches Streben: »Das Bedürfnis ist die Rückkehr selbst, die Angst des Ich um sich, die ursprüngliche Form der Identifikation, die wir Egoismus genannt haben. Das Bedürfnis ist die Angleichung der Welt mit dem Ziel der Koinzidenz mit sich selbst oder des Glückes.« (Levinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg, München: Verlag Karl Alber 1983. S. 218) Dort wird dem Bedürfnis das Begehren entgegengesetzt, welches nicht egoistisch und in seiner Bewegung rückbezüglich ist, sondern sich ganz auf den Anderen hin ausrichtet.

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

Sie[, die Lust,] enttäuscht nicht durch die Rolle, die sie im Leben spielt, noch durch ihre zerstörerische Wirkungen oder ihre moralische Unwürdigkeit, sondern durch ihr inneres Werden.

Zwar passt sie sich den Erwartungen des Bedürfnisses an, doch sie ist unfähig, deren Ausmaß zu genügen, und im Augenblick der Enttäuschung, der eigentlich der ihres Triumphes sein sollte, unterstreicht die Scham den Sinn ihrer Niederlage.144 Hier kommt es zu einem interessanten neuen Aspekt bei Levinas. Levinas beschränkt die Scham nicht auf den Bereich moralischer Phänomene – die Scham, schlecht gehandelt oder sich von der Norm entfernt zu haben –, sondern gliedert dieses in den übergeordneten Kontext des Überhaupt-Seins ein. Levinas streicht heraus, dass die Scham nicht, wie man meinen könnte, von der Begrenztheit unseres Seins ab[hängt], insofern es für Sünde empfänglich ist, sondern vom Sein unseres Wesens selbst, von seiner Unfähigkeit, mit sich selbst zu brechen. Die Scham gründet auf der Solidarität unseres Seins mit sich selbst, die uns verpflichtet, die Verantwortung für uns selbst zu fordern.145

Eine Analyse der Scham, die Scham lediglich im Kontext von Handlungsmomenten situiert (was auch unterlassende Handlungen mit einschließt), greift zu kurz. Der ›Sinn‹ der Scham erschöpft sich für Levinas nicht in ihrer moralischen oder sozialen Dimension, ein schlechtes Bild abgegeben zu haben, sondern verweist viel mehr auf die Unmöglichkeit, sich überhaupt der eigenen Seinshaftigkeit zu entziehen. In Bezug auf ein konkretes Beispiel beschämender Nacktheit schreibt er : Man möchte sich vor den anderen verbergen, aber auch vor sich selbst. Dieser Aspekt wird oft verkannt. Zwar zieht man in der Scham ihren sozialen Aspekt in Betracht, doch vergißt man dabei, daß die ursprünglichsten Äußerungen eine ungemein persönliche Angelegenheit sind. Stellt sich die Scham ein, so weil wir nicht verbergen können, was man gerne verbergen möchte. Die Notwendigkeit zu fliehen, um sich zu verstecken, scheitert an der Unmöglichkeit der Flucht. So äußert sich in der Scham eben genau diese radikale Unmöglichkeit, vor sich zu fliehen, um sich vor sich selbst zu verbergen, zu verbergen, daß wir an uns selbst gekettet sind, daß das Ich der Anwesenheit seiner selbst gnadenlos ausgesetzt ist.146

Levinas deutet Scham hier in existenzieller Perspektive und etabliert sie so als ein Modus der Seinsgewissheit. So heißt es weiter bei ihm:

144 Levinas, E.: Ausweg aus dem Sein. S. 37. 145 Ebd. S. 39. 146 Ebd. S. 41.

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Beschämend ist also unsere Intimität, d. h. die Gegenwart unser selbst. Sie enthüllt nicht das Nichts, sondern die Totalität unserer Existenz, die für ihr Dasein Ausreden sucht. Es ist das Sein, welches sich entdeckt, das die Scham aufdeckt, enthüllt.147

Das Verhältnis des Menschen in der Moderne zu sich selbst ist geprägt von Scham. Die Verantwortung für sein Sein innehabend, führt ihm sein selbstreferenzieller Blick das Bewusstsein zu, unlöslich an dieses Sein gekettet zu sein. Das aus dieser Frustration entstehende Bedürfnis nach Flucht, nach Evasion, dümpelt entweder unbefriedigt hinein in den Zustand leidvollen Unwohlseins oder hetzt in der Lust Surrogaten hinterher, nur um im Moment der vermeintlichen Erfüllung umso beschämender auf das Sein zurückzubrechen. Den reinsten Ausdruck dieses Zirkels modernen menschlichen Seinverhältnisses findet sich für Levinas im Gefühl eines existenziellen Ekels. Der Ekel ist dabei nicht eine andere Kategorie im Vergleich zur Scham, sondern vielmehr eine gesteigerte Potenz derselben: »Im Ekel erscheint die Scham gereinigt von jeder Beimischung einer kollektiven Vorstellung.«148 Bzw.: »Das Phänomen der Scham sich selbst gegenüber […] ist eins mit dem Phänomen des Ekels.«149 Was im Ekel Vollendung findet, ist die Absolutheit eines Seins nur aus sich selbst heraus: Denn was den Bezug zwischen uns und dem Ekel begründet, ist der Ekel selbst. Die Gnadenlosigkeit des Ekels bildet den Grund des Ekels. Die Verzweifelung angesichts dieser unausweichlichen Anwesenheit begründet diese Anwesenheit selbst. Dadurch setzt sich der Ekel nicht nur als etwas Absolutes, sondern als Akt des Sich-Setzens selbst: es ist die Bejahung des Seins selbst. Er verweist nur auf sich selbst, geschlossen gegenüber dem Rest, ohne Öffnung auf etwas anderes. Er enthält in sich selbst den Mittelpunkt seiner Anziehung. Und der Grund dieser Bejahung besteht in einer Ohnmacht angesichts seiner eigenen Wirklichkeit, Ohnmacht, die diese Wirklichkeit selbst begründet. Dadurch, so kann man sagen, enthüllt der Ekel uns die Anwesenheit des Seins in seiner ganzen Ohnmächtigkeit, die den Ekel als solchen begründet.150

Während soziale Schamgefühle sich im historisch bedingten moralischen Rahmen gesellschaftlicher Konventionen entfalten, setzt die zu Ekel gesteigerte reine Scham sich selbst als absolut. Das im Ekel sich artikulierende Bewusstsein seiner selbst ist reines Sein aus sich selbst heraus und in dem Sinne ahistorisch und kulturunabhängig gedacht, da die Anstoßpunkte des Ekel zwar unterschiedlich sein können – wandelnde Bedingungen, wann der eigene Körper als ekelig empfunden wird, unterschiedlicher Umgang mit Krankheiten, Frage nach ekelerregenden Dingen außerhalb des menschlichen Körpers –, sich aber an seiner alles verzehrenden Übermacht des Empfindens nichts ändert. »Die Natur 147 148 149 150

Ebd. S. 43. Ebd. S. 51. Ebd. Ebd. S. 51 f.

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des Ekels«, schreibt Levinas, »ist nichts anderes als seine Anwesenheit, nichts anderes als die Ohnmächtigkeit, diese Anwesenheit zu verlassen.«151 Scham und Ekel sind Momente, in denen der Mensch die ganze Fülle seines Seins schmerzlich erlebt, in denen er seinem Sein gnadenlos ausgeliefert ist. Der Gedanke, in der Scham seinem Sein sowohl ausgeliefert als auch absolutes Subjekt zu sein, findet sich auch bei Giorgio Agamben. In Homo sacer weist Agamben in einer Kritik der abendländischen Philosophie nach, wie das westlich-europäische Selbst- und Menschenverständnis auf verhängnisvolle Weise dualistisch und antagonistisch geprägt ist und die Menschen in vergesellschaftetes, rechtliches Leben und nacktes, biologisches Leben aufspaltet. Vor diesem Hintergrund führt Agamben vor, wie die abendländische Zivilisationsgeschichte stets durch Mechanismen der Ein- und Ausschließungen Hierarchien herausbildet, die Bevölkerungsgruppen zurück auf ihr nacktes Leben degradieren und sie in rechtsfreie Räume abschieben. Besonders eindrücklich manifestiert sich diese Tendenz in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten. Im dritten Band der Homo sacer-Reihe, Was von Auschwitz bleibt, fragt Agamben nach Sinn und Möglichkeiten des Zeugnisses angesichts der nationalsozialistischen Konzentrationslager. In Anlehnung an Primo Levi und Berichten von anderen Überlebenden filtert Agamben, grundsätzliche Positionen heraus. Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu Scham und Sein sind Aussagen von Gefangenen über Gefühle des Unwohlseins angesichts ihrer Befreiung sowie Berichte über Scham- und Schuldgefühle auf Seiten der Überlebenden. Zu dem Paradox, dass sich angesichts der Befreiung nicht Erleichterung und Freude, sondern ein brennendes Gefühl des Unwohlseins einstellte, schreibt Primo Levi, der in Die Untergegangenen und die Geretteten der Scham ein Kapitel widmet: In den meisten Fällen ist der Augenblick der Befreiung weder fröhlich noch sorglos gewesen: zumeist fand sie vor dem tragischen Hintergrund der Zerstörung, der Massenvernichtung und des Leids statt. In jenem Augenblick, in dem man sich wieder zum Menschen, das heißt verantwortungsbewußt werden fühlte, kehrten auch die Schmerzen der Menschen zurück: der Schmerz über eine auseinandergerissene oder verschwundene Familie, über den auf allen lastenden Kummer, über die eigene, nicht mehr heilbar, sondern endgültig erscheinende Erschöpfung, über ein neu zu beginnendes Leben inmitten der Trümmer und zumeist allein. Nicht ›die Freude ist das Kind des Leids‹: Leid ist das Kind des Leids. Die Befreiung vom Leiden ist nur für einige wenige Glückliche eine Freude gewesen, oder nur für wenige Augenblicke oder aber für ziemlich schlichte Gemüter ; meistens ging damit eine Phase der Angst einher.152

151 Ebd. S. 53. 152 Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten. München, Wien: Carl Hanser Verlag 1990. S. 69.

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Neben den traumatischen Lagererlebnissen und der Angst vor der Zukunft angesichts der weggebrochenen Familien- und bürgerlichen Existenzstrukturen findet das Unbehagen seinen Quell darin, wieder ein ›Mensch‹ und ›verantwortungsbewusst‹ geworden zu sein. In Die Untergegangen und die Geretteten legt Levi dar, wie durch die Umstände der Lagersituation die durch die Nationalsozialisten forcierte Entmenschlichung der Insassen brutale Wirklichkeit in den Gefühls- und Verhaltensmodi der Inhaftierten wurde. Angesichts der Lagerwirklichkeit wurde Ausnahmesituation zum grausamen Alltag und verformte die Werte und Maßstäbe des eigenen Handelns und Seins. Levi schreibt: Beim Heraustreten aus der Dunkelheit litt man an dem wiedergewonnenen Bewußtsein, behindert gewesen zu sein. Weder aus freiem Willen noch aus Trägheit oder eigener Schuld hatten wir monatelang, jahrelang auf der Stufe von Tieren gelebt: unsere Tage waren vom Morgengrauen bis in die Nacht vom Hunger, von Erschöpfung, von Kälte, von Angst beherrscht, und der Raum zum Nachdenken, zum Ordnen von Gedanken, zum Empfinden von Regungen war vernichtet. Wir hatten den Dreck ertragen, das beengte Nebeneinanderleben und die Erniedrigung und weit weniger darunter gelitten, als wir im normalen Leben darunter gelitten hätten, weil sich unsere moralischen Maßstäbe verändert hatten. Zudem hatten wir alle gestohlen: in den Küchen, in der Fabrik, im Lager, kurzum ›bei den anderen‹, bei der Gegenpartei, aber es blieb trotzdem Diebstahl. Einige (wenige) waren so tief gesunken, daß sie den eigenen Leidensgenossen das Brot wegstahlen. Wir hatten nicht nur unser Land und unsere Kultur, sondern auch unsere Familien, unsere Vergangenheit und Zukunft vergessen, die wir uns ausgemalt hatten, weil wir, wie Tiere, auf den gegenwärtigen Augenblick beschränkt waren.153

Agambens nachskizzierte Aufteilung der Menschen einerseits in vergesellschaftete und anerkannte Mitglieder der eigenen Zugehörigkeitsgruppe und andererseits in nacktes Leben findet in den Konzentrationslagern eine unerbittliche Ausführung. In Auschwitz sowie den anderen Arbeits- und Vernichtungslagern wurde die ideologische Entmenschlichung Realität. Degradiert auf die Stufe von Tieren schreiben sich dabei die Mechanismen der Entmenschlichung in den Opfern fort. Das Absinken bisheriger Maßstäbe menschenwürdigen Lebens und moralischen Verhaltens geht einher mit dem Ausfließen der bisherigen Identität.154 Doch auch innerhalb der harten Lagerrealität bricht sich 153 Ebd. S. 74. 154 Der Identitätsverlust konnte dabei so weit gehen, dass selbst die ureigene Form der Bezeichnung, nämlich der eigene Name, zu vergehen drohte. Dazu Elie Wiesel im Gespräch mit Jorge Semprun: »Ich hatte sogar meinen eigenen Namen vergessen. In Auschwitz gegen dem Ende zu, und vor allem im Zug. Ich hatte meine Nummer, A7713. Das war alles. Ich war eine Nummer. Und von Zeit zu Zeit kam jemand aus meiner Stadt zu mir, um mich an meinen Namen zu erinnern. Er nannte mich beim Namen.« (Semprun, Jorge und Wiesel, Elie: Schweigen ist unmöglich. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997. Reihe: edition suhrkamp 2012. S. 22)

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in manchen Momenten ein kritisch-reflexives Moralbewusstsein Bahn, welches sich dem Verfall entgegenwirft und ein schmerzhaftes Selbstverhältnis stiftet. Direkt im Anschluss an das obige Zitat schreibt Levi: Aus diesem Zustand der Abgestumpftheit waren wir nur selten herausgetreten, an den wenigen arbeitsfreien Sonntagen, in den flüchtigen Minuten vor dem Einschlafen, während die Luftangriffe tobten, aber es waren schmerzliche Augenblicke, ebendeshalb, weil sie uns die Möglichkeit gaben, unseren Niedergang von außen her zu ermessen.155

Das neu einsetzende, reflexive Bemessen der eigenen Handlungen und des eigenen Seins mit den vormals gegebenen Maßstäben der bürgerlichen Existenz ist letztlich das, was auch den Moment der Befreiung nicht zu einem Augenblick der Erlösung und Erleichterung macht, sondern das schmerzende Gefühl des Unbehagens gründet. Zurück aus der viehischen Existenz der Lagerrealität glimmt weniger die Freude auf, überlebt zu haben, als vielmehr das bittere Gefühl einer Schuld. Analog zu Levinas herausgearbeitetem Bewusstsein, aufs Untrennbarste an sein Sein gekoppelt zu sein, bricht im Überlebenden eine Scham hervor, die Rechenschaft und Verantwortung für das eigene Verhalten im Lager einfordert. Ungeachtet der damaligen Umstände schwingt sich ein Gewissen auf, das die ›Geretteten‹ an die ›Untergegangenen‹ bindet. Bei Levi heißt es: Daß viele (auch ich selbst) während der Gefangenschaft und danach ›Scham‹ empfunden haben, das heißt ein Bewusstsein von Schuld, steht fest und wird durch viele Zeugenaussagen bestätigt. Das mag absurd erscheinen, aber es ist so.156

Für Levi knüpft das Gefühl der Scham an ein diffuses Gefühl der Schuld, das sich nicht an konkrete Taten oder Verfehlungen bindet, sondern schlicht an die Tatsache, überlebt zu haben, zu sein, wo Andere vergangen sind. Diese Scham, dieses Gefühl einer Schuld angesichts der bloßen Existenz, wird dabei für Levi zu einer grundlegenden Befindlichkeit des Menschseins: Kommt deine Scham daher, daß du an Stelle eines anderen lebst? Und vor allem an der Stelle eines großherzigeren, sensibleren, verständigeren, nützlicheren, des Lebens würdigeren Menschen als du? Du kannst es nicht ausschließen: du erforschst dich, läßt deine Erinnerungen an dir vorbeiziehen und hoffst, sie alle wiederzufinden und daß sich keine von ihnen eine Maske aufgesetzt oder sich verkleidet hat. Nein, du findest keine offenkundige Übertretungen, du hast niemanden verdrängt, du hast niemanden verprügelt (aber hättest du die Kraft dazu gehabt?), du hast kein Amt angenommen (aber es ist dir auch keins angeboten worden …), du hast niemanden das Brot gestohlen. Und doch kannst du es nicht ausschließen. Es ist nur eine Vermutung, ja 155 Levi, P.: Die Untergegangenen und die Geretteten. S. 74. 156 Ebd. S. 72.

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eigentlich nur der Schatten eines Verdachts: daß jeder der Kain seines Bruders ist, daß jeder von uns (und dieses Mal gebrauche ich das Wort ›uns‹ in einem sehr umfassenden, geradezu universalen Sinn) seinen Nächsten verdrängt und an seiner Statt lebt. Es handelt sich nur um eine Vermutung, aber sie nagt an dir ; sie hat sich in deinem tiefsten Inneren eingenistet wie ein Holzwurm. Von außen kann man sie nicht erkennen, aber sie nagt und bohrt.157

Für Levi wendet sich also die physikalische Wahrheit, dass im Raum kein zweiter Körper sein kann, wo bereits ein Körper ist, moralisch und nimmt die Form einer quälenden Verunsicherung an.158 In Anlehnung an die Erfahrungen der KZ-Überlebenden und in expliziter Weiterführung Levinas’ gibt Agamben dem Gefühl der Scham nun folgende Definition: Sie[, die Scham,] ist nicht weniger als das fundamentale Gefühl, Subjekt zu sein, und zwar in den beiden – zumindest scheinbar – entgegengesetzten Bedeutungen dieses Wortes: Souverän und sub-iectum: Unter-worfenes. Sie ist das, was entsteht in der vollkommenen Gleichzeitigkeit einer Subjektivierung und einer Entsubjektivierung, einem Sich-Verlieren und einem Sich-Besitzen, einer Knechtschaft und einer Herrschaft.159

Diese doppelte Bewegung in der Scham, gleichsam souverän und verantwortlich sowie unterworfen und erleidend zu sein, kreuzt Agamben mit der prinzipiellen Struktur des ›Selbst‹. Ausgehend und in Anlehnung an Kant und Heidegger findet sich die »ursprüngliche[…] Struktur der Subjektivität«160 in der ›Selbstaffektion‹ als Moment einer sich distanzierenden Selbstbeobachtung. Nur im »Auf-sich-Blicken beim Sich-von-sich-fortbewegen kann sich so etwas wie ein ›Selbst‹ konstituieren[…].«161 Im Kern des Selbst verortet Agamben nun, gegeben durch die Struktur von gleichsam aktiv und passiv sein, von Subjekt und Objekt sein, die Scham: Das Selbst ist das, was sich in der doppelten – aktiven und passiven – Bewegung der Selbstaffektion als Rest bildet. Deswegen hat Subjektivität konstitutiv die Form einer Subjektivierung und einer Entsubjektivierung, deswegen ist sie im Innersten Scham.162 157 Ebd. S. 81. 158 Primo Levi spricht darüber hinaus in Die Untergegangenen und die Geretteten von der ›Scham der Welt‹. Er bezeichnet damit die Scham, die Gewissensqualen und die Gefühle der Schuld, die den ›Gerechten‹ überfallen im Angesicht der Schuld anderer. Diese Scham wurzelt im Bewusstsein von geschehenen, nicht vereitelten Verbrechen und ist eine Scham angesichts dessen, wozu der Mensch im Schlimmsten fähig ist. 159 Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2003. Reihe: edition suhrkamp 2300. S. 93. 160 Ebd. S. 94. 161 Ebd. S. 95. 162 Ebd. S. 97.

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

Die Struktur eines inhärenten Bruchverhältnisses und des Zusammenfalls von aktiv und passiv führt Agamben dahin zu sagen, dass die Wesenhaftigkeit des Menschen sich gerade im Entzugsfeld seiner selbst manifestiert. »Der Mensch ist das Wesen«, heißt es hier, »das sich selbst fehlt und einzig in diesem Sich-Fehlen und dem dadurch eröffneten Irren besteht.«163 Zum einen wird hier die Idee des Menschen als makelhaftes Wesen erneut aufgegriffen, zum anderen geht gerade in der Verfehlung die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis auf. Die ihn in seinem Wesen bestimmende Erfahrung des Menschen ist die, seinem Sein gegenüber ausgeliefert zu sein, es ist die Scham angesichts der Diskrepanz zwischen Souveränität und Determination. Zugleich wird in der Scham das eigene Sein anerkannt und verbindet sich mit einem diffusen Gefühl der Schuldhaftigkeit. Die unerbittliche Prägnanz des Seins und das Gefühl eines unerträglichen Ausgeliefertseins sind in der Moderne die Grundpfeiler der Bestimmung des Menschen aus sich selbst heraus.

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Literaturanalyse: Franz Kafkas Brief an den Vater [1919] und Der Proceß [1915] – Scham, Schuld und das Unbehagen in der Moderne

Zurückgeworfen auf sich selbst, losgelöst von den Heilsversprechungen und Ordnungen abgelegter Jenseitsideologien sieht sich in der Moderne der Mensch in einer seiner möglichen Selbstdeutungen weniger erhoben zur Freiheit, sondern vielmehr geknechtet in einer von Menschen gemachten Welt eines allgegenwärtigen Diesseits. Technisierung der Arbeitswelt, Verstädterung, Reduzierung des Einzelnen auf Arbeitskraft und versicherungstechnische und statistische Angaben, das Auswuchern der institutionellen Herrschaftsgewalt, die zunehmende Verschachtelung und Anonymisierung der Verwaltungsapparatur – Tendenzen, die sich lange im Europa des 19. Jahrhunderts entwickelten, setzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Maßstäbe eines veränderten Mensch-WeltVerhältnisses und skizzieren das Bild einer Moderne im engeren Sinne. Von der Gründung des Deutschen Reiches 1871, über den 1. Weltkrieg als Ur-Katastrophe des modernen Europas, über die Novemberrevolution 1918 und die Weimarer Republik, die nationalsozialistische Diktatur und den Zweiten Weltkrieg bis tief hinein in die Mechanismen der marktwirtschaftlichen Industrienationen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Immer mehr gerinnt der Mensch zu des Menschen Material und erfährt sich – trotz bzw. gerade wegen aller Bestrebungen und Parolen zur Individualisierung bzw. zur disziplingesättigten 163 Ebd. S. 118.

Literaturanalyse: Franz Kafkas Brief an den Vater [1919] und Der Proceß [1915]

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Selbstverantwortung – in seinem individuellen Dasein als fremdbestimmt und desorientiert in der Welt. Dieses aus vielen Quellen der täglichen Erfahrungen genährte Unbehagen in der Moderne164 bildet das düstere Fundament sowohl der menschlichen Selbstbewertung als auch aller Fluchtversuche vor ihr. Einer der maßgeblichen Autoren dieses Unbehagens, dessen Name wie kein zweiter für die Aporien der Moderne steht, ist zweifelsohne Franz Kafka. Vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen entwickelt Kafka Schreibverfahren und Sujetentwürfe, die den unüberschaubaren Wirrnissen moderner Lebensführungen und der simplen, doch existenziellen Faktizität des Leidens eine poetische Ausformulierung geben. Seine jüdisch-tschechisch-deutsche Herkunft – dreifache Verwurzelung, die ihn entwurzelt zwischen den verschiedenen kulturellen Räumen schwanken ließ –, seine familiären Konflikte vor allem mit dem Vater und die scheiternden Fluchtversuche durch Heirat oder Ortswechsel liefern das Material für Kafkas Texte; »stets ist es autobiographisches Interesse, das bei ihm[, Kafka,] die literarische Produktion hervortreibt.«165 Auch Kafkas Erfahrungen in der Arbeitswelt prägten gleichsam ihn wie seine Literatur. Als leitender Angestellter in einer Versicherungsgesellschaft gehörte es u. a. zu seinen Aufgaben, Betriebe vor Ort zu besuchen und sie in versicherungstechnisch relevante Gefahrenklassen einzuteilen: Mit diesem Aufgabenbereich stand er mitten in der modernen Welt: Die Arbeiterschaft und ihre Probleme, das Ausgeliefertsein des Menschen an Mächte, die als anonym erlebt werden, Arbeitgeber, Versicherung, Staat, waren eine tägliche Erfahrung.166

Innerhalb von Kafkas Leben und in seinem Schreiben pointiert sich so eine Kernidentität der Moderne, abgeschnitten, entwurzelt und von fremden und uneinsehbaren Mächten bestimmt zu sein. Kafkas Texte in diesem Sinne sind Studien aus dem Binnenland des notwendigen – d. h. systembedingten – Scheiterns verzweifelt um konsistente Identitäten bemühter Individuen. Kafkas eigentliche Leistung besteht aber nicht darin, sich lediglich als Chronist eines Zeitgeistgefühls zu verausgaben, sondern seinen Beschreibungen der Wirk164 Kafkas literarische Aufarbeitung eines auf Dauer gestellten Unbehagens steht in der Nähe zu Freuds Das Unbehagen in der Kultur. Freud versteht dies zivilisatorische Unbehagen vor dem Hintergrund des grundsätzlichen Widerspruchs von Eros und Todestrieb, von Egoismus und Vergesellschaftung in einem existenziellen Sinne und stellt wiederum die auch für Kafka so zentrale Emotion der Schuld in das Zentrum dieses schmerzlichen Selbst- und Weltverhältnisses. Für Freud ist »das Schuldgefühl das wichtigste Problem der Kulturentwicklung […] [und] der Preis für den Kulturfortschritt [wird] in der Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt«. (Freud, S.: Das Unbehagen in der Kultur. S.494) 165 Dietz, Ludwig: Kafka, Franz. In: Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Benedikt Jeßing. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar : Verlag J. B. Metzler 2004. S. 386 – 388. S. 386. 166 Ebd.

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lichkeit eine angemessene Form zu geben. Dies heißt eben nicht, in einer realistischen oder naturalistischen Traditionslinie stehend, den Dingen der Welt eine gereinigte oder genaue Entsprechung in der Literatur zu geben, sondern die Paradoxien, die Vieldeutig- und letzte Unergründbarkeit moderner Wirklichkeitserfahrungen selbst auf die Ebene des Schreibverfahrens zu heben. Kafkas Texte sind ›realistische‹ Weltentsprechungen, weil sie mehrdeutig, widersprüchlich und hintersinnig sind. Wiederkehrend in den Interpretationen von Kafkas Texten ist dabei der Verweis auf die Nähe dieser Texte zur Psychoanalyse. So pointiert schon Theodor W. Adorno: Wie in einer Versuchsanordnung studiert er, [Kafka,] was geschähe, wenn die Befunde der Psychoanalyse allesamt nicht metaphorisch und mental, sondern leibhaft zuträfen. Er pflichtet ihr bei, soweit sie Kultur und bürgerliche Individuation ihres Scheins überführt; er sprengt sie, indem er sie genauer beim Wort faßt als sie sich selber.167

In diesem Sinne werden Kafkas Texte gedeutet als narrative Umsetzungen psychisch-sozialer Wirklichkeitserfahrungen. Dass sich »wegen ihrer introspektiven Dichte ein psychoanalytischer Verstehensversuch nahezu [anbietet]«168, steht auch für Wurmser fest. Die Handlungsräume in Kafkas Texten lassen sich weder geografisch noch historisch ›realistisch‹ verorten. Wurmser schließt daraus, dass sich bei Kafka »innere und äußere Handlung nicht nur spiegeln, sondern so durchdringen, daß sie schließlich eine gemeinsame Handlungsebene haben.«169 Dermaßen gewendet sind Kafkas ›phantastische‹ Ereignisse – Mensch-Tier-Verwandlungen, undurchsichtige Gerichtsverhandlungen etc. – ›realistische‹ Allegorien psychischer Vorgänge. In diesem Sinne sieht Hans H. Hiebel Kafkas »fundamentale[s] poetische[s] Dichten«170 als ein »traumanaloges Dichten«171, das sich als »nach der Logik des Traumes verfahrendes Komponieren erweist.«172 Gemäß den Verfahren von Verdichtung und Verschiebung sind die Geschichten Kafkas Bebilderungen psychischer Vorgänge, die dem Unbehagen in der Moderne einen literarischen Ausdruck verleihen.

167 Adorno, Theodor W.: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10-I, Kulturkritik und Gesellschaft I. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1977. S. 254 – 287. S. 262. 168 Wurmser, L.: Die Maske der Scham. S. 473. 169 Ebd. S. 474. 170 Hiebel, Hans H.: Der Proceß/Vor dem Gesetz. In: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Bettina von Jagow und Oliver Jahraus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. S. 456 – 476. S. 457. 171 Ebd. 172 Ebd.

Literaturanalyse: Franz Kafkas Brief an den Vater [1919] und Der Proceß [1915]

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Es versteht sich von selbst, dass diese Bilderwelten, wenngleich sie ganz und gar aus dem Inneren, dem inneren Erleben hervorgehen, sowohl ›Inneres‹ (Individuelles, Privates, Subjektbezogenes, im Nahbereich Gelegenes) als auch ›Äußeres‹ (soziale Erfahrung, im Fernbereich Gelegenes, Politisches) enthalten und mit einander verschränken können.173

So lassen sich Kafkas Texte als prototypische Befindlichkeitsdokumente einer Epoche lesen. In ihnen kreuzen sich individuelle und allgemeine kulturelle Erfahrungswerte, deren wesentliches Merkmal das der Krise ist.174 Der Brief an den Vater und Der Proceß werden in diesem Sinne als erzählende Kammerspiele begriffen, die Wesentliches einer Anthropologie des Scheiterns und Verfehlens in nuce versinnbildlichen. Um aufzuzeigen zu können, welche Rolle Schamgefühle dabei einnehmen, muss im Folgenden zuerst das Gefühl der Schuld vor alttestamentarischer Folie und im Verhältnis zu Scham fokussiert werden, da Schuld- und Schamgefühle bei Kafka ein sich bedingendes Konglomerat der Selbst- und Welterfahrung bilden. Aus Sicht der Psychoanalyse können Scham- und Schuldgefühle in ein Verhältnis gebracht werden. In Anlehnung an den biblischen Mythos des Brudermords von Kain an Abel zeigen u. a. Till Bastian und Micha Hilgers auf, wie Schamgefühle Schuldgefühlen vorgelagert sein können. Kain, dessen Opfer im Gegensatz zu der Opfergabe seines Bruders Abel von Gott ohne ersichtlichen Grund zurückgewiesen wird, überlaufen ob dieser Zurückweisung brennende Schamgefühle. Im Buch Genesis heißt es: Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom Herrn erworben. Sie gebar ein zweites Mal, nämlich Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer. Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar ; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: warum überläuft es dich, und warum senkt sich dein Blick?175

Bastian und Hilgers, die am Beispiel des biblischen Brudermordes die Genese der Schuld untersuchen, halten in Bezug auf die gegebene Ausgangssituation fest: »Der Konflikt zwischen Gott, Kain und (indirekt) Abel endet vorläufig auf Seiten des ohnmächtigen, innerlich von der Bestätigung von Gott abhängigen 173 Ebd. 174 Zur ›Krise‹ als Kern der Moderne vgl. Spector, Scott: Kafka und die literarische Moderne. In: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Bettina von Jagow und Oliver Jahraus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. S. 181 – 193. 175 Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift Altes und Neues Testament. Stuttgart: Katholische Bibelanstalt 1980. Gen. 4,1 – 4,6.

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Kain mit tiefer Scham.«176 Innerhalb des biblischen Ursprungsmythos folgt aus einem Gefühl des Beschämtseins ein Mord. Nach Ablehnung seines Opfers durch Gott erschlägt Kain auf dem Feld seinen jüngeren Bruder Abel. Psychoanalytische Interpretationsansätze zeigen anhand dieser Aktionsfolge auf, wie die Verwandlung von Scham in Schuld sich als ein Ausweg aus dem Unbehagen der Scham anbietet. Indem Kain aus der passiven Rolle eines durch Nichtbeachtung Beschämten in die aktive Rolle des Brudermörders wechselt, gewinnt er ein Stück weit an Souveränität und Kontrolle wieder. Zur Unterscheidung und Verquickung von Scham und Schuld halten Bastian und Hilgers fest: Scham ist das Gefühlsäquivalent zu einer Erfahrung innerer und/oder äußerer Zurückweisung, Mißachtung oder Ablehnung, die der Beschämte als durch eigene Unfähigkeit, Unzulänglichkeit oder Mangelhaftigkeit ausgelöst erlebt, wobei keine Kontroll-, Alternativ- oder Ausweichmöglichkeiten bestehen und daher die Unentrinnbarkeit der Situation ein tiefes Ohnmachtsempfinden erzeugt. […] Demgegenüber hat Schuld die Existenz von Alternativen zur Voraussetzung, sie kann sowohl die eigene Grenze als auch die des anderen verletzen, in jedem Fall fehlt eine der Schamszene vergleichbare Ohnmacht und Totalität, da Schuld immer eingrenzbar ist (und sei es auf noch so monströse Taten).177

Bastian und Hilgers begreifen in diesem Zusammenhang Schuld als Folge einer vollzogenen Handlungsoption und Schuldgefühle als adäquate emotionale Entsprechung, wissentlich so und nicht anders agiert zu haben. Und tatsächlich bietet so die Flucht in die Aktivität – vom Mord aus verletzter Ehre bis zum Betrug durch Hochstapelei angesichts chronischer Minderwertigkeitskomplexe – die Möglichkeit, passive Schamgefühle durch mehr oder weniger bewusst forciertes Schuldig-Werden zu entkräften. Bastian setzt in seiner Studie Der Blick, die Scham, das Gefühl die alttestamentarische Nicht-Beachtung durch Gott als beschämende Erfahrung nun mit der Kindesentwicklung in Analogie und schlägt den Bogen zu Kafka: Im Hinblick auf die Entwicklung des Über-Ichs heißt es: Die erste seelische Widerspiegelung der von Außen gesetzten Normen, die das Kleinkind – das, wie Kain, ja keinerlei je begreifbare Begründung für seine Zurechtweisung und Zurücksetzung erfährt – als willkürlich und hart erlebt und denen gegenüber es sich als kümmerlich, klein und hilflos erfahren muß: das Kind entflammt, sein Antlitz fällt … Wie der tyrannische Jahwe des Alten Testamentes erzeugt auch die Übermacht der Eltern beim Zusammenprall mit dem Kind Ohnmacht, Scham und Zorn. 176 Bastian, Till und Hilgers, Micha: Kain. Die Trennung von Scham und Schuld am Beispiel der Genesis. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Heft 7, Juli 1990. S. 1100 – 1112. S. 1102. 177 Ebd. S. 1105 f.

Literaturanalyse: Franz Kafkas Brief an den Vater [1919] und Der Proceß [1915]

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Der Dichter dieser ohnmächtigen Scham ist Franz Kafka. Nirgendwo sonst gibt es so viel über dieses verdrängte Gefühl zu erfahren wie in Kafkas Werk – und Leben.178

Auch Hans-Thies Lehmann weist Kafka als den Autoren aus, der Scham und Schuld in einen Zirkel setzt: Grenzenlos, auf das gesamte Selbst bezogen und auch durch den Tod nicht wirklich zu sühnen, verwandelt sich verabsolutierte Schuld in Scham. Das erscheint hier[, in Kafkas Text Brief an den Vater,] als psychologische Abfolge. Kafkas Werk erkundet die Schwelle, das Hinüber und Herüber zwischen Schuld und Scham.179

Der Schuld-Begriff Kafkas weitet sich aus und wird – im Sinne Levinas’ – zu einem existenziellen Gefühl, das die Person in ihrer Ganzheit angreift. Hier ist Schuld nicht im ursprünglichen Sinne von Bastian und Hilgers möglicher Ausweg aus der Scham, sondern das Eingeständnis einer existenziellen Makelhaftigkeit. Sobald Schuld sich verabsolutiert und das ganze Wesen umschließt und nicht lediglich bestimmte Taten und Verhaltensweisen, fällt sie mit dem Gefühl der Scham wieder zusammen, ergänzt sie aber durch die Einfärbung einer ethischen Legitimation: Das sich schämende Subjekt bei Kafka fühlt sich nicht nur verwerflich, sondern ist es aufgrund seiner Schuldigkeit auch in den Augen der Anderen. »Von Kain bis Kafka«, so Lehmann, »weist das Schuldgefühl hinter sich zurück auf eine primordiale Nichtigkeitserfahrung, eine maßlose Abweisung im Blick[…].«180 Diese Scham-Schuld-Verquickung, in der einerseits Schuld befähigt ist, aus der Scham herauszuführen, und andererseits verabsolutierte Schuld mit dem existenziellen Schamgefühl wieder zusammenfällt, ist die wesentliche Gefühlslage der Figuren Kafkas. Wenn innerhalb der Texte Kafkas die Frage nach der Schuld thematisiert wird, dann nicht im kriminologischen Sinne des Detektiv-Romans, sondern als eine literarische Auseinandersetzung mit dem Menschenbild in der Moderne. Diesbezüglich ist einer der zentralen Texte im Œuvre Kafkas Brief an den Vater. Trotz seinen zahlreichen und unverschlüsselten Verweislinien zur konkreten Biografie der Kafka-Familie wurde dieser Text – entstanden 1919, doch erst spät nach Kafkas Tod 1952 erschienen – schon von Kafkas Freund und Nachlassverwalter Max Brod zur literarischen Prosa gerechnet. Mag das konkrete Verhältnis zwischen Franz Kafka und seinem Vater Hermann Kafka auch Anlass- und Auseinandersetzungspunkt sein, so lassen doch sowohl die Qualität der Form als vor allem auch die inhaltliche Darstellung diese Einordnung zu. Aus dem Umstand der eigenen Situation heraus skizziert Kafka mit dem Ich-Erzähler ›Franz‹ schablonenhaft die Reinfigur eines von existenzieller Scham und Schuld 178 Bastian, T.: Der Blick, die Scham, das Gefühl. S. 46. 179 Lehmann, H.-T.: Das Welttheater der Scham. S. 831. 180 Ebd. S. 832.

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zerrütteten Menschen. In der Form eines ›Briefes‹ gehalten bildet die rückblickende Kritik des Sohnes an der Erziehung des Vaters den Rahmen zur Beschreibung eines Lebens, das sich ganz an seinem Leiden an der Moderne aufreibt. Der wesentliche Grundkonflikt besteht in der gegebenen Hierarchie zwischen einer übermächtig erscheinenden Vaterfigur und einem makelbeladenen Sohn.181 Ausgehend von Anekdoten aus Kindheit und Erziehung erscheint der Vater als ein »wirklicher Kafka an Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis«182, der Kraft seines Wesens der »Reinheit der Welt«183 angehört. Der berichtende Franz dahingegen ist nie aus der Rolle eines ängstliches Kindes herausgekommen; er ordnet sich selbst dem Bereich des Schmutzes zu und sieht sich Zeit seines Leben von der bloßen Präsenz des ÜberVaters erdrückt. Besonders anschaulich wird dies in einer der vorgetragenen Kindheitserinnerungen: Ich war ja schon niedergedrückt durch Deine bloße Körperlichkeit. Ich erinnere mich z. B. daran, wie wir uns öfters zusammen in einer Kabine auszogen. Ich mager, schwach, schmal, Du stark, groß, breit. Schon in der Kabine kam ich mir jämmerlich vor undzwar nicht nur vor Dir, sondern vor der ganzen Welt, denn Du warst für mich das Maß aller Dinge. Traten wir dann aber aus der Kabine vor die Leute hinaus, ich an Deiner Hand, ein kleines Gerippe, unsicher bloßfüßig auf den Planken, in Angst vor dem Wasser, unfähig Deine Schwimmbewegungen nachzumachen, die Du mir in guter Absicht, aber tatsächlichen zu meiner tiefen Beschämung immerfort vormachtest, dann war ich sehr verzweifelt und alle meine schlimmen Erfahrungen auf allen Gebieten stimmten in solchen Augenblicken großartig zusammen. […] Übrigens besteht zwischen uns dieser Unterschied heute noch ähnlich.184

Auf die Bedeutung der Scham für das moderne Subjektverständnis bei Kafka weist vor dem Hintergrund dieser Szene auch Achim Geisenhanslüke in seiner Kafka-Untersuchung hin: Es ist der Zusammenhang von Scham und Verzweifelung, den Kafka hier[, d. i. die Badehausszene,] geltend macht, nicht der von Verzweifelung und Schuld. Was sich im

181 Zu der immer wiederkehrenden Vater-Sohn-Konstellation in den Werken Kafkas und der biografischen Mitgift seiner Texte siehe: Müller, Michael: Kafka und sein Vater : Der Brief an den Vater. In: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. v. Bettina von Jagow und Oliver Jahraus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. S. 37 – 44. 182 Kafka, Franz: Brief an den Vater. In. Ders.: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Jürgen Born u. a. Bd. Nachgelassene Schriften und Fragmente 2. Hrsg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt am Main: S. Fischer 1992. Lizenzausgabe mit Genehmigung von: New York: Schocken Books 1992. S. 143 – 217. S. 146. 183 Ebd. S. 204. 184 Ebd. S. 151.

Literaturanalyse: Franz Kafkas Brief an den Vater [1919] und Der Proceß [1915]

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Brief an den Vater andeutet, ist eine Beschämung des Subjekts, die Kafka auch in seinen literarischen Texten inszeniert.185

Oberflächlich eingebunden in einen Vater-Sohn-Konflikt fächert Kafka hier die grundlegendere Konstellation eines Selbst-Welt-Verhältnisses auf. Sich ausbreitend als Maßstab aller Bewertungen wird einerseits der Vater zur Welt, andererseits die Welt zum Vater, d. h. zur schon vor dem Ich gegebenen unentrinnbaren Instanz der Bewertungen und Forderungen. Der Vater im Brief ist die Personifizierung einer übergeordneten Autorität, die Kraft ihrer in der bloßen Präsenz gegebenen Allmacht eine tiefe Beschämung hervorruft. Diese Machtinstanz charakterisiert sich vor allem dadurch, dass sie sich zum einen diktatorisch als Norm setzt: »In deinem Lehnstuhl regierst Du die Welt. Deine Meinung war richtig, jede andere war verrückt, überspannt, meschugge, nicht normal.«186 Zum anderen zeichnet sie sich in ihrem moralischen Primat als allgegenwärtig aus, so dass jede Flucht von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Fluchtversuche durch Meidung gemeinsamer Interessengebiete, die Berufswahl, geplante Eheschließungen oder durch das literarische Schaffen verweisen letztlich immer wieder auf den Grundkonflikt mit dem Vater zurück. Überall bricht sich der übermächtige Moralkodex einer gottgleich in allen Dingen anwesenden Vater-Figur seine Bahn, wobei psychologisch gewendet der Vater natürlich nicht in den Dingen steckt, sondern seine Allgegenwart sich als prägendes Über-Ich im seelischen Haushalt des Sohnes einnistet. Alles, was Franz tut, verweist – gemäß den Fluchtbewegungen innerhalb einer unbehaglichen, absolut gewordenen modernen Welt – ex negativo auf den Vater als absolutistischen Gott des Diesseits und wird von dessen allgegenwärtiger Präsenz verschlungen. In Bezug auf das literarische Schaffen heißt es z. B.: »Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte.«187 Die durch den Vater verkörperte Autorität ist in ihrem Normen setzenden Wesen zwar diktatorisch, aber nicht tyrannisch. Der Vater ist verletzbar und nicht nur aus Unvermögen, sondern auch aus bewusstem Protest heraus kann seinen Normen widerstanden und in die konkrete Schuld geflüchtet werden. Darüber hinaus agiert er nicht mit Gewalt oder anderen Sanktionen des physischen Zwanges, sondern lässt im Gegenteil stattdessen oftmals Gnade walten. Doch durch seine unumstößliche Allgegenwärtigkeit als Norm und Maßstab führen letztlich sowohl Protest, Unvermögen als auch Begnadigung immer wieder zurück ins primordiale existenzielle Gefühl, verfehlt zu haben.

185 Geisenhanslüke, Achim: Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur. Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2006. S. 199. 186 Kafka, F.: Brief an den Vater. S. 152. 187 Ebd. S. 192.

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»Von allen Seiten her«, so heißt es bündig, »kam ich in Deine Schuld.«188 Das heißt, der Schuldbegriff, den Kafka hier ins Zentrum von Brief an den Vater stellt, ist wieder weniger in einem auf konkrete Taten bezogenen Sinne zu verstehen, sondern fußt auf den existenziellen Tatbestand des Am-Leben-Seins. In einem beständigen Wechsel von Schuldzuschreibungen, Unschuldsbeteuerungen und Schuldrelativierung – sowohl von Franz auf den Vater als auch auf sich selbst bezogen – entwirft Kafka eine Version des Schuldlos-Schuldigen, die ganz ohne antike Tragik und Größe auskommt. Vielmehr handelt es sich um eine existenzielle Schuldigkeit. Es gibt bei Kafka keine objektive Schuld, ebenso wie es keine subjektive Unschuld gibt. Die Schuld liegt weniger im Betragen der Protagonisten als vielmehr im gegebenen Verhältnis. Franz schreibt: Ich wäre glücklich gewesen, Dich als Freund, als Chef, als Onkel, als Großvater, ja selbst (wenn auch schon zögernder) als Schwiegervater zu haben. Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich[…].189

Die Schuldigkeit von Vater und Sohn nährt sich aus dem, was sie sind, über das sie aber keine Verfügungsgewalt haben, weil es das unhintergehbare Fundament ihres Seins und Verhältnisses ist. Dermaßen gewendet sind sie SchuldlosSchuldige von Grund auf. Dieses Dilemma einer nicht zu tilgenden Schuldhaftigkeit, die unlösbar mit dem eigenen Sein verschmolzen ist, charakterisiert die eine Seite des kafkaesken Menschenbildes. Die andere Seite ist geprägt von einem grundlegenden Gefühl des andauernden Beschämtseins. Unfähig, weder den gestellten Anforderungen und Maßstäben zu genügen, noch durch Flucht oder Aufbau eigener verbindlicher Kategorien sich den Bewertungen der übergeordneten Autoritäten zu entziehen, fällt der Mensch bei Kafka in tiefe Scham. Im Brief an den Vater heißt es in Anspielung auf den Schluss von Kafkas Roman Der Proceß: Ich hatte vor Dir das Selbstvertrauen verloren, dafür ein grenzenloses Schuldbewußtsein eingetauscht. (In Erinnerung an diese Grenzenlosigkeit schrieb ich von jemanden einmal richtig: ›Er fürchtete, die Scham werde ihn noch überleben.‹)190

Was Kafka in seinen Texten vorführt, sind Figuren, die sich in schmerzender Selbstbeobachtung einer Welt gegenüber ausgesetzt sehen, deren Maßstäben und Anforderungen sie nicht genügen können. Zurückgeworfen auf eine an ihr Sein gebundene Schuldhaftigkeit erleben sie das Leben als eine andauernde Beschämung, der nicht zu entgehen ist. In einem Brief an Max Brod vom 14. November 1917 geht Kafka auf »die offenbare innere Tatsache des Sich188 Ebd. S. 168. 189 Ebd. S. 146. 190 Ebd. S. 184.

Literaturanalyse: Franz Kafkas Brief an den Vater [1919] und Der Proceß [1915]

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Nicht-Bewährens«191 im Leben ein. Kafka, der in diesem Brief seine ganze persönliche Palette des Scheiterns – in der Stadt, in der Familie, im Beruf, in der Gesellschaft, in den Liebesbeziehungen – herunterbetet, schreibt auch hier vor dem Hintergrund seiner Erkenntnis der ›inneren Tatsache des Sich-Nicht-Bewähren-Könnens‹ und in Anlehnung an den Schluss aus Der Proceß: Was mir nun bevorstand, war, wenn ich es über verwirrte Hoffnungen, einsame Glückszustände, aufgebauschte Eitelkeiten hinweg klar dachte (dieses ›hinweg‹ gelang mir ja eben nur so selten als das Am-Leben-bleiben es vertrug): ein elendes Leben, ein elender Tod. ›Es war, als sollte die Scham ihn überleben‹ ist etwa das Schlußwort des Proceßromans.192

Dies ist der Boden, auf dem sich auch die Figuren Kafkas bewegen. Leben und Sterben sind elende Vorgänge, die den Menschen in seiner Nichtigkeit und seinem Ungenügen gegenüber einer undurchsichtigen Welt charakterisieren. Existenzielle Scham- und Schuldgefühle, d. h. Scham- und Schuldgefühle, die ihren Grund aus der bloßen Existenz und dem Wissen um diese Existenz ziehen, bezeichnen die grundlegende Struktur des Selbst- und Weltverhältnisses. Doch erschöpfen sich die Schamgefühle nicht lediglich im Wissen um ein ›elendiges Leben‹ und einen ebensolchen Tod, sondern – und hier entfaltet sich die ganze Ungeheuerlichkeit sowohl Kafkas als auch des Schamgefühls – sind lesbar als ein tiefes Einverständnis des Individuums mit seiner ›Verurteilung‹ und Ausdruck seiner in sich gespaltenen Identität. Dies führt Kafka u. a. in seinem Roman Der Proceß vor. Die Nähe von Kafkas Brief an den Vater und seinem Fragment193 gebliebenen Roman Der Proceß ist, wie in den obigen Zitaten gesehen, sowohl in dem Brief als auch in Kafkas privater Korrespondenz bereits vorgezeichnet. Dieser Roman, einige Jahre vor Brief an den Vater zwischen Mitte 1914 und Anfang 1915 entstanden und 1925 erstmals erschienen, führt insofern die Scham-Schuld-Debatte fort, indem er letztlich die Komplizenschaft des Individuums im ›Prozess‹ gegen sich in den Fokus rückt. Ausgehend von der von scheinbar äußeren Autoritäten gestellten Frage nach Verbrechen und Schuld des Protagonisten Josef K. – der Roman beginnt mit: »Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne

191 Kafka, Franz: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Gerhard Neumann u. a. Briefe April 1914 – 1917. Hrsg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2005. Brief vom 14. November 1917. Lizenzausgabe mit Genehmigung von: New York: Schocken Books 2005. S. 362 – 365. S. 363. 192 Ebd. 193 Zur Frage nach Textgestalt und Edition sowie den unterschiedlichen Ansätzen zur Interpretation siehe: Engel, Manfred: Franz Kafka: Der Process (1925) – Gerichtstag über die Moderne. In: Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne. Hrsg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2008. S. 211 – 237.

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daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet«194 – zeichnet Der Proceß nicht die Aufklärung eines Verbrechens nach, sondern den scheiternden Kampf Josef K.s um Autonomie. Seine Niederlage in diesem Kampf gipfelt in seiner Exekution und dem Schlusssatz: »›Wie ein Hund!‹ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.«195 Was innerhalb des Romans vonstattengeht, ist eine Verschiebung von Schuld zu Scham, die zum einen auf der Unnennbarkeit einer konkreten Tat als Grund der Schuld fußt und zum anderen auf der Verinnerlichung des Prozessgeschehens von Seiten Josef K.s. Die fehlende Nennung eines Grundes für die Verhaftung K.s geht einher mit der Unkenntnis der Gesetze. Weckt der erste Satz durch die Doppelung von Verhaftung und Unschuldsbeteuerung noch die Hoffnung auf eine Aufklärung, so beschreitet die Romanhandlung den entgegengesetzten Weg einer immer tieferen Verstrickung in die Mechanismen einer unergründlichen Gerichtsmaschinerie. Das Gericht, vor dem sich Josef K. zu verantworten hat, die unausgesprochene Verfehlung und das Prozessverfahren mit abschließender Hinrichtung sprengen den Rahmen des juristisch Üblichen. Als über das normale Leben geworfene Schattengesellschaft greift die Absurdität der Hinterhof- und Nebenzimmergerichtsbarkeit immer tiefer in K.s Leben ein und wird – von der ersten Vorladung bis zur abschließenden Hinrichtung im Steinbruch – zum bestimmenden Element. Der eigentliche Grund, also das ›konkrete Verbrechen‹ K.s, bleibt im Dunkeln. Das seltsame Schattengericht, das sich sehr konkret in Leben und Fleisch Josef K.s einschreibt, schöpft seine innerlogische Berechtigung aus der Tatsache, dass es, wie es der Wächter Willem sagt, »von der Schuld angezogen«196 wird. Als Kausalverkettung inszeniert, beinhaltet das In-SzeneTreten der Gerichtsapparatur das Vorhandensein einer Schuld. Gemäß dieser sich selbst genügenden Logik muss die konkrete Schuld nicht benannt werden, denn es reicht, dass sie da ist, und sie ist da, weil ein Gerichtsprozess in Gang gesetzt wurde. Folglich sind Freisprüche utopisch, wie der Gerichts- und Kunstmaler Titorelli gegenüber K. gesteht. K. […] sagte deshalb: ›Sie kennen ja gewiß das Gericht viel besser als ich, ich weiß nicht viel mehr als was ich darüber, allerdings von ganz verschiedenen Leuten, gehört habe. Darin stimmten aber alle überein, daß leichtsinnige Anklagen nicht erhoben werden und daß das Gericht, wenn es einmal anklagt, fest von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist und von dieser Überzeugung nur schwer abgebracht werden kann.‹ ›Schwer?‹ fragte der Maler und warf eine Hand in die Höhe. ›Niemals ist das Gericht 194 Kafka, Franz: Der Proceß. Fassung der Handschrift. In: Ders.: Gesammelte Werk in zwölf Bänden. Nach der kritischen Ausgabe hrsg. v. Hans-Gerd Koch. Bd. 3, Der Proceß. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1994. Lizenzausgabe mit Genehmigung von: New York: Schocken Books 1990. S. 9. 195 Ebd. S. 241. 196 Ebd. S. 14.

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davon abzubringen. Wenn ich hier alle Richter neben einander auf eine Leinwand male und Sie werden sich vor dieser Leinwand verteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben als vor dem wirklichen Gericht.‹197

Wenn das Verfahren sich selbst als Grund setzt und den Motor der Geschehnisse quasi aus dem Nichts heraus bis zum äußersten Höhepunkt, sprich der Exekution Josef K.s, treibt, dann entspricht das durchaus dem, was Joseph Vogl über die Moderne sagt, nämlich dass das »Reich der Ereignisse und das Reich der Gründe […] sich voneinander entfernt«198 haben. Vogl hält weiter fest: Man hat es hier[, in der Moderne,] nicht mehr mit einer barocken Vielfalt möglicher Welten zu tun, sondern mit einer endlichen Welt alles Möglichen. Hier gehören die Gabelungen, die Divergenzen, die Inkompossibilitäten und Unstimmigkeiten zu selben Welt, zum selben Würfelspiel.199

Analog zur absoluten Diesseitigkeit der Moderne inklusive aller ihrer Widersprüche und Unstimmigkeiten ist Kafkas opak-herrische Gerichts- und Prozesssphäre von brutaler und letztlich todbringender Realität. Dadurch, dass in Der Proceß wie in vielen anderen Texten Kafkas »jenes ›darum‹ der Handlungen nicht erzählt wird«200, erweisen sie sich letztlich als ›realistischer‹ als andere Erzählungen ihrer Zeit. Im Bild eines Gerichtsprozesses versinnbildlicht Kafka die Unerbittlichkeit einer Welt, die aus einem Vorantreiben der Ereignisse besteht und das Fundament einsehbarer Gründe hinter sich gelassen hat. Was besteht, ist die Dynamik der Prozesse, die die Menschen, ›schuldig‹ allein ihres Seins, mit sich reißen. Auf der Grundlage einer rasenden ökonomisch-technischen Evolution der Produktionsverhältnisse verlieren sich die Menschen in diesem Sinne in den Umschlagsfalten von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen und werden aufgerieben durch Umstrukturierungen nationaler und globaler Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse. Wie ein plötzliches Verfahren brechen die Veränderungen der Welt – zur Zeit der Entstehung von Der Proceß toben die ersten Monate des Ersten Weltkrieges in Europa – über den Menschen herein und richten ihn, der er doch sein ›Verbrechen‹ nicht greifen kann, binnen Jahresfrist zu Grunde. Doch beschreibt Der Proceß nicht nur das Ausgeliefertsein Josef K.s an eine uneinsehbare Macht, die sein Leben ändert, sondern darüber hinaus auch, wie aus der Frage nach der ›Schuld‹ Josef K.s das Gefühl der Scham erwachsen kann. Das Gericht zieht zum einen seine Legitimation aus sich selbst heraus, da es von Schuld angezogen wird; es klärt nicht, ob Schuld überhaupt vorliegt, sondern 197 198 199 200

Ebd. S. 157. Vogl, Joseph: Über das Zaudern. Zürich, Berlin: diaphanes 2007. S. 64. Ebd. S. 65. Simons, Oliver : Schuld und Scham. Kafkas episches Theater. In: Kafkas Institutionen. Hrsg. v. Arne Höcker und Oliver Simons. Bielefeld: transcript Verlag 2007. S. 269 – 293. S. 271.

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beglaubigt sie. Zum anderen kommt das Gericht zur vollen Anerkennung dadurch, dass es von Josef K. als geltende Instanz einer ›rechtmäßigen‹ Urteilsgebung akzeptiert wird. Innerhalb der Romanhandlung stellt er plakativ bei der ersten Untersuchung fest, dass es »ja nur ein Verfahren [ist], wenn ich es als solches anerkenne.«201 Diese Erkenntnis K.s geht einher mit einer relativen physischen Gewaltlosigkeit, von der Hinrichtung selbst einmal abgesehen, von Seiten des Gerichts. Zu Beginn des Romans spielt K. in der Verhaftungsszene mit dem Gedanken der Verweigerung, fürchtet aber die Reaktion der beiden Wächter Franz und Willem und lässt davon ab: Vielleicht würden ihn die Beiden, wenn er die Tür des folgenden Zimmers oder gar die Tür des Vorzimmers öffnen würde, gar nicht zu hindern wagen, vielleicht wäre es die einfachste Lösung des Ganzen, daß er es auf die Spitze trieb. Aber vielleicht würden sie ihn doch packen und war er einmal niedergeworfen, so war auch alle Überlegenheit verloren, die er ihnen jetzt gegenüber in gewisser Hinsicht doch wahrte. Deshalb zog er die Sicherheit der Lösung vor, wie sie der natürliche Verlauf bringen mußte, und ging in sein Zimmer zurück, ohne daß von seiner Seite oder von der Seite der Wächter ein weiteres Wort gefallen wäre.202

Trotzdem wäre es sicherlich verkürzt zu sagen, dass die Anerkennung des Gerichts durch Josef K. allein dem Prozess seine Berechtigung gibt. Die Frage nach der Anerkennung stellt sich nicht zu Beginn des Verfahrens, sondern erst im Laufe desselben und wird entscheidend mitgestaltet durch die dritte Partei einer informierten Öffentlichkeit. »Mit K.s Verhaftung wird aus seinem Schlafzimmer ein öffentlicher Raum«, stellt Oliver Simons in Bezug auf die Eröffnungsszene treffend fest, »in dem er nicht mehr als Privatmann oder Bankangestellter erwacht, sondern in einer Rolle, die ihm angetragen wird.«203 Trotz oder gerade wegen der Überfallartigkeit der Verhaftung und dem Ernst, mit dem der Unschuldige beschuldigt wird, fügt sich Josef K. von Anfang an der Autorität von Wächtern und Gericht. Seine Widerstände formieren sich alle innerhalb der von ihm angenommenen Sphäre des Prozesses. Befeuert wird K.s Annahme des Gerichts durch seinen festen Glauben an seine Unschuld. K. fügt sich zu Beginn den Geschehnissen, weil zum einen die Gerichtsinstitution von sich aus mit dem Selbstverständnis einer Autorität agiert – Eindringen in die Privaträume K.s und formale Verhaftung durch Wächter –, zum anderen weil er auf seine Unschuld vertrauend von einem Missverständnis ausgeht, das sich im Verlaufe des Verfahrens innerhalb desselben klären wird. Dass sich K. zu einem späteren Zeitpunkt immer noch dem Gerichtswesen unterwirft, obwohl ihm die Absurdität und der Ernst des Verfahrens längst aufgegangen sind, ist zu dem Zeitpunkt 201 Kafka, F.: Der Proceß. S. 51. 202 Ebd. S. 16. 203 Simons, O.: Schuld und Scham. Kafkas episches Theater. S. 276.

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dann der Tatsache geschuldet, dass sich das Verfahren selbst schon tief in die Sozialbeziehungen K.s eingegraben hat. Im Roman heißt es: Die Verachtung die er[, Josef K.,] früher für den Proceß gehabt hatte galt nicht mehr. Wäre er allein in der Welt gewesen, hätte er den Proceß leicht mißachten können, wenn es allerdings auch sicher war, daß dann der Proceß überhaupt nicht entstanden wäre. Jetzt aber hatte ihn der Onkel schon zum Advokaten gezogen, Familienrücksichten sprachen mit; seine Stellung war nicht mehr vollständig unabhängig von dem Verlauf des Processes, er selbst hatte unvorsichtiger Weise mit einer gewissen unerklärlichen Genugtuung vor Bekannten den Proceß erwähnt, andere hatten auf unbekannte Weise davon erfahren, das Verhältnis zu Fräulein Bürstner schien entsprechend dem Proceß zu schwanken – kurz, er hatte kaum mehr die Wahl den Proceß anzunehmen oder abzulehnen, er stand mitten darin und mußte sich wehren.204

Die Schattengerichtsbarkeit hat sich zur bestimmenden Matrix von K.s Leben aufgeschwungen, nach der sich sowohl seine Termine wie auch sein soziales Ansehen richten. Gerade in der Figur von K.s Onkel zeigt sich nunmehr die bestimmende Macht des Gerichts, wenn dieser fordert: »Du warst bisher unsere Ehre, Du darfst nicht unsere Schande werden.«205 Mit der Verhaftung K.s zu Beginn ist nicht nur sein Schlafzimmer zu einem öffentlichen Ort geworden, sondern auch K. wurde neben der Rolle als Privatmann und/oder Bankangestellter eine weitere soziale Rolle zugewiesen, nämlich die des Angeklagten. Mit dem teilweise von K. offensiv forcierten Öffentlichwerden dieser Rolle vor seinen Mitmenschen gelangt das Gericht durch den Umweg über Dritte zu einer weiteren Schicht an Glaubwürdigkeit und Legitimation. Die Augen der Um- und Mitwelt verifizieren ein weiteres Mal die Autorität des Gerichtes. Sind insoweit das Verhalten K.s zu Beginn und im Verlauf des Prozesses sowie seine Motivationen zur Anerkennung des Gerichts und Verfahrens erklärbar, so löst sich damit aber noch nicht der Schluss des Romans, an dem K. sich widerstandslos der Hinrichtung hingibt und vom Gefühl der Scham übermannt wird. Trotz einer letzten zaghaften Ankündigung von Widerstand – »›Ich gehe nicht weiter‹, sagte K. versuchsweise.«206 – fügt sich K. im Schlusskapitel letztendlich nicht einfach nur den Forderungen des Gerichts und seiner Henker, sondern wird zum aktiven Komplizen seiner Hinrichtung. Zum einen ist es K., der seine Begleiter energisch angesichts eines Polizisten fortzieht und somit eine der letzten möglichen Interventionen von außen verhindert. Zum anderen ist schließlich er es auch, der den Weg, den er und seine Henker gehen, vorgibt und die Dynamik der Geschehnisse aufrechterhält.

204 Kafka, K.: Der Proceß. S. 131 f. 205 Ebd. S. 98. 206 Ebd. S. 237.

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Alle drei zogen nun in vollem Einverständnis über eine Brücke im Mondschein, jeder kleinen Bewegung, die K. machte, gaben die Herren jetzt bereitwillig nach, als er ein wenig zum Geländer sich wendete, drehten auch sie sich in ganzer Front dorthin. Das im Mondlicht glänzende und zitternde Wasser teilte sich um eine kleine Insel, auf der wie zusammengedrängt Laubmassen von Bäumen und Sträuchern sich aufhäuften. Unter ihnen jetzt unsichtbar führten Kieswege mit bequemen Bänken, auf denen K. in manchem Sommer sich gestreckt und gedehnt hatte. ›Ich wollte ja gar nicht stehn bleiben‹, sagte er zu seinen Begleitern, beschämt durch ihre Bereitwilligkeit. Der eine schien dem andern hinter K.’s Rücken einen sanften Vorwurf wegen des mißverständlichen Stehenbleibens zu machen, dann giengen sie weiter.207

Explizit führt K. sich in diesem Zusammenhang seine Komplizenschaft und sein Einverständnis vor Augen. Kurz vor der oben beschriebenen Szene und direkt nachdem Josef K. begann, den Weg vorzugeben, heißt es: ›Das einzige was ich jetzt tun kann‹, sagte er sich und das Gleichmaß seiner Schritte und der Schritte der drei andern bestätigte seine Gedanken, ›das einzige was ich jetzt tun kann ist, bis zum Ende den ruhig einteilenden Verstand behalten. Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig, soll ich nun zeigen, daß nicht einmal der einjährige Proceß mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehn? Soll man mir nachsagen dürfen, daß ich am Anfang des Processes ihn beenden und jetzt an seinem Ende ihn wieder beginnen will. Ich will nicht, daß man das sagt. Ich bin dankbar dafür, daß man mir auf diesem Weg diese halbstummen verständnislosen Herren mitgegeben hat und daß man es mir überlassen hat, mir selbst das Notwendige zu sagen.‹208

Dies ist ein Augenblick klarer Übereinstimmung K.s mit dem Gericht. K. findet seine ›Schuld‹ in seiner Lebensführung und nimmt den Prozess als pädagogische Maßnahme der Belehrung und Strafe auf sich. Im diesem Moment geht K. ganz in der Rolle des Anklagten auf, versöhnt sich mit ihr, indem er seine Schuld akzeptiert und kommt so zu einem Gleichmaß mit der Welt des Gerichts. Im Anschluss an K.s Moment der selbstkritischen Erleuchtung ebbt allerdings seine zwischenzeitliche Aktivität bei der Ankunft im Steinbruch, dem Ort der Hinrichtung, wieder ab. Hier übernehmen erneut die Wächter die Leitung des Geschehens, ziehen K. seinen Rock aus, sorgen aber dafür, dass er nicht zu sehr friert, suchen einen geeigneten Platz für die Exekution und präparieren K. für die finale Tat. In diesem Zusammenhang heißt es: »Trotz aller Anstrengung, die sie sich gaben, und trotz alles Entgegenkommens, das ihnen K. bewies, blieb seine Haltung eine sehr gezwungene und unglaubwürdige.«209 Hier in den Schlussszenen tritt der entscheidende Konflikt K.s zu Tage, der zwischen eigentlicher, doch nicht erfüllter Pflicht, geheimem Einverständnis mit seiner Verurteilung 207 Ebd. S. 239. 208 Ebd. S. 238 f. 209 Ebd. S. 240.

Literaturanalyse: Franz Kafkas Brief an den Vater [1919] und Der Proceß [1915]

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und den letzten Resten an Widerstand pendelt. Zwei Szenen sind hier entscheidend und geben dem Roman in seinem Schluss die Prägnanz. Eine dieser Szenen ist die der Messerübergabe: Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus einer Scheide, die an einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes dünnes beiderseitig geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfen im Licht. Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das Messer dem anderen, dieser reichte es wieder über K. zurück. K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu nötigen Kraft versagt hatte.210

K. weiß, was in dieser Situation von ihm eigentlich verlangt wird, kann aber nicht der unausgesprochenen Forderung des Selbstmordes nachkommen und versagt somit ein weiteres Mal in den Augen der richtenden Instanz. Dies ist der entscheidende Konflikt am Ende des Proceß-Romans und führt schließlich zum Gefühl der Scham. Die letzten Zeilen des Romans lauten: Aber an K.’s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K. wie nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinandergelehnt die Entscheidung beobachteten. ›Wie ein Hund!‹ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.211

Im Gefühl der Scham bündelt sich die Spaltung K.s und wird Ausdruck seines ambivalenten Selbst- und Weltverhältnisses. »K.’s Scham bestätigt daher«, um mit Winfried Menninghaus zu sprechen, »als Affekt und Körperzeichen seine Erkenntnis fehlender Selbst-Bewährung angesichts des über ihm schwebenden Messers.«212 Das Gefühl der Scham kennzeichnet dabei zum einen diesen Moment des konkreten Versagens, markiert zum anderen seine prinzipielle Stellung zum Prozess im Sinne eines Einverständnisses. »Als unerschütterlich erweist sich allein«, heißt es in diesem Sinne auch bei Geisenhanslüke, »die Unterwerfung unter ein ihm unbekanntes Gesetz, dessen Macht er in der Scham anerkennt, ohne sich ihm entziehen zu können.«213 Im Schamgefühl internalisiert sich das Urteil des Gerichts im Gefühlshaushalt K.s. Die Scham ist das letzte, absolute Einverständnis mit dem Gericht und der tragische Kern des modernen 210 Ebd. S. 240 f. 211 Ebd. S. 241. 212 Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1999. S. 448. 213 Geisenhanslüke, A.: Masken des Selbst. S. 206.

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Menschen nach Kafka. Dazu weiter Geisenhanlüke, der die Gerichtsbarkeit nur als äußere interpretiert: An der Stelle des funktionalen Ichs der Moderne, das der Kult der Neuen Sachlichkeit predigt, setzt Kafka im Prozeß das völlige Verlöschen des Selbst vor den äußeren Instanzen sozialer Kontrolle ein. So zeigt die Scham bei Kafka eine Welt im äußersten Zustand der Entstellung. Scham, so wäre Kafkas Schriften zu entnehmen, ist der Affekt, der die Welt im Zeichen ihrer Nichterlösbarkeit beherrscht.214

Dass die Scham sich hier nicht, wie Agamben es in seiner Deutung des ProceßSchlusses vor dem Horizont der Auschwitz-Erfahrungen anlegt, darin erschöpft, ohne ersichtlichen Grund zu sterben215, wird deutlich, wenn man sich wieder die Nähe von Kafkas Texten zur Psychoanalyse und sein Schreibverfahren vor Augen führt. Kafka, der nach Adorno eben die Psychoanalyse beim Wort nimmt und dessen Texte dementsprechend immer wieder aus einer psychoanalytischen Sichtweise heraus ergiebig zu entschlüsseln sind, führt in Der Proceß versinnbildlicht vor allem einen inneren, psychischen Prozess vor. Wieder losgelöst aus konkreten Raum- und Zeitangaben ist die so obskur erscheinende äußere Gerichtswelt lesbar als eine Externalisierung eines inneren Konfliktes Josef K.s mit sich selbst. Auch für Hiebel steht fest, dass die Gerichtswelt zum einen sich als ein symbolisches Bild für soziale Gewalten, d. h. durch sich selbst begründete Mächte im Draußen – zu erkennen gibt, zum anderen den Charakter einer Allegorie innerseelischer Strukturen und Vorgänge, speziell: einer Personifikation des anklagenden und strafenden Über-Ich trägt.216

Die Metapher des Gerichts ist Bündelungspunkt mehrerer Interpretationsmöglichkeiten. Das Gericht ist das, als was es erscheint, nämlich eine institutionalisierte und offensichtlich anerkannte Macht und Strafinstanz, die von außen her als ›soziale‹ Apparatur auf das Leben Josef K.s einwirkt. In ihrer phantastischen Realität ist die Gerichtsapparatur darüber hinaus geleitet vom seltsamen Gleichklang zwischen ihr und Josef K.: K. ›errät‹ die Uhrzeit für den ersten Untersuchungstermin und ohne Ankündigung des Termins wartet K. am Tag seiner Hinrichtung passend gekleidet auf seinen ›Besuch‹. Das Gericht ist somit lesbar als Allegorie einer selbstbezüglichen Strafphantasie Josef K.s. Die Gerichtswelt als »Spiegel Josef K.s«217 zu lesen und in ihr die Doppelung der Sphären des Psychischen und des Sozialen zu sehen, gewinnt dadurch an Evidenz, wenn man an Kafkas Schreibverfahren eines traumanalogen Dichtens zurückdenkt. Zum einen nutzt Kafka ›weltbildende Metaphern‹, wie Manfred 214 215 216 217

Ebd. S. 206 f. Vgl. Agamben, G.: Was von Auschwitz bleibt. S. 89 f. Hiebel, H. H.: Der Proceß/Vor dem Gesetz. S. 456. Ebd. S. 459.

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Engel es nennt, also »Metaphern, die innerhalb der fiktionalen Welt keinen metaphorischen Status mehr haben, sondern schlicht und einfach ›wirklich‹ sind.«218 Obwohl das Gericht in Der Proceß nicht in Übereinstimmung mit den realen Gerichtsbestimmungen eines Rechtstaates agiert, bildet es innerhalb der ansonsten realistisch anmutenden Welt des Prokuristen K. eine Institution, die unabweisbar erscheint und höchst wirksam ist. »Mitten in einer uns prinzipiell vertrauten Wirklichkeit«, so Engel, »hat sich also plötzlich eine zweite aufgetan, die jedoch integraler Bestandteil der ersten zu sein scheint.«219 Zum anderen arbeitet Kafka mit einer traumähnlichen Verschiebung, die die Innenwelt als Außenwelt darstellt. Nur wenn man das Gericht als Personifikation innerseelischer Strukturen versteht, klären sich »die geheimnisvollen Bezüge, die zwischen K.s Innerem und der Gerichtswelt bestehen«220, auf. Der gegen K. geführte Prozess ist nirgends als ein konkreter Traum innerhalb des Textes markiert, ebenso wie die phantastische Realität des Gerichtes nirgends als Einbruch des Phantastischen in eine an sich realistische Welt gekennzeichnet ist. Und doch haftet der Szenerie etwas Unheimliches an, scheint es doch so, als kommen das Gericht und der Prozess »wie ein Gedanke aus verdrängten Tiefen des Inneren, den abzuwehren man nur nicht geistesgegenwärtig genug war.«221 So wie das Gericht von der Schuld angezogen wird, wird K. vom Gericht angezogen, das gleich einem externalisierten Über-Ich am Knotenpunkt von Sozialem und Psychischem über ihn richtet. Schuld und Scham bilden in diesem Zusammenhang den Zirkel, der das Gericht aufruft, dem sich das moderne Individuum nach Kafka in heimlichem Einverständnis überantwortet.

5.0

Die existenzielle Dimension von Blick und Sichtbarkeit

Wie in den Eingangsüberlegungen dargelegt, gehört es zur wesentlichen Bedingung der Scham, dass das Subjekt einen Perspektivenwechsel vollzieht und zu sich selbst als Objekt seiner Wahrnehmung bewertend Stellung bezieht. Das Sich-Schämen ›vor jemandem‹ impliziert, dass eine Aktivität oder Eigenschaft als Anlassquelle der Scham im weitesten Sinne ›sichtbar‹ geworden ist. Insofern ist der Blick – verstanden als Inbegriff einer Aufmerksamkeitsfokussierung – konstitutiv für Schamempfindungen. Darüber hinaus sind Sichtbarkeit und Blick von grundlegender Bedeutung für die Organisation menschlicher Gemeinschaften. Als ein genuin soziales Wesen ist der Einzelne eingebettet in 218 219 220 221

Engel, M.: Franz Kafka: Der Process (1925) – Gerichtstag über die Moderne. S. 221. Ebd. S. 222. Ebd. Ebd. S. 223.

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unterschiedliche Aufmerksamkeitsstrukturen seiner Mitmenschen. Ebenso ist er selbst Träger des Blicks und somit derjenige, in dessen Wahrnehmungshorizont sich andere Menschen bewegen. Zugleich Subjekt und Objekt von Blickfeldern zu sein ist das tägliche Geschäft des Gesellschaftswesens Mensch. Die historischen und sozialen Differenzierungen der menschlichen Sichtbarkeits- und Blickordnungen gründen sich dabei auf dem grundlegenden Fakt, dass der Mensch ein sichtbares Wesen ist. Dass diese Aussage weder banal noch selbstverständlich im Sinne von unproblematisch ist, wird deutlich, wenn die daraus sich zeitigenden Folgen berücksichtig werden. Der Philosoph, der sich diesem Tatbestand der Sichtbarkeit in seinen anthropologisch-phänomenologischen Untersuchungen annimmt, ist Hans Blumenberg. In seiner aus dem Nachlass veröffentlichten Schrift Beschreibung des Menschen heißt es: Der Phänomenologe wird sich klar machen müssen, daß es nicht selbstverständlich ist, Visibilität zu haben. Denn dies bedeutet nicht nur und primär zu wissen, wie man selbst aussieht, sondern urtümlicher noch, sich dessen bewußt zu sein, daß man aussieht. Visibilität ist nicht nur der einfache Sachverhalt, daß der Mensch ein körperliches und damit physisch ›sichtbares‹, also Strahlung von der im Sonnenlicht enthaltenden Art reflektierendes Wesen ist. Es bedeutet mehr ; vor allem, daß er vom Sehenkönnen der anderen ständig durchdrungen und bestimmt ist, sie als Sehende im Dauerkalkül seiner Lebensformen und Lebensverrichtungen hat. […] Visibilität setzt Fremderfahrung voraus, Erfahrung von der Bedeutung des Sachverhalts, daß der andere mich sieht, wie ich ihn sehe. Vor allem aber : daß er mich an meiner Erscheinung und durch sie identifiziert.222

Das Bewusstsein der eigenen Sichtbarkeit für Andere koppelt Blumenberg in seiner Anthropogenese an die Herausbildung des aufrechten Ganges. Im evolutionären Schritt vom Wald- zum Savannenbewohner und der damit verbundenen Aufrichtung des Menschen gewinnen das Sehen als leitender Fernsinn und die eigene Sichtbarkeit an Bedeutung.223 Sehen wird hier zum strategischen Vorteil, Gesehen-Werden hingegen zur latenten Bedrohung. In seinem Werk Höhlenausgänge thematisiert Blumenberg ebenfalls den Aspekt der Sichtbarkeit als maßgeblichen Urgrund der menschlichen Kulturentwicklung »Der Mensch ist ein sichtbares Wesen in einem emphatischen Sinne. Er ist betroffen«, wie Blumenberg das potenziell Bedrohliche dieses Umstandes betreffend und unter Verweis auf den Mensch als ›Mängelwesen‹ schreibt, »von seiner Sichtbarkeit durch die Auffälligkeit des aufrechten Ganges und durch die Wehrlosigkeit

222 Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Manfred Sommer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. S. 778. 223 Vgl. ebd. S. 777.

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seiner unspezifischen organischen Ausstattung.«224 Sichtbarkeit zeitigt hier potenziell Verletzlichkeit und ein reflektierendes Bewusstsein von dieser Verletzlichkeit.225 Die Machthierarchisierung zwischen Sehen und Gesehenwerden ist mit Blumenberg anthropologisch zu verankern. Das kulturelle Spiel der Zeichen, der Sichtbarkeit, des Verbergens und der Masken ist jeweils kulturhistorische sekundäre Ausformulierung dieses primären Verhältnisses.

5.1

Im Blick des Anderen

Die Strukturanalyse der Scham hatte ergeben, dass für diese Emotion das ›vor jemandem‹, und damit der Aspekt der Sichtbarkeit, eine notwendige Bedingung ist. Auf der einen Seite überwältigt die Scham das Schamsubjekt, exponiert und identifiziert es in seiner schamauslösenden Verfehlung und transportiert durch ihren körperlichen Ausdruck – Erröten, Sprachversagen, demonstrative Stockung im Handlungsverlauf, Kontaktabbruch durch Blicksenkung – ihr Vorhandensein als Nachricht nach außen. Wie kaum eine andere Emotion pocht Scham auf ihre Sichtbarkeit und Mitteilung. Auf der anderen Seite ist die Scham begleitet von dem brennenden Wunsch des Subjekts zu verschwinden. Unerträglich herausgestellt als eine einzige schmerzliche Verfehlung drängt das Ich nach Tilgung, will der Situation im Ganzen und der Exponiertheit im Besonderen fliehen und bemüht sich verzweifelt, die Kontrolle über den Körper als Zeichenträger wiederzulangen. Wie bei kaum einer anderen Emotion trachtet das Subjekt in der Scham nach Überspielung und Ablenkung. In der Scham dramatisiert sich die für den Menschen existenzielle Dimension von Blick und Sichtbarkeit und wird konkretes, schmerzliches Erleben. Bezüglich der fundamentalen Bedeutung des Sehens hält Christoph Wulf fest: Die Geschichte des Sehens oszilliert zwischen den Höhepunkten strahlender Erkenntnis und kontrollierender Herrschaft und den Tiefpunkten des Überwältigtwerdens und Leidens. In der Genealogie der menschlichen Sinne ist der Gesichtssinn zum Leitsinn geworden.226

Sehen ist Fokussierung und Zuwendung bei zeitgleicher Distanzwahrung. Im Sehen eröffnet sich eine Art »Zwischenkörperlichkeit«227 und »Fernnähe«228 ; die 224 Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1989. Reihe: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1300. S. 55. 225 Durch dieses Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit durch die Sichtbarkeit für andere wird ›der Fremde‹ für Blumenberg zur ›anthropologischen Kategorie‹ und ist somit mehr als nur eine soziologische Type. Vgl. ebd. S. 56. 226 Wulf, Christoph: Auge. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. v. dems. Weinheim, Basel: Beltz Verlag 1997. S. 446 – 458. S. 446. 227 Ebd.

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Grenzen zwischen den Menschen werden mit der Leichtigkeit eines Augenaufschlags durchbrochen und zugleich physisch gewahrt. Der Blick und die eigene Sichtbarkeit sind im hohen Maße prekär, weil ihre fast ständige Anwesenheit von den ebenfalls ständig anwesenden Bedrohungen eines ›unerhörten‹ Blicks, einer ›schamlosen‹ Zurschaustellung begleitet werden. Alles, was Blicken ausgesetzt ist und zur Schau gestellt wird, ist bedroht vom Skandal, da die Sichtbarkeit es zu einem Spektakel des Öffentlichen macht. Im Unterschied zum Tast- und Geschmackssinn, die in den Bereich des Privaten abgedrängt wurden, beansprucht der Gesichtssinn Öffentlichkeit. Durch seinen öffentlichen Charakter übernimmt er Kontroll- und Selbstkontrollfunktionen […].229

Gerade weil der Blick nicht nur ein Modus sinnlicher Weltwahrnehmung ist, sondern immer auch verschiedene Grade an Öffentlichkeit schafft, ist er im gesellschaftlichen Kontext scharf reguliert und eingebunden in eine Fülle von Verhaltenskodizes. Als teils juristisch festgeschriebene, teils in den unausgesprochenen Regeln des Anstandes verankerte Leitplanken des Benehmens teilen sie die Räume – vom FKK-Strand über die Fußgängerzone bis zum Arbeitsplatz und zur Gemeinschaftsküche – ein, innerhalb denen bestimmtes sichtbares Verhalten und bestimmte Blickbewegungen erlaubt oder verboten sind. Dabei zielt das Reglement von Sichtbarkeit und Blick nicht nur auf Orte und Zeiten, hält nicht nur den Blickenden und den Sichtbaren an zu konformem Verhalten, sondern berücksichtigt auch das jeweilige Verhältnis von Blickendem und Angeblicktem zueinander. Dermaßen zu Differenzierungen fähig, schmuggelt sich die stets politische Sphäre des Öffentlichen hinein in den Bereich des Privaten und steckt immer feinere Grenzen ab, wem was erlaubt und verboten ist. Die herausragende Stellung des Sehsinns thematisiert auch Till Bastian in seiner Untersuchung zu Blick und Scham. Weniger die Dialektik aus Nähe und Distanz und die Reglementierung der verschiedenen Teilöffentlichkeiten stehen bei Bastian im Mittelpunkt, sondern eine andere Besonderheit des menschlichen Auges: Woran liegt diese Einzigartigkeit des Auges? Sie gründet auf seiner Fähigkeit, aktiv und passiv zugleich zu sein, mithin der Wahrnehmung (und Informationsaufnahme) eine Leistung beizugesellen, die wir, da sie bislang noch unbenannt ist, durchaus als Prozeß der Wahrgebung bezeichnen können.230

Diese Wende von der passiven Wahrnehmung hin zu einer aktiven Wahrgebung verleiht dem Blick eine Bedeutung, die weit über das bloße sinnliche Perzipieren hinausgeht. Zu der Fähigkeit der Fokussierung – die immer auch gleichbedeu228 Ebd. 229 Ebd. 230 Bastian, T.: Der Blick, die Scham, das Gefühl. S. 21.

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tend ist mit einer Ausgrenzung, wie Wulf zu Recht festhält231 – addiert sich die Macht der Zuschreibung. Der menschliche Blick stellt nicht lediglich fest, sondern verpackt das Gesehene in eine Gesamtgeschichte der Umstände, die wiederum u. a. abhängt von der Einteilung der Räume des Öffentlichen; der Nackte in der Fußgängerzone ist ein Perverser, am FKK-Strand ist er nur ein weiterer Nudist. Im reibungslosen Ablauf des alltäglichen Blickens und Sichtbarseins zementieren die Blicke die Regeln, auf denen sie beruhen, indem Sie mit regelkonformen Wertzuschreibungen aufgeladen sind. Somit ist das Auge »nicht nur eine ›Pforte der Wahrnehmung‹, sondern auch ein höchst aktives soziales Regulationsorgan.«232 Eingeschlossen in die Machtstrukturen des Blickens steht der Mensch nicht nur als der da, der blickt, sondern auch als derjenige, der von anderen Menschen angeblickt wird. Wulf schreibt dazu: Im Sehen erfolgt also eine Verschränkung der Wahrnehmung von Gegenständen – zu denen auch der eigene Körper werden kann –, und der eigenen Subjektivität. Hierin liegt die Eigenart des Sehens, des Verhältnisses des Menschen zu sich und der Welt überhaupt. Im Angesicht eines anderen Menschen sucht man mit dem Auge das Auge des Anderen und spiegelt sich in ihm. Den Anderen sehend wird man selbst gesehen und empfindet sich als Sehenden. Diese Kreuzung der Blicke ist das Chiasma des Sehens.233

Die Menschen erblicken einander »als Objekt und als Mensch zugleich.«234 Die eigene Objektivierung angesichts des Blickes eines Anderen geht einher mit der Anerkennung des Anderen als blickende Instanz. So weist Wulf weiter darauf hin: »Die Möglichkeit, vom Anderen gesehen zu werden, unterscheidet den Anderen von ›bloßen‹ Objekten.«235 Wulf rekurriert hier auf Jean-Paul Sartre und dessen Überlegungen zum Blick. Innerhalb des Sartre’schen Existenzialismus wird der ›Blick‹ zur doppelten Chiffre eines Ich-Anderer-Verhältnisses.236 Einerseits ist der Andere derjenige, der von mir erblickt werden kann, andererseits bin ich etwas, das vom Anderen erblickt werden kann. Im ersten Fall eröffnet sich mit dem Anderen ein neuer Bezugspunkt im Raum und die Dinge 231 »Das Sehen ist eine Bewegung der Zuwendung und Fokussierung und gleichzeitig der Abwendung und Ausgrenzung.« (Wulf, C.: Auge. S. 446) 232 Bastian, T.: Der Blick, die Scham, das Gefühl. S. 22. 233 Wulf, C.: Auge. S. 447. 234 Ebd. 235 Ebd. 236 Im Folgenden wird in der Auseinandersetzung mit Sartre dessen Sprachduktus übernommen. D. h. konkret, dass auch im Fließtext mit den Sartre’schen Personalpronomen – ich, meiner, mir, mich – gearbeitet wird. Diese Übernahme erleichtert zum einen ganz pragmatisch den Umgang mit den Zitaten und die Lesbarkeit, markiert zum anderen aber auch nochmals sprachlich die radikal-individuelle Subjektgebundenheit des existenzialistischen Welterschließungsstandpunktes.

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

des Raumes werden nun relativ zu dem, den ich anblicke, und nicht mehr (nur) zu mir selbst. So ist also dasjenige, was ich die Erscheinung eines Menschen in meinem Mikrokosmos nenne, die Erscheinung eines Elementes der Auflösung meines Mikrokosmos zwischen den Dingen dieses Mikrokosmos. Der Andere, das ist zunächst die beständige Flucht der Dinge auf ein Ziel hin, was ich in einer gewissen Entfernung von mir als Objekt erfasse237.

Mit dem Eintritt eines Anderen in die Szenerie liegt eine »vor mir fliehende Gerichtetheit«238 der Dinge vor. Durch meinen Blick auf den Anderen wird alles relativ, und zwar relativ zu ihm, ohne sich aber von mir abzulösen, da innerhalb der Szenerie ich als Blickender erhalten bleibe. [E]in ganzer Raum ordnet sich um den Anderen herum an, und dieser Raum wird aus meinem Raum gebildet; er ist eine Neuordnung aller meinen Mikrokosmos anfüllenden Dinge, der ich beiwohne und die sich mir entzieht.239

Mein Blick auf den Anderen setzt also einen zweiten Bezugspol in die Welt und baut eine Spannung auf. Sartre pointiert: Die Erscheinung des Anderen in der Welt entspricht also einem regungslosen Entgleiten des ganzen Mikrokosmos, einer Dezentrierung der Welt, die die Zentrierung unterminiert, die ich zur selben Zeit erwirke.240

Dieser Blick, der mein Blick auf einen Anderen ist und mir diesen Anderen als ständig saugendes »Abflußloch«241 in das Sein setzt, ist die eine Seite eines grundlegenden Blickverhältnisses. Die andere Seite ist, selbst sichtbar zu sein und vom Anderen angeblickt zu werden. In der Unterstellung, in dem Anderen ein sehendes Subjekt zu sehen – in Sartres Konstrukt ist der Andere, dem ich ein Menschsein attestiere, gleichsam ein ›Objekt-Anderer‹ wie ein ›Subjekt-Anderer‹ –, offenbart sich meine Grundbeziehung zum Anderen darin, vor ihm sichtbar ebenfalls gleichsam für ihn ein ›Objekt-Anderer‹ und ›Subjekt-Anderer‹ zu sein. Kurz, das, worauf sich meine Auffassung des Anderen in der Welt als wahrscheinlich ein Mensch seiend bezieht, ist meine ständige Möglichkeit, von-ihm-gesehen-zu-werden, das heißt, die ständige Möglichkeit für ein Subjekt, das mich sieht, sich an die Stelle des

237 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hamburg: Rowohlt Verlag 1952. Erste vollständige deutsche Ausgabe 1962. S. 341. 238 Ebd. S. 340. 239 Ebd. S. 341. 240 Ebd. 241 Ebd.

