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Deutsch Pages [211] Year 2004
Table of contents :
Vorwort 7
Barbara Feichtinger:
Einleitung 9
Katharina Waldner:
„Was wir also gehört und berührt haben, verkünden wir
auch euch ...". Zur narrativen Technik der Körperdarstellung
im Martyrium Polycarpi und der Passio Sanctarum Perpetuae
et Felicitatis 29
Timon Binder:
Der Körper in der Vernichtung - Kommunikationsstrategien
der frühchristlichen Märtyrerliteratur am Beispiel der Passio
Montani et Lucii 75
Alfred Breitenbach:
Ambrosius von Mailand: Ein Bischof für die Kranken?
Eine Beurteilung anhand des Lukaskommentars und der
Schrift De officiis 101
Stephen Lake:
Fabiola and the Sick: Jerome, epistula 11 151
Therese Fuhrer:
Körperlichkeit und Sexualität in Augustins
autobiographischen und moraltheoretischen Schriften 173
Christoph Markschies:
Körper und Körperlichkeit im antiken Mönchtum 189
Beiträge zur Altertumskunde Herausgegeben von Michael Erler, Dorothee Gall, Ernst Heitsch, Ludwig Koenen, Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen Band 184
Κ · G · Saur München · Leipzig
Die Christen und der Körper Aspekte der Körperlichkeit in der christlichen Literatur der Spätantike
Herausgegeben von Barbara Feichtinger und Helmut Seng
Κ · G · Saur München · Leipzig 2004
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Biblio grafisch e In formation D e r De utsch e n Biblioth ek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über h t t p:/ / dn b. ddb. de abrufbar. © 2004 by Κ. G. Saur Verlag GmbH, München und Leipzig Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. All Rights Strictly Reserved. Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlages ist unzulässig. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, 99947 Bad Langensalza ISBN 3-598-77736-1
Inhalt Vorwort
7
Barbara Feichtinger: Einleitung
9
Katharina Waldner: „Was wir also gehört und berührt haben, verkünden wir auch euch ...". Zur narrativen Technik der Körperdarstellung im Martyrium Polycarpi und der Passio Sanctarum Perpetuae et Felicitatis
29
Timon Binder: Der Körper in der Vernichtung - Kommunikationsstrategien der frühchristlichen Märtyrerliteratur am Beispiel der Passio Montani et Lucii
75
Alfred Breitenbach: Ambrosius von Mailand: Ein Bischof für die Kranken? Eine Beurteilung anhand des Lukaskommentars und der Schrift De officiis
101
Stephen Lake: Fabiola and the Sick: Jerome, epistula 11
151
Therese Fuhrer: Körperlichkeit und Sexualität in Augustins autobiographischen und moraltheoretischen Schriften
173
Christoph Markschies: Körper und Körperlichkeit im antiken Mönchtum
189
Vorwort
Fragen des Körpers und der Körperlichkeit finden zunehmend das Interesse der kulturwissenschaftlichen Forschung. Speziell mit dem leidenden Körper befasste sich von 2000 bis 2002 ein Forschungsprojekt unter dem Titel „Imitatio Christi als Körperkonzept. Der leidende Körper als kulturelles Symbol und Kommunikationsmedium bei der Integration des Christentums in die spätantike Gesellschaft." Zu den Erträgen der dreijährigen Forschungstätigkeit gehört der vorliegende Sammelband, der einige Beiträge enthält, die im Zusammenhang einer gleichnamigen Tagung im November 2001 entstanden sind. Die Herausgeber danken den Verfassern der einzelnen Beiträge für ihre Mitarbeit. Für die Mithilfe bei den Korrekturen sei Eva Feldengut, Stefan Meyer-Schwelling, Judith Riechert und Dorothea Weyrich gedankt. Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 485 „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration" der Universität Konstanz entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfugung gestellten Mittel gedruckt. Konstanz, im Februar 2004
Barbara Feichtinger
Helmut Seng
Barbara Feichtinger
Einleitung
„Die Christen und der Körper" war der Titel eines Workshops, der am 8. und 9. November 2001 in Konstanz stattfand. Der Untertitel „Aspekte der Körperlichkeit in der christlichen Literatur der Spätantike" konkretisierte das gemeinsame Thema. Die inhaltliche Zuspitzung ergab sich aus dem institutionellen Rahmen: Die Tagung war eine Veranstaltung des klassisch-philologischen SFB-Teilprojektes „Imitatio Christi als Körperkonzept. Der leidende Körper als kulturelles Symbol und Kommunikationsmedium bei der Integration des Christentums in die spätantike Gesellschaft" im Rahmen des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration" (SFB 485). Primäres Ziel dieser Arbeitstagung war es, die bereits erarbeiteten Ergebnisse einer kleinen Öffentlichkeit zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen. Insofern war die Veranstaltung bewusst als „Workshop" konzipiert, um deutlich zu machen, dass die Forschungsarbeit noch im Gange ist, dass erste Thesen, „work in progress", präsentiert werden sollten, dass Interesse an intensiver Diskussion, konstruktiver Kritik, und gemeinsamem Streben nach Erkenntnis vorherrschte und nicht auf glattes Lob für polierte Oberflächen gezielt war. Dass in Form des vorliegenden Buches nun Ergebnisse einer größeren Öffentlichkeit präsentiert werden können, mag zu einem Gutteil der „körperlichen Präsenz" der Wissenschaftler an dieser Tagung über Körperlichkeit zu verdanken sein. Wir alle, sozialisiert in der Gutenberg'sehen Galaxis der Buchkultur, wissen wohl um die feinen Differenzen zwischen dem wissenschaftlichen Austausch in Veröffentlichungen und der persönlichen Begegnung auf Tagungen und Kongressen, die den Mangel größerer Flüchtigkeit und Vorläufigkeit durch zahlreiche informelle Kommunikationsmöglichkeiten aufzu-
Barbara Feichtinger
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wiegen und den wissenschaftlichen Dialog auf subtile Weise zu dynamisieren und auch zu vermenschlichen vermögen. In Zeiten, die zunehmend von virtuellen Räumen, Videokonferenzen und körperloschangierend-fließenden Internetidentitäten geprägt sind, wird körperliche Anwesenheit mit ihren Möglichkeiten einer unmittelbaren „faceto-face"-Kommunikation jedoch auch in der Wissenschaftswelt geradezu ein ganz besonderes Gut, das es zu hegen und zu pflegen gilt. In diesem besonderen Sinne leistete die Körperlichkeit der Tagungsteilnehmer selbst ihren spezifischen Beitrag zu einem forderlichen und fruchtbringenden wissenschaftlichen und menschlichen Dialog über Aspekte der Körperlichkeit in der christlichen Literatur der Spätantike. Gleichsam als Kontrapunkt zur scheinbaren Auflösung und Tilgung der Körperlichkeit im Cybernet lässt sich gerade in unserer modernen Gesellschaft und der sie interpretierenden Medienlandschaft ein kollektives Kreisen um den Körper - Stichworte: Körperbewusstsein, Körperbetonung, Körperinszenierung - beobachten, das von noch nie dagewesener Intensität zu sein scheint. Die individuelle und kollektive Konzentration auf, die Arbeit am und der gesellschaftliche Diskurs über den Körper beschränken sich dabei nicht auf Schönheitsund Jugendkult, Fitnessbewegung, plastische Chirurgie, Diät- und Schlankheitswahn, Piercing und Tattoos, sondern implizieren eine intensive Vermarktung des Körpers als unendliche Projektionsfläche und Werbeträger ebenso wie die Gentechnologie, die durchaus einen Paradigmenwechsel im (körperlichen) Selbstverständnis des Menschen nach sich ziehen könnte. Es ist nur konsequent, dass „Körper" und „Körperlichkeit" im letzten Jahrzehnt auch in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen ins Zentrum vielfaltigen Interesses getreten sind.1 Freilich vermag insbesondere der Altertumswissenschaftler festzustellen, dass die vielfaltige Auseinandersetzung mit Körper und Körperlichkeit nicht erst in modernen und postmodernen Gesellschaften eine zentrale Rolle spielt, sondern einen untilgbaren Be1
V g l . FEHER/N ADDAFF/TAZI.
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Einleitung
standteil, eine anthropologische Konstante der Kulturgeschichte des Menschen darstellt. Es mag die - mit den Tieren geteilte - „Unentrinnbarkeit" des biologischen Körpers als unabdingbare Voraussetzung des menschlichen Lebens sein, die Körperlichkeit zu einem zentralen Phänomen des menschlichen Seins macht, doch es ist der reflektierte „Körper", der diskursiv repräsentierte „Körper", der gleichsam als „Text" zu definieren und zu lesen ist, der Körperlichkeit zu einem zentralen Phänomen des Menschseins, zu einem Element menschlicher Kultur, werden lässt. Denn diesem „Körper" eignet ein komplexes Bedeutungsfeld, das durch die ihm vorgegebene Kultur (als bedeutungszuweisendes System verstanden, durch das soziale und politische Ordnungsstrukturen kommuniziert, reproduziert, erfahren und ausgeübt werden) konstituiert wird. Der „Körper" ist somit Produkt unzähliger Praktiken, Verhaltensweisen, Repräsentationen und Diskurse dieser Kultur, Bild, Medium und symbolische Repräsentation ihrer sozialen Strukturen und von deren Veränderung. Obwohl prinzipiell alles den Körper und Λ
somit der Körper alles symbolisieren kann, sind in unterschiedlichen Kulturen synchron wie diachron spezifische Einschreibungen und Ausformungen individueller wie kollektiver „Körperwahrnehmungen" beschreibbar, deren Wandel, Kontinuitäten und Brüche sich zu einer „Körpergeschichte" verbinden, in deren Verlauf sich kulturelle Prozesse fokussieren lassen. Da das Christentum auf kein einheitliches Körperkonzept der Antike zurückgreifen konnte4 und die christliche Lehre aus zwei großen 2
V g l . D O U G L A S ; BLOCH.