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von mir gesehenen Objektes zu setzen. Das ›Vom-Anderen-gesehen-werden‹ ist die Wahrheit des ›den-Anderen-Sehens‹.242

Im gleichen Maße, wie dem Objekt-Anderen also ein Subjektsein zugesprochen wird, das über einen eigenen Blick verfügt, findet eine Objektivierung meiner selbst statt. Es ist das »Sichtbarwerden einer empfindungsfähigen Gestalt«243, die ich bin, die den Blick eine »reine Verweisung auf mich selbst«244 sein lässt. Indem ich realisiere, Blick-Objekt zu sein, büße ich unweigerlich an Souveränität ein. Denn was sich in dieser Realisierung mir vor allem entblößt, ist nicht in erster Linie die Tatsache, daß irgendjemand da ist, sondern ist vielmehr, daß ich verletzlich bin, daß ich einen Leib habe, der verwundet werden kann, daß ich mich an einer bestimmten Stelle befinde und daß ich auf keinen Fall von dort entweichen kann, wo ich ohne Verteidigungsmittel bin, kurz, daß ich gesehen werde.245

Die grundsätzliche existenzphilosophische Bedeutung meiner Sichtbarkeit zielt also darauf ab, mir meine Leiblichkeit, Verletzbarkeit und damit einhergehend die stetige Bedrohung durch den Tod ins Bewusstsein zu reißen. Der Andere, also der Mitmensch, wird mir durch seinen Blick auf mich dabei zum Garanten dieser Erkenntnis. Auch bei Sartre muss für diese Erkenntnis der Mitmensch nicht konkret anwesend sein; vielmehr genügt das hereinbrechende Bewusstsein meiner Sichtbarkeit. Dies wird deutlich, wenn Sartre den Begriff des Blickes vom bloßen sinnlichen Vorgang des Sehens ablöst: Ohne Zweifel ist das Sichrichten zweier Augen auf mich dasjenige, was am häufigsten einen Blick offenbart. Aber er würde ebensogut gelegentlich eines Raschelns von Zweigen, eines von Stille gefolgten Geräusches von Schritten, eines halb offenstehenden Fensterladens, der leichten Bewegung einer Gardine gegeben sein.246

Insofern Sartre das Auge »zunächst nicht als Sinnesorgan für das Sehen«247 auffasst, sondern »als Träger des Blicks«248, erweitert sich auch die Kategorie der Sichtbarkeit hin zu der der Wahrnehmbarkeit. Relevant ist folglich weniger, dass ich konkret für jemand Anwesendes sichtbar bin, sondern vielmehr, dass ich mich in der konkreten Situation im Antizipieren eines anderen Blickstandortes selbst wahrnehme als mein eigenes Blick-Objekt. So weist Sartre darauf hin, dass nicht die Anwesenheit des Anderen entscheidend ist, sondern die 242 243 244 245 246 247 248

Ebd. S. 343. Ebd. S. 344. Ebd. S. 345. Ebd. Ebd. S. 344. Ebd. Ebd.

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

Faktizität des Anderen, das heißt die zufällige Verbindung des Anderen mit einem Objekt-Sein in meiner Welt. Was zweifelhaft ist, ist also nicht der Andere selbst, es ist das Da-Sein des Anderen, das heißt jenes historische und konkrete Ereignis, das wir mit den Worten ausdrücken können: ›Es ist jemand in diesem Zimmer.‹249

Es ist also für den Wahrnehmungswechsel auf mich selbst kein wesentlicher Unterschied, ob Schrittgeräusche auf die Nähe eines konkreten Anderen verweisen oder ob das Rascheln eines Zweiges seine weltliche Ursache doch im Aufflug eines Vogels hat. Die faktische Anwesenheit des Anderen ist seine Anwesenheit in mir, ausgedrückt in einem Perspektivenwechsel, der mich objektiviert. »Jeder Blick«, schreibt Sartre, »läßt uns konkret – und in der unbezweifelbaren Gewißheit des cogito – empfinden, daß wir für alle lebenden Menschen existieren, das heißt, daß es (irgendwelche) Bewußtseinsindividuen gibt, für die ich existiere.«250 Der Blick enthüllt »die unbezweifelbare Existenz dieser Anderen, für die wir sind«251, und ist somit von Grund her intersubjektiv. Darüber hinaus sind die Gewissheit des Blicks und die Anerkennung des Anderen in erster Linie nicht rational durchtränkt, sondern emotional. Blick und Anderer ziehen ihre faktische Wahrheit daraus, dass sie empfunden werden. Dies verweist darauf, dass allgemein das Fundament Sartre’scher Erkenntnis Empfindungen sind, die vom Denken verifiziert werden. So kann Sartre sagen: [D]as kartesianische cogito bestätigt nur die absolute Wahrheit eines Faktums: dessen meiner Existenz; ebenso enthüllt das etwas weiter gefasste cogito, dessen wir uns hier bedienen, als Fakten die Fremdexistenz und meine Existenz für andere. Weiter können wir nichts sagen. Auch mein Für-Andere-Sein hat, ebenso wie das Auftauchen meines Bewußtseins zum Sein, den Charakter eines absoluten Ereignisses.252

Auch die Beziehung zwischen Ich und Anderem ist ursprünglich emotional geprägt. In diesem Sinne kristallisiert Sartre Scham, Furcht und Stolz heraus, als die verschiedenen Arten, in denen ich den Anderen als unerreichbares Subjekt anerkenne, und sie hüllen sich in ein Verstehen meiner Selbstheit ein, die mir zum Anlaß dienen kann und muß, den Anderen als Objekt zu konstituieren.253

Innerhalb der Existenzphilosophie Sartres stellt also gerade Scham einen Modus dar, der Gewissheiten über Ich und Andere emotional garantieren kann. Durch die Einschaltung des Blick-Anderen als »unentbehrlichen Mittler zwischen mir und mir selbst«254 wird bei Sartre die Scham zur Nagelprobe meiner Existenz 249 250 251 252 253 254

Ebd. S. 368. Ebd. S. 372. Ebd. S. 373. Ebd. S. 374. Ebd. S. 384. Ebd. S. 300.

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und bestätigt mein Sein. Dieses Sein ist dabei aber kein selbstgenügsames Sein aus sich selbst heraus, sondern unwiderruflich gebunden an den Anderen: »[D]as Schamgefühl ist seiner Natur nach Anerkenntnis. Ich erkenne an, daß ich bin, wie Andere mich sehen.«255 Es geht Sartre »nicht um eine Vergleichung dessen, was ich für mich bin, mit dem, was ich für Andere bin«256, sondern darum zu zeigen, dass der Andere notwendig ist, »um alle Strukturen meines Seins voll erfassen zu können; das Für-sich verweist auf das Für-Andere.«257 In mein Ich ist also schon immer die Spannung eingepflanzt, ein Blick-Objekt für Andere zu sein und angesichts einer Fremdbestimmung degradiert und dezentriert zu werden. Hier schaltet sich für Sartre die Scham ein: Ebenso ist die Scham nur das ursprüngliche Gefühl, mein Sein draußen zu haben, verstrickt in einem anderen Sein und als solches schutzlos[…]; es ist das Bewußtsein, unwiderruflich das zu sein, was ich immer war : ›befristet‹, das heißt in der Weise eines ›noch nicht‹ oder eines ›schon nicht mehr‹. Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieser oder jener tadelnswerte Gegenstand zu sein; sondern überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt, mich in jenem degradierten, abhängigen und starr gewordenen Gegenstand, der ich für Andere geworden bin, wiederzuerkennen. Die Scham ist das Gefühl des Sündenfalles, nicht deshalb, weil ich diesen oder jenen Fehler begangen hätte, sondern einfach deshalb, weil ich in die Welt ›gefallen‹ bin, mitten in die Dinge hinein, und weil ich der Vermittlung des Anderen bedarf, um zu sein, was ich bin.258

Das Unbehagen sitzt also für den Existenzialisten Sartre nicht eigentlich in der Scham. Vielmehr ist sie lediglich die gefühlte Gewissheit und Antwort auf das eigentliche Drama der menschlichen Existenz; nämlich abhängig, begrenzt und fremdbestimmt durch den Blick des Anderen zu sein.

5.2

Die Sichtbarkeit des Selbst

Die Reibungsgrenzen und Spannungsmomente des Einzelnen mit seinem Umfeld sind nicht zu lösen vom inneren Ringen um eine belastbare Ich-Identität. 255 256 257 258

Ebd. Ebd. Ebd. S. 301. Ebd. S. 381. In diesem Sinne deutet Sartre auch die Nackt- und Genitalscham als eine symbolische Ausformulierung der existenziellen Scham: »Die Schamhaftigkeit und im besonderen die Furcht, im Zustande der Nacktheit überrascht zu werden, sind nur eine besondere symbolhafte Spezifikation der ursprünglichen Scham: der Leib versinnbildlicht dabei unsere schutzlose Objektheit. Sich ankleiden heißt, seine Objektheit verbergen, heißt das Recht in Anspruch nehmen, zu sehen, ohne gesehen zu werden, also reines Subjekt zu sein.« (ebd.) Das ist insofern eine interessante Umkehrung, da somit die Nackt- und Genitalscham nicht mehr Anfang der Schamgeschichte steht, sondern schon selbst eine Verschiebung ist.

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Anthropologische Selbstdeutungen der Moderne

Hineingeworfen in eine sozial strukturierte und kulturell codierte Umwelt stehen die inneren Konflikte in einem wechselseitigen Verhältnis zu den gegebenen Machtstrukturen und normativen Verhaltenserwartungen. Diesseits von Strafgesetzbuch, Polizeiapparatur und Schöffengericht sind es die internalisierten Erwartungshaltungen und inneren Konflikte sowie die ständige Überwachung dadurch, an fast jedem Ort den Blicken Anderer ausgesetzt zu sein, die die Maschinerie der Gesellschaft am Laufen halten. Eine Disziplin, die sich diesbezüglich dem »Augentier Mensch«259 widmet, ist die Psychoanalyse als »das Studium des Menschen in seinen Konflikten.«260 Innerhalb der Psychoanalyse berufen sich dabei ihre Vertreter zumeist in ihren Arbeiten auf die klassischen Einteilungen nach Freud; Libidio und Aggressionstrieb nebst Partialtriebe, die Mechanismen der Verschiebung und Verdichtung sowie die Dreiteilung des psychischen Haushaltes in Es, Ich und Über-Ich gehören zum Grundmuster dieses Menschenbildes. So rekurriert auch L¦on Wurmser in seiner bereits mehrfach zitierten Grundlagenarbeit zur Scham auf das Begriffs- und Erklärungsmodell Sigmund Freuds, erweitert und modifiziert es aber gerade da, wo es um die beiden Partialtriebe geht, die auf Sehen und Gesehenwerden abzielen: Exhibitionismus und Skopophilie. Ersterer zielt ab auf ein lustvolles Gesehenwerden, letzterer auf die Befriedigung der eigenen Schaulust und Neugier. Wie andere Triebe auch sind Exhibitionismus und Skopophilie eingebunden in die Ökonomie von Es, Ich und Über-Ich. Die Triebe – auch in ihrem widersprüchlichen Ringen – werden dabei unter dem Terminus des ›Es‹ subsumiert, während das ›Über-Ich‹ klassischerweise »das Gewissen [ist], das Ideale aufstellt, nach denen man streben muß, das das Selbst beobachtet und es bestraft.«261 Wichtig hierbei ist, dass auch das Über-Ich »in einem viel größeren Ausmaß unbewußt ist«262 als sein reflexiver Charakter es vermuten lässt. Die dritte Instanz stellt das ›Ich‹ als die »vermittelnde Kraft, die versucht, die Ansprüche der Triebe, des Gewissens und der äußeren Realität miteinander zu versöhnen.«263 Während die Triebe ihre Hauptmotivationskraft aus einer langen evolutionsbiologischen Traditionslinie gewinnen, generieren Über-Ich und Ich ihre Maßstäbe hauptsächlich aus einem historisch gewachsenen kulturellen Umfeld, wobei dem Ich die maßgebliche Alltagspolitik im Abgleich mit der konkreten, von Situation zu Situation rauschenden Umwelt anheimfällt. Eine weitere strukturelle Unterteilung, die Wurmser von der klassischen Psychoanalyse übernimmt, ist die basale Unterscheidung von ›Selbst‹ und ›Objekt‹, wobei der letztere Begriff sich hauptsächlich auf andere Personen bezieht. Das Selbst umschließt dabei die 259 260 261 262 263

Bastian, T.: Der Blick, die Scham, das Gefühl. S. 27. Wurmser, L.: Die Maske der Scham. S. 366. Ebd. S. 14. Ebd. Ebd.

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kohärente Identität des Subjekts als Ganzes – also das, was innerhalb dieser Arbeit ›Ich‹ oder eben ›Subjekt‹ genannt wird –, während Objekt selbstredend den ›Anderen‹ oder auch ›Mitmenschen‹ im Allgemeinen und ›Zeugen der Scham‹ im Besonderen meint. Zwei Grundannahmen müssen nun für Wurmsers Ausdifferenzierung der Partialtriebe Exhibitionismus und Skopophilie und ihr Verhältnis zur Scham vorweggenommen werden. Zum einen: Die in der Scham angekündigte Gefahr liegt darin, dass »die Enthüllung von Schwäche, Defekt und Schmutzigkeit verächtliche Zurückweisung hervorruft.«264 Folglich ist »[d]as Ziel der Scham […] das Sichverbergen[…].«265 In der Scham wird das Selbst bedrängt von der Furcht, liebesunwert zu sein. Auch hier ist die faktische Anwesenheit eines konkreten Mitmenschen als Beobachter nicht notwendig, da dieser internalisiert sein kann. Zum anderen: Der Vorgang oder die Bedrohung durch die Bloßstellung und Enthüllung kann auf zwei Ebenen stattfinden. Sie kann sich »sowohl auf die Aktivität des Sichbloßstellens als auch auf den Inhalt des Bloßgestellten beziehen.«266 Losgelöst von ihrem Auslöser kann also der bloße Fakt der Hervorhebung und Zurschaustellung sich selbst Grund genug sein, Scham zu empfinden, was Schamgefühle auch angesichts explizit positiver Hervorhebung, wie beispielsweise bei überschwänglichem Lob, erklärt. Kurzum: Scham ist nach Wurmser grundlegend an die eigene Wahrnehmbarkeit vor (internalisierten) Anderen gekoppelt und hat eine schützende Funktion: Da die Wechselbeziehung zwischen Wahrnehmung und Ausdruck den Kern des Selbst formt, kann Scham als grundlegender Schutz im Bereich der mitmenschlichen Beziehung durch Ausdruck und Mitteilung (dem ›expressiv-kommunikativen‹ Bereich) sowie durch Wahrnehmung und Aufmerksamkeit (dem ›perzeptuell-attentionellen‹ Bereich) angesehen werden.267

Das Selbst bzw. das Ich dermaßen verstanden als ein wechselseitig geformtes Gebilde aus Ausdruck und Wahrnehmung erlaubt es – nachdem Wurmser schon die Möglichkeit einsetzender Scham angesichts positiver Herausstellung strukturell dazulegen vermochte –, die Tatsache zu erklären, dass Scham nicht nur auftreten kann angesichts eigenen Verhaltens oder eigener Exponierung, sondern auch angesichts dessen, was man zu sehen bekommt. In der Tat wird Scham damit zu einem entscheidenden Scharnier in einer Welt, in der Ich und Umwelt, wesentlich getragen durch Blick und Sichtbarkeit, in einem ständigen Prozess der wechselseitigen Bezugnahme zueinander stehen. Scham und die vorweggenommene Haltung der Schamhaftigkeit oder Schamangst dienen 264 265 266 267

Ebd. S. 85. Ebd. Ebd. Ebd.

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hierbei als verinnerlichte Regulative und Schutzmechanismen, die den Partialtrieben Exhibitionismus und Skopophilie Einhalt gebieten. Um die ganze Tragweite und Bedeutung dieser Beziehung sowie den regulativen und schützenden Wert der Scham genauer zu erfassen, spricht sich Wurmser dafür aus, die Theorie der beiden Partialtriebe grundlegend zu modifizieren. Es gibt Anzeichen dafür, daß unsere Konzeptualisierung der beiden Triebe erweitert werden muß: der erstere[, d. h. der Exhibitionismus,] zu einer allgemeineren und schon sehr früh deutlich erkennbaren Notwendigkeit zum Selbstausdruck und zu dem Erreichen von aggressiven und libidinösen Zielen durch solche Ausdrucksmittel, der letztere[, d. h. der Voyeurismus oder Skopophilie,] zu dem Einschließen der ebenso archaischen Wünsche, Macht und Liebe, Kommunikation und Herrschaft durch Wahrnehmung zu gewinnen.268

Selbstausdruck und Wahrnehmung, also die Fähigkeiten, die uns alltäglich im Abgleich mit der Umwelt als Person konstituieren, werden hier aus dem Kernland des Es abgeleitet und stellen die dauerhafte Konfliktlinie zwischen Triebbefriedigung und moralisch-sozialer Intervention dar. Einhergehend mit der Erweiterung von Exhibitionismus und Skopophilie schlägt Wurmser die Einführung einer neuen Terminologie vor, die dieser Neugewichtung Rechnung trägt, und führt die Begriffe ›Delophilie‹ und ›Theatophilie‹ ein: Theatophilie kann definiert werden als das Verlangen zuzuschauen und zu beobachten, zu bewundern und sich faszinieren zu lassen, Vereinigung und Meisterung oder Beherrschung durch aufmerksames Sehen zu erzielen. Dieser Wunsch ist von frühester Kindheit an als grundlegender, angeborener Trieb wirksam. Delophilie wird definiert als das Verlangen, sich auszudrücken und andere durch Selbstdarstellung (self-exposure) zu faszinieren, sich ihnen zu zeigen und sie zu beeindrucken, mit dem anderen durch Kommunikation zu verschmelzen. Auch sie hat ihren Ursprung in archaischen Zeiten.269

Theatophilie und Delophilie als Partialtriebe können dabei sowohl im Dienste der Libido als auch des Aggressionstriebes stehen. Gleichsam können Selbstausdruck und Wahrnehmung ebenso von Gefühlen der Macht wie auch von Gefühlen der Machtlosigkeit begleitet werden, also lustvoll oder unlustvoll eingefärbt sein. Als Konstellationsmöglichkeiten bieten sich für Wurmser vier unterschiedliche Variationen dieser Triebe an, die sowohl von Wünschen als auch von Ängsten begleitet werden können. ›Aktives magisches Sich-zur-SchauStellen (exhibition)‹270 betitelt den Wunsch zu faszinieren und zu gefallen. 268 Ebd. S. 164. 269 Ebd. S. 258. 270 Vgl. ebd. S. 262.

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›Passive Bloßstellung und Enthüllung (exposure)‹271 hingegen wird eher befürchtet als erwünscht und geht einher mit der Gefahr bzw. Möglichkeit, von den Blicken Anderer vollständig überwältigt zu werden. ›Aktive Neugier‹272 meint den Wunsch, zu sehen und gegebenenfalls bestehende Blickgrenzen zu durchbrechen. Das ›passive Erlebnis der Exhibition anderer‹273 schließlich verweist auf den Wunsch oder die Furcht, fasziniert und überwältigt durch die Zur-SchauStellung Anderer zu sein. Alle diese vier Möglichkeiten, die auf Sehen und Gesehenwerden fußen, können dabei durch Scham blockiert bzw. mit Scham sanktiniert werden; »Wahrnehmen und Zeigen sind gefährliche Aktivitäten und können bestraft werden.«274 Dementsprechend sind nicht nur allgemein Sehen und Gesehenwerden durch trieborientierte und gesellschaftliche Verhaltensund Blickweisen dramatisiert, sondern auch Strategien zur Vermeidung von Scham müssen – unabhängig von möglichen konkreten Schamquellen – die Ökonomie von Blick und Sichtbarkeit, Sehen und Gesehenwerden berücksichtigen. Umgekehrt lässt sich sagen, dass konkrete Schamsituationen immer einhergehen mit einer Krise der öffentlichen Blick- und Sichtbarkeitsordnung. Der Problematik des Gesehenwerdens nehmen sich auch Konrad Schüttauf, Ernst Konrad Specht und Gabriela Wachenhausen in ihrer Untersuchung Das Drama der Scham an. In Anlehnung an Wurmsers Unterscheidung von ›passiver Bloßstellung und Enthüllung (exposure)‹ und ›aktiver magische Zur-SchauStellung (exhibition)‹ stellen sie zwei unterschiedliche Typen von Schamszenarien in den Mittelpunkt: auf der einen Seite ein Schamgeschehen, das darauf beruht, dass das Subjekt gegen seinen Willen bloßgestellt wird, dass ein Aspekt seiner selbst ans Licht kommt, den es sich bemüht hatte, verborgen zu halten. Scham folgt hier auf passive Enthüllung. Denken wir etwa an die Beschämung einer ertappten Ladendiebin.275

Auf der anderen Seite handelt es sich um Schamszenario, in dem das Subjekt im Gegenteil höchst aktiv hervor[tritt] und […] sich selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit [stellt]. Beschämung tritt hier ein, wenn sein Hervortreten in irgendeiner Weise fehlschlägt, etwa wenn jemand einen gewagten Witz erzählt und keiner lacht.276

271 272 273 274 275

Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 262 f. Vgl. ebd. S. 263. Ebd. S. 40. Schüttauf, Konrad u. a.: Das Drama der Scham. Ursprung und Entfaltung eines Gefühls. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. S. 10. 276 Ebd. S. 11.

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Es stehen sich demzufolge zwei Typen von Schamszenarien gegenüber, die sich nicht in der negativen Qualität ihrer Schamwucht unterscheiden, aber gänzlich entgegengesetzte Ausgangslagen haben. Bei Scham angesichts einer passiven Bloßstellung sprechen Schüttauf, Specht und Wachenhausen von ›pudor denudationis‹, angesichts eines aktiven, scheiternden Hervortretens von ›pudor exhibitionis‹. Im Fall von pudor denudationis erscheint in der Regel das Subjekt als »ängstlich, auf Verbergung bedacht, es spaltet sich in ein öffentliches und ein privates Selbst, es täuscht und wird entlarvt.«277 Im Fall von pudor exhibitionis zeigt sich das Subjekt dagegen als unbescheiden und wagemutig, es tritt aus seinem Schatten hervor und erhebt einen Anspruch, der sich erst im Scheitern, dann aber umso vernichtender als Hybris erweist.278

Dass Scham angesichts so unterschiedlicher Verhaltensmöglichkeiten des Subjekts der Welt gegenüber – ängstlich-zurückhaltend oder aggressiv-hervortretend – auftreten kann, erklären sie durch eine gemeinsame Wurzel in der Schamgenese, die hier ›Proto-Scham‹ genannt wird. Hierbei handelt es sich um »eine Vorform als Voraussetzung der eigentlichen Scham«279, die die Situation in der Subjektentwicklung bezeichnet, wenn das Subjekt, zumeist natürlich als Kind, mit erster Ablehnung, mit einem ›Schäm dich!‹ konfrontiert wird, das es noch gar nicht verstehen kann, weil es die Norm noch nicht kennt, aufgrund derer es ›verworfen‹ wird.280

Der Schmerz dieser ersten Verwerfung klingt dabei, so Schüttauf/Specht/Wachenhausen, in den späteren Schamerlebnissen nach und »verleiht der Scham ihre spezifische Wucht.«281 Im Schamempfinden klingt die erste, uneinsehbare Ablehnung nach, die das Kind von Seiten einer geliebten Instanz erfahren hat. Dies bedeutet grundsätzlich für jede Schamsituation, dass sie als Krisenmoment auf drei verschiedenen Ebenen anzusiedeln ist: Erstens ist sie ein sozialer Verstoß gegen vorherrschende Normen, zweitens ist sie nach Sartres existenzialistischer Lesart das Bewusstsein der eigenen Abhängigkeit vom Anderen, drittens liegt ihr als psychotraumatischer Kern die Erfahrung des eigenen Liebesunwerts zugrunde. Schüttauf, Specht und Wachenhausen leiten daraus eine prinzipielle Strategie des Menschen ab, Schamsituationen zu vermeiden: Um uns vor dem Schmerz der Proto-Scham zu schützen, nehmen wir nun zum Hilfsmittel der Aufspaltung Zuflucht: Wir zeigen nicht alles, was wir sind, sondern halten das Normwidrige (unser Ungenügen, unsere Schwäche oder unsere Bosheit) im 277 278 279 280 281

Ebd. Ebd. Ebd. S. 115. Ebd. Ebd.

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Schatten verborgen, nach außen hin aber zeigen wir die Maske des von den anderen Erwünschten.282

Das heißt, in die Ebene von Blick und Sichtbarkeit ist von Anbeginn an eine Ökonomie der Täuschung mit eingewoben, die ihre Motivation aus der Bestrebung nach Schamvermeidung zieht. Der soziale Umgang miteinander ist demnach grundlegend von einem Spiel der Masken und Larven geprägt und führt die Täuschung als Mittel ein, uns vor der erschreckenden Autorität zu bewahren, die den Anderen in ihrer Möglichkeit, Zeugen unserer Scham zu werden, anhaftet. Denn dadurch, dass in jeder Beschämung das archaische Entsetzen der Proto-Scham mitklingt, wird in jeder Schamsituation »etwas von jener elementaren Verwerfungsautorität […] [übertragen], die früher einmal die Eltern in den Augen des Kindes tatsächlich hatten.«283 In der Scham blitzen infantile Abhängigkeitsverhältnisse auf, die die Souveränität des Subjekts auf obszöne Weise unterminieren, da sie dem Schamzeugen die absolute Macht der ersten Bezugsperson zuordnen. Vor diesem Hintergrund greift das Individuum in der sozialen Interaktion zur Aufspaltung seines Selbst in Sein und Verhalten und zur Täuschung als Mittel der Wohlgefälligkeit. Diese Tatsache, Andere täuschen zu müssen, um dem grausamen Desaster der Scham zu entgegen, »gehört zur Tragik des Für-sich-Seins und damit es des Menschenseins überhaupt.«284 Dies ist der tragische Kern in der lebensweltbestimmenden Wechselseitigkeit und Ökonomie von Sichtbarkeit und Blick; der Mensch greift innerhalb des sozialen Miteinanders vor dem Hintergrund zu erstrebender Schamvermeidung auf Täuschungen und Masken zurück und die Wahrheit des Selbst bricht oftmals nur im Unbehagen der Scham auf. Wieder lässt sich hier mit Sartre sprechen, dass Scham angesichts eigener Verfehlungen die »Anerkennung des Tatbestandes [ist], daß ich wirklich jenes Objekt bin, das der Andere ansieht und aburteilt.«285 Kurzum: »[M]eine Scham ist ein Geständnis.«286 Doch das, was ›Ich‹ ist, ist kein zementiertes Gebilde, sondern findet seine Wirklichkeit gerade in der Bewegung des Wandels und der wechselseitigen Bildung. So ist es der Scham auch nur daher möglich, die ›Wahrheit‹ des Subjekts zu entblößen, weil sie selbst ein momentgebundenes Phänomen ist. Die Eigenschaft des Ichs, sowohl langfristig im Zuge der Persönlichkeitsbildung als auch kurzfristig im Abgleich mit konkreter Umwelt zu Wandlung und Entwicklung befähigt zu sein, hängt wiederum mit der fluiden Wechselseitigkeit von Blick und Sichtbarkeit zusammen. Diesem Verhältnis ist Günter H. Seidler in seiner 282 283 284 285 286

Schüttauf, K.: Das Drama der Scham. S. 115 f. Ebd. S. 117. Ebd. Sartre, J.-P.: Das Sein und das Nichts. S. 348. Ebd.

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psychoanalytischen Studie Der Blick des Anderen nachgegangen. Die hier relevante Neuerung bei Seidler ist die Erweiterung des Sartre’schen Blicksystems im Hinblick auf die Triebtheorie Wurmsers. Ein zentraler Punkt Seidlers lautet dabei: »›Ich‹ wird ein anderes, wenn es durch den Blick des Anderen zurückgegeben wird.«287 Die entscheidende Instanz bei Sartre stellt der Andere dar, dessen Blick mich begrenzt und der mich der existenziellen, reinen Scham aussetzt, objektiviert zu sein. Die Frage, die sich Seidler in diesem Zusammenhang stellt, ist die, wie es dem Subjekt möglich ist, die Begrenztheit, die ihm durch den Blick des Anderen auferlegt wird, zu realisieren. Bei Sartre ist das Subjekt von sich aus grenzenlos, erst der Andere konstituiert dessen Grenze durch sein elementares Anderer-Sein: In dem Maße, in dem ich leugne, der andere zu sein, und in dem der Andere sich zunächst offenbart, kann er sich nur als der Andere offenbaren, das heißt als Subjekt jenseits meiner Grenze, das heißt als das, was mich begrenzt. Nichts außer dem Anderen kann mich begrenzen.288

Die Problematik an dieser Stelle ist, wie das Subjekt diese wesenhafte Grenze ableiten kann, wenn der Andere per Definition eigentlich nicht einsehbar ist. Seidler begegnet dem nun durch die Hereinnahme Wurmsers: Der Blick des Gegenübers ist vom Subjekt nicht einsehbar ; er ist, so der eigene Vorschlag zur Terminologie, epistemologisch unbewußt. Das ihm zuzuordnende Triebbegehren zielt darauf, wahrgenommen zu werden. Hier gibt es eine Anknüpfung an die Begriffe der Theatophilie und Delophilie von Wurmser.289

Diese Bedeutungsgewichtung des Anderen, kombiniert mit dem mächtigen Triebbegehren Theatophilie und Delophilie, lädt die Ebene von Blick und Sichtbarkeit mit libidinösen und aggressiven Tendenzen auf, die befähigt sind, das Selbstbild und das soziale Verhalten maßgeblich zu beeinflussen. Berücksichtigt man dabei noch den Stellenwert der Täuschung auf Seiten des Subjekts, wie es Schüttauf, Specht und Wachenhausen hervorgehoben haben, dann stellt sich heraus, dass die sichtbare sozialen Welt vor allem durch Maskierungen und Triebbegehren geprägt ist. Gerade in der Scham ist demgegenüber ein emotional aufgeladenes Aus-der-Rolle-Gleiten innerhalb der alltäglichen Schauspielerei zu beobachten.

287 Seidler, G.: Der Blick des Anderen. S. 57. 288 Sartre, J.-P.: Das Sein und das Nichts. S. 379. 289 Seidler, G.: Der Blick des Anderen. S. 223.

Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925]

6.0

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Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925] – Domestikation zur Bürgerlichkeit

»Und für diesmal will ich nichts anderes, Else, als – Sie sehen.«290 Dies ist in Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else die zentrale Forderung des Kunsthändlers Dorsdays an die namensgebende Protagonistin. Als Gegenleistung für die finanzielle Errettung von Elses Vater und ihrer Familie pointiert die Forderung zwei entscheidende Merkmale zwischenmenschlicher Beziehungen: Es geht um die Frage nach der Verfügbarkeit von Menschen im Horizont von Blick und der Sichtbarkeit sowie um das machtrelevante Ringen von selbstbezüglicher Identitätsstiftung und fremdgesteuerter Identitätszuschreibung. Arthur Schnitzer erforscht als ausgebildeter Mediziner und von der Psychoanalyse beeinflusster Autor in seinen erzählenden Schriften die Grenzbereiche des Individuums. Er fokussiert den Menschen sowohl im Hinblick auf die soziale Dimension der Gesellschaftlichkeit als auch bezüglich der innerpsychischen Logik selbstreflexiver Verhaltensregulierungen. Identität ist hier das Ergebnis eines unaufhörlichen und potenziell gefährlichen Prozesses der ›Domestikation‹ des eigenen Begehrens zwischen Individualisierung und Sozialisierung. In seinen beiden Novellen Fräulein Else und Traumnovelle führt Schnitzler zwei unterschiedliche Ausgänge dieser Entwicklung vor. Während Else in der Übergangsphase von Tochter zur Frau letztlich am Konflikt zwischen den gesellschaftlichen Umständen und dem eigenen Begehren zugrunde geht, gelingt dem Ehemann und Arzt Fridolin aus der Traumnovelle zum Ende hin die Abkehr von seinem asozialen Verlangen und er kehrt in den Schoß der bürgerlichen Familie zurück. Im Folgenden wird zuerst Elses Konflikt und Niedergang im Kampf und Identität, Autonomie und Anerkennung analysiert. Besondere Bedeutungen kommen dabei dem Körper, der Ökonomie und der Geschlechternorm zu. Die Erzählung Fräulein Else, entstanden zwischen 1921 und 1923, erschienen 1924 und somit Schnitzlers Spätwerk zuzuordnen, spielt an einem Spätsommertag des Jahres 1897 und umreißt die unerhörte Begebenheit der skandalösen Enthüllung der neunzehnjährigen Else. Durch akute finanzielle Schwierigkeiten der Familie und zwei schriftliche Mitteilungen der Mutter getrieben, ist Else angehalten, den Kunsthändler und Bekannten der Eltern, Herrn Dorsday, um die Summe von 30.000 Gulden, später erhöht auf 50.000 Gulden, zu bitten. Dieser stimmt der Transaktion zu, allerdings unter der schlüpfrigen Bedingung, die attraktive Else für 15 Minuten lang alleine nackt sehen zu dürfen, und zwar entweder auf seinem Hotelzimmer oder aber auf einer von ihm entdeckten 290 Schnitzler, Arthur : Fräulein Else. In: Ders.: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften. 2. Bd. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1961. S. 324 – 381. S. 346.

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Lichtung im Wald. Else, getrieben von der Not des Vaters, eigenen exhibitionistischen Triebwünschen und aufgereizt von Widerstands- und Schamgefühlen, unterläuft letztlich Dorsdays Forderung, indem sie sich zwar nackt, doch sich nicht ihm allein zeigt. Stattdessen entblößt sie sich öffentlich im Musikzimmer des gemeinsamen Berghotels und bricht daraufhin in einem hysterischen Anfall zusammen und trinkt ein vorbereitetes Glas mit einer Überdosis an Schlaftabletten. Ausgehend von diesem Sujet sind Körper bzw. Nacktheit, Ökonomie im Sinne von Geldwirtschaft und das Spannungsverhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung schon auf der Handlungsebene miteinander gekoppelt. Es trifft zu, wenn Wendelin Schmidt-Dengler zum einen festhält, dass der Plot »über gesellschaftliche und historische Zäsuren hinweg denkbar [ist]: die Tochter soll die Finanzen des Vaters sanieren.«291 Zum anderen ist aber ebenso festzuhalten, dass die Geschichte, so wie sie von Schnitzler erzählt und variiert wird, zeitgebunden und historisch fixierbar ist, so dass, wiederum mit Schmidt-Dengler, gefragt werden kann, »welche Repräsentanz dieser Figur«292 der Else zukommt. Schnitzlers Erzählung thematisiert auf der einen Seite das Sujet familiärer Bürgschaft unter zeitgeschichtlichen Aspekten, hier sind vor allem der Geschlechterdiskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der aufstrebende Geld-Kapitalismus zu nennen. Auf der anderen Seite steigt Schnitzler, getragen vor allem durch seine Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms, tief hinein die individual-psychologischen Mechanismen seiner Protagonistin und er liefert somit ein Psychogramm individuellen Verhaltens. Zu der Frage nach der Zeitgebundenheit: Wenn Schnitzler seine Erzählung um über 20 Jahre verschoben am Ende des 19. Jahrhunderts in einem abgelegenem Ferienberghotel ansiedelt, so ist diese zeitliche Diskrepanz nicht so zu verstehen, dass er sich einem schon zum Entstehungszeitraum der Erzählung anachronistischen Stoff gewidmet hätte. Vielmehr schafft er es, durch die zeitliche Extrapolation und die räumliche, fast hermetische Abtrennung des Handlungsortes seiner Geschichte den Gestus eines Labors zu verleihen. Das Parabelhafte auf die Gegenwart wird durch die Verlagerung der Handlung um ein viertel Jahrhundert nach hinten nicht getrübt, sondern hervorgekehrt. So entfaltet Fräulein Else erst zu ihrer Entstehungszeit vor dem gegebenen Hintergrund eines Nachkriegseuropas und nach dem Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie ihre ganze psychologische und diagnostische Sprengkraft. Dazu Nikola Roßbach: Die Zeit nach dem Zusammenbruch der Monarchie und dem Zerfall überkommener Autoritäten ist geprägt von Wertezerfall und Inflation, radikalem 291 Schmidt-Dengler, Wendelin: Inflation der Werte und Gefühle. Zu Arthur Schnitzlers ›Fräulein Else‹. In: Akten des Internationalen Symposiums ›Arthur Schnitzler und seine Zeit‹. Hrsg. v. Giuseppe Farese. Bern u. a.: Verlag Peter Lang 1985. S. 170 – 181. S. 173. 292 Ebd.

Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925]

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Materialismus und Ökonomisierung menschlicher Beziehungen: Unübersehbar ist sie in Fräulein Else die Folie, auf der sich die Ereignisse abspielen. Der Text diskutiert den Zusammenhang, der zwischen der Auflösung des monetären Wertgefüges (die Inflation entfaltet zur Entstehungszeit von Fräulein Else ihre stärkste Wirkung) und der Lockerung der Moralvorstellungen besteht.293 Auch Hartmut Scheible konstatiert, dass Else […] ihrer psychischen Konstitution nach eher der Nachkriegsgeneration an[gehört], die, nach dem Zerfall der alteuropäischen Ordnung, bereits zutiefst von ökonomischer Unsicherheit und umfassender Orientierungslosigkeit geprägt ist.294

Das Psychodrama um eine junge Frau, die sich angesichts einer ökonomischen Not mit einem unmoralischen Angebot konfrontiert sieht, ist eingebunden in einen konkreten Gesellschaftskosmos, in dem das Verhältnis von Körperlichkeit und Käuflichkeit neu ausgelotet wird, ohne dass bereits neue, verbindliche Regeln des Spiels gefunden wurden. »Elses Konflikt ist mehr als eine individuelle Fehlentwicklung«, schreibt Scheible, »er steht für eine historische Situation, in der die überkommenden Autoritäten zerfallen sind, ohne daß die Menschen schon die Möglichkeit hätten, ihr Verhalten autonom zu bestimmen.«295 Auch Schmidt-Dengler weist, wie Roßbach, darauf hin, dass »Schnitzlers Erzählung […] just in den Jahren der Inflation, ihrer stärksten Wirkung, entstanden«296 ist, und konterkariert dies mit dem Verweis, dass eben im gleichen Zeitraum sich ein neues Verhältnis zu Körperlichkeit und Nacktheit – von Schmidt-Dengler am Beispiel der Freikörperkultur und des Nackttanzes vorgeführt297 – mehr und mehr durchsetzte. »Die Auflösung des monetären Wertgefüges entspricht der Lockerung der landläufigen Moralvorstellungen.«298 Schnitzler situiert seine Geschichte an der Umbruchstelle eines gesellschaftlichen Wertegefüges. Hier wird von ihm eine Situation skizziert, in der auf der Seite der Familie Elses bürgerlicher Anspruch – der Vater arbeitet als Advokat, die Mutter fürchtet den beschämenden Skandal, Else treibt den Wert ihrer Nacktheit kurzzeitig auf die Summe von eine Million hoch, sowohl die Mutter im Brief als auch Else äußern immer wieder Verachtung für den dubiosen, zu Geld gekommenen Kunsthändler Dorsday – und ökonomische Realität nicht mehr ineinandergreifen. 293 Roßbach, Nikola: Sicherheit ist nirgends. Arthur Schnitzlers Monologerzählungen Leutnant Gustl (1900) und Fräulein Else (1924). In: Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne. Hrsg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Berlin, New York: Walter de Gruyter. S. 19 – 46. S. 44. 294 Scheible, Hartmut: Arthur Schnitzler. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1976. S 119. 295 Ebd. S. 120 f. 296 Schmidt-Dengler, W.: Inflation der Werte und Gefühle. S. 176. 297 Vgl. ebd. S. 178. 298 Ebd.

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Zugleich kommt der neue kapitalistische Geldadel, personifiziert durch Dorsday, zu dem Selbstbewusstsein, kraft seines Kapitals bisherige Moralvorstellungen aushebeln und das Ungeheuerliche mit Zahlungsanweisungen aufwiegen zu können. Schnitzlers Erzählung markiert folglich den Übergang in eine Stufe des Kapitalismus, in dem die ökonomischen Verhältnisse die moralischen Verhaltenstandards einholen und auszusetzen beginnen.299 Mehr und mehr emanzipiert sich die ökonomische Sphäre und wirkt auf die gesellschaftlichen Hierarchisierungen und die damit verbundenen sozialen Schamordnungen zurück. Die sich im 19. Jahrhundert durchsetzenden, auf den neuen ökonomischen Gegebenheiten und dem Erstarken der Bourgeoisie fußenden Klassenhierarchisierungen und -abhängigkeiten schreiben sich im 20. Jahrhundert in den individuellen Verhältnissen der Menschen fort. Innerhalb der Novelle ist Dorsday der Gewinner dieses Paradigmenwechsels, kann er es sich doch aufgrund seiner monetären Situationen buchstäblich leisten, eine unverschämte Forderung an Else heranzutragen. Auch Else hat diese Neuordnung der Gesellschaft verinnerlicht, sinniert sie doch nach dem Erhalt des Briefes und noch vor dem Gespräch mit Dorsday über ihren Gegenwert als potentielle Braut: Aber für eine Million? – Für ein Palais? Für eine Perlenschnur? Wenn ich einmal heirate, werde ich es wahrscheinlich billiger tun. Ist es denn gar so schlimm? Die Fanny hat sich am Ende auch verkauft. Sie hat mir selber gesagt, daß sie sich vor ihrem Manne graust. Nun, wie wär’s, Papa, wenn ich mich heute Abend versteigerte?300

Else schwankt in ihren Phantasien zwischen drei Bezugspunkten; da wäre die Tradition einer Mitgift-Ehe, in der sie im Eintausch gegen materielle Absicherung ihre eigene Attraktivität als Wert mit einbringt, die verführerische LuderExistenz und die Rolle einer biederen Bürgerstochter. Elses Dilemma als sexuelles Wesen ist, dass der ihr innewohnende, eigentlich lustvoll konnotierte Exhibitionismustrieb, der schon vor dem Gespräch mit Dorsday von Else immer 299 Dass Geld amoralisch ist, ist keine Neuerung innerhalb der Moderne, sondern dem Geld wesensinhärent: »Geld ist, wie seit seinen Anfängen immer wieder kritisch vermerkt wurde, von skandalöser Indifferenz bzw. ›Kälte‹. Es ist nämlich indifferent gegenüber den Personen, den Sachen und den Zeitpunkten eines Tausch- bzw. Zahlungsakts. Und es gibt von sich aus keinerlei Auskunft über seine Herkunft, seine moralische oder amoralische Verwendung und die ökologischen Folgewirkungen seines Einsatzes. Aber es informiert funktionsangemessen über das, was eigentlich zählt.« (Hörisch, Jochen: Geld. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. v. Christoph Wulf. Weinheim, Basel: Beltz Verlag 1997. S. 678 – 685. S. 681) Was sich aber in der Moderne im Schatten des notwendigen Bedeutungsgewinns des Geldes angesichts der zunehmenden Aufsplitterungen und Spezialisierungen der Arbeitsbeteiligungen verstärkt entwickelte, war der Glaube, dass (fast) alles seinen Preis hat und in Geld aufgewogen werden kann, so dass gesagt werden kann: »Was die Welt der Moderne im Innersten zusammenhält, ist Geld.« (ebd. S. 682) 300 Schnitzler, A.: Fräulein Else. S. 333.

Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925]

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wieder thematisiert wird, durch die plötzliche Verbindung mit einem Geldgeschäft auf die spröde Frage eines finanziellen Gegenwertes heruntergebrochen wird. In dem Maße, in dem der erotische Akt zu einem Geschäft wird, wird Else als Mensch degradiert und verkommt als Ganzes zu einem Produkt, das es zu konsumieren gilt.301 Dorsday, als »Herr der Stunde«302 und »Nutznießer unheimlicher Kapitalbewegungen«303, ist sich, genau wie Else, der Macht des Geldes bewusst, nur rechnen die beiden unterschiedlich um. In der entscheidenden Szene, in der Dorsday seine Forderung stellt, heißt es: Ich bin feig, ich bin zerbrochen, ich bin erniedrigt. Was wird er nun wollen statt der Million? Einen Kuß vielleicht? Darüber ließe sich reden. Eine Million zu dreißigtausend verhält sich wie – – Komische Gleichungen gibt es – ›Wenn Sie wirklich einmal eine Million brauchen sollten, Else, – ich bin zwar kein reicher Mann, dann wollen wir sehen. Aber für diesmal will ich genügsam sein, wie Sie. Und für diesmal will ich nichts anderes, Else, als – Sie sehen.‹304

Während Else noch in romantisch-utopischen Verhältnissen rechnet und einem einfachen Kuss die phantastische Summe von einer Million zuordnet, weist Dorsday den dreißigtausend Gulden einen ›realistischeren‹ Börsenkurs zu. Zum einen verweist Dorsday im Gespräch darauf, dass »[a]uch dreißigtausend Gulden […] verdient sein [wollen]«305, zum anderen gibt er seiner Forderung den Gestus einer Bitte, eines legalen Geschäfts: Sie müssen fühlen, Else, daß meine Bitte keine Beleidigung bedeutet. Ja, ›Bitte‹ sage ich, wenn sie auch einer Erpressung zum Verzweifeln ähnlich sieht. Aber ich bin kein Erpresser, ich bin nur ein Mensch, der mancherlei Erfahrungen gemacht hat, – unter andern die, daß alles auf der Welt seinen Preis hat und daß einer, der sein Geld verschenkt, wenn er in der Lage ist, einen Gegenwert dafür zu bekommen, ein ausgemachter Narr ist. Und – was ich mir diesmal kaufen will, Else, so viel es auch ist, Sie werden nicht ärmer dadurch, daß Sie es verkaufen.306

Dorsday markiert mit seinen Aussagen zwei Charakteristika der modernen Geldwirtschaft. Einerseits wollen auch kleine Geldbeträge erst einmal verdient 301 Der angenommene ›Warencharakter‹ der Frau ist eines der klassischen Degradierungsmechanismen patriarchalischer Gesellschaften und zieht sich vom Dirnentum über die Zwangsprostitution bis hinein in die Pornografiedebatten. Richard von Krafft-Ebings 1886 in Psychopathia sexualis formulierte These in Bezug auf das Sexualleben primitiver Gesellschaften greift somit in Variation auch moderne Geschlechterverhältnisse auf: »Das Weib ist […] eine bewegliche Sache, eine Ware, ein Gegenstand des Kaufs, Tauschs, der Schenkung, ein Werkzeug des Sinnengenusses, der Arbeit.« (Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia sexualis. München: Matthes & Seitz Verlag 1984. S. 2) 302 Schmidt-Dengler, W.: Inflation der Werte und Gefühle. S. 170. 303 Ebd. S. 171. 304 Schnitzler, A.: Fräulein Else. S. 346. 305 Ebd. S. 343. 306 Ebd. S. 346.

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sein, andererseits entfaltet angehäuftes Kapital eine fast grenzenlose Macht. Im Gegensatz zu Dorsday, der diese Macht des Geldes – für dreißigtausend Gulden gibt es eine viertel Stunde Nacktheit, für eine Million Gulden entsprechend mehr – als universelles Umrechnungsmittel in fast allen Bereichen des Lebens begriffen hat und Geld nutzt, um seine Begierden zu befriedigen, hängt Else noch einem archaisch anmutendem Wertegefüge an. Kurz vor der finalen Entblößung, als Else nur im Mantel bekleidet das Musikzimmer betritt, heißt es bei ihr : Jetzt oder nie. Leise die Tür aufgemacht. Da bin ich, Herr von Dorsday! Er sieht mich nicht. Ich will ihm nur ein Zeichen mit den Augen geben, dann werde ich den Mantel ein wenig lüften, das ist genug. Ich bin ja ein junges Mädchen. Bin ein anständiges junges Mädchen aus guter Familie. Bin ja keine Dirne …307

Zurückfallend in die Kategorie des jungen Mädchens aus gutem Bürgerhaus ist Else dazu geneigt, sich nicht schamlos als Produkt den gierigen Blicken Dorsdays auszuliefern. Nicht als ›Dirne‹ will sie sich verkaufen, sondern sich vielmehr vor der Folie ihrer bürgerlichen Herkunft als ›Luder‹ im Exhibitionismus selbstverwirklichen. Für Else steht fest: »Ein Luder will ich werden, wie es die Welt noch nicht gesehen hat.«308 Und schon im Vorfeld heißt es: »Nie werde ich mich verkaufen. Ich schenke mich her. […] Ein Luder will ich sein, aber nicht eine Dirne. Sie haben sich verrechnet, Herr von Dorsday.«309 Demgemäß springt sie aus der Rolle des anständigen jungen Bürgermädchens heraus und versucht, Dorsdays Geschäftsbitte subversiv zu unterlaufen, indem sie sich ihm nicht exklusiv, sondern der ganzen Öffentlichkeit des Musikzimmers präsentiert. Im Moment ihrer Entblößung heißt es: Was wollen Sie, Herr von Dorsday? Sie schauen mich an, als wenn ich Ihre Sklavin wäre. Ich bin nicht Ihre Sklavin. Fünfzigtausend! Bleibt es bei unserer Abmachung, Herr von Dorsday? Ich bin bereit. Da bin ich. Ich bin ganz ruhig. Ich lächle. Verstehen Sie meinen Blick? Sein Auge spricht zu mir : komm! Sein Auge spricht: ich will dich nackt sehen. Nun, du Schuft, ich bin ja nackt. Was willst du denn noch? Schick sofort die Depesche ab … Sofort … Es rieselt durch meine Haut. Wie wundervoll ist es nackt zu sein. […] Der Papa ist gerettet. Fünfzigtausend!310

Für einen kurzen Augenblick auf dem Höhepunkt der Entblößung gerinnt diese zu einem rauschhaften Ereignis. Elses körperliche Nacktheit ist hier Chiffre für ihre selbstbezügliche Identitätsstiftung als ›Luder‹. Zugleich ist Elses Nacktheit im öffentlichen Rahmen eine widerständige Angelegenheit, eine »Geste der Vergeudung und der Überschreitung«311, die als ekstatischer Moment die 307 308 309 310 311

Ebd. S. 372. Ebd. S. 362. Ebd. S. 349. Ebd. S. 372 f. Brandstetter, Gabriele: Divested Interests. Ökonomie der Entblößung in Arthur Schnitzlers

Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925]

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schnöde Dimension der ökonomischen Aufrechnungslogik sprengt. Geklammert wird dieser Augenblick rieselnder Wollust dennoch von der geschäftlichen Angelegenheit. Elses Versuch, sich lustvoll als sexuelles Wesen autonom zu bestimmen – souveränes Luder und nicht käufliche Dirne – und zugleich Dorsdays Forderung indirekt zu erfüllen, führt in diesem Spannungsverhältnis letztlich zum Scheitern. Von der handelstechnischen Seite aus gesehen ist fragwürdig, ob Dorsday sich genötigt sieht, seinen Teil der Abmachung einzuhalten, da Else nur bedingt ihre Hälfte der Geschäftsbedingungen erfüllte. Else ist sich dessen sehr wohl bewusst und ermahnt in einem vorher für Dorsday verfassten Brief diesen auf sein Ehrenwort hin, die entsprechende Geldsumme nach Elses Auftritt zu überweisen. Elses öffentliche Entblößung stellt letztlich den verzweifelten Versuch dar, innerhalb einer von Geld durchgeordneten Welt Autonomie und Selbstbestimmung zu bewahren. Dabei lässt die Erzählung offen, ob ihr Versuch, der Geschäftslogik der Warenwirtschaft ein Schnippchen zu schlagen, glückt oder scheitert. Else selbst kommen in ihren letzten Momenten, nachdem sie schon das Glas mit den Schlaftabletten getrunken hat, erhebliche Zweifel: Dorsday, Dorsday! Das ist ja der – Fünfzigtausend! Wird er sie abschicken? Um Gottes willen, wenn er sie nicht abschickt? Ich muss es ihnen sagen. Sie müssen ihn zwingen. Um Gottes willen, wenn alles umsonst gewesen ist?312

Unabhängig davon, ob Elses ›Plan‹ aufgeht und sie die Finanzen des Vaters sanieren kann, bleibt ihre Entblößung im Musikzimmer ein öffentlich Skandal, von dem sie meint, ihn nur mit einem Selbstmordversuch beantworten zu können. Losgelöst von der Geschäftsvereinbarung zwischen Else und Dorsday nimmt die Gesellschaft des Musikzimmers nur die scheinbar ebenso motivationslose wie plötzliche Entblößung und den Zusammenbruch einer jungen Frau wahr. Auf dieser Ebene ist die Entblößung nicht die Folge eines unmoralischen Angebots eines guldenschweren Parvenüs, sondern ein Verstoß Elses gegen Verhaltens- und Inszenierungsnormen der Gesellschaft. Die historischen Verweislinien der Erzählung in Bezug auf die Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf dem Fundament von ökonomischem Vermögen und moralischer Zersetzung stehen im direkten Zusammenhang mit der psychischen Konstitution der Protagonisten. Gemäß dem Primat des kulturellen Umfeldes stiften vor allem die Fragen nach den Geschlechterbeziehungen und den monetären Verhältnissen das Gerüst und Korsett von Elses Fühlen, Denken und Bewerten. Schnitzler Erzählstrategie des inneren Monologs dient dabei zum einen als Versprachlichung von Elses psychischen Vorgängen, ›Fräulein Else‹ und Marina Abramovic’ ›Freeing the Body‹. In: Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich. Hrsg. v. Kerstin Gernig. Köln u. a.: Böhlau Verlag 2002. S. 241 – 271. S. 242. 312 Schnitzler, A.: Fräulein Else. S. 379.

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zum anderen ist sie aber auch lesbar als Gegenstück eines gesellschaftlichen Schweigeverbots, das den Frauen aufgelegt war und ihnen ihre Positionen im Netz der Gesellschaft zuwies. In dieser Form des stummen Redens, als ein nach außen schweigendes Sprechen, hat »die über die Frau verhängte soziale Sprachlosigkeit ihr Korrelat.«313 Zugleich wird die Erzähltechnik eines fortlaufenden Bewusstseinsstroms zum »idealen Medium für die literarische Gestaltung eines Seelendramas.«314 Die von Schnitzler verwendete Form des inneren Monologs ist, so Barbara Neymeyr, eine Erzählstrategie, durch die das ganze Spektrum der psychischen Vorgänge in einer Figur intensiv zum Ausdruck gebracht werden kann, spontane Assoziationen und intuitive Reaktionen ebenso wie heftige Affekte, unkontrollierte Impulse, disparate Gedankensplitter und heimliche Strategien.315

Durch diesen Kniff der Erzählstrategie, bei dem der Leser das Geschehen der Handlung radikal subjektiv aus der Sicht der Protagonistin miterlebt, führt Schnitzler den Niederschlag der gegebenen gesellschaftlich-kulturellen Normen und Erwartungshaltungen im psychischen Apparat des Individuums vor und inszeniert es als ein Ringen um Anpassung und Verweigerung. An der Figur der Else dramatisiert sich diese grundlegende Struktur eines von außen forcierten inneren Konflikts vor dem Hintergrund der Kategorie des Geschlechts. Elisabeth Bronfen dazu: Frl. Else gibt auf nüchtern explizite Weise wieder, wie die gesellschaftlich nicht definierte voreheliche Frau den Ort eines Enigmas ausmacht, wie sie als überhöhtes Objekt einer erotischen, ästhetischen und ökonomischen Spekulation ausgestellt wird, im gleichen Zuge, in dem sie sich selber unsicher ist, welchen Ort sie innerhalb ihrer Gesellschaft einnehmen will.316

Während Else in einem ökonomischen Geschäft zum »töchterlichen Tauschobjekt«317 degradiert wird, das »unter allen Umständen«318, wie es im Brief der 313 Lange-Kirchheim, Astrid: Trauma bei Arthur Schnitzler – Zu seiner Monolognovelle ›Fräulein Else‹. In: Trauma. Hrsg. v. Wolfram Mauser und Carl Pietzcker. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2000. Reihe: Freiburger Literaturpsychologische Gespräche; Bd. 19. S. 109 – 149. S. 112. 314 Neymeyr, Barbara: Fräulein Else. Identitätssuche im Spannungsfeld von Konvention und Rebellion. In: Interpretationen. Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Hrsg. v. HeeJu Kim und Günter Saße. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2007. S. 190 – 208. S. 191. 315 Ebd. S. 190. 316 Bronfen, Elisabeth: Weibliches Sterben an der Kultur. Arthur Schnitzlers ›Fräulein Else‹. In: Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse Umwelt Wirkungen. Hrsg. v. Jürgen Nautz und Richard Vahrenkamp. 2., unveränderte Auflage 1996. Wien u. a.: Böhlau Verlag 1993. Reihe: Studien zu Politik und Verwaltung; Bd. 46. S. 464 – 480. S. 466. 317 Lange-Kirchheim, A.: Trauma bei Arthur Schnitzler – Zu seiner Monolognovelle ›Fräulein Else‹. S. 112. 318 Schnitzler, A.: Fräulein Else. S. 331.

Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925]

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Mutter heißt, dazu angehalten ist, die benötigte Summe an Geld einzuspielen, befindet sich ihre gesellschaftliche Identität als Frau in einem unklaren Zwischenstand. Als junge, noch unverheiratete Frau hat sie einerseits den Standort der kindlichen Tochter bereits verlassen, ist in der Gesellschaft aber andererseits als eine festgeschriebene Position noch nicht angekommen. In ihrem gesellschaftlichen Zwischenstatus – nicht mehr kindliche Tochter, noch nicht initiierte (Ehe-)Frau – fällt sie zurück auf das, was sie augenscheinlich hat: ihre Körperlichkeit. Else selbst weist immer wieder auf ihre Vorzüge als Objekt eines lustvollen Blickes hin, kokettiert mit ihren ästhetischen Qualitäten und lässt sie einfließen in ihren sie treibenden Exhibitionismustrieb. So heißt es in der Erzählung, während Else sich in ihrem Zimmer für die entscheidende Unterredung mit Dorsday herrichtet: »Ich muß Licht machen. Kühl wird es. Fenster zu. Vorhang herunter? – Überflüssig. Steht keiner auf dem Berg drüben mit einem Fernrohr. Schade.«319 Zum einen gilt es für Else, sich den Codes des Anstandes zu unterwerfen, also gegebenenfalls die Vorhänge zu schließen und unerhörte Einblicke abzuwehren. Zum anderen fordert ihre Lust an der eigenen öffentlichen Zurschaustellung die Blicke Anderer geradezu heraus. In einer ähnlichen Szene, wieder in ihrem Zimmer und während Else sich für ihren großen Auftritt im Musiksalon vorbereitet, sinniert sie im Vorfeld des eigentlichen Rausches: »Schön, schön bin ich! Schau’ mich an, Nacht! Berge schaut mich an! Himmel schau’ mich an, wie schön ich bin. Aber ihr seid ja blind. Was habe ich von euch. Die da unten haben Augen.«320 ›Die da unten‹ meint konkret die Gäste unten in den öffentlichen Räumen des Hotels, es ist aber ebenfalls allgemein im Sinne einer Hierarchisierung zu lesen; Else will nicht nur lediglich gesehen, sondern für ihre Schönheit auch bewundert werden. In ihrer Lust an der Zurschaustellung begreift Else ihre Nacktheit nicht als einen selbstgenügsamen Akt, sondern will ihre körperliche Schönheit als Wert und als bewunderungswürdig verstanden wissen. Angesichts der von Dorsday und der von der Mutter verlangten Summe imaginiert Else in bester Marktfraumanier ihre Nacktheit als sensationelles Angebot: »O, mein Herr, nackt bin ich noch viel schöner, und es kostet einen Spottpreis, dreißigtausend Gulden. Vielleicht bringen Sie ihre Freunde mit, dann kommt es billiger.«321 Else begreift sehr wohl die Qualität des Geldes als objektiven Maßstab zur Wertsetzung verschiedener Handlungen und Produkte, verwirft diese Logik in ihrer öffentlichen Zur-Schau-Stellung aber zu Gunsten eines ekstatischen Lustgewinns. Doch für diesen Lustgewinn bedarf sie der Blicke Anderer und einer öffentlichen Bühne. Es gehört zum Wesen von Else Exhibitionismus und erklärt ihre innere Anspannung, dass die Zentrierung der 319 Ebd. S. 334. 320 Ebd. S. 365. 321 Ebd. S. 348.

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Blicke Anderer auf ihren nackten Körper einen Bruch mit den gesellschaftlichen Normen bedeutet. Elses Versuch der Identitätsstiftung im Exhibitionismus provoziert per se einen Skandal, da dieser gegen bestehende Ver- und Gebote des Zeigens und Sehens verstößt. Darüber hinaus verweist diese Spannung auf das gesellschaftliche Dilemma, dem Else als Frau ausgesetzt ist. Elses Lust an einer offensiven Zur-Schau-Stellung als Körper der Schönheit fällt zusammen mit einem männlich dominierten Blick auf diese Schönheit. Else selbst ist sich dessen bewusst und weiß, dass ihre Körper wesentlich Körper für Andere ist. Immer wieder imaginiert sie sich als ›Braut‹ eines zukünftigen Ehemannes. Sie weiß, dass sie sich nicht Selbstzweck ist, sondern es ihre gesellschaftliche Bestimmung ist, einem anderen Menschen zugeführt zu werden. Elses Frage »Für wen bin ich schön?«322 ist nur bedingt als eine augenzwinkernde Koketterie ihrer exhibitionistischen Leidenschaft zu lesen. Dass diese Frage durchaus konkreter und im Rahmen der eigenen Positionsermittlung innerhalb des Gesellschaftsgefüges gedacht ist, wird deutlich, wenn sie kurz darauf zu einer ähnlichen Frage die höchst konventionelle Antwort gleich mitliefert: Ich nehme den weißen Schal, der steht mir gut. Ganz ungezwungen lege ich ihn um meine herrlichen Schultern. Für wen habe ich sie denn, die herrlichen Schultern? Ich könnte einen Mann sehr glücklich machen. Wäre nur der rechte Mann da. Aber Kind will ich keines haben. Ich bin nicht mütterlich. Marie Weil ist mütterlich. Mama ist mütterlich, Tante Irene ist mütterlich. Ich habe eine edle Stirn und eine schöne Figur.323

Else ist schön vor allem für Männer, für einen zukünftigen Ehemann und potentielle Liebhaber. Else richtet sich her und hinterfragt sich immer wieder selbstkritisch vor der Folie eines antizipierten männlichen Blicks. Dieser männliche Blick, d. h. ein Blick, der sie auf ihre möglichen mütterlichen und/ oder ästhetischen Qualitäten als Objekt sexueller männlicher Lust hin abtastet und bewertet, ist der entscheidende Maßstab, an dem Else sich misst und ausrichtet. Dieser prinzipielle und dauerhafte Blick der objektivierten Frau auf sich selbst lässt sich auch in der Spiegelszene nachweisen. Dazu die Szene im Wortlaut: Ah, wie hübsch ist es, so nackt im Zimmer auf- und abzuspazieren. Bin ich wirklich so schön wie im Spiegel? Ach, kommen Sie doch näher, schönes Fräulein. Ich will ihre blutroten Lippen küssen. Ich will ihre Brüste an meine Brüste pressen. Wie schade, daß das Glas zwischen uns ist, das kalte Glas. Wie gut würden wir uns miteinander vertragen. Nicht wahr? Wir brauchen gar niemand andern. Es gibt vielleicht gar keine andern Menschen. Es gibt Telegramme und Hotels und Berge und Bahnhöfe und Wälder, aber Menschen gibt es nicht. Die träumen wir nur. […] O, ich bin keineswegs 322 Ebd. S. 335. 323 Ebd. S. 336.

Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925]

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verrückt. Ich bin nur ein wenig erregt. Das ist doch ganz selbstverständlich, bevor man zum zweitenmal auf die Welt kommt.324

Diese Szene ist zum einen lesbar im Hinblick auf Elses Exhibitionismus. Sie versinnbildlicht aber auch das Schicksal der Frau in einer von Männern und ihren Wünschen bestimmten Gesellschaft. Reduziert auf ihre körperlichen Reize wird sie gleichsam in Besitz wie aus dem öffentlichen Verkehr genommen. Mit ihrer ›zweiten‹, sozialen Geburt als (Ehe-)Frau wird sie fast nahtlos aus der Obhut des Vaters in die Hände des (Ehe-)Mannes weitergerecht und fortan aus der Sphäre der Öffentlichkeit in den Hintergrund der Privatgemächer der Familie und Kindererziehung gedrängt. Else, die sich in dieser kurzen unbestimmten Phase der Übergabe befindet, nimmt hier ihre (potentielle) Zukunft als eine aus dem öffentlichen Verkehr gezogene Frau vorweg, indem sie im Spiel mit dem Spiegel beide Rollen, die der Frau/des Objektes und die des Mannes/des Subjektes des Blickes, besetzt. Und gerade weil sich Else mit ihren neunzehn Jahren und ohne direkte elterliche Aufsicht in diesem sozial so schlecht kartografierten Übergangsraum befindet, steckt sie in dem Dilemma, zum einen um so gravierender auf ihre aufreizende Körperlichkeit reduziert zu werden, zum anderen aber ebenfalls besonderen Regeln des Anstandes unterworfen zu sein. In diesem Kontext weist Bronfen darauf hin, dass mit der Figur der Else »die Doppelmoral ihrer Kultur [inszeniert wird], welche von einer Frau fordert, sich in ein Zeichen für das männliche Begehren zu verwandeln, doch gleichzeitig die Unanständigkeit solch eines Verhaltens anklagt.«325 Else ist sich zum einen dieser Codes des verlangten Anstandes bewusst. So bedauert sie z. B., während sie sich für das Gespräch mit Dorsday einkleidet: »Der Ausschnitt ist nicht tief genug; wenn ich verheiratet wäre, dürfte er tiefer sein.«326 Sie hat die von ihr erwarteten Verhaltensweisen der Koketterie und des aufreizenden Flirts dermaßen verinnerlicht, dass sie, hierbei allerdings wieder unterstützt von ihrem exhibitionistischen Trieb, ihre Programme geradezu als Automatismen abspielt. So ist sie im Gespräch mit Dorsday mal passives, mal aktives Objekt der Begierde: »Warum drückt er seine Knie an meine, während er da vor mir steht. Ach, ich lasse es mir gefallen. Was tut’s! Wenn man einmal so tief gesunken ist.«327 Und: »Aber ich lächle ihn ja an. Warum lächle ich denn?«328 Elses Identitätssuche ist vor dem Hintergrund der gegebenen Erwartungshaltungen und Rollenmuster der sie umgebenden Gesellschaft verstehbar und einzuordnen. Identität und Inszenierung sind die zwei Seiten einer Medaille des 324 325 326 327 328

Ebd. S. 365. Bronfen, E.: Weibliches Sterben an der Kultur. S. 472. Schnitzler, A.: Fräulein Else. S. 334. Ebd. S. 342. Ebd. S. 344.

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›Sozialtieres‹ Mensch; sie verweisen aufeinander und stellen in ihrem Zusammenspiel die Münze dar, mit der das Individuum zu wuchern hat. Dem Körper kommt dabei eine zentrale Rolle zu: Zum einen ist er der Träger einer Reihe der markantesten Merkmale zur sozialen Einordnung der Person – Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, gesundheitliche Verfassung –, zum anderen stellt gerade der seiner Kleider beraubte, der nackte Körper eine Zone höchster Intimität dar. In diesem Zusammenhang gewinnt auch der Blick auf den Körper eine doppelte Rolle. Erstens ›liest‹ er die vom Körper ausgehenden sozialen Signale ab und wird somit zu einem Moment der Einordnung des Gegenübers, zweitens zielt der Blick auf den nackten Körper direkt in die Intimsphäre des Individuums und somit auf die ungeschützte Person. Mit Bronfen ist zu sagen, »daß der Anblick ihres[, Elses,] nackten Körpers bereits eine Form des Besitzens ist[…].«329 Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, wie Elses finale Entblößung im Musikzimmer lesbar ist. Doch zuvor sei an dieser Stelle nochmals explizit auf Elses Schamgefühle eingegangen. Auf der einen Ebene sieht sie sich angesichts der Aussicht, allein schon Dorsday um das Geld bitten zu müssen, mit Schamgefühlen konfrontiert: »Ich soll mit Dorsday sprechen? Zu Tod’ würde ich mich schämen. – – Schämen, ich mich? Warum? Ich bin ja nicht schuld.«330 Hier fühlt sich Else durch die abverlangte Rolle als Bittstellerin erniedrigt und reagiert darauf einerseits dadurch, dass sie versucht, Schuld und Scham zu trennen, und andererseits dadurch, dass sie immer wieder – wie auch schon die Mutter in dem Brief – zur Abwehr nicht sich, sondern Dorsday den niederen sozialen Posten zuweist: »Nein, Herr von Dorsday, ich glaube Ihnen Ihre Eleganz nicht und nicht Ihr Monokel und nicht Ihre Noblesse. Sie könnten ebenso gut mit alten Kleidern handeln wie mit alten Bildern.«331 In diesem Kontext ist Scham als Furcht vor dem Verlust von sozialem Prestige zu sehen. Analog dazu ist auch der Auftrag, das Geld zu beschaffen, vor allem vor dem Hintergrund zu deuten, einen Skandal zu vermeiden. Dazu die Mutter in ihrem Brief: Und abgesehen davon, daß wir alle ruiniert sind, wird es ein Skandal, wie er noch nicht da war. Denk’ dir, ein Advokat, ein berühmter Advokat, – der, – nein, ich kann es gar nicht niederschreiben. Ich kämpfe mit den Tränen.332

Auf einer anderen Ebene stehen Schamgefühle aber in direktem Kontakt mit Elses exhibitionistischem Begehren und sind in diesem Fall Teil des Lustkonstrukts. Elsbeth Dangel-Pelloquin weist in ihrer Untersuchung zu Figuren der Scham bei Schnitzler darauf hin, dass in Schnitzlers Erzählungen Frauen Scham 329 330 331 332

Bronfen, E.: Weibliches Sterben an der Kultur. S. 472. Schnitzler, A.: Fräulein Else. S. 332. Ebd. S. 333. Ebd. S. 329.

Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925]

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»oft in Verbindung mit erotischen Normverstößen«333 empfinden. So sind es auch für Else die mit der Entblößung verbundenen Schamgefühle, die der Aktion erst ihre Würze geben. Else bekennt: »Ich möchte mich schämen.«334 Allerdings ist ihre erwünschte Scham an einen Adressaten gebunden. Nicht vor Dorsday möchte sie sich schämen, sondern vor dem als Motiv immer wieder auftauchenden ›Filou mit dem Römerkopf‹. Diese Wunschfigur ist angelehnt an einen realen Gast, der auch zum entscheidenden Zeitpunkt im Musikzimmer mit anwesend ist. Für Else ist Scham elementarer Bestandteil zur Erotisierung der Situation; Scham, Schamlosigkeit und Lust bedingen einander. Vor dem Hintergrund eines imaginierten Publikums von ›Schuften‹ heißt es bei ihr : »Schämen vor Euch? Ich mich schämen vor irgend wem? Das habe ich wirklich nicht nötig.«335 Gemäß dieser Logik fallen im finalen Akt, als Else nach ihrem Auftritt zusammengebrochen auf dem Boden liegt, Glück, Scham und Schamlosigkeit in nahe Verwandtschaft: Was reden sie denn da? Was murmeln sie denn da? Ich bin kein armes Kind. Ich bin glücklich. Der Filou hat mich nackt gesehen. O, ich schäme mich so. Was habe ich getan? Nie wieder werde ich die Augen öffnen.336

Elses Exhibitionismus verlangt den Skandal gleichermaßen wie Gefühle der Scham, um seine ekstatischen Höhen zu erreichen. Sie lässt sich von Dorsday nicht zu einer exklusiven Ware degradieren, sondern verschleudert ihr ›Kapital‹, indem sie ihre Nacktheit allen Menschen im Musikzimmer zugänglich macht. Nicht der Geld-, sondern der Glücksgewinn steht für sie in dem Vordergrund. Dieses orgiastische Glück wiederum speist sich wesentlich aus der Spannung zwischen Scham, Norm und Normverstoß. Elses großer Auftritt ließe sich in einem Sinne lesen als ein Moment gelungener selbstbestimmter Sinnlichkeit. Nicht Dorsday gibt sie nach, nicht den gesellschaftlichen Regeln für adäquates weibliches Benehmen in der Öffentlichkeit, sondern einzig ihrem eigenen exhibitionistischen Verlangen: »Köstlich rieselt es durch meine Haut. Wie wundervoll ist es nackt zu sein. […] Der Filou steht auf. Seine Augen leuchten. Du verstehst mich, schöner Jüngling.«337 Das an die Entblößung sich anschließende Gelächter und ihr körperlicher Zusammenbruch wären dann als körperlicher Ausdruck dieser höchsten Lust zu verstehen, als Zeichen einer aus sich selbst schöpfenden Ekstase. In diesem Sinne könnte Elses Auftritt als eine zweite 333 Dangel-Pelloquin, Elsbeth: Peinliche Gefühle: Figuren der Scham bei Arthur Schnitzler. In: Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert. Hrsg. v. Konstanze Fliedl. Wien: Picus Verlag 2003. S. 120 – 138. S. 123. 334 Schnitzler, A.: Fräulein Else. S. 349. 335 Ebd. S. 366. 336 Ebd. S. 374. 337 Ebd. S. 372 f.

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Geburt hin zu einer selbstbewussten und selbstbestimmten Identität gedeutet werden. Auf diese Interpretationsmöglichkeit weist auch Barbara Neymeyr hin: Den exhibitionistischen Akt vor den Hotelgästen, mit dem Else en passant in abgewandelter Form auch Dorsdays Bedingung erfüllen will, möchte sie nun vorrangig als mentale und erotische Emanzipation verstehen, die ihr eine Art Wiedergeburt ermöglichen soll, den Übergang in eine neue, von erotischer Libertinage bestimmte Luder-Existenz[…].338

Doch mag dieser Akt der Entblößung in seiner skandalösen Unerhörtheit auch revolutionäres Potential haben, so bildet er letztlich doch nicht den Ausgangspunkt für eine neue, selbstbewusste Ich-Identität. Vielmehr folgt auf den rauschhaften Genuss der gesellschaftliche Backlash, angeführt – hier entfaltet die Konditionierungsmacht von Kultur und Gesellschaft ihre ganze Macht – von Else selbst. Ihr hysterisches Gelächter, ihr Zusammenbruch und ihr Griff zum Glas voller Schlaftabletten sind letztlich weniger Geburtshelfer für eine neue, selbstbewusste weibliche Ich-Identität, sondern mehr Gesten des schuldhaften Eingeständnisses und der Aufgabe. »Was habe ich denn getan? Was habe ich getan? Was habe ich getan? Ich falle um. Alles ist vorbei.«339 Im Zusammenbruch führt Else sich dreimal die Frage ihrer Tat vor Augen. Wirkt sie das erste Mal durch das eingeschobene ›denn‹ noch wie die Frage eines verwirrten Unschuldigen, der nichts von den Verbrechen weiß, für die ihn die Gesellschaft zur Rechenschaft ziehen will, so wandelt sie sich im weiteren Verlauf zur Selbstanklage, vor der Else kapituliert. An dieser Stelle lösen sich auch die Schamgefühle von ihrem Verhältnis zu Elses Exhibitionismus und agieren hauptsächlich wieder in ihrer ursprünglichen sozialen Funktion als Agenten des herrschenden Systems. Hier sei nochmals auf das bereits weiter oben angegebene Zitat verwiesen: »O, ich schäme mich so. Was habe ich getan? Nie wieder werde ich die Augen öffnen.«340 So lässt sich wiederum mit Neymeyr festhalten, dass [d]ie vermeintliche Emanzipation durch den exhibitionistischen Akt, den Else als Rebellion gegen alle bürgerlichen Normen und als Ausdruck vollkommener Autonomie betrachtete, […] sich allerdings als bloße Attitüde [erweist.]341

Elses Unterfangen wird somit (halb-)bewusst342 von ihr selbst sabotiert; sie präpariert das Glas mit Schlaftabletten, schreibt Dorsday vorsorglich einem 338 339 340 341 342

Neymeyr, B.: Fräulein Else. S. 204. Schnitzler, A.: Fräulein Else. S. 373. Ebd. S. 374. Neymeyr, B.: Fräulein Else. S. 205. Das ›Halbbewusste‹ oder auch ›Mittelbewusste‹ ist innerhalb von Schnitzlers psychologisch geprägten Texten immer wieder von entscheidender Bedeutung. Das Halb- oder Mittelbewusste ist dabei, in den Worten Schnitzlers, »eine Art fluktuierendes Zwischenland zwischen Bewußtem und Unbewußtem.« (Schnitzler, Arthur : ›Psychologische Literatur‹.

Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925]

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Brief, in dem sie ihn zur Zahlung anhält, und schließlich leert sie nach ihrem Auftritt traumwandlerisch das Glas mit den Tabletten. Aber vor allem ihr Körper entzieht sich ihrer Verfügungsgewalt und ist, im unkontrollierten Lachen und im Zusammenbruch, Träger der Konterrevolution. Else bleibt bei Bewusstsein, während ihr Körper vom Lachanfall hinein in eine Ohnmacht stürzt: »›Ha, ha, ha!‹ Wer lacht denn da? Ich selber? ›Ha, ha, ha!‹ Was sind denn das für Gesichter um mich? ›Ha, ha, ha!‹ Zu dumm, daß ich lache. Ich will nicht lachen, ich will nicht.«343 Und: »Tausend Leute sind um mich. Sie halten mich alle für ohnmächtig. Ich bin nicht ohnmächtig. Ich träume nur.«344 In dem Augenblick, in dem Else sich vor den Blicken der Öffentlichkeit in unerhörter Weise ausstellt, folgt mit dem Blick der Öffentlichkeit auf diesen Körper die Sanktion. Im finalen Griff zum Schlaftablettenglas manifestiert sich das Urteil der Gesellschaft und Else wird zur Komplizin ihres eigenen Untergangs. Von der Außenwelt als pathologischer Eklat gekennzeichnet – Elses Tante geht so weit, sie in eine Anstalt einweisen lassen zu wollen –, greift Else noch am selben Abend im einverständlichen Gehorsam den sozialen Mechanismen voraus und tilgt sich selbst. Sie trinkt das Glas in dem Moment, als sie alleine in ihrem Zimmer ist und die Anderen ihr von der Tür aus den Rücken kehren. Die gestörte Ordnung der Gesellschaft wird so durch die Selbstauslöschung des Individuums wieder hergestellt. Else scheitert an dem Widerspruch ihres eigenen libidinösen Begehrens mit den sie umgebenden Parametern aus geldwirtschaftlicher Notwendigkeit und gesellschaftlich erwarteten Verhaltensnormen. Schnitt- und Kontrollpunkt der beiden Sphären von innerer Befindlichkeit und äußerem Erwartungsdruck ist das Schamgefühl, welches bei Else als gesellschaftliche Sanktionsmacht und lustrelevante Transgressionsschwelle doppelt belegt ist. Blick und Sichtbarkeit sind dabei die Kategorien, innerhalb derer sich privates Begehren und öffentliche Erwartungshaltungen unlösbar miteinander verschränken. Um diese prinzipielle Konfliktlinie zwischen subjektivem Anliegen und gesellschaftlichem Korsett gruppieren sich auch die Ereignisse in Arthur Schnitzlers Traumnovelle. Als wohl entscheidender Unterschied zwischen Else und den Protagonisten der Traumnovelle ist zu sehen, dass es sich bei Albertine und Fridolin um erwachsene Mitglieder der Gemeinschaft handelt, die mit Ehe, Kind und Arztberuf in der ehrenwerten Mitte der Gesellschaft einen festen Platz haben. Doch anhand der Traumsequenzen und der nächtlichen Abenteuerreise Fridolins führt Schnitzler vor, wie unaufhörlich wirkende Begehrensstrukturen und unterschwellige Konfliktlinien die Fassade heiler Bürgerlichkeit untermiIn: Ders.: Gesammelte Werke. Aphorismen und Betrachtungen. Hrsg. v. Robert O. Weiss. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1967. S. 454 – 455. S. 455) 343 Schnitzler, A.: Fräulein Else. S. 373. 344 Ebd. S. 374.

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nieren und auch der vergesellschaftete Mensch unter seiner dünnen Schicht zivilisatorischer Domestikation ein die Lust suchendes Tier ist. Schnitzler zeigt aber auch, dass, trotz allem Triebbegehren und innerem Leiden an den Fesseln der modernen Welt, der Mensch nicht an sein animalisches Erbe verloren ist, sondern sich, wenn auch nicht unbedingt glücklich, so aber doch in Übereinkunft mit der Vernunft, im Schoß der Bürgerlichkeit aus freien Stücken zu verankern weiß. In der Traumnovelle, entstanden in den Jahren 1920 bis 1924, erschienen 1926, zentriert Schnitzler ein weiteres Mal das antagonistische Verhältnis von trieborientiertem Begehren und bürgerlicher, am gesellschaftlichen Status quo orientierter Vernunft. In dieser Novelle, die Schnitzler erst unter dem Titel ›Doppelnovelle‹345 konzipierte, wird die Ehe- und Identitätskrise zweier Menschen angesichts der Spannungen zwischen bürgerlichen Erwartungen und sexueller Lust thematisiert. Schnitzler bedient sich dabei der Bilder des Karnevals, der Maskerade und der Nacktheit, um den Bereich des Begehrens abzustecken. Sowohl im gemeinsamen Erlebnis der Karnevalssituation als auch getrennt voneinander in Albertines Traum und in Fridolins nächtlicher Teilnahme am geheimnisvollen Maskenball brechen Begehrensmuster auf, die die bürgerliche Existenz der Protagonisten dramatisch konterkarieren. Eingeführt durch die direkt zitierten Sätze einer märchenhaften Gutenachtgeschichte eröffnet Schnitzler seine Erzählung mit dem Bild eines vermeintlichen Familienidylls, in dem zwei Eheleute der gehobenen Bürgerschicht – Dienstpersonal ist vorhanden – ihr gemeinsames Töchterchen zur Nacht betten. ›Neun Uhr,‹ sagte der Vater, ›es ist Zeit schlafen zu gehen.‹ Und da sich nun auch Albertine zu dem Kind herabgebeugt hatte, trafen sich die Hände der Eltern auf der geliebten Stirn, und mit zärtlichem Lächeln, das nun nicht mehr dem Kinde allein galt, begegneten sich ihre Blicke. Das Fräulein trat ein, mahnte die Kleine, den Eltern gute Nacht zu sagen; gehorsam erhob sie sich, reichte Vater und Mutter die Lippen zum Kuß und ließ sich von dem Fräulein ruhig aus dem Zimmer führen. Fridolin und Albertine aber, nun allein geblieben unter dem rötlichen Schein der Hängelampe, hatten es mit einemmal eilig, ihre vor dem Abendessen begonnene Unterhaltung über die Erlebnisse auf der gestrigen Redoute wiederaufzunehmen.346

Doch das harmonisch scheinende Bild ist hier schon gebrochen. Zum einen weisen die ›vierundzwanzig braunen Sklaven der prächtigen Galeere‹ im Einleitungssatz der vorangehenden Gutenachtgeschichte schon auf Albertines erotisch-sadistischen Traum später in der Erzählung hin, in dem ›Galeerensklaven‹ Fridolin herbeirudern. Zum anderen ist das aufflammende Interesse 345 Vgl. Heizmann, Bertold: Erläuterungen und Dokumente. Arthur Schnitzler Traumnovelle. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2006. Reihe: Reclams Universal-Bibliothek Nr. 16054. S. 55. 346 Schnitzler, Arthur : Traumnovelle. In: Ders.: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften. 2. Bd. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1961. S. 434 – 504. S. 434.

Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925]

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der Eheleute an der Redoute des vorherigen Tages Marker eines Begehrens an den Rändern des gesellschaftlich Erlaubten. Am Tag zuvor besuchten beide einen Karnevalsball, auf dem es, gelockt durch das Spiel der Verkleidung und befeuert durch das informelle Umfeld, zu einem Rollenspiel des ›ersten Mals‹ zwischen den beiden Eheleuten kam. Auf dem Maskenball plauderten [sie] sich vergnügt, als hätten sie eben erst Bekanntschaft miteinander geschlossen, in eine Komödie der Galanterie, des Widerstandes, der Verführung und des Gewährens hinein; und nach einer raschen Wagenfahrt durch die weiße Winternacht sanken sie einander daheim zu einem schon lange Zeit nicht mehr so heiß erlebten Liebesglück in die Arme.347

Dieses Spiel, in dem beide so tun, als würden sie sich einander als zwei Fremde das erste Mal begegnen, gewinnt an erotischer Spannung gerade durch den Aspekt, aus der sonst so bekannten Alltagsidentität spielerisch herausgeglitten zu sein. In diesem Zusammenhang verweist Hee-Ju Kim darauf, dass sich »das Liebesglück [dieser Nacht] einem imaginären Ehebruch [verdankt], der freilich in bestem Einvernehmen beider Eheleute zustande kommt.«348 Dieses ›so heiß erlebte Liebesglück‹ empfängt seine Hitze gerade aus dieser doppelten Belegung: im Spiel sich auf einen Fremden/eine Fremde eingelassen zu haben, in der Wirklichkeit nicht den Ehebruch begangen zu haben. Sylvia Mieszkowski sieht darin, »daß die Wahl gegen den Ehepartner einerseits nicht getroffen wurde, andererseits aber als potentielle Variante, als Möglichkeit dennoch sichtbar bleibt«349, gerade ein Dienliches für die Beziehung von Albertine und Fridolin, »sei es zur Stärkung des Bundes, sei es zur Abwehr eines Bruches […].«350 Als stärkendes Abenteuer ohne echte Gefahr erlischt die Aura eines verruchten OneNight-Stands mit einem Fremden/einer Fremden nicht sofort nach Vollzug, sondern überlebt als Kitzel und Anhauch einer unerhörten Möglichkeit die öden Erfordernisse des Alltags. So heißt es direkt im Anschluss an die Schilderung der Liebesnacht weiter : Ein grauer Morgen weckte sie allzubald. Den Gatten forderte sein Beruf schon in früher Stunde an die Betten seiner Kranken; Hausfrau- und Mutterpflichten ließen Albertine 347 Ebd. S. 435. 348 Kim, Hee-Ju: Traumnovelle. Maskeraden der Lust. In: Interpretationen. Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Hrsg. v. Hee-Ju Kim und Günter Saße. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2007. S. 209 – 229. S. 210. 349 Mieszkowski, Sylvia: Das ›Leuchten der Möglichkeiten‹. Arthur Schnitzlers Traumnovelle und Stanley Kubricks Eyes Wide Shut. In: Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe. Hrsg. v. Andreas Kraß und Alexandra Tischel. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2002. Reihe: Münchener Universitätsschriften. Geschlechterdifferenz & Literatur. Publikationen des Münchener Graduiertenkollegs. Hrsg. v. Gerhard Neumann und Ina Schabert. Bd. 14. S. 210 – 228. S. 214. 350 Ebd.

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kaum länger ruhen. So waren die Stunden nüchtern und vorbestimmt in Alltagspflicht und Arbeit hingegangen, die vergangene Nacht, Anfang wie Ende, war verblaßt; und jetzt erst, da beider Tagwerk vollendet, das Kind schlafen gegangen und von nirgendher eine Störung zu gewärtigen war, stiegen die Schattengestalten von der Redoute[…] wieder zur Wirklichkeit empor[…].351

Erst noch als Aphrodisiakum wirksam, bricht, am Tage von Erfordernissen des Alltags überdröhnt, das Spiel mit der erotischen Erfüllung zur ruhigen Stunde des Abends wieder hervor und befeuert die Eheleute erneut. Doch im Gegensatz zur vorherigen Nacht entfacht das Begehren hier nicht ein lustvolles Feuerwerk, entfaltet in seiner Darlegung keine Stärkung, sondern zeitigt eine Gefährdung des Ehebundes. Es wird offenbar, dass die erotische Anziehung der vorigen Nacht eigentlich nicht einander galt, sondern den verkleideten Unbekannten auf dem Fest, mit denen sich Albertine und Fridolin vor ihrem Rollenspiel unterhielten. Angestachelt von ihren gegenseitigen Bekenntnissen, innerhalb derer sich »beide zu gelinder Rache aufgelegt«352 fühlten, setzt sich erstens das ganze Karussell der Traumerzählungen, nächtlichen Ausflügen, imaginierten und Beinahe-Betrügereien überhaupt erst in Bewegung, und zweitens entlarvt es die Liebesnacht zuvor letztlich als billige Ersatzhandlung für einen tatsächlichen Ehebruch. Was die Nacht zuvor so sehr erotisch auflud, war nicht, dass es nur ein Spiel war, sondern dass sie der Wirklichkeit eines außerehelichen sexuellen Abenteuers noch nie so nahe waren. Die Erzählung Schnitzlers setzt also nicht mit einem besonders harmonischen Bild einer Familie ein, sondern vielmehr strukturieren von Beginn an mächtige Begehrensimpulse die Handlungen der Eheleute und unterhöhlen die Fassade des Familienidylls mit dem nagenden Zahn eigentlich erwünschter, doch bisher nicht vollzogener erotischer Begehrlichkeiten. Ohne auf jede Station ihrer surrealen Reise im Schwellenland zwischen bürgerlicher Ehe-Attitüde und erotischer Tour de Force einzugehen, sei im Folgenden Fridolins Besuch des geheimen Maskenballs fokussiert. Der Maskenball in einer Vorstadtvilla, zu dem er sich unerlaubterweise Zutritt verschafft, stellt den Kulminationspunkt von Fridolins Suche nach Abenteuer und erotischer Erfüllung dar. In der surrealen Welt einer Geheimgesellschaft, in der alle Gesichtsmasken tragen, doch die Frauen schnell ihre restliche Kleidung verlieren, verdichten sich die Gesten des Verlangens hin zum Setting einer sexuellen Orgie. [U]nd Frauen standen unbeweglich da, alle mit dunklen Schleiern um Haupt, Stirn und Nacken, schwarze Spitzenlarven über dem Antlitz, aber sonst völlig nackt. Fridolins Augen irrten durstig von üppigen zu schlanken, von zarten zu prangend erblühten 351 Schnitzler, A.: Traumnovelle: S. 435. 352 Ebd.

Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925]

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Gestalten; – und daß jede dieser Unverhüllten doch ein Geheimnis blieb und aus den schwarzen Masken als unlöslichste Rätsel große Augen zu ihm herüberstrahlten, das wandelte ihm die unsägliche Lust des Schauens in eine fast unerträgliche Qual des Verlangens. Doch wie ihm erging es wohl auch den andern. Die ersten entzückten Atemzüge wandelten sich zu Seufzern, die nach einem tiefen Weh klangen; irgendwo entrang sich ein Schrei; – und plötzlich, als wären sie gejagt, stürzten sie alle, nicht mehr in ihren Mönchskutten, sondern in festlichen weißen, gelben, blauen, roten Kavalierstrachten aus dem dämmrigen Saal zu den Frauen hin, wo ein tolles, beinahe böses Lachen sie empfing. Fridolin war der einzige, der als Mönch zurückgeblieben war, und schlich sich, einigermaßen ängstlich, in die entfernteste Ecke[…].353

Diese Szenerie ruft eine breite Palette an gleichsam sexuellen wie auch Furcht einflößenden Konnotationen hervor. Als übergeordnete und dauerhaft anwesende Gefahr rahmt eine drohende Enttarnung mit unbekannten Folgen für Fridolin das Erlebte. Stets auf angepasstes Verhalten bedacht, doch mit den Zeremonien der Gesellschaft nicht vertraut, ist Fridolin bedroht von ungewollter Exponierung und kollektiver Ächtung. Innerhalb dieser grundsätzlichen Koordinaten verortet sich die Struktur des sexuellen Begehrens. Zum einen wird Fridolin angesichts der nackten Frauenkörper angestachelt; seine Lust am Schauen steigert sich ins Unsägliche. Zum anderen bricht die erst so passiv erscheinende Position der anwesenden Frauen auf und räumt ihnen Macht ein; gerade in der Rätselhaftigkeit konstituieren sie sich als aktive sexuelle Wesen. Es sind die großen Augen, die als ›unlösliches Rätsel‹ zu Fridolin ›herüberstrahlen‹ und ihn, den Mann, als passives Objekt des Blickes bestimmen. Diese kurze Passage ist somit lesbar als Vorwegnahme von Albertines erotischem Traum, in dem sie als Frau die machtvolle, sadistisch-erotische Position einnimmt. Zugleich verdoppelt die Rätselhaftigkeit Albertines Ausspruch »Ach, wenn ihr wüßtet«354, mit dem sie zuvor in der Erzählung ihr für Fridolin so schockierendes Wörthersee-Geständnis eingeleitet hatte. Was sich also für Fridolin als gleichermaßen Rätsel wie empfundene Bedrohung zeigt, ist eine aktive und selbstbestimmte weibliche Sexualität, die jenseits seines Vorstellungs- und Kontrollvermögens liegt. Sexuelle Gier und Furcht reichen einander in der Maskenballszene die Hand und bestimmen Fridolins schwankendes Verhalten zwischen erotischem Teilnahmewunsch, ängstlichem Zurückziehen und plakativ-männlichem Heldentum. In diesem Zusammenhang kommen der Verkleidung und der Maske bzw. der Nacktheit und der drohenden Enttarnung entscheidende Bedeutungen zu. Fridolin ist, wie die anderen Gäste, mit einer Karnevalslarve maskiert und trägt wie alle anderen männlichen Teilnehmer zunächst eine Mönchskutte. Dennoch wirkt er für den genauen Betrachter de353 Ebd. S. 464 f. 354 Ebd. S. 439.

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platziert, denn noch bevor die Herren ihre Kostüme wechseln, wird er von einer mysteriösen Unbekannten entdeckt und, zu seinem eigenem Schutz, zum Gehen aufgefordert. Auch weiteren Teilnehmern beginnt er aufzufallen, die ihn »scharf ins Auge«355 fassen und ihn zu testen versuchen. Doch jene Unbekannte, deren Motivation im Dunkeln bleibt und die sich für Fridolin opfern wird, springt ihm bei und drängt ihn weiter, diesen Ort zu verlassen. »Flieh, ehe es zu spät ist. Und es kann in jedem Augenblick«, so ihre Worte, »zu spät sein. Und gib acht, daß man deine Spur nicht verfolgt. Niemand darf erfahren, wer du bist. Mit deiner Ruhe, mit dem Frieden deines Daseins wäre es vorbei für immer. Geh!«356 Doch Fridolin, »berauscht und durstig zugleich von all den Erlebnissen dieser Nacht«357, weigert sich, der Aufforderung seiner Mahnerin nachzukommen; er inszeniert sich pathetisch: »›Es kann nicht mehr auf dem Spiel stehen als mein Leben,‹ sagte er, ›und das bist du mir in diesem Augenblick wert.‹«358 Doch wie zu erwarten wird Fridolin als ein nicht rechtmäßiger Teilnehmer der Gesellschaft enttarnt und droht nicht nur bloßgestellt, sondern mit seinem bürgerlichen Gesicht entlarvt zu werden. Dazu die Szene im Wortlaut: Die anderen männlichen Masken strömten herein, die Türen nach beiden Seiten schlossen sich. Fridolin stand allein da im Mönchsgewand mitten unter bunten Kavalieren. ›Die Maske herunter!‹ riefen einige zugleich. Wie zum Schutz hielt Fridolin die Arme vor sich hingestreckt. Tausendmal schlimmer wäre es ihm erschienen, der einzige mit unverlarvtem Gesicht unter lauter Masken dazustehen, als plötzlich unter Angekleideten nackt.359

Die Geheim- und Parallelgesellschaft der Maskenmenschen wird total, die Türen schließen sich und jene bürgerliche Welt, der Fridolin verhaftet ist, ist außen vor. Als einziger noch mit dem Mönchsgewand unter den bunten Kavalieren outet sich Fridolin als Uneingeweihter, der nur durch ungeheures Glück und mit schändlicher Betrügerei sich in diese Gesellschaft einschleichen konnte. Die Forderung, die Maske abzulegen, ist deshalb doppelt schmerzhaft, weil sie droht, seine bürgerliche und haftbare ›wahre‹ Existenz zu enttarnen, und weil das demaskierte Gesicht unter all den Larven beschämend wirkt. Was hier vonstattengeht, ist ein doppeltes Spiel mit der Identität und dem Übertritt von einer Gesellschaft in eine andere und wieder aus der Gesellschaft heraus. »Während der Kleiderverlust die gesellschaftliche Isolation symbolisiert, also den Menschen aus der Gemeinschaft ausstößt, ist das Anlegen einer Maske«, so Rolf 355 356 357 358 359

Schnitzler, A.: Traumnovelle. S. 465. Ebd. Ebd. S. 467. Ebd. S. 466. Ebd. S. 468.

Literaturanalyse: Arthur Schnitzlers Fräulein Else [1924] und Traumnovelle [1925]

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Allerdissen in seiner Auseinandersetzung mit der Traumnovelle, »der freiwillige Schritt vom sozial gebunden Wesen hin zu einer Anonymität, die das ungehemmte Ausleben von Trieben, die sonst tabuisiert werden, in verantwortungsfreier Abenteuerlichkeit möglich macht.«360 Kleiderverlust und das Anlegen einer Maske werden hier als zwei gegensätzliche Bewegungen begriffen, die innerhalb des orgiastischen Geheimbundes zusammengeführt werden. Zum einen bauen die Mitglieder eine Parallelgemeinschaft auf, innerhalb derer das Anlegen der Maske das Hinaustreten aus der bürgerlichen Welt und die Auslöschung der bürgerlichen Person symbolisiert. Zum anderen ist hier nicht Nacktheit Symbol der Ausgeschlossenheit, sondern das Ablegen der Gesichtsmaske; das unverlarvte Gesicht wird zum Moment der Re-Identifizierung des Bürgers. Während die Gemeinschaft der Maskierten unter sich nahezu indifferent ist, führt die Demaskierung die Differenz zwischen dem Einzelnen und den Anderen wieder ein. Innerhalb des »öffentlichen, unpersönlichen Charakter[s] der Orgie«361 erfährt Fridolin gerade dadurch Ausschluss, dass er als Einzelner, als identifizierbares Individuum die Choreografie der gesichtslosen Körper stört. In diesem Sinne interpretiert Michaela L. Perlmann das Anlegen der Maske als einen Schritt in die Anonymität, ihre Funktion ist der »Schutz der individuellen Identität«362. »Der Lustgewinn der Orgie entspringt damit aus der direkten Umkehrung der Alltagsverhältnisse«, so Perlmann weiter, »denn der Verlust der Anonymität wird von den Teilnehmern als schlimmer empfunden, als die körperliche Entblößung.«363 Um in dieser ›verkehrten‹ Gesellschaft sein Gesicht zu wahren, muss Fridolin sich der wortwörtlichen Demaskierung entziehen. »Das angedrohte Herunterreißen der Maske beschreibt die existenzielle Angst«, so hält Julia Freytag fest, »dass das – hinter der Maske verborgene – beschämte Selbst bloßgestellt und den Blicken der anderen ausgesetzt wird.«364 Es bleibt festzuhalten, dass auch die Geheimgesellschaft mit ihren erotischen Festlichkeiten eine in der zeremoniellen Form stark strukturierte Gemeinschaft ist, die mit Abschottungs- bzw. Ausschließungsmechanismen und mit rituellen Beschämungen durch Demaskierungen ihre Welt reglementiert. Fridolins Hoffnungen auf unerhörte erotische Abenteuer laufen letztlich ins Leere. So gibt ihm auch die Unbekannte zu verstehen: »›Vergebliche Hoffnung‹, flüsterte sie. 360 Allerdissen, Rolf: Arthur Schnitzler : Impressionistisches Rollenspiel und skeptischer Moralismus in seinen Erzählungen. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1985. Reihe: Studien zur Literatur der Moderne. Bd. 11. S. 120. 361 Perlmann, Michaela L.: Der Traum in der literarischen Moderne. Untersuchungen zum Werk Arthur Schnitzlers. München: Wilhelm Fink Verlag 1987. S. 187. 362 Ebd. 363 Ebd. 364 Freytag, Julia: Verhüllte Schaulust. Die Maske in Schnitzlers Traumnovelle und in Kubricks Eyes Wide Shut. Bielefeld: transcript 2007. S. 64.

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›Es gibt hier keine Gemächer, wie du sie dir träumst. […]‹«365 Alles, auch Ort und Vollzug des Aktes, ist hier reglementiert und durchorganisiert, Abweichungen sind unmöglich. Schlussendlich bleibt Fridolins gieriges Begehren das, was es ist: das unerfüllbare Phantasma eines bürgerlichen Familienvaters. Innerhalb der Maskenballszene findet Fridolin folglich nicht die Erfüllung seiner Träume, sondern er scheitert letztlich durch Unwissenheit und wird aus der Geheimgesellschaft ausgeschlossen. Letztlich bestätigen die Ereignisse in der Vorstadtvilla Fridolins Charakter. Unfähig, sich selbst zu bewähren, schwankt er zwischen aufgesetzter Attitüde und latenter Beschämungsgefahr. Freytag, die die Traumnovelle als »eine Geschichte von Beschämung und Scham«366 liest und sie speziell vor dem Hintergrund von Wurmsers psychoanalytischem Schamkonzept ausdeutet, weist nach, wie Fridolins Alltag von Gesten der Scham und Schamabwehr durchzogen ist. Sowohl in der Auseinadersetzung mit Albertines Sexualität als auch in seinem Arztberuf, im Aufeinandertreffen mit der Prostituierten Mizzi und während der Begegnung mit den Couleurstudenten – überall sieht sich Fridolin in seinen Rollen als Ehemann, Mediziner und Bürger bedroht und reagiert mit Abwehrmechanismen und Fluchtbewegungen. Fridolin ist ein »›beschädigte[r]‹ Mann«367, der, ausgelöst durch gegenseitige Geständnisse von ihm und Albertine in Bezug auf ihren Dänemarkurlaub, eine »Ehe- und Identitätskrise«368 durchlebt. Perlmann ergänzt, dass Fridolin nicht nur als Ehemann, sondern auch als Arzt eine »höchst mediocre Persönlichkeit [ist], die keineswegs dem Idealbild seines Berufstandes entspricht.«369 Fridolin, geleitet vom Muster »zunächst unausgeführten und schließlich zu spät kommenden Engagements«370, ist die Verkörperung eines problematischen Bürgertums. »Fridolins schwächliche Haltung versinnbildlicht«, so Perlmann, »das Versagen des liberalen Bürgertums, das sich vor reaktionären Kräften feige zurückzieht, um sich seinerseits für die erlittene Erniedrigung an den sozial Schwächeren zu revanchieren.«371 Fridolin gerinnt hier zu einer von Komplexen und Psychosen durchzogenen Paradefigur, die in sich all das Problematische seiner Bürgerschicht bündelt, angesiedelt, so Hilde Spiel, in einer »Niemalszeit […] zugleich vor und nach dem Ende der Doppelmonarchie […].«372 Etwas weiter losgelöst von einem zeitkritischen Horizont fokussieren Kim 365 366 367 368 369 370 371 372

Schnitzler, A.: Traumnovelle. S. 466. Freytag, J.: Verhüllte Schaulust. S. 33. Kim, H.-J.: Traumnovelle. S. 216. Ebd. S. 217. Perlmann, M.: Der Traum in der literarischen Moderne. S. 182. Ebd. S. 184. Ebd. S. 188. Spiel, Hilde: Im Abgrund der Triebwelt oder Kein Zugang zum Fest. Zu Schnitzlers ›Traumnovelle‹. In: Akten des Internationalen Symposiums ›Arthur Schnitzler und seine Zeit‹. Hrsg. v. Guiseppe Farese. Bern u. a.: Verlag Peter Lang 1985. S. 164 – 169. S. 165.

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und Allerdissen in ihren Untersuchungen das Verhältnis von Ehe und Erotik. Allerdissen sieht in der Traumnovelle »die Geschichte der Bewährung der Liebe eines Ehepaares nach einem Prozeß äußerster Entfremdung und Gefährdung durch die bisher unbekannten oder unbewußt unterdrückten Triebe.«373 Für Allerdissen steht nicht die Gefährdung, sondern vielmehr die Bewährung der Institution der bürgerlichen Ehe im Vordergrund. Zwar muss das »labile Gleichgewicht zwischen der nichtindividuellen sexuellen Triebhaftigkeit und einer auf ein Individuum bezogenen Liebe […] ständig neu hergestellt werden«374, doch deutet er das Ende der Erzählung – die Maske auf dem Kissen, Fridolins Geständnis, Albertines Contenance – versöhnlich, als Weg zurück »zu einer Liebe, die sich weit über die anfängliche eheliche Verbundenheit erhebt«375. Anders dahingegen interpretiert Kim. Im Gegensatz zu einer Stärkung und Bereicherung der Liebe durch Überwindung der drohenden Gefahr sexueller Ausschweifungen hält sie fest: In der Traumnovelle zeigt sich vielmehr die Brüchigkeit erotischer Beziehungen, die gerade durch ihre institutionelle Verankerung in der Ehe keine innere Stabilität erlangen. Fridolin und Albertine überwinden ihre Ehekrise um einen hohen Preis: Ihre Liebe wird am Ende von einem bloß noch familiären Loyalitätsideal abgelöst.376

Fridolins Weg zurück zu seiner Ehefrau und Albertines besonnenes Auftreten gegenüber ihrem Ehemann bedeuten nicht Überwindung und Festigung des Eheverhältnisses auf einem nächst höheren Level. Vielmehr treten Ernüchterung und nachträgliche Wunschkorrekturen zu Tage. »Resignation bestimmt auch die letzte Etappe seiner[, Fridolins,] Tagestour«, so Kim, »bei der es ihm allein darum geht, […] in die alte bürgerliche Ordnung zurückzufinden.«377 Weiterhin hält sie fest: Fridolin macht seine Frau also im Nachhinein zum Zielpunkt all seines sinnlichen Begehrens. Sein früheres Streben, die wilde Nachtseite seiner angepassten Tagesexistenz auszuleben, lenkt er in die geläufigen Bahnen ehelicher Lebens- und Liebesordnung zurück378.

Die Geschichte um die beiden Eheleute endet somit mit dem »Schein des wieder gewonnenen Familienglücks«379 und der Kreis schließt sich. Unabhängig davon, ob man nun Fridolins und Albertines Wieder-Einscheren 373 374 375 376 377 378 379

Allerdissen, R.: Arthur Schnitzler. S. 113. Ebd. S. 122. Ebd. S. 127. Kim, H.-J.: Traumnovelle. S. 209. Ebd. S. 225 f. Ebd. S. 226. Ebd. S. 228.

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in den Alltag zum Ende Erzählung als Resignation angesichts des biederen bürgerlichen Ehelebens sehen will oder als souveräne Geste einer gefestigten Liebe interpretiert, so bleibt doch bestehen, dass es zwischen den Eheleuten nicht zum Bruch kommt. Die Geschichte schließt wie folgt: So lagen sie beide schweigend, beide wohl auch ein wenig schlummernd und einander traumlos nah – bis es wie jeden Morgen um sieben Uhr an die Zimmertür klopfte, und, mit den gewohnten Geräuschen von der Straße her, einem sieghaften Lichtstrahl durch den Vorhangspalt und einem hellen Kinderlachen von nebenan der neue Tag begann.380

Der ›neue Tag‹ beginnt, wie jeder Tag ihrer gemeinsamen gutbürgerlichen Existenz zuvor, um sieben Uhr. ›Gewohnte Geräusche‹, das ›sieghafte Licht‹ eines neuen Arbeitstages und das ›helle Kinderlachen‹ sind nicht die Signalhörner einer neuen Ära, sondern die Chiffren einer fortschreitenden Kontinuität. Die Erlebnis und Geständnisse im Zusammenhang mit dem Karnevalsball zu Beginn der Erzählung, Albertines Traumoffenbarungen, Fridolins Maskenballobsession, Albertines Fund der Maske oder auch Fridolins abschließendes Geständnis – alles bleibt letztlich harmlos und sprengt nicht den Rahmen ihrer bürgerlichen Existenz. Genau wie seine erotischen Hoffnungen während des Maskenballs bleiben auch Fridolins anti-bürgerliche Tendenzen rein imaginativ. Wieder nicht ohne Pathos heißt es noch am Tag nach dem Maskenball: Ja, verraten, betrügen, lügen, Komödie spielen, da und dort, vor Marianne, vor Albertine, vor diesem guten Doktor Roediger, vor der ganzen Welt; – eine Art von Doppelleben führen, zugleich der tüchtige, verläßliche, zukunftsreiche Arzt, der brave Gatte und Familienvater sein – und zugleich ein Wüstling, ein Verführer, ein Zyniker, der mit den Menschen, den Männern und Frauen spielte, wie ihm just die Laune ankam – das erschien ihm in diesem Augenblick als etwas ganz Köstliches; – und das Köstlichste dran war, daß er später einmal, wenn Albertine sich schon längst in der Sicherheit eines ruhigen Ehe- und Familienlebens geborgen wähnte, ihr kühl lächelnd alle seine Sünden eingestehen wollte, um so Vergeltung zu üben für das, was sie ihm in einem Traume Bitteres und Schmachvolles angetan hatte.381

Augenscheinlich wird hier deutlich, was Fridolin nicht will, nämlich seine bürgerliche Existenz hinter sich lassen. Vielmehr will er sie um eine Schattenexistenz bereichern, die er zu gegebener Zeit offenbaren kann. Zudem fällt hierbei auf, dass er im Zuge seines Gedankenspiels auch die bürgerliche Seite seiner Existenz aufpoliert; ›zukunftsreicher‹ Arzt und ›braver‹ Gatte sind Rollenleistungen, die nicht unbedingt mit seiner bisher bekannten Existenz in Einklang gebracht werden können. Auch wird der rein imaginative Charakter von Fridolins antibürgerlichen Vorstellungen deutlich, wenn man die obige Szene mit der tatsächlichen Geständnisszene am Ende der Erzählung konter380 Schnitzler, A.: Traumnovelle. S. 504. 381 Ebd. S. 489.

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kariert. Nicht wie ein strahlender Wüstling, kühler Zyniker oder finsterer Marionettenpuppenspieler tritt Fridolin seiner Gattin gegenüber auf, sondern als weinerlicher Gefühlsmensch, dem sein Geständnis nicht ein Racheakt, sondern eine Erlösung ist: Fridolin aber, mit einem Male am Ende seiner Kräfte, ließ die Maske zu Boden gleiten, schluchzte, sich selbst ganz unerwartet, laut und schmerzlich auf, sank neben dem Bette nieder und weinte leise in die Kissen hinein. Nach wenigen Sekunden fühlte er eine weiche Hand über seine Haare streichen. Da erhob er sein Haupt, und aus der Tiefe seines Herzens entrang sich’s ihm: ›Ich will dir alles erzählen.‹382

Ein weiterer Aspekt, der Fridolins Ideen als Gedankenspiele und nicht als ernsthafte Alternativen zu seiner bisherigen Existenz markiert, ist die klaffende Differenz zwischen Anlass und Reaktion. Explizit führt er als Grundlage für seine Doppellebenexistenz den Wunsch an, an Albertine für ihren Traum Rache zu nehmen. Doch Fridolin verlässt letztlich nicht den Kosmos der bürgerlichen Ordnung, sondern kanalisiert die alltäglichen Konflikt- und Frusterfahrungen als Ehemann, Arzt und Bürger durch Ersatzhandlungen, wozu seine Reise zum Maskenball und die anschließende Recherchearbeit ebenfalls gehören. Albertine und Fridolin bleiben angesehene Mitglieder in der Mitte der Gesellschaft. Gemäß dem Credo einer modernen Selbstdisziplinierung findet auch der gefährdete Fridolin den Weg zurück zur fassadenheilen Welt der Bürgerlichkeit. Verführt von der Möglichkeit und zu Teilen auch gewillt nachzugeben, landet er wieder in den Breitengraden der zu erwartenden Normalität. Seine triebmotivierten Schamkonflikte verarbeitet er imaginativ durch ausgeprägte Phantasieleistungen. Letztlich bleibt festzuhalten, dass Albertine und Fridolin gesellschaftlich weiterhin funktionieren, dass der Anschein eines mehr oder weniger glücklichen Paares gewahrt bleibt und sie »aus allen Abenteuern heil davongekommen sind – aus den wirklichen und aus den geträumten.«383

382 Ebd. S. 503. 383 Ebd.

III. Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

Schamgefühle vermitteln als wertrelevante, reflexive Emotionen nicht nur individuelle Selbstbilder im kritischen Abgleich, sondern sie sind ebenso Spiegelund Projektionsflächen von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und Normvorstellungen. ›Gesellschaft‹, im Sinne einer auf Dauer hin strukturierten Gemeinschaft zur individuellen und gemeinsamen Bedürfnisbefriedigung, reguliert sich wesentlich über Institutionen, Werte, Normen und Sanktionen.384 Im Mikrobereich alltäglicher Gesellschaftsorganisation formen Leitlinien des Benehmens, eingeführt durch Sozialisation und gefestigt durch Internalisierung, menschliches Verhalten situationsspezifisch vor und machen es ›berechenbar‹,385 sodass ein Muster erwartbarer Ereignisse und Handlungsweisen entsteht. Die Struktur gesellschaftlicher Ordnungen setzt sich zusammen aus ›harten‹ Diskursen (d. h. schriftlich und verbindlich für alle Mitglieder der Gesellschaft festgelegte Handlungsrahmen wie beispielsweise Gesetzestexte), ›weichen‹ Diskursen (Tradition, Höflichkeitsregeln, Commonsense etc.) und einem ›metakinetischen Horizont‹386, der im Hinblick auf die gesellschaftspolitische, ideologische und wissenstheoretische Grundausrichtung bestimmte Ordnungsvorstellungen vorgibt. Zwischen diesen Ebenen bestehen verschiedene Interdependenzen und Spannungen, wobei die Ebene der metakinetischen

384 Vgl. Hillmann, Karl-Heinz: Gesellschaft. In: Soziologie-Lexikon. Hrsg. v. Gerd Reinhold. 4. Auflage. München, Wien: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2000. S. 215 – 225. S. 215. 385 Vgl. ebd. S. 216. 386 Der Begriff der ›Metakinetik‹ wird hier in Anlehnung an Blumenbergs Projekt der ›Metaphorologie‹ verwendet, deren Programm es ist, anhand der Untersuchung dessen, was Blumenberg ›absolute Metaphern‹ nennt, die »Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen« offenzulegen. Der Blick auf den Horizont gesellschaftlicher Metakinetik versucht herausstellen, was die jeweils vorherrschenden Leitdiskurse, -vorstellungen und -bildlichkeiten im Selbstverständnis der Gesellschaft sind, was also die jeweils historische, unterschwellig agierende »Substruktur des Denkens« darstellt. (Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1998. Reihe: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1301. S. 13)

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Grundausrichtung in der alltäglichen Gesellschaftsorganisation zumeist wenig in den Blick gerät bzw. der Kritik ausgesetzt wird. Innerhalb des Bezugsrahmens der ›Moderne‹ verschieben sich auf der metakinetischen Ebene die gesellschaftsrelevanten Leitvorstellungen und Ordnungslegitimationen. Im Kontext der Säkularisierung und der Ausdifferenzierung der Wissenschaften – vor allem im 19. und 20. Jahrhundert mit ›naturwissenschaftlichem‹ Schwerpunkt387 – wird eine vermeintlich empirisch belegbare ›naturhafte Wesensnotwendigkeit‹ zum Leit- und Legitimationsgedanken auch genuin kultureller und gesellschaftlicher Ordnungsschemata. ›Natur‹ und ›Wissenschaft‹ ersetzen zunehmend religiöse und philosophische Ordnungen und Legitimationen, wobei motivisch bestimmte Bild- und Ordnungsspender im Gewand der neuen Leitdiskurse bestehen bleiben und umgedeutet werden. So tritt anstelle des ›göttlichen‹ das ›natürliche‹ Prinzip nicht nur als Erklärungsinstanz, sondern auch als Bewertungsmaßstab, indem das ›Natürliche‹ als das Gute, Erstrebenswerte und Gesunde der (kulturellen) Entartung und Perversion entgegengesetzt wird; auch die biblische Heilsgeschichte findet als historische Teleologie in den Ideologien der Moderne ihre Wiederkehr. Zugleich bleiben aber auch klassische religiöse Bildlichkeiten bestehen und werden unter dem Eindruck der neuen Disziplinen und Wissensparadigmen re-aktualisiert (z. B. in Form der künstlerischen Bearbeitung biblischer Motive wie dem Sündenfall oder in der Neuinterpretation von Figuren wie Delila und Samson, Judith und Holofernes etc.). Das metakinetische ›Wissen‹ der jeweiligen Zeit ist Inszenierung in doppelter Hinsicht: zum einen bezüglich des Aufwandes der Diskurse, die die ›Wahrhaftigkeit‹ des historischen Wissens legitimieren (in der säkularisierten Moderne vor allem die Wissenschaften), zum anderen im Hinblick auf die performative Festigung dieses Wissens in den alltäglichen und symbolischen Lebensstrukturen. Neben der metakinetischen Paradigmenverschiebung nehmen in der Moderne Tendenzen der Pluralisierung, Globalisierung, Mediatisierung, Liberalisierung zu, ebenso wie die damit verbunden Interferenzen und Störungen innerhalb und zwischen den gesellschaftlichen Teilordnungen. Was an den Tag tritt, ist eine Dialektik aus aufwendiger Rechtfertigung gesellschaftlicher Ordnungsmuster und Verhaltensweisen bei gleichzeitiger Gefährdung dieser Ordnungen; dies verleiht der Moderne ihr Gesicht einer andauernden Krisenhaftigkeit. Bezugspunkte beider Elemente – Legitimierung und Störung – ist die Frage nach der Inszenierung der vorgegebenen Muster im konkreten Verhalten. Adäquates oder nicht adäquates Verhalten der Individuen

387 Vgl. Pulte, Helmut: Wissenschaft. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 12, W–Z. Basel: Schwabe 2004. Lizenzausgabe für : Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. S. 902 – 948. S. 921.

Literaturanalyse: Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz [1870]

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im vorherrschenden Ordnungskontext wird dabei wesentlich mit reguliert durch soziale Emotionen wie Scham, Schuld oder Stolz. Anhand von Leopold von Sacher-Masochs Novelle Venus im Pelz wird im Folgenden beispielhaft an der Kategorie des Geschlechts dieses dialektische System aus Ordnung und Störung untersucht. Die daran anschließenden Kapitel zu Inszenierung und Identität fokussieren das menschliche Gesicht und den Körper als Flächen der Inszenierung von Ordnung und Störung. Dem Körper als Makrokonstante der Identitätszuschreibung (Geschlecht, Alter, Ethnie, Gesundheit) stehen das Gesicht als semifluider Identitätsträger und situationsbezogene Ausdrucksfläche und die künstliche Dimension der Bekleidung nebst der existenziellen Geste von Ver- und Enthüllen zur Seite. Vor dem Hintergrund des Inszenierungscharakters von Normen und Ordnungen wird in den Kapiteln zu den sozialen Funktionen der Scham grundsätzlich auf Schamgefühle als positive, d. h. ordnungserhaltende Emotionen eingegangen, bevor mit der Frage nach Scham und Beschämung als genuin politische Mittel eine Kritik der Scham ausgeführt wird. Die abschließende Untersuchung von Elfriede Jelineks Roman Lust zeichnet nach, wie die anfangs beispielhaft eingeführte Ordnungskategorie des Geschlechts als Kampflinie gesellschaftskritischer Ansichten künstlerisch politisierbar ist.

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Literaturanalyse: Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz [1870] – Zur Inszenierung von Norm und Störung am Beispiel des Geschlechts

›Geschlecht‹ ist eine Ordnungskategorie, die in ihrer vermeintlich wesenhaften Dichotomie von ›männlich‹ und ›weiblich‹ Gesellschaften grundsätzlich strukturiert und die Teil einer lebenslangen Identitätszuschreibung ist. Diese jeweils in dem metakinetischen Horizont legitimierte ›natürliche‹ und damit ›richtige‹ Zweiteilung – sei sie religiös fundiert durch die biblische Schöpfungsgeschichte, sei sie wissenschaftlich abgeleitet aus kreatürlichen Fortpflanzungsmechanismen – zeitigt dabei Folgen für die soziale Einteilung der Individuen in bestimmte Geschlechtercharaktere. Unter dem Eindruck der jeweils in der ›Substruktur des Denkens‹ vorherrschenden Leitdisziplin wird somit das Geschlechterverhältnis entweder machttheoretisch als Ableitungsverhältnis (biblische Anthropologie) oder unter dem Primat der Fortpflanzungsthematik in funktionaler Arbeitsteilung (biologische Anthropologie) gedacht. In beiden Fällen wird die reale historisch-gesellschaftliche Stellung der ›weiblichen‹ und ›männlichen‹ Individuen in ihren unterschiedlichen Ausrichtungen über die metakinetisch verankerte Festschreibung der Geschlechter legitimiert. Als Leitdisziplin dieser fun-

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damentalontologischen Grundlegung fungiert in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Biologie, aus deren Denkrichtung heraus dann die gesellschaftliche Ordnung der Geschlechter hergeleitet wird. Beispielhaft nachweisen lässt sich dies an einem gängigen Lexikonartikeln der Zeit. So findet sich im Brockhaus’ Conversations-Lexikon aus dem Jahre 1884 folgende Einleitung zum Artikel ›Frauen‹: Frauen, womit der edlere Sprachgebrauch das ganze weibliche Geschlecht bezeichnet, sind unter den Nationen und auf den Kulturstufen, auf welchen das Geschlechtsverhältnis und die daraus entstehenden Beziehungen zwischen Mann und Weib eine höhere ästhetische und sittliche Richtung genommen haben, die Repräsentanten der Sitte, der Liebe, der Scham, des unmittelbaren Gefühls, wie die Männer die Repräsentanten des Gesetzes, der Pflicht, der Ehre und des Gedankens; jene vertreten vorzugsweise das Familienleben, diese vorzugsweise das öffentliche und Geschäftsleben.388

Ausgehend von der biologisch vorgegebenen Zweiteilung in ›männlich‹ und ›weiblich‹ treibt die Kulturentwicklung in dieser Denkart eine Veredelung und Erweiterung der ›Geschlechtercharaktere‹ voran, wobei sich die gesellschaftliche Stellung von Männern und Frauen aus der Reproduktionsfrage herleitet. So heißt es diesbezüglich kategorisch: [D]as Weib strebt nach Anmut, Schicklichkeit und Schönheit, der Mann nach Fülle, Kraft und praktischer Zweckmäßigkeit. Wie die Religion dem Weibe, so ist die Philosophie dem Manne entsprechend. Jenes empfindet, dieser erkennt das Richtige; der Mann ist stark im Handeln, Mitteilen und Befruchten, das Weib im Dulden, Empfangen und Gebären; Stärke verlangt überall der Mann, Anmut das Weib.389

Die Koppelung von biologischer Aufgabenteilung – befruchten und gebären – und sekundärem Kulturcharakter schreibt sich fort hin zum Maßstab zivilisatorischer Gesundheit; im Zentrum steht dabei die Familie: Die Natur hat dem weiblichen Geschlechte Gaben verliehen, die sie dem Manne versagt hat; sie hat dem Weibe Schmerzen, aber zum Ersatz auch Freuden zugeteilt, die der Mann nicht kennt; die Sorgen und Schmerzen einer Mutter werden von ihren Freuden unfehlbar mehr als aufgewogen. Diese Verschiedenheiten sind bestimmt, um in dem Entwicklungsgange der Menschheit zu einem Gesamtresultat zusammenzuwirken. Die Hauptfunktionen des Mannes beziehen sich auf den öffentlichen Verkehr, den Staat, die Produktion in Kunst und Wissenschaft, die des Weibes auf die Familie und das gesellige Leben. Je reiner und sittlicher das Familienwesen, desto reiner der Kern einer Nation, desto edler und reiner ihre Geschichte.390 388 Frauen. In: Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie. Dreizehnte vollständig umgearbeitete Auflage. Siebenter Band, Ford – Gewindebohrer. Leipzig: F. A. Brockhaus 1884. S. 241 – 243. S. 241. 389 Ebd. 390 Ebd. S. 242.

Literaturanalyse: Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz [1870]

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Mutterschaft, Familienpflege und die Organisation ›geselligen Lebens‹ von Seiten der Frau sind somit Schnittstellen zweier Diskurse, Biologie und Gesellschaftsordnung. Zum einen sind sie konsequente Fortsetzung und Veredelung der ›natürlichen‹ und somit auch ›rechtmäßig-vernünftigen‹ Arbeitsteilung im Hinblick auf die Fortpflanzung und den Gattungserhalt, zum anderen sind sie die unabdingbare Keimzelle einer ›gesunden‹ und somit ›guten‹ Zivilisationsentwicklung. Folgerichtig wird, wie es im Brockhaus dann weiter ausgeführt wird, im historischen Abgleich der Verfall früherer Kulturnationen am Zerfall der ›natürlichen‹ Geschlechterordnung, der Familienstrukturen und der damit verbundenen ›Zucht und Sitte‹ festgemacht, dem erst das Christentum und die germanische Minnekultur wieder Einhalt gebieten konnten.391 Verstöße gegen die grundlegenden Geschlechterordnungen machen sich also doppelt schuldig, in dem sie sowohl als Perversion die ›natürliche‹ Ordnung zersetzen als auch als ›reaktionäre Gegenströmung‹392 den Kulturfortschritt verhindern. Mit der Idee einer kulturellen Fortführung von natürlichen Fortpflanzungsstrategien, deren Pate u. a. Darwin ist,393 wird im kulturellen Bereich das pathologisiert, was wider die Tendenzen hin zu Nachkommenschaft, Familie und Nation spricht. Der Geschlechtscharakter ist dabei der Knotenpunkt, der den Individuen ihre ›naturgemäßen‹ Aufgaben im sozialen Leben zuspricht. In die Reihe derer, die in ihren kulturellen Artefakten modern nun sowohl die Ordnung reflektieren als diese auch zugleich einer Störung aussetzen, gehört der österreichische Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch.394 In seiner 1870 391 Vgl. ebd. S. 242 f. 392 So zu lesen ebenfalls im Brockhaus des Jahres 1884: »Dieser Vertiefung des Ideals ist seitdem aber auch die reaktionäre Gegenströmung einer sog. Emanzipation der F. entgegengetreten, getragen von dem Grundirrtum, daß das Ideal der Menschheit die vollendete Einzelperson (der Mann) sei, die F. ihre Ebenbürtigkeit [in Unterschiedlichkeit] daher nicht schon in sich selbst besitze, sondern erst durch eine möglichst große Annäherung an die eigentümlichen Vorzüge des männlichen Geschlechts zu erstreben habe.« (ebd. S. 243) 393 Darwin ist im Hinblick auf die Etablierung der Biologie als Leitdisziplin im 19. Jahrhundert eine Schlüsselfigur, die neben der Idee eines fortlaufenden und generationenübergreifenden ›struggle for existence‹ und der Vorstellung eines ›survival of the fittest‹ besonders die Sexualität und den Aspekt der Brutpflege als charakterprägend und kulturbedeutend herausgestellt hat. So heiß es in Die Abstammung des Menschen: »Die Frau scheint vom Manne in Bezug auf geistige Anlagen hauptsächlich in ihrer größeren Zartheit und der geringeren Selbstsucht verschieden zu sein[…]. In Folge ihrer mütterlichen Instincte entfaltet die Frau diese Eigenschaften gegen ihre Kinder in einem außerordentlichen Grade. Es ist daher wahrscheinlich, daß sie dieselben häufig auch auf ihre Mitgeschöpfe ausdehnen wird.« (Darwin, Charles: Die Abstammung des Menschen. Aus dem Englischen übersetzt von J. Viktor Carus. Wiesbaden: Fourier Verlag. 2. Auflage 1992. Lizenzausgabe mit Genehmigung von: Dreieich: Weiss Verlag. S. 637) 394 Sacher-Masoch wird für den Rechtsmediziner und Psychiater Krafft-Ebing, der in seinem Werk Psychopathia sexualis die Grundordnung von ›gesunder‹ und ›krankhafter‹ Sexualität forciert, zum Namensgeber des (männlichen) Masochismus. Krafft-Ebing lässt dabei keinen Zweifel, dass die persönliche sexuelle ›Anomalie‹ schädigend das kulturelle Werk

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veröffentlichten Novelle Venus im Pelz, ursprünglich Teil der großangelegten Novellensammlung zu menschlichen Grundthematiken (Liebe, Tod, Krieg, Eigentum, Staat etc.) mit dem der Bibel entlehnten Titel Das Vermächtnis Kains, skizziert Sacher-Masoch eine gleichsam sexuell wie ökonomisch außergewöhnlich strukturierte Beziehung zwischen einer Frau, Wanda, und einem Mann, Severin. Zentraler Aspekt dieser Beziehung ist dabei jene sexuelle Struktur, die heute unter dem Stichwort ›Masochismus‹ geführt wird, wobei der masochistische Part von Severin eingenommen wird. Die Geschlechterbeziehung zwischen Wanda und Severin findet dabei vor dem Horizont der oben beschriebenen metakinetischen Leitvorstellung von ›natürlichen‹ Geschlechtercharakteren bzw. Geschlechterverhältnissen statt. Das Verhältnis der Geschlechter ist dabei von dem bestimmt, was in dieser Denktradition als grundsätzliches Prinzip des Lebens verstanden wird und was unter dem darwinistischen Schlagwort ›struggle for existence‹ bzw. ›Kampf um das Dasein‹ gefasst werden kann. Lisbeth Exner schreibt dazu in Ihrer Monographie zu Sacher-Masoch: Mit dem Schlagwort vom Daseinskampf verweist Sacher-Masoch auf den populärsten Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Charles Darwin entwickelte seine die Natur historisierende Theorie von der natürlichen Auslese als Folge des Überlebenskampfes in dem 1859 erschienenen Hauptwerk ›On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or Preservation of Favored Races in the Struggle for Life‹. Trotz heftiger Diskussionen um das Verhältnis von Natur und Kultur, von Evolution und Ethik wurde die Idee vom Nutzen und der Notwendigkeit des Konflikts schnell zu einer allgemein verbreiteten und akzeptierten, ja leidenschaftlich vertretenen These. Leopold von Sacher-Masoch traf mit der Interpretation der Geschlechterbeziehung als Kampf ums Dasein den Zeitgeist.395 Sacher-Masochs beeinträchtigte; so zu lesen in einer der späteren Auflagen: »In den letzten Jahren wurden mir übrigens Beweise dafür beigebracht, dass S.-Masoch nicht bloss der Dichter des Masochismus gewesen, sondern auch selbst mit der in der Rede stehenden Anomalie behaftet gewesen sei. Obwohl jene mir ohne Vorbehalt zukamen, nehme ich gleichwohl Anstand, sie zu veröffentlichen. Den Tadel, den einzelne Verehrer des Dichters und gewisse Kritiker meines Buches mir dafür zuteil werden liessen, dass ich den Namen eines geachteten Schriftstellers mit einer Perversion des Sexuallebens verquickte, muss ich zurückweisen. Als Mensch verliert S.-Masoch doch sicher nichts in den Augen jedes Gebildeten durch die Tatsache, dass er mit einer Anomalie seines sexuellen Fühlens schuldlos behaftet war. Als Autor hat er aber dadurch in seinem Wirken und Schaffen schwere Schädigung erfahren, denn er war, solange und soweit er sich nicht auf dem Boden seiner Perversion bewegte, ein sehr begabter Schriftsteller und hätte gewiss Bedeutendes geleistet, wenn er ein sexuell normal fühlender Mensch gewesen wäre.« (Krafft-Ebing, R. v.: Psychopathia sexualis. S. 105 f.) 395 Exner, Lisbeth: Leopold von Sacher-Masoch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2003. S. 53. Zur Wandlung und Verkürzung von Darwins evolutionsbiologischer Idee eines ›struggle for life‹ hin zur Sozialformel und allgemein Sacher-Masochs Adaption dieses Prinzips vgl. auch: Michler, Werner : Venus im Pelz und ›Kampf um’s Dasein‹. In: Dossier Bd. 20. Hrsg. von Ingrid Spörk und Alexander Strohmaier. Graz: Verlag Droschl 2002.

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In seiner Interpretation der Geschlechterbeziehungen definiert Sacher-Masoch die Geschlechtercharaktere in seiner Novelle Venus im Pelz in hohem Maße ambivalent. Zum einen greift er gängige Vorstellungen wie einen allgemeinen evolutionsbiologischen Fortschrittskampf auf, zum anderen setzt er diese Ordnung auch einer Störung aus. In einem dritten Schritt wird durch die ›Moral‹ der Rahmenhandlung die masochistische Abweichung pathologisiert und die vermeintlich ›natürliche‹ und damit ›gesunde‹ Norm letztlich wieder legitimiert und in Kraft gesetzt. Damit legt Sacher-Masoch ein spezifisch ›modernes‹ Bild von Sexualität, Geschlechterbeziehungen und gesellschaftlichen Ordnungen allgemein dar. In sich gebrochen kann die Ordnung nur durch den enormen Aufwand von Inszenierung und gesellschaftlicher Konditionierung aufrecht erhalten werden. In diesem Kontext greift, wie zu zeigen sein wird, vor allem die soziale Emotion der Scham wieder ein. Das Geschlechterbild in Venus im Pelz ist grundsätzlich im Sinne der historischen Leitvorstellungen doppelt kodiert, indem von einer ahistorischen ›natürlichen‹ Wesenheit ausgegangen wird, die sich dann in verschiedenen kulturhistorischen Erscheinungs- und Verhaltensweisen manifestiert oder auch pervertiert. Darüber hinaus ist die Kodierung auf der Erzählebene durch die Einteilung in Binnenhandlung und retrospektiver Rahmenhandlung erneut gebrochen, mit dem Ergebnis, dass die Geschlechterkonstellation der eigentlichen Binnenhandlung als Abirrung qualifiziert wird. Rückblickend endet die Erzählung mit den Worten Severins wie folgt: »[D]ie Kur war grausam, aber radikal, und die Hauptsache ist: ich bin gesund geworden.«396 Ähnlich eindeutig, aber die Frage nach ›gesund‹ und ›pervertiert‹ auf die Ebene der Gesellschaftskritik hebend, äußert sich dann die entsprechende, die Rahmenhandlung ihre Pointe gebende Moral im Zwiegespräch vom fragenden Ich-Erzähler und Severin: ›Aber die Moral?‹ ›Daß das Weib, wie es die Natur geschaffen hat und wie es der Mann gegenwärtig heranzieht, sein Feind ist und nur seine Sklavin oder seine Despotin sein kann, nie aber seine Gefährtin. Dies wird sie erst dann sein können, wenn sie ihm gleich steht an Rechten, wenn sie ihm ebenbürtig ist durch Bildung und Arbeit. Jetzt haben wir nur die Wahl, Hammer oder Amboß zu sein, und ich war der Esel, aus mir den Sklaven eines Weibes zu machen, verstehst du? Daher die Moral der Geschichte: Wer sich peitschen läßt, verdient, gepeitscht zu werden. […]‹397 S. 166 – 192. Ebenfalls: Vogt, Markus: Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologisch-ethische Aspekte der Evolutionstheorie. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder 1997. S. 79 – 87. 396 Sacher-Masoch, Leopold von: Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1968. Reihe: insel taschenbuch 469. S. 138. 397 Ebd.

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Dieser Rahmen der Erzählung, der für Severin die zeitgenössische Gegenwart mit all »unsern feinen, nervösen, hysterischen Damen«398 markiert, thematisiert das grundsätzliche Dilemma kulturüberformter Geschlechtercharaktere. Frau und Mann sind hier von Natur aus Feinde im biologistischen Kampf um Herrschaft; die kulturelle Erziehung der Frau durch den Mann zementiert diese ursprüngliche Feindschaft, gibt aber gleichsam Aussicht auf eine Versöhnung zum gleichberechtigten Gefährtentum mittels der klassischen kulturellen Gesellschaftsmodi Rechtsprechung, Bildung und Arbeit. In diesem Sinne ist die Moral Severins lesbar als emanzipatorisches Unterfangen.399 Die Gegenwart wird aber zugleich zur Utopie hin abgegrenzt, indem sie auf die alleingültige Alternative ›Hammer oder Amboss‹ reduziert wird. Durch die Koppelung mit der vorher ausgesprochenen Moral weicht der utopisch-emanzipatorische Anspruch und skizziert unter den gegenwärtigen Bedingungen den herrschenden Mann als das Gesunde und Normale. Dass der genesende Severin dieser Logik nun selbst in seinem Leben folgt, wird zu Beginn der Rahmenhandlung in der Auseinandersetzung mit der »hübsche[n] volle[n] Blondine mit klugen freundlichen Augen«400 deutlich, die ihm und dem Ich-Erzähler zum Tee kaltes Fleisch und Eier serviert: ›Habe ich dir nicht gesagt, dass ich sie weich gekocht haben will?‹ rief er mit einer Heftigkeit, welche die junge Frau zittern machte. ›Aber lieber Sewtschu –‹ sprach sie ängstlich. ›Was Sewtschu‹, schrie er, ›gehorchen sollst, du, gehorchen, verstehst du‹, und riß den Kantschuk, welcher neben seinen Waffen hing, vom Nagel. Die hübsche Frau floh wie ein Reh rasch und furchtsam aus dem Gemache. ›Warte nur, ich erwische dich noch‹, rief er ihr nach. ›Aber Severin‹, sagte ich, meine Hand auf seinen Arm legend, ›wie kannst du die hübsche kleine Frau so traktieren!‹ ›Sieh dir das Weib nur an‹, erwiderte er, indem er humoristisch mit den Augen zwinkerte, ›hätte ich ihr geschmeichelt, so hätte sie mir die Schlinge um den Hals geworfen, so aber, weil ich sie mit dem Kantschuk erziehe, betet sie mich an.‹401

Das Verhältnis der Geschlechter ist hier eine augenzwinkernde Re-Aktualisierung von ursprünglich gewaltförmigen Geschlechteranlagen, die besagen, dass 398 Ebd. 399 Zur Beurteilung Sacher-Masochs als emanzipatorischen Autor über den Kontext der Frauenfrage und Venus im Pelz hinaus vergleiche auch: Kobelt-Groch, Marion: Leopold von Sacher-Masoch. Mehr als ein Masochist: Historiker, Romancier und Sozialkritiker. In: Gestalten des 19. Jahrhunderts. Von Lou Andreas-Salom¦ bis Leopold von Sacher-Masoch. Hrsg. v. Arne Zerbst und Hannes Böhringer. München: Wilhelm Fink Verlag 2011. Reihe: Schriften der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 19. Jahrhunderts, Bd. 2. S. 165 – 190. 400 Sacher-Masoch, L. v.: Venus im Pelz. S. 15. 401 Ebd. S. 15 f.

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die Frau gezähmt und beherrscht sein will. Dieser Aspekt des weiblichen Charakters, nur dort anbeten zu können, wo alttestamentarisch angehauchter Männerzorn herrscht, wird durch die Binnenhandlung nachdrücklich belegt und führt letztlich zu der abschließenden Moral. Die Binnengeschichte um Severins und Wandas masochistisches und vertraglich reglementiertes Verhältnis fungiert als Beweisführung für die Ungesundheit eines umgekehrten Abhängigkeitsverhältnisses.402 Das ›herrische‹ Weib und der der Frau dienende Mann entsprechen nicht den natürlichen Verhältnissen; auch kulturell ist dies eine Situation, die nicht ohne erheblichen inszenatorischen Aufwand und nur unter Verschleierungen in die bestehende Gesellschaftsordnung eingefügt werden kann. Der Aspekt der ›natürlichen‹ Ordnung wird dabei am stärksten von Wanda selbst als Ausdruck ihres eigenen, weiblichen Begehrens artikuliert und universalisiert, so z. B. wenn es von ihrer Seite her heißt: »Das Weib braucht einen Herrn und betet ihn an.«403 Indem Severin Wandas Begehren (»daß ich beherrscht sein will«404) ignoriert, schafft er eine doppelte Perversion: die herrischmännliche Frau in der Form Wandas, und sich selbst – »unmännlich, schwach und elend«405. Auf dem Höhepunkt dieser Unordnung fasst Wanda die Situation zusammen: Wärst du der Mann gewesen, für den ich dich anfangs hielt, ernst, gedankenvoll, streng, ich hätte dich treu geliebt und wäre dein Weib geworden. Das Weib verlangt nach dem Manne, zu dem es aufblicken kann, einen – der so wie du – freiwillig seinen Nacken darbietet, damit es seine Füße darauf setzen kann, braucht es als willkommenes Spielzeug und wirft ihn weg, wenn es seiner müde ist.406

Die in diesen Worten skizzierte Ordnung stellt sich erst wieder her, als in Form des Griechen Alexis Papadopolis Wanda ihren ›Herren‹ findet, dem sie sich lustvoll unterordnen kann: »Oh! das ist ein Mann wie ein Löwe, stark und schön und stolz und doch weich, nicht roh wie unsere Männer im Norden. […] [I]ch muß ihn besitzen, was sage ich? ich muß mich ihm hingeben, wenn er mich 402 Dabei hat die Störung der Ordnung eine klassische Heimat in Form der Liebe. Wanda selbst hält diesbezüglich fest: »[U]nd jeder Mann – ich kenne das – wird, sobald er verliebt ist – schwach, biegsam, lächerlich, wird sich in die Hand des Weibes geben, vor ihr auf den Knien liegen[…].« (Ebd. S. 34) Folglich bedingen Liebe und Schwäche auch bei Severin einander und beide, Weib und Liebe, werden zum Ende hin von ihm verflucht. (vgl. ebd. S. 136) Severin weiß von der lebens- und ordnungsfeindlichen Stimmung der Liebe: »Das ist ja mein Elend, daß ich dich immer mehr, immer wahnsinniger liebe, je mehr du mich mißhandelst, je öfter du mich verratest! oh! ich werde noch sterben vor Schmerz und Liebe und Eifersucht.« (ebd. S. 97) 403 Ebd. S. 126. 404 Ebd. S. 127. 405 Ebd. 406 Ebd.

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will.«407 In Bezug auf das Verhältnis zu Severin hält sie kategorisch fest: »Von dem Augenblicke an, wo Sie mein Sklave waren, fühlte ich, daß Sie nicht mehr mein Mann werden konnten«408. Erst in der Unterordnung Wandas unter den herrisch-gebieterischen Griechen und mit der endgültigen Demütigung und Verweiblichung Severins – Wanda lässt ihn von dem Griechen auspeitschen – setzt die Genesung Severins ein und damit die Normalisierung der Geschlechterverhältnisse. Die außerordentliche Unterordnung des Mannes widerspricht aber nicht nur den ›natürlichen‹ Begehrens- und Ordnungsstrukturen, sondern bricht auch mit den gesellschaftlichen Normen. So ist es Wanda und Severin nicht möglich, ihre masochistische Verkehrung offen zu leben, sondern es bedarf einer aufwändigen Inszenierung, um nicht aus dem sozial legitimierten Rahmen zu fallen. Auf der zeitlichen Ebene wird durch die wiederholenden Anspielungen auf die antike Sklavennatur das Unzeitgemäße der Beziehung zwischen Severin und Wanda betont. Wanda, »zu einer Griechin [erzogen]«409, verkörpert als ›Venus‹ die anachronistisch gefärbte Kombination aus Liebesgöttin und antiker Sklavenhalterin. Das Leitbild griechischer Liebes- und Herrschaftskultur wird dabei ergänzt durch das Aufrufen weiterer mythischer bzw. historischer Figuren, so stehen beispielsweise auch Judith, Delila oder die russische Zarin Katharina II. der Handlung Pate.410 Die imaginative Verschiebung auf der Zeitachse und die Orientierung an historischen bzw. mythologischen Vorbildern ordnen die Handlungen und das Beziehungsverhältnis in ein schon vorstrukturiertes Geschlechtermuster ein. Damit wird das Verhalten nicht nur anhand vorgegebener Narrative erklärbar, sondern – zumindest temporär und aus der Binnenlogik der ›Perversion‹ heraus – gelangt auch zu Legitimation und wird umgedeutet nicht als Abirrung, sondern als Ausdruck einer vermeintlich tieferen Wahrheit. So heißt es von Seiten Severins auf dem Höhepunkt seiner Demütigung angesichts des Deckengebildes, welches die biblische Simson-Delila-Szene darstellt:

407 408 409 410

Ebd. S. 120. Ebd. S. 137. Ebd. S. 28. Anhand dieser Leitbilder, derer sich Severin zur Unterfütterung seiner Phantasien bedient, spricht Böhme vom Masochismus als ›Bibliothekseffekt‹, hergeleitet und psychologisiert aus dem Kontext klassischer bildungsbürgerlicher Kindeserziehung. (vgl. Böhme, Hartmut: Bildung, Fetischismus und Vertraglichkeit in Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz. In: Dossier Bd. 20. Hrsg. von Ingrid Spörk und Alexander Strohmaier. Graz: Verlag Droschl 2002. S. 11 – 40. Und: Böhme, Hartmut: Masken, Mythen und Scharaden des Männlichen. Zeugung und Begehren in männlichen Phantasien. In: Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Claudia Benthien und Inge Stephan. Köln u. a.: Böhlau Verlag 2003. Reihe: Kleine Reihe, Bd. 18, Literatur – Kultur – Geschlecht. S. 100 – 127)

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Mein Blick irrte im Zimmer umher und blieb auf der Decke haften, wo Simson zu Delilas Füßen von den Philistern geblendet wird. Das Bild erschien mir in diesem Augenblick wie ein Symbol, ein ewiges Gleichnis der Leidenschaft, der Wollust, der Liebe des Mannes zum Weibe. ›Ein jeder von uns ist am Ende ein Simson‹, dachte ich, ›und wird zuletzt wohl oder übel von dem Weibe, das er liebt, verraten, sie mag ein Tuchmieder tragen oder einen Zobelpelz.‹411

Der kriegerische, feindliche und gewaltförmige Aspekt, der im biologistisch gefärbtem metakinetischen Horizont eines allgemein ›Kampf um das Dasein‹ angelegt und von Sacher-Masoch auf die Geschlechterverhältnisse umgedeutet wird, erfährt in diesen Bildern einen weiteren kulturellen Ausdruck, der gerade durch den zeitlosen und mythologischen Anstrich Wahrhaftigkeit einfordert. Zugleich aber, da diese Erkenntnis Severins am Umschlagpunkt der Binnenhandlung hin zur letztlich abgeleiteten ›Moral‹ angesiedelt ist, markiert sie den Höhepunkt der Perversion und Geschlechterunordnung. Dementsprechend kann diese Szenerie, wie überhaupt das komplette Beziehungsgeflecht zwischen Severin, Wanda und Alexis, nur in einem nicht-öffentlichen Rahmen privater Räumlichkeiten vonstattengehen. Private Gemächer, Gartenanlagen, das abgelegene Karpatenbad – dies sind die Orte, an denen sich die vereinzelten Szenen der masochistischen Beziehung abspielen. Ab dem Moment, ab dem die Beziehung als eine dauerhafte fixiert werden soll, bedarf es eines kompletten Wechsels des sozialen Rahmens. Während der vertraglich festgehaltene Namenswechsel von ›Severin‹ hin zu ›Gregor‹ den (vorerst) endgültigen Rollenwechsel hin zum Herrin-Sklaven-Verhältnis markiert, wird der Wechsel des Sozialrahmens durch die räumliche Verlegung der Handlung garantiert, beginnend mit der Reise nach Süden: Wir steigen vor dem Bahnhofe aus. Wanda wirft ihren Pelz ab und mir mit einem reizenden Lächeln über den Arm, dann geht sie die Karten lösen. Wie sie zurückkehrt, ist sie vollkommen verändert. ›Hier ist dein Billet, Gregor‹, spricht sie in dem Tone, in welchem hochmütige Damen zu ihren Lakaien sprechen. ›Ein Billet dritter Klasse‹, erwiderte ich mit komischen Entsetzen.412

Doch diese Deklassierung und Neuordnung der Verhältnisse zwischen Wanda und Gregor ist nur graduell, der Wechsel des Sozialrahmens nur relativ. Anstatt eine Reise in den Orient anzutreten, wird mit Italien als Ziel lediglich das europäische Ausland angestrebt. Dies wird von Wanda wie folgt hergeleitet: Ich habe es mir überlegt. Welchen Wert hat es für mich, dort einen Sklaven zu haben, wo jeder Sklaven hat; ich will hier in unserer gebildeten, nüchternen, philisterhaften Welt, ich allein einen Sklaven haben, und zwar einen Sklaven, den nicht das Gesetz, 411 Sacher-Masoch, L. v.: Venus im Pelz. S. 135. 412 Ebd. S. 74.

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nicht mein Recht oder rohe Gewalt, sondern ganz allein die Macht meiner Schönheit und meines Wesens willenlos in meine Hand gibt. Das finde ich pikant. Jedenfalls gehen wir in ein Land, wo man uns nicht kennt, und wo du daher ohne Anstand vor der Welt als mein Diener auftreten kannst. Vielleich nach Italien, nach Rom oder Neapel.413

Was dieses Zitat veranschaulicht, ist weniger die Lust am Tabubruch – der für Wanda allerdings eine pikante Bereicherung darstellt –, als vielmehr vor allem die Macht gesellschaftlicher Normierungen. Auch in Italien, wo sie keine persönlichen Beziehungen zu Menschen pflegen, die durch ihr Verhalten korrumpiert werden könnten, treten sie nicht als Herrin und Sklave, sondern in zivilisierter und legitimierter Abschwächung als Herrin bzw. Madame und Diener auf. Öffentliche Handlungsweisen, die über das gewöhnliche Maß an gesellschaftlicher Herrschaft und Grausamkeit hinausgehen, bleiben auch hier Angelegenheiten abgeschotteter Privaträumlichkeiten. Was Wanda und Severin also mit enormem Aufwand – Ortswechsel, Namensänderung, Vertragsaufsetzung, Inszenierung als Herrin und Diener – betreiben, ist ein doppeltes Spiel aus Störung und Erhaltung gesellschaftlicher Normen. Während Ersteres wesentlich durch libidinöses Begehren motiviert ist, ist Letzteres Ausdruck der ungemeinen Stärke und Relevanz gesellschaftlicher Erwartungshaltungen und Ordnungsvorgaben. In diesem widerstreitenden Spiel aus Normdurchbrechung und Normerhaltung kommen nun auch in Venus im Pelz Schamgefühlen eine große Bedeutung zu. Während in der Analyse von Schnitzlers Fräulein Else Scham u. a. noch als ambivalente und gesellschaftlich formierte Hürde zum libidinösen Lustgewinn des Individuums gedeutet wurde, die in ihrer Dialektik letztlich die Selbstauslöschung des Subjekts bedeutete, wird hier die gesellschaftserhaltende Relevanz der Scham stärker betont. Als unausgesprochene Hintergrundmotivationen schwingen Scham und Beschämung als wertgebende Sozialemotionen in der Novelle dort mit, wo von Ehre gesprochen wird. Scham entsteht hier als Folge ehrlosen oder ehrverletzenden Verhaltens und wird zum Garanten sozialer Folgsamkeit. Die Wichtigkeit dieses Konzepts einer zu erhaltenen, geschlechtsspezifischen Ehre wird daran deutlich, dass das »Ehrenwort als Mann und Edelmann«414 genau jenes Element ist, das im Vertrag Severin zur Sklavenschaft verpflichtet. Die grundsätzliche Gültigkeit dieses Prinzips wird von ihm anerkannt, so z. B. zu sehen anhand seiner zuerst angestrebten, doch letztlich nicht vollzogenen Flucht: »Sie hat mein Wort, mein Ehrenwort. Ich muss zurück. […] Sie hat mein Ehrenwort, meinen Schwur, daß ich ihr Sklave bin, solange sie es will, solange sie mir nicht selbst die Freiheit schenkt; aber ich

413 Ebd. S. 63 f. 414 Ebd. S. 87.

Literaturanalyse: Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz [1870]

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kann mich ja töten.«415 Nicht der juristische Sinn des Vertrages ist verbindliches Element, sondern die damit festgehaltene Verpflichtung auf das soziale Konstrukt der Ehre hin. Der unerbittliche Zwangscharakter des Ehrenhandels wird dadurch dokumentiert, dass der Bruch mit diesem Prinzip für Severin zu diesem Zeitpunkt unmöglich erscheint und er nur zwischen der Sklavenexistenz und der radikalen Selbsttilgung im Selbstmord wählen zu können meint. Der dritte Weg – weder Aufrechterhaltung des Sklavenzustandes noch Suizid –, der sich zum Ende der Binnenhandlung auftut und Motor für die abschließende, retrospektiv festgehaltene Moral wird, ist nun genau der Weg durch die Scham hindurch. Indem Wanda dem Griechen Alexis die Erlaubnis erteilt, Severin zu peitschen, fühlt sich dieser zutiefst beschämt und gelangt so zur Selbsterkenntnis. Die Szene im Wortlaut: Das Gefühl, vor einem angebeteten Weibe von dem glücklichen Nebenbuhler mißhandelt zu werden, ist nicht zu beschreiben, ich verging vor Scham und Verzweiflung. Und das Schmachvollste war, daß ich in meiner jämmerlichen Lage, unter Apollos Peitsche und bei meiner Venus grausamen Lachen anfangs eine Art phantastischen, übersinnlichen Reiz empfand, aber Apollo peitsche mir die Poesie heraus, Hieb für Hieb, bis ich endlich in ohnmächtiger Wut die Zähne zusammenbiß und mich, meine wollüstige Phantasie, Weib und Liebe verfluchte. Ich sah jetzt auf einmal mit entsetzlicher Klarheit, wohin die blinde Leidenschaft, die Wollust, seit Holofernes und Agamemnon den Mann geführt hat, in den Sack, in das Netz des verräterischen Weibes, in Elend, Sklaverei und Tod. Mir war es, wie das Erwachen aus einem Traum.416

Für Severin, dessen ›perverses‹ Anliegen darin bestand, sich als (Ehren-)Mann der Frau unterzuordnen, fallen exaltierte Sensation, Scham und Erkenntnis bzw. ›Heilung‹ in einem Umschlagpunkt nahe zusammen. Der anfängliche übersinnliche Reiz verwandelt sich unter der ultimativen Demütigung, von einem anderen Manne gepeitscht zu werden,417 zum wut- und schambeladenen Moment sozialer Erkenntnis. Nicht nur die individuelle Dimension der ›Abirrung‹ kommt zu Bewusstsein, sondern auch das gesellschaftlich Prinzipielle der Geschlechternormen wird erkannt und angenommen. Ehre gerinnt in diesem Konzept zum Agenten eines vorgegebenen Ordnungsmusters und Schamgefühle werden zu Markierung von Ordnungsverletzungen. In dem Augenblick, in dem Severin vor ›Scham und Verzweiflung‹ vergeht, empfindet er wieder der Ordnung gemäß und kuriert sich von der ›Perversion‹. Dabei treten Schamgefühle 415 Ebd. S. 123. 416 Ebd. S. 136. 417 Die Szene der Auspeitschung durch Alexis ist dabei eine Radikalisierung einer schon vorher angelegten Hierarchisierung zwischen Alexis und Severin, die ebenfalls in Severin wieder emotional garantierte Gewissheit war ; »ein Gefühl von Scham seiner wilden Männlichkeit gegenüber, von Neid, von Eifersucht.« (ebd. S. 116)

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Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

nicht erst in der Schlusspointe als sozialhygienische Mechanismen in diesem Sinne auf, sondern begleiten auf Seiten Wandas schon im Vorfeld punktuell die Abweichungen von der eigentlichen Norm. Immer dann, wenn sie aus der ihr aufgezwungen Rolle der despotischen Herrin wieder hinausfällt und als sozial legitimierte Frau ihr Verhalten betrachtet, melden sich die Schamgefühle als soziales Gewissen: ›Ich schäme mich‹, sagte sie[…]. ›Suchen Sie die häßliche Szene von gestern zu vergessen‹, sprach sie mit bebender Stimme, ›ich habe Ihnen Ihre tolle Phantasie erfüllt, jetzt wollen wir vernünftig sein und glücklich und uns lieben, und in einem Jahr bin ich ihre Frau.‹418

Oder an anderer Stelle heißt es im Hinblick auf Wanda aus der Sicht Severins: »Dabei scheint sie ganz verwandelt, es ist, als schäme sie sich der Wildheit, die sie mir verraten, der Rohheit, mit welcher sie mich behandelt hat.«419 Der Scham kommt folglich in Venus in Pelz wesentliche eine ordnungserhaltene Rolle zu. Die ihr zugrundeliegenden kulturellen Forderungen nach bestimmten Handlungs- und Inszenierungsmustern sind dabei in den metakinetischen Leitvorstellungen der Zeit verankert und naturalisiert. Schamgefühle sind auf der Ebene des Einzelnen emotionale Entsprechungen dieser Ordnungen. Beide – metakinetische Vorstrukturierung der gesellschaftlichen Ordnung und emotional gesteuerte Aufrechterhaltung derselben – tendieren dazu, in ihrer performativen Alltagsgestaltung ihren grundsätzlich sozial konstruierten Charakter zu verschleiern. Gleichwohl bedürfen diese Ordnungen, eben weil sie gesellschaftliche Konstruktionen sind, die beanspruchen, einer über- oder vorgesellschaftlichen Ordnung zu entsprechen, eines hohen Aufwandes an Inszenierungsenergie. Dabei festigen sich diese Ordnungen wesentlich im Zirkelschluss; die vorherrschende Ordnung der Geschlechter und die sozialhistorischen ›Geschlechtscharaktere‹ werden über institutionalisierte Wissensdisziplinen nachträglich aus einer biologischen Grundlegung heraus hergeleitet und durch Alltagspraktiken verfestigt. Normierung und Naturalisierung orientieren sich dabei an dem, was dem Status Quo entspricht und doch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zunehmend fragwürdig wird. So findet die Festlegung der Frau auf den familiären Bereich und die Nachwuchserziehung gerade zu dem geschichtlichen Zeitpunkt statt, an dem in Kombination mit der industriellen Entwicklung die Erwerbstätigkeit von Frauen zunehmend an gesellschaftlicher Relevanz gewinnt. Im Brockhaus aus dem Jahre 1884 heißt es zum Thema Erwerbstätigkeit von Frauen unter dem Stichwort ›Frauenfrage‹:

418 Ebd. S. 54. 419 Ebd. S. 101.

Literaturanalyse: Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz [1870]

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Die ökonomische Entwicklung der neuern Zeit hat auf das Verhältnis der Geschlechter sehr nachhaltig und im allgemeinen auch sehr nachteilig eingewirkt. Zunächst ist hier in Betracht zu nehmen, daß die uralte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, wonach letztere im Hause gewisse wirtschaftliche Bedürfnisse der Familie beschaffte, durch die Großindustrie, das Maschinenwesen und ein ganz neues, auf billigste Erzeugung von Massenprodukten berechnetes Prinzip der Arbeitsteilung zerstört worden ist. Die besitzlose Frau leistet ihren wirtschaftlichen Beitrag zu den Haushaltungskosten nicht mehr im Hause an der Seite ihres Gatten oder in der Umgebung ihrer Kinder, sondern außerhalb des Hauses, fern von den Ihrigen als Fabrikarbeiterin. In dem bisherigen Gange der neuern großindustriellen Entwicklung lag eine der Arbeiterfamilie, insbesondere den Arbeiterfrauen entschieden nachteilige Tendenz, zu deren Bekämpfung schützende staatliche Maßregeln notwendig geworden sind.420

Gerade in historischen Situationen zunehmender Umbrüche und Ordnungserschütterungen wird versucht, mit Hilfe derartige Wissensdiskurse traditionelle Muster nachhaltig zu legitimieren. »[D]er aufklärerische Anspruch auf Emanzipation der Frau [scheitert]«, wie Ulla Bock in Ihrer Übersicht zum Geschlechterdiskurs im 19. Jahrhundert festhält, »an der bürgerlich-ökonomischen Ordnung, deren Basis die Trennung von Privatem und Öffentlichem, von Familie und Beruf ist.«421 Die Ordnung der Geschlechter gerät in diesem Sinne in der Moderne unter zunehmenden Druck. Im gleichen Maße, wie ökonomische Überlegungen und allgemeine Emanzipationstendenzen eine Revidierung der bestehenden Geschlechtereinteilungen einfordern, greift der Status Quo der herrschenden Ordnung auf die diskursive Festigung und Naturalisierung des Bestehenden zurück. Im Ergebnis bleiben die Ordnungen einer modernen Gesellschaft durch immer neuer Entwicklungen bedroht und bedürfen zu ihrer Aufrechterhaltung eines hohen Diskursaufwandes. Die u. a. über ihren Gefühlshaushalt disziplinierten Individuen festigen dabei in ihrem Alltagsverhalten das metakinetische Ordnungsmuster performativ. Das ›Wissen‹ um beispielsweise ›Geschlecht‹ erfährt so, auch dies führt die Sacher-Masochs Novelle Venus im Pelz vor, durch das alltägliche Verhalten der Geschlechter zueinander eine Bestätigung oder eine Irritation. Auch die Verkörperung der Rollen ist – analog zum diskursiven Wissen – stets bedroht von der Störung und muss, um ihre Gültigkeit zu bewahren, gleichsam plakativ wie ›selbstverständlich‹ immer wieder auf das Neue inszeniert und gefestigt werden. Die ›Identität‹ des Einzelnen ist unter diesen Prämissen nur als Rollenverkörperung zu verstehen, die im Wesentlichen eine auf Dauer gestellte Inszenierung ist, deren Überwachung 420 Frauenfrage. In: Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie. Dreizehnte vollständig umgearbeitete Auflage. Siebenter Band, Ford – Gewindebohrer. Leipzig: F. A. Brockhaus 1884. S. 245 – 248. S. 246. 421 Bock, Ulla: Frau. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. v. Christoph Wulf. Weinheim, Basel: Beltz Verlag 1997. S. 378 – 388. S. 383.

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Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

von zwei Seiten her organisiert ist: erstens über das äußere soziale Feedback der Mitmenschen und der gesellschaftlichen Institutionen, zweitens über die emotionale Steuerung mit selbstwertrelevanten Gefühlserlebnissen aus dem Individuum selbst heraus. Gemäß dieser Lesart ist Venus im Pelz eine beispielhafte Novelle für diese Spannungsverhältnisse innerhalb der Moderne. Sie imitiert einerseits in der rahmengebenden Moral die Strategien der metakinetischen diskursiven Festschreibung einer Ordnung als ›natürliche‹, sie unterläuft andererseits auf der Handlungsebene zwischen Wanda und Severin performativ diese Ordnung und stellt sie somit als nicht bindend heraus. Zugleich wird durch die Schwierigkeiten des Rollentausches auf der Ebene der Binnenhandlung – neue Namensgebung, Ortwechsel, Abschwächung des Verhältnisses auf ein legitimiertes Herrin-Diener-Verhältnis – die Stärke gesellschaftlicher Wert- und Rollenzuschreibungen markiert. Darüber hinaus verdeutlicht sie durch die Koppelung von Erkenntnis, Scham und ›Genesung‹ die Wirkmächtigkeit einer emotionsgeleiteten, gesellschaftskonformen Selbststeuerung und -inszenierung.

2.0

Inszenierung und Identität

Im Kontext gesellschaftlich vorstrukturierter Rollenerwartungen ist die Identität des Einzelnen eine soziale Angelegenheit mit grundsätzlich inszenatorischem Charakter. Die Dimension von Blick und Sichtbarkeit, die das Individuum existenziell im Feld der eigenen Sichtbarkeit vor den Augen der Anderen als Person konstituiert, ist verwoben mit den jeweils historisch-kulturell vorherrschenden symbolischen Praktiken des sozialen Verkehrs. Nexus dieser Kreuzung aus ontologischer und historischer Subjektbestimmung ist der inszenierte, lesbare Auftritt des Einzelnen als Identitätsträger. Identität, im Sinne einer gewachsenen Kohärenz aus sozialen Handlungs-, Zuschreibungs- und Verhaltensmustern, ist – gleichsam wie die soziale Emotion der Scham – eine Schnittstelle von individuellem Verhalten und herrschenden gesellschaftlichen Ordnungsmustern. Der alltägliche Abgleich zwischen Verhalten und Bewertung ist dabei wesentlich gekoppelt an die prekäre Dimension der menschlichen Sichtbarkeit. Der Mensch unter Menschen ist als »Sehende[r] gesehen und als Gesehene[r] sehend«422, er ist Akteur und Publikum in Personalunion auf dem Welttheater der alltäglichen Wirklichkeit. Die existenzielle Dimension von Blick und Sichtbarkeit als Ausdruck grundsätzlich gegebener Sozialität und Selbst422 Bammel, Christina-Maria: Aufgetane Augen – Aufgedecktes Gesicht. Theologische Studien zur Scham im interdisziplinären Gespräch. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005. S. 471.

Inszenierung und Identität

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reflexivität erfährt in der Moderne eine Dramatisierung. In der zunehmenden Verdichtung durch Verstädterung kommt es zu einer »bis dato unbekannten[n], intensive[n] Verwebung von Anonymität und Intimität […]«423, wesentlich geleitet durch den Aspekt der Sichtbarkeit. Es gibt kaum einen Raum, der nicht überlagert von den Blicken Anderer ist. Auf den Straßen und im Amt, in den Bürofluren und Arbeitsstätten, in den Schulen und Warteräumen der Arztpraxen, beim Einkauf und beim Einparken – überall bewegt sich das Individuum im Umfeld anderer Menschen und ist Teil ihrer Sichtfelder. Diese fast allgegenwärtige Staffelung der Blickfelder und andauernde visuelle Objektivierung des Selbsts in den Augen Anderer führt u. a. dazu, dass in der Moderne, so Gertrud Koch, »die neue kommunikative Erfahrung auf dem Schweigen gründet oder, besser gesagt, auf der Abwesenheit von Worten.«424 Während in der Moderne die Sprache fragwürdig wird und an Selbstverständlichkeit verliert, gewinnt zugleich die Regelung des Sicht- und Blickverkehrs an Bedeutung. Dabei wird dem Augenscheinlichen nicht per se mehr ›Wahrhaftigkeit‹ zugesprochen als der sprachlichen Bezeichnung, sondern vielmehr gewinnt die visuelle Auseinandersetzung als wortlose Kommunikation vor allem quantitativ an Bedeutung. Sprache und Blick nähern sich insofern an, als dass beide für die Organisation menschlicher Gemeinschaft unabdingbar sind, aber auch beiden die Potenz zur Täuschung und Fehlinterpretation innewohnt. Und genau wie die Sprache Regeln bedarf, um den gröbsten Fallstricken babylonischer Verwirrungen zu entgehen, wird auch Sehen und Gesehenwerden reglementiert. »Der Blick wird«, so Till Bastian, »mithin diszipliniert, domestiziert, intimisiert: dies ist ein wesentliches Projekt der Moderne.«425 Diese Disziplinierungen des Sichtbaren und der Sprache stellen das Korsett, in dem sich die Individuen im Spiegelspiel von Identität und Inszenierung bewegen. Das sich im Zirkelschluss bedingende Verhältnis von Sein und Verhalten, von souveräner Identität und öffentlicher Rolle, fußt auf der Doppeldeutigkeit des Subjekts, zugleich für-sich und fürandere zu sein. Die ›Wahrhaftigkeit‹ oder ›Authentizität‹ des Individuums funktioniert nur vor dem Hintergrund eines allgemeingültigen Reglements. Identität als Inszenierung ist dabei immer zugleich begleitet von der unlöschbaren Potenz, Täuschung und Betrug zu sein.

423 Koch, Gertrud: Nähe und Distanz: Face-to-face-Kommunikation in der Moderne. In: Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion. Hrsg. v. dies. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1995. S. 272 – 291. S. 273. 424 Ebd. 425 Bastian, T.: Der Blick, die Scham, das Gefühl. S. 32.

148 2.1

Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

Maske und Gesicht

In dem Zusammenhang von Identität und Sichtbarkeit kommt dem Gesicht als Leinwand emotionaler Befindlichkeit und »Objekt und Sitz des Blickes«426 eine hervorgehobene Rolle zu. Die Rolle des Gesichtes fungiert als maßgebliches Medium visueller Kommunikation und changiert zwischen authentischem Ausdruck und sozial codierter Maskenhaftigkeit an der Grenze souveräner Beherrschbarkeit. Schon Darwin weist in seiner grundlegenden Studie zum Ausdruck von Gemütsbewegungen bei Mensch und Tier darauf hin, dass »das Gesicht derjenige Teil des Körpers ist, welcher am meisten angesehen wird«427, und zeigt auf, dass »jeder, der über seine persönliche Erscheinung in Scham gerät, den Wunsch haben wird, diesen Teil seines Körpers zu verbergen.«428 Zugleich fungiert nach Darwin das Erröten des Gesichtes in der Scham als eine Aufmerksamkeitsfokussierung, die sich selbst befeuert. Als ein »indirektes Resultat der Aufmerksamkeit […], welche ursprünglich unserer persönlichen Erscheinung, das heißt der Oberfläche des Körpers und ganz besonders dem Gesicht zugewendet war«429, ist das Erröten zugleich Ergebnis und Grundlage einer Zentrierung der Blicke auf das Gesicht. Das heißt, gerade in der Scham mit ihrer rhetorischen Dialektik aus plakativem Erröten und unbedingtem Verbergungswunsch dramatisiert sich die grundlegende Stellung des Gesichtes, pars pro toto für die Person zu stehen. So pointiert auch Paul Ekman in seinem Darwin-Kommentar : »Daß unser Gesicht quasi unser Personalausweis ist, macht zusätzlich plausibel, warum ihm unsere Aufmerksamkeit gilt, wenn wir verlegen sind oder uns schämen.«430 Das Gesicht als ›Personalausweis‹ fungiert als Medium zwischen der Person und ihrem Umfeld. Es verifiziert, weist aus und lässt erkennen, wer jemand ist, kann aber auch der Täuschung und Verstellung dienen. Das Gesicht ist der Ort, »auf dem sich nicht nur körperliche Sensationen abzeichnen, sondern auch Gefühle und Affekte, ebenso wie die zur Schau gestellten Masken sozialer Identität.«431 Die Betonung gerade des ausdrückenden und vermittelnden Charakter des Gesichts und der Hinweis, dass Gesichter »in einem anthropologischen Sinne Medien von Affekten sind«432, suggeriert zugleich die Möglichkeit wie auch die Notwendigkeit des ›richtigen‹ Lesens von 426 Koch, G.: Nähe und Distanz. S. 274. 427 Darwin, Charles: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und bei den Tieren. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 2000. S. 365 f. 428 Ebd. S. 366. 429 Ebd. S. 385. 430 Ekman, Paul: Kommentar zu: Darwin, Charles: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und bei den Tieren. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 2000. S. 365. 431 Koch, G.: Nähe und Distanz. S. 285 f. 432 Koch, Gertrud: Die Rückseite des Gesichts. Ein Gespräch. In: Blick Macht Gesicht. Hrsg. v. Helga Gläser u. a. Berlin: Verlag Vorwerk 2001. 137 – 151. S. 140.

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Gesichtern. Wenn das Gesicht ein ›Informationsträger‹ und »Medium einer zu entschlüsselnden Aussage«433 ist, dann bedarf es konkreter Praxen zur Entschlüsselung. Zwei Aspekte sind dabei besonders zu unterstreichen: Erstens: Das Gesicht als Kommunikationsmedium wird zumeist nur indirekt gespiegelt. Der Gesichtsausdruck bleibt »anders als lautliche Äußerungen der direkten eigenen Sinneswahrnehmung in einer Außenschleife […] entzogen«434. Anders als das ausgesprochene Wort, das sich im Vollzug dem eigenen Ohr nochmals zur Rezeption anbietet, um eventuelle Versprecher und Mehrdeutigkeiten vor sich selbst zu markieren und zur sofortigen Korrektur anzubieten, fehlt in der Regel der Mimik ein dementsprechendes Organ, das den Ausdruck des eigenen Lächelns oder eine initiierte Augenbrauenverschiebung auf seine im übertragenden Sinne syntaktische und semantische Korrektheit abtastet. Die Wirkung des eigenen Gesichts ist dem Subjekt nur über den Weg der Spiegelung erfahrbar. Auch wenn eine technische Spiegelung natürlich durchaus möglich ist und vielfach vollzogen wird – im konkreten Wandspiegel, in Fotografie- oder Filmaufnahmen –, so findet der Großteil der mimischen Kommunikation doch stets im Verkehr mit anderen Menschen statt. Der Andere als der Gegenüber – und vor allem wiederum dessen Gesichtsfläche – wird somit zum Spiegel zur Selbstvergewisserung der Wirkung des eigenen mimischen Ausdrucksvermögens. Ein Außerhalb als Ort der Spiegelfläche ist unabdingbar, denn das »Gesicht, auch das eigene, kann immer nur von einem Standpunkt außerhalb des Körpers gedacht werden und setzt deshalb eine Ich-Distanz voraus.«435 Der Wechselweg zwischen Ich und Anderem und das nicht stillstehende Pendeln zwischen Ausdruck und Interpretation sind der eigentliche Ort facialer Kommunikation. Im Gegensatz zur Sprache verfügt das Gesicht über kein Wörterbuch, das ihm im Zweifelsfall die Adäquatheit von gewünschtem Inhalt und vorgetragenem Ausdruck garantiert, sondern es benötigt zur Selbstvergewisserung stets den Moment einer Spiegelung, die wiederum zu interpretieren ist. Die Mimik ist ein zentraler Punkt der sozialen Interaktion, wo Commonsense, Ausdrucks- und Lesekompetenz herrschen, doch wo es weder Garantien noch feste Gewissheiten gibt. Zweitens: Als konkrete Praxen sind ›Ein-Gesicht-Machen‹ und ›Ein-Gesicht433 Hardegen, Annett und Timm, Michael: Inhalt und Ausdruck: Das Gesicht des Subjekts und die Natur seiner Zeichen. In: Blick Macht Gesicht. Hrsg. v. Helga Gläser u. a. Berlin: Verlag Vorwerk 2001. S. 152 – 174. S. 152. 434 Adam, Meike: Symbol oder Symptom? Lesbarmachungen des Gesichts. In: Das Gesicht ist eine starke Organisation. Hrsg. v. Petra Löffler und Leander Scholz. Köln: DuMont Literatur und Kunst Verlag 2004. S. 121 – 139. S. 136. 435 Kappelhoff, Hermann: Bühne der Empfindungen, Leinwand der Emotionen – das bürgerliche Gesicht. In: Blick Macht Gesicht. Hrsg. v. Helga Gläser u. a. Berlin: Verlag Vorwerk 2001. S. 9 – 41. S. 14 f.

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Lesen‹ kulturabhängig. Die Annahme eines arbiträren Charakters des Gesichtsausdrucks spricht sich gegen die These aus, dass es eine anthropologische Grundkonstante gibt, die zu jeder Zeit und in allen Kulturen bestimmten Gesichtsausdrücken eindeutige emotionale Inhalte zuschreibt.436 Allerdings gilt es hier zwischen bewusst geführtem Ausdruck und einer unbewussten, reflexhaften Informationsvergabe von Seiten des Gesichtes zu unterscheiden. Das Erröten im Moment einer akuten Schamsituation entzieht sich ebenso einer bewussten und kulturabhängigen Sebstlenkungsleistung wie beispielsweise das Aufreißen der Augen und das Zurückzucken im Schreck. Der weitere mimische und gestische Umgang mit den Folgewirkungen dieser Affekte ist aber sehr wohl kulturell durchgeformt. Das mimische Ausdrucksvermögen des Gesichtes gibt zwar inneren Befindlichkeiten eine Gestalt, ist in seiner Form aber von einem kulturellen Außen vorgeprägt. Dementsprechend muss zumeist der »Gesichtsausdruck […] als symbolhafte und nicht als symptomhafte Entäußerung verstanden werden.«437 Damit ist klar, dass das Gesicht schon immer eine »Maske [ist], die, gleich einer zweiten Haut, ihrem jeweiligen Träger anhaftet und in dieser Einverleibung eine Individuation im System des normativen Ausdrucks vorführt.«438 Die grundsätzliche Feststellung, dass es »keine maskenlose Existenz [gibt]«439, ist dabei wieder gekoppelt an den selbstreflexiven Charakter menschlichen Seins. »Maskerade ist ein anthropologischer Elementarmechanismus,« so Böhme, »der auf Grund des den Menschen kennzeichnenden Selbstbewußtseins, also seiner Exzentrizität, unvermeidlich ist.«440 Maskenhaftigkeit ist Ausdruck von Identität insofern, als dass der Mensch sich als soziales und selbstreflexives Wesen immer schon unter den Blicken Anderer inszeniert; »Offenbarung, performative Verkörperung und Maskierung [sind] dasselbe […].«441 Die Authentizität eines Gesichtes ist folglich immer schon die Frage nach der Authentizität einer Maske: Dabei bleibt stets die Frage: Täuscht und verbirgt sie wie eine Karnevalslarve oder gibt sie gleich einer vergrößernden

436 So weist auch Hans-Peter Duerr genüsslich auf die Irrtümer in der europäischen Ethnologiegeschichte hin, in denen ein eurozentrischer Blick auf Gesichtszüge und Verhaltensweisen seine nicht-europäischen Untersuchungsgegenstände vollkommen missverstand. (vgl. dazu vor allem die Einleitung in Duerr, H. P.: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Bd. 5, Die Tatsachen des Lebens. 437 Adam, M.: Symbol oder Symptom? S. 138) 438 Hardegen, A. und Timm, M.: Inhalt und Ausdruck: Das Gesicht des Subjekts und die Natur seiner Zeichen. S. 160. 439 Böhme, Hartmut: Männliche Masken und sexuelle Scharaden in Mythos und Literatur. In: Goethe Universität Frankfurt, Elektronische Dokumente Universitätsbibliothek. http:// digital-b.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/11729. [21. 05. 2013]. S. 2. 440 Ebd. S. 1 f. 441 Ebd. S. 3.

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antiken Theatermaske einem Inhalt einen adäquaten und eindeutig lesbaren Ausdruck? In Anlehnung an die Ausdifferenzierung des mimischen Ausdrucks in eine aufdeckende Maske ersten Grades und eine täuschende oder lediglich einen Rollenaspekt der Person wiedergebende Maske zweiten Grades und in Übereinstimmung mit der These einer Unkontrollierbarkeit des ersten Schamaffektes unterscheidet Stefan Diebitz zwischen einer primären und sekundären Scham. Der »primäre[n], immer als Affekt und weitestgehend unkontrolliert auftretende[n] Scham«442 stellt er eine Scham gegenüber, »die vergeistigt und durchdacht, durchlitten und verarbeitet wurde«443, eine »sekundäre Scham, die nichts mehr von der Gewalt ihres erstens Auftretens besitzt.«444 So ist es auch diese Unterscheidung von Affekt und Umgang, die es erst Wurmser möglich macht, seiner monumentalen psychoanalytischen Arbeit den Titel Die Maske der Scham zu geben, wobei der Singular im Titel in die Irre führt. Sie[, die Schamgefühle,] präsentieren sich in mancherlei Verkleidungen: Versteckt unter einer Maske von Kälte und hochmütiger Distanz, ausgedrückt, ja zur Schau gestellt durch (vorwegnehmende) Selbsterniedrigung in dem Unterwürfigen, überschrien durch lärmende Trotzhandlungen, Gehässigkeit und scheinbare Verachtung oder durch allgemeine Gehemmtheit und Ängstlichkeit hindurchscheinend.445

Die Masken, mit denen sich Schamgefühle maskieren, beschränken sich dementsprechend für Wurmser nicht auf Mimik und Gestik und erschöpfen sich nicht in einer zeitlich überschaubaren sozialen Situation, sondern graben sich tief ein in den psychischen Haushalt und gerinnen zu komplexen Verhaltensund Lebensweisen. Wurmser identifiziert hier von der Essstörung über den Exhibitionismus bis zum Narzissmus verschiedene Möglichkeiten der Verschleierung. Auch Micha Hilgers sieht in der Scham »ein Gefühl, welches zumeist nur in der Verhüllung, der Maskierung erscheint, selten jedoch offen und unverkleidet«446. Allerdings ist auch in Hilgers’ Untersuchung die Unterscheidung von primärem Affekt und sekundärem Verhalten stets mitzudenken, wenn er Schamgefühle im Verbund mit psychischen Störungen untersucht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gesicht als Medium des menschlichen Selbstausdrucks mit den verschiedenen Ebenen der Maskenhaftigkeit spielt. Als Auskunftsbüro der Person über dessen emotionale Befindlichkeiten kommuniziert es vor dem Hintergrund einer erlernten Ausdrucks- und Lesekompetenz 442 Diebitz, Stefan: Seelenkleid. Beiträge zu Phänomenologie und Theorie von Angst und Scham. Münster : LIT Verlag 2005. S. 92. 443 Ebd. 444 Ebd. 445 Wurmser, L.: Die Maske der Scham. S. 7. 446 Hilgers, M.: Scham. S. 13.