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V g l . T U R N E R ; JOHNSON; T A Y L O R ; C A S H / P R U Z I N S K Y ; FEATHERSTONE; POULSEN;
C O A K L E Y ; MELLOR/SHILLING;
für die A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t e n
vgl.
ROUSSELLE,
BROWN. 4
Aristoteles etwa milderte die separatistisch-dualistischen Körpervorstellungen eines Piaton, die Stoiker standen mit ihrem unitarischen Körperverständnis den alttestamentlichen Traditionen näher als den platonischen. In Analogie zu und Auseinandersetzung mit den erstarkenden christlichen Strömungen verschärfte der Neuplatonismus (Plotin) die pessimistische, negative Wertung der Körperlichkeit, die auch im hellenistischen Judentum (Philo) stärkeren Widerhall fand und den Körper
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Barbara Feichtinger
geistesgeschichtlichen Traditionen gespeist wurde, die gegensätzliche Ideen vom Menschen entwickelt hatten, existierten divergente und in sich ambivalente Körpervorstellungen in Ost wie West weiter. Wie stark die divergenten heidnischen Körperkonzepte nachwirkten, mag der Vergleich zwischen Origenes und Clemens von Alexandria erweisen. Beide griechischen Kirchenlehrer sind christliche Platoniker, doch Clemens inkorporiert wesentlich stärker stoische Elemente einer holistischen Anthropologie. Während Origenes den Menschen (als reinstes platonisches Erbe) als (präexistente) Seele definiert, die allein göttliches Abbild ist und den Körper, an den sie gleichsam als Strafe für ihren Sündenfall vorübergehend gebunden ist, als Werkzeug benutzt,5 bleibt bei dem in intensiver Auseinandersetzung mit der Gnosis befindlichen Clemens der Körper (und damit auch die Sexualität) göttlichem Willen gemäßer Bestandteil des Menschen. Synkretismus und Antagonismus der jüdisch-alttestamentlichen Tradition mit einer stark holistischen Auffassung von der Person (,Ich' bin ein beseelter Körper) und des hellenistisch-(neu)platonischen Erbes mit seiner (mehr oder weniger dualistischen) Trennung von Seele und Körper (,Ich' bin eine Seele, die - temporär - einen Körper hat)6 blieben lange präsent. Zudem erlangte der Körper durch die christliche Lehre von der Menschwerdung bzw. Inkarnation Gottes, die eine „Verkörperung" des Heils bedeutete, und die physische Lebens- und Leidensge«T
schichte Jesu, die eine imitatio überhaupt erst ermöglichte, eine Zenin die Nähe des „natürlich Bösen" rückte. Das NT setzte zwar die unitarischen Körpervorstellungen des AT weitgehend fort, partiell sogar intensiviert durch die Menschwerdung (= Inkarnation) Gottes. Auch in der Anthropologie des („Juden") Paulus lebt die holistische Wahrnehmung der Person dahingehend fort, dass er Spannungsfelder nicht zwischen Körper (soma) und Seele (psyche), sondern zwischen Fleisch (sarx - der von Gott ferne, gefallene Mensch als Körper und Seele) und Geist (pneuma - der Gott nahe, gerettete Mensch als Körper und Seele) eröffnet, die jedoch von den nachfolgenden christlichen Predigern und Moralisten - mit erheblichen pastoralen Konsequenzen - nicht als solche verstanden wurden. 5
Vgl. Peri archon 1 , 8 , 1 ; Cels. 7, 28. Vgl. Plat. Alcib. 1, 130c; Phaedr. 246ab, 253c - 254b. 7 Die antiken Göttervorstellungen schließen trotz ihres Anthropomorphismus eine solche Idee aus. 6
Einleitung
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tralstellung in der christlichen Heilsgeschichte, die sich z.B. in der Eucharistie oder im Dogma der Auferstehung des Fleisches niederschlug. Als Folge nahmen die diskursiven Einschreibungen in den Körper - jenseits seiner von Anthropologie und Soziologie postulierten Universalität und Allgegenwart als kulturelle Ordnungsmetapher und ihre Konkurrenz untereinander in den Quellentexten des 2.-5. Jhs. signifikant zu. Die Frage „Wie hältst du's mit dem Körper?" fungierte bisweilen als feine, aber unüberschreitbare Grenzlinie zwischen Heiden und Christen, zwischen Orthodoxie und Häresie, zwischen Norm und Devianz und als Konstituens individueller und kollektiver Identität. Religiöse, politische und soziale Konfliktfelder fanden ihren Ausdruck in antagonistischen Deutungsperspektiven auf den Körper: Die Vernichtung des Körpers konstituiert den Märtyrer und steht somit im Spannungsfeld von christlicher Identität und heidnischer Staatsgewalt; die Frage nach der sozialen Verfügbarkeit des (weiblichen) Körpers ftir die Reproduktion spaltet Asketen und Weltchristen; in der Metapher des Corpus Christi als Symbol für die Einheit und zugleich für die hierarchische Gliederung der Kirche spiegeln sich neben theologischen auch soziale Konflikte; an der Frage nach der Stellung des Körpers im Rahmen eines universalen ontologischen Wertesystems scheiden sich Orthodoxie und Häresie ebenso wie christliche und pagane Philosophie; in der Lehre von der Auferstehung des Fleisches sind zentrale Fragen christlicher Identität fokussiert. Asketinnen sahen sich nach der Anathematisierung der Lehre des Origenes in ihrer Hoffnung auf eine Flucht aus dem weiblichen Körper, der sie im patriarchal strukturierten Diesseits zu einer Position der Inferiorität, Nachrangigkeit und Unterordnung verurteilte, getäuscht. Christliche Aristokraten Roms zogen dagegen aus dem Dogma der fleischlichen Auferstehung nicht nur die Gewissheit einer personalen Weiterexistenz nach dem Tod, sondern leiteten auch Vorstellungen einer Jenseitsordnung ab, die den hierarchischen Strukturen des weltlichen Rom verblüffend ähnelte - und diese wohl auch ideologisch affirmieren sollte.
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Barbara Feichtinger
Nicht zuletzt findet die christliche Idealnorm einer imitatio Christi, die als Lebenspraxis in der antiken Gesellschaft anfangs als provokative Devianz Ablehnung und Ausgrenzung erfahrt, dann aber selbst zum gesamtgesellschaftlichen Leitbild mit handlungspragmatischen Konsequenzen wird, ebenfalls im Körper, genauer im - in der Antike vorwiegend negativ konnotierten - leidenden Körper, der im Märtyrer, im Asketen oder im Kranken manifest wird, ihr identitätsstiftendes und integrationsförderndes Leitsymbol. Diesen Prozess der Ausformung eines zeit- und raumüberhobenen Leitsymbols christlicher Identität in seinem komplexen Zusammenhang mit der Neuordnung gesellschaftlicher Handlungsnormen und Machtverhältnisse in der Spätantike zu untersuchen, bleibt zweifellos ein Desiderat der altertumswissenschaftlichen Forschung zur (christlichen) Spätantike, zu dessen Erfüllung auch dieses Buch einen kleinen Beitrag leisten soll. Rahmenfragen vermögen nur eine erste Orientierung zu geben, in welche Richtung die Forschung gehen könnte: •
• •
In welche religiösen, politischen, anthropologischen, philosophischen und handlungspragmatischen Sinnstrukturen wird der leidende Körper in der Antike eingebettet, um seine physische Existenz mit Bedeutung aufzufüllen? Gibt es bereits heidnische (kaiserzeitliche) Vorstufen einer Hinwendung zum leidenden Körperl Lässt sich die Arbeitsthese einer kulturellen Umwertung des leidenden Körpers zu einem Heilssymbol durch das Christentum verifizieren? Wie gestaltet sich dieser Prozess im Detail? In welchen (und mit Hilfe welcher) Medien vollzieht sich die christliche Neukontextualisierung des leidenden Körpers? Welche Rolle spielt diese postulierte Umwertung für jene Prozesse sozialer Integration, die die - vom Zentrum der antiken Gesellschaft aus gesehen - devianten Handlungsroutinen des Märtyrers, des Asketen oder möglicherweise des Kranken zu normativen Handlungsvorgaben einer neuen Gesellschaftsordnung werden ließen?