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mit dem Umfeld. Und auch wenn das Gesicht immer schon eine Maske ist und gerade hierin zur Höchstform aufläuft, so öffnet sich doch im Gefühl der Scham ein Spalt, der die Oberfläche durchbricht und einen Lichtstrahl ins Zentrum der Person zu werfen vermag. Gerade im primären Schamaffekt entgleitet dem Individuum die Hoheitskontrolle über sein mimisches Ausdrucksvermögen. Die nach außen hin plakativ leuchtende Seite des Schamgefühls – Erröten, Stammeln, Handlungsdurchbrechung – kommuniziert an der Kontrolle des Individuums vorbei. Der Ausdruck ›Ich schäme mich‹ ist in seiner Wahrheit nicht in erster Linie ein geistig-sprachlicher Akt, sondern ein körperlich-affektiver Moment ungewollter Selbstentblößung. Neben diesem unmittelbaren Aspekt des primären Schamaffekts führt allerdings auch der längere und verschlungene Weg über die ›Masken der Scham‹ zurück zur Person. Dies ist der Ansatzpunkt psychoanalytischer Auseinandersetzungen, die versuchen, Schicht für Schicht an Verdrängung, Verleugnung und Verschleierung abzutragen, um zurückzugehen an die Quelle ursprünglicher, primärer Schamgefühle, um so die ›Wahrheit‹ der Person zu entschlüsseln. Schamgefühle sind die Fingerzeige auf einen oftmals verborgen liegenden Kern der Persönlichkeit und ihre Maskierungen sind verschleiernde Schatten, Täuschungen und Verdeckungen. Dies bindet Schamgefühle existentiell ein in ein Spiel von Ver- und Enthüllungsbewegungen und lässt sie und ihr Sichtbarwerden agieren an den Grenzen der Person, im Schwellenland zwischen Intimität, Authentizität, Rollenidentität und Öffentlichkeitsarbeit.

2.2

Ver- und Enthüllen

Auf das Verhältnis von Nacktheit und Scham wurde bereits im Kapitel zur Genital- und Nacktscham hingewiesen. Vor dem Hintergrund der prinzipiellen kulturellen Durchordnung der Darstellungsweisen von Nacktheit sollen im Folgenden die Mechanismen des Ver- und Enthüllens in den Fokus geraten. Ähnlich wie die grundsätzliche doppelte inszenatorische Bedeutung des menschlichen Gesichts – performativer Ausdruck von Identität und Rolle zugleich – sind auch Bewegungen des Ver- und Enthüllens eingebunden in den Horizont von Sozialität und Selbstreflexion. Für den Menschen als das Wesen, das sich mit Hilfe seiner symbolischen Ordnungen zu organisieren weiß, sind Fragen nach der Nacktheit und Kleidung konstitutiv. Auch hier re-aktualisiert die jeweils historisch vorherrschende soziale Norm durchweg eine elementare Bewegung; Ver- und Enthüllen sind kulturelle Gesten, die in ihrer Inszenierung auf die Identität und ›Wahrhaftigkeit‹ eines Individuums hinführen sollen. Scham fungiert dabei als regulative Emotion, die einen existenziellen Mechanismus in ein konkretes historisches Spiel von Identität und Inszenierung, von

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Norm und Abweichung übersetzt. Dabei kommt dem Körper eine janusköpfige Position zu: Zum einen ist er Träger der Person, der materielle Nexus, der Bewusstsein und Subjektstatus an die Welt des Diesseits anschließt und die Person phänomenologisch begründet. In der säkularisierten Welt der Moderne, die sich von Gott und der Möglichkeit eines ewigen Jenseits als leitende Paradigmen menschlichen Handelns emanzipierte, erfährt der Körper unweigerlich eine Bedeutungsaufwertung. Als sensorischer Korpus garantiert er der Person den Eintritt in die Welt, wird aber angesichts der stets im Hintergrund stehenden Drohung seiner möglichen Vernichtung ebenso zum Angriffspunkt der Welt auf die Person. All die Ideologien und Entwicklungen, die nach dem Vertreiben Gottes aus dem Reich des Menschen die Geschichte bestimmten und bestimmen – von Rassismus bis Sexismus, von der Medizin bis zur Psychoanalyse, von der Guillotine bis zum Foltergefängnis –, klinken sich ein in die Körperlichkeit des Menschen und propagieren eine ›Wahrheit‹ des Menschen, die die Person ganz als Körper begreift. Die Frage nach der Verfügbarkeit dieser Körper ist folglich an konkrete Strategien der Macht gebunden. Gerade der nackte Körper gerinnt hier zu einer problematischen und effektiven Zone der Machtdurchdringung, da er all seiner Kleider entledigt eine Intimität suggeriert, die »ungleich stärker als andere Phänomene des Alltagslebens, wie z. B. das Verhalten beim Essen, den innersten Kern der Person berührt.«447 Zum anderen, und dies widerspricht dem Bild vom Körper als Träger der Person nicht, sondern ergänzt dieses, ist der gerade in der Nacktheit suggerierte Kern der Person insofern eine Chimäre, als dass die menschliche Nacktheit nicht eine ›natürliche‹ ist. Kulturell durchgenormt ist die Nacktheit ein Zustand, der einem strengen Regelkonglomerat unterworfen ist. »Nacktheit ist nicht«, wie Kerstin Gernig zu Recht schreibt, »einfach der Zustand des Unbekleidetseins, sondern jeweils kontextualisierte Nacktheit.«448 Die Kontexte, von der ärztlichen Untersuchung über die Bade447 König, Oliver : Nacktheit und Scham. In: Handbuch Sexualität. Hrsg. v. Siegfried Rudolf Dunde. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1992. S. 150 – 156. S. 154. Auch Jean-Claude Kaufmann, der sich in Frauenkörper – Männerblicke mit dem ungeschrieben Reglement des ›Oben-Ohne‹ an europäischen Stränden beschäftigt, hält in Bezug auf den ›personalisierten‹ Körper fest: »Die Schamgrenzen sinken, der Körper liefert sich nun den Blicken aus. Diese Entwicklung könnte einen glauben machen, er würde dadurch weniger intim. Aber das Gegenteil ist der Fall. Alles, was mit dem Körper zu tun hat, wird mehr und mehr als strikt persönlich, wesentlich und als allein mit dieser Person wesensgleich erlebt. Er ist Fleisch, die Konkretheit des Selbst in einer Welt, in der sich das Konkrete verflüchtigt, er markiert die Begrenzung des Selbst an den Grenzen der Haut. Der Körper gehört einem, und nur einem selbst, denn er ist der Garant des Selbst.« (Kaufmann, Jean-Claude: Frauenkörper – Männerblicke. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1996. Reihe: Edition discours, Bd. 10. S. 91) 448 Gernig, Kerstin: Bloß nackt oder nackt und bloß? Zur Inszenierung der Entblößung. In: Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich. Hrsg. v. ders. Köln u. a.: Böhlau 2002. Reihe: Literatur – Kultur – Geschlecht: Kleine Reihe, Bd. 17. S. 7 – 29. S. 7.

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anstalt bis hin zum Striplokal, rahmen die Nacktheit in einem gesellschaftlichen Korsett aus Ge- und Verboten. Abweichende Nacktheit wird pathologisiert und in den Aufgabenbereich von Therapie, Justiz und gesellschaftlicher Ächtung abgeschoben. Über die Kontextualisierung hinaus unterliegt Nacktheit Regeln der Inszenierungen. Die Nacktheit im medizinischen Kontext ist funktionalisierte und enterotisierte Auskunftstafel und Untersuchungs- bzw. Bearbeitungseinheit, die Nacktheit in der Badeanstalt operiert mit demonstrativer Nicht-Beachtung ihrer selbst, während die entblößte Haut im Stripclub die Blicke auf sich zentriert. Vor dem Hintergrund, dass der nackte Körper einerseits materieller Garant der Person ist, andererseits es Nacktheit als ›natürlichen‹ Zustand für das Kulturwesen Mensch nicht gibt, kann Nacktheit nur im Zusammenspiel von Kleidung und in Bezug auf die Mechanismen des Ver- und Enthüllens gesehen werden. »Das Phänomen der Kleidung in seiner historischen Variationsbreite«, so Silvia Bovenschen, »ist wohl kaum auf utilitaristische Aspekte reduzierbar.«449 In der Tat sind die jeweils historisch wandelbaren Kleidernormen und -moden in ihren Auswüchsen und Bedeutungen nicht allein aus der Notwendigkeit von Witterungs- oder sonstigem Schutz erklärbar, vielmehr sind dagegen die ästhetischen und symbolischen Funktionen der Kleidung von Gewicht. Angeheftet an die Stofflichkeit entfaltet Kleidung ihre Bedeutung erst als symbolisierte Lesefläche zur sozialen, ästhetischen und auch moralischen Einordnung der Person. Unausgesprochen schwingt in der Frage nach der Bekleidung die Aufforderung nach Angemessenheit mit, die nicht nur verlangt, dass die Kleidung dem jeweiligen Ort, der jeweiligen Zeit und der jeweiligen Situation gegenüber angemessen ist, sondern auch verlässlich über den jeweiligen sozialen Status der Person informiert. Kleidung, die dies nicht erfüllt und in ihrer sozialen Funktion zu Täuschungen über die Person einlädt, ist aus dem Rahmen gefallener Karneval, Aufschneiderei oder – im Falle einer zu Unrecht angelegten Polizeiuniform – Betrug und Amtsanmaßung. Wenn Nacktheit auf eine ›Wahrheit‹ der Person verweist, indem sie Intimität und Verfügungsgewalt suggeriert, dann verweist Kleidung auf die ›Wahrheit‹ einer Person in Bezug auf soziales, ästhetisches und moralisches Standing. Doch auch hier ist, analog zur Maskenhaftigkeit des Gesichts, die Potenz zur Täuschung mit eingeschrieben. Angesichts dieses doppelten Spiels mit der Personenidentität und vor dem Hintergrund einer immer schon kulturell verschleierten Nacktheit sind Kleidung und Nacktheit nicht als Gegensatzpaar zu denken, sondern als zwei unterschiedliche Momente des gleichen Spiels. Dazu führt Bovenschen aus:

449 Bovenschen, Silvia: Kleidung. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. v. Christoph Wulf. Weinheim, Basel: Beltz Verlag 1997. S. 231 – 242. S. 231.

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Die Überlegungen zum Stichwort Kleidung sollten daher der Versuchung widerstehen, Kleidung (zweite Ordnung, Signifikant) vor der Folie einer primären Blöße (erste Ordnung, Signifikat) zu denken; diese Blöße ist vielleicht nichts anderes als eine Wirkung der Entblößung – der mehr oder weniger kleidsamen Entkleidung.450

Diese Enthierarchisierung von Kleidung und Nacktheit verweist darauf, dass weder ›Nacktheit‹ noch ›Kleidung‹ entscheidend sind, sondern vielmehr die Bewegung des Ver- und Enthüllens. So sieht auch Böhme den Menschen als »das Tier, das sich verhüllt, diesen Mechanismus der Verhüllung begreift und darin sein Wesen erleidet.«451 Böhme argumentiert in seiner Schrift Enthüllen und Verhüllen des Körpers in Bibel, Mythos und Kunst nicht über den Weg der zunehmenden Verweltlichung innerhalb der Moderne, sondern leitet seine Überlegungen ab von der abendländisch-christlich Denkfigur eines Körper-GeistDualismus. Unter Rückgriffnahme auf den biblischen Sündenfallmythos zeigt auch Böhme auf, wie es ›natürliche‹ Nacktheit nur als vorbewussten, paradiesischen Zustand geben kann. Er hält in Bezug auf die menschliche Nacktheit fest, daß es sie […] nicht gibt. Alles ist Verhüllung, Verhüllung der Verhüllung, Verhüllung der Verhüllung der Verhüllung … Und das Enthüllen besteht nicht darin, auf einen inneren Kern, auf die nackte Wahrheit zu stoßen, sondern den universellen Mechanismus des Verhüllens zu begreifen, der auch dort herrscht, wo das Verhüllen so unsichtbar geworden ist wie bei des Kaisers neuen Kleidern: nur ein Kind, ein Tier oder ein Gott kann annehmen, daß der Körper des Königs nackt sein könnte, so unbekleidet er sein mag.452

Böhme weitet dabei die Bewegung des Ver- und Enthüllens aus und charakterisiert diese als grundlegende kulturelle Tätigkeit. Auf der Linie biblischer Anthropologie, welche mir die abgründigste zu sein scheint, wird das Verhüllen und Enthüllen als der kulturelle Grundmechanismus dargestellt. Er wird verbunden mit der physischen Nacktheit unseres Körpers, der zu seiner Grenze die Haut hat und die Haut als die Fläche seiner Scham. Jede Kleidung, jedes Haus, im weiteren Sinn: jede Institution und besonders die Sprache substituieren die Haut; sie sind zweite Haut, behalten jedoch ihre Doppelform: Schutz und Grenze wie auch Fläche der Beschämung und Preisgabe zu sein. Aus der Nacktheit also gehen die Mechanismen des Verhüllens und Enthüllens hervor. Das Enthüllen ist darum immer so prekär, weil die primäre Angewiesenheit das Verhüllen ist.453

450 Bovenschen, S.: Kleidung. S. 233. 451 Böhme, Hartmut: Enthüllen und Verhüllen des Körpers in Bibel, Mythos und Kunst (mit besonderer Rücksicht auf Albrecht Dürers ›Selbstbildnis als Akt‹). Zuerst erschienen in: Paragrana, Bd. 6, H. 1 (1997), S. 218 – 247. Hier zitiert nach: http://www.culture.hu-berlin. de/hb/static/archiv/volltexte/pdf/Enthuellen.pdf. [21. 05. 2013]. S. 5. 452 Ebd. 453 Ebd. S. 9.

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Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

Die Mechanismen des Ver- und Enthüllens haben dabei ihr Pendant im Verhältnis von Gesicht und Maske. Gleichsam wie das Gesicht schon immer eine Maske und somit kulturell geprägt ist, sind auch die in die Häuser, Institutionen und Sprache ausgewanderten ›Häute‹ Verhüllungs- und Inszenierungsleistungen des Menschengeschlechts. Wenn Böhme nun davon ausgeht, dass der Mensch den Mechanismus des Verhüllens als ihm zugehörig begreift und ›darin sein Wesen erleidet‹, so ist die Ausdehnung einer ursprünglich dem nackten, entblößten Körper zugehörigen Scham auf alle anderen Gebiete der von Enthüllungen bedrohten ›zweiten Haut‹ hin folgerichtig. Dermaßen gewendet wird die an Ver- und Enthüllungsbewegungen gekoppelte Scham konstitutiv für die menschliche Gesellschaftsform. Auf dem körperlichen Dasein beruhen die wichtigsten kulturellen Mechanismen. Die Nacktheit und die Scham sind es, welche das Verhüllen und Enthüllen hervorbringen und auf allen kulturellen Ebenen generieren. Wir bewohnen viele Kleider – und durch sie haben wir neben den Momenten des Schutzes und der augenöffnender Ansicht nackter Wahrheit auch viele Formen von Verhüllen und Enthüllen, von Täuschung und Maskierung, von Lüge und Gewalt, von Hintergehen und Verbergen, von Aufdeckung und Freilegung gelernt. Wir bewohnen viele Kleider – Sprache, Sitten, Häuser, Institutionen, Techniken, Wissensformen, Weltbilder. Könnte es sein, daß die Scham und ihre Abwehr nicht nur einen zentralen Antrieb kultureller Anstrengungen, sondern auch wesentliche Funktionen gesellschaftlicher Einrichtungen erklären? Wissen wir darüber vielleicht auch deswegen so wenig, weil in einer Schamkultur die Scham zwar funktionieren soll, nicht aber das Sprechen darüber : denn wir schämen uns der Scham?454

Dieser Gedankengang, der die Scham als wesentliche Triebkraft der Kulturentwicklung begreift, betont ausdrücklich eine melancholische Tradition, in der die Menschheitsgeschichte steht. Einem mythologischen Unschuldsstand nachtrauernd wird hier die Entwicklungsgeschichte ausschließlich als eine Leidensund Abwehrgeschichte skizziert, in der in den Momenten der schamhaften Entblößung die mühsamen kulturellen Konstrukte zusammenbrechen und der Mensch nahezu tödlich im Kern seiner Existenz getroffen wird. »Die Scham also«, wie es dementsprechend auch dann bei Böhme heißt, »die uns unsere Nacktheit innewerden läßt, ist im tiefsten eine Ankündigung des Todes: d.i. absoluter Hüllenlosigkeit.«455 Und kurz darauf weiter : Leben aber heißt, sich schämen zu müssen (man weiß nicht warum) und ununterbrochen, also lebenslang: an Verhüllungen und immer besseren Verhüllungen zu arbeiten. Fällt die letzte Hülle, so ist der Tod da.456 454 Ebd. S. 9 f. 455 Ebd. S. 9. 456 Ebd.

Die sozialen Funktionen der Scham

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Diese Interpretation der Scham, die ungewollte Enthüllungen im Hinblick auf Leben und Tod deutet, führt wieder in den ›existenziellen‹ Kernbereich des Mensch-Scham-Verhältnisses zurück. Zugunsten einer Betonung der Menschheitsgeschichte als Verhüllungs- und Leidensgeschichte vernachlässigt Böhme allerdings die Möglichkeiten positiver Selbstbebilderungen. Dem modernen Leiden an dem Verlust eines authentischen und unverformbaren Persönlichkeitskerns steht eine postmoderne Lust an den Rollen gegenüber. Ver- und Enthüllung, genau wie Gesicht und Maske, sind nicht lediglich Inbegriff des Taumelns eines modernen, heimatlos gewordenen Subjekts, sondern eröffnen im Umkehrschluss eine Welt positiv erlebbarer Selbstsetzungen. Im Nachklang der geschichtlichen Auflösungen kastenartiger Feudalstrukturen und im Rahmen der westlichen demokratisch-kapitalistischen Self-made-men-Ideologie sowie unter Verabschiedung der Entfremdungs-Melancholie ermöglicht das (post-)moderne Spiel mit den Masken und den Verhüllungen Momente lustvoller Inszenierungen. Vor der Folie, dass es einen vorgefertigten, unveränderbaren Identitätskern ebenso wenig gibt wie den ›natürlichen‹ Menschen, reichen sich hier Inszenierung und Identität einander die Hand und bilden das Selbstverständnis eines Subjekts, das von seiner Unabgeschlossenheit und Wandelbarkeit weiß, doch dies nicht als Verlust melancholisch betrauert, sondern es als eine Möglichkeit begreift, ganz neue Wege hin zur Authentizität einzuschlagen. Was diesem Spiel aus Identität und Inszenierung jedoch Einhalt gebietet und somit zu Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung beiträgt, ist u. a. die verhaltensregulierende Emotion der Scham, die bestrebt ist, die Bedürfnisse des Individuums und der Gesellschaft auszubalancieren.

3.0

Die sozialen Funktionen der Scham

Die Ordnungen einer Gesellschaft sind, wie eingangs beschrieben, in verschiedenen Diskursen mit unterschiedlichen ›Härtegraden‹ festgeschrieben und leiten sich ab aus einem historisch gewachsenen, metakinetischen Horizont. Konterkariert wird die kulturrelationale Dimension menschlicher Selbstorganisation durch ahistorische anthropologische Konstanten, wie Sozialität (der Mensch als Gemeinschaftstier) und exzentrische Positionalität (der Mensch als selbstreflexives Wesen). Das alltägliche Verhalten der Menschen untereinander wird wesentlich über die Individuen selbst gesteuert, die sich regulativ im Hinblick auf Normen und Erwartungen organisieren. Die äußerlich vorgegebenen Richtlinien des adäquaten Verhaltens werden internalisierte, gesellschaftliche Muster zu persönlichen Bedürfnissen modifiziert. Als »wichtiger

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Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

Regulationsmechanismus des Selbst wie auch der Beziehung zwischen dem Selbst und den anderen«457, wie es Hilgers formuliert, greift hierbei die Familie der Schamgefühle ein. Auch Sighard Neckel betont in seiner Studie zu Achtungsverlust und Scham: Scham bezieht sich auf das Selbstwertgefühl einer Person, das von ihrer Wertschätzung durch andere nicht zu trennen ist. Schamgefühle eines Individuums betreffen damit immer schon seine Stellung inmitten eines größeren sozialen Zusammenhangs, sie sind der emotionale Nexus zwischen Individuum und sozialer Struktur.458

Zu dieser Zweiseitigkeit der Scham – gleichsam auf das Ich wie auf die das Ich umgebende Gemeinschaft gerichtet – gesellt sich eine weitere strukturelle Doppelschichtung von Schamgefühlen. Gefühle der Scham halten nicht nur den Einzelnen davon ab, »irgendeine Handlung auszuführen oder zu betrachten«459 – fordern also Handlungsunterbrechung und Passivität ein –, sondern sie können im Gegenteil auch darauf abzielen, dem Individuum konkrete Handlungen vorzugeben und abzuverlangen. Gerade das auf die Vermeidung von konkreten Schamsituationen ausgerichtete Gefühl der Schamhaftigkeit ist in der Lage, ganze Handlungsketten und eine hohes Maß an unkritischer, teils ängstlicher Aktivität zu provozieren. Innerhalb gegebener Machtstrukturen kommt Scham nicht nur zum Einsatz, um handlungsdurchbrechend auf nonkonforme Störungen im Gesamtgefüge zu reagieren, sondern auch, um Einzelpersonen und/ oder Gruppen im eigenen Sinne zu aktivieren. Bevor auf diese prekären Möglichkeiten der Scham eingegangen wird, müssen die positiven Funktionen der Scham und deren Ausdifferenzierungen hervorgehoben werden. Erst vor dem Hintergrund dieser Mechanismen können das Ausmaß und die Problematiken einer Instrumentalisierung von Schamgefühlen ausreichend beleuchtet werden. In ihrem regulierenden Charakter schützen Schamgefühle sowohl das Individuum vor unangemessenem Verhalten als auch die Gesellschaft vor bedrohlichen Ausbrüchen Einzelner. Gerade in ihrer handlungshemmenden Funktion eröffnen potentielle Schamkonflikte darüber hinaus die Möglichkeit, nach neuen Wegen und Formen des Ausdrucks zu fragen. In diesem Zusammenhang können Schamkonflikte zu Kreativität und schaffender Kompensation führen.

457 Hilgers, M.: Scham. S. 15. 458 Neckel, Sighard: Achtungsverlust und Scham. Die soziale Gestalt eines existentiellen Gefühls. In: Zur Philosophie der Gefühle. Hrsg. v. Hinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann. 2. Auflage 1994. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1993. Reihe: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1074. S. 244 – 265. S. 254. 459 Bologne, Jean Claude: Nacktheit und Prüderie. Eine Geschichte des Schamgefühls. Weimar : Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger 2001. S. 11.

Die sozialen Funktionen der Scham

3.1

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Schutz des Individuums

In ihrem Charakter als Schnittstellenemotion zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft und im Rahmen ihrer zentralen Rolle innerhalb von Zivilisationsund Modernisierungsprozessen reguliert das Schamgefühl die Aktionen des Einzelnen und gleicht dessen Verhalten mit eigenen und fremden Erwartungen ab. Als »Ausdruck des elementaren Gesellschaft-Seins jedes Individuums«460 koordinieren sich Schamgefühle im Hinblick auf zwei Pole: auf das Ich und sein Selbstbild sowie auf die Gesellschaft und deren Normen und Erwartungshaltungen. Als ein ›soziales Selbstgefühl‹, wie Daniel Hell es in seinem Aufsatz Die beschämte Scham nennt, verweist Scham »den Menschen auf sich selber, sein Selbst; spiegelt […] aber auch soziale Beziehungsmuster wider«461. Ihre regulierende Aufgabe geht vor allem da hin, entweder als vorgeschaltete Haltung (Schamhaftigkeit) oder als unterbrechender Einspruch (konkrete Schamsituation) Grenzen zu markieren und schützend zu intervenieren. Die basalste Schutz- und Regulationsfunktion übernimmt das Schamgefühl im Binnenhaushalt menschlicher Triebnatur. Wie im Kapitel zur Nackt- und Genitalscham gezeigt, wird Scham von der ›klassischen‹ Freudschen Psychoanalyse her als Hemmimpuls innerhalb der sexuellen Entwicklung verstanden. Eingebettet in eine Triebökonomie, die Lustgewinn, Unlustvermeidung, kurzfristige Befriedung und eine auf Zukünftiges gerichtete Strategie zu managen versucht, fungiert Scham als eine »verletzliche[…] Grenze, die im Streben nach Lustgewinn und Luststeigerung nicht überschritten werden darf«, so Rudolf Bernet in Das Schamgefühl als Grenzgefühl, »wenn man das eigene Überleben nicht in Gefahr bringen will.«462 Scham wirft sich hier einem anarchistischen Streben nach Lust entgegen und hemmt den Impuls zur kurzfristigen, rücksichtslosen Triebbefriedigung. Lustgewinn und Scham stehen sich einerseits antagonistisch gegenüber und erst der durch die Scham erzwungene Umweg in Sublimation und Kompensation eröffnet das Feld typisch menschlicher Weitsicht. Andererseits wohnt diesem Antagonismus auch die Tendenz inne – dies wurde in den Überlegungen zu Schnitzlers Fräulein Else gezeigt –, sich zu einem sich bedingenden Gewebe aus Scham, Lust und Transgression zu wandeln. Dass die Überwindung der Scham eine neue Qualität an Empfinden mit sich bringen 460 Dreitzel, H. P.: Reflexive Sinnlichkeit. S. 156. 461 Hell, Daniel: Die beschämte Scham. In: Die Scham in Philosophie, Kulturanthropologie und Psychoanalyse. Hrsg. v. Georg Schönbächler. Zürich: Collegium Helveticum 2006. Reihe: Collegium Helveticum Heft 2. S. 23 – 28. S. 23. 462 Bernet, Rudolf: Das Schamgefühl als Grenzgefühl. Phänomenologische und psychoanalytische Betrachtungen zu Trieb und Wert. In: Scham – ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven. Hrsg. v. Rolf Kühn u. a. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997. S. 145 – 158. S. 152.

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kann, hängt mit einer weiteren Grenz- und Regulierungsfunktion zusammen. Scham organisiert nicht nur Triebbegehren, sondern grenzt auch das Private vom Öffentlichen und steckt somit einen Raum der Intimität ab. Hier erweitert sich ihre ursprünglich auf die Sexualität begrenzte Funktion hin zum Konzept personengebundener Privatheit. Dazu Thomas Hülshoff: Scham dient also der Wahrung der Intimzone, zunächst auf sexueller Ebene, später auch ganz allgemein in der Privatsphäre: Nicht nur Sexualität, sondern persönliche Nähe, körperliche Berührung, das Austauschen von als intim empfundenen Gedanken, Tabus und Tabuverletzung, Persönlichkeitsgrenzen und ihre Überschreitung gehen mit Schamgefühl einher.463

Als »emotionale Notbremse«464 bzw. »Türhüter des Selbst«465 markiert sie den sensiblen Bereich emotional-affektiven Selbstverständnisses. »Wer sich schämt«, so Hell, »wird dadurch alarmiert, dass seine Leibsphäre bzw. sein privater Raum bedroht ist.«466 Als eine auf das Ich gerichtete Emotion schützt und produziert Scham Privatheit und, wie Mario Jacoby in Scham-Angst und Selbstwertgefühl schreibt, »vermittelt ein Gespür dafür, was ich von mir zeigen und mitteilen, und was ich für mich selbst behalten will.«467 Jacoby hält weiterhin fest, dass das Gefühl der Scham-Angst versucht, »uns vor ›entwürdigendem‹ Verhalten und entwürdigenden Situationen zurückzuhalten.«468 Scham schärft letztlich das Bewusstsein über sich selbst und trägt »zur Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit und Differenzierung des Identitätsbewusstseins bei.«469 Als einschreitender Widerspruch schärft es gleichsam Ichbewusstsein wie Gruppenkompatibilität des Ichs und führt die eigene Stellung im Verhältnis zur Gemeinschaft zu Bewusstsein. »Schamempfinden und Selbsterkenntnis bilden eine Einheit«470, doch ebenso Scham und Umwelt- und Verhältniserkenntnis. Dementsprechend markieren Schamgefühle als Signalemotionen – Erröten, Kontaktabbruch – nach außen hin, dass eine Grenze in Gefahr ist oder akut verletzt wurde, und fordern von den Mitmenschen Rücksicht ein. In ihrer Ausrichtung nach innen und außen regeln Schamgefühle die Distanz, die zu der Umgebung einzunehmen ist, und generieren zugleich erst jenen prekären Be463 Hülshoff, Thomas: Emotionen. Eine Einführung für beratende, therapeutische, pädagogische und soziale Berufe. 3., aktualisierte Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag 2006. S. 171. 464 Ebd. S. 174. 465 Hell, D.: Die beschämte Scham. S. 24. 466 Ebd. 467 Jacoby, Mario: Scham-Angst und Selbstwertgefühl. In: Scham – ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven. Hrsg. v. Rolf Kühn u. a. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997. S. 159 – 168. S. 161. 468 Ebd. S. 159. 469 Hülshoff, T.: Emotionen. S. 173. 470 Hell, D.: Die beschämte Scham. S. 25.

Die sozialen Funktionen der Scham

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reich des Selbst, zu dem nur wenigen Auserwählten Zugang und intime Teilnahme gewährt wird. Als soziale Emotionen mit Signalcharakter ist Scham als »Friedens- und Versöhnungsangebot des sich Schämenden an seine Umgebung«471 lesbar und setzt zugleich »dem Explorationsbedürfnis des Individuums Grenzen […].«472 Als »Wächter am Tempel der emotionalen Ausdruckslust«473 hemmen Schamängste den Kontaktprozess von ›innen‹ heraus, als Signalleuchten eines Bedrohungsgefühls fordern sie Rücksichtnahme und Verständnis von ›außen‹ ein. Somit wird von zwei Fronten her an einer Befriedung gearbeitet, um die Ausnahmesituation zu normalisieren und die vorherigen Distanzverhältnisse wiederherzustellen. Dass diese Aufforderung von Anderen prinzipiell überhaupt erst verstanden werden kann, ist ebenfalls der Schamgenese geschuldet. In ihrem Charakter als intersubjektive Emotion von enormem sozialen Gewicht sensibilisiert sie zweifach: Zum einen lehrt sie den Einzelnen auf die Normen und Erwartungshaltungen der Gruppe Rücksicht zu nehmen, zum anderen schult sie das Gespür und die Empathiefähigkeit in Bezug auf andere Personen. Lernprozesse werden hier initiiert, eben »weil die Scham so unangenehm ist«474, wie Hantel-Quitmann festhält. Innerhalb einer unangenehmen Situation fragil gewordener Selbstverständlichkeiten ist in der Regel beiden Seiten – dem individuellen Einzelnen genau wie der kollektiven Gemeinschaft – daran gelegen, die Situation wieder zu befrieden und zum Status quo eines reibungslosen Miteinanders zurückzukehren. »Wer Schamerlebnisse in Zukunft vermeiden möchte«, so Hantel-Quitmann weiter, »muss diese Situationen aus der Sicht der anderen sehen und diese Sicht in sein eigenes Denken und Handeln integrieren.«475 Neben der Stärkung des Bewusstseins für die Erwartungshaltungen Anderer und der möglichen Revision des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses schult ein ausgebildetes Schambewusstsein auch die Rücksichtnahme Nicht-Beschämter auf die Scham Anderer. Die Fähigkeit zur Empathie und zur Antizipation emotionaler Folgereaktionen lassen gerade in drohenden Schamsituationen Rücksicht und Mitleid federführend werden. Die auf das Ich gerichteten Seiten der Schamgefühle haben also grundlegende Bedeutung innerhalb des Triebmanagements, generieren und schützen darüber hinaus einen Bereich der Intimität und arbeiten schließlich mit an der Formung und kritischen Re-Aktualisierung eines an der Sozialität ausgerichteten Identitätsbewusstseins. Darüber hinaus stärken sie weiterhin auch indirekt die soziale Kompetenz, indem sie für die Bedürfnisse Anderer sensibilisieren und die Empathiefähigkeit schulen. 471 472 473 474 475

Diebitz, S.: Seelenkleid. S. 9. Hülshoff, T.: Emotionen. S. 172. Dreitzel, H. P.: Reflexive Sinnlichkeit. S. 171. Hantel-Quitmann, W.: Schamlos! S. 27. Ebd. S. 29.

162 3.2

Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

Schutz der Gemeinschaft

Wie gezeigt, sind Schamgefühle ein wichtiger Faktor in der Genese eines gleichsam stabilen wie kritischen Identitätsbewusstseins. Insofern sich eine Gesellschaft nur auf dem Fundament eigenständiger, reflexiver Individuen gründen und ausdifferenzieren kann, leistet Scham hier konstruktive Grundlagenarbeit. Ihre eigentliche Macht als hemmender Regulator entfaltet sie aber erst dort, wo sie in ein Spannungsverhältnis zu ihrer gestalterischen Funktion tritt und der Identitätsbildungstendenz das Streben zur Gleichschaltung der Individuen entgegensetzt. »Die Funktion der Scham«, wie Jacoby pointiert, »ist also höchst komplex, dient offensichtlich Individualisierung und sozialer Anpassung zugleich.«476 Dem mündigen Einzelnen steht ein Konglomerat an (un-) geschriebenen Regeln und Verhaltenserwartungen gegenüber, die erst ein geregeltes Mit- bzw. Nebeneinander als Gemeinschaft ermöglichen. Dem Einzelnen wird dabei Verzicht und Disziplin abgefordert. Dabei werden die »meisten Regeln des Zusammenlebens […] nicht über Gesetze und Verordnungen festgelegt, sondern mit Scham sanktioniert.«477 Analog zu Jacoby, der davon ausgeht, dass »selbst die rudimentärste Form menschlicher Zivilisation […] ohne Scham und ihre entsprechenden Hemmschwellen schlechthin unvorstellbar«478 ist, hält auch Hilgers fest, dass »[k]eine Gesellschaft, Kultur oder Kleingruppe, kein Paar und keine Familie […] ohne regulative Schamgrenzen aus[kommt], die jedoch sehr unterschiedlich ausfallen mögen.«479 Hilgers, der in seiner psychoanalytisch-klinischen Studie ethnologische Herleitungen mit Gegenwartsbeobachtungen koppelt, macht deutlich, dass nicht nur auf der Achse der historischen Menschheits- und Zivilisationsentwicklungen jederzeit unterschiedliche Schamregelungen zu finden sind, sondern überhaupt jede Form von Gemeinschaft – von der Dorfgemeinschaft über die Paarbeziehung bis zur Gruppe an der Bushaltestelle – maßgeblich durch mehr oder weniger unterschwellige Schamgrenzen strukturiert ist. Unterschiedliche Gruppenkonstellationen operieren mit unterschiedlichen Verhaltenserwartungen und das Individuum gleicht sich im Auftritt und im Verhalten dem an. Mit Dreitzel lässt sich folglich sagen, dass der Träger von Scham- und Peinlichkeitsgefühlen »eigentlich die Gruppe und nicht der einzelne [ist].«480 Ausgehend von der Blickrichtung der Gruppe liegt die wesentliche Bedeutung der Scham in der Disziplinierung ihrer Mitglieder und der Wahrung eines funktionierenden Miteinanders. Die Gesellschaft gibt vor, »was sich für den einzelnen ›schickt‹, sich je476 477 478 479 480

Jacoby, M.: Scham-Angst und Selbstwertgefühl. S. 162. Hilgers, M.: Scham. S. 317. Jacoby, M.: Scham-Angst und Selbstwertgefühl. S. 159. Hilgers, M.: Scham. S. 318. Dreitzel, H. P.: Reflexive Sinnlichkeit. S. 162.

Die sozialen Funktionen der Scham

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weiliger Sitte entsprechend geziemt.«481 Anerkennung, Internalisierung und innere ›Absicherung‹ stärken die Gruppenkohäsion, indem sie vor allem im Hinblick auf Gruppendynamiken und Gemeinschaftsprojekte Stabilität, Orientierung und Ordnung sichern. Dass hierbei ein wie auch immer geartetes Gruppenwohl vor eventuelle Interessen des Einzelnen geschaltet ist, betont Dreitzel, wenn er schreibt, dass »[i]m Schamgefühl […] sich also die Gesellschaft gegenüber dem Individuum [behauptet].«482 In der Internalisierung möglicher Interessenwidersprüche als Schamkonflikte »stellte sich das Individuum auf die Seite der Gesellschaft und löscht sich selbst aus«483, es »verzichtet […] auf seinen Individualitätsanspruch zugunsten des Kollektivs.«484 Der identitätsstiftenden Dimension steht also in ihrer Bedeutung für die Gemeinschaftsbildung eine starke, einen abweichenden individuellen Antrieb unterbindende Funktion gegenüber. Schamgefühle, als »Verräter am Organismus«485 und »Spione der Gesellschaft«486, sind Instanzen im Individuum, die seismografisch auf »feinste Abweichungen vom jeweils internalisierten Zivilisationsstandard«487 reagieren. In ihrer Bedeutung für die Gesellschaft spiegelt sich hier ihre zentrale Schutz- und Grenzfunktion wider, die Schamgefühle schon für das Individuum eingenommen hatten: »In der Angst und noch mehr in der Scham schützt sich die Gesellschaft vor den Ansprüchen des Individuums, indem die Erregung storniert und der Kontaktprozeß vorübergehend unterbrochen wird.«488 Schamvolle Situationen, sofern nicht absichtlich provoziert und gerade in ihrer grenzverletzenden Funktion instrumentalisiert, stellen dabei sowohl für den schambeladenden Einzelnen als auch für die Gruppe eine Belastung dar. In der allgemeinen Tendenz zur Befriedung und Rückkehr zum Status quo ist dementsprechend nicht nur dem betroffenen Einzelnen, sondern der gesamten Gruppe daran gelegen, solche Situationen zu vermeiden. »In peinlichen Situationen«, so Dreitzel, »leisten alle zusammen Reparaturarbeit zur Wiederherstellung sozialer Normalität.«489 Neben der belastenden Tatsache einer nicht vorgesehenen, das Getriebe der Gemeinschaft störenden Unterbrechung kommt hier ebenfalls auch wieder die empathiestärkende Seite der Scham zum Tragen. Nach Bastian wirken Gefühle ›ansteckend‹ und laden z. T. zum identifikatorischen Nachvollzug ein. Besonders Schamgefühle »verfügen über solche Fähig481 482 483 484 485 486 487 488 489

Jacoby, M.: Scham-Angst und Selbstwertgefühl. S. 162. Dreitzel, H. P.: Reflexive Sinnlichkeit. S. 161. Ebd. S. 160. Ebd. S. 161. Ebd. S. 158. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. S. 163.

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Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

keiten in außerordentlich hohem Maße […].«490 Den entwicklungsbiologischen Hintergrund dazu lokalisiert Bastian gerade in ihrer gemeinschaftsstiftenden Bedeutung: Es handelt sich hier […] um recht archaische Qualitäten, die sich entwickelt haben, weil sie schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte für die damals ganz besonders überlebenswichtige Gruppenkohärenz förderlich gewesen sind […].491

Neben der Befriedung des öffentlichen Raumes und der Gewährleistung von Konformität entfaltet Scham ihre positive Bedeutung für eine Gemeinschaft auch in ihrer solidarisierenden Funktion. Allerdings tut sie dies stets vor dem Hintergrund einer strafenden Aburteilung möglicher störender Individuen. Zu Recht sprechen Dreitzel, Jacoby und Andere von Scham-›Ängsten‹, die bei Nicht-Erfüllung vorgegebener Erwartungen »Beschämung und Verlassenheitsgefühle auslösen.«492 Auf der Rückseite der ordnungs- und orientierungsgebenden Leistung laufen über Schamgefühle geleitete Sozialisierungen immer auch Gefahr, »Vorurteile und Ressentiments, starre soziale und kulturelle Regeln sowie übertriebene Angst vor Peinlichkeiten«493 zu provozieren und somit »soziale Interaktionen und menschliche Begegnung blockieren.«494 Schamgefühle und -ängste ziehen ihre für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung grundlegenden positiven Funktionen letztlich aus ihren Qualitäten, höchst unangenehme Emotionen zu sein, die man in der Regel zu vermeiden hofft. Gleichsam wie sie vernichtend sein können, können die Versuche ihrer Abwehr und Kanalisierung allerdings ebenso Motor herausragender Leistungen und Entwicklungen darstellen, wie es im Folgendem darzulegen gilt.

3.3

Leistung und Kreativität

Die bisher aufgezeigten positiven Funktionen der Scham zielten mehr oder minder direkt auf einen sinnstiftenden Punkt ab: die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung eines vormaligen Status quo. Die aus dem negativen Erfahrungshorizont geborenen Schutz- und Regulierungsmechanismen orientieren sich an vorgegebenen Normen und Erwartungen. Im Hinblick auf den Lauf der Geschichte und die Entwicklung des Einzelnen erscheint Scham so von ausgesprochen reaktionärem Charakter. An dieser Stelle soll nun beleuchtet werden, wie Schamgefühle in einer nach vorne geworfenen Blickrichtung umgekehrt 490 491 492 493 494

Bastian, T.: Der Blick, die Scham, das Gefühl. S. 58. Ebd. Jacoby, M.: Scham-Angst und Selbstwertgefühl. S. 162. Hülshoff, T.: S. 183. Ebd.

Die sozialen Funktionen der Scham

165

nicht mit reaktionären, sondern mit innovativen Verhaltensweisen korrespondieren können. Die Leistung der Scham liegt wieder darin, ex negativo aus der Angst vor ihr bzw. dem Streben nach Schamvermeidung Antriebsmoment von Handlungen und Verhalten zu sein. Die Angst vor der Scham kann sich dahingehend steigern, nicht nur nicht negativ aufzufallen, sondern im Gegenteil eine überdurchschnittlich positive Aufnahme durch das Umfeld erfahren zu wollen. Wenn sich Schamvermeidung in Lobsuche und die Furcht vor Schmach in das Streben nach Stolz und bewundernder Anerkennung wandeln, dann ist auch die herausragende Großtat letztlich Ausdruck einer tiefersitzenden Schamangst. Aus diesem Grund geht Till Briegleb davon aus, dass die meisten Biographien großer Stars davon [erzählen], daß der positiven Energie ihrer Selbstdarstellung eine depressive, zwanghafte bis selbstzerstörerische Selbstwahrnehmung gegenübersteht.495

Zum prinzipiellen Verhältnis von Scham und dem Corpus innovativer Handlungsmöglichkeiten hält Hilgers zuerst eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen Scham und Kreativität fest und stellt beide in einem Spannungsverhältnis gegenüber : Scham entsteht im Moment der Abweichung, des Anders- oder Fremdseins. Kreative Leistungen besitzen dieses Element des Neuen, vom Bisherigen Abweichendem. Schamängstlichkeit kann daher Kreativität behindern, Schamtoleranz hingegen innovatives Schaffen begünstigen.496

Folglich hängt nach Hilgers die innovative Produktivität einer Gruppe und damit deren Anpassungs- und Funktionsfähigkeit damit zusammen, ob sie sich selbst eher schamtolerant oder -empfindlich organisiert. Ein hoher Konformitätsdruck behindert kreative Leistungen, innovative Einzelne oder Minderheiten müssen sich »gegen eigene Schamängstlichkeit wie Widerstände und eventuelle Demütigungen durch Mehrheiten durchsetzen, um Erfolg zu haben.«497 Die Präsentation neuer Inhalte kann letztlich »beschämende Ablehnung oder mit Stolz erfüllende Annahme durch das Kollektiv ergeben […].«498 Für Hilgers ist klar : »[J]e pfleglicher eine Gruppe mit ihren abweichenden und damit potentiell immer auch innovativen Mitgliedern umgeht, desto flexibler steht sie neuen Aufgaben und Herausforderungen gegenüber.«499 Eigenständigkeit, Neugier und ein gesundes Maß an Unerschrockenheit gegenüber potentiell beschämenden Situationen auf der Seite des Individuums und eine tolerante 495 496 497 498 499

Briegleb, Till: Die diskrete Scham. Frankfurt am Main und Leipzig: Insel Verlag 2009. S. 47. Hilgers, M.: Scham. S. 312. Ebd. Ebd. S. 315. Ebd.

166

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Grundhaltung auf Seiten des Kollektivs sind in diesem Verständnis Grundlage eines fruchtbaren und lösungsorientierten Miteinanders. Die positive Bedeutung von Schamgefühlen in der Genese von Gesellschaften stellt vor allem Till Briegleb in seinem Essay Die diskrete Scham aus dem Jahre 2009 heraus. Briegleb setzt mit der Betonung ein, wie gleichsam mächtig und alltäglich Scham das Zusammenleben durchformt: Die Macht, die Scham über unser Leben hat, ist gewaltig. Sie berührt unser Liebesempfinden und dirigiert unsere Ängste, sie fesselt unsere Aktivität und Ehrlichkeit, aber befreit auch immer wieder ungeheure Widerstandskräfte. Sie feuert unsere Kreativität und Intelligenz an, aber schafft auch verderbliche Mythen, sie konstituiert sich in Nationalstolz und erbricht sich gelegentlich in unsäglichen Grausamkeiten. Sie begegnet uns auf Schritt und Tritt als soziale Kontrolle und fragt ständig nach der Richtigkeit unseres Verhaltens. Kaum ein anderes Gefühl besitzt so vielgestaltige Konsequenzen für unser Sein und Handeln. Denn all unsere Lebensbereiche sind strukturiert nach Maßgaben, die etwas mit dem Schutz vor Verletzungen zu tun haben, und jede Form der psychischen Verletzung berührt auch das Schamempfinden.500

Dass trotz dieses immensen Bedeutungshorizonts Scham »vielleicht die am meisten unterschätzte Kraft der Menschheitsgeschichte«501 ist, liegt nach Briegleb daran, dass das Gefühl der Scham sich unter zahlreichen Masken und mit Hilfe unzähliger Verschleierungsstrategien dem oberflächlichen Blick zu entziehen versteht. Brieglebs sinnige Feststellung, dass nicht alle Schamkonflikte auf den ersten Blick ersichtlich sind, droht allerdings ins Beliebige zu rutschen, wo nahezu alles auf Schamkonflikte heruntergebrochen wird. Briegleb ordnet nicht nur hemmende und negativ erlebte Stimmungen und Dispositionen wie »Schuldgefühle, schlechtes Gewissen, Gehemmtheit, peinliches Berührtsein, Verlegenheiten, depressive Lähmung und viele andere Schammasken in das Arsenal der Schamängste«502 ein, sondern erweitert seine Ansichten zur Scham zu einer Universaltheorie der Menschheitsgeschichte. Briegleb subsumiert, wie im oberen Zitat zu ›Stars‹ schon angedeutet, nahezu alles unter dem Prinzip der Schammaske und noch die freundlichste und souveränste Auftretensweise gerinnt zu einer »disziplinierten Schauspielerleistung der verletzten Seele.«503 Die ganze Kulturindustrie mit ihren Angeboten an Ablenkungen und Verwirklichungen sei »eine Reaktion auf Schamschmerz«504 und dient, so Briegleb, »der Abkehr von einem Sein, das man als banal und durchschaubar empfindet, das einen also in die Masse erniedrigt hat, für deren Gewöhnlichkeit man sich 500 501 502 503 504

Briegleb, T.: Die diskrete Scham. S. 9. Ebd. Ebd. S. 22. Ebd. S. 43. Ebd. S. 17.

Die sozialen Funktionen der Scham

167

schämt.«505 Jedwede Eigeninitiative scheint hier in sich den Kern einer Maskierung anzunehmen, eines vorgegaukelten Modells der Souveränität. Vor dem Hintergrund dieser fulminanten Allgegenwärtigkeit eines schamverwüsteten Urgrundes von kultureller Entwicklung und persönlicher Daseinsmotivation entwickelt Briegleb nun das Konzept eines reflexiven Schamumgangs als Grundlage einer glücklichen Lebensführung. Das zentrale Anliegen in Die diskrete Scham ist dementsprechend, »die Würde der Scham als Quelle von Glück, Erkenntnis und Kultur zu beschreiben.«506 Briegleb geht es darum, die zwei hauptsächlichen ›Segnungen‹ des Schamgefühls herauszuarbeiten: [Z]um einen, wie man in der Annahme ihrer Zeichen unsere Freundlichkeit und unser Verständnis so verfeinern kann, daß wir einer souveränen Lebensführung, einer gelassenen Form der Selbstkontrolle und des zwischenmenschlichen Umgangs näherkommen. Zum anderen, wie gerade die Rebellion gegen Schambarrieren erst zu den größten Kulturleistungen führt, die wir Kohlenwasserstoffeinheiten auf dem Planeten Erde zuwege bringen.507

Ein sensibler und aufgeklärter Umgang mit dem Phänomen Scham ist bei Briegleb der Königsweg zur »Schönheit des konfliktfähigen Menschen«508. Ehrlichkeit sich selbst gegenüber und die Schärfung des eigenen Schamdetektors sind Bedingungen dafür, in erster Linie unter den ganzen Verbergungs- und Ablenkungsmanövern die ›wahren‹ Schamkonflikte aufzuspüren, um dann in zweiter Linie darauf aufbauend einen rücksichtsvollen und sensiblen Umgang miteinander zu pflegen. Es geht hier darum, eine Haltung zu finden, »die dem anderen das Gefühl gibt, daß er sich nicht zu schämen braucht. Und das gelingt dann am besten, wenn man sich selbst nicht schämt.«509 Die Grundlage dieser Utopie stellt ein ›domestiziertes‹ Schamgefühl dar, das als »Gefühl ein ungeheuer präziser Alarm des Glücks«510 ist, indem es das Individuum für die Bedürfnisse Anderer sensibilisiert. Das Schamgefühl ist nichts Schlechtes, schlecht ist zu große Schamhitze. Unverschämt mit seiner Scham umzugehen, das heißt, ihr Aufmerksamkeit zu schenken, nicht vor Scham lieber zu vergehen, sondern sie gelassen zu zeigen, macht es möglich, die verqueren Manöver nachzuvollziehen, mit denen die Persönlichkeit versucht, ihre sympathischen Schwächen vor der gehässigen Moral des ständigen Vergleichens zu schützen. Auf sein Schamgefühl zu achten ermöglicht es, Vertrauen in die Menschen zu gewinnen.511 505 506 507 508 509 510 511

Ebd. Ebd. S. 19. Ebd. S. 19 f. Ebd. S. 72. Ebd. S. 110. Ebd. S. 171. Ebd. S. 170.

168

Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

Sicherlich kommt Briegleb der Verdienst zu, auf das mannigfache Auftreten verschleierter Schamkonflikte hinzuweisen und zu betonen, wie auch konstruktive und innovative Leistungen in ihrem Kern auf einem beschädigten Selbst zu gründen vermögen. Doch ähnlich wie schon Böhme läuft auch Briegleb Gefahr, zu sehr die melancholische Tradition zu betonen, wenn die Entwicklungen von Gesellschaften ausschließlich auf Schamkonflikte reduziert werden. Brieglebs Ansatz, die ursprünglich mit Schamempfindungen verbundenen Rollen und Maskierungen und »zeitweisen Verkleidungen [als] ein lehrreiches Spiel«512 umzudeuten, ist durchaus ertragreich dort, wo es aus einem zu eng gefassten Subjekt-Diskurs auszubrechen gilt. Das Sich-stark-Machen für einen lustvollen Rollenumgang bei gleichzeitiger Sensibilisierung des Schamempfindens bietet als ethisches Angebot Ansatzpunkte zur konstruktiven Fruchtbarmachung des Schambewusstseins im Alltag. Doch auch wenn Briegleb sich, wie noch aufgeführt werden wird, der Problematiken von Schamgefühlen in Machtstrukturen bewusst ist, so bleibt dennoch die Frage, ab welchem Punkt der positive Anstrich seiner These von ›der Würde der Scham als Quelle von Glück, Erkenntnis und Kultur‹ zu blättern beginnt und ins Naive zu kippen droht. Denn bei allen positiven Funktionen der Scham ist doch nicht zu verkennen, dass sie genuin eine unangenehme, leidvolle Emotion ist. Gerade Akte der Beschämungen nutzen dies, um die soziale Wirklichkeit zu formen. Dem emanzipatorischen Moment menschlicher Entwicklungen steht ein restriktives Moment gegenüber, das sich vor allem über Schamgefühle entfaltet.

4.0

Scham und Beschämung

Die positiven sozialen Funktionen der Schamgefühle sowohl für die Gesellschafts- und Zivilisationsentwicklung als auch für die Genese und Stabilisierung einer funktionierenden und belastbaren Ich-Identität stehen außer Frage. Auch die Thematisierung und die Arbeit mit diesen Emotionen gleichsam im alltäglichen Umgang der Menschen untereinander ebenso wie im Reservat psychoanalytischer Therapiesitzungen mögen segensreich und gewinnbringend sein. Doch all den berechtigten Lorbeeren zum Trotz kann nicht aus den Augen verloren werden, dass Schamgefühle aus der Binnenperspektive heraus existenziell negativ konnotiert sind: Ihr Kern sind Schmerz und das Leiden an der eigenen Insuffizienz, die Versuche ihrer Eindämmung sind geleitet von Ängsten und der Furcht vor schmachvoller Hervorhebung. Für das akute Schamerlebnis gilt im Besonderen, was Christof Kalb für das Leiden im Allgemeinen festhält: 512 Ebd. S. 156.

Scham und Beschämung

169

Das Selbst tritt im Leiden ein in eine ›liminale‹ Phase seiner Existenz, in ein Stadium, dem ein hohes Maß an Ambiguität eignet: Leiden ist zum einen charakterisiert durch eine strukturelle Entdifferenzierung jener Sinnzusammenhänge, die der Identität sichere Konturen verleihen; zum anderen ist es aber auch die Schwelle, von der her symbolische Ordnungen neu und anders erzeugt werden können. Paradoxerweise wird Leiden nicht nur als Chaos, Vernichtung und Tod erfahren: Leiden ist auch der Ort einer beglaubigten Ordnung, der Neuschöpfung und Wiedergeburt. Es gehört mithin zu den Übergangs- und Transformationsphasen menschlicher Existenz, in denen Sinn erzeugt wird. Wer ich bin, in welcher Lebensform ich mich wiedererkenne, welche Werte meine Handlungen orientieren, was meine Welt sinnhaft zusammenhält – diese Fragen entscheiden sich erneut an den Nahtstellen zwischen einer in die Krise geratenen und einer bestätigten Identität.513

Die positiven sozialen Funktionen der Scham können die negativ erlebte existentielle Dimension der Scham nicht überdecken oder verleugnen, weil sie gerade auf dieser beruhen. Darüber hinaus, und darum soll es in den folgenden Kapiteln gehen, potenziert sich der Horror der Scham, wo ihre schmerzenden Unlustregungen als politisches Kalkül im Machtkampf der Interessen instrumentalisiert werden. Zur Verwendung des Begriffes der Macht in diesem Kontext: ›Macht‹ bezeichnet – ebenso wie die ähnliche verwendeten Begriffe ›Herrschaft‹ und ›Gewalt‹ – allgemein zunächst das Vermögen, Einfluss auf Menschen und Umweltbedingungen auszuüben.514 Macht kann gleichsam auf ein Leistungs-Vermögen wie auf ein Befugnis-Vermögen verweisen. Was jemand kann und was jemand legitimiert ist zu tun, lässt sich unter diesem Begriff subsumieren. Die entscheidende Pointe liegt auf den darauf folgenden Auswirkungen für andere Menschen. Macht ist demnach mit Michel Foucault intersubjektiv als eine wie auch immer geartete Beziehung zwischen den einzelnen Individuen zu begreifen. »Macht wird immer«, wie Foucault in Subjekt und Macht schreibt, »von den ›einen‹ über die ›anderen‹ ausgeübt. Macht existiert nur als Handlung, auch wenn sie natürlich innerhalb eines weiten Möglichkeitsfeldes liegt, das sich auf dauerhafte Strukturen stützt.«515 Die dauerhaften Strukturen sind historisch gewachsene Sedimente von Beziehungen, die wiederum gegenwärtige und zukünftige Macht-Beziehungen entscheidend beeinflussen. Als intersubjektives, 513 Kalb, Christof: Selbstbildung im Leiden. Zur Rekonstruktion beschädigter Identität in Ritual und Kunst, In: Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Hrsg. v. Claudia Benthien und Irmela Marei Krüger-Fürhoff. Stuttgart, Weimar : 1999. Reihe: M-& -P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung. S. 161 – 175. S. 161 f. 514 Vgl. zur allgemeinen Bestimmung und im Hinblick auf das Verhältnis von Macht, Herrschaft und Gewalt: Klenner, Hermann: Macht / Herrschaft / Gewalt. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaft. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Bd. 3, L-Q. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1990. S. 114 – 121. 515 Foucault, M.: Subjekt und Macht. S. 285.

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Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

handlungssteuerndes Phänomen der gegenseitigen Einflussnahme ist Macht per se ein gesellschaftliches Phänomen. In den Worten Foucaults: Machtbeziehungen sind tief im sozialen Nexus verwurzelt und bilden daher keine zusätzliche Struktur oberhalb der ›Gesellschaft‹, von deren vollständiger Beseitigung man träumen könnte. In Gesellschaft leben bedeutet: Es ist stets möglich, dass die einen auf das Handeln anderer einwirken. Eine Gesellschaft ohne ›Machtbeziehungen‹ wäre nur eine Abstraktion.516

So wie der individuelle Mensch seine Identität vor der Folie eines historisch vorstrukturierten Kulturfundus herausbildet, ist er auch schon immer in seiner konkreten Figuration von Machtverhältnissen abhängig. Bei Foucault heißt es: In Wirklichkeit ist das, was bewirkt, dass ein Körper, dass Gesten, Diskurse und Begierden als Individuen identifiziert und konstituiert werden, genau eine der ersten Wirkungen der Macht: das heißt, dass das Individuum nicht das der Macht Gegenüberstehende ist, es ist, wie ich glaube, eine ihrer ersten Wirkungen. Das Individuum ist eine Wirkung der Macht, und es ist zugleich eben in dem Maße, wie es eine Wirkung ist, ein Überträger : Die Macht geht durch das Individuum hindurch, das sie konstituiert hat.517

Die Bildung des Einzelnen, wie in Anlehnung an Foucault Jud†th Butler in Psyche der Macht untersucht, ist von der doppelten Bewegung geprägt, gleichsam von vorgegebenen Beziehungsstrukturen bedrängt wie abhängig zu sein. Butler schreibt: Das Subjekt ist genötigt, nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, Begriffen und Namen zu trachten, die es nicht selbst hervorgebracht hat, und damit sucht es das Zeichen seiner eigenen Existenz außerhalb seiner selbst – in einem Diskurs, der zugleich dominant und indifferent ist. Soziale Kategorien bezeichnen zugleich Unterordnung und Existenz. Anders gesagt: im Rahmen der Subjektivation ist Unterordnung der Preis der Existenz.518

Festzuhalten für den hier verwendeten Machtbegriff ist: Macht ist wesentlich intersubjektiv, handlungsorientiert und im Spannungsverhältnis von Unterordnung und Einverständnis anzusiedeln. Darüber hinaus ist sie konstitutiv für die Subjektbildung. Zurück zur Scham: Wenn davon ausgegangen werden kann, dass Scham als »seelisches man-made-disaster«519 der »politische Affekt schlechthin«520 ist, 516 Ebd. S. 288 f. 517 Foucault, Michel: Vorlesung vom 14. Januar 1976. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Bd. 3, 1976 – 1979. Hrsg. v. Daniel Defert und FranÅois Ewald. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2003. S. 231 – 250. S. 238. 518 Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2001. S. 25. 519 Bastian, Till: Die Politik der Beschämung. In: Schuld und Scham. Hrsg. v. Alexandra

Scham und Beschämung

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dann gilt dies geschärft in ihrer Modifikation als bewusst durchgeführte Beschämung; »jede Beschämung setzt voraus«, so Bastian, »dass der Mensch, das zoon politikon (›Gemeinschaftstier‹), mit anderen Wesen seiner Art in Interaktion tritt.«521 Mehr noch als in der ›normalen‹ Scham fällt bei der Beschämung der soziale Aspekt ins Auge, da hier die Schamquelle ergänzt wird oder zusammenfällt mit einem gegen das beschämte Subjekt agierenden Aggressor. Wenn Michael Pfister in seiner Arbeit zur griechischen Schamkultur und einer gegenwärtigen Renaissance von ›Schamstrafen‹ davon spricht, dass der Eindruck gewonnen werden könnte, dass Scham in »unseren Zeitläufen und Breitengraden […] fast angesagter als Demokratie und Menschlichkeit«522 scheint, dann liegt das in der Wirkmächtigkeit von Schamgefühlen und Beschämungen begründet. Vor dem Hintergrund der bereits aufgeführten Überlegungen zu den prinzipiellen Funktionen der Scham in Zivilisations- und Individualisierungsprozessen und dem Verhältnis von Blick und Sichtbarkeit, Gesicht und Maske wird nun das Zusammenspiel von Machtausübung und Scham genauer fokussiert.

4.1

Image, Status und Prestige: ›An-Sehen‹

Die Moderne zeichnet sich, wie gesehen, u. a. aus durch Verlängerungen der Interdependenzketten, durch Urbanisierung, Anonymisierung und Vermassung sowie durch eine zunehmende Fragmentierung der Persönlichkeit in Teilzeitrollenidentitäten. Aber auch Emanzipationsbestrebungen, Informalisierung und eine allgemeine Auflockerung persönlicher Lebenswege sind ihr Programm. Die Codes des Verhaltens und des Umgangs miteinander tragen diesen Entwicklungen Rechnung, indem eine stärkere Betonung auf die symbolische Ordnung gelegt wird. Vor dem Hintergrund der Ideologie einer aufgeklärten Demokratie – jeder hat im Kernland politischer Willensbildung als Bürger eine Stimme und alle Menschen sind wesenhaft mit einem Mindestmaß an Menschen-›Rechten‹ und Menschen-›Würde‹ ausgestattet – etablierte sich zusehends eine Schicht symbolischer Ausdifferenzierungen, Abgrenzungsmöglichkeiten und latent gewaltförmiger Hierarchisierungen. Der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen wurde eine Welt nahezu unerschöpflich wirkender Distinktions- und Pontzen und Heinz-Peter Preusser. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008. S. 207 – 214. S. 207. 520 Ebd. 521 Ebd. 522 Pfister, Michael: A_d~r: Scham, Scheu und Unverschämtheit im griechischen Denken. In: Die Scham in Philosophie, Kulturanthropologie und Psychoanalyse. Hrsg. v. Georg Schönbächler. Zürich: Collegium Helveticum 2006. Reihe: Collegium Helveticum Heft 2. S. 29 – 37. S. 29.

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Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

Abgrenzungsmöglichkeiten beigestellt. Der Bedeutungsgewinn des Symbolischen geht einher mit einer ›Verflachung‹ der eigenen Position hin zu einem ablesbaren Oberflächenphänomen. In einer mobilisierten urbanen Gesellschaft, die sich im täglichen Umgang miteinander vor allem visuell organisiert, indem das Sichtbare und die Ordnung der Blicke gegenüber der verbalen Kommunikation an Gewicht gewinnen, wird die Bestimmung des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen maßgeblich zu einem Akt des ›An-Sehens‹. Der menschliche Gesichtssinn ist somit nicht nur leitendes Medium im physikalischen Raum der Dinge, sondern auch primäres Werkzeug zur Orientierung im symbolischen Gefüge der Welt. Darüber hinaus schwingt im Moment des Oberfläche-Werdens des eigenen Standpunktes, ganz wie im spannungsgeladenen Spiel von Gesicht und Maske, immer die Gefahr bzw. Möglichkeit mit, einer verschleierten Diskrepanz von Sein und Anschein aufzusitzen. ›Status‹, ›Image‹, und ›Prestige‹ sind hierbei Vokabeln, die im soziologischen Jargon eine Brücke zwischen Sein und Anschein zu schlagen versuchen. Grundsätzlich beziehen sich alle drei auf das soziale Ansehen einer Person im gesellschaftlichen Kosmos und unterscheiden sich nur in Nuancen. Der Begriff ›Status‹ bezeichnet dabei die umfassendere Lage der Person[…], auf die sich nicht nur Erwartungen aufgrund spezifischer Leistungen im Rahmen der Rollenerwartungen richten, sondern auch Erwartungen diffuser Art, wie die bezüglich des Einkommens, der Bildung, der Handlungsweisen und des Prestiges.523

Prestige wiederum meint »soziales Ansehen, Anerkennung bzw. Wertschätzung einer Person, einer Gruppe oder auch einer sozialer Position.«524 Prestige ist – hier ein Unterschied zu Image, was allgemein Vorstellungen, Einstellungen, Emotionen und (Vor-)Urteile in Bezug auf jemanden oder etwas umfasst525 – durchgehend positiv bewertet. Während Status auf der einen Seite eher mit gröberen, klassenartigen Zuschreibungen operiert, führt das Image zu einer individuellen Einordnung und lässt sich somit am ehesten vom Individuum selbst aufbauen und beeinflussen. Trotzdem bleiben alle drei Positionen – Image, Status und Prestige – miteinander verwoben und bedingen einander. Das Zusammenspiel von Image, Status und Prestige ist von Spannungen geprägt, flackernd zwischen weitestgehend Übereinstimmung und eklatantem Missverhältnis. Alle drei wirken dabei auf die Mitmenschen handlungsorientierend und 523 Lamnek, Siegfried: Status. In: Soziologie-Lexikon. Hrsg. v. Gerd Reinhold. 4. Auflage. München, Wien: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2000. S. 649 – 650. S. 649. 524 Lamnek, Siegfried: Prestige. In: Soziologie-Lexikon. Hrsg. v. Gerd Reinhold. 4. Auflage. München, Wien: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2000. S. 506 – 508. S. 506. 525 Vgl. Eintrag zu ›Image‹ in Soziologie-Lexikon. Hrsg. v. Gerd Reinhold. 4. Auflage. München, Wien: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2000. S. 583.

Scham und Beschämung

173

zeichnen somit den Rahmen vor, in dem sich konkrete Auseinandersetzungen bewegen. Der Bedeutungsgewinn dieser (z. T. in die Irre führenden) oberflächlichen Wegweiser auf die Person geht dabei d’accord mit der Tendenz der Moderne, dass sich das Subjekt zunehmend eigenverantwortlich zu konstituieren hat. Oder wie Wehle es in seinem Beitrag zum Band Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität treffend formuliert: »[W]er sich – modern – finden will, hat sich zu erfinden.«526 Mit dem Abbau streng geregelter Erwartungshaltungen durch übergeordnete Bezugsysteme in einer säkularisierten und demokratisierten Gesellschaft legt sich der Mühlstein der Eigenverantwortung für ein gelingendes Leben auf die Schultern ihrer Mitglieder. Die Werte Emanzipation und Freiheit zeitigen eine existenzielle Haftbarkeit für das eigene Sein. Dies steht in Spannung mit der gesellschaftlichen Notwendigkeit disziplingesättigter Individuen. Das Verhältnis von Freiheit, Verantwortung und (Selbst-)Disziplinierung bedingt, dass in der Moderne das »Leben als Konfliktgeschichte«527 zu verstehen ist. Oder mit Zelle nüchtern gesprochen: »Man kann also in der Moderne nur beides haben: Mündigkeit – und: Neurose. Daher steigt mit der Freiheit in der Moderne auch der Therapiebedarf an.«528 Ungeachtet der latent pathologischen Dimension moderner Selbstentwürfe korrelieren die geänderten Rahmenbedingungen, wie im Kapitel zum Zivilisationsprozess dargelegt, mit verschobenen Schamanlassquellen. Dazu Michael Raub: Der beschleunigte soziale Wandel in einer dynamischen, profanisierten und säkularisierten Gesellschaft läßt die Verbindlichkeit zahlreicher traditioneller Werte schwinden. Manche Normen, für deren Nichteinhaltung man sich traditionell zu schämen hat, etwa im Bereich des Geschlechts- und sonstigen Gemeinschaftslebens, spielen gerade im Zeitalter zunehmender Globalisierung und Deregulierung der Wirtschaft, nur noch eine untergeordnete Rolle. Ferner läßt die Trennung von Privatund Berufsleben die das Privatleben regelnden Wertvorstellungen eben auch eine Privatsache sein. Damit sind zunehmend individuelle Lebensentwürfe und -auffassungen möglich. Wo die Verbindlichkeit bisher gültiger Normen abnimmt, entsteht Raum für individuelle Orientierungen und verschiedenste Verhaltensweisen. Damit geht ein Absinken mancher Schamschwellen einher.529

526 Wehle, W.: Kunst und Subjekt: Von der Geburt ästhetischer Anthropologie aus dem Leiden an Modernität – Nodier, Chateaubriand –. S. 934. 527 Briegleb, T.: Die diskrete Scham. S. 125. 528 Zelle, C.: Schrecken und Erhabenheit. S. 415. 529 Raub, Michael: Scham – ein obsoletes Gefühl? Einleitende Bemerkungen zur Aktualität eines Begriffs. In: Scham – ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven. Hrsg. v. Rolf Kühn u. a. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997. S. 27 – 43. S. 28.

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Das Absinken mancher Schamschwellen ist aber nicht gleichzusetzen mit einem Bedeutungsverlust der ›Institution‹ Scham, sondern lediglich Ausdruck einer Verschiebung der indizierten und gefährdeten Handlungsfelder, sodass eine allgemeine Annahme von einem Rückgang der Schamproblematik sich als Trugschluss erweist. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass sich durch die Verschiebung neue Bereiche verstärkter Schamregulierungen etabliert haben. So erneut Raub: Der anfängliche Eindruck, Scham sei rückläufig, hat sich als oberflächlich erwiesen. Wo das tatsächlich zutrifft, geht es vor allem um körperliche und sexuelle Bereiche. Aber auch hier ist Scham nicht verschwunden, sondern hat im Zusammenhang mit veränderten gesellschaftlichen Idealen und Konventionen neue Formen angenommen.530

Das Reglement in Bezug auf den menschlichen Körper als Operator der Sexualität hat sich gelockert, die heterosexuelle Matrix wurde in ihrem Anspruch als alleingültig aufgebrochen, der Sexualität im Geflecht aus öffentlicher und privater Sprache Raum gegeben. Doch entlastet dies in der Moderne eben nicht den Körper als diskursives Machtfeld, sondern wertet ihn im Gegenteil in seiner Bedeutung als Stellvertretermedium der Person auf. »Auch der Körper selbst«, so Raub folgerichtig im Hinblick auf den zunehmenden Schönheits- und Körperkult bei Frauen wie Männern, »kann bei beiden Geschlechtern eher häufiger als früher zur Quelle der Scham werden.«531 Vor allem als geschminktes, bekleidetes und in Bewegung gesetztes Medium der neuen modernen Oberflächlichkeit versteht er es, seinen Betrachtern Bildern entgegenzustreuen, die wesentlich ›Images‹ sind, und die als Verheißungen auf das ›Wesen‹ der Person fungieren. Durch die Zunahme der Bedeutungen von Blick und Sichtbarkeit und durch die Verschränkung von Maske und Gesicht im urbanen Ständig-unterLeute-Sein erstrahlt der physische Auftritt vor allem in seiner symbolischen Bedeutung als Aushängeschild der Person. In Kombination mit klassifizierenden Background-Information zu Status und Prestige (Beruf, Stellung in der Hierarchie, Fachkompetenz, vorherige Handlungsweisen etc.) und einer adäquaten Ausdeutung des gegenwärtigen Kontextes (berufliches oder privates Gespräch, Cafeteria oder ausgewiesene Prüfungssituation etc.) kann zusammen mit der performativen Kette an Körperzeichen sicherlich in der Regel ein mehr als weniger gesichertes Bild von der betreffenden Person entstehen. Trotzdem ist im Zusammenspiel von Image, Status und Prestige allgemein und bei einer Überbetonung eines vom bloßen Akt des Auftretens an sich ausgehenden CharakterBildes immer auch die Gefahr eine ›Mythologiesierung‹ der jeweiligen Person 530 Ebd. S. 37. 531 Ebd.

Scham und Beschämung

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präsent. Das mit ›Mythologisierung‹ Gemeinte lehnt sich hierbei an dem Mythos-Begriff Roland Barthes an, wie er ihn in Mythen des Alltags skizziert. Der Mythos im kulturkritischen Sinne Barthes ist eine ›Aussage‹, ein ›Mitteilungssystem‹ bzw. eine ›Botschaft‹.532 »Der Mythos wird nicht durch das Objekt seiner Botschaft definiert«, so Barthes, »sondern durch die Art und Weise, wie er diese ausspricht.«533 Barthes stellt dabei explizit klar, dass in diesem Sinne alles zum Mythos werden kann.534 Die entscheidende Wendung hierbei ist nun, dass der Mythos »Antinatur in Pseudonatur«535 ummünzt und als »entpolitisierte Aussage«536 sich den Anschein von Natürlichkeit und Authentizität gibt. Für das Verhältnis von Person und ›An-Sehen‹ bedeutet das, dass in der ›Mythologisierung‹ eben genau diese Gefahr besteht, das Bild als die Person zu nehmen und das Konstrukt der Oberfläche als wesenhafte Setzung eines ›authentischen‹ Charakters misszuverstehen. Gerade eine Moderne mit ihren beschleunigten Kontaktaufnahmen und Beziehungen und mit der Notwendigkeit zur schnellen und sicheren Einordnung der Menschen ist also bedroht von den Fallstricken unangemessener Mythologisierungen und Hochstapeleien. Nichtsdestotrotz sind Status, Prestige und Image maßgebliche und notwendige Faktoren zur Bestimmbarkeit der Person. Aus soziologischer Perspektive ergeben sich dabei verschiedene Felder grundlegender Einordnungen und Klassifizierungen. Eine metakinetisch fundierte Geschlechtszuschreibung, das Alter und die nationale und ethnische Herleitung bilden den großen Rahmen der Identitätsstiftung. Familiäre Hintergründe, berufliche Werdegänge, Wohnungsbiografien etc. führen dann die Festschreibungen fort. Dabei ergeben sich verschiedene Bereiche des möglichen Status-, Image- und Prestigeerwerbs. Nach Neckel sind die maßgeblichen Felder gesellschaftlicher Wertschätzungen Reichtum, Wissen und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe in Verbindung mit dem eingenommen Rang in derselben.537 Ebenso werden diese Bereiche durch eine Vielzahl an differenzierten und filigranen Unterscheidungsräumen ergänzt und erweitert. In ihrer herausragenden Funktion zur Möglichkeit von Statusund Prestigeerwerb sind sie wiederum umgekehrt auch besonders für schamvolle Herabwürdigungen der Person geeignet. Fähigkeiten im Handeln, die körperliche Verfassung oder die Frage nach angemessenem Verhalten in fremden Umgebungen sind Beispiele weiterer Möglichkeiten für einen dauerhaften oder temporären Achtungsgewinn bzw. -verlust. Alle diese Bereiche und 532 Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1964. Reihe: edition suhrkamp 92. S. 85. 533 Ebd. 534 Vgl. ebd. 535 Ebd. S. 130. 536 Ebd. S. 131. 537 Vgl. Neckel, S.: Achtungsverlust und Scham. S. 255.

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Handlungsfelder stellen prinzipielle Möglichkeiten dar, sich als ein unterscheidbares Individuum sozial zu verankern. Sie sind somit auch mögliche Quellen von Schamkonflikten. Eine auf Demokratie und Egalität aufgebaute Gesellschaft, die für ihr Bestehen und ihre Entwicklung zugleich Individualität, Unterscheidbarkeit und Initiative von ihren Mitgliedern einfordert, ist auf ein verlässliches Funktionieren ihrer symbolischen Systeme angewiesen. Gerade der Umgang der Menschen untereinander beruht darauf, dass die Menschen auf mehr oder weniger ungesichertem Boden darauf vertrauen können, dass der jeweils Andere in etwa das ist, was das Bild von ihm vermittelt. Image, Status und Prestige sind das Handgeld eines tagtäglichen Umgangs miteinander, dessen amtlich beglaubigte Verifikationen (Zeugnisse, Geburtsurkunden, Personalausweise, Behördenregistereinträge) nur vergleichsweise selten und dann an entscheidenden Wendepunkten in der Individualbiografie zu Rate gezogen werden. Aber gerade die Verschiebung des Wesenhaften in seine Abbilder macht die symbolische Ordnung dabei für Schamsituationen bedeutsam. Wenn die Darstellung gegenüber dem Dargestellten an Bedeutung gewinnt, birgt dies für den Menschen dahinter eine doppelte Gefahr. Zum einen kann das Auseinandriften dieser beiden Sphären dazu führen, dass das Bild sich verselbstständigt und/oder zum täuschenden Mythos gerinnt und somit falsche Münzen ins System eingespeist werden. Diese falschen Bilder können dabei entweder von außen an eine Person oder Personengruppe angetragen werden (Sexismen und Rassismen und andere diskriminierende Vorurteile jegliche Couleur arbeiten damit) oder als bewusste Inszenierung ›von innen heraus‹ ins Spiel gebracht werden. Zum anderen besteht die Gefahr, dass jede Verfehlung der inszenierten Oberfläche sofort zurückschlägt und die Person als Ganzes zu diffamieren droht. Durch die Vielzahl der zu erfüllenden Rollen und angetragenen Erwartungshaltungen, der Kontaktpartner und möglichen sozialen Rahmungen verwandelt sich so der Alltag in ein Minenfeld potenzieller Verfehlungen. Jeder Fehltritt als Freund, Vorgesetzter oder Fahrgast im öffentlichen Personennahverkehr weitet dabei, dank des existenziellen Sprengcharakters der Schamgefühle, das Unbehagen auf die Person als Ganzes aus. Ein gelockerter Umgang der Menschen in der Moderne untereinander und die Herausbildung einer disziplinierten, selbstregulativen Ich-Identität mögen dazu führen, dass ein Großteil des alltäglichen Lebens sicher und souverän ohne größere Schamsituationen gemeistert werden kann. Doch da, wo das Gespür für die Situation versagt oder sogar bewusst Beschämungen herbeigeführt werden, entfalten Schamerlebnisse ihr ›politisches‹ Potential. Die Sorge um die eigene Darstellung des Ichs nach außen kann sich somit vor dem Hintergrund einer gestiegenen Schambedrohung bis zum ängstlichen Konformismus hin verbiegen. Darüber hinaus gewinnen reale Schamsituationen bzw. Schamdrohungen in diesem Szenario eine hohe Macht über das Verhalten

Scham und Beschämung

177

des Einzelnen und können, von Anderen mutwillig instrumentalisiert und mit Kalkül verwendet, als politisches Werkzeug verwendet werden.

4.2

Akte der Beschämung

Der Mensch als soziales Wesen bewegt sich im Rahmen vorformierter Erwartungshaltungen, die durch reflexive Gefühlsbefindlichkeiten im Subjekt gespiegelt werden. Je tiefer die Normen gesellschaftlichen Zusammenlebens über Schamgefühle eingepflanzt sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines individuellen Einspruchs gegen diese Erwartungshaltungen. Je heimlicher, unterschwelliger und subtiler die Schamapparatur dabei funktioniert, desto verschleierter geben sich Macht- und Abhängigkeitsstrukturen. Dem Normalfall der unterschwelligen Regulierung durch vorgeschobene Schamhaftigkeit steht die tatsächliche Beschämung als konkrete Aktion beiseite. Die Bedeutung der Beschämung erstreckt sich, wie Briegleb in seinem Scham-Essay aufführt, gleichsam als historische Konstante über die Zeit wie auch als soziale Konstante durch die verschiedenen Hierarchiekonstellationen: So ist die Beschämung seit Jahrhunderten ein geschmeidiges Instrument zum politischen Machterhalt. Könige wie Supermarktleiter erreichen mit gezielter persönlicher Verächtlichmachung Unterwerfung ihrer Untertanen und Angestellten (allerdings manchmal auch verzweifelte Rebellion). Sozial noch bedeutender, weil nicht in der persönlichen Konfrontation zu lösen, ist die massen- oder gruppenweise Demütigung. Durch die Propagierung von beschämenden Stereotypen (›der faule Neger‹, ›der geldgeile Jude‹ oder ›das dumme Weib‹) und die Ausbildung von sozialen Strukturen, die diese Ressentiments energisch wiederholen und die Zielgruppen dauernd spüren lassen, verwurzeln herrschende Gruppen dort ein Selbstbild der Schwäche. Die Schamangst führt relativ verläßlich zu freiwilligem Gehorsam und Duldsamkeit. Religionen arbeiten mit diesem Muster ebenso erfolgreich wie Regierungen oder Wirtschaftsunternehmen, und zwar immer dann, wenn eine kleine Gruppe der Mehrheit ihren Willen aufzwingen möchte.538

Wiederholt eingesetzte Beschämungsakte und vor allem das sich gegenseitig bedingende Wechselspiel aus pauschalisierender Diffamierung und diskriminierender sozialer Struktur kreieren Klassen und Gruppen benachteiligter Individuen. Tradierte Ungleichheiten generieren so größtenteils im Modus einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung an Vor-Bildern ausgerichtete Realitäten. Dem öffentlich propagierten ideologischen Urgrund von unveräußerlichen Menschenrechten und dem demokratischen Ideal der Gleichheit und Gleichberechtigung steht eine gelebte Realität der Ungleichheit gegenüber. Trotz z. B. 538 Briegleb, T.: Die diskrete Scham. S. 10.

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der Festschreibung der Gleichberechtigung der Geschlechter in der Gründungsurkunde der Bundesrepublik Deutschland 1949 – ›Männer und Frauen sind gleichberechtigt.‹ (Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes) – halten sich nicht nur geschlechtsspezifische Rollenklischees bis heute, sondern auch die Gesetzgebung führte Ungleichheiten und Ungleichberechtigungen fort. So konnte beispielsweise bis zur Reform des Familienrechtes 1979 der Mann als maßgeblich Familienverantwortlicher unter Umständen der Frau die Ausübung eines Berufes verbieten. Widerstreitende Interessen innerhalb der Gesetzgebung – hier Schutz der Familie versus Gleichberechtigung der Geschlechter – und die Abwägung einer Wertehierarchie sind der brodelnde Kern unterhalb der schillernden Oberfläche einer schlagwortorientierten Gleichberechtigung aller Menschen.539 Schamgefühle entfalten deswegen so eine ungeheure Kraft, da sie ihrer Struktur nach in erster Linie weniger ein wütender Protest gegen Ungleichbehandlung sind, sondern sie im Gegenteil noch zu rechtfertigen scheinen. In Anlehnung an Sartres »meine Scham ist ein Geständnis«540 werden im Schamgefühl angetragene Bilder übernommen, die das beschämte Subjekt in eine Unterlegenheitsposition setzen. Empörung und Widerstand – wie Briegleb sie im obigen Zitat unter Hinweis auf ›verzweifelte Rebellion‹ andeutet – können Produkte von Beschämungen in zweiter Instanz sein, in erster Linie fungiert eine geglückte Beschämung allerdings als zumindest temporär gelungene Herabsetzung. In diesem Sinne denkt auch Carsten Schlüter-Knauer das Verhältnis von Scham und Aufstand als zweistufiges Modell. Aus dem Kontext der Auseinandersetzung mit den Thesen Hilge Landweers – auf die weiter unten noch eingegangen werden wird – spricht er sich dafür aus, eine Scham erster Stufe, die sich primär leiblich äußert, mit einer eher kognitiven Scham zweiter Stufe [zu] komplementieren. Und ich denke nicht, daß beide durch einen ontologischen Graben geschieden werden müßten. Der Umschlag von Scham und Beschämung in Kritik und Zorn indiziert einen Lernprozeß und eine kognitive Komponente, die der ersten Stufe verbunden bleiben und gerade aus ihrer Erfahrung noch ein besonders affektives Gewicht bekommen.541 539 Das Schlagwortartige ist dabei keineswegs als eine negative Qualität zu verstehen, sondern ermöglicht vielmehr als ›leere‹ Formel jene Universalität zu umschließen, die sie propagiert. ›Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.‹ (Grundgesetz der BRD, Artikel 1, Absatz 1) ist Ausdruck so einer Leerformel, die das Prinzipielle und Abstrakte als Ziel- und Fixpunkt aller möglichen folgenden konkreten Gesetzgebungen stellt. Mit der Würde steht im Zentrum allen rechtlichen Bemühens das Interesse an der Wahrung eines souveränen und nicht zu verletzenden Kerns der Identität – ein Kern, der in Scham und Beschämung einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt ist. 540 Sartre, J.-P.: Das Sein und das Nichts. S. 348. 541 Schlüter-Knauer, Carsten: Die politische Kritik der Scham. In: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur. Jahrgang 12 (2001), Heft 3, fünfte Diskussi-

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Der vor allem über ihre leibliche Expressivität – Abbruch des Blickkontaktes, Handlungsdurchbrechung, sichtbares Erröten, geduckte, unterwürfige Haltung – bestimmten primären Scham wird die Möglichkeit eines revolutionären sekundären Schamgefühls der zunehmenden kritischen Distanzierung beigestellt. Schlüter-Knauer geht davon aus, daß insbesondere serielle Beschämungen durchaus zur Distanzierung in schamauslösenden Situationen und damit zur affektuellen Transformation von Scham in Zorn führen können. Diese Transformation muß dann als eine Triebfeder zum sozialen und politischen Engagement begriffen werden, die die entsprechenden Handlungen von Akteuren verständlicher macht […].542

Die Geburt eines aktionistischen politischen Bewusstseins aus dem Geist durchlebter Scham stellt allerdings eher die Ausnahme im Normalfall repressiver Beschämungen dar. Will man allerdings diesem positiven Umschlagpunkt in der Schamproblematik noch etwas nachgehen, so scheint hier wichtiger als der punktuelle Widerstand eine allgemeine Veränderung in der Wahrnehmung von und im Umgang mit Beschämungen zu sein. Dazu Briegleb: Der Zuwachs an Bildung und kritischem Verstand, der die demokratische, kapitalistische Gesellschaft trotz aller Erfolge des Marketings in seiner Entwicklung auszeichnet, hat allerdings erreicht, daß Entwürdigung zur besseren Ausübung von Macht einer hartnäckigen öffentlichen Kritik unterzogen ist – und damit zum persönlichen Gesichtsverlust führen kann.543

Innerhalb einer öffentlichen und kritikmündigen Gesellschaft kann der Akt der Beschämung Gefahr laufen, auf den Beschämenden zurückzuschlagen. »Wer seine Beschämungsstrategien also nicht mit großer Raffinesse und Marketingaufwand als Wohltat für den Beschämten verkleidet«, so heißt es in Die diskrete Scham weiter, »kann zwar immer noch eine Machtposition erreichen, aber nur um den Preis, als roher Trottel verspottet zu werden.«544 In einem Wettstreit aus möglichst unauffälligen Methoden der Beschämung und einem widerständigen kritischen Bewusstsein kristallisieren sich somit immer perfidere und subtilere Strategien zur Beschämung heraus. Die von Briegleb angesprochene Methode, die Beschämung für den Beschämten sogar noch als Wohltat für diesen zu verkleiden, erscheint dabei als das Meisterstück einer gelungener Herabwürdigung. Bedeutender und alltäglicher dürfte allerdings der in der Struktur der (primären) Scham angelegte Moment der Übernahme einer negativen Meinung über sich selbst sein. Der beschämende Moment einer schmerzlich empfundeonseinheit. Hrsg. v. Frank Benseler u. a. Stuttgart: Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft 2001. S. 316 – 319. S. 319. 542 Ebd. S. 317. 543 Briegleb, T.: Die beschämte Scham. S. 11 f. 544 Ebd. S. 12.

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nen Insuffizienz hemmt dabei nicht nur konkret die Initiative, sondern entfaltet seine Bedeutung vor allem als Mittel einer gewaltförmigen Machtausübung. In einer Gesellschaft, die einen Großteil ihrer Gewalt aus dem Schwert und der Faust in die immaterielle Dimension des Wortes und des Blickes transferierte, können Beschämungen als Momente bewusst eingesetzter Bestrafungen dienen. Michael Pfister, der unserer Zeit eine »Renaissance der Schamstrafen«545 attestiert, problematisiert diese Tendenz zur (öffentlichen) Beschämung als Ausdruck einer gemeinschaftsdienlichen Reparaturleistung. Die positiven Aspekte, die nach Pfister die Befürworter pädagogischer Demütigungen ins Feld führen, sind neben Momenten der Vergeltung und Abschreckung vor allem Re-Integration und eine Signalwirkung, die anhand der bestraften Vergehen negativ geltende Werte, Normen und Überzeugungen zum Ausdruck bringt. Die Hoffnung auf re-integrierende Effekte setzt darauf, »durch Beschämungserfahrungen die verlorene oder verdorbene Schamhaftigkeit wieder herzustellen […].«546Die Problematik hierbei liegt nun in der Tendenz zur Entinstitutionalisierung der Beschämungsinstanzen. Hierzu Pfister : Wer mit Schamstrafen liebäugelt, ist vielleicht der Meinung, dass gemeinsame Werte zusehends zerfallen, und traut der abstrakt-rationalen und emotionslosen Verwaltung von Schuld und Sühne in den etablierten Justizapparaten nicht mehr zu, die Welt sicherer und besser zu machen.547

Die Gefahr einer schnell schießenden Meinungselite, die ihre Wertvorstellung als allgemeingültig setzt und durch öffentliche Schamstrafen – die Geschichte kennt hier vom mittelalterlichen Pranger über Zwangstätowierungen bis zur Diffamierung im Internet viele Möglichkeiten der Brandmarkung – Einfluss auf das Verhalten der Menschen auszuüben gedenkt, liegt in ihrem tendenziell undemokratischen und fundamentalistischen Charakter. Eine dahingehend institutionalisierte Judikative, die mit Schamstrafen zu arbeiten wünscht, läuft dabei immer Gefahr, sich in Widerspruch zur ersten Forderung der Legislative zu begeben, die eben gerade den offenen Begriff der Würde des Menschen als sakrosankt stellt. Darüber hinaus ist nicht gesichert, ob die angestrebten positiven Effekte der Scham wirklich eintreten. Im Sinne des oben mit SchlüterKnauer aufgeführten zweistufigen Scham-Modells können pädagogische Beschämungen auch umschlagen in Widerstand, Rachegelüste und wütende Gewaltbereitschaft. Auch ohne die ausufernde Anwendung problematischer Schamstrafen spielen Schamgefühle und Beschämungsakte in Machtordnungen eine zentrale Rolle. Vor allem Sighard Neckel und Hilge Landweer haben mit ihren Unter545 Pfister, M.: A_d~¬: Scham, Scheu und Unverschämtheit im griechischen Denken. S. 29. 546 Ebd. S. 30 547 Ebd.