Einleitung
•
•
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In welchen religiösen, sozialen und politischen Praktiken wird das Symbol des leidenden Körpers in konkrete Handlungsnormen überfuhrt? Wie gestaltet sich letztlich die Verknüpfung divergierender und konkurrierender Körperkonzepte und ihrer normativen Symbolstrukturen mit machtpolitischen Auseinandersetzungen der Zeit?
Die vorliegenden Beiträge vermögen selbstverständlich nur einen kleinen Teil des anvisierten Themenkomplexes abzudecken.8 Mit dem sie einenden Blick auf den leidenden Körper — des Märtyrers, des Kranken und des Asketen - spüren sie den christlichen (und heidnischen) Körperdiskursen in ihren Wechselwirkungen mit der spätantiken Lebenswirklichkeit freilich auf sehr divergente Weise nach. Die ersten beiden Untersuchungen sind - unter Fokussierung des Martyrium Polycarpi, der Passio Sanctarum Perpetuae et Felicitatis sowie der Passio Montani et Lucii - der frühchristlichen Martyrienliteratur gewidmet. Dass gerade in diesen Texten der leidende, weil aufs Grausamste geschundene Körper des Märtyrers eine prominente Rolle spielt, erscheint naheliegend. Die vorliegenden Beiträge zeigen jedoch, dass dieser erste Eindruck banaler Selbstverständlichkeit in vielfacher Hinsicht zu relativieren ist. Grundlegend für jegliche Beschäftigung mit dem Märtyrerkörper ist die Frage nach den kulturellen Sinnzusammenhängen, in die der unter der Folter leidende Körper in den antiken und christlichen Quellen gestellt wird. Beispielsweise lässt sich erst vor dem Hintergrund der seit dem 1. Jh. v. Chr. ausgerichteten Spiele (munera) und dem öffentlich inszenierten Straf- und Hinrichtungswesen aufzeigen, 9 auf welch revolutionäre Weise sich das in der Passionsliteratur vermittelte christliche Konzept eines doppelten Körpers - sterbliche
Auf weitere Publikationen zur Thematik zielt die Arbeit des erwähnten SFBTeilprojekts. 9
V g l . VEYNE; COLEMAN; WIEDEMANN.
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Barbara Feichtinger
Hülle vs. visionäres, durch Geist geheiligtes Fleisch10 - und der Transformation des Märtyrers vom Verbrecher und Staatsfeind11 zur Heilsgestalt in das traditionelle Bedeutungsnetz dramatisch ausexerzierter, •
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machtpolitischer Tötungsrituale einschreibt. Ebenso wird erst vor dem Hintergrund eines (neu)platonischen Dualismus, der Diesseitsbezogenheit der Epikureer oder der homerisch-vergilischen Vorstellung körperloser Schattenwesen in der Unterwelt die im Märtyrerkörper repräsentierte Auferstehung als Seele und Leib, als identische Person, in ihrer zugleich provokativen wie attraktiven Signalfunktion verständlieh, die körperliches Vernichtungsstreben der Heiden und christliches Ringen um das Festhalten an personaler Identität bei zerstückelten, verbrannten, von Tieren verdauten Körpern14 bedingte. Auch das Bekenntnis zu einem ohnmächtigen, körperlich leidenden Gott, der durch seine Inkarnation die imitatio möglich macht,15 stellt im Kontext einer antiken Denktradition, in der Verletzung und Leiden der Götter nur episodenhafte und folgenlose Ausnahme war,16 eine revolutionäre Neuerung dar. Jeder Analyse dieser christlichen Neukontextualisierung des leidenden Märtyrerkörpers ist auch die Frage ihrer kommunikativen Vermittlung sowie deren Medialität eingeschrieben. Erst die diskursive Interpretation, das „Erzähltwerden", Verschriftlichen und Erinnern des realen Geschehens der körperlichen Vernichtung stellt diese in ihι -3
10
Die Heiligkeit des Fleisches wirkt in den „Reliquien" der sterblichen Hülle fort; vgl. Mart. Polyc. 17f. (zitierte Textgrundlage M U S U R I L L O ) . 11 Da die Christen den Namen eines als ,Verbrecher' Hingerichteten trugen, galten sie von vornherein als Kriminelle (vgl. z.B. Tac. ann. 15, 44, 3).Vgl. FLTTLNGHOFF; M O L T H A G E N ; FREDOUILLE. 12