Scham und Beschämung

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suchungen zu Scham und Macht die Bedeutung von Schamgefühlen im gesellschaftlichen Ringen um Akzeptanz und Deutungshoheit unterstrichen. Das Blickfeld weitend, versteht Neckel aus soziologischer Sicht Schamgefühle nicht als zutiefst persönliche und individuelle Katastrophe, sondern als ein ›kollektives Gefühlsmotiv‹, welches von den gesellschaftlichen Existenzbedingungen bestimmter Klassen und Gruppen her auf die jeweiligen Individuen zurückwirkt. Grundannahme in Status und Scham ist, dass Scham als Emotion von sozialer Relevanz »in der Ungleichheit zwischen Menschen entsteht und für die Deutung und die Reproduktion von Ungleichheit eine große Bedeutung hat.«548 Von der alltäglichen Präsenz von Schamgefühlen in der Gesellschaft ausgehend, untersucht Neckel Beschämungen, »die ihren Anlaß im sozialen Status von Individuen und Gruppen haben[…].«549 Neckels kritischer Ansatzpunkt zielt letztlich auf die Problematik ab, dass diese im sozialen Status wurzelnden Schammomente Ungleichheiten zu legitimieren scheinen. Ungleichheit versteht Neckel hier nicht im Sinne einer grundsätzlichen Diversität der Individuen untereinander, sondern machttheoretisch im Sinne einer Ungleichwertigkeit im Verhältnis zueinander. Ungleichheit geht immer mit einer Machtdifferenz einher, und so verliert auch derjenige, der sich geschämt hat und darin seine Unterlegenheit spürte, nicht nur an Achtung, sondern auch an Durchsetzungskraft, was seine eigenen Interessen betrifft. Zukünftig wird er besonders konform sein wollen, um weiterer Scham zu entgehen. Auch drückt das Vermögen, jemanden beschämen zu können, die Macht aus, die ich über ihn erlangt habe, geht Scham also für den Beschämten mit einem Machtverlust einher. Machtunterschied und Ungleichheit gehören zusammen, gemeinsam prägen sie auch das Erleben von Scham.550

Als Instrument sozialer Machthierarchisierungen begriffen, koppelt Neckel die symbolische Statusordnung an die materielle Dimension der ungleichen Verteilung ökonomischer Ressourcen. So heißt es bei ihm: Im Wertinhalt der Scham kehrt die symbolische Gewalt sozial dominanter Klassifikationen wieder, die sich mit den materiellen Vorteilen bestimmter Klassen verbinden. Der ungleichen Verteilung sozialer Anerkennung, die sich in der Scham der Unterlegenheit zum Ausdruck bringt, entspricht eine machtgestützte Ungleichverteilung von Lebenschancen in der kapitalistischen Gesellschaft, die ihren kulturellen Widerspruch in den verallgemeinerten sozialen Ansprüchen einer autonomen Individualität findet.551 548 Neckel, Sighard: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag 1991. Reihe: ›Theorie und Gesellschaft‹. Hrsg v. Axel Honneth u. a., Bd. 21. S. 17. 549 Ebd. S. 16. 550 Ebd. 551 Ebd. S. 193.

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Es ist der Verdienst von Neckels Arbeit aufzuzeigen, wie soziale Ungleichheit »ihre alltägliche Legitimation auch in den Gefühlen der Menschen über sich selbst [findet]«552 und Ungleichheit reproduziert wird, indem Handlungen »diese Gefühle zu ihrem Ausgangspunkt [nehmen], erzeugen oder verstärken […].«553 Allerdings bleibt mit Briegleb und Schlüter-Knauer der Einspruch als wichtiges Korrektiv bestehen, dass den Akten der Beschämung prinzipiell ein zur Aufklärung fähiges Bewusstsein und die Möglichkeit eines aus Schamerfahrungen abgeleiteten kritisch-politischen Engagements entgegenstehen. Mag Scham sozial gewendet in der Beschämung eine Waffe sein, die durch ihre existenzielle Dimension das Subjekt im Kern erschüttert, so ist sie doch wenig geeignet, eine unabwendbare Knechtung auf Dauer zu sein. Vor diesem Möglichkeitshintergrund der Überwindung und Bewältigung der Scham spricht auch Briegleb dramatisch von der »atomare[n] Sprengkraft des Selbstbewußtseins, das durch die Überwindung der Schamängste gezündet wird[…].«554 Ebenso wie Neckel hat sich Hilge Landweer mit der Bedeutung von Schamgefühlen im Kontext sozialer Hierarchisierungen auseinandergesetzt. Ihre zentrale These in Scham und Macht zielt darauf ab, dass »Normen […] über die Scham im Individuum leiblich verankert [sind]«555 und durch die Scham das Individuum diese Normen zumindest partiell anerkennt. Landweers zusätzlicher Überlegungsansatz, »ob Machtverhältnisse nicht erst durch Gefühle möglich und in fundamentaler Weise auf sie angewiesen sind«556, wird an anderer Stelle von Annette Kämmerer mit einem klaren ›Ja‹ beantwortet: Die Frage zu stellen, ob die Etablierung von Machtverhältnissen mit den Gefühlen von Menschen enger verbunden ist, als auf den ersten Blick evident wird, kann nur rhetorisch gemeint sein. Gefühle dienen der Herstellung und Konstituierung von hierarchischen Strukturen, von Gruppenzugehörigkeit und Gruppenausschluss; sie sind die Voraussetzung und das Resultat sozialer Prozesse. Nichts ist trügerischer als die Annahme der Individualität der eigenen Gefühle. Jede Ideologie, jeder Totalitarismus, ja, noch jede Demokratie kann nicht entstehen, ohne sich menschlicher Gefühle als Mittel des Zusammenhalts zu bedienen.557

Im Rahmen von Anerkennungsverhältnissen, die mit Emotionen durchwachsen sind, nisten sich soziale Strukturen im Körper der Individuen ein. Landweer 552 553 554 555

Ebd. S. 252. Ebd. Briegleb, T.: Die diskrete Scham. S. 35. Landweer, Hilge: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls. Tübingen: Mohr Siebeck 1999. Reihe: Philosophische Untersuchungen. Hrsg. v. Hans Jürgen Wendel, Bd. 7. S. 215 556 Ebd. S. 4. 557 Kämmerer, Annette: Die Scham überlebt. In: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur. Jahrgang 12 (2001), Heft 3, fünfte Diskussionseinheit. Hrsg. v. Frank Benseler u. a. Stuttgart: Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft 2001. S. 304 – 305. S. 304.

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spricht hier in Anlehnung an Hermann Schmitz von einer ›leiblichen‹ Erfahrung. Leib bezeichnet dabei »den erlebten und gespürten Körper, das, was aus der Perspektive der 1. Person ganzheitlich, d. h. ohne Zuhilfenahme einzelner Sinnesorgane oder der Hände, erfahren wird.«558 Der Verweis auf die Leiblichkeit des Schamempfindens hat den Vorteil, dass dem sozialen Aspekt die grundlegende existenzielle Dimension angemessen zur Seite gestellt wird. Unabhängig von der Kategorie des konkreten Anlasses einer Schamsituation wird in der Ganzheitlichkeit des Erlebens die ›globale‹ Kontaminierung der Person betont. Allerdings setzen gerade im Hinblick auf die Aspekte der Leiblichkeit und der Normrelevanz Kritikpunkte an Landweer an. Landweer will nur von ›wirklicher‹ Scham sprechen, wenn zum einen der körperliche Ausdruck in Form des Senkens des Blickes gegeben ist. Zum anderen besteht sie darauf, dass das Schamgefühl zwangsläufig auf Verstöße gegen Normen beruht, die das Schamsubjekt »hätte kennen und beherzigen müssen […].«559 Und weiter heißt es bei ihr : »Nur wenn diese beiden Merkmale gegeben sind, die spezifische Leiblichkeit der Scham und der (unterstellte) Normverstoß, spreche ich von akuter Scham oder Scham im Vollsinn.«560 Demgegenüber grenzt sie ›falsche‹ Scham ab, bei der man sich für den Verstoß gegen Normen schämt, »an denen man sich nicht wirklich orientieren möchte.«561 Auch hier werden vorgegebene Normen zumindest zum Teil anerkannt, zugleich hat man aber nicht vergessen, »daß die eigenen normativen Präferenzen zunächst andere waren oder sind.«562 Dieser Versuch, das Gefühl der Scham von anderen Gefühlen wie z. B. der Peinlichkeit oder dem Gedemütigtsein abzugrenzen, führt zu problematischen Situationsbestimmungen. So in Scham und Macht: Daß Scham leicht mit dem Gefühl, gedemütigt worden zu sein, verwechselt wird, ist nicht nur in der ähnlichen Leiblichkeit begründet, sondern auch darin, daß faktisch viele Personen, die sich gedemütigt fühlen, zusätzlich Scham darüber empfinden, daß sie in herabsetzender und schikanöser Weise behandelt worden sind. Das ist allerdings nur möglich, wenn sie sich irgendeine noch so vage Verantwortung dafür zuschreiben, Objekt von Demütigung geworden zu sein. Das inzwischen bekannte Beispiel dafür sind die Schamgefühle, die Mädchen und Frauen haben, die vergewaltigt worden sind.563

Mit Matthias Schlossberger, der sich u. a. auf die Materialsammlung Hans Peter Duerrs stützt, ist hier insofern Einspruch zu erheben, als dass »die Scham des [Vergewaltigungs-]Opfers primär von der Zerstörung der Integrität der Person 558 559 560 561 562 563

Landweer, H.: Scham und Macht. S. 20. Landweer, H.: Differenzierungen im Begriff ›Scham‹. S. 287. Ebd. Ebd. S. 291. Ebd. Landweer, H.: Scham und Macht. S. 45.

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von Anderen herrührt.«564 Tatsächlich legt gerade das Beispiel der Vergewaltigung nahe, dass eventuelle Schamgefühle des Opfers eher an die Macht- als die Normperspektive gebunden sind, da es gerade gegen seinen Willen und seine Souveränitätsbestrebungen in eine Unterlegenheitssituation gedrängt wurde. »Eine Norm haben sie[, die Opfer,] nicht verletzt, im Gegenteil«, so auch Raub, »durch die Normverletzung des Vergewaltigers sind sie Opfer geworden.«565 Landweers Anliegen, ihre Theorie der Scham möglichst differenziert zu betreiben, führt hier zu der Verbindung von Scham und Verantwortung. Im Sinne Landweers ist der Schambeladene niemals als reines Opfer einer Situation zu denken, sondern immer auch schon Mittäter in Bezug auf die Brechung einer Norm. Die Hauptwirkung jeder erfolgreichen Beschämung, nämlich dank des primären existenziellen Kerns des Schamgefühls die Machtposition des Beschämten erfolgreich und ganzheitlich zu erodieren, wird ergänzt durch sekundäre Begleitumstände. Dadurch, dass der Großteil sozialer Regulierungen über die Ebene vorgeschobener Schamvermeidungsstrategien geleistet wird, kann auch Landweer sagen, dass »Schamvermeidung […] selbst eine Norm [ist], die den meisten Interaktionen unterliegt[…].«566 Vollzogene Beschämungsakte können deswegen so mächtig sein, da sie hier die Gewalt einer eigentlich sanktionierten Macht entfesseln. In einer Gesellschaft, die zum Funktionieren gerade auf den flüssigen Ablauf der Interaktionen ohne konkrete Schamsituationen setzt, bricht der Moment der Beschämung dann brachial als Ausnahmezustand herein, der den Beschämenden besonders wirkungsmächtig erscheinen lässt. In der Forderung der Schamvermeidung fließt dabei allerdings das Verbot der Beschämung zusammen mit der Aufforderung, sich nicht zu schämen. Darüber hinaus ist Scham nach Neckel insofern eine »heimliche Emotion […], die ihren eigenen Ausdruck bestraft, weil er sich mit dem Individualitätscode so wenig verträgt.«567 Nicht Täter, aber auch nicht Opfer sein, ist die doppelte Aufforderung, die tagtäglich an die Mitglieder sozialer Interaktionen im Schamverbot ergeht. Teil erfolgreicher Beschämungen ist es somit auch, das Opfer als Opfer plakativ zu betonen.

564 Schlossberger, Matthias: Philosophie der Scham. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Jahrgang 48 (2000), Heft 4. Hrsg. v. Axel Honneth u. a. Berlin: Akademie Verlag 2000. S. 807 – 829. S. 818. 565 Raub, M.: Scham – ein obsoletes Gefühl?. S. 39. 566 Landweer, H.: Scham und Macht. S. 216. 567 Neckel, S.: Achtungsverlust und Scham. S. 262.

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4.3

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Exkurs I: die ›obszöne Gesellschaft‹

An dieser Stelle sei in einem kurzen Exkurs auf den Begriff der ›obszönen Gesellschaft‹ eingegangen, wie ihn Herbert Marcuse in seiner Schrift Versuch über die Befreiung aus dem Jahre 1969 skizziert. Marcuse, der Vordenker und Grandseigneur besonders revolutionsaffiner Linker Ende der 1960er Jahre, versucht hier, das machtpolitische Spiel der Schamsetzungen durch einen politisierten Begriff der Obszönität zu bereichern. Zum Essay : In Versuch über die Befreiung fragt Marcuse vor dem Hintergrund der Spannungszunahme zwischen Kapitalismus und sozialistisch geprägter Opposition nach der Möglichkeit einer revolutionären Überwindung des Kapitalismus im marxistischen Sinne. Ausgehend von der Annahme einer prinzipiell möglichen technischen Überwindung weltweiter Armut und Ressourcenknappheit verortet er den Ansatzpunkt hin zu einer Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse in der Bedürfnisstruktur der Menschen. Der Kapitalismus als großer Feind erweist sich hier gerade auch in seiner freizeit- und spaßorientierten Version als perfide Knechtungsapparatur. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern wird einer Radikalisierung der arbeitenden Klasse durch eine sozial gesteuerte Lähmung des Bewußtseins entgegengewirkt sowie durch die Entwicklung und Befriedigung der Bedürfnisse, welche die Knechtschaft der Ausgebeuteten verewigen. So wird in der Triebstruktur der Ausgebeuteten ein handfestes Interesse am bestehenden System befördert, und der Bruch mit dem Kontinuum der Repression – eine notwendige Vorbedingung der Befreiung – findet nicht statt. Hieraus ergibt sich, daß der radikale Wandel, der die bestehende Gesellschaft in eine freie transformieren soll, in eine Dimension der menschlichen Existenz hineinreichen muß, die in der Marxschen Theorie kaum berücksichtigt wurde – die ›biologische‹ Dimension, in der die vitalen Bedürfnisse und Befriedigungen des Menschen sich geltend machen. Soweit diese Bedürfnisse und Befriedigungen ein Leben in Knechtschaft reproduzieren, setzt eine Befreiung Veränderungen in dieser Dimension voraus, das heißt: andere Triebbedürfnisse, andere Reaktionen des Körpers wie des Geistes.568

Die prinzipielle Unterteilung von Unterbau und Überbau aufnehmend, drängt Marcuse zu einer Psychologisierung und Biologisierung der marxistischen Theorie. Dem materiellen Sein der ökonomischen Wirklichkeit stellt er das Sein der Triebstruktur zur Seite. ›Triebstruktur‹ ist hierbei allerdings weniger als ahistorisches, kreatürliches Erbe des Menschen zu verstehen, sondern kann eher im Sinne einer konsumorientierten Bedürfnisstruktur gedeutet werden. Marcuse kritisiert nicht den Menschen als triebgeleitetes Wesen, sondern jene mo568 Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung. In: Ders.: Schriften. Bd. 8: Aufsätze und Vorlesungen 1948 – 1969. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1984. S. 237 – 317. S. 255 f.

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dern-westliche Version des Menschen, der sich gänzlich in einer ausbeuterischen Wirtschafts- und Konsumkultur verausgabt. Die Erweiterung der materialistischen Theorie durch die Dimension einer Bedürfniskritik erlaubt Marcuse, auf der Analyseebene zu erklären, warum die sozialistische Revolution im kapitalistischen Westen auch im Jahre 1969 noch auf sich warten lässt. Die westliche Freizeit-, Unterhaltungs- und Luxusgüterkultur befriedigt Bedürfnisse der breiten Masse, die sie durch Werbung und der vorgelebten Wirklichkeit der herrschenden Klasse erst in dieser verankert hat. Farbfernseher, Vergnügungsparks, Kinopaläste, fetischisierte und mit Status beladene Produkte der Luxusindustrie bieten Glücksversprechen feil, die sich ausschließlich über Geld dem Einzelnen erschließen. In einem Kreislauf des Konsums wird Unfreiheit insofern reproduziert, als dass zum einen der Arbeiter zur Befriedigung seiner Bedürfnisse dem Diktum des Lohnerwerbs unterworfen bleibt, und zum anderen die Wiedereinspeisung seines Lohns in Freizeitindustrie diese am Leben erhält und er sich auch in seiner Nichtarbeitszeit in Abhängigkeit zum herrschenden Getriebe stellt. Problematisch wird Marcuses Ansatz nun, wenn er über die konkrete Analyse hinaus den Blick auf die Möglichkeiten und Bedingungen der Revolution wirft. Wenn das gängige System auf eine Bedürfnisstruktur der Menschen antwortet, die es selbst erst provoziert hat, dann folgt für Marcuse daraus, dass »Befreiung Umsturz gegen den Willen und gegen die vorherrschenden Interessen der großen Mehrheit des Volkes bedeutet.«569 Weiter heißt es dort in Bezug auf die konsumorientierten Bedürfnisse: In dieser falschen Identifikation gesellschaftlicher und individueller Bedürfnisse, in dieser tiefverwurzelten ›organischen‹ Anpassung der Menschen an eine schreckliche, aber einträglich funktionierende Gesellschaft liegen die Grenzen demokratischer Überzeugungskraft und Entwicklung. Von der Überwindung dieser Grenzen hängt die Errichtung der Demokratie ab.570

Im ›klassischen‹ Sinne Marx führt geschichtlich noch das ökonomische Sein selbst – sprich: Pauperisierung, Verelendung und Proletarisierung der Massen – zur Revolution. Marcuses entscheidende Umwandlung hingegen sieht nun vor, vor der eigentlichen ökonomischen und gesellschaftlichen Revolution eine Revolution der Bedürfnisstruktur zu setzen. Die problematische Pointe Marcuses liegt dabei darin, dass diese Revolution gegen die Masse der breiten Gesellschaft und gegen die ›falsche‹ Bedürfnisstruktur vollzogen werden müsste. ›Falsch‹ wären dabei die Bedürfnisse, die, ein ›Leben in Knechtschaft‹ reproduzieren und das ausbeuterische System stützen. Die Auseinandersetzung mit Marcuses Hauptstrang an dieser Stelle abrechend, sei an dieser Stelle nur noch darauf 569 Ebd. S. 256. 570 Ebd. S. 256 f.

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verwiesen, dass Marcuse hier wiederholt, was als Problematik (nicht nur) der marxistischen teleologischen Geschichtsphilosophie eingeschrieben ist: die bereitwillige Akzeptanz gegenwärtiger oder historisch zurückliegender Aktionen gegen das Interesse und vermeintliche Wohl einer Gruppe oder der Mehrheit von Menschen im Namen eines in die Zeit vorwärts projizierten, doch bisher abstrakt bleibenden goldenen Zeitalters.571 Für die hiesige Auseinandersetzung zum Scham-Macht-Verhältnis ist nun folgende Passage in Versuch über die Befreiung interessant: Die kritische Analyse dieser Gesellschaft bedarf neuer Kategorien: moralischer, politischer und ästhetischer. Ich werde versuchen, sie im Verlauf der Diskussion zu entwickeln. Die Kategorie der Obszönität wird als Einleitung dienen. Diese Gesellschaft ist insofern obszön, als sie einen erstickenden Überfluß an Waren produziert und schamlos zur Schau stellt, während sie draußen ihrer Opfer der Lebenschancen beraubt; obszön, weil sie sich und ihre Mülleimer vollstopft, während sie die kärglichen Nahrungsmittel in den Gebieten ihrer Aggression vergiftet und nie571 Besonders anschaulich zu sehen ist dies beispielsweise in Friedrichs Engels Kommentaren zur ›Zehnstundenbill‹ in England, die er seinerzeit in englischen und auch deutschen Zeitungen publizierte. Vor dem Hintergrund der gesetzlichen Einführung des maximal Zehnstundenarbeitstages für Frauen und junge Menschen unter achtzehn Jahren und dem Unterlaufen dieses Gesetzes durch die Fabrikherren markiert er die Einführung der Zehnstundenbill als reaktionären Schritt: »Einerseits beseitigte sie nicht die gegenwärtige Gesellschaftsordnung, und andererseits förderte sie auch nicht ihre Entwicklung. Statt das System auf seine äußerste Spitze zu treiben – auf einen Punkt, wo die herrschende Klasse all ihre Ressourcen erschöpft finden würde, auf jenen Punkt, wo die Herrschaft einer anderen Klasse, wo eine soziale Revolution notwendig werden würde – sollte die Zehnstundenbill die Gesellschaft auf einen Zustand zurückschrauben, der seit langem durch das gegenwärtige System abgelöst worden ist.« (Engels, Friedrich: Die Zehnstundenfrage. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. B. 7. Berlin: Dietz Verlag 1973. S. 226 – 232. S. 228. Zuerst und auf Englisch erschienen in der März-Ausgabe 1850 von ›The Democratic Review‹) Ausgehend von dem Gedanken, dass die zunehmende Verelendung der Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung eine notwendige Bedingung für die Revolution hin zum gerechten System des Sozialismus ist, kann Engels somit Folgendes seinen proletarischen Mandanten entgegenschmettern: »Arbeiter Englands! Wenn ihr, eure Frauen und Kinder von neuem dreizehn Stunden täglich in die ›Rasselkästen‹ eingeschlossen werden sollt, so verzweifelt darum nicht. Es ist ein Kelch, der, so bitter er ist, geleert werden muß. Je schneller ihr darüber hinwegkommt, um so besser. Seid überzeugt, eure hochmütigen Herren haben mit der Erlangung dessen, was sie einen Sieg über euch nennen, ihr eigenes Grab gegraben. Die faktische Aufhebung der Zehnstundenbill ist ein Ereignis, das die nahende Stunde eurer Befreiung wesentlich beschleunigen wird.« (ebd. S. 231) Karl Marx deutet das Geschichtsverhältnis von gegenwärtiger und zukünftiger Generation an anderer Stelle im Kontext seiner Analyse der bestehenden Arbeitsverhältnisse in Frankreich im Bild des biblischen Exodus: »Das jetzige Geschlecht gleicht den Juden, die Moses durch die Wüste führt. Es hat nicht nur eine neue Welt zu erobern, es muß untergehen, um den Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind.« (Marx, Karl: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. B. 7. Berlin: Dietz Verlag 1973. S. 9 – 107. S. 79)

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derbrennt; obszön in den Worten und dem Lächeln ihrer Politiker und Unterhalter ; in ihren Gebeten, ihrer Ignoranz und in der Weisheit ihrer gehüteten Intellektuellen.572

Zum gängigen Gebrauch des Wortes ›obszön‹ heißt an gleicher Stelle weiter : Obszönität ist ein moralischer Begriff im Wortschatz des Establishments, das ihn mißbraucht, indem es ihn anwendet, und zwar nicht auf Ausdrucksformen seiner eigenen Moralität, sondern auf die einer anderen. Nicht das Bild einer nackten Frau, die ihre Schamhaare entblößt, ist obszön, sondern das eines Generals in vollem Wichs, der seine in einem Aggressionskrieg verdienten Orden zur Schau stellt; obszön ist nicht das Ritual der Hippies, sondern die Beteuerung eines hohen kirchlichen Würdenträgers, daß der Krieg um des Friedens willen nötig sei.573

Marcuses Anliegen ist es nun, den Begriff der Obszönität aus dem gängigen Sprachgebrauch herauszulösen und ihn – hier handelt es wirklich um einen revolutionären Akt, denn es geht um nichts weniger als darum, neue ethische Maßstäbe des Denkens und Wertens zu etablieren – als moralischen Begriff neu zu justieren. In den Worten Marcuses: Linguistische Therapie – das heißt: die Anstrengung, Wörter (und damit Begriffe) von der nahezu totalen Entstellung ihres Sinns zu befreien – erheischt die Überführung moralischer Maßstäbe (und ihrer Inkraftsetzung) vom Establishment zur Revolte gegen es.574

Der dahinter liegende Nutzen für eine kritische Bereicherung des Scham-MachtRingens tritt nun klar zu Tage: Vor dem Hintergrund, dass Scham und vor allem Schamanlässe kulturell durchformte Mechanismen im gesellschaftlichen Spiel um Anerkennung und Interessensdurchsetzung sind, gewinnt ein aggressiver Umgang mit re-moralisierten Analysekategorien wie der Obszönität an Bedeutung. Mit einer gleichzeitigen offensiv vorgetragenen Enttabuisierung eigentlich schamsanktionierter Bereiche – die nackte Frau, die ihre Schamhaare entblößt – auf der einen Seite und einer moralischen Neubewertung bisheriger widerspruchslos hingenommener Sachlagen und Verhaltensweisen auf der anderen Seite, wird an beiden Enden an einer Verschiebung bisheriger Schamnormen gearbeitet. Dem wohnt ein gewisses Maß an revolutionärem Potential inne. Allein das Herantragen des Schlagwortes ›obszön!‹ an einen bisher unhinterfragt oder widerspruchslos hingenommenen Sachverhalt verlangt zumindest nach der Frage nach dessen moralischen Wert. So kann auch Roger Willemsen in seinem Aufsatz Über das Obszöne zu dem Schluss kommen, dass das »markanteste Wesensmerkmal des Obszönen […] das der Moralstiftung 572 Marcuse, H.: Versuch über die Befreiung. S. 248. 573 Ebd. S. 248 f. 574 Ebd. S. 249.

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[ist].«575 Eine progressive ›linguistische Therapie‹, die Begriffe wie ›obszön‹, ›schamlos‹ oder auch ›Skandal‹ in ihren bisherigen Signifikant-Signifikat-Verbindungen kritisch hinterfragt und sie mit den gegebenen moralischen Wirklichkeitsverhältnissen neu verknüpft, trägt in sich die Möglichkeit, eine wirkungsmächtige Waffe im sozialen Kampf um Werte, Normen und Anerkennung zu sein.

4.4

Kynischer Trick/Schamlosigkeit als Widerstand

Als Kehrseite von Scham und Beschämung vor dem Hintergrund revolutionärer Enttabuisierungen und moralischer Neubewertung sei nun im Folgenden Schamlosigkeit im Kontext gesellschaftspolitischer Machthierarchisierungen thematisiert. Angesichts der Spaltung von Kynismus und Zynismus wird mit Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft einerseits der Frage nachgegangen, inwiefern einer desillusionierten Moderne ein zynisch zu nennender Zeitgeist attestiert werden kann. Andererseits wird in Anlehnung an die antike Figur des Diogenes von Sinope das Potential kynischer Schamlosigkeiten beleuchtet. Es wird sich dabei zeigen, dass den kynischen Schamlosigkeiten ein emanzipatorisches und aufklärerisches Potenzial innewohnt. Sloterdijks 1983 erschienenes Werk Kritik der zynischen Vernunft kleidet sich im Gestus einer historisch hergeleiteten Gegenwartskritik. Anlässlich der zweihundertjährigen (Nicht-)Wirkungsgeschichte von Kants Kritik der reinen Vernunft im Besonderen und den Idealen der Aufklärung im Allgemeinen spricht Sloterdijk von einem Zeitalter des aufgeklärten falschen Bewusstseins. Mit dem Satz ›Wissen ist Macht‹ begann für ihn im 19. Jahrhundert die Agonie der Philosophie, indem er in letzter Instanz alles Denken und jedes Streben nach Erkenntnis der Frage nach Nutzen und Machtrelevanz unterordnete. Der damit ursprünglich verbunden Glaube an eine sozialdemokratisch eingefärbte Aufschwungs- und Emanzipationsagenda wich einer an den Realitäten der Arbeitsmärkte und Erwerbsbiografien geschulten Ernüchterung. Zum einen werden Ausbildung und Wissensakkumulation den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes untergeordnet und unterteilen sich nachhaltig in brotlose Bildungsornamentik und harte brauchbare Ingenieurfähigkeiten. Zum anderen bohrt sich die Erkenntnis von der Diskrepanz zwischen theoretisch-humanistischen Anspruch und historisch-faktischem Versagen ins Bewusstsein denkender Zeitgenossen: 575 Willemsen, Roger : Über das Obszöne. In: Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart. Hrsg. v. Barbara Vinken. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997. S. 129 – 147. S. 141.

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In unserem Denken ist kein Funke mehr vom Aufschwung der Begriffe und von den Ekstasen des Verstehens. Wir sind aufgeklärt, wir sind apathisch. Von einer Liebe zur Weisheit ist weiter keine Rede. Es gibt kein Wissen mehr, dessen Freund (philos) man sein könnte. Bei dem, was wir wissen, kommen wir nicht auf den Gedanken, es zu lieben, sondern fragen uns, wie wir es fertigbringen, mit ihm zu leben, ohne zu versteinern.576

Das prekäre Verhältnis von Wissen und (Ohn-)Macht fängt Sloterdijk im Begriff des Zynismus, als maßgebliche Geisteshaltung einer rationalisierten und durchökonomisierten Moderne, auf. In einer ersten Annäherung heißt es bei ihm: Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein. Es ist das modernisierte unglückliche Bewußtsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat. Es hat seine Aufklärungs-Lektion gelernt, aber nicht vollzogen und wohl nicht vollziehen können. Gutsituiert und miserabel zugleich fühlt sich dieses Bewußtsein von keiner Ideologiekritik mehr betroffen; seine Falschheit ist bereits reflexiv gefedert.577

Sloterdijk eröffnet den geschichtlichen Bogen in den hoffnungsvoll erleuchteten Tagen der Aufklärung und fokussiert in seinem ›historischen Hauptstück‹ die Weimarer Zeit als erster Epoche unter der Generalherrschaft des Zynismus. Doch bleibt zu betonen, dass Sloterdijks historische Herleitungen stets auf die unmittelbare Gegenwart bezogen sind. Folgerichtig arbeitet sich Sloterdijk einleitend an Adorno, der Kritischen Theorie und der Studentenbewegung der 1960er ab. Seit der Auflösung der Studentenbewegung erleben wir eine Flaute der Theorie. Es gibt zwar mehr Gelehrsamkeit und ›Niveau‹ denn je, aber die Inspirationen sind taub. Der Optimismus von ›damals‹, es ließen sich Lebensinteressen mit gesellschaftstheoretischen Anstrengungen vermitteln, ist weitgehend abgestorben. […] Für das aufklärerische Lager dreht sich nach dem Debakel des ›linken‹ Aktionismus, des Terrors und seiner Multiplikation im Antiterror, die Welt im Kreis.578

Sloterdijk schreibt mit seiner Kritik der zynischen Vernunft gegen Resignationstendenzen und die moralische Verkaterung seiner Zeit an. Zu Beginn der 1980er Jahre sind weder die bundesrepublikanischen noch globalen Probleme der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelöst. Nach wie vor bestimmt der Kalte Krieg das politische Weltklima, Reformen oder gar Revolutionen sind sowohl dies- wie jenseits des Eisernen Vorhangs (noch) nicht in Sicht. Auch die Atomenergiefrage und andere drängende ökologische und soziale Problemfelder sind nicht befriedigend geklärt. Drüber hinaus ist die einst hoffnungsvoll 576 Sloterdijk, Peter : Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1983. Reihe: edition suhrkamp 1099. S. 8. 577 Ebd. S. 37 f. 578 Ebd. S. 23 f.

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angetretene bundesrepublikanische Linke nach dem Terrorjahrzehnt der 1970er entzaubert und zog sich aus den ehemals schwungvoll geführten Debatten zurück, verlief sich heillos im Flirt mit der Gewalt und verblendeter Stadtguerillaromantik oder machte sich auf zum gleichsam langen wie beschwerlichen und Kompromisse erheischenden Marsch durch die Institutionen. Über allem triumphierte dazu ein Staat, der aus den unruhigen Jahrzehnten gefestigter denn je herausging und unter einer 1982 inaugurierten Regierungskoalition aus CDU, CSU und FDP eine neue bürgerlich-konservative Wende versprach. Sloterdijk sieht in diesem Zusammenhang nun ein Erlahmen der an aufklärerischen Werten orientierten Kritik. Der Abstieg der Kritik und der Aufstieg der zynischen Vernunft bilden dabei eine Bewegung: Wenn Unbehagen in der Kultur es ist, was Kritik hervorreizt, wäre keine Zeit so sehr zu Kritik aufgelegt wie die unsere. Doch nie war die Neigung des kritischen Impulses stärker, sich von dumpfen Verstimmungen überwältigen zu lassen. Die Spannung zwischen dem, was ›kritisieren‹ will, und dem, was ›zu kritisieren‹ wäre, ist so überzogen, daß unser Denken hundertmal eher mürrisch als präzise wird. Kein Denkvermögen hält mit dem Problematischen Schritt. Daher die Selbstabdankung der Kritik. […] Weil alles problematisch wurde, ist auch alles irgendwo egal. Dieser Spur gilt es zu folgen. Sie führt dorthin, wo von Zynismus und ›zynischer Vernunft‹ die Rede sein kann.579

Sloterdijk versucht sich in seiner Schrift nun an einer Wiederbelebung kritischen Denkens. Mit Adorno und der Kritischen Theorie teilt er die geradezu körperliche ›Betroffenheit‹ von den Problemen und die Ausgangslage des ›Schmerz-Apriori‹, d. h. eines quasi aus der Vernunft hergeleiteten ›richtigen‹ Bewusstseins von der schmerzlichen Falschheit des Lebens. Doch entgegen eines idionsynkratischen und melancholischen Subjektes im Sinne Adornos, das Glück nur als verlorenes zu denken befähigt ist und dem jede Aussonderung des populären Kulturbetriebes im Verdacht grob-vulgärer Gewaltförmigkeit steht, mobilisiert Sloterdijk den Kritiker als vogelwilden Freigeist und – in Anlehnung an Pasolini – als Korsar und Freibeuter, »unberechenbar herumgetrieben auf den Weltmeeren sozialer Entfremdung.«580 Um den Bruch mit der ›empfindlichen‹ Theorie und der Resignation und hoffnungslosen Erschöpfung seiner Zeit vollziehen zu können und für eine erweiterte Bestimmung und Fruchtbarmachung des Zynismus-Begriffes ist nun die Abkehr von der Kategorie des Glücks von entscheidender Bedeutung. So Sloterdijk: Die europäische Neurose faßt Glück als ein Ziel ins Auge und Vernunftanstrengung als Weg dahin. Ihren Zwang gilt es zu brechen. Man muß die kritische Sucht des Besserns auflösen, dem Guten zuliebe, von dem man sich auf langen Märschen so leicht entfernt. 579 Ebd. S. 17. 580 Ebd. S. 25.

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Ironischerweise ist das Ziel der kritischsten Anstrengung das unbefangenste Sichgehenlassen.581

Eine Kritik, die sich in finsterster Nacht am Leitstern des Glücks zu orientieren gedenkt, wird notwendigerweise defensiv, melancholisch und driftet ab in Resignation. Die Unmöglichkeit des Erreichens eines in die Zukunft projizierten Besserungszustandes, in dem ein glückliches und gelingendes Leben als ›richtiges‹ verwirklichbar erscheint, kann allerdings nicht die Gegenwart um die Notwendigkeit der Kritik erleichtern. Geht der kritische Impuls von der Problemlage aus und lässt sich nicht von einem unerreichbar erscheinenden Ziel blenden, dann hat er wütend und mit Nachdruck die Unmenge seiner berechtigten Angriffsziele zu attackieren; »Die Schläge fallen«, wie Sloterdijk im Bild des Korsaren bleibend schreibt, »nach allen Seiten. Weil das Kostüm amoralisch ist, sitzt es moralisch wie angegossen.«582 Was dem folgt, ist eine heitere Unbekümmertheit moralischer und teleologischer Endzeitversprechungen gegenüber und die Reaktivierung des einstmals aufklärerischen Momentes positiver Enttäuschungen. Dass der Absage gegenüber der Kategorie des Glücks selbst eine zynische Würze eigen ist, ist sich Sloterdijk bewusst. So macht er nicht nur die hier noch zu benennende Unterscheidung zwischen Zynismus und Kynismus auf, sondern entfaltet in einer dritten Fassung Zynismus als Analysekategorie der Dinge, die da sind. In einer »phänomenologischen Sichtung streitbarer Bewußtseinsformen«583 untersucht der zynische Kritiker kalt und unvoreingenommen Worte, Taten und Bewusstseinshaltungen zynischer Repression und kynischen Widerstandes. Erst in der Enthaltung einer Parteinahme weitet sich das Blickfeld hin zu einer »richtige[n] Erfassung der Wahrheit als ›nackter‹ Wahrheit.«584 Die moralische Anstachelung durch eine schmerzlich empfundene Betroffenheit in ihrer Tendenz zur Melancholie muss für den Moment der Analyse ebenso ausgeblendet werden wie der Fixpunkt unerreichbarer Glückshorizonte. Nur so entgeht der Kritiker zugleich lähmender Verzweifelung wie machtpolitischem Zaumzeug. Bevor mit Sloterdijk der Bogen zu Diogenes von Sinope und dem politischen Widerspiel von Zynismus und Kynismus geschlagen wird, sei an dieser Stelle noch etwas verstärkt auf die Bestimmung des ›zynischen‹ Zeitgeistes der westlichen Moderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingegangen. Bei Sloterdijk heißt es in Erweiterung seiner ursprünglichen Bestimmung:

581 582 583 584

Ebd. S. 27. Ebd. S. 25. Ebd. S. 401. Ebd.

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Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein – das unglückliche Bewußtsein in modernisierter Form. Der Ansatz ist hierbei ein intuitiver, bei einem Paradox beginnend; er artikuliert ein Unbehagen, das die moderne Welt durchtränkt sieht von kulturellen Wahnwitzigkeiten, falschen Hoffnungen und deren Enttäuschung, vom Fortschritt des Verrückten und vom Stillstand der Vernunft, von dem tiefen Riß, der durch die modernen Bewußtseine geht und der für alle Zeiten das Vernünftige und das Wirkliche, das, was man weiß, und das, was man tut, voneinander zu trennen scheint. Bei der Beschreibung gelangten wir zu einer Pathographie, die schizoide Phänomene abtastete; sie versuchte, Worte zu finden für die pervers komplizierten Strukturen eines reflexiv gewordenen, fast mehr tristen als falschen Bewußtseins, das unter Zwängen der Selbsterhaltung in einem permanenten moralischen Selbstdementi abgewirtschaftet weiterwirtschaftet.585

Die Geißelung des modernen Zynismus gerade in Abgrenzung zum antiken Kynismus hatte schon vor Sloterdijk Konjunktur. So heißt es bereits Mitte der 1970er Jahre in Iring Fetschers Reflexionen über den Zynismus als Krankheit unserer Zeit in charmanter Deutlichkeit: »Mit den antiken Zynikern haben unsere Zeitgenossen wenig gemein. Ihr Zynismus ist von radikalerer, trostloserer Art, eine letzte, verzweifelte Weise des Lebens, ja eigentlich eher des seelischen Todes.«586 Fetscher sieht im Neu-Zyniker den Prototyp des gewinn- und selbstsüchtigen Machtmenschen, »der es nicht nötig hat, Rücksicht zu nehmen«587, und der für seine asoziale Emanzipation von anachronistisch empfundenen Mitmenschlichkeitsregeln noch den Stempel der ›Freiheit‹ beansprucht. Durchaus in Nähe zu Sloterdijks Ansatz von der gleichsam geglückten wie missglückten Lehrstunde der Aufklärung begreift auch Fetscher den Zyniker vor dem Hintergrund einer immensen ethischen Enttäuschung. Fetscher im Wortlaut: Zynismus – so nehme ich an – entsteht aus der tiefen Enttäuschung darüber, daß moralische Werte und Normen im Leben der meisten Menschen eine so geringe Rolle spielen und daß ihre Berücksichtigung dem moralisch Handelnden in der Regel mehr Schaden als Nutzen bringt.588

Psychologisierend heißt es später weiter : Einmal, so scheint mir, hat sich der spätere Zyniker ganz mit seiner eigenen Freundlichkeit oder Liebe identifiziert und ist zutiefst verletzt worden. Er hat die Erfahrung

585 Ebd. S. 399 f. 586 Fetscher, Iring: Reflexionen über den Zynismus als Krankheit unserer Zeit. In: Denken im Schatten des Nihilismus. Festschrift für Wilhelm Weischedel zum 70. Geburtstag am 11. April 1975. Hrsg. v. Alexander Schwan. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975. S. 334 – 345. S. 334. 587 Ebd. S. 335. 588 Ebd.

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gemacht, daß der Liebende allemal schwach ist, leicht verletzt werden kann. Diese Erfahrung hat ihn hart und zynisch werden lassen.589

Die Zyniker als die von der Liebe Enttäuschten und gefallenen Moralisten, »die über ein zu schwaches Selbstbewusstsein verfügen, um sich ›Niederlagen‹ leisten zu können«590, tragen für Fetscher ihren Zynismus als Maske und Schutz vor sich her. Zugleich bereitet ihnen ihre Einstellung in einer Welt des Wettkampfes und der Konkurrenz Vorteile und die so erreichten Erfolge bestätigen ihnen die Richtigkeit ihres Handelns. Als positiv konnotierte Enklave innerhalb der zynischen Gesellschaft macht Fetscher den Bereich der Familie aus und strebt im humanistischen Ganzen die »Aufgabe der Wiedervereinigung der Menschen mit den Menschen«591 an. Die Familie und das Konzept der Liebe sind hier Werte, die dem Zynismus der Zeit Einhalt gebieten sollen. Noch einige Jahre vor Sloterdijk und Fetscher, aber den Grundtenor teilend, setzte sich Klaus Heinrich mit dem zynischen Zeitgeist seiner Tage auseinander. In der 1966 veröffentlichten Anthologie Parmenides und Jona begreift auch Heinrich, wie später Sloterdijk, den Zynismus-Begriff als dreiseitig verwendbar. Als Erstes an seine ursprüngliche Version (Kynismus) anknüpfend als »existentialistischen Protest«592 einer Underdog-Kultur593, dann in einem verleugnendem Sinne, in dem »das Abschieben einer Erkenntnis um einer Selbstbehauptung willen«594 vollzogen und »Zynismus zu einem Synonym für Resignation angesichts einer erkannten Bedrohung«595 wird. Die dritte Position hält Heinrich nun für die charakteristische seiner Gegenwart. Sie geht davon aus, dass der moderne Zyniker sich sehenden Auges mit seiner Resignation verständigt und selbst noch den Ausblick auf Erlösung und Widerstand aufgibt. Es handelt sich hierbei um eine »Form der Selbstbehauptung, die den Anspruch auf Selbstverwirklichung preisgibt[…] [und] zu einer Form des Selbstverrats«596 wird. Der Zyniker in diesem Sinne bewegt sich »[j]enseits von Enttäuschung und Nichtenttäuschung«597, wird von keinem Sloterdijkschen Schmerz-Apriori mehr 589 590 591 592 593

594 595 596 597

Ebd. S. 336. Ebd. S. 338. Ebd. S. 345. Heinrich, Klaus: Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1966. S. 146. Das Wort Zynismus/Kynismus wird immer wieder hergeleitet vom griechischen Wort ›ky´o¯n‹, Hund. Mit der Begrifflichkeit ›Hund‹ übernahmen und neubewerteten die antiken Kyniker einen ursprünglichen Schimpfnamen, der ihnen von außen angetragen wurde. Eine andere Herleitung findet über ›Kynosarges‹ statt, einem der drei Gymnasien im antiken Athen. Heinrich, K.: Parmenides und Jona. S. 147. Ebd. S. 148. Ebd. S. 153. Ebd. S. 154.

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berührt, strebt auch nicht mehr nach Macht, Vorteil, Anerkennung oder heimlich nach Liebe, sondern verliert sich selig in den Angeboten der Zerstreuungsindustrie. Sloterdijk, Fetscher und Heinrich sehen, unterschiedlich in ihren Nuancierungen, doch verbunden in kritischer Stoßrichtung, Zynismus als maßgebliches Merkmal des vorherrschenden Zeitgeistes. Fetscher titelt in diesem Zusammenhang mit dem Wort ›Krankheit«, Heinrichs Untersuchungen des Zynismus umkreisen die Angst »vor einer allgemeinen Sinnlosigkeit.«598 Und auch wenn Sloterdijk sich im Bild des wilden Korsaren das Kleid der Moral abzustreifen gedenkt, so doch nur zugunsten des Zwischenschrittes der Analyse. Letztlich zielt auch sein Impetus, ausgehend von der Idee der Kritik, auf eine ethische Dimension der Bewertung ab. Die impliziten und expliziten Rück- und Vorgriffe auf moralische Bewertungen sind insofern folgerichtig, da mit der Frage nach zynischem Verhalten eine per se moralische Kategorie angeschnitten ist. Gleichsam wie Schamgrenzen und -gebote sind auch die abgesteckten Bereiche, die Handeln als entweder zynisch oder nicht-zynisch markieren, kulturell überformt und ergeben sich im Zusammenspiel von Normen, Erwartungshaltungen und Befugnissen. Dass die Verwandtschaft des Problemfelds ›Zynismus‹ mit dem Problemfeld ›Scham‹ sich nicht in einer rein strukturellen Analogie erschöpft, sondern dass sich diese beiden Felder auch im konkreten Spiel der Macht inhaltlich zu kreuzen vermögen, zeigt sich, wenn nun im weiteren Verlauf die ursprüngliche, kynische Dimension und die Figur des Diogenes fokussiert werden. Wie bereits angedeutet, macht Sloterdijk in seiner Kritik der zynischen Vernunft die Unterscheidung Zynismus/Kynismus als gegenläufige Bewegung im Ringen um Macht und Anerkennung auf. Die Strategien und Wirkungen der herrschenden zynischen Einstellungen und Handlungsweisen untersucht er in seinem ›phänomenologischen Hauptstück‹, sortiert nach unterschiedlichen Wissens- und Machtdiskursen (der Militärzynismus, der Sexualzynismus, der Medizinzynismus etc.). Zynismus kommt dabei seinem Wesen nach nur dann zu voller Entfaltung, wenn er wider besseren Wissens agiert. In diesem Zusammenhang kommt Kynismus nun die Rolle zu, einerseits Kritik und andererseits Steigbügel wahrhaft zynischen Verhaltens zu sein. Dazu Sloterdijk: Den Begriff Zynismus reservierten wir für die Replik der Herrschenden und der herrschenden Kultur auf die kynische Provokation; sie sehen durchaus, was Wahres daran ist, fahren aber mit der Unterdrückung fort. Sie wissen von nun an, was sie tun.599

598 Ebd. S. 143. 599 Sloterdijk, P.: Kritik der zynischen Vernunft. S. 400.

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Das Wechselspiel aus Zynismus und Kynismus versteht Sloterdijk als ein grundsätzliches: Der Begriff [Zynismus] erfährt hier eine Aufspaltung ins Gegensatzpaar : Kynismus – Zynismus, das sinngemäß korrespondiert mit Widerstand und Repression, genauer : Selbstverkörperung im Widerstand und Selbstspaltung in der Repression. Vom historischen Ausgangspunkt wird damit das Phänomen Kynismus abgelöst und zum Typus stilisiert, der historisch immer wieder auftaucht, wo in Krisenzivilisationen und Zivilisationskrisen die Bewußtseine aufeinanderstoßen. Kynismus und Zynismus sind demnach Konstanten unserer Geschichte, typische Formen eines polemischen Bewußtseins ›von unten‹ oder ›von oben‹.600

Um das Wesenhafte des ahistorischen kynischen Impetus zu verdeutlichen, greift Sloterdijk auf geschichtliches Anschauungsmaterial in seinem ›Kabinett der Zyniker‹ zurück, indem er, durchaus d’accord mit der Philosophiegeschichte, Diogenes von Sinope als erstes Musterexemplar der Gattung setzt. In der Beobachtung seiner beispielhaften Kyniker und Zyniker – seine Palette reicht von konkreten historischen Figuren wie eben Diogenes von Sinope über fiktive Gestalten (z. B. Goethes Mephistopheles) bis hin zum abstrakt-unbestimmten ›Man‹ – geht es ihm folglich nicht um »individualisierte[…] Persönlichkeiten, sondern [um] Typen, das heißt Zeit- und Sozialcharaktere.«601 Die historische Figur des Diogenes kommt ihm dabei insofern entgegen, da das Wissen über ihn (drittes Jahrhundert v. Chr.) hauptsächlich nur indirekt über Diogenes Laertius’ Leben und Meinungen berühmter Philosophen (drittes Jahrhundert n. Chr.) überliefert wurde.602 Als praktizierender Lebensphilosoph, dessen Lehrbeispiel sein eigenes öffentliches Leben war, formiert sich der Großteil des Wissens um Diogenes von Sinope in Form von Anekdoten. In Bezug auf diese Überlieferung in Anekdoten gilt es, wie es Heinrich Niehues-Pröbsting in seiner Studie zu Diogenes nahelegt, »soweit wie möglich von literarischen Intentionen auszugehen, weil die Suche nach der historischen Realität immer im Dunkel der Geschichte verläuft.«603 Dank diesem Zusammenfließen von kärglicher Überlieferungslage, literarischem Gestus und dem damit einhergehenden Verschwimmen von historischer Figur und mythischer Stilisierung bewegt sich Diogenes von Sinope auf der Schwelle zur Fiktion. Die ›literarisch-symbolische‹ 600 Ebd. S. 400 f. 601 Sloterdijk, P.: Kritik der zynischen Vernunft. Bd. 1. S. 294. 602 Zur Quellenlage, zu mehr oder weniger gesicherten historischen Gewissheiten und zur Überlieferungsgeschichte vgl. Luck, Georg: Die Weisheit der Hunde. Texte der antiken Kyniker in deutscher Übersetzung mit Erläuterungen. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1997. Reihe: Kröners Taschenausgabe, Bd. 484. S. 76 ff. 603 Niehues-Pröbsting, Heinrich: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus. München: Wilhelm Fink Verlag 1979. Reihe: Humanistische Bibliothek. Abhandlungen, Texte, Skripte. Hrsg. v. Ernesto Grassi. Reihe I: Abhandlungen, Bd. 40. S. 32.

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Figur des Diogenes dient Sloterdijk nun als eine vormoderne Kontrastfolie, da bei ihr Handeln und Denken noch eine Einheit bilden. »Diogenes, der seine Lehre verkörpert, ist noch eine archaische Gestalt; die ›Moderne‹ beginnt mit den Spaltungen, den Inkonsequenzen und Ironien.«604 Die Auseinandersetzung mit der ›antiken‹ Figur des Diogenes ist vor dem Panorama der unmittelbaren Gegenwart zu lesen, von Sloterdijk immer wieder durch Signalworte linker Analysekategorien ‚ la »[d]er vergesellschaftete Mensch«605 oder »ÜberbauVerweigerung«606 markiert. An der Diogenes-Figur und seinem kynischen Lebensstil sind mehrere Charakteristika zu unterscheiden. Zum einen wäre da das Verhältnis von Besitz und Freiheit, zum anderen die Verbindung von Naturphilosophie und Gesellschaftskritik. Als »Urhippie und Proto-Bohemien«607 verkörpert er das genaue Gegenteil einer kapitalistischen Basisidentität, die vor dem Hintergrund notwendigen Gelderwerbs Freiheit als Freiheit zum Konsum begreift. Zur Grundlage seiner Glaubwürdigkeit gehört, »daß der Kyniker besitzlos sein muß – unfreiwillig meist von Haus aus, freiwillig dann obendrein, wodurch sein souveräner Eindruck entsteht.«608 Entgegen dem Weg der Bedürfnisbefriedigung sucht der antike Kyniker Freiheit in der Bedürfnislosigkeit. Der zentrale Begriff des kynischen Ideals ist der der Freiheit; die Ungebundenheit gegenüber materiellem Besitz ist gelebter Ausdruck eines fundamentaleren Strebens nach Ungebundenheit von Bedürfnissen. Dabei geht es nicht um eine masochistisch eingefärbte Askese und Leibfeindlichkeit, sondern darum, sich auch angesichts von Versagungen und Verlusten allzeit souverän und frei zu wissen, kurzum: zu verlieren, als würde man bereitwillig weggeben.609 Dazu Sloterdijk in seiner Auslegung: Eine Armutsdogmatik kommt nicht in Betracht, wohl aber das Abwerfen von falschen Gewichten, die einem die Beweglichkeit rauben. Selbstquälerei ist für Diogenes bestimmt eine Dummheit, noch dümmer freilich sind unter seinem Blick diejenigen, die 604 605 606 607 608 609

Sloterdijk, P.: Kritik der zynischen Vernunft. S. 319. Ebd. S. 304. Ebd. S. 312. Ebd. S. 300 f. Ebd. S. 297 f. Dieser Aspekt der Besitz- und Bedürfnislosigkeit findet sich auch wiederholt in der Diogenes Laertios-Quelle: Eine der dort gesammelten Anekdoten benennt als Vorbild für Diogenes in Sachen Besitzlosigkeit eine »hin- und herlaufende Maus, die weder eine Ruhestätte suchte noch die Dunkelheit mied, noch irgend welches Verlangen zeigte nach sogenannten Leckerbissen.« (Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Hamburg: Felix Meiner Verlag1990. Reihe: Philosophische Bibliothek, Bd. 53/54. S. 305) In Bezug auf die Bedürfnislosigkeit wird dort auch Diogenes der Ausspruch in den Mund gelegt, »[d]ie Sklaven[…] dienen ihren Herren, und die Nichtsnutze ihren Begierden.« (ebd. S. 328) Hier ist bereits abzulesen, wie die naturphilosophische Komponente (im Bild der Maus) gegen das Streben nach Genüssen ausgespielt werden wird, nämlich in Form von Souverän und Sklave.

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lebenslang hinter etwas herrennen, was er ohnehin besitzt; der Bürger kämpft mit den Schimären des Ehrgeizes und strebt nach Reichtum, mit dem er schließlich auch nicht mehr anfangen kann als das, was in den elementaren Genüssen des kynischen Philosophen eine täglich wiederkehrende Selbstverständlichkeit ist: in der Sonne liegen, dem Weltbetrieb zusehen, seinen Körper pflegen, sich freuen und auf nichts zu warten haben.610

Diogenes, als gelassener Verweigerer und genügsamer Augenblicksmensch, ist das Gegenteil des ›vergesellschafteten Menschen‹, »der seine Freiheit verloren hat, seit es seinen Erziehern gelungen ist, Wünsche, Projekte und Ambitionen in ihn einzupflanzen.«611 Die Genügsamkeit des Kynikers in Bezug auf Luxus, Gelderwerb und Konsum ist sich allerdings nicht Selbstzweck, sondern Ausdruck prinzipieller Überzeugungen. Als Naturphilosoph steht er den kulturellen Mechanismen und zivilisatorischen Entwicklungen kritisch gegenüber, er predigt und lebt seiner domestizierten Umwelt zum Trotz eine natürliche Vorherrschaft der Triebe. In der Betonung der spontanen Befriedigung körperlicher Bedürfnisse – von der einfachen Nahrungsaufnahme über die öffentliche Onanie bis zur plakativen Darmentleerung – steckt dabei, und hier liegt nun der kynische Trick, eine gesellschaftskritische Komponente. Indem er nicht nur das Besitzstreben seiner Mitmenschen höhnisch verlacht, sondern auch vor den Augen der Öffentlichkeit die eigentlich heimlichen Momente ausbreitet, greift er die Schamnormierungen seiner Mitmenschen an. Auf diesen Aspekt der politischen Wende im naturphilosophischen Ausgangspunkt der Triebwertschätzungen zielt auch Sloterdijk in seiner Diogenes-Untersuchung ab: Die Schamlosigkeit des Diogenes versteht sich nicht auf den ersten Blick. Scheint es sich einerseits naturphilosophisch zu erklären – naturalia non sunt turpia –, so liegt ihre Pointe in Wirklichkeit auf dem politischen, gesellschaftstheoretischen Gebiet. Scham ist die intimste soziale Fessel, die uns, vor allen konkreten Gewissensregeln, an die allgemeinen Verhaltenstandards bindet. Der Existenzphilosoph jedoch kann sich mit den vorgegebenen sozialen Schamdressuren nicht zufriedengeben. Er rollt den Prozeß noch einmal von Anfang an auf; wofür der Mensch sich wirklich zu schämen habe, das ist keineswegs durch die gesellschaftlichen Konventionen ausgemacht, zumal die Gesellschaft selbst verdächtig ist, auf Perversionen und Unvernünftigkeiten zu beruhen. Der Kyniker kündigt also die landläufige Gängelung durch die tief eingefleischten Schamgebote. Die Sitten, Schamkonventionen inbegriffen, können ja verkehrt sein; erst die Überprüfung vor dem Prinzip der Natur und dem der Vernunft kann eine sichere Grundlage schaffen.612

In diesem Sinne sind Diogenes Veranstaltungen auf dem Marktplatz nicht einfache Triebbefriedigungen eines animalischen Gemüts, sondern reflexive und 610 Sloterdijk, P.: Kritik der zynischen Vernunft. Bd. 1. S. 301. 611 Ebd. S. 304. 612 Ebd. S. 316 f.

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durchaus stimmige Folgeerscheinungen eines kritischen Geistes. Im direkten Anschluss heißt es bei Sloterdijk weiter : Das politische Tier durchbricht die Politik der Schamhaftigkeit. Es zeigt, daß die Menschen sich in der Regel für die falschen Dinge schämen, für ihre physis, für ihre animalischen Seiten, die in Wahrheit doch unschuldig sind, während sie ungerührt bleiben bei ihrer unvernünftigen und häßlichen Lebenspraxis, ihrer Gewinnsucht, Ungerechtigkeit, Grausamkeit, Eitelkeit, Voreingenommenheit und Verblendung.613

Der Kyniker mit seinen öffentlichen Schamdurchbrechungen lebt, was Marcuse in der linguistischen Therapie für die Sprache beansprucht: eine kritische Hinterfragung der gegebenen Normen und Wertvorstellung sowie eine Neujustierung des moralischen Empfindens. »Als Moralist tritt Diogenes in der Rolle des Gesellschaftsarztes auf«614, der bei sich anfängt, die möglicherweise falschen Schamdressuren aufzulösen und kritisch zu prüfen, um dann als gelebtes Beispiel und Prediger auf die Dressuren Anderer emanzipierend einzuwirken. Seine öffentlichen Darbietungen eigentlich sanktionierter und streng reglementierter Verhaltensweisen sind Proteste gegen eine zynische Gesellschaft, die in ihren Heucheleien und in ihrer Doppelmoral eine obszöne ist. Im Motiv des Widerstands als Selbstbehauptung und in der demonstrativen Betonung ›natürlicher‹ Vorgänge überschneiden sich dabei oppositioneller Kynismus und repressiver Zynismus strukturell. So Sloterdijk an späterer Stelle: Von unserem Ausgangspunkt haben wir uns inzwischen schon so weit entfernt, daß es scheinen kann, als bestünde überhaupt keine Verbindung mehr zwischen Diogenes, dem Protokyniker, und dem Großinquisitor, dem modernen Zyniker. Nur durch eine unerklärliche Laune der Begriffsgeschichte, so scheint es, verweist der moderne Zynismus auf eine antike Philosophenschule zurück. Doch in dieser scheinbaren Laune läßt sich ein Stück Methode sichtbar machen, ein Bindeglied, das die ungleichen Phänomene über Jahrtausende hinweg verknüpft. Dieses Bindeglied besteht, wie wir glauben, in zwei formalen Gemeinsamkeiten zwischen Kynismus und Zynismus: das erste ist das Motiv der Selbsterhaltung in krisenhaften Zeiten, das zweite eine Art von schamlosem, ›schmutzigem‹ Realismus, der ohne Rücksicht auf konventionelle moralische Hemmungen sich zu dem bekennt, was ›der Fall ist‹.615

Was Zynismus und Kynismus letztlich wesentlich unterscheidet, ist die Frage nach der Zweckgebundenheit ihrer zynischen/kynischen Methoden. Während Diogenes als Philosoph belehrend und emanzipatorisch verstanden werden will, der seine Grobschlächtigkeiten und Ausfälle gegen den ›guten Geschmack‹ ganz in den Dienst seiner pädagogischen Absichten stellt, hat der moderne Zyniker »nichts anderes im Sinn, als sich zynisch – im Sinne von offen rücksichtslos – um 613 Ebd. S. 317. 614 Ebd. S. 307. 615 Ebd. S. 364 f.

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Glücksgüter zu schlagen, auf welche Diogenes gepfiffen hätte. Und daß ihnen hierbei buchstäblich jedes Mittel recht ist«, so Sloterdijk im Hinblick auf die menschengemachte Katastrophengeschichte der Moderne weiter, »bis hin zum Völkermord, zur Ausplünderung der Erde, zur Verwüstung von Land und Meer, zur Abschlachtung der Fauna – das zeigt, daß sie sich im Hinblick auf das Instrumentelle tatsächlich ins Jenseits von Gut und Böse begeben haben.«616 Gegen die moderne Adaption kynischer Amoralität unter dem Banner von Selbstsucht und brutalem Gewinnstreben stellt Sloterdijk nun eine »Rückkehr zum Kynismus der Zwecke«617, d. h.: Abschied vom Geist der Fernziele, Einsicht in die ursprüngliche Zwecklosigkeit des Lebens, Eingrenzung des Machtwunsches und der Wunschmacht – mit einem Wort: das Erbe des Diogenes begreifen. Das ist keine Mülltonnenromantik und keine Schwärmerei vom ›einfachen Leben‹. Der Kern des Kynismus besteht in einer kritischen, ironischen Philosophie der sogenannten Bedürfnisse, in der Durchleuchtung von deren grundsätzlicher Maßlosigkeit und Absurdität.618

Sloterdijks Vorschlag zu einer ethischen Wende läuft hier auf einen Aufruf zur Befreiung durch kynische Bedürfnislosigkeit heraus. Dabei geht es weniger darum, sich die Verwirklichung spontaner oder kurzfristiger Befriedigungen zu versagen, als vielmehr um eine Emanzipation von in die Zukunft geworfenen Ziel- und Wunschvorstellungen. Hier schließt sich der Kreis zu Sloterdijks eingangs gestellter Aufforderung zur unmoralischen Absage an die Kategorie des Glücks und des notorischen Besserungswunsches: In dem Augenblick, in dem unser Bewußtsein reif wird, die Idee des Guten als eines Zieles fallenzulassen und sich dem, was schon da ist, hinzugeben, wird eine Entspannung möglich, in der das Auftürmen von Mitteln zugunsten imaginärer, immerferner Ziele sich von selbst erübrigt. Nur vom Kynismus her läßt sich der Zynismus eindämmen, nicht von der Moral aus. Nur ein heiterer Kynismus der Zwecke ist nie in Versuchung zu vergessen, daß das Leben nichts zu verlieren hat außer sich selbst.619

Gerade in der eingeforderten Amoralität und in dem Verzicht auf auch noch so gut gemeinte Zielsetzungen entfaltet sich ein ethischer Impuls. Ausgehend von einer berechtigten Kritik der Gegenwart wird diese moralisch neu aufgeladen, da sie als einzig relevante Zeit – und nicht mehr als bloßer Weg hin zu einer immer fernen Zukunft – neu gewichtet wird. Die kynische Zielsetzungsverdrossenheit, in Kombination mit dem Pochen auf ein ›naturgemäßes‹, also ›richtiges‹ Leben (und den damit verbundenen gesellschaftspolitischen Ableitungen), unterwirft die andauernde Gegenwart einer permanenten kritischen Betrachtung. Die 616 617 618 619

Ebd. S. 365 f. Ebd. S. 366. Ebd. Ebd. 367.

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Nachhaltigkeit dieser Einstellung – und damit indirekt doch wieder eine zukunftsbezogene ethische Dimension – liegt in einer Entverselbstständlichung kultureller Normen und Verhaltensmuster. Dabei gilt es, die ›falschen‹ Schammomente der Gesellschaft mit den ›richtigen‹ Schamvorstellungen und -quellen des Philosophen in Einklang zu bringen. In diesem Sinne heißt es aphoristisch in einer der überlieferten Anekdoten zu Diogenes von Sinope: Als er einen unvernünftigen Menschen ein Saiteninstrument stimmen sah, sagte er : ›Schämst du dich nicht, die Töne mit dem Holze in Einklang zu bringen, dagegen deine Seele mit dem Leben in Mißklang zu lassen?‹620

Was den kynischen Trick der Enttabuisierung und Beschämung durch mutwilliges, vermeintlich obszönes Verhalten im Kern ausmacht, ist eine Bewusstseinschärfung für die sonst oftmals unterschwellig wirkenden Verhaltensnormierungen. Um die Wirkungsweisen seiner öffentlichen Taten in die entsprechenden Bahnen zu lenken, begleitet Diogenes seine Auftritte mit erklärenden und belehrenden Worten, changierend zwischen spöttischem Witz und wüster Beschimpfung. So zu lesen in einer weiteren Anekdote: Als sich einst zu seiner ernsten Rede niemand einstellen wollte, begann er wie ein Vogel zu trillern; als sich daraufhin eine Masse Volkes um ihn zusammendrängte, schalt er sie, daß sie sich solchem Getändele mit vollem Eifer und Ernst zuwendeten, während sie für ernste Dinge keine Zeit und keinen Antrieb hätten.621

Der Humor und die Beschimpfung ebenso wie die Durchbrechung allgemein vorherrschender Schamnormierungen stehen stets im Dienste des kynischen Sendungsbewusstseins. »Sie[, die Kyniker,] wollten schockieren und provozieren, damit man sie beachtete, ihnen Gehör schenkte, sie letztlich, trotz der Verkleidung als Hanswurst oder Eulenspiegel, ernst nahm.«622 Die Überspitzungen im eigenen Leben und Handeln dienen dabei den Mitmenschen als überzogene Verweisungslinien. »Er ahme, sagte er«, wie es in einer weiteren Anekdote über Diogenes heißt, »die Chormeister nach; denn auch diese gingen im Tonangeben ein wenig über das eigentliche Maß hinaus, damit die übrigen den richtigen Ton träfen.«623 An dieser Stelle sei kurz auf die Möglichkeit eingegangen, dass kynische Potenzial von der Figur des Kynikers als willentlichen Lehrer abzukoppeln: Der entscheidende Moment des Wirkens jeder Lehre ist der Augenblick der Erkenntnis auf der Seite des angesprochenen Schülers. Wie bei jedem Akt der Erkenntnis ist der Lehrer möglicher Mittler, aber nicht notwendiger Grund der 620 621 622 623

Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. S. 327. Ebd. S. 308. Luck, G.: Die Weisheit der Hunde. S. 4. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. S. 311.

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eigentlichen Erhellung. So ist es also auch im kynischen Projekt möglich, das entscheidende Moment vom vorführenden Philosophen hinüber zum anschauenden Rezipienten zu verlagern. Unter der Voraussetzung eines wachen und kritikfähigen Bewusstseins kann sich die Lehre von der Lehrergestalt lösen und zum gänzlichen Ereignis einer Rezeptionshaltung werden. So wie beispielsweise im Bereich des Ästhetischen Camp eine Rezeptionsweise ist, die durch vorgefundenes Material mehr oder weniger stark ›angereizt‹ wird, so könnte der kynische Trick im Bereich des Ethischen zum Tragen kommen.624 Unabhängig von der Intention des Verursachers ist jeder wahrgenommene Verstoß gegen das unterschwellig agierende Ordnungsgefüge ein potentialer Ansatzpunkt genötigter Reflexion. Verstöße gegen sittliche Normen, gutes Benehmen und statthaftes Verhalten brechen – ungeachtet ob bewusst oder unbewusst herbeigeführt, ob mit höherer moralischer Weihe versehen oder aus rotziger Rüpelhaftigkeit heraus – eine Schneise hinein in selbstverständlich gewordene Lebensweisen und zwingen zur Reaktion. Wenn es hier gelingt, ersten Impulsen des Wegschauens, des reflexartig-unbedachten Verurteilens und der Schnappatmung moralischer Empörung zu widerstehen, dann wird jeder beobachtete Verstoß gegen den Commonsense zur Nagelprobe der bestehenden Regeln und der eigenen Positionierungen. Losgelöst von der Figur des mahnenden Kynikers ist jede Beobachtung eines Normbruchs ein Ereignis, das eine ethische Positionierung einfordert. Der Kyniker nach dem Vorbild des Diogenes und im Sinne Sloterdijks nutzt den Unterbrechungscharakter außerordentlicher Momente willentlich aus und verstärkt sie durch zugleich mitgelieferte Reflexionen in Form von Aussprüchen, Belehrungen und/oder scherzhaft bis aggressiv vorgetragen Verbalinjurien. 624 Camp im Sinne Susan Sontags ist eine ›Erlebnisweise‹. In ihrem Essay Anmerkungen zu ›Camp‹ aus dem Jahre 1964 führt Sontag auf, wie Camp als Rezeptionsweise ganz im ästhetischen Urteil aufgeht. Dinge unter diesem Gesichtspunkt zu verstehen heißt, nicht, eine Willkürherrschaft des Rezipienten und Interpreten über die Dinge der Welt zu errichten. Vielmehr geht es darum, die Gegenstände aus ihren ursprünglichen Kontexten herauszulösen und sie neu bzw. anders zu bewerten. Der Rezipient ist nicht allmächtig, weil er auf bestimmte ›Camp‹-Aspekte in den vorgefundenen Dingen angewiesen ist, die Sontag in ihrem Essay aufführt. Die Analogie von Camp und kynischem Trick als Umbewertung von dem, was von einem ›seriösen‹ Standpunkt aus von ›minderwertiger‹ (ästhetischer oder moralischer) Qualität ist, ist inhaltlich sicherlich nicht sonderlich belastbar, auch wenn Sontag Camp und Zynismus durchaus in ein nachbarschaftliches Verhältnis setzt: »Wenn es [, Camp,] wirklich Zynismus ist, dann kein grausamer, sondern ein freundlicher.« (Sontag, Susan: Anmerkungen zu Camp. In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. München, Wien: Carl Hanser Verlag 1980. S. 269 – 284. S. 284) Doch in Bezug auf strukturelle Möglichkeiten und Grenzen lassen sich Ansatzpunkte von Camp auf Kynismus übertragen. So wie Camp im Ästhetischen dem gemeinhin im Namen des hohen Geschmacks Verfehlten etwas Positives abgewinnen kann, so wohnt im ethischen Bereich dem Kynismus das Potential inne, die Hegemonialmacht des Normativ-Sittlichen zugunsten einer Entverselbstständlichung bestehender Wertungen und Urteile aufzubrechen.

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Unerlässlich sind sie, wo Unmündigkeit und mangelnde Reflexionsbereitschaft vorherrschende Geisteshaltungen sind. Unter der Prämisse allerdings, dass die Lehren und Ideale von 200 Jahren Aufklärung nicht gänzlich folgenlos geblieben sind, besteht die Möglichkeit und Hoffnung, dass auch ohne die schillernde und archaische Figur des Protokynikers mündige Subjekte befähigt sind, ihre Lektionen zu lernen. Überspitzt gesprochen wohnt jedem Moment das Potential inne, kritischer Ausgangspunkt moralischer Grundlagenforschung zu sein. Das Außergewöhnliche bietet dabei lediglich einen ungemein stärkeren Reiz, oftmals gewürzt mit dem Geschmack der Schamlosigkeit und der moralischen Verruchtheit. Manifestationen dieser ›Entgleisungen‹ reichen dabei von den Niederungen des Alltages bis hinein ins Reich der Kunst und Literatur. Auch Schamerfahrungen und Beschämungsmomente können so Ausgangspunkte reflexiver Kritik und moralischer Emanzipation sein. Dies gelingt umso leichter, je mehr auf Seiten des Rezipienten und potentiellen Schamopfers kynische Gelassenheit und ein Misstrauen gegenüber herrschenden Meinungen Hand in Hand gehen.

4.5

Exkurs II: ›Utopia Liebe‹

Eine der vielen Schnittstellen, die eine gesellschaftliche Ordnung in der Kreuzung von historisch gewachsener Normvorstellung und emotionalen Selbst- und Weltempfinden inszeniert, ist der Topos ›Liebe‹. Lieben, als »das freudige Erleben einer Beziehung«625, ist immer historisch verknüpft mit bestimmten Vorstellungen davon, was jeweils unter einer gesellschaftlich legitimen Beziehung zu verstehen ist. Darüber hinaus ist dies ›freudige Erleben‹ eingebunden in soziale Funktionszusammenhänge. ›Liebe‹ in der Moderne bekommt dabei eine archaische, vormoderne Note zugeschrieben, die in der Regel positiv konnotiert ist. Dabei wird Liebe, wie dieser Exkurs kritisch zeigen wird, oftmals in einem Spannungsverhältnis zu der sozialen Emotion der Scham gesetzt und als ›utopischer Gegenort‹ jenseits von Scham, Beschämung und Interessenskalkül stilisiert. Ausgangslage dieser Stilisierung ist eine zumeist als krisenhaft empfundene ›moderne‹ Subjektbefindlichkeit. Während auf der einen Seite das selbstbewusste vielgesichtige (post-)moderne Subjekt den Versuch darstellt, in einem beherzten Schritt nach vorne die gängigen Verunsicherungen – Fragmentierung, Wandelbarkeit, Verlust absoluter Wahrheiten – für die eigene Identitätsbildung zu nutzen, artikuliert sich auf der anderen Seite eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach Einheit und Aufhebung der Differenzen. Der 625 Fellsches, Josef: Liebe. In: Enzyklopädie Philosophie. Hrsg. v. Hans Jörg Sandkühler. Bd. 1, A-N. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1999. S. 784 – 788. S. 785.

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Weg führt hier nicht hinaus in die Welt von Masken, Rollen und Inszenierungen, sondern vielmehr zurück und hinein ins sprichwörtliche Herz der Intimität, der Liebe. Immer wieder finden sich in den Untersuchungen zu Schamgefühlen explizit aufgeworfene Verweisungslinien zur Emotion der Liebe. Liebe, die die »Intimität als Grundbedürfnis des Menschen«626 befriedigt, wird dabei zum Gegenstück der außenorientierten Scham. Je nach Verständnis sind Scham und Liebe entweder antithetisch aufeinander bezogen, oder Schamgefühle werden kurzerhand in den Dienst der Liebe gestellt. Neuere Untersuchungen fokussieren vor allem das antithetische Verhältnis von Liebe und Scham. Liebe wird hier zum ganz Anderen der Scham, ein idealisiertes Utopia der Harmonie und Zustimmung. So etwa bei Diebitz, wenn es heißt: Auch die Intimität der Liebe kennt keine Scham, denn in der Liebe fühlen wir uns vorbehaltlos angenommen und mit allen unseren Mängeln und Fehlern und trotz ihrer akzeptiert, so daß ein Gefühl der Minderwertigkeit ebensowenig aufkommen kann wie die Angst, nicht als Person wahrgenommen zu werden.627

In Anlehnung an Max Scheler, von dem weiter unten noch zu sprechen sein wird, fährt Diebitz fort: Es mag auch, worauf Schelers Schamtheorie abzielt, mit dem Rauschcharakter der Liebe zu tun haben, daß wir in ihr jede Scham vergessen; oder es ist eine Situation außerhalb jeder gesellschaftlichen Rangordnung und abseits jeden öffentlichen Raumes, was in diesem Fall nicht nur den Ort meint, sondern auch das Verhältnis der beteiligten Personen zueinander.628

Ist die Scham genuin sozial, so scheint die Liebe in ihrer gängigen Zeichnung gleichsam sozial wie asozial.629 Zum einen fokussiert sich der Liebende vollends auf den Anderen und unterwirft sich dessen Urteil. »Liebe sei«, so Günter Dux, »von der schieren Existenz des anderen überwältigt zu werden.«630 Liebe wird so 626 Dux, Günter : Liebe. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. v. Christoph Wulf. Weinheim, Basel: Beltz Verlag 1997. S. 847 – 854. S. 849. 627 Diebitz, S.: Seelenkleid. S. 87. 628 Ebd. 629 Die Unterscheidung zwischen unsozial und asozial kann hier analog zu Bolognes Unterscheidung zwischen unmoralisch und amoralisch gezogen werden. Für Bologne ist derjenige unmoralisch und ›schamlos‹, der die gegebenen moralischen Regeln kennt und gegen sie verstößt. Derjenige allerdings, der die Regeln nicht kennt, ist amoralisch und ›schamfrei‹. (vgl. Bologne, J.-C.: Nacktheit und Prüderie. S. 9 f.) 630 Dux, Günter : Macht als Wesen und Widersacher der Liebe. In: Macht – Geschlechter – Differenz. Beiträge zur Archäologie der Macht im Verhältnis der Geschlechter. Hrsg. v. Wolfgang Müller-Funk. Wien: Picus Verlag 1994. S. 43 – 62. S. 51. Gerade die Stärke der Abhängigkeit scheint dabei oftmals nicht nur als Gradmesser für die Stärke der Liebe genommen zu werden, sondern fungiert als Zeichen für das Lieben selbst, wobei die Annahme der Abhängigkeit eine Bejahende ist. Dazu Roland Barthes in Fragmente einer Sprache der Liebe: »Wenn ich meine Abhängigkeit auf mich nehme, so deshalb, weil sie für

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verstanden zum ultimativen Band, das den Liebenden in die Sphären vormals Fremder treibt, wobei der Liebende, so Dux weiter, »eine Verfassung des Daseins [entdeckt], die mit der seinigen korrespondiert und sie bestätigt.«631 Dermaßen gewendet stiftet Liebe Sozialität gleichsam wie Sinn und Anerkennung. Zum anderen stilisiert sich dies Bild der Liebe zum Inbegriff des Asozialen und ist geradezu vormodern. Sich in ein Beziehungsverhältnis ›abseits jeden öffentlichen Raumes‹ zu werfen und der ›Rauschcharakter‹ der Liebe, wie es bei Diebitz heißt, suggerieren einen eng gestrickten sozialen Raum, gruppiert lediglich um Liebessubjekt, Liebesobjekt und unmittelbare Umstände. Hier verbirgt sich ein Bild von der Liebe, das ihr eine mystisch-archaische Subjektbildungsmacht zuschreibt. In der gängigen populären Ansicht der Liebe ist der Liebende als ein archaisches Subjekt gezeichnet, das von den Zersplitterungen des Ichs, den Entfremdungen und von den kühlen, anämischen Strategien einer ökonomischen Vernunft seltsam unbeleckt erscheint. Das sonst in seine Rollen fragmentierte Ich sammelt sich vor dem Horizont des Anderen. In dieser Vorstellung von der Liebe ist das Individuum eins, vielleicht nicht mit dem Anderen, so doch aber mit sich selbst, da all das Wünschen, Sprechen, Handeln und Begehren sich auf den Anderen hin bündelt. Arbeitswelt, soziale Zugehörigkeiten und familiäre Widerstände werden in diesem Narrativ der Liebe außer Kraft gesetzt bzw. lediglich als Gegenkräfte eingesetzt, die in ihrer Überwindung eine noch herzlichere Hochzeit zum Ende hin garantieren – bzw. in der Nichtüberwindung eine noch tränenrührigere Katastrophe. Sowohl in ihrer sozialen Ausrichtung wie auch in ihrer asozialen Ausrichtung bleibt in dieser Vorstellung die Liebe aber das Gegenstück der Scham. Sie lässt nicht nur die Fehler und Verfehlungen nicht als Makel und Mängel erscheinen, die aufgelöst im homogenen Gesamtkonzept der Person vorbehaltlos angenommen werden, sondern stiftet auch einen Raum der Intimität, der auf die sonstigen Schutzmechanismen und Abwehrhaltungen verzichten kann. In Bezug auf das Hierarchie- und Funktionsverhältnis von Liebe und Scham pointiert Wolfgang Hantel-Quitmann aus der Ecke der Familien- und Paarpsychologie heraus: Nur die Liebe kann die Grenzen der Intimität überschreiten, ohne sogleich Scham hervorzurufen. Denn die Scham ist die Wächterin der Intimität. In der Liebe wird der Partner eingeladen, in das Allerheiligste, den ganz privaten Raum einer Person einzutreten.632 mich ein Mittel darstellt, mein Verlangen zu bezeichnen: auf dem Felde der Liebe ist die Belanglosigkeit keine ›Schwäche‹ oder ›Lächerlichkeit‹: sie ist ein starkes Zeichen: je belangloser, um so mehr bedeutet sie, bestätigt sie sich als Kraft.« (Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1984. Reihe: suhrkamp taschenbuch 1586. S. 25) 631 Dux, G.: Macht als Wesen und Widersacher der Liebe. S. 51. 632 Hantel-Quitmann, Wolfgang: Schamlos!. Was wir verlieren, wenn alles erlaubt ist. Freiburg: Herder 2009. S. 83 f.

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Privatheit, Intimität und Nacktheit stehen dabei in einem engen Verhältnis zueinander. Auch der sonst so reglementierte Blick auf den menschlichen Körper erfährt im Moment libidinöser Offenlegungen eine andere Färbung. Dazu Claudia Benthien in einer bemerkenswerten Reihung: Zusätzlich – und das wird meistens übersehen – sind jene Blicke tabuiert, die den Körper des anderen als einen im ursprünglichen Sinn nackten wahrnehmen, d. h. als fragilen, alternden, ›fleischlichen‹, aber lebendigen Leib. Der unverhüllte Anblick der Körperhaut ist nur bei kleinen Kindern, Toten oder Kranken legitim; in anderen Fällen (mit Ausnahme der Liebe!) ist das Erschauen der entblößten Haut ein voyeuristisches, ein Sehen ohne Zurückblicken des Nackten. Die hüllenlose Haut ist nicht nur erotisierte Fläche, sie ist auch schutzloses So-Sein. Nur die Liebe ist in der Lage, diese Verwundbarkeit und Hüllenlosigkeit zuzulassen.633

Gleich wie bei Kindern, Kranken und Toten wird dem nackten Körper des Menschen unter dem Blick der Liebe – der für Till Bastian geradezu magischer Natur ist634 – eine außerordentliche Rolle zugewiesen; die sonst vorherrschenden Regeln der Blickregulierung lösen sich wohlwollend in intimer Annahme und Hingabe auf. Auch hier, in Bezug auf die Nacktheit, spielen wieder Liebe und Scham zusammen. So schreibt Böhme im Hinblick auf den »Liebesverrat […] Gottes«635 an dem sich ihm anvertrauenden Kain von einer ›lieblosen‹ Nacktheit im Sinne einer Bloßstellung, die »die Hölle auf Erden«636 ist. Demgegenüber steht »jene Nacktheit, die sich der Liebe anvertraut«637, in der die verlorene paradiesische Unschuld anklingt. Ebenfalls in Anlehnung an das erste Buch Moses, doch eine Generation vor Kain und Abel auf den Sündenfall der ersten Menschen zurückgehend, thematsiert auch Erich Fromm den Ausschlusscharakter von Liebe und Scham. In seinem Werk Die Kunst des Liebens, erstveröffentlicht 1956, in dem der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe versucht, gegen den gesellschaftlichen Niedergang der Liebe anzuschreiben, heißt es: »Das Bewusstsein der menschlichen Getrenntheit ohne die Wiedervereinigung durch die Liebe ist die Quelle der Scham. Und es ist gleichzeitig die Quelle von Schuldgefühl und Angst.«638 633 Benthien, Claudia: Im Leibe wohnen. Literarische Imagologie und historische Anthropologie der Haut. Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz 1998. Reihe: Körper, Zeichen Kultur; Bd. 4. S. 119. 634 »Denn wer diesen Zauber des Blickes nicht kennt, ist wohl noch nie verliebt gewesen – die Liebe aber ist eine der wesentlichen Realitäten des Lebens, auch wenn sie sich, zum Glück, weder in Nanogramm noch in etwelchen anderen Einheiten messen läßt.« (Bastian, T.: Der Blick, die Scham, das Gefühl. S. 26) 635 Böhme, H.: Enthüllen und Verhüllen des Körpers in Bibel, Mythos und Kunst (mit besonderer Rücksicht auf Albrecht Dürers ›Selbstbildnis als Akt‹). S. 8. 636 Ebd. 637 Ebd. 638 Fromm, Erich: Die Kunst des Liebens. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Rainer Funk.

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Besondere Aufmerksamkeit muss hier der Arbeit L¦on Wurmsers gewidmet werden; nach fast fünfhundert Seiten psychoanalytischer Untersuchung benennt Wurmser in seinem knapp dreiseitigen Epilog mit dem Titel ›Der Heilende‹ die fünf Eckpunkte der »Liebe in ihrer höchsten Vollendung«639 und bekennt pastoral: Ich betrachte es als das wahre Vermächtnis und die wahre Zueignung dieser Untersuchung über die Scham, daß diesem Ideal der Liebe das Wort gesprochen wird. Sie ist in vieler Hinsicht diese wahre ›Transzendenz‹, nach der so viele Philosophen gesucht haben – ›Eros, der große Heilende‹ aus dem Symposion. In ihm werden sowohl die Vereinigung als auch die Getrenntheit erfüllt und in einer höheren Aussöhnung überwunden.640

Als die fünf Eckpunkte dieser höchsten Liebe weist Wurmser folgende aus: wissende Bewunderung, uneingeschränktes Vertrauen, kalkülloses Geben und Nehmen, Schutz und Förderung des Anderen, körperliche Vereinigung als gelebte Erfüllung. Diese Form der körperlichen Vereinigung in der Liebe ist zugleich der »Sieg über Scham, Schuld und Ekel«641, diesen drei grundlegenden Leitplanken des Libidotriebes. Das Gefühl der Scham identifiziert Wurmser dabei als die »Nachtseite der Liebe«642, als quasi Affekt und Gefühl gewordener Antichrist, der zwischen dem Menschen und der ›wahren Transzendenz‹ steht und zur Überwindung lädt. In Anlehnung an Hegel heißt es hier : Scham jedoch [ist] sowohl der Schatten als auch die Antithese der Liebe. Echtes Hinausgehen über die Scham – ihre Transzendenz – geschieht durch Liebe, wie Hegel zu verstehen gibt, und diese ist in ihrer höchsten Form wahrhaft heroisch: sie strebt nach Vollkommenheit und ist doch in den meisten Fällen a priori zum Scheitern und zu Gram verurteilt.643

Wurmsers Vorstellungen zum Verhältnis von Liebe und Scham stützen sich auf die psychoanalytische These, dass Scham ursprünglich auf eine traumatische Zurückweisung rekurriert, die das schmerzliche Gefühl auslöste, ungeliebt und liebensunwert zu sein.644 Dies verweist auf einen weiteren Koppelungsansatz von Scham und Liebe. In dieser eher frühmodernen Denkrichtung sind Liebe und Scham vor allem hierarchisch aufeinander bezogen. Die Scham wird hierbei in den Dienst der Liebe gestellt und fungiert in ihrem hemmenden Charakter als ›Reifungshürde‹ hin zur höherwertigen Liebe. So sieht eben der von Wurmser als

639 640 641 642 643 644

Bd. 9, Sozialistischer Humanismus und Humanistische Ethik. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1981. S. 439 – 518. S. 445. Wurmser, L.: Die Maske der Scham. S. 485. Ebd. S. 486. Ebd. Ebd. S. 487. Ebd. S. 485. Vgl. ebd. S. 164.

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Advokat herbeigeredete Hegel in der Scham eine Art natürliche Reifungshürde hin zur sittlichen Liebe. In seiner 1820 erschienen Schrift Grundlinien der Philosophie des Rechts spricht Hegel im Zusammenhang mit der Institution der Ehe von dem »Sittliche[n] der Liebe«645 und der damit einhergehenden »höhere [n] Hemmung und Zurücksetzung des bloßen Naturtriebs, welche schon auf natürliche Weise in der Scham enthalten ist und durch das bestimmtere geistige Bewußtsein zur Keuschheit und Zucht erhoben ist.«646 Scham wird hier zu einem grundlegenden Gefühl, das – ähnlich wie später bei Freud Scham, Ekel, Mitleid und Moral – sich hemmend vor dem Trieb postiert und zu Sublimation führt. Hegels Vorstellung einer Kultivierung des bloßen Naturtriebes hin zum vergeistigten Gefühl sittlicher Liebe durch Hemmung und Zurücksetzung geht dabei Hand in Hand mit den Vorstellungen Immanuel Kants. So heißt es in Kants Werk Mutmasslicher Anfang der Menschheitsgeschichte aus dem Jahre 1786: Weigerung war das Kunststück, um von bloß empfundenen zu idealistischen Reizen, von der bloß tierischen Begierde allmählich zur Liebe, und mit dieser vom Gefühl des bloß Angenehmen zum Geschmack für Schönheit, anfänglich nur an Menschen, dann aber auch an der Natur, überzuführen. Die Sittsamkeit, eine Neigung, durch guten Anstand (Verhehlung dessen, was Geringschätzung erregen könnte) andern Achtung gegen uns einzuflößen, als die eigentliche Grundlage aller wahren Geselligkeit, gab überdem den ersten Wink zur Ausbildung des Menschen, als eines sittlichen Geschöpfs. – Ein kleiner Anfang, der aber Epoche macht, indem er der Deckungsart eine ganz neue Richtung gibt, ist wichtiger, als die ganze unabsehliche Reihe von darauf folgenden Erweiterungen der Kultur.647

Am Anfang der Menschheitsgeschichte steht die Beherrschung bzw. Sublimierung der Triebe. Scham wird in der vorherrschenden Denkrichtung des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts als entscheidende Instanz zur Triebhemmung und als Voraussetzung von Sittlichkeit und Liebesfähigkeit skizziert. Scham ist die Wurzel der Kultur und – analog zum Geschlechtstrieb, der zur Liebe wird – findet ihre Reife in der Veredelung hin zum Gefühl des moralisch Sittlichen, so dass Schamhaftigkeit als vorbeugende Charakterhaltung und Sittlichkeit als moralische Conditio humana in eins fallen. Für den französischen Schriftsteller Stendhal steht in seiner Untersuchung Über die Liebe, im französischen Original 1822 erschienen, fest, »daß drei Viertel des Schamgefühls anerzogen sind. Es ist 645 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. In: Ders.: Werke. Bd. 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1970. Reihe: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 607. S. 316. 646 Ebd. 647 Kant, Immanuel: Mutmasslicher Anfang der Menschheitsgeschichte. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 6, Schriften zur Anthropologie Geschichtsphilosophie Politik und Pädagogik. Frankfurt am Main: Insel-Verlag 1964. S. 83 – 102. S. 89 f.

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vielleicht das einzige der Zivilisation entborene Gesetz, das nichts als Glück hervorbringt.«648 Schamgefühle als Quelle des Glückes und nicht als Menetekel drohenden Versagens oder als Ausdruck eines empfundenen Makels sind nur zu verstehen innerhalb einer positiv-romantisierenden Vorstellung von der Liebe. Für Stendhal steht fest: Die Nützlichkeit des Schamgefühls besteht darin, daß es die Mutter der Liebe ist; man kann daher seinen Wert nicht bestreiten. Nichts ist klarer als seine Funktion im Gefühlsmechanismus: die Seele ist beschäftigt sich zu schämen, statt sich damit zu beschäftigen zu begehren; man versagt sich die Begierden; und die Begierden führen zu Taten.649

Einher gehen diese Gedanken über Schamhaftigkeit und Liebe zumeist mit der Vorstellung über einen unterschiedlichen Geschlechtscharakter zwischen Mann und Frau. Für Stendhal z. B. ist die Kultivierung der Schamhaftigkeit Aufgabe der Frau; dem kleinen Mädchen wird von der Mutter das Schamgefühl »sehr frühzeitig beigebracht, und zwar mit äußerster Eifersucht, man sollte meinen, aus Korpsgeist; so sorgen die Frauen«, wie es bei ihm durchaus bezeichnend weiter heißt, »schon im voraus für das Glück ihres künftigen Liebhabers.«650 Gerade im frühmodernen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts über die Liebe schreibt sich so, geknüpft an die Frage nach Bedeutungen und Funktionen des Schamgefühls, im blinden Fleck der Aufklärung der Mythos von den unterschiedlichen Geschlechtern als natürlich determiniert fort. Im Schatten der Emanzipation von Bürgertum und Vernunft und vor dem Hintergrund der philosophischen Untermauerung einer neuen Anthropologie jenseits von Gottes Gnaden nährt und verfestigt sich der fixe Glaube an eine unüberbrückbare Geschlechterdifferenz, die die Moderne grundlegend als metakinetischer Begleithorizont durchzieht. Ein letzter Blick sei in diesem Zusammenhang auf Max Scheler und dessen Überlegungen zur Scham geworfen. Scheler hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv und äußerst reflektiert mit dieser Thematik beschäftigt. Doch während Wissenschaftler wie Georg Simmel sich bereits 1901 über die soziologische und psychologische Dimension von Schamgefühlen Gedanken ma648 Stendhal: Über die Liebe. Stendhal Werkausgabe, Bd. 2. Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch 1981 Reihe: Diogenes Taschenbuch 20967. Diese Ausgabe folgt unverändert: München: Albert Langen / Georg Müller Verlag 1921 – 24. S. 93. 649 Ebd. S. 95. 650 Ebd. S. 94. Zum Thema konstruierter Geschlechterdifferenz und Schamhaftigkeit der Frauen im 18. und 19. Jahrhundert vergleiche weiterhin: Morrien, Rita: Sinn und Sinnlichkeit. Der weibliche Körper in der deutschen Literatur der Bürgerzeit. Köln u. a.: Böhlau Verlag 2001. Besonders das Kapitel ›Der Körper der Scham‹. Und: Saurer, Edith: Über die Beziehung von Schamhaftigkeit, Öffentlichkeit und Geschlecht. Einige Gedanken zur Genese des Konzepts von öffentlicher Schamhaftigkeit. In: Macht – Geschlechter – Differenz. Beiträge zur Archäologie der Macht im Verhältnis der Geschlechter. Hrsg. v. Wolfgang Müller-Funk. Wien: Picus Verlag 1994. S. 63 – 90.

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chen651, rekurriert Scheler auf die romantisierende Denktradition die Liebe betreffend und erweitert die ›naturgegebene‹ Geschlechterdifferenz um die problematische Dimension einer geschlechtlichen Veredelungstheorie. Schelers zum großen Teil 1913 konzipierte, doch erst mit dem Nachlass erschienene Schrift Über Scham und Schamgefühle sieht den Menschen als einen »›Übergang‹ zwischen zwei Seins- und Wesensordnungen«652 ; der Mensch ist zwischen Tier und Gott angesiedelt, und darin begründet sich seine Fähigkeit zur Scham. Kein Gott und kein Tier vermag sich zu schämen. Aber der Mensch muß es – nicht aus diesem oder jenem ›Grunde‹, nicht an erster Stelle diesem oder jenem ›gegenüber‹, sondern als dieser in fortwährender Bewegung begriffene Übergang selbst. Er schämt sich in letzter Linie seiner selbst und ›vor‹ dem Gott in ihm.653

Teilhabend an zwei Sphären, erhebt sich der Mensch Schelers in seiner Geistigkeit über seinen Leib und erfährt sich doch immer wieder als an seinen Körper zurückgebunden. Ohne Schelers Argumentationsstrang hier im Einzelnen nachzeichnen zu wollen, sei darauf verwiesen, dass Scheler das Schamgefühl biologisch verankert, um den Sexualtrieb zurückzuhalten, bis sich ein Gefühl gesicherter Liebe eingestellt hat. »Und es ist die Widerstrebens- und Abwehrkomponente der Scham«, heißt es da, »die jenes Verlangen nach Triebbefriedigung so lange zurückhält, bis die Liebe eine genügende Intensität und Entschiedenheit und Eindeutigkeit erreicht hat.«654 Scheler, der in diesem Zusammenhang drei unterschiedliche Leistungen der Scham in der Entwicklung des Menschen herausfiltert – erst Herausbildung des Geschlechts- und Fortpflanzungstriebes, dann Hemmung und Bündelung des Triebes, und schließlich Regelung des geschlechtlichen Verkehrs –, stilisiert die Scham ganz im Sinne einer an der Sittlichkeit orientierten Denktradition des 18. und 19. Jahrhunderts als einen »schönen und frommen Anwalt«655 der Liebe, welcher die »Einheit des Lebens […] emporhebt und bewahrt gegen all das, was sie in zerstäubende Empfindungen zu zerbersten sucht«656, und die »Wegbahnerin zu ›uns selbst‹«657 ist. Scheler argumentiert hier in seiner Schrift explizit gegen Freud und begreift den Menschen nicht von der Seite eines trieborientierten ›Es‹ her, sondern nä651 Vgl. Simmel, Georg: Zur Psychologie der Scham. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Otthein Rammstedt. Bd. 1, Das Wesen der Materie nach Kant’s Physischer Monadologie Abhandlungen 1882 – 1884 Rezensionen 1883 – 1901. Hrsg. v. Klaus Christian Köhnke. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1999. S. 431 – 442. 652 Scheler, Max: Über Scham und Schamgefühle. In: Ders.: Schriften aus dem Nachlass. Hrsg. v. Maria Scheler. Bd. 1, Zur Ethik und Erkenntnislehre. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Bern: Francke Verlag 1957. S. 65 – 147. S. 69. 653 Ebd. 654 Ebd. S. 86. 655 Ebd. S. 115. 656 Ebd. 657 Ebd.

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hert sich dem Wesen des Menschen aus der Richtung einer potenziell höherwertigen Version seiner selbst. Die Problematik ist in diesem Zusammenhang nun, dass Scheler u. a. wieder von einem ›natürlichen‹ unterschiedlichen Geschlechtscharakter ausgeht. Während die Frau in seiner Sicht im Vergleich zum Manne durch ihre Rolle in der menschlichen Fortpflanzung mehr leibgebunden und ein »Genie des Lebens«658 ist, ist der Mann als »Genie des Geistes«659 näher am Bereich des Geistigen angesiedelt. Wie so viele vor ihm und auch noch viele nach ihm verwechselt auch Scheler in seiner Untersuchung zum ›Wesen‹ des Menschen und der Geschlechter kulturelle und historische Ausdifferenzierungen mit biologischen Determinismen und fällt hinein in den Zirkelschluss einer nachträglichen Naturalisierung von geschichtlich gewachsenen Strukturen. Darüber hinaus strebt in Schelers Evolutions- und Menschenverständnis der Einzelne wie die Gattung nach zunehmender ›Veredelung‹, deren Motor die durch Leistungen des Schamgefühls herausgebildete ›wertwählende‹ Liebe ist. »Erst die Geschlechtsliebe führt also«, so ist da zu lesen, »zur Hinaufpflanzung und zur biologischen Veredelung des Menschentypus[…].«660 In Abgrenzung der Geschlechtsliebe gegenüber dem bloßen Geschlechtstrieb, der lediglich auf Fortpflanzung und nicht auf Wertsteigerung abzielt, heißt es bei ihm: Daher erscheint unter richtiger Grundauffassung des Lebens und seiner Entwicklung die Geschlechtsliebe gerade als die eigentliche Kraft des Vorstoßes zum höheren und wertvolleren Rassentypus, als ein Vorstoß, der neue Menschenwerte produziert, während Geschlechtstrieb und Fortpflanzungstrieb auch im besten Falle nur die vorhandenen Menschenwerte zu reproduzieren vermögen.661

Unter dem Deckmantel einer an dem Topos der ›Liebe‹ ausgerichteten Abhandlung entwickelt Scheler in Über Scham und Schamgefühle letztlich eine wertorientierte und nicht unproblematische evolutionistische Anthropologie. Zugleich stilisiert er den Bereich der Liebe, wie später z. B. auch Wurmser, als utopischen Ort, an dem die sonstigen Regeln gesellschaftlicher Kontrolle aufgehoben und schamfreie Verhältnisse möglich sind.

658 659 660 661

Ebd. S. 147. Ebd. Ebd. S. 125. Ebd. S. 127 f.

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5.0

Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

Literaturanalyse: Elfriede Jelineks Lust [1989] – Zur Inszenierung der Norm zwischen Kritik und Lust

Wie zu Beginn dieses Kapitels aufgezeigt, inszenierte Sacher-Masoch in seiner Novelle Venus im Pelz die Geschlechterbeziehung im Sinne eines metakinetisch verankerten ›Kampfes um das Dasein‹, der den beherrschenden Mann als Norm setzt. In der Verschränkung aus Rahmen- und Binnenhandlung, aus ›Perversion‹ und ›Heilung‹ spiegelte die Novelle gleichsam die gesellschaftlich vorgegebene Ordnung, die Störung der Ordnung sowie auch die aufwendige diskursive Legitimierung und Naturalisierung dieser Ordnung wider. Die von Sacher-Masoch aufgeworfene ›Irritation‹ – devoter Mann und ›herrisches‹ Weib – wurde zum Ende hin in der gesellschaftlich vorgegebenen ›natürlichen‹ Ordnung wieder aufgelöst. In dieser Lesart ging die Novelle letztlich konform mit der außerliterarischen Geschlechterhierarchisierung. Im Folgenden soll es mit Elfriede Jelinek um eine Autorin gehen, die sich ebenfalls an der Geschlechterfrage abarbeitet, allerdings dabei nicht wie SacherMasoch in Venus im Pelz die Störung zugunsten der Norm auflöst, sondern in der literarischen Reflexion der vorherrschenden Geschlechterverhältnisse die außerliterarische Norm einer Kritik unterzieht. Die hier anstehende Auseinandersetzung mit der Literaturnobelpreisträgerin Jelinek allgemein und mit ihrem 1989 veröffentlichten Roman Lust im Besonderen verweist auf eine Literatur, die sich genuin als kritisch-politische Kunst versteht. So wie die Scham letztlich in machtrelevanten gesellschaftspolitischen Hierarchisierungen und Interessenskämpfen explizit und bei vollem Bewusstsein ihrer Funktions- und Wirkungsweisen eingebunden und instrumentalisiert wird, inszeniert Jelinek beschämend-obszöne Sujets und Schreibweisen als politisches Mittel im Kampf gegen vorherrschende Moral- und Normvorstellungen. Eine derartige bewusste und progressive Politik-Werdung der Kunst arbeitet dabei auf zwei Ebenen: Zum einen knüpft ihr konkretes Sujet an bestehende Ordnungsstrukturen der Gesellschaft an. So wird in Lust am Beispiel der Hausfrau Gerti in greller Überspitzung aufzeigt, wie die bürgerliche Ehe weniger ein Ort schamfreier Liebeshingabe ist, sondern sich vielmehr über gewaltförmige Hierarchisierungen sowie Demütigungs- und Abhängigkeitsstrukturen konstituiert. Zum anderen steht die Form als eigenständiger Kommentar. Gerade in Jelineks versierter und höchst artifizieller Sprachkunst tritt diese Doppelschichtung des Kunstwerkes deutlich zu Tage. Zugleich aber, dies wird zum Ende der Untersuchung zu Lust hin aufgezeigt, weist diese Art der Sprach- und Gesellschaftskritik, die immer wieder kynisch auf vorherrschende Schamnormen abzielt, einen ästhetischen Mehrwert auf, der die literarische Provokation im Sinne Barthes ›lustvoll‹ sein

Literaturanalyse: Elfriede Jelineks Lust [1989]

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lässt. Einsetzen werden diese Überlegungen zu Lust mit einer Darlegung einiger grundsätzlicher Elemente in Bezug auf das Kunstverständnis Jelineks. Der in Lust aufgeführte Satz »Die Sprache selbst will jetzt sprechen gehen!«662 ist durchaus programmatisch für die Poetologie Jelineks aufzufassen. Ihre Spracharbeit geht dahin, eine etablierte Sprache der Öffentlichkeit, welche zumeist ihre Wurzeln verschleiert und die erstarrt im Dienste der gesellschaftlich herrschenden Machtinstanzen steht, aufzubrechen, zu zerstückeln und sie neu zu formieren. Die Fundgruben von Jelineks hochkomplexen Sprachmontagen decken dabei das ganze kulturelle Gebiet ab und reichen von der Sprache einer allgemein anerkannten Hochkultur über Werbesprache und den Aufgriff floskelhafter Sprichwörter und Modesentenzen bis hin zum Kalauer. Genormte Wort- und Satzgefüge werden von ihr auseinander gerissen und neu kombiniert, sodass sie oft wie eine satirische oder karikaturistische Kommentierung ihres vorherigen Sinnzusammenhangs wirken. Jelineks eigenwillige Kombinationen, changierend zwischen einer Kritik des erstarrten Gehaltes des Sprache und ästhetischer Schöpferlust, entlarven Sprache als das, was sie ist: konventionell, geschichtlich und politisch aufgeladen. Zugleich betont sie in ihren Neologismen, Montagen und ausgeschriebenen Widersinnigkeiten die Möglichkeit zur revolutionären Umdeutung und zur aufklärerischen Entschleierung im ästhetischen Genuss. ›Hitlerzimmer‹ statt ›Hinterzimmer‹663 und Kaskaden wie die Folgende zerhacken sonst ›selbstverständliche‹ Worteinheiten zu Stolpersteinen des Sinns und zwingen dem Leser einen genauen Blick auf, der sich vor allem an der Diskrepanz von Erwartung und konkretem Text orientiet: Vor den einfachen Häusern der Region fallen Kinder mit schweren Kübeln hin. Sie haben dort nahe am Wasser gebaut, der Grund dafür war feucht und billig. (Ähnlich unseren Träumen vom anderen Geschlecht!)664

Indem Jelinek das Sprichwort ›nah am Wasser gebaut zu haben‹ wörtlich nimmt, es mit der Sphäre der Grundstücksökonomie koppelt, die Werbefloskel ›gut und billig‹ dem angleicht, und dies dann mit einem Kommentar zur eher schnöden Natur sexueller Phantasmen abrundet, zertrümmert sie den naiv-romantischen (Groschenroman-)Mythos einer Herrschaft des Gefühls durch eine doppelte Unterordnung des Weinerlich-Emotionalen unter die Bereiche der Geldwirtschaft und der Triebabfuhr. Die Zertrümmerung automatisierter Sprachmuster ist dabei nicht Selbstzweck, sondern stets begleitet von einer Re-Politisierung der Worte durch Offenlegung des impliziten politisch-ideologischen Sinnhorizontes. Dazu Jelinek selbst über ihr Verfahren: »Ich zwinge sofort den Ideolo662 Jelinek, Elfriede: Lust. 11. Auflage Oktober 2004. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1989. S. 28. 663 Vgl. ebd.: S. 13. 664 Ebd. S. 190.

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Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

giecharakter der Worte hervor. Ich lasse die Sprache sich nicht ausruhen. Ich reiße sie immer wieder aus ihrem Bett heraus.«665 Dieses Wechselspiel aus Verfremdung und Entschleierung ist die zentrale poetische Arbeitsweise Jelineks. »Die Schreibweise dieser Autorin ist unepisch, also nicht auf symbolische Größen wie Schicksal, Glück, oder verborgene seelische Dimensionen bezogen. Das Material«, so Günther Höfler, »ist vielmehr collagenhaft flächig angeordnet.«666 Die Enthierarchisierung des Ausgangsmaterials bei gleichzeitiger Vermeidung der üblichen Erzählhorizonte erzeugt weniger, so Höfler weiter, »nichtnarrative Prosa«667 als vielmehr »eine[…] Art diskontinuierlichen Präsentierens.«668 Das, was Höfer hier als ›unepisch‹ bezeichnet, zielt darauf ab, den Modus des ›Geschichtenerzählens‹ immer wieder zu durchbrechen. Direkte Ansprachen des Lesers, Verschiebungen des Lautmaterials in Wortspielen und Kalauern, der Verzicht auf naheliegende Umschreibungen, die Tendenz zu Bildund Stilbrüchen – all diese Elemente verhindern den Aufbau einer durchgehaltenen, in sich stimmigen Fiktion und durchbrechen den Lesefluss zugunsten der Irritation. Jelinek bedient sich in ihrem Schreiben wirklichkeitskonstituierender Gesellschaftsstrukturen und verschiedener Sprachdiskurse; Erstere wandelt sie zu Gesellschaftskritik, Letztere zu Sprachkritik, und beides sind untrennbar verwoben. Sie selbst verortet sich mit ihrem Kunstverständnis u. a. in der Nachfolgerschaft der Wiener Gruppe, dem »vielleicht entscheidendste[n] Moment der Moderne in Österreich nach 1945«669. Dazu Jelinek: Ich war von Anfang an, schon mit ersten Gedichten, sprachexperimentell fixiert. Ich komme von den postdadaistischen ästhetischen Experimenten der Wiener Gruppe, die vor allem deshalb so revolutionär wirkten, weil im deutschsprachigen Raum die experimentelle Kontinuität durch den Faschismus unterbrochen war […]. Der Aktionismus in Österreich und die Wiener Gruppe, die mussten ganz neu ansetzen, und sie blieben ja auch das einzige Eigenständige an experimentellen Formen, die nach dem Krieg in Österreich entstehen konnten.670

665 Meyer, Adolf-Ernst: Elfriede Jelinek im Gespräch mit Adolf-Ernst Meyer. In: Sturm und Zwang. Hrsg. v. Adolf-Ernst Meyer. Hamburg: Ingrid Klein Verlag 1995. S. 7 – 74. S. 73. 666 Höfler, Günther A.: Vergrößerungsspiegel und Objektiv: Zur Fokussierung der Sexualität bei Elfriede Jelinek. In: Dossier Bd. 2. Hrsg. von Kurt Bartsch und Günther Höfler. Graz: Verlag Droschl 1991. S. 155 – 169. S. 155. 667 Ebd. 668 Ebd. 669 Weibel, Peter : Vorwort. In: die wiener gruppe. Ein moment der moderne 1954 – 1960. Hrsg. v. dems. Wien: Springer Verlag 1997. S. 15. (Das Vorwort zu diesem Band ist komplett in Kleinschreibung gehalten; aus Gründen der Lesbarkeit wurde dies hier abgeändert. M. H.) 670 Roscher, Achim: Macht und Demütigung – mein Thema. Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Lebensmuster. Zehn Gespräche. Hrsg. v. dems. Berlin: Aufbau Taschenbuchverlag 1995. S. 9 – 28. S. 16 f.

Literaturanalyse: Elfriede Jelineks Lust [1989]

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Der Kampf gegen einen erstarrten ästhetischen Konsens, die Fokussierung auf die Form und die Destruktion der Selbstverständlichkeit der Sprache sind Verknüpfungspunkte zwischen der Wiener Gruppe der 1950er Jahre und Jelinek. Allerdings: »[I]ch habe mich ja immer gerade bemüht, diese ganzen Sprach- und Wortspiele in den Dienst auch einer politischen Aussage zu stellen, das unterscheidet mich von anderen Autoren z. B. der Wiener Gruppe«671, so Jelinek im Interview. Im Gegensatz zur intermedialen Ausrichtung der Wiener Gruppe beschränkt sich Jelinek auf das Medium Sprache, radikalisiert sie aber dahingehend, dass sie ihre formalästhetischen Ausnahmeprodukte politisch in den Dienst der Gesellschafts- und Sprachkritik stellt. Es ist das unterschwellige Bedeutungsmehr der Sprache, welches über den Weg der Sprachkritik sich zur Kritik gesellschaftspolitischer Strukturen steigert. In der Zertrümmerung automatisierter Sprachmuster wird versucht, die dahinter liegenden ideologischen Strukturen zu entblößen. Jelinek will »die Sprache selbst […] zwingen, die Wahrheit zu sagen und ihren Ideologiecharakter preiszugeben.«672 Die politischen Leitplanken, an denen sie sich dabei orientiert, sind vor allem marxistisch und feministisch motiviert. Wenn es in Lust in Bezug auf die Eheleute heißt »[p] erlend wird er[, der Vater Hermann,] die Mutter [Gerti] mit seiner Quelle erfrischen«673, ist dies auf der inhaltlichen Ebene ein metaphorischer Ausblick auf den anstehenden Sexualakt, gleichsam aber auch eine Allegorie auf ein geschlechterspezifisches Abhängigkeitsverhältnis in der klassischen bürgerlichen Alleinverdienerehe. Gerti ist einerseits ökonomisch von ihrem Ehemann, dem Papierfabrikdirektor Hermann, abhängig und hat andererseits als sexuelles Konsumprodukt allzeit verfügbar zu sein. Geschlechterbeziehungen, Faschismuskritik und die Zertrümmerung von Heimatmythen der Alpen-, Freizeit- und Kulturnation Österreich sind wiederkehrende Momente im Œuvre Jelineks. »Wie immer man auch zu Jelineks politischer Situierung stehen mag«, so Marlies Janz, »ohne sie zur Kenntnis zu nehmen […] ist ihr Werk mißverstanden.«674 Sie macht in ihren Werken »soziale und ökonomische Herrschafts- und Machtverhältnisse sichtbar«675 und führt Sprache als historisch gewachsenes Herrschaftsmittel vor. Indem man in den Werken Jelineks direkt in den inneren

671 Fuchs, Gerhard und Jelinek, Elfriede: »Man steigt vorne hinein und hinten kommt man faschiert in und einer Wursthaut gefüllt wieder raus«. (Ein E-Mail-Austausch. In: Elfriede Jelinek. Hrsg. v. Daniela Bartens und Paul Pechmann. Graz, Wien: Literaturverlag Droschl 1997 (Dossier extra). S. 9 – 25. S. 20) 672 Meyer, A.: Elfriede Jelinek im Gespräch mit Adolf-Ernst Meyer. S. 72. 673 Jelinek, E.: Lust. S. 227. 674 Janz, Marlies: Elfriede Jelinek. Stuttgart: J. B. Metzler Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag 1995. S. VIII. 675 Winter, Riki: Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Dossier Bd. 2. Hrsg. von Kurt Bartsch und Günther Höfler. Graz: Verlag Droschl 1991. S. 9 – 19. S. 9.

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Werkstattcharakter der »nackte[n] Sprache«676 blickt, zerfallen die Automatismen der Sprachrealität und die Worte verlieren ihren Selbstverständlichkeitscharakter. Jelinek verknüpft folglich auch in Lust zwei Dimensionen des politischen Kommentars miteinander. Auf der Handlungsebene problematisiert sie durch Überspitzungen bürgerliche Eheverhältnisse, auf der formalen Ebene übt sie durch Neologismen, Collagen und Sinnentstellungen Sprach- und damit zugleich Herrschaftskritik. Hier ist nun genauer zu untersuchen, wie in dem vielseitigen Spiel aus Textkritik und Gesellschaftsbezug die Scham, diese Doppelfigur aus psychologisch-individuellem Schutzpatron und öffentlich-gesellschaftlichem Gendarm, zu verorten ist. Die Frage nach dem Eingreifen und der machtrelevanten Funktion der Scham ist in Lust auf der Ebene der Handlung leicht ersichtlich. Vor dem Hintergrund von Jelineks feministisch motiviertem Kritikanliegen eröffnet sich dem Leser die Geschichte als eine einzige Aneinanderreihung von zumeist sexuellen Demütigungen, die Gerti von ihrem Ehemann Hermann und ihrem Geliebten Michael erfährt. Gerti steht hier pars pro toto für die Frau, wie sie innerhalb einer patriarchalisch ausgerichteten Gesellschaft zu einem Gebrauchsgegenstand eines gewaltförmigen männlichen Begehrens degradiert wird. Die zum Einsatz kommenden schamverletzenden Demütigungen sind hier so unerbittlich, wie die Trennung in Täter und Opfer anhand der Geschlechterdifferenz eindeutig ist.677 Das Beschämende liegt hier in der Degradierung, in der Nicht-Wahrnehmung Gertis als autonome Person: 676 Hoff, Dagmar von: Stücke für das Theater. Überlegungen zu Elfriede Jelineks Methode der Destruktion. In: Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Hrsg. von Christa Gürtler. Frankfurt am Main: Verlag Neue Kritik 1990. S. 112 – 119. S. 113. 677 Jutta Osinskis Ansatz, Lust ›durchaus provozierend‹ zugleich als eine Satire auf einen (männlichen) Porno und als einen gelungenen Porno aus der Sicht einer weiblichen Masochistin zu lesen, geht davon aus, dass »[d]ie arme Gerti […] in große Identitätsschwierigkeiten [käme], wenn ihr Hermann sie plötzlich zärtlich streichelte«. Nach Osinski wird der Roman überschätzt, wenn man ihn hauptsächlich als eine kritische Darstellung gegebener Geschlechterverhältnisse liest, und unterschätzt in seiner Qualität als gelungener Masochismus-Porno. (Osinski, Jutta: Satire auf einen Porno. ›Lust‹ von Elfriede Jelinek. In: Lustfallen. Erotisches Schreiben von Frauen. Hrsg. v. Christina Kalkuhl und Wilhelm Solms. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2003. S. 41 – 44. S. 42 f.) Identitätsgewinn ist allerdings nicht per se ein lustvoller Akt, insbesondere dort, wo die eigene Identität von einer außerhalb des Ich stehenden Norm, z. B. dem sexuell aktiven Mann, abgeleitet und fremdbestimmt wird. Und so fruchtbar der Ansatz sein kann, auch bei einer explizit politischen Autorin wie Jelinek, die sich in ihrer Funktion als Autorin immer wieder in öffentliche Debatten einschaltet und entschieden Stellung bezieht, zu Gunsten einer textgerechten Interpretation von der politischen Vorjustierung abzuweichen, so wenig bietet Lust einen textimmanenten Ansatz, der ein wie auch immer geartetes Lustempfinden auf Seiten Gertis skizziert. Nicht die Sehnsucht nach mehr und weiteren Varianten sexueller Demütigungen treibt Gerti in die Arme des Studenten Michael, sondern das Begehren nach einem neuen, anderen Leben: »Mit dem jungen Mann ist endlich einer, der der größte Intellektuelle sein könnte, in ihr Leben getreten. Jetzt wird alles anders, als es geplant war, jetzt machen wir sofort einen neuen

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Sie ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnet. Dem Hunger in jeder Hinsicht dienlich sein, das ist ihre Gassenschank gewesen: sich für den Mann, das Kind abnutzen lassen, gebettet in deren sanfte Zügel.678

Gertis schambeladene Existenz nistet sich ein in der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wuchert im Widerspiel von sklavenartigem Hausfrauendasein und ihren Träumen von einem anderen Leben. Aufgerieben und dezentriert auf Mann und Kind bezogen bestimmt sich ihre Identität durch ihre soziale Rolle als Frau und Mutter. In dieser familiären Ordnungsstruktur ist kein Platz für eine befriedigende Selbstbestimmung; vielmehr geht Gerti auf in einer Objektivierung ihrer selbst für Andere: Sie steht unter dem Fließwasser und bürstet die Spuren ihrer Familie vom Porzellan. So konserviert sich die Frau, in ihren Zutaten nämlich, aus denen sie gemacht ist. Sie ordnet alles, auch die eigene Kleidung, der Größe nach. Voll Scham lacht sie darüber. Aber das ist kein Spaß. Sie häuft Ordnung auf die Seligkeiten, die sie hat. Es bleibt ihr nichts.679

Jelinek klagt in ihren Texten immer wieder, und zwar »nicht ohne Misogynie«680, wie Alexandra Pontzen anmerkt, nicht nur kapitalistische Verwertungs- und patriarchalische Unterdrückungsstrukturen an, sondern auch die Frauen als Komplizinnen des Systems. In diesem Sinne sind Gertis Ausbruchversuche weniger als Emanzipationsbestrebungen hin zu einer Autonomie als selbstbezügliches Wesen zu lesen, sondern lediglich als Streben nach dem Wechsel ihres ›Herrn‹. Der Maßstab verschiebt sich von ihrem Ehemann Hermann hin zum Geliebten Michael: Bestimmt ist diese Frau bei erster Gelegenheit fort, um sich für Michael neu beim Friseur verkleinern zu lassen. Ja, die Verantwortung trägt sie, damit sie sich als Appetithappen präsentieren kann, ganz unter uns, schöne Sonne!681

Die zahlreichen sexuellen Übergriffe, während derer Hermann an Gerti ein beträchtliches Programm an Demütigungen vollführt und keine Falte ihres

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Plan, blähen uns erst richtig auf. […] Jetzt will sich diese Frau endlich unendlich machen. Zuerst stürzen wir uns, eins zwei (auch Sie können es nachmachen, wie Sie hier in Ihrem PKW sitzen, in Ihrer Geschwindigkeit so beschränkt wie in Ihrem Denken), auf unsere Münder, dann auf jede weitere Leerstelle in uns, damit wir was lernen. Und schon ist uns der Partner alles.« (Jelinek, E.: Lust. S. 106 f.) Das Zusammenspiel von Lust und Gewalt, das aus den Sätzen spricht, ist nicht Gertis masochistische Lust, sondern ein formal-ästhetischer Aspekt des Textes. Ebd. S. 59. Ebd. Pontzen, Alexandra: Beredte Scham – Zum Verhältnis von Sprache und weiblicher Sexualität im Werk von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. In: Weiblichkeit als politisches Programm? Sexualität, Macht und Mythos. Hrsg. v. Bettina Gruber und Heinz-Peter Preußer. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2005. S. 21 – 40. S. 30. Jelinek, E.: Lust. S. 157.

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Körpers ungenutzt zu lassen versteht, sind das Destillat der prinzipiellen Vereinnahmung der Frau durch den Mann. Gleichsam ist Gerti nur ein besonders anschauliches Exemplar der Gattung Frau. In der für Jelinek typischen Art des Adressatenwechsels wendet sich die Erzählinstanz immer wieder an den Leser bzw. vor allem an die Leserin und verwischt die Grenzen zwischen Einzelfall und Gruppencharakteristikum, zwischen Fiktion und außerfiktionaler Realität: Na also, warum treten Sie dann nicht zurück und lassen mich auch einmal im Video zornig ihre Geschlechter aufplusternde Menschen anschauen? Dort auf die Reservebank gehören Sie hin, dort sieht niemand Ihre stockerlartigen Arschbacken und Ihre müden Hundezitzen, während Sie umständlich in die Glut blasen. Schämen und schäumen Sie sich mit Cremes ein, um die Unterschiede zwischen Ihnen und der gütigen menschl. Klasse (Güteklasse A) zu verwischen. Tragen sie Ihr Unglück zum Herrn einen Stock höher über Ihnen, aber wecken Sie die Gestorbenen nicht auf!682

Innerhalb von Jelineks literarischen Gesellschaftsanalysen sind Scham und Beschämungen fest eingebettet in Machthierarchisierungen und Begehrensverkettungen und funktionieren klassisch als internalisierter Normdruck, hergeleitet aus dem Primat eines männlichen Blicks auf weiblich Schauobjekte; »wir fetten Kühe […], die wir uns unsrer eigenen Oberschenkel schämen«683, sind die klassischen Opfer und durch Schamsanktionen konditionierten Mittäterinnen innerhalb dieser feministischen Kritik. Nimmt sich die inhaltliche Bestimmung der Schamproblematik mit ihren gesellschaftskritischen Implikationen in ihrer feministischen Ausrichtung und dieser eindeutigen Skizzierung der Kampflinien fast schon etwas altbacken aus, so gewinnt die Thematik im erweiterten Spiel mit der öffentlichen Rezeption von Werk und Autorin wieder an Spannung. Jelinek kultiviert in hohen Maßen das Spiel aus Rückzug aus der Öffentlichkeit und meinungsmachender Teilnahme an der Öffentlichkeit. Die Dekaden ihres Schaffens sind durchzogen von wütenden Wortmeldungen der Autorin zu gesellschaftlichen Entwicklungen, einer geradezu professionell zur Schau gestellten Künstlernaivität684 und Phasen de682 Ebd. S. 198 f. 683 Ebd. S. 186. 684 Als Beispiel sei eine Interviewpassage aus dem Interview Ralf Kortes mit Elfriede Jelinek bezüglich des kommerziellen Erfolges von Lust angeführt. Dort heißt es von Seiten Jelineks: »[E]s war keiner überraschter als ich, das werden sie mir sicher glauben. Aber ich bin sicher, daß kaum jemand, der dieses Buch gekauft hat, es auch bis zum Schluß gelesen hat oder auch nur bis zur Mitte. Ich glaube, es ist durch die Medien da eine ganz falsche Erwartung geweckt worden.« Einsichtig heißt es kurz danach weiter: »Ich bin da wahrscheinlich nicht ganz unschuldig, aber eine Entschuldigung habe ich doch: daß ich ganz naiv in diese Sache hineingeschlittert bin, weil, das wird man mir auch glauben, weil ich ja als mehr oder weniger experimentelle oder avantgardistische oder auch nur für sich alleine herumwurschtelnde Autorin gar nicht gedacht hätte, daß das, was diese macht, dann plötzlich von hunderttausend Leuten gelesen wird, was es ja auch in der Tat nicht wird.« (Korte, Ralf B.:

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monstrativer Zurückgezogenheit. Auf politischer Ebene hatten Jelinek und konservative Teile der österreichischen Bürgerlichkeit aneinander Lieblingsfeinde gefunden. Ihre politischen Stellungnahmen wurden zu einem guten Teil als die verbiesterte Penetranz einer moralübersättigten Megäre aufgenommen, deren ›so genannte Kunst‹ nichts als Pornografie, Männerhass und wütendes Gebell einer verbitterten Landesverräterin sei. Als schillernde Projektionsfläche bürgerlicher Animositäten gerann ›die Jelinek‹ zu einem Bild, welches unter dem Schlagwort »Mythos Jelinek«685 in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Autorin einging und das von Elfriede Jelinek zum Teil bewusst mitgestaltet worden ist, da sie geschickt das Schlaglicht der Empörungen und die Mechanismen der Skandalisierung zu nutzen wusste, um ihre politischen Botschaften in den Medien zu streuen. Dazu resümierend Pia Janke: Keine andere Autorin Österreichs ist in der Öffentlichkeit so umstritten wie Elfriede Jelinek. Sie, die in ihren Texten immer neu die österreichische Gesellschaft und Mentalität kritisch befragt und sich in der Öffentlichkeit immer neu zu Wort meldet, um sich politisch zu exponieren, ist eine Reizfigur ersten Ranges. Seit der Uraufführung ihres Theaterstücks ›Burgtheater‹ (1985) wird Jelinek in Österreich als ›Nestbeschmutzerin‹ diffamiert, als ›Kommunistin‹ geschmäht, als ›Pornographin‹ denunziert. Politische und mediale Hetze, an der sich ganz Österreich – gleichgültig ob man Jelineks Texte gelesen hat oder nicht – lustvoll beteiligt, bestimmt seit den achtziger Jahren den Umgang mit der Autorin.686

Werk- und Personenkritik schieben sich in eins, überlappen sich und z. T. stehen die Schläge gegen die mythisch überhöhte Person Jelinek weit vor einer Auseinandersetzung mit ihren tatsächlichen Werken. Doch egal, ob es sich um die Person, den Mythos oder ihre literarischen Produkte dreht, zumeist beherrschen emotionale Überfärbungen statt nüchterne Betrachtungen die Szenerie. Unter dem Phänomen Jelinek wird […] Unterschiedlichstes subsumiert, das aber doch auf den gemeinsamen Nenner des Begriffs Schock oder Provokation zu bringen ist. Als Person schockiert Jelinek durch ihre Äußerungen in den Medien, sie wird als ordinär, brutal, obszön oder abstoßend erlebt; ihre Texte erregen Ekel und Empörung, zuGespräch mit Elfriede Jelinek. In: Elfriede Jelinek. Hrsg. v. Daniela Bartens und Paul Pechmann. Graz, Wien: Literaturverlag Droschl 1997 (Dossier Extra). S. 273 – 299. S. 288) Im Gespräch mit Riki Winter : »Ich wollte ja immer die Wahrheit hinter einem Schein oder die politische Geschichte hinter einem unschuldigen Bild hervorholen. Das ist das, was als roter Faden durch meine Texte hindurchgeht. Dabei habe ich aber in einer seltsamen Umkehrung für mich als Person offenbar ständig Mythen geschaffen, vielleicht aus Naivität oder aus Unwillen, wirklich etwas über mich preiszugeben.« (Winter, R.: Gespräch mit Elfriede Jelinek. S. 9) 685 Winter, R.: Gespräch mit Elfriede Jelinek. S. 11. 686 Janke, Pia: Vorwort. In: Die Nestbeschmutzerin. Jelinek und Österreich. Hrsg. von Pia Janke. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2002. S. 7 – 10. S. 7.

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mindest Irritation oder extremes Befremden. Dieser Widerwille gegen die Texte wird auf die Schreiberin selbst zurückgeworfen[…].687

Der Widerstand, so Yasmin Hoffmann, den »Jelineks Texte gegen ästhetische Kategorien leisten«688, scheint unverbrüchlich verknüpft mit »dem Widerstand, auf den ihre Texte in der Rezeption stoßen«689, auch wenn diese Widerstände in »zwei verschiedenen Bereichen angesiedelt sind: in der Ästhetik zum einen und im Bewußtsein oder Unbewußten des Lesers zum anderen.«690 Dermaßen heillos durcheinander geworfen und durch und durch politisch müssen, so schließlich die Erkenntnis Andrea Geiers, »Selbstaussagen von Elfriede Jelinek auch als ›Text‹ verstanden werden […].«691 Dass das literarische Werk, der Mythos und die Öffentlichkeit dermaßen verkoppelt erscheinen und gerade in Konfrontation zueinander zu Höchstform auflaufen, ist der oben beschriebenen marxistischfeministische Tradition geschuldet, in welche Jelinek sich einreiht. Alexandra Pontzen führt auf, wie der in den 1970er Jahren aufkommende Aufruf zur Schamlosigkeit als »ebenso progressiver wie provokativer Appell«692 die damalige feministische Literaturszene befeuerte. Die ursprüngliche Intention, der weiblichen Sexualität einen eigenständigen Raum der Verwirklichung zu öffnen – was der geforderten ›Schamlosigkeit‹ eine positive und produktive Qualität verliehen hätte –, wird jedoch von Jelinek selbst als undurchführbar abgelehnt. Immer wieder betont sie, dass im Patriarchat »das Sprechen einer Frau als Anmaßung angesehen wird«693 bzw. dass, wenn sie spricht und ein Werk schafft, dies Sprechen per se ein aggressives ist. Dazu Jelinek in ihrer typischen Deutlichkeit: Mich wundert, daß die Frauenliteratur nicht gewalttätiger ist. Diese Demütigung, ein Werk zu schreiben, das von vornherein verachtet wird, um es überspitzt zu formulieren, erzeugt bei mir diese Aggression, die ich dann sehr gut auf meine Figuren projizieren kann.694 687 Sander, Margarete: Textherstellungsverfahren bei Elfriede Jelinek. Das Beispiel Totenauberg. Würzburg: Königshausen und Neumann 1996. Reihe: Literaturwissenschaft, Bd. 179. S. 16. 688 Hoffmann, Yasmin: Elfriede Jelinek. Sprach- und Kulturkritik im Erzählwerk. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag GmbH 1999. S. 11. 689 Ebd. 690 Ebd. 691 Geier, Andrea: Weiterschreiben, Überschreiben, Zerschreiben. Affirmation in Dramenund Prosatexten von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. In: Zwischen Trivialität und Postmoderne. Literatur von Frauen in den 90er Jahren. Hrsg. von Ilse Nagelschmidt u. a. Frankfurt am Main: Peter Lang GmbH Europäischer Verlag der Wissenschaften 2002. S. 223 – 246. S. 236. 692 Pontzen, A.: Beredte Scham – Zum Verhältnis von Sprache und weiblicher Sexualität im Werk von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. S. 21. 693 Meyer, A.: Elfriede Jelinek im Gespräch mit Adolf-Ernst Meyer. S. 9. 694 Winter, R.: Gespräch mit Elfriede Jelinek. S. 14.

Literaturanalyse: Elfriede Jelineks Lust [1989]

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Jelinek hegt nicht die Hoffnung auf eine eigene weibliche Sprache, wie sie z. B. in Spielarten des Differenz-Feminismus zeitweise propagiert wurde, sondern weist als ihr Feld den Widerstand gegen die herrschende männliche Sprache aus. Dementsprechend interpretiert sie den Aufruf zur Schamlosigkeit als einen Ruf zu den Waffen, der nicht in erster Linie einen eigenen Raum zu erobern hat, sondern als Angriffsbewegung auf den übermächtigen Sprachraum der Männer zu verstehen ist. In einer Doppelbewegung hat die Frau sich von ihrer Scham zu befreien bzw. sie in Erkenntnis umzumünzen und zeitgleich ihre Unterdrücker zu beschämen. In einem kurzen Text mit dem bezeichnenden Titel Schamgrenzen? schreibt sie: Scham kann nur dann eine Waffe sein, wenn die Frauen sich nicht vor sich selbst schämen, wenn die Scham der Frauen nicht die der Männer ist. Wenn die Frauen sich nicht vor sich selbst ekeln, sondern vor den Männern. Und wenn die Männer mit ihrem Ekel allein bleiben. Wenn die Grenzen der Scham nicht die Frauen zerstückeln, sondern die Territorialisierungen der Männer. Scham ist die Erkenntnis der realen männlichen Gewalttätigkeit, Scham verkommt aber oft zur Anerkennung der weiblichen Hilflosigkeit.695

Die Schamkette, an der man hängt, überwinden, und die Beschämungsmöglichkeit des Gegenübers zum eigenen Vorteil hin aktivieren – mit diesen Überlegungen bewegt sich Jelinek mit ihren Werken als progressive Akteurin im Spannungsfeld von Macht, Scham/Beschämung und kynischem Widerstand. Obszöne Sprachwendungen und das Ausdeklinieren gewaltförmiger sexueller Akte bei gleichzeitigem Verzicht auf herkömmliche Erotikangebote in Lust verkehren den Roman in seiner Bewegungsrichtung. Der entschleiernde Gestus, der die Wirklichkeit literarisch überformt zur Wahrnehmung zu bringen gedenkt, kippt um in eine Angriffsbewegung auf den Lesenden. In diesem Zusammenhang führt Pontzen an, wie die Empörungstiraden der bürgerlichen Öffentlichkeit gegenüber Jelinek und ihrem Werk ihrerseits wiederum als Abwehrmaßnahmen gedeutet werden können: Das gewollt Schamlose zum unfreiwillig Geschmacklosen hin zu verschieben, entschärft das politisch-gesellschaftliche Anliegen zu einem subjektiv-ästhetischen, das zudem, wirkungsgeschichtlich betrachtet, scheitert. Dass die feministische Forderung nach dem ›Ende der Scham‹ in der (männlichen) Rezeption auf die Zurückweisung der Peinlichkeit stößt, ist rezeptionspsychologisch aufschlussreich. Durch die psycho-ästhetische Diskreditierung wird nicht nur das peinlich Berührende abgewehrt, sondern zugleich der peinlich Berührte erhöht – zum sensiblen Empfindungsaristokraten.696 695 Jelinek, Elfriede: Schamgrenzen?. In: Konkursbuch, Nr. 47, Der erotische Blick. Hrsg. v. Claudia Gehrke und Peter Poertner. Tübingen: Verlag Claudia Gehrke 2008. S. 42 – 44. S. 42 f. 696 Pontzen, A.: Beredte Scham – Zum Verhältnis von Sprache und weiblicher Sexualität im Werk von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz. S. 24.

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Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

Und so geht er immer weiter, der Kampf um Worte und Bedeutungshoheiten, um Hierarchisierung, Platzzuweisungen, Sprechlegitimationen und letztlich um Verkaufszahlen und Literaturpreise. Die politische Dimension des Kunstwerkes operiert dabei willentlich mit Schamverletzungen, die auf Teilen der Rezeptionsseite Widerstände und ablehnende Urteile provozieren. Dem gegenüber steht eine Dimension des künstlerischen Textes, die gerade in der ästhetischen Normdurchbrechung und in der Irritation alteingesessener Sprachbilder dem Text eine ungehörige, doch lustvolle Komponente verleiht, die den Rezipienten subversiv für den Text einnimmt. Weit davon entfernt, in Lust mit dem Martyrium Gertis eine biedere Unterhaltungsgeschichte zu erzählen, ist die ›Lust am Text‹ wesentlich der Darstellungsweise geschuldet. Jelineks poetische Verfahren der Enthierarchisierung der Diskurssprachen, der schöpferischen Neuverbindungen und des Aufbrechens selbstverständlich gewordener Wörter und Syntaxfügungen führen beispielhaft jene Mechanismen vor, die nach Roland Barthes einen ›lustvollen‹ Text ausmachen können. In Die Lust am Text (französisch 1973, deutsch 1974) skizziert Barthes eine Idee von Literatur als einem multipel-erotischen Gegenstand. »Wenn ich mit Lust einen Satz, eine Geschichte oder ein Wort lese«, so heißt es dort, »so sind sie in Lust geschrieben worden (diese Lust steht nicht im Widerspruch zu den Klagen des Schriftstellers).«697 Bei aller Kritik, aller Wut und aller aufgebrachten Gewalt herrscht doch, folgt man diesem Ansatz, niemals alleinig Feindschaft zwischen der Künstlerin und ihrem Gegenstand vor. Jelinek sagt über ihr Schreiben, dass zwar »die sogenannte Wut der Impetus«698 sei, also eine persönlich-politische Motivation von eher schwarzem Gemüt, aber dann treibe es sie »wie ein Turboantrieb zu den Wortspielen, die zum Teil geradezu zwanghaft sind.«699 Nicht in die krasseste und eindeutigste Aussage führt es sie, sondern in den Bereich des Wortspiels und des Kalauers; anarchistische Lust an der Störung und produktive Neuschaffung fallen hier zusammen: Sprachflächen oder Sprachregister werden gegeneinander ausgespielt. Mal stoßen sie frontal aufeinander, mal fließen sie ineinander, wie ein Wort das andere ergibt. Manche Übergänge sind vom Rhythmus diktiert, manche durch einen ruckartigen Wechsel vom sensus allegoris zum sensus litteralis, manche durch arbiträre Entstellung, gefälschte Etymologien.700

697 Barthes, Roland: Die Lust am Text. 6. Auflage 1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1974. S. 10. 698 Fuchs, G.: »Man steigt vorne hinein und hinten kommt man faschiert und in eine Wursthaut gefüllt wieder raus«. S. 23. 699 Ebd. 700 Hoffmann, Y.: Elfriede Jelinek. S. 159.

Literaturanalyse: Elfriede Jelineks Lust [1989]

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Damit erfüllt Jelinek, deren Sprachstil »hauptsächlich aus Brüchen«701 mit den gängigen Sinnzuschreibungen besteht, eines der zentralen Kriterien für einen lustvollen Text nach Barthes. Als Qualitätsausweis und libidinöses Versprechen genügt es nicht, dass ein Text mit einer gewissen Lust geschrieben wurde. Vielmehr gibt es verschiedene konkrete Möglichkeiten, die den Text zu einem genussvollen Ereignis werden lassen. In Anspielung auf Donatien Alphonse FranÅois Marquis de Sade bestimmt Barthes: [D]ie Lust der Lektüre kommt offensichtlich von bestimmten Brüchen (oder bestimmten Kollisionen): antipathische Codes (das Erhabene und das Triviale zum Beispiel) stoßen aneinander ; pompöse oder lächerliche Neologismen werden kreiert; pornographische messages werden in Sätze gegossen, die so rein sind, daß man sie für Grammatikbeispiele halten kann. Wie die Texttheorie sagt: die Sprache wird neu verteilt.702

Es ist gerade dieses Spiel der Neuverteilung, das das Schreiben Jelineks mit all ihren Collagen, Sinnentstellungen, Zitatverfälschungen und Wortspielen kennzeichnet. Dabei ist diese anarchistische Lust an der Neuverteilung nicht Selbstzweck, sondern stets operiert Jelinek im Sinne ihrer politischen Agenda. Ihre Literatur versteht sich als ein subversiver Gegendiskurs, der vorherrschende (Sprach-)Normen in der Entstellung gleichsam kritisch wie lustvoll zu Bewusstsein bringt. Zur Verdeutlichung diesbezüglich zwei kurze Textpassagen aus Lust: Wissen nicht warum, doch, das Kind hat ein hungriges Maul mit dreckigen Reden zu stopfen, in denen seine Mutter vorkommt und deren oft blutige Hosen. Das Kind weiß alles. Es ist weiß und hat ein braunes Gesicht von der Sonne. Am Abend wird es dann sattgebadet sein und gebetet und gearbeitet haben. Und sich an die Frau kleben, an ihr weiden, sie in die Brustwarzen beißen zur Strafe, daß vorher der Vater ihre Tunnels und Röhren ausweiten durfte, hören Sie! Die Sprache selbst will jetzt sprechen gehen!703

Und: Leben besteht ja größtenteils darin, daß nichts dort bleiben will wo es ist. So, wolle den Wandel! Auf diese Weise entsteht Unruhe, und die Leute besuchen einander, müssen sich aber immer selbst mit sich herumtragen. Wohlgeordnete Knechte, stehen sie vor ihren Geschlechtswürsten und hauen mit dem Besteck auf den Tisch, daß ihnen schneller ein Loch serviert werde, in das sie sich verziehen können, nur um wieder, noch gieriger geworden, aufzutauchen und neuen Unbedürftigen ihre Gastfreundschaft anzutragen. Nicht einmal Sekretärinnen wollen zugeben, daß sie sich von den Griffen in ihre Blusen angeprangert fühlen. Sie lachen.704 701 702 703 704

Ebd. S. 158. Barthes, R.: Die Lust am Text. S. 13. Jelinek, E.: Lust. S. 28. Ebd. S. 36 f.

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Zur Inszenierung und Ordnung von Gesellschaft

Neben der immer wieder auftauchenden Leitmetapher des Einverleibens durch Nahrungsaufnahme ›bricht‹ hier Jelinek konkret mit der Sprache u. a. durch die homonyme Verwendung des Wörtchens ›weiß‹. Sie beschwört in der Alliteration und Lautverschiebung von ›gebadet‹, ›gebetet‹, ›gearbeitet‹ in Bezug auf das Kind die Trias von Familie, Kirche und Arbeitsethik. Gleich darauf kippt es durch ›kleben‹, ›beißen‹, ›Strafe‹ und der Bergbau/Sexualitäts-Metapher zurück ins Negative. Die Durchbrechung einer in sich abgeschlossenen Erzählfiktion durch die direkte Ansprache des Lesers und poetologische Wendung zum Ende des ersten Zitats wird im zweiten Zitatbeispiel in bester Jelinek-Manier ergänzt durch eine Abstraktion von Gertis Schicksal auf das Geschlechterverhältnis allgemein. Im Übergang vom Einzelnen zum Ganzen und wieder zurück zur Konkretisierung am Beispiel der Sekretärinnen, beschleunigt durch die Kreuzung von ›in die Blusen greifen‹ und ›anprangern‹, pendelt sich diese Passage im Zweideutigen des ›Sie lachen‹ ein. Grammatikalisch unbestimmt schlägt das ›Sie‹ eine Brücke zwischen den Sekretärinnen und dem Leser und markiert eine erzwungene Differenz zwischen Reaktion und Anlass Weder der Griff in die Blusen noch die beschriebene Knechtschaft unter dem Sexualtrieb sind Grund zum Lachen; der Arbeitsplatz-Sexualitäts-Komplex wird durch die Travestie des Phallus zur ›Geschlechtswurst‹ konterkariert und die männliche Machtposition dem Spott preisgegeben. In beiden Zitatbeispielen verbindet die ungeheure Neuverteilung der Sprache Kritik und Komik und im Zwiespalt von beidem entsteht die Möglichkeit einer mitunter schmerzhaften Leselust. In Jelineks Sprachstrom greift in besonders schillernder Form, was Barthes schon an Flaubert festmacht: [D]ie Erzählbarkeit wird demontiert und die Geschichte bleibt dennoch lesbar ; niemals waren die beiden Ränder der Kluft deutlicher und klarer, niemals wurde dem Leser die Lust so gut dargeboten – sofern er nur Geschmack an kontrollierten Brüchen, verfälschten Konformismen und indirekten Destruktionen hat.705

Der Widerstand der Öffentlichkeit gegen diese Verfahren des literarischen Schaffens ist für Barthes durchaus Teil des Konzepts. In Anlehnung an die Psychoanalyse Lacans analogisiert er die (Mutter-)Sprache und den Körper der Mutter als Gegenstände der Lust: Der Schriftsteller ist jemand, der mit dem Körper seiner Mutter spielt […]: um ihn zu glorifizieren, zu verschönern oder um ihn zu zerstückeln, ihn bis zur Grenze dessen zu bringen, was vom Körper erkannt werden kann: noch die Entstellung der Sprache werde ich genießen, und die öffentliche Meinung wird Entsetzensschreie ausstoßen, denn sie will nicht, daß man ›die Natur entstellt‹.706 705 Barthes, R.: Die Lust am Text. S. 16. 706 Ebd. S. 56.

Literaturanalyse: Elfriede Jelineks Lust [1989]

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Auch der politische Aspekt spielt für einen lustvollen Text eine Rolle und ist in Bezug auf Jelinek lesbar : Eine andere Wollust […]: sie besteht darin, zu entpolitisieren, was scheinbar politisch ist, und zu politisieren, was es scheinbar nicht ist. – Aber nein doch, man politisiert, was politisiert werden muß, das ist alles.707

Barthes Skizzierung eines lustvollen Textes kreuzt sich hier mit der feministischen Tradition, das Private als das Politische zu begreifen und gesellschaftliche Makrostrukturen im Mikrokosmos individueller Beziehungsnetze aufzuspüren; politische Kritik und ästhetischer Genuss sind hier zwei Seiten einer Medaille. Des Weiteren können für Barthes Wiederholungen eine potenzielle Quelle einer Lust am Text sein, hergeleitet aus ethnologischen Überlegungen zu Riten, Litaneien, Musik und Rhythmus: »[D]as Wort«, heißt es in Die Lust am Text, »kann nur unter zwei entgegengesetzten, gleicherweise exzessiven Bedingungen erotisch sein«, so Barthes, und zwar »wenn es bis zum Äußersten wiederholt wird oder aber, im Gegenteil, wenn es unerwartet, durch seine Neuheit saftig ist […].«708 Während die ›Neuheit‹ in Jelineks Schreiben in ihrem kreativ-anarchischen Umgang mit der ›alten‹ Sprache begründet liegt, greift das Motiv der Wiederholung nur bedingt in ihrer Literatur. Wiederholungen finden sich in Lust entweder auf struktureller rhetorischer Ebene (Alliterationen, Anaphern, wiederkehrende Metaphernfelder …) oder inhaltlich in der immer wiederkehrenden Darstellung der brutalen Inbesitznahme Gertis durch Hermann. Allerdings treten diese Wiederholungen nicht in strenger gleichartiger Form auf, sondern stets in Abwandlung und durchsetzt durch neue und weitere Sprachspiele und -brüche, so dass auch in den Wiederholungen das Prinzip der Neuartigkeit und Frische greift. Im Überblick lässt sich sagen: Die formal-ästhetische Qualität des Romans Lust konterkariert die inhaltliche Ausreizung politisch korrekter Schamempfindungen. Die Verdinglichung der Frau, die Spirale an ›schmutzig-perversen‹ Sexualpraktiken und die immer weiter getriebenen Demütigungen Gertis ergeben ein hitziges Konglomerat an Geschmacksüberschreitungen, das den Leser einerseits abschreckt, ihn anderseits durch die Sprache aber auch wieder lustvoll unterhält. Wesentliches Element mit emanzipatorisch-kritischem Potenzial ist, dass hierbei bestehende Abhängigkeitsverhältnisse inszeniert, Anstandsvorstellungen unterlaufen sowie vorherrschende Schamempfindungen und Empörungsnormen über den Weg der Ästhetik irritiert werden. In diesem Sinne ist Jelineks Agenda eine kynisch-subversive Irritation gesellschaftlicher Schamdressuren.

707 Ebd. S. 65. 708 Ebd. S. 63.

IV. Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Wie diese Arbeit bisher versuchte aufzuzeigen, sind Schamgefühle von existenzieller Bedeutung für die Organisation von Gemeinschaften und für das menschliche Selbstverständnis. Die Bedeutung von Schamgefühlen kann man anthropologisch-philosophisch in den (vermeintlich) großen Fragen nach dem Wesen des Menschen suchen. Oder aber man nähert sich historisch und/oder sozio-psychologisch und fragt nach Herleitungen, Funktionsweisen und Bedeutungen von Schamgefühlen in der konkreten Organisation von Gesellschaftsformationen. Diese Arbeit bediente sich dabei eines kulturwissenschaftlichen Zugangs. Psychoanalytische Studien kamen ebenso zu Wort wie Werke der Philosophie, phänomenologische Beobachtungen wurden genauso eingebunden wie Schriften zur Zivilisationstheorie, Soziologie oder zum Existenzialismus. Bei weitem nicht alle möglichen Zugänge ausschöpfend, ging es um das Aufzeigen paradigmatischer Möglichkeiten, sich dem Thema, nämlich der Bedeutung von Schamgefühlen in modernen Gesellschaften, zu nähern. Wie reihen sich nun in diesem Vorgehen die literarischen Untersuchungen ein bzw. welche Rolle spielt Literatur selbst in der zitierten Sekundärliteratur? L¦on Wurmser führt in Die Maske der Scham immer wieder bekannte Größen der Weltliteratur an; Dickens, Balzac und Dostojewski geben ebenso wie Schiller, Goethe und – natürlich – Kafka mit ihren literarischen Figuren Wurmsers Theorien Plastizität. Warum dieser Rückgriff auf literarisches Referenzmaterial? Was bieten die literarischen Verweise mehr, als es die ebenfalls bei Wurmser und in der psychoanalytischen Literatur im Allgemeinen vorkommenden Beschreibungen realer Fallstudien tun? Was ist dieses spezifische ›Mehr‹ der Literatur, das der Anschauung nachdrücklich Prägnanz verleiht? Wurmser führt eine Traditionslinie fort, in der sich die Psychoanalyse der Literatur als Veranschaulichung bedient und Teile ihres Vokabulars aus jener extrahiert (vgl. Ödipuskomplex, Narzissmus etc). Ein Vorteil bei der Verwendung literarischen Materials ist, dass es durch die Verankerung im kulturellen Gedächtnis eines Kulturkreises einer breiten Leserschicht vertraut ist. Das der Literatur entlehnte Schlagwort ist somit von vornherein mit einem ›selbstverständlichen‹ Extra an

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Information aufgeladen. Die Bestimmung der Dienlichkeit von Literatur – neben dem Vorteil des Ansprechens eines tradierten Kulturhorizontes – ist allerdings wesentlich in ihrem funktionalen Selbstverständnis zu suchen. Literatur ist Verlagerung von Erfahrungen in den Bereich des Virtuellen. Im gesicherten Rahmen des ›Als-obs‹ kann in ihr durchgespielt werden, was dem domestizierten und zivilisierten Gemeinschaftsmenschen im Rahmen des fragilen und unumkehrbaren physischen Lebens verboten ist. Grundlage dieser Verlagerung ist der Moment der Einfühlung in die literarische Welt, die in einer dialektischen Struktur aus emotionaler Teilhabe und reflexiver Distanz besteht.709 Wenn das rezipierende Subjekt für die Zeit der Lektüre neben der intellektuellen Durchdringung des Stoffes auch emotional Anteil nimmt an der literarischen Situation, dann kann in der Übertragung auch der eigene Empfindungshorizont wiederentdeckt und reflexiv durchdrungen werden. In diesem Sinne archivieren literarische Texte nicht nur zeittypische Erfahrungshorizonte, sondern stiften über die Zeit hinaus Erfahrungsmöglichkeiten. In dem, was der Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß im Hinblick auf die »Ehe zwischen Ästhetischer

709 Der Begriff der Einfühlung, gleichsam wie der Begriff der Empathie, kann im allgemeinen Sinne als ein intuitives Verstehen von Personen, Werken oder Situationen verstanden werden, welches weniger über rationalen Nachvollzug, sondern mehr über emotionale Teilhabe funktioniert. Das Metzler Lexikon Literatur begreift die Vokabeln Einfühlung, Empathie und Identifikation in Überschneidung, wobei Identifikation eher ein figurenbezogene Verhältnis ist, während Einfühlung tendenziell eher das intuitive Erfassen des Kunstwerkes als Ganzes bezeichnet, wobei beim Begriff der Empathie indirekt qua Wortherkunft vor allem das Mitfühlende des Nachvollzug betont wird. (vgl. Burdorf, Dieter: Einfühlung. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hrsg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar : Verlag J. B. Metzler 2007. S. 181. Und: Burdorf, Dieter : Empathie. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hrsg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar : Verlag J. B. Metzler 2007. S. 187. Und: Burdorf, Dieter und Scholz, Manfred Günter : Identifikation. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hrsg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar : Verlag J. B. Metzler 2007. S. 339) Auch das historische Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe behandelt Einfühlung, Empathie und Identifikation als einen thematischen Komplex, weist aber in historischer Perspektive die ursprüngliche Unterscheidung zwischen Einfühlung (im Sinne einer Projektion eigener Gefühle in leblose Naturgegenstände) und Identifikation (als Beziehung zwischen Leser und literarischer Figur) aus. (vgl. Fontius, Martin: Einfühlung/Empathie/Identifikation. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 2, Dekadent – Grotesk. Stuttgart, Weimar : Verlag J. B. Metzler 2001. S. 121 – 142. S. 122) Diese Arbeit bevorzugt den (übergeordneten) Begriff der Einfühlung, erschöpft er sich doch nicht wie der Begriff der Identifikation in dem figurenbezogenen Aspekt des Sich-Hineinversetzen, sondern berücksichtigt die literarische Situation in toto. Zugleich markiert dieser Begriff stärker als Identifikation die Dialektik aus Nähe und Distanz.

Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

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Erfahrung und Literarischer Hermeneutik«710 ›genießendes Verstehen‹ und ›verstehendes Genießen‹ nennt,711 öffnet sich in der Literatur konkret die Möglichkeit einer emanzipatorischen Auseinandersetzung mit Schamempfindungen. ›Genuss‹ liegt hierbei gerade in der spielerischen Bezugnahme zum eigenen Lebenshorizont über den Umweg der Kunst. Auf der reflexiven Ebene der ästhetischen Erfahrung wird, wie Jauß schreibt, »der Betrachter in dem Maße, wie er bewusst die Zuschauerrolle einnimmt und diese mitgenießt, gerade auch wiedererkannte oder ihn selbst betreffende lebensweltliche Situationen ästhetisch genießen und genießend verstehen.«712 Die Auseinandersetzung mit Schamgefühlen in der Literatur ist somit zugleich beides: Konfrontation und Entlastung. Eine primäre Ebene der ästhetischen Erfahrung – von Jauß verbunden mit emotionaler Anteilnahme in Bewunderung, Erschütterung, Mitweinen, Mitlachen etc.713 – bildet dabei die Grundlage, um in einer sekundären ästhetischen Reflexion die Anteilnahme in kritische Auslegung und Erkenntnis zu wandeln.714 Aus dieser Sichtweise heraus erklärt sich u. a. auch die häufige Bezugnahme der Psychoanalyse auf genuin literarisches Bezugsmaterial, steht diese Dialektik aus emotionaler Vergegenwärtigung und reflektierter Distanznahme doch in Verwandtschaft zum therapeutischen Konzepts der Durcharbeitung. Darüber hinaus ist Kunst etwas wesensinhärent, was sie mit der Wissenschaft gemein hat: Sie erprobt und überschreitet Grenzen. Darauf verweist z. B. Briegleb, wenn er schreibt: Kunst und Wissenschaft teilen den Ruf, eine schöpferische Avantgarde zu sein, die der Gesellschaft Neuland erschließt. Obwohl sie in ihrer Untersuchung der Welt sehr unterschiedlich vorgehen, stehen die beiden Arbeitsweisen doch in einem Punkt tatsächlich näher zueinander als zur restlichen Gesellschaft. Sie kommen nur dann zu nachhaltigen Ergebnissen, wenn sie fähig sind, die vorgefundene Wirklichkeit grundsätzlich in Frage zu stellen.715

Das Infragestellen bisheriger Erkenntnisse und Grenzen umfasst dabei ebenfalls eine kritische Auseinandersetzung mit hemmend wirkenden Schamnormen. Sowohl für den avantgardistischen Wissenschaftler als auch für den ebenso gearteten Künstler ist es Grundvoraussetzung, sich nicht einem schambelasteten

710 Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1982. S. 11. 711 Ebd. S. 10 f. 712 Ebd. S. 33. 713 Ebd. S. 244. 714 Vgl. ebd. S. 245. 715 Briegleb, T.: Die diskrete Scham. S. 103.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Denkverbot zu unterwerfen, um dazu befähigt zu sein, neue, fruchtbare Wege der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu erforschen.716 Abrufbare Fixpunkte eines kollektiven kulturellen Bewusstseins zu sein, via Einfühlung Erfahrungserlebnisse in der Dialektik aus Nähe und Distanz zu bieten, avantgardistisch Neuland zu erkunden und dabei noch kulturhistorisch als zumindest theoretisch anerkannte Autorität auftreten zu können, sind Punkte, die die Literatur prädestinieren und immer wieder als Referenz- und Beglaubigungsrahmen aufgerufen werden. Entscheidend ist hierbei allerdings die Grundlage aller Literatur : ihre ästhetische Ausformulierung. Die Wirkung der Literatur ist erst in zweiter Linie ihren inhaltlichen Komponenten geschuldet. Maßgeblich ist vielmehr das ›Wie‹ ihrer Aussage. Dem literarischen Werk stehen rhetorische Wege offen, die anderen Formen der schriftlichen Wirklichkeitsauseinandersetzung verschlossen sind. Ihre Art des Argumentierens führt nicht über die strenge Stringenz und die kühle Folgerichtigkeit des vernunftgeleiteten Arguments, sondern (ver-)führt über die Wege der Form den Rezipienten hin zu Zustimmung und emotionaler Teilnahme. In den folgenden Kapiteln soll es nun darum gehen, verstärkt die Eigenheiten und Möglichkeiten der Literatur zu fokussieren, Erfahrungsmomente gleichsam erfahr- wie reflektierbar zu machen. Im Zentrum dabei steht der umtriebige deutschsprachige Gegenwartsautor Wilhelm Genazino. Genazinos literarische Werke eignen sich aus dem Grund für eine tiefer gehende Analyse, da sie sich immer wieder am Phänomen der Scham abarbeiten und darüber hinaus über ein hohes Maß an metareflexivem Gehalt zum Thema Literatur verfügen.

1.0

Sprachstrategien und Motivik

Wilhelm Genazino, geboren 1943 in Mannheim, ist seit Anfang der 70er Jahre als Autor und freier Schriftsteller tätig. Nach einigen Arbeiten als Redakteur bei der 716 Zudem stehen Kunst und Literatur gerade in der Moderne im Verdacht, ein metaphysisches Erbe anzutreten, indem sie Sinnhorizonte aufschließen und mit mystischen Wahrheitsversprechen operieren. Der Kult um Kunst, ihre tempelartigen Museen, die ehrwürdig murmelnde Verehrung von Künstlern in Statuen, Straßennamen, wallstattartigen Geburtshäusern und Grabstätten sowie die Setzung des Kunststrebens als anthropologisches Auszeichnungsmerkmal verleihen der Kunst einen Duft von einer latent sakralen Dignität. »Die Kunst«, wie Dorothea Dieckmann in ihrem Essay Sprachversagen schreibt, »gibt dem Unmitte(i)lbaren Worte und überführt es ins Verständliche, sie fördert das Nächtliche zutage und bringt Schweigen und Schreien zu Verstand.« (Dieckmann, Dorothea: Sprachversagen. Graz, Wien: Literaturverlag Droschl 2002. S. 33) Dermaßen eingebettet und institutionalisiert in einem religiös anmutenden Verehrungsdiskurs stehen Kunst und Literatur gerade als hochgradig gemachte Werke in dem Verdacht, ›Wahrheit‹ sprechen und emotionale Offenbarungsmöglichkeiten anbieten zu können.

Sprachstrategien und Motivik

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Satirezeitschrift ›Pardon‹ und als Autor diverser Hörspiel und nach der frühen Veröffentlichung eines wenig beachteten ersten Romans (Laslinstraße, 1965) setzt seine literarische Bedeutung mit der Abschaffel-Triologie Ende der 70er Jahre ein. Seitdem erarbeitete er sich eine feste Position im gegenwärtigen Literaturbetrieb, u. a. ausgezeichnet 2004 mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Heinrich-von-Kleist-Preis 2007. Neben Romanen und Erzählungen veröffentlichte er auch Theaterarbeiten, Text-Bildkombinationen sowie zahlreiche Essays. Zeichnen sich zwar auch alle Romane Genazinos durchgehend durch wiederkehrende Motive, ähnliche Figurenzeichnungen und besonders durch eine assoziativ anmutende Schreibweise aus, so erlaubt sein bisheriges Œuvre doch zumindest eine grobe Einteilung. Anja Hirsch schlägt hier erstens eine Einteilung nach autobiografisch beeinflussten Texten vor, zweitens thematisch nach Angestellten- und Freiberuflerromanen und drittens nach den formalen Kriterien zunehmender Verdichtung und Verknappung der Erzählsprache.717 Mit dieser Einteilung nach Inspirationslage, Figurenzeichnung und rhetorischer Form ergänzt Hirsch eine Einteilungstendenz, die chronologisch argumentiert und als einen markanten Wendepunkt im Schaffensverlauf den Roman Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz aus dem Jahre 1989 markiert.718 Die von Bucheli mit diesem Roman ausgerufene »kopernikanische Wende in Genazinos Werk«719 äußert sich sowohl inhaltlich wie auch erzähltechnisch. Ab diesem Zeitpunkt wird die Literatur Genazinos zunehmend reflexiver und die Protagonisten kreisen als zumeist spleenige Charaktere vermehrt um sich selbst und um ihren Wahrnehmungsapparat, der sie in der Welt verankert sowie selbst zum Medium erlebter Differenz wird. Getragen wird dies von einem Wechsel in der Erzählperspektive, indem nun die Figur des Ich-Erzählers in den Vordergrund tritt. Es ist gerade diese konsequent subjektiv gebundene Erzählperspektive in Kombination mit einer zunehmend zwischen Artistik und Autismus flackernden Wahrnehmungsapparatur, die die Romane der 1990er und 2000er Jahre auszeichnet, die hier im Zentrum stehen sollen.720 Dabei gibt es, insofern ist 717 Vgl. Hirsch, Anja: ›Schwebeglück der Literatur‹. Der Erzähler Wilhelm Genazino. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2006. S. 15 ff. 718 Vgl. Bucheli, Roman: Die Begierde des Rettens. Wilhelm Genazinos Poetik des genauen Blicks. In: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur. H. 162: Wilhelm Genazino. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag 2004. S. 46 – 54. S. 49. 719 Ebd. 720 Dabei wird in den literarischen Analysen nicht allen Romanen dieses Zeitraums gleicher Platz eingeräumt. Die Untersuchung der ›Typologie‹ der Figuren Genazinos wird beispielhaft an Die Liebe zur Einfalt (1990), Die Kassiererinnen (1998), Ein Regenschirm für diesen Tag (2001), Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman (2003) und Die Liebesblödigkeit (2005) vollführt werden. Auf die Romane Leise singende Frauen (1992), Die Obdachlosigkeit der Fische (1994), Das Licht brennt ein Loch in den Tag (1994), Mittelmäßiges Heimweh

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Hirschs Einspruch gegen das Ziehen einer rein chronologisch ausgerichteten Demarkationslinie im Werk Genazinos berechtigt, seit Anbeginn seines Schaffens wiederkehrende Grundmotive, Personenkonstellationen, Beschreibungsmerkmale. Im klassischen Sinne sind die Romane als eher handlungsarm zu bezeichnen. Zumeist stellen Großstadtkulissen den Hintergrund für ausufernde Beschreibungsorgien von alltäglichen bis banalen Situationsmomenten und Gegenstandstableaus. Genazinos zumeist männliche Hauptprotagonisten sind unruhige Flaneure und sensible Beobachter ihrer selbst und ihrer Umwelt; darüber hinaus bewegen sie sich zumeist nur an den Randbezirken durchschnittlicher Sozialität. Samuel Moser geht sogar so weit, die Figuren Genazinos gerade durch ihre Nicht-Bindungen zu charakterisieren: Genazinos ›Helden‹ sind ›-lose‹: Rastlose, Heimatlose, Biografielose, Gewichtslose, Beziehungslose, die es weder bei sich noch anderswo aushalten. Sie sind auch Schicksalslose, denn das, was sie sind, sind sie nicht durch einen Schicksalsschlag geworden. Sie sind wie vom Himmel gefallen. Genazino gibt ihnen kaum je einen Hintergrund. Sie stammen aus einfachen, vor allem aber unbedeutenden Verhältnissen, die nicht wirklich ins Gewicht fallen, weder positiv noch negativ.721

Dem ist nur bedingt zuzustimmen. In der Tat ist es zwar richtig, dass Genazinos ›Helden‹ innerhalb der groben sozialen Koordinaten zumeist beeindruckend unbeeindruckende Charaktere sind. Es sind ruhige, fast bedächtige Zeitgenossen ohne Hang zum Abenteuer oder zu schillernden Extravaganzen. Ihnen und ihrem Leben mangelt es durchaus an den klassischen literarischen Momenten unerhörter Begebenheiten. Doch Schicksalslose sind sie nicht, vielmehr liegt ihr Schicksal, das sie zu Außergewöhnlichen am Rande des Normalen salbt, gerade in ihrer so gewöhnlichen und vermeintlich bedeutungslosen Herkunft begraben. Es sind vor allem diese ›unbedeutenden Verhältnisse‹, die Moser in dem oben erwähnten Zitat anspricht, die die Figuren Genazinos mit Schicksal anfüllen. Sie unterscheiden sich von ihrer Umwelt nicht durch ihre Biografie, sondern durch ihre geradezu bis zum Exzess überfeinerte Wahrnehmung und Empfindlichkeit dieser Biografie und ihrer Umwelt gegenüber. An ihnen manifestiert sich nicht der Ausnahmefall, die Frage, was passiert, wenn das Ungewöhnliche plötzlich in einen Alltag hereinbricht, sondern sie sind Agenten aus dem Binnenland des Alltäglichen, in deren monologisierenden Reflexionskaskaden plötzlich der Status von Normalität selbst beginnt fragwürdig zu werden.

(2007), Das Glück in glücksfernen Zeiten (2009) und Wenn wir Tiere wären (2011) wird nur am Rande eingegangen. 721 Moser, Samuel: Isola Insula. Aspekte der Individuation bei Genazino. In: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur. H. 162: Wilhelm Genazino. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag 2004. S. 36 – 45. S. 40.

Sprachstrategien und Motivik

1.1

233

Wahrnehmen und Ordnen

Die Auflösung und Entverselbstständlichung von Alltag und Wirklichkeit im Entwicklungsgang der Figuren Genazinos ist maßgeblich eine Frage des Blicks und der fortschreitenden Assoziation. Das visuelle Abtasten der Dinge im Raum und deren Verknüpfung in einem Strom von Gedanken sind niemals zu Ende gehende Welterschließungen und Positionierungsversuche des Ichs. Dabei geht es weniger um eine Inbesitznahme. Zuerst und vor allem steht das Sehen als Registratur, als erzwungene Weltkonfrontation buchstäblich im Raum. Beispielhaft sei hier der Einstieg in Genazinos Roman Die Liebesblödigkeit wiedergegeben: Ich betrachte eine junge Mutter, die sich eine Daumenspitze anfeuchtet und ihrem kleinen Kind einen braunen Fleck auf der rechten Wange wegreibt. Das Kind schließt die Augen und hält der Mutter ruhig das Gesicht hin. Danach folge ich einer offenbar verwirrten Frau, die kurz nacheinander drei halbvolle Mülltonnen umwirft und dabei halblaut schimpft, dann aber umkehrt und die Mülltonnen wieder aufstellt. Zwei Halbwüchsige springen mehrmals auf die untere Plattform einer Rolltreppe, um sie zum Stillstand zu bringen. Aber die Rolltreppe leistet Widerstand und bleibt nicht stehen. Die beiden Jungen verhöhnen dafür die Rolltreppe und ziehen dann weiter. Wieder tritt die Frage an mich heran, ob ich mich für das, was um mich geschieht, interessieren soll oder nicht. Über die Breite einer ganzen Schaufensterscheibe steht mit großen weißen Buchstaben: Zwei Pizzen zum Preis von einer. Ich überlege, ob ich mit Sandra oder Judith dieses Lokal besuchen soll. Aber Sandra mag keine Pizzen und Judith keine Steh-Lokale. Gegen meinen Willen denke ich im Weitergehen über das Pizza-Angebot nach. Es kann nur funktionieren, wenn man gerade jemanden bei sich hat, der zufällig ebenfalls Hunger und außerdem ein bißchen Zeit und nichts gegen diese Pizzeria, das heißt vor allem nichts gegen die fürchterliche Musik einzuwenden hat, die aus der offenen Tür auf die Straße herausdröhnt. Diese Voraussetzungen treten vermutlich niemals gleichzeitig ein. Ein Scheinangebot! denke ich still triumphierend und vergesse die Pizzeria. Ich schaue einem Sightseeing-Bus nach und belustige mich ein bisschen über ihn.722

Dieser Romaneinstieg ist in mehrfacher Hinsicht geradezu klassisch genazinohaft; neben der Kombination aus Sehen und Gehen wird in dieser kurzen Passage ein ganzes Tableau wiederkehrender Motive und Archetypen vorstellig. Mutter-Kind-Arrangements, Reinigungsprozeduren, halbverrückte Menschen in der Öffentlichkeit, widerständige Alltagsgegenstände, trügerische Werbeangebote, Stehlokale und unerbittliche Berieselungsmusik – all diese Sujets sind wohlbekannte Wegmarken innerhalb der Prosa Genazinos. Die grundlegende Struktur der Weltauseinandersetzung lässt sich dabei auf wenige Elemente re722 Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit. 4. Auflage April 2008. München, Wien: Carl Hanser Verlag 2005. S. 7 f.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

duzieren: Am Anfang steht ein wahrnehmendes ›Ich‹, das einer Fülle an vorgegebenen Sehanreizen ausgeliefert ist. Nach einer ersten neutralen, geradezu nüchtern-phänomenologischen Beschreibungsebene bricht die Frage nach dem Verhältnis von ›Ich‹ und vorgefundener Welt hervor. Die Beschreibung kippt in eine ethische Angelegenheit in dem Moment, in dem das ›Ich‹ sich dieser vorgefundenen Welt gegenüber zu positionieren hat. Die Frage nach interessierter Anteilnahme stellt sich dabei lediglich als rhetorische; unabhängig vom eigenen Begehren nimmt die Faktizität der Wirklichkeit in Form eines Pizza-Angebotes die Wahrnehmung in Geiselhaft und erzwingt gegen den Willen des ›Ichs‹ einen Gedanken- und Verarbeitungsgang. Doch gerade innerhalb dieser auferzwungenen Bearbeitung finden Emanzipation und Erlösung statt; das Scheinangebot wird als solches enttarnt, der besitzergreifende Wirklichkeitsschnitzer gleitet fort ins Vergessen; doch schon wartet der nächste Reiz. Beschreibungskaskaden wie zum Einstieg in Die Liebesblödigkeit sind durchgängig erzähltechnisches Programm bei Genazino. Werner Jung hält dazu in seinen Überlegungen zu einer ›literarischen Phänomenologie der Wahrnehmung‹ bei Genazino fest: Ob nun durch dieses lange Schauen, durch intensives Betrachten und kontemplatives Wahrnehmen oder durch den eher flüchtigen Blick und ein plötzliches Aufmerken – immer geht es Genazino um diesen Kern: die Konstruktion des Textes aus dem wahrnehmenden Blick[…].723

Mit der Wahrnehmung und der Auseinandersetzung im Inneren der Figuren geht die Textwerdung einher. In einem einzigen andauernden Transformationsprozess kommt eine Stafette temporärer Ordnungen zu Stande. Die ständig mit Überforderung drohende Welt wird so in kleinen Portionen handhabbar gemacht und verliert an Bedrohungspotential. In diesem Sinne machen die Figuren Genazinos sich die Welt Untertan, in diesem Sinne domestiziert auch Kunst als reflektierende Teilauseinandersetzung die Wirklichkeit. Beide Momente sind Versuche der Autonomiegewinnung. Auch wenn Genazinos Protagonisten nicht immer ausdrücklich als Schriftsteller bzw. Künstler auftreten, so geht von ihnen gerade durch ihren extrem reflektierenden und sprachorientierten Umgang mit Wirklichkeit etwas Künstlerisches aus. Dies geschieht, mag es auch noch so harmlos im Gewand einer Entlarvung eines profanen Pizzasonderangebotes daherkommen, zumeist kritisch. Das Wahrgenommene wird abgeklopft, in Gedanken und Sprache übersetzt, als Erkanntes wieder freigesetzt und fügt sich so zu einer Ordnung. Diese Ordnung geht dabei nicht von einer Rahmengebung im Großen und Ganzen aus, sondern entfaltet sich vielmehr von 723 Jung, Werner : ›Umhergehen und Zeitverschwenden‹. Skizze zu einer literarischen Phänomenologie der Wahrnehmung. In: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur. H. 162: Wilhelm Genazino. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag 2004. S. 65 – 69. S. 68.

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235

der entgegenliegenden Seite kommend aus dem Detail heraus. In Bezug auf die wiederkehrenden Kulissen von Meer und Stadt in Genazinos Romanen hält Hirsch fest: »Orientierung gewinnt, wer die bedrückende Unüberschaubarkeit der Räume durch die Reduktion dieser Räume auf winzige Details mildert.«724 Auf den genuin poetischen Gehalt dieser Reduzierung verweist auch Norbert Otto Eke in seinem Aufsatz Epiphanische Augen-Blicke. Die Gleichschaltung von fiktiv-subjektiver Wahrnehmung und Textkörper zielt in letzter Instanz auf den Leser als Ort der poetischen Wirklichkeitsentfaltung ab; dem Rezipienten wird »ein ›anderer‹ Blick (auf die Wirklichkeit) von der Seite des Gewohnten, Alltäglichen und zugleich Fremden und Befremdlichen her«725 geboten, sodass sich ein »Schau-Spiel der Blickinszenierungen entfaltet […] in der Dialektik von Fremdheit und Vertrautheit.«726 Die Prozedur der Verkehrung von Vertrautheit und Fremdheit ist das Ergebnis einer nie stillstehenden Reflexion und einer Dialektik aus Entverselbstständlichung und Ordnung. Eke schreibt hinsichtlich der Wahrnehmungsstruktur : Die Alltagswirklichkeit ist zunächst einmal etwas, das wahrgenommen werden kann: sichtbare Präsenz, deren Dimension erst in der Reflexion Leben und Bedeutung gewinnt, im Zwischenraum also zwischen dem, was das Auge wahrnimmt, und dem nicht Sichtbaren, dem erst mit dem ›inneren Auge‹ Wahrnehmbaren.727

Zu Recht weist Eke im Folgeschluss darauf hin, dass in diesem »Weiterdenken […] über den Augen-Blick hinaus«728 eine »Verlängerung des Sehens in den Innenraum«729 stattfindet. Zur bloßen Perzeption tritt via fortgeführter Reflexion die Konstruktion hinzu, also ein originell artifizieller Akt mit dem Ergebnis, Alltag in Text transformiert zu haben. In diesem Sinne sind die Texte Genazinos ein »Versuchsfeld eines ästhetischen Aneignungsprozesses von Wirklichkeit.«730 Die gleichsam reduzierende wie ordnungsstiftende Funktion greift dabei nicht nur die Welt in ihrer Gleichzeitigkeit auf, sondern organisiert auch auf der zeitlichen Ebene die Geschehnisse. Die Schilderungen und die Bearbeitungen von Erinnerungen, vor allem an Kindheit und Eltern, gehören zum Standardhaushalt innerhalb der Motivik Genazinos. An dieser Stelle sei zur weiteren 724 Hirsch, A.: ›Schwebeglück der Literatur‹. S. 245. 725 Eke, Norbert Otto: Epiphanische Augen-Blicke. Inszenierungen der Alltagswahrnehmung in der Prosa Wilhelm Genazinos und Angela Krauß’. In: Alltag als Genre. Hrsg. v. HeinzPeter Preusser und Anthonya Visser. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2009. S. 177 – 190. S. 177. 726 Ebd. 727 Ebd. S. 179. 728 Ebd. 729 Ebd. 730 Ebd. S. 190.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Verdeutlichung erneut aus dem Einleitungskapitel zu Die Liebesblödigkeit eine längere Passage zitiert, die sich an die obige Reihe von Beobachtungen und Assoziationen anschließt: Mich fesselt eine verwahrloste Frau, die neben dem Eingang eines Kaufhauses steht und junge Katzen verkauft. Zwei Tiere trägt sie auf der Armbeuge, weitere Tiere befinden sich in einem Karton, der zu ihren Füßen steht. Ein ebenfalls verwahrlostes Kind hält den Deckel des Kartons zu. Zwei größere Kinder tun so, als seien sie behindert. Sie legen ihre nach vorne gestreckte Zunge auf die Unterlippe und lallen dazu. Sie können die Vorstellung nicht lange durchhalten, dann brechen sie in Gelächter aus. Ich weiß nicht, warum mich die Kinder an meinen ersten Schultag im Gymnasium erinnern. Bevor der Unterricht losging, trat damals eine Ärztin vor die Klasse und sagte, daß wir untersucht werden. Sie rief die Kinder in alphabetischer Reihenfolge auf und griff jedem Jungen in die Hose. Sie griff am Penis vorbei und suchte nach den Hoden. Denn sie mußte nachprüfen, daß die Hoden richtig nach außen getreten waren und ordentlich in dem für sie vorgesehenen Säckchen lagerten. Zwei Jungen (einer von ihnen war ich) fielen in Ohnmacht, vermutlich deswegen, weil wir so den Nachforschungen der Ärztin aus dem Weg zu gehen hofften. Tatsächlich durften wir uns eine Weile auf eine Bank legen und schienen gerettet. Aber als wir wieder zu uns kamen, öffnete uns die Ärztin unter den Blicken der Klasse den Hosenladen und überprüfte, jetzt sogar bei heruntergelassenen Hosen, per Augenschein die Lage unserer Hoden. Ich frage mich, warum mein Gedächtnis diese Szene aufbewahrt hat. Sandra hat mir am Telefon den Auftrag gegeben, ich solle ein paar Pfirsiche, ein Viertel spanische Salami und ein kleines Weißbrot mitbringen.731

Erneut ausgehend von Alltagsbeobachtungen und -beschreibungen sieht sich der Ich-Erzähler uneinsehbaren Mächten ausgesetzt, in diesem Fall einem plötzlich einbrechenden Erinnerungsfragment. Auch die Erinnerung selbst kommt wieder im nüchternen Kleid einer sachlichen Erzählung daher, dreht sich aber um eine als peinigend empfundene Sache. Geradezu ironisch geht es dabei um die Ordnung und die Details des Knabenkörpers. Und wie der erwachsene Ich-Erzähler nicht seiner Erinnerung entgehen kann, so ist auch dem einst gewesenem ›Ich‹ zwar ein kurzer Aufschub, aber kein Entgehen beschieden. Vielmehr wird durch das Hereinführen und Vervielfältigen der Sichtbarkeit – mit heruntergelassenen Hosen vor den Blicken der Ärztin und der Klasse – das Ausgeliefertsein noch dramatisiert. Doch so plötzlich die Erinnerung an die Genitaluntersuchung einsetzt, so schnell wird sie letztlich vom Strom der Gedankengänge wieder fortgerissen; allerdings nicht, ohne assoziativ im Bild der Pfirsiche, der spanischen Salami und des kleinen Weißbrotes nachzuklingen. Allgemein sind Erinnerungen in Genazinos Romanen zumeist von zweischneidiger Natur. Einerseits brechen Sie als störende und herrische Motive immer wieder und plötzlich hinein in den Alltag der Protagonisten. Andererseits 731 Genazino, W.: Die Liebesblödigkeit. S. 8 f.