Vgl. FEICHTINGER (2004). Vgl. Mart. Polyc. 17f.; Mart. Lugd. 1, 57-63. 14 Vgl. z.B. Pass. Fructuos. 7, 1; Tert. resurr. 15 Der Märtyrer „verkörpert" die Leiden Christi und Gott leidet im Märtyrer/Asketen; vgl.Act. Carp. lat. 3, 6; Mart. Lugd. Die „Körperarbeit" unterscheidet den Märtyrer vom confessor, Mart. Lugd. 2, 2-4. 16 Vgl. z.B. die Verletzung der Aphrodite an der Handwurzel durch Diomedes (ilias, 5. Buch), den hinkenden Hephaistos oder das Aufhängen Heras an den Füßen durch Zeus. 13
Einleitung
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ren jeweiligen Bedeutungszusammenhang. Die vorliegenden Beiträge schenken daher der „Literarizität" der Märtyrerakten, die dem gefolterten Körper Heilssymbolik zuschreiben und ihn zu einem zeit- und raumüberhobenen Kommunikationsmedium machen, besondere Aufmerksamkeit, wobei nicht nur die persuasive Intentionalität der Texte oder die konkrete Textgestaltung (Strukturaufbau, Motivrepertoire, Narratologie usw.), sondern auch die Rezeptionsbedingungen von Interesse sind. K A T H A R I N A W A L D N E R untersucht in ihrem Beitrag „,Was wir also gehört und berührt haben, verkünden wir auch euch ...'. Zur narrativen Technik der Körperdarstellung im Martyrium Polycarpi und der Passio Sanctarum Perpetuae et Felicitatis", welche spezifischen erzähltechnischen Mittel bei der Darstellung der physischen Leiden der Märtyrer und Märtyrerinnen angewendet wurden, und kommt zum Ergebnis, dass die analysierten Texte paradoxerweise eine direkte, aus einer einzigen Erzählperspektive formulierte Ekphrasis der Qualen ihrer Protagonisten bei öffentlicher Folter und Hinrichtung vermeiden. Stattdessen entwickeln sie eine Fülle raffinierter, indirekter Beschreibungstechniken, die vorfuhren, wie die gequälten Körper der Märtyrer aus ganz verschiedenen Perspektiven gesehen und gedeutet werden. Indem W A L D N E R dieses mehrperspektivische Erzählen in seiner historischen Bedingtheit untersucht, vermag sie die Texte als narrative Realisierungen verschiedener Martyriumskonzepte zu begreifen, die einerseits Positionierungen innerhalb eines rein christlichen Diskursfeldes vornehmen und andererseits in spezifischer Weise an der kaiserzeitlichen Urbanen Kultur teilhaben, die von der Institution der ludi ebenso geprägt war wie vom oberschichtlichen souci de soi. In der narrativen Inszenierung des Märtyrerkörpers wird fokussiert, wie die im Dialog zur sie umgebenden Kultur erst im Entstehen begriffene christliche Sicht der Welt sich im tödlichen Konflikt mit eben dieser Welt bewähren soll: Die Berichterstatter verwandeln die Schande des öffentlichen Spektakels in den Triumph der Wahrheit christlicher Weltsicht.
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Barbara Feichtinger
Die kommunikative Inszenierung des Triumphs in der Vernichtung steht im Zentrum von TIMON BINDERS Untersuchung „Der Körper in der Vernichtung - Kommunikationsstrategien der frühchristlichen Märtyrerliteratur am Beispiel der Passio Montani et Lucii." Auch er analysiert Erzählstrategien und arbeitet am exemplarisch gewählten Text jene Topoi heraus, die den Körper des Märtyrers zu einem vielschichtigen und multidimensionalen Kommunikationsmedium und Symbol machen, über das (christliche) Sinnbotschaften nach innen wie nach außen vermittelt werden. B I N D E R konzentriert sich dabei auf die intentional-persuasive Inszenierung von Macht und Ohnmacht vor dem Hintergrund heidnisch-christlicher Antagonismen und lässt auch die Frage nach den politischen Dimensionen des religiösen