Sprachstrategien und Motivik

237

gewinnen diese Figuren ihre Identität gerade durch die wiederholende Arbeit an ihren Erinnerungen. Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, Gegenwart und Vergangenheit, Welt und gedankliche Transformation in Sprache fließen in eins und stellen das Konglomerat der Identitätsstiftung. In Anlehnung an Genazinos Die Liebe zur Einfalt schreibt Claudia Stockinger im Hinblick auf die Bedeutung von Kindheitserinnerungen und Gegenwartsbeobachtungen: Im erzählerischen Nachvollzug einzelner Erinnerungsfragmente entsteht ein nichtlineares, spekulatives Bild der eigenen Vergangenheit, das im Akt der Reflexion eine ans Unerträgliche grenzende Präsenz erhält. Die Beobachtung der unmittelbaren Umgebung bildet sich vor diesem Hintergrund als eine wirksame poetische Strategie aus, von den Zwängen der Erinnerung selbst abzulenken […]. Allerdings verweisen die dadurch entstehenden Zwänge zur Beobachtung erneut auf die erinnerte Vergangenheit zurück.732

Raum und Zeit sind vorgegebene Dimensionen, in denen sich die Subjekte Genazinos hineingeworfen wiederfinden. Konfrontiert mit dieser Wirklichkeit überwinden sie das Widerständige der Welt in reflexiver Auseinandersetzung und schaffen in der beschreibenden Übersetzung der Dinge in Sprache eine fortlaufende Reihe an Ordnungsmomenten. Diese Ordnung wird durch hereinbrechende Ereignisse und neue Wahrnehmungen immer wieder gestört, sodass auch der Reflexionsfluss letztlich keinen Abschluss erhält.

1.2

Alltag, Dinge und das Motiv des Rettens

Einhergehend mit der Ordnung im Kleinen und der Verortung des Ichs im Alltag gewinnt das Verhältnis der Protagonisten zu den unmittelbaren Dingen in ihrer Umgebung an Bedeutung. Vermeintliche Belanglosigkeiten werden hier zu ernsthaften Fragen des Verhaltens und verlangen Stellungnahmen. Auch diese Forderungen brechen durch äußere Ereignisse und Reize über das Ich herein; ebenfalls greifen hier das Prinzip des assoziativen Übersprungs und das EwigProvisorische temporärer Bewältigungen. Dies lässt sich beispielhaft illustrieren mit einer Passage aus Die Liebe zur Einfalt, in der eine Plastikgabel zum Ausgangspunkt einer Überlegungs- und Überforderungskette wird: Auf dem Pflaster, ziemlich genau in der Mitte zwischen zwei Straßenbahnschienen, liegt eine Plastikgabel. Sauber und unversehrt hebt sie sich ab von den dunklen und ein wenig feuchten Steinen. Ich bleibe stehen und spüre das Bedürfnis, die weiße Plas732 Stockinger, Claudia: Das Leben ein (Angestellten-)Roman. Wilhelm Genazinos Ästhetik der Wiederholung. In: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur. H. 162: Wilhelm Genazino. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag 2004. S. 20 – 28. S. 23.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

tikgabel aufzuheben und in eine Schublade zu legen. Doch dann fällt mit wieder ein: Die Gabel ist ja nur aus Plastik! Und außerdem liegt sie ja auf der Straße! Ist nicht alles, was aus Plastik ist und auf dem Boden liegt, automatisch zu Abfall geworden? Weil ich die Gabel nicht retten kann, schau ich sie an.733

Was diesem Ausgangspunkt folgt, ist wieder eine nüchterne Beschreibung der physischen Beschaffenheit der Gabel; dies wird aber ergänzt durch die Beobachtung des Ich-Erzählers, dass niemand der vorbeigehenden Passanten auf die Gabel tritt: »Zu gerne möchte ich den einen oder anderen Passanten anhalten und fragen«, so der Gedankengang des Ich-Erzählers ›Wilhelm‹ in Die Liebe zur Einfalt, »ob es Zufall ist oder, wie ich glaube, ob es in ihnen ein schützendes Verhalten gibt, das sie die Gabel schonen läßt.«734 Den Impulsen, die Gabel zu retten und vorbeigehende Passanten zu befragen, wird letztlich nicht nachgegeben und somit bleiben die sozialen Selbstverständlichkeiten – Plastik auf dem Boden ist Müll, fremde Menschen spricht man nicht einfach an – gewahrt. Konterkariert wird dies konkrete Verhalten allerdings durch die prinzipielle Überlegung zu einem allgemeinen menschlichen Trieb zur Schonung der Dinge. Im Anschluss an das vorige Zitat geht es wie folgt weiter : Ein jüngerer Mann mit Nasenbluten ist praktisch der einzige, der die Gabel nicht beachtet. Oder doch? Der Mann hält sich ein Taschentuch gegen die Nase und schaut nur auf die Blutflecke in seinem Taschentuch. Er geht dicht an der Plastikgabel vorbei und verfehlt sie, denke ich, nur aus Zufall. Ich glaube, mein Herz schlug ein wenig schneller, weil ich ein paar Augenblicke lang befürchtet hatte, daß es in wenigen Sekunden ein knackendes Geräusch geben wird. Aber dann ist die Zerstörung der Gabel doch ausgeblieben. Ich schaue dem Mann mit dem Nasenbluten ein wenig nach und sehe, daß aus derselben Richtung mein Freund Theo auf mich zukommt.735

Mit der Figur Theo findet nun eine Verschiebung statt. Der ursprünglich der Gabel geltende, doch nicht vollzogene Rettungswunsch gleitet nun auf diese Person über. Theo, der offensichtlich sozial abgerutscht ist und zusehends zu verwahrlosen beginnt, wird einerseits eingebunden in den Gabelfall und erweist sich als brüderlicher Komplize im Geiste. Doch während Theo sich nun dieser ursprünglichen Problematik widmet und überlegt, an welchen sicheren Ort die Gabel gelegt werden könnte, hat sich andererseits das Interesse des Ich-Erzählers schon verschoben hin auf Theo und die mehreren ineinander verschobenen Plastiktüten, die dieser mit sich herumträgt. War die Gabel noch vermeintlich Ding an sich, rettenswert um ihrer selbst willen, übernehmen die Plastiktüten einen verweisenden Charakter an: »Ich begreife, daß die Plastiktüten ein 733 Genazino, Wilhelm: Die Liebe zur Einfalt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1990. S. 150. 734 Ebd. 735 Ebd. S. 150 f.

Sprachstrategien und Motivik

239

Kampfzeichen sind. Theo befindet sich in einem Krieg.«736 Hieran schließen sich dann allgemeine Gedanken über den kampfgebietartigen Alltag in marktkapitalistischen Gesellschaftsgefügen an: Die heute Kämpfenden wissen nicht recht, wer oder was sie angreift und gegen wen oder was sie sich wehren müssen. Sie wissen nicht einmal genau, wann und warum ihnen der Krieg erklärt wurde. Sie gehen nur immer wieder auf ein sonderbar ruhiges Schlachtfeld, von dem sie jeden Tag ein wenig elender zurückkehren.737

Der Fokusverschiebung gemäß richtet sich das Interesse des Erzählers an Hilfestellung nun auf Theo. Allerdings geht es nicht darum, Theo als Objekt der Hilfe zu degradieren, sondern vielmehr soll er über die Dimension der DingRettung in der Würde des eigenständig Handelnden gehalten werden. Der Plan geht dahin, Theo in die Wohnung des Ich-Erzählers zu locken, wo er mit scheinbar achtlos herumliegenden und damit selbst schon fast Abfall gewordenen Kleidungsstücken konfrontiert werden soll: »Dann werde ich sagen«, so der konspirative Gedankengang Wilhelms, »daß ich die Hose, die Jacke und die Schuhe nicht mehr benötige und daß ich die Stücke wahrscheinlich wegwerfen werde, früher oder später. Dann soll Theo auf die Idee kommen, daß die Sachen gerettet werden müssen.«738 Kurzerhand verschwindet das Gabel-Problem aus dem Bewusstsein des Ich-Erzählers. Stattdessen läuft die Operation zur kleinen Rettung Theos an – klein, da es nicht um den großen Sieg auf dem Schlachtfeld des gemeinen Lebens geht, sondern lediglich um eine Besitzverschiebung von Kleidungsstücken –, welche am Ende nicht im geplanten Sinne verläuft, da Theo trotz aller Anreize letztlich als große Unbekannte die Gleichung nicht aufgehen lässt und ohne die Kleidung die Wohnung verlässt; »[r]uhig zieht er in den Krieg.«739 Genazinos Interesse an alltäglichen Gegenständen und vermeintlichen Banalitäten trägt oftmals ein bestimmtes Motiv bzw. eine bestimmte Motivation in sich, nämlich den Wunsch der Rettung von etwas oder jemandem. Den Punkt des Rettens stellt auch Bucheli ins Zentrum seiner Überlegungen zu Genazino: Mit großer Hingabe halten sie[, die Figuren Genazinos,] sich alle an den Dingen fest: Von ihnen versprechen sie sich Rettung, und ihnen verheißen sie Rettung. Es sind keine Fetischisten der Warenwelt, mit dem größten Respekt vielmehr treten sie den Dingen 736 737 738 739

Ebd. S. 152. Ebd. S. 152 f. Ebd. S. 153. Ebd. S. 156. Auch wenn die Theo-Rettung in diesem Fall fehlschlägt, so beweist sie doch strategische Weitsicht in Planung und Vollzug. Ein gelingendes Beispiel einer durchgeplanten und vollzogenen Wohltat dem Mitmenschen gegenüber findet sich in dem Roman Leise singende Frauen. Dort ist es das Verteilen von Nahrungsmitteln in Abfallkörben, die plangemäß einem Obdachlosen zugutekommen. (Vgl. Genazino, Wilhelm: Leise singende Frauen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1992. S. 55 ff.)

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

gegenüber. Ein seltsamer Atavismus scheint darin seinen Ausdruck gefunden zu haben. Eine Scham – hervorgegangen aus dem Bewusstsein um den durch lauter Gewohnheit verächtlich gewordenen Verkehr mit allem Gegenständlichen – gibt Genazinos Figuren diese pietätvolle Ernsthaftigkeit im Umgang mit den Dingen ein.740

Die Dinge, denen das Begehren des Rettens gilt, sind dabei letztlich oftmals funktionalisiert und ausgerichtet auf die Protagonisten Genazinos. Zu der Funktion, Ausgangslage von Ordnungsmomenten zu werden, gesellt sich die Folge, dass die Dinge an Bedeutung gewinnen und aus dem Trott der ansonsten üblichen Nicht-Beachtung befreit werden, so dass eine symbiotische Beziehung mit beiderseitigem Gewinn entsteht. Dazu Bucheli: In seinen Büchern gewinnen die Figuren unter den Dingen ihre zuverlässigsten Verbündeten. Sie sind in dieser imaginierten Welt die Hauptdarsteller, fast wichtiger noch als die Protagonisten selbst. Genazino geht ganz nah an die Welt im Kleinen heran. Die geringste Erscheinung gilt ihm so viel wie der Blick auf das Große und Ganze. Er reißt die Dinge aus ihrer Unscheinbarkeit und holt sie aus Geringschätzung und Missachtung zurück.741

Wieder geleitet durch den konsequenten Einsatz eines Ich-Erzählers gewinnen die Dinge und die alltäglichen Momente eine doppelte Würde. Zum einen werden sie als Stellvertreter für das Heer tatsächlich gegebener Kleinigkeiten und Alltäglichkeiten im Medium der Kunst/des Romans aus der Sphäre des ansonsten unachtsam Geschmähten herausgehoben. In diesem Sinne steht die weiße Plastikgabel in Die Liebe zur Einfalt pars pro toto für die ästhetische Würde der Dinge des Alltags. Zum anderen steigert ihre textinhärente Bedeutung für die Figuren Genazinos zusätzlich den Anspruch, bedeutend zu sein. In diesem Sinne ist die Gabel nicht nur ästhetischer Gegenstand, sondern der Umgang mit ihr wird zu einer Frage der Ethik und Verantwortung. Die Folie, vor der sich die Solidarisierung mit den Dingen abspielt, ist die Bedrohung durch das Verschwinden. Bucheli hält bezüglich der Figuren Genazinos fest: Seinen Figuren (so sehr wie übrigens den Dingen) droht stets und überall das Verschwinden. Dagegen stemmen sie sich, darum mobilisieren sie, was in ihrer Reichweite liegt: Die Dinge sind ihnen eine Rückversicherung der Existenz.742

In der Tat ist es so, dass die Thematik des endgültigen Verschwindens, der Tod, zu den wiederkehrenden Motiven im Œuvre Genazinos gehört und auch in Die Liebe zur Einfalt zentral gesetzt ist. Der Tod der Eltern steht als Motiv am Beginn des Romans und bestimmt den Handlungsverlauf. Immer wieder bricht in der dargestellten Welt des Alltäglichen das menschliche Sterblichkeitstrauma auf 740 Bucheli, R.: Die Begierde des Rettens. S. 46. 741 Ebd. 742 Ebd. S. 47.

Sprachstrategien und Motivik

241

und zwingt die Gedankengänge hin auf das endgültige Verschwinden im Tod. Zur Verdeutlichung einige markante Passagen aus dem Roman: Ich habe eine Weile sogar geglaubt, der Tod des Vaters habe mich nicht getroffen. Aber jetzt ist Mutter tot, und das bedeutet für mich, daß meine Eltern auf einmal gemeinsam gestorben sind. Die Gewißheit, daß sie nicht nur tot, sondern für alle Zeiten verschwunden sind, versetzt mich selber in ein Todesgefühl, vor dem ich mich zur Zeit nicht recht schützen kann.743

Später heißt es: Zu Hause, in der Wohnung, lebe ich stundenlang, ohne den Tod zu spüren. Kaum bin ich draußen auf der Straße, fühle ich eine feindliche Beschleunigung allen Lebens, und ich bin sicher : dies ist sein Anhauch.744

Angesichts einiger Leute im Caf¦: Wenn sie ihre Einkäufe hinter sich haben, sitzen sie stumm da und trinken eine Tasse Kaffee. Ihre äußere Erscheinung erinnert nicht an den Tod, im Gegenteil, ihre Kleider, ihre Frisuren und ihre Bewegungen sind eine dauernde Herbeirufung des Lebens, das dann doch nicht recht kommen mag. So sitzen sie erschöpft und schwer atmend in kleinen Sesseln, und zuweilen, in Augenblicken bewegender Ratlosigkeit, bringen sie ihn hervor, den Todesschreck.745

Ebenfalls in einem Caf¦: Ich führe die Tasse an die Lippen und spüre, daß sich das Todesgefühl jetzt gegen mich wendet. Ich möchte ein anderes Kind gewesen sein, eines, das seine Eltern freudig annimmt. Aus Versehen beiße ich in die Sahne, es ist, als schmeckte ich die Fadheit des Sterbens.746

In einer verqueren Koppelung von Tod und Sein wird deutlich, wie der Tod der Eltern zur Grundlage der eigenen Identitätsbestimmung des Dichters – ›Wilhelm‹ in die Die Liebe zur Einfalt ist Schriftsteller – wird: Seit einiger Zeit halte ich es für möglich, daß mich erst der Tod der Eltern zu einem Dichter gemacht hat. Nicht zu einem Dichter, der zu Hause sitzt und regelmäßig Werke verfaßt, sondern zu einem Dichter, der auf der Straße umgerissen wird von den in seinem Inneren aufgesparten Bildern. Durch das wirkliche und endgültige Verschwinden der Eltern ist in mir ein fiebriges Flimmern entstanden, in dem mir die Welt zum erstenmal poetisch, daß heißt wie verloren vorkommt. Und ich bin jetzt derjenige, der dieses verlorene Flimmern aufsuchen muß, ehe auch dieses verschwindet.747

743 744 745 746 747

Genazino, W.: Die Liebe zur Einfalt. S. 8. Ebd. S. 52. Ebd. S. 53. Ebd. S. 57 f. Ebd. S. 59.

242

Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Auch in sprachlicher Bearbeitung und anthropologisch durchfärbt wird der Todesdiskurs geführt: Wenn ich ein Tier wäre, würde ich Todesgefühle wahrscheinlich nicht kennen. Oder ist es eine Wehe? Das Wort Todeswehe trifft die Sache, um die es geht, viel besser, jedenfalls im Augenblick. Es drückt den ankommenden und wieder verschwindenden Schmerz aus; und es deutet zugleich an, daß jeder seinen Tod ein Leben lang auf die Welt pressen muß wie ein eigenes Kind.748

Gleichsam wie Erinnerungen und die Auseinandersetzung mit dem Tod nicht nur für Die Liebe zur Einfalt bedeutend sind, sondern werkübergreifend zur Motivik gehören, sind auch die Flüchtigkeit und das Verschwinden der Dinge textstiftende Elemente in den Romanen Genazinos, wie Hirsch festhält: Das Verschwinden regelt sehr genau die Struktur der Texte, indem es nicht nur die Figurenführung und Blicke bestimmt, auf- und abblendet, umwertet und Deutungen schließlich ganz aufhebt, sondern selbst immer wieder als Thema von Reflexionen anschaubar gemacht wird. Das Nachdenken über das Verschwinden wird zum Nachdenken über das Schreiben und ganz unauffällig selbst zum Stoff dieser Prosa, der Bruchstellen kittet und so erst merkbar macht.749

Bevor im kommenden Kapitel auf die in diesem Zitat schon angesprochene Bedeutung des Schreibens eingegangen wird, sei hier allerdings unter Berücksichtung eines zweiten Beispiels aus Die Liebe zur Einfalt noch etwas bei den Dingen und der sich stellenden Aufgabe der Rettung verblieben. Bezeichnenderweise setzt auch diese Episode aus dem Alltag des Ich-Erzählers mit Gedanken über den Tod ein: Ich sah das Fischlokal von weitem und dachte: Ich ertrage es nicht, mir die Mutter künftig als tote Mutter vorzustellen, und zwar immer wieder und ausschließlich, deswegen werde ich in tödlicher Eile eine Gräte verschlucken, die etwas zu lang und etwas zu stark für mich sein wird. Ich befand mich dicht vor dem Eingang der 748 Ebd. S. 67 749 Hirsch, Anja: Zwischen Lust und Angst. Erzählen im Zeichen des Verschwindens. In: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur. H. 162: Wilhelm Genazino. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag 2004. S. 70 – 78. S. 76 f. Das Verschwinden in Kombination mit dem Problem des Erinnerns strukturiert dabei durchgängig Genazinos Roman Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Dem Verschwinden des eigenen Lebens in der Zeit und der Belanglosigkeit wird das Projekt des Verteilens von Erinnerungen auf Freunde und Bekannte entgegengestellt. Die Externalisierung der Erinnerungen trotzt dabei der Zeit und dem Vergessen, das Anreichern der Erinnerungen mit verschiedenen Versionen generiert Refugien in Abgrenzung zur herrischen Wirklichkeit. Der Protagonist ›W.‹ hält fest: »Ich denke, eine umgebaute Erinnerung ist nichts weiter als ein Versteck, vielleicht das Beste, was es für uns gibt, weil sich sein Ort im Bewußtsein verbirgt, unauffindbar. Erinnerungen sind Spielzeuge, die wir uns selber bauen.« (Genazino, Wilhelm: Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996. S. 104)

Sprachstrategien und Motivik

243

Schnellgaststätte, und ich fühlte, daß sich meine Panik und meine Trauer in eine unausweichliche innere Verhetztheit verwandelt hatten, die gut zu meinen Absichten paßte, da stieß ich mit meiner Armbanduhr gegen einen eisernen Lampenmast. Das Glas über dem Zifferblatt zersprang und fiel in hundert winzigen Splittern auf die Straße. Ich war begeistert und verwirrt, weil ich nicht wußte, was dieser Zwischenfall bedeuten sollte. War meine Zeit tatsächlich abgelaufen?750

Dieser für Genazino typischen Ausgangslage – alltäglicher Besuch eines Fischrestaurants, Erinnerung an die Mutter und Gedanken über den Tod – folgt mit der Frage nach der abgelaufenen Zeit eine erste, recht banale Übertragung der Geschehnisse ins Symbolische. Die Situation gewinnt allerdings an Spannung, wenn es wie folgt weitergeht: Ich betrat das Fischgeschäft und stellte mich in eine Reihe mit den wartenden Rentnern, die an diesem Tag weit in der Überzahl waren. Ich wartete und sah auf meine halb zerstörte Armbanduhr, deren Zeiger weitertickten. Zum erstenmal sah ich, daß der Sekundenanzeiger, wenn er weiterrückte, selbst ein wenig zitterte. Der Sekundenanzeiger beeindruckte mich, und ich bemerkte, daß er mich aus meiner üblen Stimmung herauszog. Solange das Glas über dem Zifferblatt war, hatte ich das Zittern des Sekundenanzeigers nie beachtet. Jetzt sah ich, daß die Uhr selbst erregt war über die Zeit, die sie anzeigte! Das Glas war nicht komplett herausgefallen. Rings um das Zifferblatt waren kleine scharfe Splitter steckengeblieben. Ich entfernte sie nicht, denn auch diese kleinen Splitter gefielen mir. Ich wollte, daß die Leute im Fischgeschäft meine halbzerstörte und doch funktionierende Uhr bewunderten. Aber sie bemerkten sie nicht einmal; sie stierten auf ihren Rotbarsch und auf ihren Kabeljau und sahen nichts.751

Der in seiner Banalität unerhörte Vorfall eröffnet neue Aufmerksamkeitshorizonte; bisher Unbeachtetes rückt in die Wahrnehmung, der beschädigte Gegenstand wird bewunderungswürdig, die emotionale Befindlichkeit des Protagonisten wandelt sich. Zugleich skizziert diese Episode die Differenz zwischen dem Ich-Erzähler und seinen Mitmenschen und weist ihn als besonders fein gestimmtes Instrument der Weltwahrnehmung aus. Direkt im Anschluss heißt es weiter : Ich begreife das nicht! Wenn ich in der Nähe anderer Menschen bin, studiere ich alle ihre Einzelheiten. Ich nahm meinen Teller und stellte mich an die Theke, ich begann zu essen und sah auf meine kaputte Armbanduhr, ich beobachtete von Sekunde zu Sekunde das Zittern des Zeigers und merkte an meiner wachsenden Aufmerksamkeit, daß ich gerettet war. Meine Zunge tastete jeden Bissen beinahe zärtlich nach Gräten ab; es machte ihr nicht die geringsten Schwierigkeiten, jeden Widerstand im Mund sofort ausfindig zu machen. Es war plötzlich eine Freude zu leben: mit dieser Zunge!752 750 Genazino, W.: Die Liebe zur Einfalt. S. 72 f. 751 Ebd. S. 73. 752 Ebd. 73 f.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Die Angelegenheit des Rettens ist eine gegenseitige. Der Unfall der Uhr exponiert sie zum Gegenstand außerordentlicher Achtsamkeit und wirkt auf den Ich-Erzähler zurück. Wo Todesgedanken herrschten, blüht nun durch die Sorge um die Uhr Zuversicht und Lebensbejahung auf; dem Tod der Mutter bzw. der Eltern wird das Prinzip des sorgenden Lebens entgegengestellt. Deutlich tritt dies zu Tage, wenn der Ich-Erzähler das Fischrestaurant verlässt und wieder auf die Straße tritt: Ich achtete darauf, daß ich während des Gehens den Sekundenanzeiger nicht berührte. Ich hatte nicht gewusst, wie sehr sich der Tag ändert, wenn man auf ein kleines Ding aufpassen muß. Es fiel mir ein, wie es wäre, wenn ich auf ein lebendes kleines Ding aufpassen müßte, auf ein Kind, das ich mir manchmal schon gewünscht habe.753

Es lässt sich sagen, dass das besondere Verhältnis der Figuren Genazinos zum Alltag und zu den Dingen ihren außerordentlichen Wahrnehmungs- und Assoziationsfähigkeiten geschuldet ist. Als sensible Beobachter sind sie jederzeit den Einbrüchen unerwarteter Reize, Anforderungen und Gedankengänge ausgesetzt. Den Gegebenheiten herrisch unterworfen, bringt erst ein ordnend-reflexives, im Medium der Sprache geleistetes Durchdenken die Situationen einigermaßen unter Kontrolle. Auch bringen Dinge eine symbolische Funktion mit ein. So stehen die Plastiktüten Theos zeichenhaft in Bezug zu seiner sozialen Situation. Zugleich sind die Dinge des Alltags aber auch rettenswert an sich , so wie die Plastikgabel, und nur eingerastete Zuschreibungen von außen deklarieren sie als Abfallprodukt, gleichwohl sie deswegen nicht der unachtsamen oder gar mutwilligen Zerstörung anheimfallen müssen. So oder so verlangt die Anwesenheit der Dinge Reaktion, sie stellen einen ethischen Anspruch dahingehend, dass sie den Figuren Genazinos eine Positionierung abfordern. Im günstigsten Fall, wie die Armbanduhrenepisode zeigte, entsteht eine symbiotische Beziehung unter dem Zeichen der gegenseitigen Rettung. So wie die Sphären des Alltags und der gewöhnlichen Dinge auf der formalen Ebene ästhetisch geadelt werden, indem sie zum Sujet künstlerischer Produktion werden, so gewinnen sie auf der inhaltlichen Ebene ethisch an Gewicht, da sie Genazinos Figuren ein aufmerksames und verantwortungsvolles Verhalten ihnen gegenüber abfordern. Mit der Wertigkeit der Dinge geht zugleich eine Neujustierung moralischer Maßstäbe einher. Bisherige Verhaltensweisen im Alltag werden von den reflexiven, sich sorgenden Protagonisten Genazinos neu durchdacht und anders bewertet. Damit ist verbunden, dass die Figuren innerlich sich ein Stück weit emanzipieren von herrschenden Moral- und Schamnormen, zugleich aus der Außenperspektive betrachtet aber auch zunehmend spleeniger agieren.

753 Ebd. S. 74.

Sprachstrategien und Motivik

1.3

245

Sprache und Literatur

Wiederkehrendes Thema in der Prosa Genazinos ist die Auseinandersetzung der Protagonisten mit dem sprachlichen Material. Die Figuren Genazinos reflektieren über das Verhältnis von Sprache und Ding, sinnieren über Literatur und Schriftsteller – vor allem und immer wieder Kafka – und sind oft selbst Schriftsteller bzw. kreative Sprachschaffende. Schreiben bzw. zur Sprache bringen wohnt wieder eine ordnungsstiftende Funktion inne. In diesem Punkt verortet Hirsch Genazino im Traditionskanon der klassischen Moderne, wenn sie schreibt: Die Möglichkeit, durch Schreiben der Welt etwas von ihrer Fremdheit zu nehmen, diese Fremdheit wenigstens, wenn schon nicht beseitigt, so doch transformiert zu haben in Sprache, ist nicht nur Teil des Erzählkonzepts dieses bestimmten Autors, sondern Teil des Erzählens in der Moderne überhaupt.754

»Das produktive Sehen, das den Text hervorbringt«755, wie Hirsch in Anlehnung an Genazino schreibt, ist subjektgebunden und genuin schöpferisch in dem Sinne, dass es beliebig vorgefundenes Material in der Beschreibung und Weiterschreibung durch den Rückgriff auf eigene Befindlichkeit als bedeutend neu erschafft. So sind die Figuren Genazinos in ihren reflektierenden Weltbezügen genuin schöpferische Charaktere. »Der produktive Blick«, so Hirsch in diesem Sinne weiter, »verweist auf den unendlichen Vorgang der Bedeutungszuschreibung als schriftstellerischer ebenso wie als interpretatorischer Akt.«756 Zur Verdeutlichung der Bedeutung von Literatur und Sprache sollen einige Passagen aus Genazinos Roman Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman fokussiert werden. Schon auf der inhaltlichen Ebene ist in diesem Roman – es wird in den Einzelanalysen noch auf ihn eingegangen werden – die Frage nach der Literatur zentral gestellt, da er im Sinne eines Entwicklungsromans die Schriftstellerwerdung des jugendlichen Ich-Erzählers ›Herr Weigand‹ erzählt. Neben diesem Streben hin zu einer selbst gewählten Profession – »[i]n Wahrheit wollte ich schreiben, hauptberuflich, und zwar sofort«757 – fungiert das Spiel mit der Sprache als magisch-versöhnende Korrespondenz zwischen der psychischen Innenwelt und der gegebenen Außenwelt. So zum Beispiel in der Situation eines wenig erfreulich verlaufenden Bewerbungsgesprächs, als ein zufälliger Blick aus dem Fenster zum Ausganspunkt der Reflexion wird:

754 755 756 757

Hirsch, A.: ›Schwebeglück der Literatur‹. S. 13. Ebd. S. 28. Ebd. S. 30. Genazino, Wilhelm: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. München, Wien: Carl Hanser Verlag 2003. S. 9.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

In diesen Augenblicken begann draußen ein Mann, ein neues Plakat auf eine Werbewand zu kleben. Es war ein riesiges buntes Plakat für eine neue Halbbitter-Schokolade. Es dauerte keine halbe Minute, dann war ich in das Wort halbbitter vertieft. Ich begriff, daß ich mich selbst in einer halbbitteren Situation befand und daß mir das Plakat half, meine Lage zu verstehen. Über diese unerwartete Hilfe empfand ich plötzlich Dankbarkeit. Ich wollte mir das Wort am liebsten aufschreiben, aber das ging im Augenblick nicht, also merkte ich mir das Wort.758

Das aufgelesene Wort setzt Erleuchtung und charakterisiert die Situation konkret. Das scheiternde Bewerbungsgespräch fügt sich sinnig ein in das eigentliche Begehren Weigands, Schriftsteller werden zu wollen. Und just das Wort bringt das Eigentliche der Lebenssituation zur Sprache, fügt sich ein und verwandelt den unangenehmen Augenblick zwischen Geschäftsführer und Ich-Erzähler zu einer zärtlich-intimen Dankbarkeitsbeziehung zwischen dem Ich-Erzähler und dem Wort. Dabei wird das Wort ›halbbitter‹ als kostbar genug erachtet, zu überdauern und aufgeschrieben zu werden – und erhält letztlich so seinen Platz im Roman. Sind es in der ›Halbbitter‹-Situation noch hauptsächlich Wort und Ich-Erzähler, die in eine Beziehung treten, so kann diese durch die Kategorie der Dinge sich zu einem Dreiecksverhältnis erweitern. Nach einem unerfreulichen Poststellenbesuch, der nach dem unglücklichen Bewerbungsgespräch die Reihe der erlebten Verfehlungen fortsetzte, heißt es: Zum zweiten Mal an diesem Tag traf mich, freilich in einem minder schweren Fall, die Tücke des Scheiterns. Im Grunde war ich weder dem ersten noch dem zweiten Fall gewachsen. Ich ging sprachlos umher und schaute danach, was auf den Rücksitzen geparkter Autos herumlag. Nach einiger Zeit fing ich an, die von mir gesehenen Gegenstände beim Namen zu nennen. Zeitschrift. Straßenkarte. Einkaufsnetz. Pelzmütze. Orangen. Wolldecke. Handschuhe. Babyschnuller. Pfeife. Sonderbarerweise verlor ich durch die Aufzählung der Dinge das Gefühl des Ausgeliefertseins. Ich ging durch etwa drei Straßen, sah am Straßenrand in die Autos und sagte halblaut vielleicht zweihundert Wörter auf. Dann kippte meine Stimmung, ich fühlte mich wieder obenauf.759

Ungenügend der Welt und ihren Anforderungen gegenüber, überfordert und vor allem sprachlos erlebt sich Weigand. Wieder geht die Rettung über die Sinnesleistung Sehen vonstatten, doch wo sonst schweifende Assoziationsketten stehen, bleibt hier der innere Vorgang dem Ich-Erzähler selbst seltsam opak. Zum Wahrnehmen gesellt sich das Nennen der Dinge beim Namen. Jeder einzelne Posten ist dabei würdig, für sich zu stehen, eine eigene kleine Aussage zu sein, durch einen Punkt abgeschlossen, nicht durch Kommata aneinandergereiht. Parallel dazu schwindet Weigands Gefühl des Ausgeliefertseins. In der nüchternen Aufzählung und dem sicheren Übereinbringen von Begriff und Gegen758 Ebd. S. 8. 759 Ebd. S. 11 f.

Sprachstrategien und Motivik

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stand erfährt er sich, im Kontrast zu den vorigen Stationen des Versagens, als souveränen und treffsicheren Sprachbeherrscher, der halblaut sprechend wie weiland Adam die Dinge der Welt beim Namen zu nennen versteht und somit das Gegebene in eine (sprachliche) Ordnung übersetzt. Das einfache Übereinbringen von Gegenstand und korrektem Namen als genügende Bedingung, um die Stimmung kippen zu lassen, verweist auf eine weitere besondere Wirkungsweise der sprachlichen Ordnung. Es geht in diesen Fällen nicht darum, die Wirklichkeit buchstäblich zu verändern, sondern vielmehr steht im Zentrum dieses Bemühens, die nicht veränderbare Welt in ihrer Wahrheit annehmbar zu machen. Dies funktioniert nicht nur in der korrekten Übereinstimmung von gegebenem Material und ›herkömmlicher‹ sprachlicher Entsprechung, sondern gerade auch dort, wo in Neologismen und Neuzusammenführungen – vgl. ›Todeswehe‹ in Die Liebe zur Einfalt – und ebenfalls in eigentlichen Fehlleistungen des Lesens die Situationen treffend charakterisiert werden. Dazu ein weiteres Beispiel aus Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman, ausgehend von einer Reflexion über Scham: Aber es war mir nicht möglich, die Herkunft der Scham genau zu ermitteln. Die allgemeine Erniedrigung der Wirklichkeit und mein inneres Erniedrigungsgefühl waren untrennbar ineinander verschlungen. In diesem Augenblick rettete mich ein Blick nach draußen. Genau dort, wo Rex Gildos Cabriolet (in dem jetzt nur ein Chauffeur saß und wartete) geparkt war, entdeckte ich ein Verkehrsschild. Auf diesem Schild standen zwei Wörter : ACHTUNG ANFAHRTSZONE. Anstatt Anfahrtszone las ich jedoch Armutszone. Das Wort half mir augenblicklich. ACHTUNG ARMUTSZONE. Natürlich, ich lebte hier in der Armutszone! Das Wort setzte mich in die Lage, wieder an den Ereignissen teilzunehmen und Beobachtungen über sie zu machen.760

Jonas Fansa schreibt angesichts solcher Verleser seitens der Charaktere bei Genazino: Der Lesefehler schiebt eine erzählerische Lupe über die Befindlichkeit des Protagonisten – die fehlgehenden Wortwahrnehmungen sind im Regelfall scheinbar von außen platzierte Haken im inneren Monolog der Erzähler, an denen sich thematische Betrachtungen aufhängen lassen – das erzählerische Mittel der fehlgehenden Wortwahrnehmungen befördert also die inneren Konflikte der Figuren an die Textoberfläche.761

Die Fehlleistung als Wahrheitssprecher bezeugt dabei einmal mehr die These, dass das Gesehene nicht als das faktisch Gegebene entscheidend ist, sondern als das, was es auf der Seite der Rezeption auszulösen vermag. 760 Ebd. S. 80. 761 Fansa, Jonas: Unterwegs im Monolog. Poetologische Konzeptionen in der Prosa Wilhelm Genazinos. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2008. Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 625. S. 29.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Was bisher anhand kurzer paradigmatischer Auszüge aus Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman aufgezeigt wurde, schöpfte sich aus einem alltäglichen Gebrauch der Sprache. Aber auch gerade literarische Werke sind befähigt, Ordnungsdienste zu leisten und die Gegebenheiten in ihrer Wahrheit zu benennen. Vor allem Kafka fungiert bei Genazino immer wieder als herbeigerufener Maßstab der Einordnung. Dazu ein kurzer Passus zur Mutter des IchErzählers Weigand und zu Kafkas Brief an den Vater (eine ähnliche Konstellation wird in der Einzelanalyse zu Die Liebe zur Einfalt noch bedeutsam werden): Ich hatte Mutter schon vor zwei Monaten Kafkas Brief an den Vater zu lesen gegeben. Wochenlang hatte sie geschwiegen, aber jetzt, in der Straßenbahn, sagte sie plötzlich: Alles, was der junge Herr Kafka schreibt, ist wahr, wortwörtlich. Danach redete sie eine Weile über ihren Vater, ihre Brüder und zuletzt über ihren Mann.762

Die ›Wahrheit‹, die mit Kafka ›wortwörtlich‹ aufblitzt, ist nicht mehr die einer bloß ordnenden Registratur und der situations- und gegenstandsabhängigen Übereinstimmung von Signifikant und Signifikat, sondern zielt ab auf grundsätzliche Befindlichkeiten eines ganzheitlichen Welt-Mensch-Verhältnisses. Inhaltlich angesiedelt auf der Rückfahrt von einem weiteren negativ verlaufenen Vorstellungsgespräch, wird der Verweis auf Kafka, dem klassischen Autoren modernen Unbehagens, zum Signum des eigenen Empfindens. Doch bleibt die Auseinandersetzung mit Kafka nicht bei einer einfachen Feststellung grundsätzlicher menschlicher Befindlichkeiten stehen, sondern wird Türöffner zu weiteren sprachlichen Abarbeitungen und damit wieder zu Ordnung und Zähmung des eigenen Lebens im retrospektiven Blick der Erzählung. Das Reden über den Vater, über die Brüder und letztlich über den Ehemann artikuliert vor der Folie des ›jungen Herrn Kafka‹ den Versuch, sprachlich die eigene, konkretbiografische Lebenswelt zu erschließen. Literatur ist hier eine Form des Weltverstehens, die Narrative bereitstellt, um eigene Lebenssituationen kommunizierbar zu machen und einordnen zu können. »Literatur ist der Versuch, mit einem Schmerz zu sprechen«763, schreibt Genazino in seinem Kafka-Essay Die Unberechenbarkeit der Worte. Dieser Satz ist eingebunden in Überlegungen zum Schriftstellerberuf, liest sich also in erster Linie im Hinblick auf die Produktionsseite von Literatur und umfasst somit den realen Herrn Kafka ebenso wie den fiktiven Herrn Weigand. »Große Schriftsteller wissen«, wie Genazino weiter schreibt, »was der in ihnen hausende Schmerz sagt, und sie wissen gleichzeitig, daß die Rede des Schmerzes eine Konstruktion ist.«764 Die Externalisierung eines Schmerzes in einen literarischen Text macht ihn handhabbar. Wenn Weigands 762 Genazino, W.: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. S. 17. 763 Genazino, W.: Die Unberechenbarkeit der Worte. In: Ders.: Der gedehnte Blick. München, Wien: Carl Hanser Verlag 2004. S. 11 – 15. S. 15. 764 Ebd.

Scham und Individuation: zur Genealogie eines Typus

249

Mutter in Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman nach einem weiteren Moment des Scheiterns bekennt, dass alles, was Kafka schreibt, ›wortwörtlich wahr‹ ist, und daraufhin von ihrem Leben und ihrer Familie zu reden beginnt, dann wird deutlich, dass Literatur nicht nur Ausdruck des Schmerzes des Autors ist, sondern auch Ausdruck des Schmerzes des Lesers zu sein vermag. Literaturschaffende als »Vorturner des Scheiterns«765 – auf die Rubrik des Scheiterns wird noch eingegangen werden – generieren mit ihren Werken eine einsehbare Plattform des Schmerzes und erheben in Form von Kunst diesen aus den zermürbenden Mühlen des Alltags. In ihren Werken wird »die Vergeblichkeit menschlich nobilitiert und gleichzeitig einsehbar«766 ; Kafka und Kafkas Werke geben im Romanbeispiel Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman der Mutter einen adäquaten Referenzrahmen an die Hand, um das vorherrschende Subjekt-Welt-Verhältnis greif- und beschreibbar zu machen. Sprache und Literatur treten als Themen in den Werken Genazinos immer wieder intentional auf. Sie sind Hilfestellungen von außen und räumen den eigenen Empfindungen Ausdrucksmöglichkeiten ein. Dermaßen gewendet stellen Sprache und Literatur den Gegenpart zur real gegebenen modernen Umwelt dar ; wo diese stumm und bedrohlich als Vorgegebenes existiert und Reaktionen abfordert, bieten Literatur und Sprache Möglichkeiten zur Einordnung und Bewältigung.

2.0

Scham und Individuation: zur Genealogie eines Typus

Wie bisher gezeigt, sind Genazinos Protagonisten extrem reflexive Figuren, die sich unter besonderer Berücksichtigung von literarischen Referenzen im Besonderen und über die Arbeit am sprachlichen Material im Allgemeinen konstituieren. Die Frage, um die es in den folgenden Einzelanalysen gehen soll, dreht sich um die Möglichkeiten und Werdegänge der Etablierung einer stabilen IchIdentität unter den gegebenen Bedingungen. Angesichts dermaßen sensibler und feinfühliger Beobachter ihrer selbst und ihrer Umwelt gegenüber ist es nicht verwunderlich, dass gerade Schamgefühle immer wieder thematisch von Genazino und seinen Figuren aufgegriffen werden. Genazinos Umgang mit dem Gefühl der Scham ist nicht der einer umschreibend-vermeidenden Ausweichbewegung. Im krassen Gegensatz zu dem der Scham inhärenten Fluchtimpuls ergeht sich seine Prosa geradezu immer wieder in ausufernden Beschreibungen der Schamsituationen. Diese Bewegung der gesteigerten Fokussierung der 765 Genazino, W.: Omnipotenz und Einfalt. Über das Scheitern. In: Ders.: Der gedehnte Blick. München, Wien: Carl Hanser Verlag 2004. S. 98 – 104. S. 100. 766 Ebd.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Scham ist typisch für das Œuvre Genazinos. Anja Hirsch macht dieses Element schon in seinen frühen Abschaffel-Werken aus: Bereits hier kündigt sich eine Wendung im Umgang mit Scham an und die Möglichkeit, sich nicht von ihr abzuwenden, sondern im Gegenteil diesen Affekt, der ja selbst schon ein Ergebnis subjektbezogener Reflexion ist, reflektierend weiter zu umkreisen, ihn gewissermaßen zu enttabuisieren – wie es in den späteren Werken so oft vorgeführt wird.767

Zu Recht bindet Hirsch die inhaltliche Thematisierung der Scham und die erzähltechnischen Verfahrensweisen aneinander, wenn sie sagt, dass »der [Scham-]Affekt dieser Prosa eine ganz bestimmte narratologische Gestalt auf [zwingt].«768 Die selbstbezügliche Struktur der Scham hat ihre Entsprechung in der obsessiv-reflexiven Beobachterposition der Ich-Erzähler. Darüber hinaus sind Schamgefühle auch inhaltlich zentral gesetzt, da sie maßgeblich die Individuation der Figuren vorantreiben. Dazu ebenfalls Hirsch: Zwar gibt es auch in der Prosa Genazinos kein Entkommen – Scham bleibt erzählt als Unlustregung, mehr noch als schockartiger Moment, in dem die Zeit plötzlich zum Stillstand gekommen ist, weil eine Erwartung oder eine bestimmte Vorstellung an die tatsächlichen Umstände angepasst werden musste und der Abgleich ein Mangelgefühl hervorruft […]. Die Selbsterkenntnis verdankt sich aber erst der zur Kenntnis genommen Scham, die als Fährte verstanden wird. Das mindert nicht ihre Intensität, macht aber die Scham und ihre Ursachen benennbar und bis zu einem gewissen Grade auch aushaltbar.769

Genazinos Weg der Schambearbeitung führt hinein in die beschreibende und kommentierende Konfrontation. Dadurch, dass nicht den Fluchtimpulsen nachgegeben wird, sondern der Fokus auf der Scham gebündelt bleibt, entwickelt sich eine sprachlich vorgenommene, ordnende Arbeit an diesem Phänomen. Dabei lässt sich, durchaus in Anlehnung an erzähltechnische Entwicklungen im Werk Genazinos, wie beispielsweise dem Wechsel hin zu konsequenten Ich-Erzählern, eine prinzipielle Tendenz festmachen. »Die soziale Ausgrenzung (wie Armut, der Verlust der Arbeit etc.) bringt Scham hervor (s. Frühwerke und ›Die Liebe zur Einfalt‹)«, so Hirsch in ihrer Einteilung, »während andererseits die Erfahrung von Scham die Subjekte auf Beobachterpersonen hebt und sie damit gleichfalls, nun aber freiwilliger, an den Rand der Gesellschaft treibt (Werke nach 1989).«770 In der Tat lässt sich in den Werken der 1990er und 2000er Jahre ein vermehrtes Auftreten spleeniger, aber gleichsam souveräner Figuren beobachten. Diese Entwicklung spiegelt sich inhaltlich in den ver767 768 769 770

Hirsch, A.: ›Schwebeglück der Literatur‹. S. 195. Ebd. S. 199. Ebd. S. 200. Ebd. S. 204.

Scham und Individuation: zur Genealogie eines Typus

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schiedenen Lebensphasen der Roman-Protagonisten. Je älter sie werden, desto gesetzter und träumerisch-selbstsicher begegnen sie den Widrigkeiten des Daseins, handeln ihre Schammomente mit einer gewissen Routine ab und richten sich ein im Provisorischen und Makelhaften. Dabei kommen sie nie zu einem Endstand, gewinnen aber zumindest eine gewisse lässige und versöhnlich aufscheinende Routine im Scheitern. Deutlich lässt sich diese Entwicklung z. B. in dem von Hirsch angesprochenen Roman Die Liebe zur Einfalt aus dem Jahre 1990 ablesen. Dort werden mit dem Kind ›Wilhelm‹ in der Erinnerung und dem Erzähler ›Wilhelm‹ in der Gegenwart zwei zeitlich unterschiedliche Versionen des Ichs thematisiert. Der Weg hin zu mehr Souveränität und Ausgeglichenheit lässt sich dann über den heranwachsenden Herrn Weigand aus Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman (2003) und die Protagonisten aus Ein Regenschirm für diesen Tag (2001) und Die Kassiererinnen (1998) bis hin zu der Figur aus Die Liebesblödigkeit (2005) ziehen.

2.1

Die Liebe zur Einfalt [1990]

Im autobiographisch gefärbten Roman Die Liebe zur Einfalt greift Genazino entscheidende Elemente des Romans Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz aus dem Jahre 1989 auf und entwickelt sie konsequent weiter. Künstlerpersönlichkeiten und Ich-Erzähler stellen von nun an maßgeblich das Personal seiner Erzählungen. Doch stärker als in Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz zielt der Einfalt-Roman auf die nachträglich betrachtete Entwicklungsgeschichte des Protagonisten ›Wilhelm‹ ab. In der Ausführlichkeit der Beschreibungen und in dem geradezu gnadenlosen Dauereinsatz eines sezierenden Blickes nimmt Die Liebe zur Einfalt die entscheidenden Merkmale aller folgenden Romane vorweg. Insofern ist es durchaus schlüssig, wenn Fansa diesbezüglich von einem ›Schlüsseltext‹ spricht und festhält: Insofern bietet ›Die Liebe zur Einfalt‹ einen Einblick in die Genealogie der prototypischen späten Protagonisten, der diesmal nicht anhand der kontinuierlich sich wiederholenden und weiterentwickelten Motive im Gesamtwerk hergestellt werden muss, sondern en miniature als seelisch-literarischer Bauplan einer einzelnen Figur mit ihrer familiären Sozialisation und Adoleszenz auftritt.771

Die Entwicklung heraus aus einem kleinbürgerlichen Familienhintergrund bei gleichzeitiger Anerkennung der biographischen Mitgift sind in der Tat klassischer Grundstoff der späteren Charaktere. Durch die breite Fokussierung auf Kindheit und Adoleszenz in Die Liebe zur Einfalt fungiert die Entwicklung 771 Fansa, J.: Unterwegs im Monolog. S. 77.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Wilhelms beispielhaft und bietet »eine Art Bauplankatalog für Genazinofiguren inklusive dazugehörigem Stammbaum.«772 Der Ich-Erzähler ›Wilhelm Genazino‹ verwebt in Die Liebe zur Einfalt Beobachtungen und Befindlichkeiten aus seinem gegenwärtigen Leben mit Erinnerungen an die Kindheit und an seine nun verstorbenen Eltern. Herangewachsen in den 1950er und 1960er in Mannheim ist es eine Familiengeschichte des Scheiterns, in der Mutter und Vater in ihren Wegen unterschiedlich, doch im Ergebnis gleich konsequent ihr Leben verfehlen. Während um sie herum das Wirtschaftswunder zu blühen beginnt, hängen die Eltern an anachronistischen Wert- und Handlungsvorstellungen und rutschen dank fehlender Kommunikationskompetenz zusehends ins gesellschaftliche Abseits. Gerade der Vater scheitert in beeindruckender Omni-Impotenz als Familienoberhaupt, Arbeitnehmer, Hausbauer und Erfinder. Der stockende Hausbau, die mysteriös bleibende Erfindung, seine ausgegliederte Arbeitsstätte am anderen Ende der Stadt und vor allem seine Unfähigkeit, sich kommunikativ adäquate Lösungsstrategien zu erschließen, lassen ihn schon zu Lebzeiten zu einem blassen Gespenst gerinnen. Das Unvermögen des Vaters manifestiert sich innerhalb der Familie – neben der nicht zu überwindenden ökonomischen und wohnlichen Knappheit – im ›Sprechverbot der Scham‹. »Wessen er sich im Innersten schämte«, so lautet es über den Vater, »durfte nie bekannt werden: Sich schämen heißt an einem Sprechverbot leiden.«773 Dieses Sprechverbot, d. h. das Verbot zur sprachlichen Artikulierung des eigenen, peinigenden Unvermögens, greift unerbittlich auf die gesamte Familie über. Erst in der Retrospektive, nach Jahrzehnten der Distanz und nach dem Tod der Eltern, beginnt dieses Diktat zu bröckeln und führt letztlich zur Kunst und zur konkreten Erzählung. Prägnant zeigt sich dies im Hinblick auf die vermeintliche Unaussprechbarkeit bezüglich der Wohnungssituation der Familie: Wenn ich nicht genügend Spott zur Verfügung habe, muß ich das Thema meiden oder lügen. Denn ich kann niemanden sagen, daß wir zu fünft fast zwanzig Jahre lang in einer Zwei-Zimmer-Wohnung gelebt haben. Die Eltern mit der Schwester in einem Zimmer, mein Bruder und ich in dem anderen; gewöhnlich lüge ich an dieser Stelle zum erstenmal: Ich mache aus der Zwei- eine Drei-Zimmer-Wohnung. Wie es wirklich war, ist nicht sagbar. Das Unsagbare rührt eine Scham an, die sich damals bildete und die nie ganz verschwunden ist.774

Dem eigentlichen Lügen aus Scham steht die Offenbarung in der literarischen Erzählung gegenüber. Die Literatur wird zu Überwindung, indem sie das Unsagbare und das Sprechverbot der Scham zu ihrem Gegenstand macht. Die 772 Ebd. S. 143. 773 Genazino, W.: Die Liebe zur Einfalt. S. 83. 774 Ebd. S. 38.

Scham und Individuation: zur Genealogie eines Typus

253

Macht der Schamgefühle äußert sich in ihren die Zeit überdauernden Anteilen an der Identitätsbildung. Dazu zwei Zitate seitens des Ich-Erzählers: Ich hoffte, nach ein paar Monaten die Scham zu verlieren. Aber damals kannte ich die Scham noch nicht sehr gut und wußte deshalb auch nicht, daß Scham nicht altert; im Gegenteil, sie bleibt in dem Körper, den sie einmal aufgesucht hat, und findet sich in diesem immer besser zurecht.775

Und etwas später heißt es im Text: »Im Inneren der Scham verbirgt sich ein unnahbarer Persönlichkeitskern, der immer nur kaum entschlüsselbare Regungen hervorbringt: ein fortlaufendes Geschehen ohne Text.«776 Das ›Sprechverbot der Scham‹ scheint hier nicht bloß ein vom Vater eingefordertes Gebot zu sein, sondern in der Struktur der Scham selbst begründet zu liegen. Scham will Kontaktabbruch, Scham will sich verbergen, Scham will sich aus dem Blickfeld der Anderen tilgen. In Die Liebe zur Einfalt gibt es ausgewiesene »Schamräume der Eltern, das verdunkelte Schlafzimmer und der verdunkelte Keller, [die] auch die Aufgabe hatten, sie vor den Blicken der Kinder zu schützen.«777 Die Literatur steht der Scham diametral entgegen in ihren unaufhörlichen Versuchen, zur Sprache zu bringen. Die Erzählung selbst erweist sich als Medium, das das eigentlich unter dem Sprechverbot der Scham Subsumierte reflektiert fokussiert und es damit in der Dialektik von Distanzierung und Annäherung in eine Ordnung bringt. Beispielhaft für die zur festen Lebenseinstellung geronnene Verfassung der Eltern mag hier die Episode stehen, in der der Ich-Erzähler seine Mutter – ähnlich wie schon in Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman – mit Franz Kafkas Brief an den Vater konfrontiert: Erst im Alter fand Mutter Gefallen am Lesen. Deswegen begann ich, ihr Bücher mitzubringen. Und weil ich wußte, daß sie so gut wie keine früheren Leseerfahrungen hatte, waren es anfangs einfachere Titel von Hermann Hesse, Stefan Zweig, Hans Fallada, die ich für sie aussuchte. Eines Tages erzählte ich ihr von Franz Kafka, wo er gewohnt hatte, was er gearbeitet hatte, was er geschrieben hatte. Sie wollte etwas von ihm lesen, und ich brachte ihr nicht ohne Bedenken den ›Brief an den Vater‹ mit. Nach drei Wochen besuchte ich sie wieder und war gespannt. Mutter hatte Gefallen an Franz Kafkas Text gefunden. So, wie Herr Kafka das Leben beschreibt, ist es wirklich, sagte sie lachend. Das Lachen habe ich, vorschnell, als ein Zeichen ihres Vergnügens gewertet, das dazu führen werde, daß sie bald eine Buchhandlung aufsuchen und nach weiteren Büchern Kafkas fragen werde. Aber das geschah nicht. Sie las nichts mehr von Kafka. Sie lebte weiter, als hätte sie nie etwas von ihrem zustimmenden Vergnügen an Kafkas Texten erfahren. Ich hatte geglaubt, sie werde (wie ich) gegen den Originalschmerz des Lebens immer mehr den Kunstschmerz der Literatur zu Hilfe nehmen und eines Tages gar versuchen, den ersten gegen den 775 Ebd. S. 110 f. 776 Ebd. S. 132. 777 Ebd. S. 97 f.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

zweiten austauschen – und damit scheitern. Stattdessen blieb sie ihrem eigenen, ursächlicheren Schmerz treu: ohne Experimente.778

Leiden und Scham sind für den Ich-Erzähler zum einen verwurzelt in der Kindheit, zum anderen durch den Verweis auf den ›Originalschmerz des Lebens‹ lebensphilosophisch gewendet. Die Erinnerung an die Eltern ist Arbeit an dieser ursprünglichen Scham, die ›nicht altert‹, sondern ›im Körper bleibt‹. Im Gegensatz zur Mutter, die zwar der eher als düster zu nennenden Lebensbeschreibung — la Kafka zustimmt, aber unbeeindruckt im Lebensschmerz verweilt, verlagert der Sohn den Originalschmerz hinein in den Kunstschmerz der Literatur. Durch diese Hinwendung – der Ich-Erzähler ›Wilhelm‹ in Die Liebe zur Einfalt ist Schriftsteller – wird eine Flucht- bzw. Verlagerungsrichtung eingeschlagen, die auch schon der schreibende ›Franz‹ in Franz Kafkas Brief an den Vater als Möglichkeit für sich entdeckte. Kunst und Schreiben sind weder schmerzfreies Nirwana noch adäquate Surrogate für das Wirkliche, sie haben aber eine ordnende Funktion und stellen kommunizierbare Narrative bereit. Schreiben entpuppt sich hier als Aussprache und Verarbeitung von dem, was bedrückt. Der Ich-Erzähler begegnet dem vermeintlich Unsagbaren und überwindet es im literarischen Geständnis; Herkunft und Schamgefühl mögen letztlich nicht zu tilgen sein, aber das diktatorische ›Sprechverbot der Scham‹ ist so unterlaufen. Im Gegensatz zu den Figuren der Mutter und des Vaters gelingt dem Ich-Erzähler unter dem Gesichtspunkt retrospektiver Spracharbeit Emanzipation und Eigenständigkeit. Schon für ›Franz‹ in Kafkas Brief an den Vater galt die Schriftstellerei zwar immer noch als klassisch kafkaesk-armselige, doch immerhin als die beste aller Möglichkeiten zur Bewältigung der eigenen Herkunftsverhältnisse. In diesem Sinne sind für Wilhelm seine Schreib- und Fiktionsversuche – im erzählenden Aufarbeiten wird aus einer Zwei- eine Dreizimmerwohnung – erste, doch noch unsichere Schritte hin zu Eigenständigkeit und Überwindung der Familien-Scham. Aus der Sicht des gegenwärtigen, erwachsenen Wilhelm können diese Schritte als z. T. geglückt gelten – er wurde Schriftsteller und verfügt nun über die Sprache, seine Herkunft erzählend zu verarbeiten –, doch ist diese Arbeit nie endgültig und die Familienhintergründe und -erinnerungen speisen sich immer wieder ein in den Alltag. Die Liebe zur Einfalt erzählt die Geschichte einer Emanzipation, indem sie retrospektiv, d. h. aus dem mehr oder weniger gesicherten Hafen der Gegenwart heraus, deren Grundlagenbedingungen und Entwicklungen nachzeichnet. Durch das Setzen einer gegenwärtigen Erzählerposition, die rückblickend berichtet, wird diese prototypische Geschichte einer Emanzipation als eine in ihren

778 Ebd. S. 157.

Scham und Individuation: zur Genealogie eines Typus

255

Grenzen Gelingende skizziert und der Möglichkeitshorizont ausgewiesen, in dem sich auch die Protagonisten der kommenden Romane bewegen.

2.2

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman [2003]

In Die Liebe zur Einfalt stand der Erzähler noch als doppeltes Subjekt im Zentrum, als Heranwachsender im Kampf um Emanzipation auf der einen Seite und als gesicherter, zurückblickender Schriftsteller auf der anderen Seite. Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman fokussiert nun verstärkt – erneut retrospektiv – die Zeit der Adoleszenz und des Übergangs, in dem es für den männlichen IchErzähler ›Herr Weigand‹ darum geht, Weichenstellungen für das zu bewältigende Leben vorzunehmen. Zu Beginn steht ein klassisches, fremdbestimmtes und unsicheres Wesen von siebzehn Jahren: Mit siebzehn trudelte ich ohne besondere Absicht in ein Doppelleben hinein. Kurz zuvor war ich vom Gymnasium geflogen und sollte, auf Drängen meiner Eltern, eine Lehrstelle annehmen. Ich selber wußte damals nicht, welchen Beruf ich ›ergreifen‹ könnte. Ich war ratlos, wollte aber meine erschrockenen Eltern beschwichtigen. Eine Lehre wollte ich nicht beginnen, aber schließlich gab ich dem Druck nach und ließ mich von der Mutter in verschiedenen Personalbüros vorstellen. Die Bewerbungsgespräche verliefen in einer gedrückten und peinigenden Atmosphäre.779

Diesem Ausgangspunkt folgt der tapsende Weg hinein in eine vermeintlich bürgerliche Lebensbahn. Nach einigen gescheiterten Bewerbungsgesprächen kommt es zur Anstellung als kaufmännischer Lehrling, ergänzt durch Abendund Wochenendtätigkeiten als freier und schreibender Mitarbeiter für die hiesigen Lokalzeitungen. Auch auf der Ebene privater Entwicklungen werden erste libidinöse Bande und sexuelle Kontaktaufnahmen geknüpft und wieder aufgelöst sowie der Selbstmord einer dieser Bekanntschaften verkraftet. Das alles wird erzählt und erlebt ohne große Wallungen, in nüchterner Sprache und in unaufgeregter bis leicht überraschter Attitüde. Beispielhaft dafür mag der Auftakt zu einem kommenden Beischlaf des Heranreifenden mit der älteren, verheirateten Frau Kiefer in einem Bus auf der Rückfahrt einer Betriebsfeier stehen: Ich war über Frau Kiefer gebeugt und küßte ihren magnolienartig aufgeblühten Busen. Ihre Körperlichkeit verwirrte mich, aber nicht sehr. Ich wunderte mich, daß die Annäherung an Frau Kiefer fast von selbst ablief. Die von mir viel mehr gewünschte Vertrautheit mit Linda war bis jetzt keinen Millimeter vorangekommen. Frau Kiefer öffnete mir das Hemd, dabei fiel ihre Handtasche zu Boden. Ich bückte mich nach vorne, um sie wieder aufzuheben, Frau Kiefer jedoch verstärkte den Druck ihres Armes und hielt mich davon ab. Der Bus war jetzt zu einem fahrenden Schlafsaal geworden. 779 Genazino, W.: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. S. 7.

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Auch Frau Kiefer und ich schliefen zwischendurch immer wieder ein. Wenn der Bus plötzlich ruckelte oder bremsen mußte, schreckten wir auf und setzten unsere Berührungen fort. Die Beliebigkeit der Intimität irritierte mich. Ich hatte mir immer vorgestellt, es gebe zwischen Paaren ein besser geregeltes Eintauchen in die Liebesheftigkeit.780

Am Ende dieser Szene steht ein geglückter und in seinen Grenzen beglückender Beischlaf, am Ende des Romans stehen die Emanzipation von den Eltern, eine gesicherte Position als Vorarbeiter und die Routinisierung des Wochenendjournalismus. Im Hinblick auf diese Entwicklung in Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman schreibt Tilman Spreckelsen: Vom Ende her betrachtet erscheint Genazinos Roman also wie eine klassische Initiationsgeschichte, deren äußere Stationen im Übergang des Protagonisten vom Elternhaus in die eigene Wohnung und im selbständigen Bestreiten des Lebensunterhalts zu finden sind. Hinzu kommt die sexuelle Initiation als weiteres Zeichen des Erwachsenwerdens.781

Bei einem genaueren Blick entpuppt sich diese vermeintliche bürgerliche Laufbahn allerdings als deutlich hintersinniger. So lässt sich mit Spreckelsen weiter sagen: Tatsächlich aber ist das Buch voller Signale, die diese scheinbar geradlinige Entwicklung in ihr Gegenteil verkehren. Und mehr noch: Versteht man Initiation im üblichen Sinn als Aufnahme eines jungen Menschen in die Gemeinschaft von älteren, die den Novizen anleiten und ihn für diese Gemeinschaft tauglich machen, so muss man sich fragen, ob man es hier nicht geradezu mit der Schilderung einer Anti-Initiation zu tun hat, mit der listigen Verweigerung von Zugehörigkeit, die sich diskret – und umso effektiver – im Gewand der Bereitschaft zur Integration vollzieht.782

In der Tat deckt sich die titelgebende To-do-Liste – eine Frau, eine Wohnung, ein Roman – nur recht oberflächlich mit dem gängigen Erwartungshorizont geerdeter Bürgerlichkeit. Wenn aber Wilhelm Amann dieses Programm als »Antithese zum bürgerlichen Lebensmotto ›ein Kind zeugen, einen Baum pflanzen, ein Haus bauen‹«783 skizziert, dann klingt hierbei allerdings eine zu starke Gegensätzlichkeit an. Das in Die Liebe zur Einfalt angeführte »Untersuchungs780 Ebd. S. 67 f. 781 Spreckelsen, Tilman: Manche möchten lieber nicht. Gesellschaftliche Teilhabe und Initiation in den Romanen Wilhelm Genazinos. In: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur. H. 162: Wilhelm Genazino. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag 2004. S. 79 – 86. S. 80 f. 782 Ebd. S. 81. 783 Amann, Wilhelm: ›Doppelleben‹. Begründung von Autorschaft in Wilhelm Genazinos ›Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman‹. In: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur. H. 162: Wilhelm Genazino. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag 2004. S. 87 – 97. S. 96.

Scham und Individuation: zur Genealogie eines Typus

257

verfahren gegen das bürgerliche Leben«784 wird zwar auch in diesem Roman fortgesetzt, doch nicht mit der Folge einer antithetischen Verabschiedung der bürgerlichen Welt. Eine glückende Beziehung und ein eigenes Heim sind durchaus auch gängige Wunschposten des bürgerlichen Lebenslaufes. Ebenso ist das Streben hin zu Schriftstellertum, wenn auch oftmals mythologisch durchwuchert, mit der Sphäre der Wohlanständigen durchaus vereinbar. Was den jungen Herrn Weigand seinen Mitmenschen gegenüber abgrenzt und ihn letztlich zu einem prototypischen Charakter Genazinos macht, ist genau dieses Oszillieren im Grenzgebiet normativer Lebensmodelle und die innere Einstellung, mit der er zu seinen Überzeugungen und Entwürfen gelangt. Nicht fremde Erwartungen bedient er mit seinem Konzept, sondern sein eigenes Streben unter der strategischen Berücksichtigung der gegebenen Umstände. Nicht als Revoluzzer kommt dieser Jugendliche daher, sondern als besonnener und feinfühliger Beobachter, der in seinen Aktionen betont passiv agiert. Entgegen den sonst so enggestrickten Lebensentwürfen richtet Weigand sich ein im Provisorischen und entzieht sich allzu verbindlichen Arrangements. So heißt es nach einem Angebot für eine volle Redakteursstelle durch den Vorgesetzten Herrdegen: Plötzlich war meine Entscheidung gefallen. Ich beschloß, meine Situation vorläufig nicht zu ändern. Ich würde das Angebot von Herrdegen nicht annehmen. Ich wollte weiterhin Feierabendreporter, mißbrauchter Lehrling und gut bezahlter Vorarbeiter sein. Eines Tages würde ich genauer wissen, was ich zu tun hatte und was nicht. Bis dahin mußte ich die Kühnheit haben, meine Zeit zu vergeuden und mich selber in der vergehenden Zeit zu belauschen.785

Weigand gewährt sich den Luxus, den Status Quo zugunsten eines offenen Endes aufrechtzuerhalten. Dieses Spiel Weigands aus Teilnahme und Verweigerung, aus gesellschaftlichem Arbeitszwang und Zeitvergeudung gehört mit zum Archetypischen der Figuren Genazinos. In diesem Sinne ist Weigand eine stimmige Position in der Typologie. Dazu Spreckelsen: Wollte man ein implizites Programm benennen, dem die meisten Protagonisten aus Genazinos Romanwerk zustimmen könnten, so trüge es ungefähr diese Konturen. Die Mischung aus dezidiertem Unbehagen an der Integration in die traditionelle Arbeitswelt, lustvoller Planlosigkeit im Tagesablauf und der Beobachtung der eigenen Person im Zufälligen findet sich in beeindruckender Häufung in zahlreichen fiktionalen Texten des Autors beschrieben. Die Kunst, die Weigand gerade entwickelt und andere Figuren Genazinos bereits zur hohen Blüte gebracht haben, besteht darin, das komplizierte Spannungsverhältnis aus Zeitvergeudung und verweigerter Zugehörigkeit einerseits und dem als notwendig erkannten Bestreiten des Lebensunterhalts auf

784 Genazino, W.: Die Liebe zur Einfalt. S. 76. 785 Genazino, W.: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. S. 147.

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der anderen Seite aufrechtzuerhalten, so lange es irgend geht, und dies ohne die geringste Skrupel hinsichtlich der Legalität des eigenen Verhaltens.786

Die Verweigerung und Teilnahme Weigands am bürgerlichen Prinzip ist ohne Pathos und kommt ohne große Gesten der Rebellion aus. Die ›Illegalität‹ seines Verhaltens beruht auf der Nicht-Vermischung und der Geheimhaltung der verschiedenen Arbeitssphären; die verweigerte Zugehörigkeit ist nur bedingt in den sozialen Kontakten zu suchen, vielmehr erwächst sie aus der inneren Einstellung. Pointiert, geradezu grotesk zusammengefasst wird die innere Differenz zwischen Weigand und seinen Mitmenschen in der Schilderung des so genannten Je-ka-mi-Wettbewerbs. Diese Je(der)-ka(nn)-mi(tmachen)-Abend ist eine alle zwei Wochen stattfindende Veranstaltung mit offener Bühne, bei der Amateurunterhalter und Laienkünstler das Rampenlicht suchen. Im Roman heißt es einleitend: Tatsächlich durfte hier jeder, der von sich meinte, irgendetwas vortragen, singen oder zeigen zu können, die Bühne besteigen und anfangen. Die Abende waren in der Stadt sehr beliebt. Kein Tisch war mehr frei. Kellner trugen zusätzliche Stühle und Tische in den Saal. Auf der Bühne spielte eine Drei-Mann-Combo, einige jüngere Paare tanzten. Ringsum saßen feingemachte Kleinbürger und hielten Musikinstrumente und Noten in schweißnassen Händen. Sie hatten Angehörige und Freunde mitgebracht und ließen sich fortwährend beruhigen. Obwohl sie noch nicht aufgetreten waren, wurden sie von ihren Familien schon jetzt als die kommende Stars behandelt. Ehefrauen und Töchter küßten sie im Vorübergehen und tupften ihnen die Stirn.787

Was dieser Einführung folgt und der Ich-Erzähler Weigand in seiner Funktion als Pressevertreter besucht, ist ein eindrucksvolles Potpourri der Kläglichkeit und des Scheiterns. In einem zu großen, cremefarbenen und mit Goldknüpfen versehenen Kostüm will die Verkäuferin Anke Bünnagel drei Schlager vortragen, aber schon beim zweiten Schlager erhob sich Gelächter im Saal. Sie sang das Lied Ganz Paris träumt von der Liebe, denn dort ist sie ja zu Haus. Das letzte Wort zog Frau Bünnagel derart in die Länge, daß es kläglich und jammervoll klang. Ich staunte mehr über den Hohn des Publikums als über das Mißgeschick von Frau Bünnagel. […] Zum Vortrag des dritten Schlagers, Spiel noch einmal für mich, Habanero, kam es nicht mehr. Die Unruhe nahm tumultartige Formen an. Der Conf¦rencier betrat von links die Bühne, dankte Frau Bünnagel und drängte sie ab.788

Diesem Auftakt voll Hohn und Missgeschick schließt sich der dreiunddreißigjährige Busfahrer Wolfgang Streibich an, dessen Frau im Publikum die ge786 Spreckelsen, T.: Manche möchten lieber nicht. S. 81 f. 787 Genazino, W.: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. S. 97. 788 Ebd. S. 98 f.

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meinsamen zwei Kinder »halb ängstlich und halb stolz«789 an sich drückt und der mit seiner gelungenen Freddy-Quinn-Nummer die Höchstnoten der Jury einfährt; »Frau Streibich weinte vor Glück und umarmte ihren Mann.«790 Mit der Überleitung »Dafür stürzte der nächste Künstler vollständig ab«791 wird das Niveau allerdings wieder nach unten korrigiert. Der unverheiratete Berufs-Dekorateur Albert Nüsse – »vermutlich war er der Humorist«792 – scheitert beeindruckend zielsicher ; »die Leute lachten nicht, sie murrten und liefen teilweise weg[…].«793 Gerade diese Szene mit Herrn Nüsse steigert sich hinein in eine Groteske und markiert den Umschlagpunkt von der Beschreibung hin zur Reflexion und verdeutlicht den Befindlichkeitsunterschied zwischen Weigand und den feixenden Vertretern der Bürgerlichkeit im Publikum: Jetzt drangen Rufe wie Aufhören! Genug! aus dem Publikum nach vorne, aber der Mann ließ sich nicht irritieren. Seine Hauptnummer, das Auseinanderklappen des Liegestuhls, konnte er nicht mehr zeigen. Der Conf¦rencier lief herbei und hielt den Dekorateur an den Armen fest. Der Humorist verstand nicht oder wollte nicht hinnehmen, daß ihn der Conf¦rencier hinderte, und leistete Widerstand. Herr Fr¦d¦ric ergriff das Mikrofon und erzählte zotige Geschichten, die er mit Geräuschen untermalte. Im Handumdrehen hatte er das Publikum auf seine Seite gebracht. Im Hintergrund wurstelte der Dekorateur mit seinem Liegestuhl herum und wurde nicht mehr beachtet. Nein, das stimmte nicht. Das Publikum beklatschte sein Scheitern. Die Grausamkeit der Szene war jetzt auf ihrem Höhepunkt.794

Dieser Siedepunkt des schwarzen Spektakels, das die Massen auf Kosten des scheiternden Einzelnen köstlich amüsiert, wird für Weigand zum Ausgangspunkt einer grundsätzlichen Irritation: Ich hatte eine derart starke Peinlichkeit (und das rätselhafte Einverständnis mit ihr) nie zuvor gesehen. Ich blickte immerzu umher, weil ich zuwenig verstand. Es war ein Schmerz im Saal, der alle traf und gleichzeitig von allen geleugnet wurde. Am schrecklichsten war, daß der Dekorateur weiterspielte. Noch immer zeigte er Reste seiner Träume von einem anderen Leben als Humorist und Sänger. Erst die Ankündigung des nächsten Künstlers ließ ihn stutzen. Ein frischer Sänger stand schon am rechten Rand der Bühne. Im Weggehen fasste der Conf¦rencier den Humoristen an der Schulter und zog ihn von der Bühne herunter. Er ließ sich jetzt widerstandslos abschleppen.795

789 790 791 792 793 794 795

Ebd. S. 99. Ebd. Ebd. Ebd. S. 100. Ebd. Ebd. Ebd. S. 101.

260

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Schmerz und Leugnung sind das Amalgam dieses kleinbürgerlichen Abends der großen, platzenden Träume. Verkörpert vom Dekorateur, der so gerne anders und eine hervorragende Unterhaltungsgröße wäre, verhöhnt das Publikum die Sehnsüchte eines Mannes aus ihrer Mitte. Auch die folgenden Darbietungen verlaufen im bekannten, zum Teil derben Muster ab. Selbst für den Gewinner steht nicht das Glück einer großen Erfüllung an. Vielmehr erweist sich die vermeintliche Wendung hinaus aus den Sphären beengter Kleinbürgerei und hinein ins hohe Feld eines besseren und befeierten Künstler- und Unterhalterlebens als Trugbild: Zwei Stunden später rechnete die Jury ihre Punkte zusammen und ermittelte den Gewinner des Abends. Er hieß Karl Rauchfuß, war siebenunddreißig Jahre alt, von Beruf Fensterputzer. Er hatte den Lachenden Vagabunden vorgetragen und hatte damit so viel Erfolg, daß er das Lied zweimal wiederholen mußte. Die Jury gratulierte, der Geschäftsführer überreichte Blumen und eine Flasche Sekt. Herr Rauchfuß war über das Tempo der Preisverleihung und mehr noch über ihre geringe Ausbeute verdutzt. Viel schneller, als er denken konnte, häuften sich seine Enttäuschungen. Er wartete schauend und hoffend, daß ihn der Herr von der Künstleragentur zu seiner Stimme beglückwünschte und ihm den Schallplattenvertrag anbot, den der Conf¦rencier im Verlauf des Abends so oft im Mund geführt hatte. Stattdessen sagte ihm der Geschäftsführer, daß der Herr von der Künstleragentur schon nach Frankreich abgereist war.796

Was den Unterschied zwischen Herrn Rauchfuß, dem nach Höherem strebenden Vertreter der Bürgerlichkeit, und Weigand ausmacht, sind vor allem die unterschiedlichen Grade der Reflexion. In seinem naiven Glauben eines direkten Weges von der Je-ka-mi-Bühne hin zu Plattenvertrag und Schlagerstarleben erntet Karl Rauchfuß lediglich Enttäuschungen und bleibt gleichsam verblüfft wie beschämt angesichts der Diskrepanz von Erwartung und Ergebnis in seinem Selbstbild erschüttert zurück. Dieser Tendenz hin zu kindlich-naiven SuperstarTräumen steht eine weitere Glücksstrategie des Bürgerlichen zur Seite. Nicht das Glück wird im Außergewöhnlichen gesucht, sondern vielmehr das Alltägliche mit dem Nimbus des großen Glücks aufgeladen. Bezeichnend ist dafür die Szene der italienischen Woche in einem Kaufhaus, in dem die konsumorientierten Kunden ihr Glück suchen. Dazu Weigand kommentierend: Die italienische Woche war ein durchschlagender Erfolg. Im stillen wartete ich auf den Ausbruch eines allgemeinen Gelächters. Denn nur Lachen und Spott war als Antwort auf dieses billige Kaufhausglück möglich. Das Fräulein mit dem Silbertablett trat noch einmal an mich heran, ich nahm ein zweites Glas Sekt. Mit hilfloser Strenge stand ich beiseite und beobachtete eine Frau, die sich erregt eine kleine Terrakottafigur gegen die

796 Ebd. S. 104 f.

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Brust drückte und sie dann kaufte. Es gab kein Gelächter. Ich mußte hinnehmen: Die kleine Freude wurde als wirkliches und wahrhaftes Glück empfunden.797

Im Gegensatz zu denen, die sich entweder im kleinen Glück des Konsums verausgaben oder vom vermeintlich großen Glück der Bühne blenden und enttäuschen lassen, agiert Weigand nüchtern und abwartend und legt sich sein ganz persönliches Programm für ein gelingendes Leben zurecht. »Indem er sich auf sein soziales Umfeld und auf das Erwerbsleben gerade so weit einlässt, dass er nicht auffällt, ohne aber je richtig dazuzugehören«, so Spreckelsen über Weigand, »zeigt er eine Fähigkeit zum diskreten Abwarten und obsessiven Beobachten, die er den anderen Protagonisten dieses Buchs voraus hat.«798 In seinen gesetzten, durch lange Reflexionskaskaden entstandenen Erwartungen wappnet sich Weigand gegen gängige Glücksverführungen, hält sich aber mittel- bis langfristig die Möglichkeiten auf ein geglücktes Leben offen. Gemäß dieser Strategie des langen Atems kann über ein Scheitern oder Gelingen dieses Lebensentwurfes zum Ende von Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman noch nicht endgültig entschieden werden. Während die Frage nach der Beziehung noch in der Schwebe steht, wurde eine erste eigene Wohnung schon bezogen. Und in Bezug auf den letzten Punkt herrscht zumindest ein positives Grundbefinden vor: »Ich zweifelte nicht, daß ich mich in einem ungeschriebenen Roman bewegte. Ich sah auf mein Frühstück herunter und wartete auf das Aufzucken des ersten Wortes.«799 Mit diesen Worten endet der Roman und lässt seinen adoleszenten Protagonisten hoffnungsfroh der Zukunft entgegensehen. Angesichts der Tatsache, dass die Erzählung retrospektiv erzählt wird, liegt hier die Vermutung nahe, dass sie selbst eine mögliche Verwirklichung des Strebens nach einem Roman darstellt. Was hier skizziert wird, ist zum einen das Ergebnis des erfolgreichen Ringens eines Heranwachsenden in Bezug auf die Frage, was er vom Leben erwartet. Zum anderen ist es aber auch der Ausgangspunkt einer angestrebten Entwicklung zu einem selbstbewussten und souveränen Leben als mündigem Individuum in der Gemeinschaft.

2.3

Ein Regenschirm für diesen Tag [2001] und Die Kassiererinnen [1998]

Begreift man die männlichen Ich-Erzähler Genazinos seit 1990 unter dem Blickpunkt ihrer psycho-sozialen Verwandtschaft (mit ›Wilhelm‹ aus Die Liebe zur Einfalt als Ur-Ferment), dann lassen sich die Protagonisten aus Ein Regenschirm für diesen Tag und Die Kassiererinnen als zwei verschiedene Versionen 797 Ebd. S. 93 f. 798 Spreckelsen, T.: Manche möchten lieber nicht. S. 86. 799 Genazino, W.: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. S. 160.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

begreifen, die sich in ihren Ausrichtungen unterschiedlich gewichtet entwickelten, doch in ihrem Wesen typisch genazinohaft bleiben. Nicht mehr wie Weigand aus Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman stehen sie als Jugendliche am Beginn einer hoffnungsfrohen Zukunft, sondern sie fristen als erwachsende Personen inmitten der Anonymität der Großstadt ein Dasein, das ihnen nicht unproblematisch erscheint. Der namenlose, sechsundvierzigjährige männliche Ich-Erzähler aus Ein Regenschirm für diesen Tag steckt inmitten einer Lebenskrise. Verlassen von seiner Freundin Lisa leistet er Trauerarbeit und sein Leben wird ihm zunehmend prekär. »Lisa wohnt nicht mehr hier, sie hat mich verlassen. Solange sie hier lebte, war das Nachhauskommen für mich das Wohlgefallen, das den Menschen auf Erden versprochen ist.«800 Mit dem Auszug Lisas verliert die ehemals gemeinsame Wohnung den Nimbus eines gesicherten Rückzugsortes: »Früher konnte ich damit aufhören, mein Leben zu verdächtigen, sobald ich die Wohnung betrat. Das scheint endgültig vorbei zu sein.«801 Lisa – eine zweiundvierzigjährige ehemalige Lehrerin, die durch ein Nervenleiden Frührentnerin wurde und von regelmäßigen Weinkrämpfen heimgesucht wird – ist ihrerseits ein angeschlagener Charakter. Der Roman suggeriert, dass sie den Ich-Erzähler unter anderem aufgrund dessen »mangelhafter[r] finanzielle[r] Verwurzelung in der Welt«802 verlassen hat. Verstärkend kommt hinzu, dass der Ich-Erzähler, der bisher von seinem Beruf als Schuhtester für Luxusschuhe und zum Teil von Lisas Rente lebte, nach dem Verlust Lisas auch noch den ökonomischen Rückschlag hinnehmen muss, da sein Honorar als Schuhtester drastisch gekürzt wurde. Dieser relativ düsteren Ausgangslage schließt sich an, dass Genazino auch die Nebenfiguren als versehrte Charaktere auftreten lässt. Die als Schauspielerin gescheiterte Susanne und der als Fotograf erfolglos gebliebene Himmelsbach sind nur zwei von vielen Protagonisten, die angeschlagen und erschöpft bis verbittert ihr Leben fristen. Alles in allem zeichnet Genazino in der ersten Hälfte des Romans ein relativ tristes Bild des bürgerlichen Existenzkampfes, gezeichnet von Abgespanntheit und Sinnsuche, versinnbildlicht in der Befindlichkeit des Ich-Erzählers, »ohne innere Genehmigung [zu] lebe [n].«803 Von der Grundjustierung gleicht der Ich-Erzähler in Ein Regenschirm für diesen Tag den anderen Protagonisten Genazinos. Reflexive Beobachtungen, die sich an Alltagsgegebenheiten aufhängen und sich in Assoziationsketten fortspinnen, sind das vorherrschende Wahrnehmungsformat. Kindheitserinnerungen, Beziehungsproblematiken, die Erschließung der Umwelt im Flanieren und zahlreiche bekannte Motive sind ebenso gegeben wie die sprachliche Arbeit 800 Genazino, Wilhelm: Ein Regenschirm für diesen Tag. 11. Auflage Oktober 2009. München Wien: Carl Hanser Verlag 2001. S. 35. 801 Ebd. 802 Ebd. 803 Ebd. S. 84.

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und die Transformation der Welt im unablässigen inneren Bewusstseins- und Erzählstrom. Was dem Hauptprotagonisten in diesem Roman seine Eigenständigkeit und Tiefe verleiht, ist, dass er selbst vor dem Maßstab der anderen, leicht spleenigen Helden Genazinos merkwürdig beschädigt wirkt und die üblichen Mechanismen nicht mehr zu greifen scheinen. Deutlich wird dies z. B. im Zusammenhang mit dem Blätterzimmer als Ausdruck seiner Trauerarbeit: Plötzlich ist klar, daß ich nur Lisas leeres Zimmer mit Blättern auffüllen muß, dann habe ich ein für mich reserviertes Blätterzimmer. Ist das Umhergehen in einem Blätterzimmer nicht eine ausgezeichnete Technik, mich von Lisa zu trennen und gleichzeitig zu wissen, daß mir eine Trennung von ihr gar nicht möglich sein wird?804

Wird einerseits die Idee des Blätterzimmers als angemessene Strategie der emotionalen Bewältigung der Situation angesehen, droht sie andererseits doch ebenfalls damit, Signum des totalen Abgleitens zu werden. Das geplante Blätterzimmer markiert die tiefe Wunde, die Lisas Abschied hinterließ: Gleichzeitig fürchte ich mich davor, daß ich als Geisteskranker in Lisas leerem Zimmer sitze, umgeben von zahllosen welken Blättern, wirres Zeug redend. Ich werde immer wieder sagen, daß ich nicht länger bereit bin, ungenehmigtes Leben hinzunehmen. Das wird wie gewöhnlich niemand verstehen. Außer Lisa natürlich, aber Lisa ist nicht da und wird nie wieder dasein.805

Bedeutend ist hier, dass schon zu Beginn des Unterfangens dem Ich-Erzähler klar ist, dass das Zimmer so nicht funktionieren wird und somit in diesem Fall das Prinzip der gegenseitigen Rettung ins Leere läuft: Dabei ist mir klar, daß ich die Idee meines Blätterzimmers immer nur planen, aber nicht ausführen darf. Das Laub darf ich nur lieben, solange es auf der Straße liegenbleibt. Ich darf niemals glauben, ich könnte die Blätter oder mich retten, indem ich einen Teil der Blätter in Lisas ehemaligem Zimmer ausbreite. Aber ich möchte auch nicht an der Scham des vergeblichen Wünschens teilhaben. Die Angst vor der Verrücktheit ist in diesen Augenblicken so stark, daß ich fürchte, nur aus der Angst könnte ihr Anfang hervorgehen. Dann bücke ich mich und erfasse mit einem Griff, vier, nein fünf kräftige Platanenblätter mit feingezackten Rändern und langen Stielen.806

Das Blätterzimmer, die Verrücktheit und die Angst vor ihr bilden eine Gleichung, die von dem Ich-Erzähler nicht ohne weiteres zu lösen ist.807 Kurz nach 804 805 806 807

Ebd. S. 55. Ebd. Ebd. S. 58 f. Das Motiv der Angst vor der Verrücktheit treibt auch die Ich-Erzählerin aus Die Obdachlosigkeit der Fische um. Angesichts der Mitnahme eines weggeworfenen, regennassen Telefonbuches heißt es dort: »Dann kommt eine fürchterliche Minute. Ich sitze da und erlebe eine der Stimmungen, die mich bis dahin immer nur nachts überfallen haben. Ich starre auf das Tischtuch und bin nicht ganz sicher, ob nicht soeben die erste Minute einer Ver-

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dem obigen Griff zu den Platanenblättern heißt es: »In der Nacht von gestern auf heute bin ich nicht verrückt geworden. Ich habe die auf der Straße aufgesammelten Platanenblätter in Lisas Zimmer ausgebreitet.«808 Das Projekt des Refugiums wird tatsächlich ansatzweise in die Tat umgesetzt, im Verlauf der zweiten Hälfte des Romans jedoch wieder verworfen. Rettung kommt, wie sich zeigen wird, nicht von den Blättern, und auch die Blätter sind nicht Objekte des Rettens; das Blätterzimmer wird, parallel zur Überwindung der alten Beziehung bei gleichzeitiger Anknüpfung einer neuen Beziehung, aufgelöst. Im Vergleich mit Weigand aus eine Frau, eine Wohnung ein Roman tritt noch eine zweite Beschädigung des Protagonisten aus Ein Regenschirm für diesen Tag zutage. War es gerade Weigands entscheidender Kniff, am Ausgang seiner Adoleszenz und zu Beginn der angestrebten beruflichen und familiären Entwicklungen sich in der Kühnheit zu ergehen, Zeit zu vergeuden, so ist dies dem sechsundvierzigjährigen, mehrfach bedrohten Protagonisten in diesem Roman nicht mehr gegeben. Von Lisa verlassen und finanziell ungesichert, verdichtet sich seine Lebenssituation zu einer ernsthaften Problemlage: Es ist wahr, ich bin zu lahm. Meine Umständlichkeit und meine Zerfahrenheit werden mich umbringen. Dabei darf ich mich bei niemandem über diese Eigenschaften beschweren. Ich muss sie hinnehmen und hoffen, daß sie mit der Zeit etwas von ihrer Unmöglichkeit verlieren. Aber die Zeit vergeht, und meine Eigenschaften bleiben. Beinahe von Woche zu Woche werden sie unmöglicher. Ich muß die Zerstreutheit abtöten und weiß doch, daß ich ohne sie nicht leben kann. Es ist klar, daß dieser Konflikt mir die Luft abdrücken oder mich krank machen wird, was in meinem Fall dasselbe bedeutet. Dabei begreife ich nicht einmal, warum ausgerechnet mein Leben der Schauplatz eines derart niederträchtigen Zusammenpralls sein soll. Über Jahrzehnte hin habe ich mir viel Mühe gegeben, ohne Zerwürfnisse zu leben, und ich war lange Zeit erfolgreich.809

Was dem Leser in der ersten Hälfte von Ein Regenschirm für diesen Tag begegnet, ist quasi ein fehlgegangener, klassischer Protagonist Genazinos. Von ähnlichen charakterlichen Grundzügen ausgehend und ausgestattet mit dem typischen hochreflexiven Wahrnehmungsapparat, verrennt sich der Ich-Erzähler zusehends in seiner semi-sozialen Spleenigkeit und agiert im Grenzgebiet der Verrücktheit. Die äußeren Umstände seiner Krise korrespondieren mit seinem inrücktheit in mich eindringt. Das halbnasse Telefonbuch! Es liegt vor mir auch dem Küchentisch und sagt: Kleine Frau, in diesem Augenblick hast du die Grenze zum Nichts, zur Schwärze, zum Tod überschritten.« (Genazino, Wilhelm: Die Obdachlosigkeit der Fische. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1994. S. 83 f.) Zugleich erscheint hier aber auch zumindest temporäre Verrücktheit als wünschenswert: »Wenig später der Wunsch, einmal verrückt zu sein. Eine halbe Stunde lang, das müßte genügen. Ich bin bereit, dafür ein Jahr meines Lebens herzugeben.« (ebd. S. 91) 808 Genazino, W.: Ein Regenschirm für diesen Tag. S. 64 f. 809 Ebd. S. 66.

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neren Empfinden. Allein, wenn man sich das Auftaktkapitel des Romans ansieht, fällt auf, wie sehr dort Fluchtgedanken, Fehler, unerfreuliche Erinnerungen, negativ erlebte Assoziationsketten, schmerzliche Erlebnisse und Ähnliches thematisiert werden. Die Rettung im Kleinen scheint hier ebenso wenig möglich, wie ein weiterer laxer Umgang mit der eigenen Lebenszeit. Doch wird diese Beschreibung vor allem in der zweiten Hälfte des Romans entschärft. Am Ende stehen nicht der komplette Zusammenbruch und das Sanatorium, sondern eine neue Beziehung zu der ebenfalls als Beschädigte auftretenden Susanne sowie Ansätze zu einer eigenständig gesicherten ökonomischen Basis. Dieser Umschwung hin zu einer glückenden und normalen Existenz – glückend und normal im genazinohaften Sinne – gleicht erstaunlich den vorherigen Bedingungen des zunehmenden Niedergangs. Äußere Umstände und innere Befindlichkeiten greifen in eins, immer noch passieren die Gegebenheiten dem Ich-Erzähler mehr, als dass er sie herbeiführt; ohne große Gesten oder spektakuläre Ereignisse tritt Rettung in Aktion. Ist der Übergang von Scheitern und Gelingen auch fließend, so lässt sich doch als Moment des Umschwungs das Kapitel 7 mit dem geselligen Abend bei Susanne benennen. Im Gegensatz zu den bisherigen (Selbst-)Darstellungen erfährt der Leser hier den Ich-Erzähler als eloquenten und anerkannten Taktgeber luftiger sozialer Interaktionen. Bei Rotwein und überbackenen Pfirsichen mit Mascarpone-Creme avanciert er mit originellen Reden über Liebe, Leben und Leiden und mit der Forderung nach der Einführung von Vergleichenden Schuldwissenschaften an Universitäten zum Mittelpunkt des Abends. Einzig die Frage nach seinem Beruf erinnert ihn zwischenzeitlich an die eigene Ungehörigkeit, dies wird jedoch von ihm mit erstaunlichem Verve ausgekontert: Frau Balkhausen fragt mich schüchtern, welchen Beruf ich habe. Die Frage verstimmt mich leicht, weil sie mich daran erinnert, daß mein Leben auch an einem Abend wie heute nicht genehmigt ist. Aber ich drücke die Verstimmung weg und antworte, ein wenig betrunken und prustend, daß ich ein Institut für Gedächtnis- und Erlebniskunst leite.810

Der Verweis auf die Leitung eines zu diesem Zeitpunkt imaginären Gedächtnisund Erlebnisinstituts, aus dessen Umfeld sich auch der Titel des Romans ableitet, ist der Höhepunkt einer charmanten Souveränitätsvorstellung. Zum Ende des Abends werden sich die anderen Gäste für seine illustren Ausführungen bedankt haben. Himmelsbach wird versucht haben, ihn als sozial einflussreichen Fürsprecher zu gewinnen, Susanne wird ihm zärtlich gesonnen worden sein. Von hier an entwickeln sich auch auf die längere Distanz die Dinge positiv. Der Verlust Lisas wird verschmerzt und eine neue Beziehung mit Susanne deutet 810 Ebd. S. 104 f.

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sich an. Auch die berufliche Situation entspannt sich und aus der ursprünglich scherzhaften Idee eines Instituts für Gedächtnis- und Erlebniskunst wird ein ernsthaftes Geschäftsprojekt. Pars pro toto für das zunehmend gelingende Leben mag dabei der Beischlaf mit Susanne stehen. Im Kontext der körperlichen Liebesanstrengung kommt es zu folgenden Passagen: Aus dem Gefühl des versehentlichen Lebens wird, weil es nicht abgebremst wird, die Vorstellung eines kleinen schmachvollen Scheiterns. Auch mit diesem Gefühl bin ich vertraut. Ich bin es gewohnt, im Scheitern weiterzumachen. Eine Weile weiß ich nicht, was geschieht und wie ich davon kommen werde, aber ich mache weiter. Und zwar so lange, bis ich plötzlich den Eindruck habe, ich befinde mich inmitten eines neuen, zweiten Anfangs.811

Und: Es bleibt mir nur das langsam schwächer und leerer werdende Vertieftsein in Susannes Geschlecht. Ich habe dabei die Vorstellung, daß ich laufend kleine Verbeugungen vor dem Leben mache. Und gleichzeitig beuge ich damit das Leben selbst. Es entsteht zwischen Susannes Beinen die Hoffnung, daß ich das Leben eines Tages werde genehmigen können, wenn ich mich oft genug vor ihm verbeugt haben werde. Am Ende soll nicht mehr unterscheidbar sein, ob ich mich vor dem Leben verbeuge oder dieses selbst gebeugt habe. Dann würde endlich meine unglaubliche Langmut den Sieg davontragen.812

Der letztlich gelingende Beischlaf ist ein sinnbildlicher Ausblick auf die immer noch vorhandene Möglichkeit eines glückenden Lebens. Nicht heroisch, sondern mit stoischer Gelassenheit auch angesichts des Scheiterns und der Scheiternsmöglichkeiten wird das Leben, in das man ungefragt hineingeworfen ist und welches auch ohne ausdrückliche Genehmigung sich vollzieht, hingenommen. Was nun vorherrscht, ist ein Konglomerat aus hoffnungsvoller Zuversicht und achselzuckendem Vollzug, ein Akzeptieren und Agieren diesseits aller absoluten Kategorien von Glücken und Misslingen. Erschien der Ich-Erzähler zu Beginn von Ein Regenschirm für diesen Tag noch als fehlgegangenes Exemplar innerhalb der Typologie, so tritt er zum Ende hin doch wieder als typischer Vertreter auf. Das Provisorische positiv durchfärbt mit Langmut zu ertragen sowie Welt und Spleen ohne größere Konflikte zu versöhnen, sind gängiges Programm in der Prosa Genazinos. »Die Unruhe über mein fast gescheitertes Leben«, heißt es hier, »verwandelt sich in die Aufregung über den gerade noch gefundenen Ausweg.«813 Ein Regenschirm für diesen Tag skizziert die Möglichkeiten des Scheiterns wie der Rettung gleichermaßen, wie sie für die spezifischen Charaktere Genazinos grundsätzlich bestehen. Die Wege des Scheiterns und der 811 Ebd. S. 142. 812 Ebd. S. 143 f. 813 Ebd. S. 171.

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versöhnenden Errettung, wie sie in diesem Roman gegangen werden, bestehen dabei aus einer unlöslichen Verknüpfung aus äußeren Umständen und inneren Befindlichkeiten, wobei der Fokus auf der inneren Einstellung liegt. Auch Die Kassiererinnen geht von krisenhaften Erfahrungen aus. Der namenlose Ich-Erzähler, alterstechnisch ist er Anfang 40, hatte seit dem Tod seiner ehemaligen Lebensgefährtin Edda vor zwei Jahren keine festen Beziehungen zu Frauen mehr gehabt. »Ich lebte in einer der sonderbarsten Unklarheiten, die ich je kennen gelernt hatte«, so der Ich-Erzähler, »[i]ch wusste nur, aus dem frauenlosen Leben durfte kein Dauerzustand werden, und hatte doch manchmal den Verdacht, dass ebendies schon geschehen war.«814 In der typischen Verquickung und Enthierarchisierung der Erlebnishorizonte gesellt sich zu der Beziehungsfrage ein weiteres wichtiges und romanbestimmendes Problemfeld, nämlich das der Lächerlichkeit. Ausgehend von einer ursprünglich als unproblematisch empfunden Situation des öffentlichen Urinierens bricht mit dem Gelächter zweier Passanten, die den Ich-Erzähler auch noch fotografieren, die Frage in den Raum, was Andere zum Lachen reizt bzw. wie man selbst als lächerlich erscheint. Beide Stränge, die der momentanen Beziehungslosigkeit und die der Lächerlichkeitsüberlegungen, kommen letztlich im Roman zu einem versöhnlichen Ende. Interessant ist nun, dass auch hier zu Beginn, wie schon in Ein Regenschirm für diesen Tag, eine eher beschädigte und in sich verrannte GenazinoFigur vorgeführt wird. Der Protagonist in Die Kassiererinnen verliert sich in zunehmender Teilnahmslosigkeit: Früher war ich gegen Personen, die auf der Straße trinken, gefühlsmäßig stark eingenommen, heute waren sie mir gleichgültig. Ich hatte auch keine Meinung mehr über die TV-Schüsseln an den Hauswänden ringsum. Noch im vorigen Jahr hatte ich gegen sie geschimpft, weil ich nicht verstand, wie man schöne alte Häuser mit derartigen Schüsseln verschandeln konnte. Beziehungsweise ich glaubte, es sei bedeutsam, dass ich die Verschandelung nicht verstand. Heute wusste ich, dass die Verunstaltung von niemand verstanden werden musste und dass es auf meine Meinung nicht ankam.815

Der Protagonist agiert zu Beginn meinungslos und ohne emotionale Teilnahme; hier schlägt das Pendel genazinohafter Figurenzeichnungen in Richtung einer stumpf-glücklichen Lethargie aus. So heißt es etwa im Hinblick auf die titelgebenden Kassiererinnen in einem Supermarkt: In früheren Jahren ertrug ich den Anblick der Kassiererinnen nicht, ohne mich einem Gefühl der Weltbitternis hinzugeben. Jetzt kam mir meine neue zärtliche Gleichgül-

814 Genazino, Wilhelm: Die Kassiererinnen. 3. Auflage Juni 2005. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1998. S. 18. 815 Ebd. S. 7 f.

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tigkeit zu Hilfe und redete mir ein, dass die Kassiererinnen der Fatalität ihres Schicksals vermutlich gewachsen wären.816

Beziehungsstatus und allgemeine Befindlichkeit bedingen einander. Mit dem Tod Eddas und der Frage, ob aus dem frauenlosen Leben schon ein Dauerzustand geworden ist, geht eine stärker werdende Lethargie im Alltag einher. Erst mit Erfahrung der eigenen Lächerlichkeit tritt eine entscheidende Wandlung ein, die durch das Erleben des Brüchigwerdens des eigenen Selbstverständnisses wieder zurück zu einem zärtlichen, doch weniger lethargischen Einverständnis mit sich selbst und der Umwelt führt. Als einmal aufgeworfene Fragestellung verliert durch sie der Ich-Erzähler sein Desinteresse und arbeitet sich an seinen Lächerlichkeitsüberlehungen ab. Dem sonst gleichgültigen Beobachter der Dinge wird bewusst, dass er selbst als Objekt fremder Blicke agiert. Der eigenen aktiven (d. h. sehenden) emotionalen Passivität wird die passive (d. h. gesehene) Dimension des Ichs unter dem Blickpunkt der emotional-bewertenden Anteilnahme Anderer entgegengestellt. Die Reflexion der Lächerlichkeit erfolgt dabei über mehrere Stationen: Mal wird Lächerlichkeit definiert »als der Zeitpunkt, an dem eine Zurückweisung öffentlich einsetzte«817, es wird zwischen ›Außenlächerlichkeit‹ (wenn Andere über einen Lachen) und ›Innenlächerlichkeit‹ (wenn man nur über sich selbst lacht) unterschieden sowie über die Innenstadt als Lächerlichkeitsgebiet und über die Nähe von Lächerlichkeit und Verschrobenheit sinniert. Besonderen Raum wird dabei dem Spiel von außen und innen eingeräumt. Angesichts einer weiteren Lächerlichkeitssituation heißt es: Ich versuchte, mich mit einer simplen Rekonstruktion der Ereignisse zu beruhigen. Genau genommen haben sich zwei unbekannte junge Frauen ein paar Augenblicke über dich lustig gemacht, mehr war nicht. Nein, das stimmte nicht. Denn du hast dir dieses Erlebnis zu Herzen genommen und hast es dadurch zu etwas ganz und gar Eigenem gemacht. Du hast etwas eindeutig Äußerliches in etwas ebenso eindeutig Innerliches verwandelt. Das war der Fehler!818

Diese Durchbrechung von äußerer, angetragener Reaktionen und innerem, eigenem Reagieren darauf und die Gedanken über die Funktionsweisen der Lächerlichkeit führen den zu Beginn der Erzählung so autistisch wirkenden Protagonisten zurück ins Reich kritischer Selbst- und Fremdreflexionen und markieren seinen Eintritt zurück ins soziale Spiel um Selbstachtung und Anerkennung. Genazinos typische Sympathie für das Verschrobene äußert sich darin, dass es auch in Die Kassiererinnen nicht darum geht, konformistisch und ängstlich jede mögliche Lächerlichkeitsklippe zu vermeiden, sondern objektiv 816 Ebd. S. 10. 817 Ebd. S. 124. 818 Ebd. S. 56.

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gegebene Lächerlichkeit subjektiv-stoisch auszuhalten. Als Sinnbild für diese ruhige Gelassenheit fungiert im Roman ein Japaner in einem Stehlokal: Ein Japaner betrat das Lokal und ließ sich an der Theke einen Becher Mineralwasser geben. Er stellte den Becher auf einem Stehtisch ab und besorgte sich aus dem hinteren Teil des Lokals den einzigen Stuhl, den es hier gab. Den Stuhl schob er an seinen Stehtisch heran und setzte sich. Der sitzende Japaner reichte mit dem Scheitel knapp an die Unterseite des Stehtisches heran. Im Augenblick, als er zum ersten Mal nach oben griff und seinen Pappbecher herunterholte, ging eine beträchtliche Lächerlichkeit von ihm aus. Zugleich bewunderte ich die Gelassenheit des Mannes.819

Gelassen bleiben angesichts der eigenen möglichen Lächerlichkeit ist der Weg hin zu einem heiteren Einverständnis mit sich selbst. Die geglückte Nicht-Annahme der als bedrängend und schamvoll empfundenen so genannten Außenlächerlichkeit ist Ausdruck höchster Souveränität. Der Roman endet dabei wie folgt: Kurz darauf war ich überzeugt, dass alle Menschen offen oder verdeckt am Projekt ihrer Lächerlichkeit arbeiteten, und das war nicht schlimm, im Gegenteil. Die Entdeckung der Lächerlichkeit war die Bedingung dafür, dass man sich freiwillig zu ihnen zählen durfte. Nein, es war einfacher. Wer lebt, dachte ich, musste sich von Zeit zu Zeit ein paar lächerliche Gedanken machen. Und einige von ihnen auch noch aussprechen. Nein, es war noch einfacher. Wer lebte, dachte ich, musste … nein … oder … ja, es war …820

Wo zu Beginn der Erzählung noch teilnahmslos die Gegebenheiten hingenommen wurden und die Gelassenheit des Ich-Erzählers einem zunehmenden Desinteresse seiner Umwelt gegenüber geschuldet war, stehen zum Ende der Geschichte wieder das Offene und Provisorische, aber auch Teilnahme, Reflexion und Verständnis.821 Dazu zeichnet sich, ohne allerdings zu einem definitiven Abschluss zu kommen, ein Menschenbild ab, das die Menschen von ihren 819 Ebd. S. 96. 820 Ebd. S. 156. 821 Dass der Protagonist in Die Kassiererinnen gerade durch Reflexionen über die Lächerlichkeit zurück zu empathischer Teilnahme am Sozialleben kommt, deckt sich mit der allgemeinen Wertschätzung des Humors von Seiten Genazinos. In einem seiner Essays zu diesem Thema gibt es zwischen der Lächerlichkeit und dem, was er ›komische Kompetenz‹ oder ›komische Empfindung‹ nennt, eine Strukturähnlichkeit bezüglich der Mangelhaftigkeit des Menschen: »Die komische Kompetenz geht aus der Geschichtlichkeit unserer Erfahrung hervor. Ihr Grundelement lautet: Wir sind genauso mangelhaft laboriert wie die Welt, in der zurechtzukommen uns aufgegeben ist.« (Genazino, Wilhelm: Über das Komische. Der außengeleitete Humor. In: Paderborner Universitätsreden. Hrsg. v. Peter Freese im Auftrag des Rektorats der Universität Paderborn. Paderborn 1998. S. 13) Während das Empfinden von Lächerlichkeit im Roman eine reintegrierende Funktion einnimmt, verortet Genazino im Essay die Frage nach der komischen Empfindung in Abgrenzung zum außengeleiteten Humor im politischen Feld von Subversion und Konvention.

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Defekten, von ihren Lächerlichkeiten her denkt, ohne sie deswegen dem Spott anheim zu geben oder sie als Mängelwesen zu deklassieren. Auch Die Kassiererinnen greift somit die Agenda der Figuren Genazinos wieder auf, sich mit der eigenen Verschrobenheit und mit der uneinsichtig-seltsamen Welt auszusöhnen.

2.4

Die Liebesblödigkeit [2005]

Bevor im weiteren Verlauf anhand des namenlosen Ich-Erzählers aus Die Liebesblödigkeit ein bedeutender Entwicklungspunkt in der Genazino’schen Figurenzeichnung fokussiert wird, sei einleitend kurz auf die Hauptpersonen dreier weiterer Romane hingewiesen. Innerhalb der Genealogie von Genazinos männlichen Protagonisten fügen sich die Ich-Erzähler aus Mittelmäßiges Heimweh (2007), Das Glück in glücksfernen Zeiten (2009) und Wenn wir Tiere wären (2011) ins bekannte Muster. In Mittelmäßiges Heimweh ist der 42 bzw. 43 Jahre alte Dieter Rotmund eine klassische Komposition. Auf der inhaltlichen Ebene stehen wieder zwischenmenschliche Beziehungen mit ihren Naht- und Bruchstellen im Zentrum. Einerseits ist es die Geschichte einer schmerzhaften Emanzipation von einer Beziehung und das zaghafte Hinübergleiten in eine mögliche neue Partnerschaft, andererseits werden die Ödnis und die absonderlichen Mechanismen und Rituale der modernen Berufswelt thematisiert. Auch formal und in der Wahrnehmung greifen die bekannten Strukturen wieder ; Neologismen, Verleser und sprachliche Gestaltung ebenso wie die Assoziationsketten und die Befragungen der Details sind hier zum größten Teil erneut Rettungsanker und Orientierungsmarken in einer unübersichtlichen und in ihrer Totalität despotischen Welt. Was allerdings diesen Roman innerhalb des Œuvre Genazinos hervorhebt und ihm einen beunruhigenden Beigeschmack verleiht, ist die Koppelung der Frage nach dem Mittelmäßig-Werden der Gefühle mit der Körpersphäre. Stärker als in anderen Romanen tritt hier Dieter Rotmund als ein körperlich versehrtes Individuum auf, wenn ihm geradezu kafkaesk zu Beginn des Romans ein Ohr abfällt, er im weiteren Verlauf der Handlung en passant noch einen Zeh verliert und zum Ende hin in dieser bedrohlichen Entwicklung auch noch ein spielendes Kind – sonst Schutzheilige und stille Verbündete im Kampf gegen die Widrigkeiten der Welt – ebenso beiläufig einen Daumen verliert und damit die »Spur der Katastrophe«822 in die Welt streut. Auch der einundvierzigjährige Ich-Erzähler Gerhard Warlich in Das Glück in glücksfernen Zeiten wälzt, ausgelöst durch den Kinderwunsch seiner Lebensgefährtin Traudel, Beziehungsprobleme und hat zugleich mit seiner beruflichen Entlassung zu kämpfen. Auf dem typischen Fundament der 822 Genazino, Wilhelm: Mittelmäßiges Heimweh. München: Carl Hanser Verlag 2007. S. 189.

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Figurenzeichnung tritt hier zum Ende hin ein neuer Möglichkeitsstrang in die Biografie ein: Waren die bisherigen Protagonisten zwar mehr oder minder neurotische Charaktere im Grenzgebiet moderner Normalbefindlichkeiten, aber letztlich in ihren objektiven Koordinaten verlässlich eingebettet im System, endet Gerhard Warlich in der psychiatrischen Klinik mit der Selbstdiagnose einer »verlarvten Depression mit einer akuten Schamproblematik[…].«823 Gerhard Warlich erscheint hier als die Version einer typischen Genazino-Figur, die an einem pathologischem Übermaß an Reflexion leidet: »Von Jugend an,« so der Ich-Erzähler in Das Glück in glücksfernen Zeiten, »leide ich an der Zwangsvorstellung, durch mein Wissen verschont zu sein; mein Unglück zeigt sich gerade darin, daß ich glaube, auch dies noch zu wissen.«824 Die ›Schamproblematik‹ Warlichs ist Ausdruck dieser erhöhten Selbst- und Weltbeobachtung, die vor allem das Defekte und Problematische des eigenen Lebens fokussiert und schließlich zum Nervenzusammenbruch und zur Einlieferung in eine Klinik führt. Doch diese Wendung im Handlungsverlauf wiegt nicht so schwer, wie es im ersten Anblick erscheinen mag. Vielmehr bewahrt sich auch in der Klinik der Ich-Erzähler im Rahmen alltäglicher Wirklichkeitsbewältigung die grundsätzliche Möglichkeit, sich mit den Gegebenheiten auszusöhnen und selbstbestimmt zu agieren. Trotz dieser sozialen Situation endet der Roman dementsprechend positiv und offen: »Nach zehn Minuten stehe ich auf und gehe in Richtung Klinik. Eine Art Glück durchzittert mich. Offenbar kann ich, trotz allem, immer noch wählen, wie ich in Zukunft leben will.«825 Der Ich-Erzähler in Wenn wir Tiere wären lässt sich ebenfalls einordnen in die Reihe zunehmend beschädigter Charaktere, wie sie die Romane Genazinos nach 2005 auszeichnen. Von chronischen Überforderungsgefühlen und Erschöpfung getrieben scheint hier ein zu hohes Maß an Weltverhaftung Bruchpunkt der psychischen Gesundheit zu sein. Arbeitsüberdruss, Beziehungsspannungen und die »innere Unmöglichkeit […] [des] Lebens«826 werden kompensiert durch kleinere Strafdelikte und Betrügereien. Damit wird in diesem Roman ein Weg fortgeschrieben, der schon in Die Liebesblödigkeit angelegt ist. Auch dort nutzt der Ich-Erzähler Elemente wie den Diebstahl von einem Weinglas oder einer Stoffserviette als Kompensation für Überforderung und Ratlosigkeit. »In angegriffenen Situationen«, heißt es in Die Liebesblödigkeit, »hilft mir das Mitnehmen von kleinen und nicht so kleinen Gegenständen, die inneren Übergriffe meiner Überforderung auszuhalten.«827 In Wenn wir Tiere wären wird dieser Notbehelf 823 Genazino, Wilhelm: Das Glück in glücksfernen Zeiten. München: Carl Hanser Verlag 2009. S. 131. 824 Ebd. S. 132. 825 Ebd. S. 158. 826 Genazino, Wilhelm: Wenn wie Tiere wären. München: Carl Hanser Verlag 2011. S. 52. 827 Genazino, W.: Die Liebesblödigkeit. S. 158.

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nun radikalisiert und vermehrt auftretende Betrügereien werden zur Möglichkeit, die angestrebte Individualität zumindest zeitweise zu erreichen. Dazu der Ich-Erzähler nach einem kleinen Versicherungsbetrug: Mir kam ein kleiner fremd bleibender Gedanke: Durch ein lächerliches Vergehen war ich momentweise individuell geworden. Der Gedanke verlor seine Fremdheit und wurde mit mir intim. Es war jetzt so, als wäre ich durch den Betrug dem täglich drohenden Gefühl der Abgenutztheit kurzfristig entkommen.828

Während diese kleinen Vergehen in Die Liebesblödigkeit noch juristisch folgenlos bleiben, führen sie in Wenn wir Tiere wären schließlich zur Festnahme. Doch der anschließende Gefängnisaufenthalt wird durchaus positiv konnotiert, da er es erlaubt, sich von der »innere[n] Geltungssucht«829 ein Stück weit zu lösen. Mit dieser Einschätzung geht auch eine Umwertung der Scham einher, wird sie doch als das »zarteste innere Gebilde«830 zum Ausdruck der noch vorhandenen eigenen Empfindungsfähigkeit. Die Loslösung von der Geltungssucht und die zum Ende des Romans wiederum stärker vorrückende Gelassenheit gegenüber den Widrigkeiten des Alltags deuten letztlich auch hier erneut einen versöhnlichen Horizont an. Der körperliche Zerfall Dieter Rotmunds in Mittelmäßiges Heimweh, die Einlieferung Gerhard Warlichs in die Psychiatrie in Das Glücks in glücksfernen Zeiten und die Inhaftierung des Ich-Erzählers in Wenn wir Tiere wären sind negative Höhepunkte von Figuren, die in ihrer Grundgestalt durchaus dem für Genazino klassischen Typus entsprechen, die in ihrer konkreten Individuation allerdings aus dem Gleichgewicht geraten sind. Trotzdem deuten dabei zumindest Das Glück in glücksfernen Zeiten und Wenn wir Tiere wären in ihren Ausgängen wieder die Möglichkeit einer Aussöhnung mit den Gegebenheiten an. Auch in diesen Romanen scheint auf, was sich in der Figurenzeichnung Genazinos als positiver Endpunkt einer Entwicklung herausstellt bzw. herausstellen kann: Aussöhnung in Annahme der Situationen und die Minderung des Schmerzes durch Bearbeitung und gesteigerte Reflexion, nicht durch Verdrängung. Dieser Charakterzug wohnt nicht nur dem Ich-Erzähler Wilhelm in Die Liebe zur Einfalt inne, er wird auch zum Entwicklungshorizont von Weigand in Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman, und führt letztlich die irrlaufenden Erzähler aus Ein Regenschirm für diesen Tag und Die Kassiererinnen zurück auf die Bahn. Paradigmatisch und in der Konzeption geradezu formvollendet führt Genazino die Eigenheit der Gelassenheit am Ich-Erzähler in seinem Roman Die Liebesblödigkeit aus dem Jahre 2005 vor. Auch alterstechnisch gesehen mit zweiundfünfzig Jahren der älteste Vertreter der Genazino’schen Ahnenfolge ist 828 Genazino, W.: Wenn wir Tiere wären. S. 90. 829 Ebd. S. 128. 830 Ebd. S. 129.

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der namenlose Ich-Erzähler aus Die Liebesblödigkeit als Pate und Ausblick auf eine glückende Individuation — la Genazino lesbar. Genazino nähert sich hier einem seiner typischen Themen, amouröse Beziehungsproblematiken, einmal von einer anderen Seite her. Anstatt wie noch z. B. in Die Kassiererinnen oder Ein Regenschirm für diesen Tag Trennungen und drohende Einsamkeit verkraften zu müssen, steht der Protagonist in diesem Roman in einer Doppelbeziehung zu zwei Frauen, die nichts voneinander wissen. Anstoßpunkt der Entwicklung ist das drängender werdende Gefühl, sich aufgrund des fortschreitenden Alterns und einer erlahmenden Sexualität zwischen den beiden Frauen Sandra und Judith entscheiden zu müssen. Während der Ich-Erzähler über seine zu klärenden Liebesverhältnisse sinniert, spiegelt sich die grundlegende Problemstellung im tadelnden Satz eines Kindes an seine Mutter : Links von mir sagt ein Kind: Mama! Jedesmal komme ich zu spät zur Musikstunde! So kann es nicht weitergehen! Die Mutter sieht nur auf, das Kind spielt weiter. Die Klage des Kindes tröstet mich. Schon das Leben der Kinder kann so nicht weitergehen! Aber wo ist das Leben, das so weitergehen darf, wie es gerade ist?831

Der entscheidende Kniff in diesem Roman ist nun, dass diese altkluge Klage des Kindes letztlich ins Leere laufen wird. Am Ende des Romans, nach dem Auflisten und Gegenrechnen der Vor- und Nachteile der einzelnen Frauen, steht mitnichten eine Trennung, sondern vielmehr – erneut unter dem Eindruck eines spielenden Kindes und vor der Folie der latenten Alters- und Todesproblematik – der Entschluss, sich von keiner der beiden Frauen zu lösen. Ich bin perplex, verdutzt, erleichtert: Das Kind enthüllt meine cholerischen Phantasien. Ich schaue dem Theater des Kindes ein paar Sekunden lang zu. In meiner Verblüffung gelingt es mir zum ersten Mal, die Todesangst vom bloßen Todesangsttheater zu trennen. Es ist, als trete ich aus einer sommerlichen Verwirrung hervor. Mein moralischer Hitzeschlag läßt endlich nach. Schon wenige Sekunden später verstehe ich nicht mehr, wie ich mich wochenlang damit abquälen konnte, ob ich mich für Sandra oder Judith ›entscheiden‹ soll. Ich werde weder Sandra noch Judith verlassen, ich bekenne mich zum Durcheinander des Liebeslebens und zu dessen Endgültigkeit, es bleibt alles, wie es ist und war.832

Dies ist die unerhörte Wendung, die für Aussöhnung mit der Wirklichkeit sorgt. Nicht die Verhältnisse haben sich geändert und auch nicht die zu erwartenden Aussichten, denn immer noch stehen die Probleme des Alterns, die Mätzchen der erschlaffenden Libido und die Frage im Raum, wie der Lebensabend mit zwei Frauen zu gestalten sein wird, die nichts voneinander wissen. Was sich geändert hat, ist die Einstellung diesen Widrigkeiten des Lebens gegenüber, indem sich 831 Genazino, W.: Die Liebesblödigkeit. S. 18. 832 Ebd. S. 201.

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der Ich-Erzähler gegen den Zwang zur Entscheidung wendet. Was in Bezug auf die Liebesverhältnisse konstatiert wird, ist, dass das Herz kein moralischer Muskel ist. Wo emotionale Zuneigung zu zwei Frauen Fakt ist, gibt es nichts mit vernünftigen oder sittlichen Argumenten zu ›entscheiden‹; vielmehr wird nur das Bekenntnis zur Situation dem ›Durcheinander des Liebeslebens‹ gerecht. Diese Feststellung und die Aussicht auf Unerlöstheit und all die damit verbundenen möglichen Komplikationen werden nicht leidend erfahren, sondern in der Bejahung emanzipatorisch durchglüht. Schon im Vorfeld zur letztlich stattfindenden Entscheidung zur Nicht-Entscheidung wird das eigentlich Erstrebenswerte einer derartigen Doppelbeziehung thematisiert und aus dem Bereich der unseriösen Abirrung hineingezogen in die Sphäre des Wünschenswerten, Normalen und Gesunden: Ich kann die dauerhafte Liebe zu zwei Frauen nur empfehlen. Sie wirkt wie eine wunderbare Doppelverankerung in der Welt. Man wird mit Liebe gemästet, und das ist genau das, was ich brauche. Die Liebe zu zwei Frauen ist weder obszön noch gemein noch besonders triebhaft oder lüstern. Sie ist im Gegenteil völlig normal (und normalisierend), sie ist eine bedeutsame Vertiefung aller Lebensbelange. Ich vergleiche sie oft mit der Elternliebe.833

Und: Ich wünsche allen Männern zwei Frauen und allen Frauen zwei Männer, wenigstens phasenweise, denn zwei Frauen oder zwei Männer sind die Mindestüppigkeit, mit der wir den Kampf gegen unser armseliges Leben antreten können, ohne uns gleich dem Gesetz der Kargheit auszuliefern.834

Nicht — la Kafka leidet der Ich-Erzähler an den Zumutungen der Welt, vielmehr überwindet er das Schmerzhafte und Makelhafte der Situation, indem er die gängigen Maßstäbe bürgerlichen Bewertens kritisch außer Kraft und an deren Stelle eine Ethik der sehenden Gelassenheit setzt. Damit geht das Eingeständnis einher, dass temporäre Erschöpfung und Überforderungsgefühle maßgeblicher und unausweichlicher Bestandteil des menschlichen Gefühlshaushaltes sind. Im Lichte der Universalität dieser Erkenntnis erwächst dem Ich-Erzähler nicht nur ein gnädiges Nachsehen sich selbst und seiner Situation gegenüber, sondern auch im Hinblick auf seine Mitmenschen gelangt er so zu einer versöhnenden und mitfühlenden Einstellung: Ich empfinde derart stark die universale Unerlöstheit der Menschen, daß ich Lust verspüre, aufzustehen und den paar Leuten und Kindern ringsum mein Bedauern auszusprechen. Besonders den schon Erlahmten und Erschöpften unter ihnen möchte ich kameradschaftlich die Hand drücken. Ich kenne mich im Leben der Erschöpften 833 Ebd. S. 23. 834 Ebd. S. 45.

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sehr gut aus, weil ich mich für die Erschöpfung als Form schon seit langer Zeit interessiere. Unsere Verhältnisse produzieren unablässig Erschöpfung, ausreichend Platz für die Erschöpften gibt es aber nicht. Der Erschöpfte ist eine stigmatisierte Figur. Er bildet das System ab, das über uns herrscht, und die Lächerlichkeit seiner Versprechungen.835

Insuffizienz und Überforderungsgefühle rühren letztlich nicht vom Subjekt her, sondern sind systembedingt in den Alltagsstrukturen verankert. Die sensible Wahrnehmung des Ich-Erzählers, der vom Beruf her als ›freischaffender Apokalyptiker‹ auf Tagungen und in Vorträgen den drohenden Katastrophen nachspürt, zeichnet seismografisch die allgegenwärtige Erschöpfung auf. Die Anerkennung, dass jeder beizeiten und ohne sein Zutun Opfer der Umstände ist, verweist auf eine spannungsgeladene, doch notwendige – d. h. systembedingte – Makelhaftigkeit des Menschen. Diese Anerkennung mündet nicht in Verzweiflung, sondern wendet sich durch die aussöhnende Einstellung in gesetztes Glück. Das Beispiel des Ich-Erzählers mit seiner Akzeptanz des Liebesdurcheinanders macht dies deutlich: Um ein großes Liebesunrecht (entweder an Sandra oder Judith) zu vermeiden, nehme ich laufende kleine Verstöße gegen die Ethik (die Untreue) stillschweigend in Kauf. Es beglückt mich, daß ich zu dieser Überlegung fähig bin. Sie läßt mich zitternd, aber zufrieden als Überlebenden der Liebe zurück. Es ergreift mich eine gehobene Trauer, die durch ihre Leichtigkeit in ihr Gegenteil übergeht.836

Dies ist eine Bewegung der Aussöhnung mit dem eigentlich Unhaltbaren und dem eigenen Ungenügen. »Der Katastrophenbefallene nickt«, wie es bei Genazino bündig heißt, »seiner Katastrophe zu, mehr ist nicht zu machen.«837 Mehr ist nicht zu machen‹ – dies ist der entscheidende Kippmoment in der Selbst- und Welterkenntnis des Ich-Erzählers in Die Liebesblödigkeit, mit dem die Typenzeichnung Genazinos eine neue Qualität erreicht. Begreift man die männlichen Ich-Erzähler Genazinos der Romane der letzten 20 Jahre als verschiedene Ausformulierungen eines grundsätzlichen Typus (sensibel, wahrnehmungsfeinfühlig, gleichsam kritisch distanziert wie schmerzhaft involviert), dann ist der zweiundfünfzigjährige Protagonist aus Die Liebesblödigkeit nach Dekaden des Ringens der ausformulierte Höhepunkt der Individuation. Dies ist er nicht im Sinne einer heroisch-aktiven Bewältigung der Gegebenheiten, sondern in der konsequenten Weiterentwicklung des schon früh eingeschlagenen Weges einer Ethik der Einfühlung und der Aussöhnung. Weit davon entfernt, lethargisch zu wirken, erreicht diese Figur somit ein neues Level an Einverständnis und Rücksicht der eigenen sowie fremden Insuffizienz gegenüber. 835 Ebd. S. 54 f. 836 Ebd. S. 202. 837 Ebd. S. 196.

276 2.5

Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Zwischen Schmerz und Nachsicht: verschiedene Momente der Scham

Bisher wurde auf die Bedeutung von Schamgefühlen für die Individuation der Figuren Genazinos in den einleitenden Bemerkungen und in den Einzelanalysen eher indirekt eingegangen, insofern Genazinos Protagonisten als extrem sensible und reflexive Charaktere herausgestellt wurden. Anhand einiger prägnanter Romanstellen wird nun nochmals direkt auf Schamgefühle rekurriert. Obwohl Schamgefühle in allen Romanen Genazinos eine tragende Rolle spielen (was auch für Protagonisten der Prä-Ich-Erzähler-Ära vor 1989 gilt), ist Die Liebe zur Einfalt sicherlich der prägnanteste Roman zum Thema. Auf das familienbezogene ›Sprechverbot der Scham‹ und das Verhältnis von schambedingter ›Unsagbarkeit‹ und literarischer Offenlegung wurde bereits verwiesen. Scham ist die alles verbindende Emotion in der Familie ›Genazino‹: hemmende Kraft für Vater und Mutter und treibender Reflexionsgegenstand Wilhelms. Scham in all ihrer brennenden Wucht tritt hier gleichsam als gelebte Emotionen wie auch als grundsätzlicher Reflexionsgegenstand auf. Als Beispielepisode für Ersteres sei Folgendes wiedergegeben: Die Wahrscheinlichkeit, daß wir ein schönes und menschliches Familienleben hätten haben können, wenn es Mutter erlaubt gewesen wäre, ohne Theater und Versteckspiel zu arbeiten, ruft ein Gefühl peinlicher und scharfer Lächerlichkeit hervor. Dabei spüre ich, daß ich nur aus Beschämung lache. Die Scham ist so stark, daß ich sie durch ein ebenso übertriebenes Lachen unwirklich machen muß. Aber nicht einmal durch das Lachen läßt sich die Scham bändigen.838

Die hier beschriebene Schärfe eines gegenwärtig empfundenen Schamgefühls zieht ihre Kraft aus den längst vergangenen Konstellationen der Kindheit und verweist somit wieder auf das Nicht-Altern der Scham und den sich in ihr verbergenden ›unnahbaren Persönlichkeitskern‹. Mit dem Erleben und der reflexiven Einordnung geht auch wieder die Spracharbeit am Material einher : An das Wort Scham hänge ich ein weiteres a an, so daß die Scham jetzt Schama heißt. Schama finde ich ganz ausgezeichnet! Ich muss mich beherrschen, daß ich nicht Leute anhalte und ihnen sage, daß es jetzt Schama heißt. Das Wichtigste an der Scham drückt sich erst in Schama aus: daß sie kaum zu bremsen ist und deswegen immer zu lange dauert.839

In diesem Zitat ziehen sich mehrere Momente der typischen Motivik Genazinos zusammen: Zum bedrängenden Gefühl der Scham und der Andeutung eines latent unkonventionellen Charakters gesellen sich die Bewältigung und der Genuss in der Spracharbeit, welche in der künstlerischen Deformation das Ei838 Genazino, W.: Die Liebe zur Einfalt. S. 31. 839 Ebd. S. 34.

Scham und Individuation: zur Genealogie eines Typus

277

gentliche besser zu treffen versteht als die konventionelle Sprache des Alltags. Die Reflexion des Ich-Erzählers Wilhelm steht hier in unmittelbarer Nähe zum werkübergreifenden poetischen Verfahren des Autors. Während der gesetzte, sein Leben rückblickend betrachtende Protagonist aus Die Liebe zur Einfalt die Quellen der Scham kennt und benennen kann, sind die beizeiten auftretenden Schamgefühle des Jugendlichen Weigands in Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman von diffuser Natur und knüpfen eine Verwandtschaft zwischen allgemeinem Zeitgeist und persönlichem Befinden. Doch auch hier führt erhöhte Reflexion ansatzweise zu Erkenntnissen: Plötzlich wußte ich, warum ich mich schämte. Ich fühlte mich erniedrigt. Unklar war nur, ob mich das Geschehen direkt erniedrigte oder ob ich mich selbst erniedrigte, weil ich an diesem Geschehen teilnahm. Aber es war mir nicht möglich, die Herkunft der Scham genau zu ermitteln. Die allgemeine Erniedrigung der Wirklichkeit und mein inneres Erniedrigungsgefühl waren untrennbar ineinander verschlungen.840

Auf die darauf folgende Errettung durch den Verleser ›Anfahrtszone/Armutszone‹ wurde bereits im Kapitel zu Sprache und Literatur eingegangen. Von Bedeutung ist in diesem Kontext vielmehr die Ausgangslage, die das persönliche Schamempfinden mit der allgemeinen gesellschaftlichen Wirklichkeit verwebt. Schon Weigand vollzieht den Doppelschritt, zugleich Kritiker und Teilnehmer an der gegebenen Oberflächenkultur zu sein. Daneben verortet er aber auch, wie alle Figuren Genazinos, die überdauernden Quellen persönlicher Schamempfindungen innerhalb der Frühphase der individuellen Entwicklung, wenn er über den peinigenden Akt des Kleiderkaufs in der Kindheit sinniert und es ihm erscheinen will, als »sei die Kindheit überhaupt der Ursprung aller Lächerlichkeit.«841 Auch wird die zeitüberbrückende Heftigkeit des Schamgefühls reflexiv aufgefangen, wenn Weigand sich die Frage stellt, »ob das Moment der Pein durch fehlgehende Kleidung noch immer in mir nachhallte oder neu auflebte.«842 Auch der Ich-Erzähler in Ein Regenschirm für diesen Tag kennt das Gefühl einer Scham, »die [s]einem Körper seit den Kindertagen vertraut ist.«843 Als eine zu Beginn des Romans ungewöhnlich geschädigte und fehlgehende Version einer typischen Genazino-Figur verrücken sich auch seine Schamanlässe bis ins Sonderbarste hinein. »Plötzlich ängstigte ich mich davor«, heißt es unversehens während eines anlaufenden Beischlafs, »ich werde mich bald dafür schämen, einmal gesund gewesen zu sein.«844 Gesundheit ist hier nicht mehr Norm und Maßstab, sondern markiert vielmehr die peinliche Diskrepanz zur wesenhaf840 841 842 843 844

Genazino, W.: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. S. 79. Ebd. S. 108. Ebd. Genazino, W.: Ein Regenschirm für diesen Tag. S. 168. Ebd. S. 56.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

teren Versehrtheit. Passend dazu schämt er sich umgekehrt »nicht der pathetischen Einfalt«845, die er im Zuge metaphysischer Grübeleien bezüglich seiner Seele anstellt. Parallel zu dieser Umwertung der Schamanlässe finden sich aber auch hier im herkömmlichen Sinne klassische Schamsituationen wieder, wenn z. B. ein akuter Schamanfall den Ich-Erzähler zum vorzeitigen Verlassen eines Schnellimbisses nötigt.846 Hypersensibel und im Inneren beschädigt erscheint ihm, »daß das ganze Leben ein pausenloses gegenseitiges Sichaufdrängen ist, eine Peinlichkeitsverdichtung ohne Beispiel.«847 Erst zum Ende hin, wenn der Ich-Erzähler sich zu fangen anschickt und die alten Mechanismen der täglichen kleinen Errettungen erneut zu greifen beginnen, treten die Schamabirrungen wieder hinter die nüchternen Beobachtungen und die Organisation des täglichen Lebens zurück. In Die Kassiererinnen standen, wie gezeigt, mehr die Frage nach der Lächerlichkeit und das Projekt der Gelassenheit im Zentrum. Die Erziehung zur Gelassenheit mit dem sitzenden Japaner am Stehtisch als Vorbild stellt quasi das Gegenprogramm zu übertriebener Schamhaftigkeit dar. Die intensiven Überlegungen zum Thema Lächerlichkeit bei gleichzeitigem relativem Mangel an konkreten Schammomenten verweisen zum einen auf die bereits fortgeschrittene Fremdheit des Ich-Erzählers seiner Umwelt gegenüber, führen ihn zum anderen jedoch als überdurchschnittlich vergeistigten Menschen vor. Scham und Lächerlichkeit sind in ihren sozialen Koordinaten verwandt, aber nicht deckungsgleich. Der starke körperliche Aspekt, der der Scham eigen ist, geht dem weniger emotional agierenden Protagonisten in Die Kassiererinnen zunächst ab. Erst in der Folge der geistigen Entstarrung wird Scham als akute reflexive Emotion wieder möglich. Den Momenten von Scham und Lächerlichkeit ist hier letztlich gemeinsam, dass sie eine Neujustierung des Selbst- und Weltbildnisses einfordern und ermöglichen. Auf diesen Humus gedeihen dann Sentenzen wie diese: »Der Abstand zu den Verhältnissen existierte nur in mir selber, nicht bei den Leuten. Prompt fiel das Differenzgefühl kommentarlos an mich zurück und beschämte mich.«848 Mittelmäßiges Heimweh und Das Glück in glücksfernen Zeiten greifen zum größten Teil klassische Kompositionen zur Scham auf. Beispielhaft wäre die Erholung von Scham im Unsichtbarwerden innerhalb eines überfüllten Zugabteils zu nennen.849 Natürlich tritt Scham in Mittelmäßiges Heimweh auch im Hinblick auf die fortschreitende körperliche Verkrüppelung Dieter Rotmunds auf: »Ich humple und empfinde dabei so starke Scham«, heißt es da bezüglich 845 846 847 848 849

Ebd. S. 64. Vgl. ebd. S. 65 f. Ebd. S. 133. Genazino, W.: Die Kassiererinnen. S. 54. Vgl. Genazino, W.: Mittelmäßiges Heimweh. S. 23.

Scham und Individuation: zur Genealogie eines Typus

279

des zuvor abgefallenen Zehs, »daß ich mein Leben als nicht fortsetzenswert einschätze und es deswegen in meinem Inneren wieder einmal beende.«850 Diese Aspekte sind dabei gängige Ausformulierungen eines der Scham geschuldeten Wunsches nach Verschwinden. Auch Das Glück in glücksfernen Zeiten greift nunmehr typische Versatzstücke zum Thema auf und kombiniert diese. So z. B. im folgenden Gedankengang Gerhard Warlichs: In einem Meer ichfremder Augenblicke drohe ich unterzugehen. Ich schäme mich und warte darauf, daß ich sofort sterbe. Im Kern meiner Scham haust die spürbare Verkleinerung meines Lebens. Ich schrumpfe innerlich auf die Kindergröße einer verkohlten Leiche. Ich kenne meine Scham und weiß seit langer Zeit, daß sie immer eine Anspielung auf meinen Tod ist. Wenn ich mich genug geschämt habe, werde ich befreit sterben dürfen. Dieser Augenblick scheint mir jetzt gekommen. Obwohl ich gehe, zerfalle ich. Körperteile fallen von mir ab, ich sehe sie zurückbleiben, während ich gehe. Ich bin gespannt, wie lange ich mich auf den Beinen halten kann. Heimlich schaue ich mich schon nach einem Krankenwagen um. Als Zeichen meiner Angst stoße ich einen nur mir verständlichen Rachenlaut aus. Wenn ich jemals von dieser Geschichte sprechen werde, werde ich das Wichtigste wieder verheimlichen müssen: daß ich das Leben nicht ausreichend verstehe. Dann rettet mich der Anblick eines kauenden Kindes. Es ist ein etwa zehnjähriger Junge, der auf einem Betonkübel sitzt und eine Brezel vertilgt.851

Geradezu routiniert dekliniert Genazino in diesem Roman die Facetten der Scham durch, angefangen von Scham und Überempfindlichkeit angesichts gängiger Konsumparolen852 über die Verquickung von Scham- und Schuldgefühlen853 und schambedingter Sprachlosigkeit854 bis hin zu der Koppelung von Scham, Empathie und Kindheit.855 Zum Ende wird die Scham als wesentlicher Grund für die Einweisung in die psychiatrische Klinik mit aufgeführt: Diese Tage bin ich mit einem Buch zu Tisch gegangen. Ich las nur, um die Scham beim Essen zu mildern. Und gleich auch die nachfolgende Scham, daß ich nur selten weiß, warum ich mich schäme. Aber deswegen bin ich ja wahrscheinlich hier. Ich habe keine Lust mehr, an dieser immer noch zunehmenden Kompliziertheit teilzunehmen. Das Leben wird derart unaufklärbar, daß ich immer öfter Generalverzicht üben möchte.856

Im Falle Gerhard Warlichs haben Schamgefühle dermaßen gestreut, dass er ihren Grund immer seltener konkret zu benennen weiß. Durch diesen Umstand und die Häufung ihrer Präsenz sind die Schamkonflikte hier schon pathologisch

850 851 852 853 854 855 856

Ebd. S. 93. Genazino, W.: Das Glück in glücksfernen Zeiten. S. 85. Vgl. ebd. S. 8. Vgl. ebd. S. 108. Vgl. ebd. S. 112. Vgl. ebd. S. 113 ff. Ebd. S. 155 f.

280

Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

zu nennen, so dass auf dieser Ebene eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik folgerichtig erscheint. Auch in Die Liebesblödigkeit werden musterhaft verschiedene Schammomente vorgeführt – so zum Beispiel wieder die zeitüberspannende Aktualität der Empfindung, wenn es von Seiten des Ich-Erzählers rückblickend angesichts der schon in den einleitenden Kapiteln geschilderten Situation der Hodenuntersuchung in der Kindheit heißt: Bis heute durchweht mich, wenn ich die Hodenuntersuchung erinnere, die Scham von damals. Die Geschichte ist belanglos geworden, aber die Scham ist immer frisch. Wo nimmt die Scham ihre Lebendigkeit her? Es ist, als würden sich die Gefühle von ihren Erlebnissen lösen und selbstständig weiterleben.857

Diese die Jahre übergreifende Dimension gilt auch im Rahmen einer Scham für einen Anderen – hier im Roman erörtert im Kontext eines Besuchs des Elterngrabes und mit der Pointe auf der Umkehrung einer kafka-artigen Vater-Figur : Es ist viele Jahre her, daß ich das Grab zuletzt gesehen habe. Obwohl mein Vater seit mehr als zwanzig Jahren tot ist, schäme ich mich noch immer für ihn. Schon beim Frühstück empört mich die so lange nachwirkende Ausstrahlung eines toten Vaters. Die Scham wird so stark, daß ich überlege, den Besuch auf dem Friedhof wieder zu streichen. Dabei habe ich mir immer gewünscht, daß es meinem Vater einmal besser gehen sollte als mir.858

Was Genazino auch in diesem Roman immer wieder vorführt, ist die, wie es der Ich-Erzähler sagt, »Tragödie der Scham, die mich damals und heute vorübergehend stumm werden läßt.«859 Zugleich wird die Tendenz zur Verstummung auch hier wieder aufgefangen in Form einer Literatur gewordenen Sprachtherapie, in der die offenherzige Berichterstattung eines fiktiven Ich-Erzählers deckungsgleich mit dem Roman ist. Es ist gerade dieser literarische Kniff Genazinos, seine Romane konsequent aus der Sicht ihrer Protagonisten heraus zu gestalten, der eine einfühlende und verständnisvolle Intimität zwischen fiktiver Figur und realem Leser erlaubt. In Die Liebesblödigkeit heißt es seitens des IchErzählers: »Denn wenn die wahren Dimensionen der Scham bekannt würden, müßte sich die Menschenwelt in ein Hospital der Nachsicht verwandeln, wozu ihr jegliche Fähigkeit abgeht.«860 Dieser Satz steht im Roman im Nachklang zur Reflexion über das Ende der Beziehung zu seiner Ex-Frau Bettina und der damit verbundenen Entdeckung, »daß der Kern der Intimität dem Menschen (vielleicht) feindlich gesonnen ist.«861 Vor dem Hintergrund dieser Feststellung kann 857 858 859 860 861

Genazino, W.: Die Liebesblödigkeit. S. 10. Ebd. S. 120 f. Ebd. S. 133. Ebd. S. 170. Ebd.

Scheitern und Einfühlung

281

Genazinos konsequente Form der Schilderung aus einer Ich-Perspektive als Arbeit an einer Schulung der Nachsicht via Einfühlung verstanden werden. Das Vorführen von Schammomenten und -gefühlen dient in diesen Romanen nicht der Befriedigung einer billigen Voyeurslust, sondern verleiht zum einen ihren Protagonisten Tiefe und Menschlichkeit und sensibilisiert zum anderen durch immer wieder neu durchexerzierte Schamreflexionen den Umgang mit dieser Emotion auf Seiten der Rezipienten.

3.0

Scheitern und Einfühlung

Die Untersuchung literarischer Texte als Aussagegegenstände menschlicher Selbstbilder bezüglich der Bedeutung von Schamgefühlen setzte in dieser Arbeit im Kapitel zu den anthropologischen Prämissen mit Kleists Über das Marionettentheater ein. Anhand dieses Textes wurde versucht, das Problematischwerden eines allzu idealistischen Menschenbildes zu Beginn der Moderne zu skizzieren und aufzuzeigen, wie sich fortan der Mensch wesentlich über seine Makelhaftigkeit definiert. Diese Tendenz spitzt sich in den Kafka-Texten noch zu. Der gattungstheoretische Entwurf — la Kleist wird in Brief an den Vater und Der Proceß von Kafka in paradigmatischen Individualgeschichten vorgeführt. Ausgangslage und fortdauerndes Merkmal der Identität von ›Josef K.‹ und ›Franz‹ sind ihr Ungenügen und ihr Versagen angesichts der gegebenen Weltumstände. Rettung und Erlösung gibt es hier nicht, maximal leichte Entlastung ist im Vorgang der schreibenden Verarbeitung zu finden. Der 2007 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Genazino setzt in seiner Dankesrede beide Autoren in direkte Relation: »Kafkas Werk ist der nach innen gewendete, der fortgeschriebene Kleist.«862 Vor dem Hintergrund der Figurenpsychologie in seinen Werken wird Kleist von Genazino als ein explizit vormoderner Autor verstanden. Dem zu jener Zeit vorherrschenden Ideal an männlich-militärisch geprägter Gefühlsausdruckshemmung entsprechend, fallen die Kleist’schen Protagonisten angesichts der sich katastrophisch entwickelnden Lebensumstände in Ohnmacht und markieren so die Endlichkeit ihrer Verfügbarkeit. »Die Ohnmacht ist ein bemerkenswerter Versuch des Subjekts«, so diesbezüglich Genazino, »die Knebelung des Innerlichen zu verlassen und sich als ein Ich darzustellen, das von keiner geltenden Ethik, auch nicht der preußischen, diszipliniert werden kann.«863 Das Vormoderne in diesem Kontext an Kleist sind für 862 Genazino, Wilhelm: Die Flucht in die Ohnmacht. Dankrede zum Kleist-Preis. In: KleistJahrbuch 2008/09. Hrsg. v. Günter Blamberger u. a. im Auftrag des Vorstandes der Heinrichvon-Kleist-Gesellschaft. Stuttgart, Weimar : Verlag J. B. Metzler 2009. S. 16 – 21. S. 21. 863 Ebd. S. 20.

282

Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Genazino nicht etwa noch fehlende Überlastungs- und Versagensgefühle. Es ist vielmehr der Umstand, keinen adäquaten Umgang mit diesen Gefühle finden zu können; nur die Ohnmacht als temporäre Totaltilgung des Ichs aus Sicht des Subjekts bietet kurzfristige Entlastung. Zur anthropologischen Grundkonstante hingegen erhebt er die Internalisierung gesellschaftlich angetragener Erwartungsprofile. »Jeder, der lebt«, heißt es in Die Flucht in die Ohnmacht, »wird zum Teilhaber des Entsetzens seiner Zeit, und niemand überlebt die Durchfilterung seines Ichs, ohne einen Teil der objektiven Gewalt als subjektive Gewalt privatisieren zu müssen.«864 Die Katastrophen, mit denen Kleist seine Figuren konfrontiert, bleiben zumeist nüchtern aus einer Außenperspektive beschrieben, die die innerlichen Befindlichkeiten der jeweils Betroffenen ausspart. An der Stelle des innerlichen Ausdrucks stehen die vormoderne Flucht in die Ohnmacht und die Verweigerung der reflexiven Aufarbeitung. Dem entgegen steht der moderne Umgang: »[D]as moderne Ich [verlagert] das Ohnmachtsgefühl als permanentes Überwältigtsein in die inneren Bezirke. Heute ist die verinnerlichte Ohnmacht zu einem gewöhnlichen Kulturgefühl von uns allen geworden.«865 Kafka nun hat nach Genazino »die von Kleist nicht ausgeschriebenen Leerräume des Ichs mit passenden Texten neu ausgestattet«866 und gibt in seinen phantastischen Überforderungsszenarien eine Innenschau dermaßen beschädigter Individuen. Kleist und Kafka arbeiten sich in ihren Texten am »ozeanische[n] Ohnmachtsgefühl«867 des Menschen ab, nicht letztgültiger Souverän seines eigenen Lebens zu sein und sich, so Genazino, »als Versucher des Glücks verausgaben«868 zu müssen. In einer Welt der Sublimationen, der kleinen Erfüllungen und der großen Versagungen, bleibt Glück als Phantasma bestehen, und die retrospektiv zu beantwortende Frage nach einem glücklich gelebten Leben wird zum säkularisierten Gegenstück des Jüngsten Gerichts. Dieses eschatologische Moment [der Glücksversuche] steht sowohl bei Kleist als auch bei Kafka im Zentrum. Bis es soweit ist, dass sich das Leben endgültig als ein gelungenes oder nicht gelungenes darstellt, durchwandert der Einzelne die endlosen Wälder der Scham, die ihn (wie bei Kleist und Kafka) immer wieder neu entblößen.869

Die ›endlosen Wälder der Scham‹ sind die zahllosen Momente der peinigenden Selbstentblößungen und Verfehlungen im Streben nach einem gelungen zu nennenden Leben. Scham ist die Bewusstwerdung des Scheiterns, das doch nicht vom Ideal lassen kann. Alle drei Elemente – das Streben nach Glück (bzw. die 864 865 866 867 868 869

Ebd. S. 18. Ebd. S. 20 f. Ebd. S. 21. Ebd. Ebd. Ebd.

Scheitern und Einfühlung

283

Vermeidung von Unlust), das Scheitern (bzw. die Ohnmächtigkeit angesichts des permanenten Überwältigtseins) und die Scham als notwendige Folge der Diskrepanz zwischen den ersten beiden Elementen – sind konstitutiv menschlich. Kleist und Kafka arbeiten sich an dieser Trias ebenso wie Genazino ab. Doch während Kleist und Kafka im Unglück und im Schmerz verharren, versucht sich Genazino an einer Aussöhnung.

3.1

›Lob des Scheiterns‹

Wie in den Einzelanalysen dargelegt, lassen sich Genazinos Protagonisten als eine Ahnenreihe begreifen, an deren Ende mit dem Protagonisten aus Die Liebesblödigkeit ein Charakter steht, der sich zum Durcheinander des (Liebes-) Lebens bekennt und, unter den gleichen Voraussetzungen wie zu Beginn der Geschichte, so zu einer versöhnlichen Grundhaltung den Lebensbedingungen und seinen Defekten gegenüber gelangt. Noch einen Schritt weiter geht Genazino, wenn man seine Essays mit berücksichtigt. Hier wird nicht nur der Status quo positiv stoisch abgenickt, sondern die sonst oftmals als katastrophal empfundenen Momente des Scheiterns erlangen im Hinblick auf Identität und IchBehauptung eine Aufwertung. Scheitern unter dem Aspekt der reflexiven Aufarbeitung wird von ihm umgedeutet als die Ermöglichung einer feinfühligen Individuation. Gerade im scheiternden Nichterfüllen vorgegebener Erwartungshaltungen schleust sich das genuin Eigene ein ins Leben. Dazu gesellt sich das Motiv des Widerstandes, wenn das objektive Scheitern willentlich in Kauf genommen wird; darunter fällt z. B. die plakative Passivität, mit der Weigand in Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman seine Bewerbungsgespräche boykottiert oder die Beförderung zum Vollzeitredakteur ausschlägt. Scheitern stellt für Genazino eine notwendige Kategorie menschlichen Werdens dar. Im Nachwort zu Robert Walsers Der Gehülfe schreibt er, daß jeder Mensch auch fehlgehender und mißratender Erlebnisse in der Gesellschaft bedarf, weil das Scheitern zur Bildung von Identität genauso beiträgt wie Glück, Anerkennung oder Erfolg. Nur im Durchlauf durch die widrige Welt kann ein Mensch feststellen, was er ist und wer er sein möchte und was er nicht ist und wer er nicht sein möchte.870

Während sich im gesellschaftlichen Sinne ein gelingendes Leben zumeist en passant verwirklicht, gerät im Scheitern die Maschinerie ins Stocken; es bildet somit einen prädestinierten Ort kritischer Reflexion. Gerade Genazinos splee870 Genazino, Wilhelm: Nachwort. In: Walser, Robert: Der Gehülfe. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1978 und 1985. Copyright für diese Ausgabe und das Nachwort: Zürich: Manesse Verlag 2004. S. 369 – 380. S. 377 f.

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

nige Protagonisten und die immer wieder von ihm durchaus wohlwollend thematisierten Außenseiter, Halbverrückten und gesellschaftlich Abgerutschten sind weniger in einem endgültigen Sinne negativ gescheitert, sondern eher unterscheidbare Individuen in der Masse der Stadtbewohner. Bedenkt man dann noch die von Genazino in seiner Kleist-Rede aufgeworfene Kategorie des Glücks und des geglückten Lebens als ein je individuell zu bestimmendes Kriterium, dann verlieren objektive Maßstäbe von Gelingen und Scheitern zusehends an Härte. Als schlagwortartige Überspitzung der wesenhaften Bestimmung des Menschen könnte ein Titel eines weiteres Essays von Genazino gelten, der sich im Untertitel als eine Reflexion Über das Scheitern ausgibt: Omnipotenz und Einfalt. Genazino führt hier seine Gedankengänge ähnlich seiner Reflexionskaskaden in den Romanen anhand der Beobachtung eines gelangweilten Kindes in einem Wartezimmer ein und entfaltet von da aus Grundsätzliches: Die kindliche Tätigkeit bricht entweder von selbst zusammen oder wird (häufiger) von Erwachsenen beendet. Daraus erwächst eine allmähliche Einübung ins Scheitern, von der wir eigentlich hoffen sollten, daß sie uns auch im Erwachsenenleben zur Verfügung steht. Aber dann zeigt sich, daß wir das gelassene Scheitern trotz der langen Übungszeit doch nicht haben lernen können. Der erwachsene Mensch, ein Wesen mit Gedächtnis, Bewußtsein und Biographie, kann kaum ein Scheitern vergessen, im Gegenteil, es macht aus fast jedem einzelnen Mißerfolg ein bleibendes inneres Vorkommnis.871

Scheitern ist nicht zu vermeiden in einer Welt pluralistischer Anschauungen, in der sich die Gegebenheiten zumeist dem Zugriff des Einzelnen entziehen. Genazino begreift Scheitern in einem ersten Schritt gewöhnlich als Gefahr für das Subjekt, das »zu einem Dementi unseres Ichs führen«872 kann. Scheitern ist gemäß den gängigen Vorstellungen zuerst negativ konnotiert; es ist ein schmerzhafter Aktualisierungsprozess, welcher das eigene Ich in der Wertung nach unten drückt. Zugleich geht mit der vorgeschobenen Angst vor dem Scheitern eine Tendenz zur Passivität einher, zu einer Flucht raus aus dem Feld der Handlungen und Selbstbeobachtungen hin zu Unterhaltung und Zerstreuung. In diesem Kontext bringt Genazino immer wieder Kritik an der gängigen Kultur- und Unterhaltungsindustrie vor, die ganz in den Manövern der Ablenkungen aufgeht. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises schreibt er diesbezüglich: Der Erfolg der Kulturindustrie ist triumphal: Sie hat es geschafft, daß sich Menschen nicht mehr für sich selbst interessieren. […] Ich sehe keine Gruppe, keine Bürgerin-

871 Genazino, W.: Omnipotenz und Einfalt. S. 98 f. 872 Ebd. S. 99.

Scheitern und Einfühlung

285

itiative, erst recht keine Partei, die den einzelnen ernst nimmt. Hier, denke ich, ist der Ort der Literatur.873

Genazino sieht in der Literatur nicht Zerstreuung, sondern den Austragungsort einer ergiebigen Selbstbeschäftigung. Weiter heißt es: Wer fortgesetzt liest oder schreibt, bricht mit der Anmaßung, die in jeder Vergesellschaftung steckt, daß es Personen oder gar Ämter geben könnte, die über ihn, den Lesenden, den Sich-mit-sich-selbst-Verständigenden, besser Bescheid wissen als er selbst.874

Hinsichtlich des Verhältnisses von Individuation zu Scheitern setzt Genazino in Abgrenzung zu den Agenten der Zerstreuungskultur Künstler, die in ihren Werken »das Scheitern zu einer Kategorie des allgemeinen Nachdenkens«875 machen. Anstatt Ablenkung bieten Kunstwerke Konfrontation und Verarbeitung an.876 Was in der Kunst plakativ eingefordert wird, wohnt als prinzipielle Möglichkeit auch dem alltäglichen Scheitern inne. Und hier setzt Genazinos »Lob des Scheiterns«877 ein: Denn jeder Fehlschlag, der uns vorübergehend aus dem Tritt bringt, stößt uns in ein inneres Warten hinein, in dem wir nicht nur erschrecken, sondern auch – zu denken anfangen. Wer scheitert, schaut zurück, und wer zurück schaut, sinnt nach. Im Scheitern wird das Biographische selber reflexiv ; allmählich bildet sich eine zusammenhängende Lebenserzählung, eine Innenwelt-Perspektive, eine nicht mehr abbrechende Sinn-Erwägung, kurz: es bildet sich Identität.878

Jedes Scheitern wird zum Markstein in der Biografie und zugleich zum Anlass einer kritischen Reflexion. »Individualität gewinnen wir nur in der Abweichung«879, heißt es in Abstand gibt es nicht im Sonderangebot. Angesichts scheiternder Unternehmungen und des momentweisen Aufblitzens von Mängeln und Verfehlungen gibt Genazino das Schlagwort von der »Würde des 873 Genazino, Wilhelm: Abstand gibt es nicht im Sonderangebot. Rede zum Bremer Literaturpreis. In: Ders.: Achtung Baustelle. Frankfurt am Main: Schöffling & Co Verlagsbuchhandlung 1998. S. 161 – 167. S. 164. 874 Ebd. S. 164 f. 875 Genazino, W.: Omnipotenz und Einfalt. S. 100. 876 Ganz in der Tradition der Sublimierungsthese arbeitet Genazino mit einem Künstlerverständnis, das erfahrene Fehlschläge in Werke umwandelt und mit einem gewissen therapeutischen Schmerzverwandlungs-Gestus daherkommt. In Omnipotenz und Einfalt streift sich diese These noch das Kleid einer Frage über : »War das Scheitern des Menschen nicht schon immer das Thema aller Künste?« (ebd.) In einem weiteren Text heißt es lapidar : »Kunst machen heißt Fehlschlägen nachschauen.« (Genazino, Wilhelm: Funkelnde Scherben. Der Autor und sein Preis. In: Ders.: Der gedehnte Blick. München, Wien: Carl Hanser Verlag 2004. S. 30 – 37. S. 35) 877 Genazino, W.: Omnipotenz und Einfalt. S. 102. 878 Ebd. 879 Genazino, W.: Abstand gibt es nicht im Sonderangebot. S. 166.

286

Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Fehlschlags«880 aus. Was von ihm in seinen Essays theoretisch erschlossen wird, führt er in seinen literarischen Texten paradigmatisch anhand seiner Figuren vor. In der Abweichung, im Scheitern, in der Scham und vor allem in der reflexiven Durchdringung dieser Elemente erlangen seine Figuren nicht nur Identität, sondern gelangen in der Aussöhnung mit ihrer Biografie auch in die Reichweite des Glücks.

3.2

Übungsaufgaben der Einfühlung

In den einleitenden Kapiteln zu Genazino wurde auf die Bedeutung des Wahrnehmens und Sehens und auf das eigentümliche Verhältnis seiner Protagonisten zu den alltäglichen Dingen in ihrer Umgebung unter besonderer Berücksichtigung des Motivs des Rettens verwiesen. Alexandra Pontzen führt in ihrem Aufsatz Banalität und Empfindsamkeit. Wilhelm Genazinos Poetik alltäglicher Gefühle auf, dass es bei genauer Betrachtung der Texte Genazinos nicht wesentlich um die Inszenierung von Wahrnehmung geht, sondern um Einfühlung. Genazinos Prosa ist »weniger eine Kunst des Schauens als die Artistik einer Einfühlung, die auf ein Konzept von Aisthesis rekurriert, in dem Empfindung, Wahrnehmung und Gefühl noch ungeschieden sind.«881 Pontzen weist zu Recht darauf hin, dass – wie es sich in den sprachlichen Verlesern bei Genazino ebenso zeigt wie in der Begierde des Rettens von Gegenständen – hinter der bloßen, sehenden Registratur schon immer ein empfindendes Verhältnis zu den Dingen und der Sprache besteht. Dabei ist das Sehen nicht zwangsläufig der Empfindung vorgeschaltet: Das Sehen respektive Wahrnehmen geht so nicht etwa dem Empfinden voraus, sondern […] umgekehrt geht die Emotion der Kognition voraus: Das diffus empfindende Subjekt findet Erlösung oder wenigstens Halt in der meist visuellen Wahrnehmung, genauer im Wahrgenommenen, das als sinnlich-konkreterer Ausdruck des EmotionalAmorphen dieses, wenn nicht auf den Begriff, so doch auf die Gestalt und so zur Anschauung bringt.882

Pontzen begreift nun das Verhältnis von Figur und wahrgenommen Objekt als eine Projektion von emotionalen Befindlichkeiten auf äußere Gegenstände. Sie schreibt hinsichtlich ihrer Analyse Dieter Rotmunds, dem Protagonisten in Mittelmäßiges Heimweh: 880 Genazino, W.: Omnipotenz und Einfalt. S. 102. 881 Pontzen, Alexandra: Banalität und Empfindsamkeit. Wilhelm Genazinos Poetik alltäglicher Gefühle. In: Alltag als Genre. Hrsg. v. Heinz-Peter Preusser und Anthonya Visser. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2009. S. 231 – 244. S. 237. 882 Ebd. S. 236.

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Genazinos Poetik des Empfindens, die sich als Poetik des Sehens ausgibt, erlaubt es dem auf die eigene Befindlichkeit fixierten Egozentriker, als extrovertierter Weltbeobachter in Erscheinung zu treten und sich dabei als am Innerlichkeitsparadigma der Empfindsamkeit geschulter Empfindungsaristokrat zu inszenieren.883

Sehen bzw. Wahrnehmen ist damit immer schon das Aufladen der Dinge mit einem emotionalen Mehr, sodass die Auseinandersetzung mit dem so geschauten Gegenstand ebenfalls ein Stück Arbeit am Selbst ist. Diese über die Ebene der reinen Perzeption hinausgehende Etablierung eines Mehrwertes ist durchaus ausgesprochene Programmatik Genazinos. In der zweiten Vorlesung seiner Frankfurter Poetikvorlesungen, in der er sich u. a. mit der Bedeutung von Details beschäftigt, heißt es: »Der Betrachter, der einen Gegenstand anschaut, verknüpft Wahrnehmung mit Empfindung und Fiktion.«884 Der Verweis auf die Fiktion macht deutlich, dass diese Verknüpfungsstruktur im Sinne einer Poetisierung verstanden werden kann. Dementsprechend ist in der darauf folgenden Vorlesung zu lesen: »Das Poetische ist der Gewinn einer Anschauung von etwas, was gleichzeitig als wertlos hätte übersehen werden können.«885 Das Verhältnis von innerer Disposition und äußerlichen Objekten der Anschauung ist dabei für Genazino ein wechselseitiges, was Inneres und Äußeres zu einer emotionalen Einheit zusammenfasst. In seinem Nachwort Flüchtige Tote im Begleitmagazin zur Marbacher Schiller-Ausstellung Autopsie Schiller schreibt er im Hinblick auf materielle Übrigbleibsel längst verstorbener Dichter : Wir als Betrachter haben die natürlichen Real-Objekte immer schon in uns aufgenommen und in unserem Bewusstsein auf phantastische Weise wiederaufbereitet. Durch diese Verlegung von außen nach innen verliert jedes Objekt seine natürliche Gestalt und verwandelt sich in ein Phantasma unserer Aneignung. Durch die Art der Verwandlung entsteht gleichzeitig eine Information darüber, warum wir ein Objekt so sehr schätzen, dass wir es verinnerlichen mussten.886

Analog zum Empfindungsverhältnis der Protagonisten zu den mit einem emotionalen Mehr aufgeladenen Gegenständen in ihrer Wahrnehmungsfokussierung treten auf einer Metaebene die Romane Genazino in eine besonders intime Korrespondenz mit den Lesern. Sicherlich ist es richtig, mit Thomas Anz allgemein Literatur als »besonders komplexe Kulturtechnik der Emotionalisierung«887 zu begreifen. D. h., Literatur ist explizit mit darauf ausgerichtet, emo883 Ebd. S. 243. 884 Genazino, Wilhelm: Die Belebung der toten Winkel. Frankfurter Poetikvorlesungen. München, Wien: Carl Hanser 2006. S. 43. 885 Ebd. S. 57. 886 Genazino, Wilhelm: Flüchtige Tote. Schriftsteller und ihre Museumslegenden. In: Autopsie Schiller. Eine literarische Untersuchung. Hrsg. v. Deutsches Literaturarchiv Marbach. Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2009. S. 137 – 152. S. 141. 887 Anz, Thomas: Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen, Reflexionen und

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tionale Anteilnahme auf Seiten des Rezipienten zu provozieren. Diese prinzipielle Stoßrichtung tritt allerdings bei Genazino in potenzierter Wirkung auf. Der bedeutendste formale Aspekt ist hierbei sicherlich der schon mehrfach angesprochene Einsatz eines konsequenten Ich-Erzählers als vermittelnde Instanz zwischen Inhalt und Leser. Lesen ist hier die Übernahme einer Ich-Perspektive, die eine exklusive Nähe zum Protagonisten vortäuscht, da keine weitere Instanz einer unbeteiligten Deskription oder eines mehrwissenden auktorialen Erzählers in den Text eingeschaltet ist. Dieser formale Kniff wird durch viele weitere Punkte ergänzt. Durch eine gewisse Bedächtigkeit im Erzählen in Kombination mit dem Ausbleiben plötzlicher, dramatischer Unterbrechungen werden die Geduld und die Detailwahrnehmung des Rezipienten geschult. Die Beschreibungskaskaden alltäglicher Tableaus ziehen den Leser zum einen in eine ihm bekannte Sphäre, zum anderen wird er mit den Möglichkeiten eines anderen, genaueren Sehens vertraut gemacht. Was sonst im gelebten Alltag der Städte zumeist folgen- und achtlos zwar wahrgenommen, aber nicht reflektiert wird, gelangt hier zu einer Aufwertung durch Fokussierung. Dazu wird durch die mitgehende Reflexion und den Aspekt der Rettung eine ethische Komponente eingeschleust. Weiße Plastikgabeln können so, wie in Die Liebe zur Einfalt gesehen, Anstoßpunkte zu Überlegungen über menschliches Verhalten werden, die nicht in humanistischen Seminaren oder angesichts von größer angelegten Katastrophen vonstattengehen, sondern sich auf der Straße und im Alltag verorten. Was Genazino anbietet, sind Übungsaufgaben der Einfühlung. Einfühlung zum einen in dem Sinne, dass Genazinos Protagonisten unbelebte Objekte emotional mit Bedeutung aufladen.888 Zum anderen aber auch dahingehend, und hier überschreiten die Texte ihre immanente Ebene und treten ein in ein konkretes Text-Leser-Verhältnis, dass der Leser, bedingt durch formale Vorentscheidungen des Textes (Ich-Erzähler, alltägliche Settings, ungewöhnliche Gedanken- und Reflexionsgänge etc.), aufgefordert wird, den Protagonisten auch in ihren emotionalen Befindlichkeiten ohne die Einspeisung distanzierend wirkender Instanzen zu folgen. Unterstützt wird eine positive und neugierige Einfühlung durch die ästhetische Qualität. Der spielerische Umgang mit Sprache, das Einführen von frischen Neologismen, der hintergründige Humor z. B. in Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung, In: Im Rücken der Kulturen. Hrsg. v. Karl Eibl u. a. Paderborn: mentis Verlag 2007. Reihe: Poetogenesis. Studien und Texte zur empirischen Anthropologie der Literatur. Hrsg. v. Karl Eibl u. a. Bd. 5. S. 207 – 239. S. 217. 888 So fasst es auch Pontzen in ihrer Kritik der typischen Figuren Genazinos: »Es geht also nur vermeintlich um das ›reine‹ Sehen, in Wirklichkeit um ›bedeutungsvolles‹, also zwanghaft von emotionaler Signifikanz aufgeladenes Sehen, das dem Empfinden zum Ausdruck verhilft, indem es dieses in alltägliche Dinge projiziert, sodass die Objektivation das Ich von seiner Subjektivität entlastet, dies aber nicht etwa naiv, sondern in sentimentalischer Weise«. (Pontzen, A.: Banalität und Empfindsamkeit. S. 238)

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den Verlesern, die Lust am Spleen und den kleinen Abweichungen – all diese Momente würzen die Texte Genazinos und lassen sie, den zumeist recht biederen Handlungsverläufen und der vermeintlichen Unscheinbarkeit seiner ›Helden‹ zum Trotz, zu einem genussvollen Ereignis werden. In Kombination mit den inhaltlichen Voraussetzungen steigert sich nun das einfühlende Lesen hin zu einer Lehrstunde der Nachsicht.889 Wie aufgezeigt, lassen sich die Figuren Genazinos in einer Typologie zusammenfassen. Nicht deplatziert genug, um wirklich jenseits der Bandbreite moderner Individualitätsentwürfe zu liegen, haftet ihnen dennoch ein gewisser Geruch von Absonderlichkeit an. Extrem reflexiv, sensibel, beizeiten von seltsamen Marotten oder Handlungsanliegen gezeichnet, sind sie leicht entrückte Teilnehmer auf den Spielfeldern von Beruf, Beziehung und Alltagsbewältigung. Prinzipiell auf Problemfelder rekurrierend, die dem Leser aus seinen konkreten Lebenszusammenhängen vertraut sein dürften, generieren die Texte durch ihre Strategien der sanft erzwungen Einfühlung Verständnis für das mehr oder minder normabwegige Verhalten. Durch relativ ähnliche Sujets und Aufbaustrukturen arbeitet jeder Roman Genazinos an der zunehmenden Routinisierung solcher Möglichkeiten des reflektierenden Nachvollzugs. Darüber hinaus können diese Einübungen mit einer Parallelentwicklung zwischen Protagonist und Leser einhergehen. Wenn, wie gesehen bei dem Protagonisten in Die Liebesblödigkeit, als Ergebnis des Reflexions- und Bearbeitungsprozesses ein aussöhnendes Einverständnis mit den gegebenen Situationen steht und man seinen Katastrophen mit stoischer Gelassenheit zuzunicken versteht, dann schwingt hier in der Einfühlung auch eine Übung der Nachsicht mit sich selbst mit. Gerade in Kombination mit dem wesenhaften Zug der Literatur, ein ›sicherer‹ Raum der Erfahrungsbildung zu sein, sind die Romane Genazinos Schulen der Rücksichtnahmen und der Gelassenheiten. Genazino konstatiert in Das Exil der Blicke, seiner Rede während der Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Dresden 1996:

889 »Daß Literatur in der Tat dazu geeignet sein könnte, emotionale Kompetenzen zu fördern«, stellt Anz kritisch im Rahmen seiner Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung fest, »ist eine an Schulen und Universitäten wenig verbreitete Einsicht.« (Anz, Thomas: Plädoyer für eine kulturwissenschaftliche Emotionsforschung. Zur Resonanz von Daniel Golemans ›Emotionale Intelligenz‹ und aus Anlaß neuerer Bücher zum Thema ›Gefühle‹. In: Literaturkritik, Nr. 2 / 3, März 1999 [1. Jahrgang]. http://www.litera turkritik.de/public/rezension.php?rez_id=47. [21. 05. 2013].) Anz plädiert dafür, auch in der Literaturwissenschaft u. a. unter Berücksichtigung der Erkenntnisse von der Emotionsforschung in der Psychologie vermehrt das Zusammenspiel von Text und affektiver Reaktion zu untersuchen. Zur Frage nach einem allgemeinen ›Emotional Turn‹ innerhalb der Literaturwissenschaften vgl. ebenfalls Anz, Thomas: Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung. In: Literaturkritik, Nr. 12, Dezember 2006. http://www.literatur kritik.de/public/rezension.php?rez_id=10267. [21. 05. 2013].

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Literatur als Erfahrung: Wilhelm Genazino

Es gibt eine intime Nähe zwischen dem oft verworrenen Leben der Menschen und den Ausdrucksbewegungen moderner Literatur, die über formale Analogien weit hinausgeht. Viele der übriggebliebenen Leser wissen von dieser Nähe; sie nutzen den modernen Text als Schauplatz ihrer möglichen Individuation, für deren Ausdruck in den herrschenden Wirklichkeiten kein Platz ist.890

Dies gilt vor allem auch bezüglich des so oft in den Romanen thematisierten Umgangs mit Schamgefühlen. Einerseits werden durch die theoretischen Überlegungen der Protagonisten Schamgefühle zur intellektuellen Reflexion angeboten. Zugleich werden im Zuge von Emotionalisierungen beschriebene Schammomente in der Literatur nachfühlbar gemacht. Durch Genazinos Strategien der Einfühlung findet eine Sensibilisierung dieser Emotion gegenüber statt, die maßgeblich auf Nachsichtigkeit und Gelassenheit hin ausgelegt ist. In diesem Sinne sind Genazinos Romane Erfahrungstexte mit doppeltem Subjekt. In der entstehenden Intimität zwischen Text und Leser wird nicht an der Abwehr, wohl aber an der Entdramatisierung von Schamvorfällen gearbeitet – und dies durchaus mit dem Ausblick, aus diesem Lernen etwas hinüberzuretten in den Bereich der ›herrschenden Wirklichkeiten‹. Die ethische Komponente im Romanwerk Genazinos zielt darauf ab, einerseits durch die im Lesen vollzogene Übung des Einfühlens die Empathiefähigkeit des Lesers zu sensibilisieren, andererseits Gefühle der Scham kommunizierbar, ertragbar und für die Individuation fruchtbar zu machen.

890 Genazino, Wilhelm: Das Exil der Blicke. In: Ders.: Achtung Baustelle. Frankfurt am Main: Schöffling & Co Verlagsbuchhandlung 1998. S. 174 – 183. S. 182 f.

Schluss: ›Ein Angebot des Beistands‹

Wilhelm Genazino schreibt anlässlich der Verleihung des Rinke-Preises 2010 in seiner Dankesrede Die Reise, der Tagtraum, das Versteck: Sie[, d. h. die Scham,] ist ein Brudergefühl des Scheiterns, sie ist immer auf dem Sprung, sie warnt ununterbrochen vor dem Leben, sie empfiehlt, das Leben überhaupt seinzulassen, und wer es trotz ihrer Warnungen dennoch riskiert, wird hinterher von ihr zur Rechenschaft gezogen. Die Scham bestraft den Lebenden, weil er lebt, und sie bestraft den Toten, weil er gelebt hat. Einerseits verlangt sie, endlich ausgesprochen zu werden, andererseits erstickt sie jede Störung ihres Schweigens. Die Paradoxie geht auf ihre unerforschliche Genese zurück; je innerlicher sie ist, desto phantomartiger benimmt sie sich.891

Wenn es um die Scham geht, definiert Genazino sie bezogen auf das Gefühl des Scheiterns und als eine Emotion, die einschreitend und sanktionierend wirkt. Zugleich stellt er sie mit dem Hinweis auf ›den Lebenden‹ und ›den Toten‹ in einen existenziellen Zirkel, verweist auf die ihr inhärente paradoxe Bewegung von Verschleierung und Offenlegung, von Kommunikationsabbruch und Signalfunktion. Mit dieser facettenreichen Bestimmung knüpft Genazino an verschiedene Herangehens- und Interpretationsweisen an, die die Scham z. B. – wie Levinas in Ausweg aus dem Sein oder Sartre in Das Sein und das Nichts – als maßgebliche Welt- und Selbsterfahrungsemotion begreifen. Darüber hinaus erweist er sich durch die souveräne Skizzierung von Schamsituationen in seinen Romanen als sensibler Kenner der Funktions- und Vollzugsweisen von Schamgefühlen im Bereich alltäglicher Begegnungen und reflektiert immer wieder ihre Bedeutung für die individuelle Entwicklung des Einzelnen. Gemessen an dieser gewichtigen Bedeutung der Scham für das Leben der Menschen, bedarf der Einzelne erklärenden Beistandes, verständnisvoller Solidarität und kundiger Führung innerhalb der ›endlosen Wälder der Scham‹. Hier nun situiert sich die Literatur mit ihren Möglichkeiten und Angeboten. Genazino, 891 Genazino, Wilhelm: Die Reise, der Tagtraum, das Versteck. Dankrede für den Rinke-Preis. In.: Ders.: Idyllen in der Halbnatur. München: Carl Hanser Verlag 2012. S. 217 – 221. S. 220.

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Schluss: ›Ein Angebot des Beistands‹

der in Die Reise, der Tagtraum, das Versteck in z. T. leicht modifizierten Entlehnungen Gedankengänge aus seiner Dankesrede Das Exil der Blicke von 1996 wieder aufgreift,892 fokussiert in dieser Rede die Komplizenschaft aus Autor, Text und Leser im Kampf um Subjektivität angesichts der Erfahrung des Zusammenstoßes von »allgemeiner und individueller Wahrheit.«893 Er schreibt: Subjektivität in diesem Sinne ist nichts anderes als die endlich einsetzende Intimität einer Person mit sich selbst. Vielen Lesern ist dieser Konflikt [von allgemeiner und individueller Wahrheit] von ihren eigenen inneren Auseinandersetzungen bekannt. Sie erkennen an diesem Punkt das Angebot der Literatur. Es ist ein Angebot des Beistands.894 892 Die entsprechenden Passagen ähneln einander, nuancieren aber in der Wortwahl und setzen somit leicht verschobene Interpretationsimpulse. So heißt es in Das Exil der Blicke: »Soweit ich sehe, teilt nur das Medium der Literatur – genauer : nur ein kleiner Teil der Literatur – das Geschick des an den Rand gedrängten Subjekts. Die Mitteilungen, die aus dem nie ausgesprochenen Exil kommen, werden im geschäftigen Zentrum kaum noch verstanden. Das Sprechen der Romanfiguren ähnelt einem vergeblichen Sprechen. Dabei gehört das vergebliche Sprechen mehr denn je zur progressiven Universalphilosophie: Wer nicht verstanden wird, spricht aus der Mitte dessen, was noch zu sagen ist.« (Genazino, W.: Das Exil der Blicke. S. 182) In Die Reise, der Tagtraum, das Versteck ist in Abwandlung zu lesen: »Soweit ich sehe, teilen nur die Kunst und die Literatur das Geschick des an den Rand gedrängten Subjekts. Die Mitteilungen, die aus der seltsamen Verbannung des Künstlers kommen, werden im geschäftigen Zentrum kaum noch verstanden. Dabei könnte das vergebliche Sprechen ein progressiver Trost sein: Wer nicht verstanden wird, spricht aus der Mitte dessen, was noch zu sagen sein wird.« (Genazino, W.: Die Reise, der Tagtraum, das Versteck. S. 218) Gerade die Erweiterung von ›einem kleinen Teil der Literatur‹ hin zum unbestimmten ›Kunst und Literatur‹ und der Wechsel von der ›progressiven Universalpoesie‹ hin zum ›progressiven Trost‹ deuten in der späteren Version eine wesenhaftere Funktionsbestimmung der Literatur an. Diese Wendung lässt sich auch an einer weiteren Passage festmachen, die in ihrer ersten Version in dieser Arbeit zum Ende des letzten Kapitels bereits zitiert wurde. Dazu der Wortlaut aus Das Exil der Blicke: »Es gibt eine intime Nähe zwischen dem oft verworrenen Leben der Menschen und den Ausdrucksbewegungen moderner Literatur, die über formale Analogien weit hinausgeht. Viele der übriggebliebenen Leser wissen von dieser Nähe; sie nutzen den modernen Text als Schauplatz ihrer möglichen Individuation, für deren Ausdruck in den herrschenden Wirklichkeiten kein Platz ist.« (Genazino, W.: Das Exil der Blicke. S. 182 f.) Im Abgleich dazu heißt es in Die Reise, der Tagtraum, das Versteck: »Es gibt eine intime Nähe zwischen dem oft verworren erscheinenden Leben der Einzelnen und den Ausdrucksbewegungen moderner Literatur, die über formale Analogien weit hinausgeht. Viele Leser wissen von dieser Nähe; sie benutzen den Text als Übungsstätte für ihre Individuierung, für deren Ausdruck in den herrschenden Wirklichkeiten oft kein Platz ist. Moderne Literatur ist der immer wieder neue Versuch, Erfahrungsautonomie zu gewinnen in Umgebungen, die weder Erfahrungen noch Autonomie brauchen können.« (Genazino, W.: Die Reise, der Tagtraum, das Versteck. S. 219) Hier ist es gerade der Wechsel vom ›Schauplatz‹ hin zur ›Übungsstätte‹, der im Zusammenspiel von Text und Leser den teilnehmenden, einfühlenden Part des Rezipienten stärker mitbetont. Dies deckt sich damit, dass Genazino in seiner Rinke-Preis-2010-Rede generell die Position des Lesers stärker betont, z. B. in folgender Sentenz: »Auch der Leser liest, um sich im Tarnanzug eines Textes seinem Allereigensten zu nähern.« (ebd. S. 218) 893 Ebd. S. 221. 894 Ebd.

Schluss: ›Ein Angebot des Beistands‹

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Die Literatur mit ihren Möglichkeiten, Erfahrungsmomente zur Reflexion und zur Einfühlung anzubieten, ist »ein Kompagnon des immer gerade wegkippenden und sich dann doch wieder aufrichtenden Ichs.«895 Was Genazino hier für die jeweils zeitgenössische Literatur allgemein beschreibt, trifft auch bezüglich des Umgangs mit Schamgefühlen zu. Wie diese Arbeit aufgezeigt hat, gibt es viele Möglichkeiten, sich der Schamthematik zu nähern. Soziologische und psychologische Untersuchungen beschreiben ihre Funktionsweisen und Wirkungszusammenhänge. Beiträge der philosophischen Anthropologie und der Existenzphilosophie verzahnen sie mit den Fragen nach grundlegenden, wesenhaften Zugängen zum Selbst-Welt-Verhältnis. Kulturgeschichte und ethnologische Vergleiche verankern Schamnormen geschichtlich und interkulturell. All diese Zugänge zur Scham bieten ertragreiche Ergebnisse bezüglich der Beschreibung, Katalogisierung und Offenlegung ihrer Strukturmerkmale. Doch die Literatur offeriert darüber hinaus mit dem Moment der Einfühlung einen Zugang, der genuin der subjektiv-emotionalen Dimension dieses sozialen Gefühls Rechnung trägt. Die Literatur als ›Angebot des Beistands‹, wie Genazino schreibt, setzt sich hinweg über das Feld der Erklärungen, um dem Subjekt beizustehen. Sie vermag das Unangenehme der Scham nicht tilgen zu können, aber sie mildert die Vereinzelung, indem sie dem Erleben Worte anheimstellt. »Die Aussicht, über den Umweg eines fremden Textes mit sich selbst zu kommunizieren, ist wahrscheinlich die stärkste Verlockung, die von Literatur ausgeht.«896

895 Ebd. 896 Ebd. S. 218.

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