Spannungsfelds anklingen. Beide Beiträge setzen sich auch mit dem Phänomen auseinander, wie die literarische Repräsentation des leidenden Körpers die Martyrienthematik ihrer (auch kultisch) lokalen Gebundenheit enthebt und so ein integratives christliches Identitätsmerkmal schafft, das räumlich und zeitlich unabhängig von den historischen Ereignissen seine ungebrochene, ja gesteigerte Wirkung in der Gemeinschaft von Lesern zu entfalten vermag. Der zweite thematische Schwerpunkt dieses Buches ist dem leidenden Körper unter dem Aspekt von Krankheit und Gebrechlichkeit gewidmet. Auch hier stellt sich die Frage nach den (neuen?) christlichen Sinnzusammenhängen, in denen vom kranken Körper die Rede ist, ob der kranke Körper - beispielsweise in seiner Deutung als Strafe für persönliche Schuld oder als eine Hoffnung auf Seelenheil implizierende Prüfung - eine christliche Neubewertung im Vergleich zur heidnischen Tradition erfahrt oder welche Funktion der kranke Körper in seinen (literarischen) Kontexten - als Metapher, Symbol oder Exemplum - übernimmt. Eng verknüpft damit erscheint die Frage nach den konkreten Auswirkungen der christlichen Konzeptionen und Bewertungen von Krankheit und Gesundheit auf die medizinischärztliche Praxis in Hinblick auf Körper und Seele. Vor allem die aus den Handlungsnormen christlicher Nächstenliebe (Caritas) und Barm-
Einleitung
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herzigkeit {misericordid) erwachsene Intensivierung und Institutionalisierung der Krankenfürsorge, die als christliches Spezifikum wahrgenommen wurde,17 verdient besondere Aufmerksamkeit. A L F R E D BREITENBACH geht in seinem Aufsatz „Ambrosius von Mailand: Ein Bischof für die Kranken? Eine Beurteilung anhand des Lukaskommentars und der Schrift De officiis" der Frage nach, ob das bereits in frühen Lebensbeschreibungen des Ambrosius entworfene und von der modernen Forschung fortgeschriebene Bild eines sozial engagierten Bischofs einer näheren Überprüfung - insbesondere in Hinblick auf christliche Fürsorge für Kranke, die als Zielgruppe karitativen Engagements zwar topisch genannt werden, aber in Selbstaussagen des Ambrosius auffallend marginal bleiben - standhält. Ausgehend von einer knappen Überblicksskizze zur Rolle der frühen Kirche bei der Entwicklung der Krankenfürsorge im allgemeinen wendet sich BREITENBACH im speziellen der Analyse von De officiis, die durch die Bedeutung der Schrift für Informationen über die kirchliche Sozialarbeit zur Zeit und unter Ambrosius selbst nahegelegt wird, sowie des Kommentars zum Lukasevangelium zu, der sich durch seine Betonung ärztlicher Tätigkeit anbietet. Dabei zeigt sich, dass Ambrosius' (Nicht-)Umgang mit dem kranken Körper fundamental von dem Lichte geprägt ist, in dem der Bischof den Körper generell wahrnimmt: Die Schwachheit und Vergänglichkeit des Leibes und auch die Sündhaftigkeit des Menschen wird für Ambrosius gerade durch die Anfälligkeit für Krankheiten sichtbar, während für die Heilung nicht Arzt oder Fürsorge anderer Menschen, sondern letztlich der Glaube von entscheidender Bedeutung ist. Die Folge ist, dass zwar die Armen und unter ihnen auch die Kranken und Schwachen in die stoischchristliche Pflichtenlehre des Mailänder Bischofs Eingang gefunden haben, die (Für-)Sorge um die Kranken jedoch Marginalität bleibt. Im Vergleich mit stärkeren Sozialimpulsen bei Zeitgenossen - etwa dem römischen Asket/inn/enkreis um Hieronymus - kommt BREITENBACH 17
Just. apol. 1, 67; Greg. Naz. or. 43. Wahrscheinlich ist das von Kaiser Julian in-
itiierte staatliche Fürsorgeprogramm und die verstärkte Errichtung heidnischer Xenodochien als Reaktion auf christliche Praxis zu deuten; so POLLAK, 290.
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Barbara Feichtinger
zum Schluss, dass das traditionelle Bild eines engagierten Sozialbischofs Ambrosius zumindest in Hinblick auf den Umgang mit dem kranken Körper der Korrektur bedarf. Dass Ambrosius mit seiner indifferenten Haltung zur Krankenfürsorge keine Ausnahme, sondern ein typischer Repräsentant des lateinischen Westens seiner Zeit war, legt der Beitrag von STEPHEN L A K E „Fabiola and the Sick: Jerome, epistula 77" nahe. L A K E unterzieht darin den von Hieronymus in Briefform verfassten Nachruf auf die um 400 verstorbene aristokratische Witwe Fabiola, in dem die Einrichtung eines nosokomeion (Hospiz, Krankenhaus) durch die christliche Asketin erwähnt wird, einer kritischen Prüfung und macht durch Rekurs auf die Gattungskonventionen der laudatio funebris, den für Hieronymus typischen Einsatz hyperbolischer, idealisierender Rhetorik sowie die Barmherzigkeitstopik im Kontext christlich-asketischer Konversionen deutlich, dass die Textpassage nur mit großen Einschränkungen als authentische historische Quelle für die Anfange institutionalisierter christlicher Krankenfürsorge gewertet und herangezogen werden darf. Die faktische Nicht-Präsenz des von Hieronymus offenbar erstmals in den Westen vermittelten Begriffs nosokomeion im lateinisch geprägten Sprachraum sowie das Fehlen jeglicher archäologischer Evidenz für die Existenz einer solchen Einrichtung lassen diese Skepsis als angebracht erscheinen. Während L A K E im Zuge eines weiter ausgreifenden Vergleichsüberblicks für den griechischen Osten bereits im 4. nachchristlichen Jahrhundert deutliche Ansätze einer institutionalisierten Krankenversorgung unter christlich-kirchlichem Patronat konstatieren kann, kommt er für den lateinischen Westen zum Ergebnis, dass hier nicht nur vergleichbare Einrichtungen zu dieser Zeit fehlen und auch in den nachfolgenden Jahrhunderten äußerst spärlich bleiben, sondern dass auch - möglicherweise durch das Fehlen heidnischer Vorbilder für öffentliche Krankenversorgung sowie einer genuin römischen medizinischen Tradition bedingt - aus dem Wissen um die Existenz östlicher Hospizeinrichtungen offenbar keinerlei Impulse zur Nachahmung erwuchsen: Obwohl Ambrosius von der Errichtung eines umfangreichen Hospitalkomplexes durch
Einleitung
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Basilius von Caesarea Kenntnis hatte, fühlte er sich weder als aristokratischer patronus noch als Bischof einer kaiserlichen Residenzstadt verpflichtet, christliche Nächstenliebe in einem vergleichbaren Wohlfahrtsprogramm zu konkretisieren. In der Auseinandersetzung Augustins mit dem kranken Körper, wie sie THERESE FUHRER in ihrer Untersuchung zu „Körperlichkeit und Sexualität in Augustins autobiographischen und moraltheoretischen Schriften" darlegt, stehen nicht der leidende Kranke und die Praxis seiner Versorgung im Zentrum, sondern Krankheit und Schmerz werden ausgehend von empirischen Erfahrungen des Selbsterlebten zu vieldimensionalen Bezugspunkten und Schnittstellen im Entwurfskontext einer christlichen Anthropologie entwickelt. FUHRERS Analyse spannt einen Bogen von den autobiographischen Aussagen des Kirchenvaters zum Umgang mit Krankheit und Schmerz, über die Funktionalisierung von Medizinalmetaphorik in Überlegungen zur Verfasstheit von Geist und Seele bis hin zur augustinischen - später auch in seine Erbsündenlehre integrierten - Bewertung von Krankheit als stimulus und somit Ausdruck göttlicher Gnade, bevor sie sich einem weiteren für die christliche Spätantike zentralen Aspekt von Körperlichkeit, der Sexualität, zuwendet. Auch hier vermeidet FUHRER, obwohl sie von autobiographischen Texten ausgeht, eine biographistische oder gar sozialpsychologische Interpretation von Augustins Aussagen zugunsten einer Untersuchung ihrer kontextbezogenen Funktionalität in den Texten. Für das Themenfeld Krankheit und Schmerz kann FUHRER feststellen, dass Augustin keine radikal körperfeindliche Position vertritt, welche von dem nach Erkenntnis Strebenden die Askese, Verachtung und Immunisierung des Körpers verlangen würde, sondern in Auseinandersetzung mit paganphilosophischen Traditionen - Augustin steht hier der peripatetischen Tradition näher als der stoischen Lehre - Krankheit und Schmerz als Zeichen eines defizienten Zustands des Menschen erklärt und somit mit positiver Wirkung - funktionalisiert. In Hinblick auf die augustinische Bewertung von Sexualität lässt sich - unter Berücksichtigung aller Entwicklungen und Modifikationen, denen Augustins Vorstel-
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lungen durch die seinen Lebenslauf prägenden Auseinandersetzungen mit verschiedenen philosophischen und theologischen Lehren unterworfen waren - eine moderate, im Alter zunehmend sexual- und körperfreundlichere Position herausarbeiten, die nicht zuletzt auch durch die in jüngerer Zeit erfolgte Wiederentdeckung eines lange verschollenen, vom askesefreundlichen Mittelalter möglicherweise auch bewusst vernachlässigten Predigtcorpus gestützt wird. Im dritten Teil ihrer Arbeit reißt FUHRER mit der „Auferstehung des Leibes" ein Themenfeld an, das eine zentrale - und in vieler Hinsicht höchst konfliktbehaftete - Schnittstelle zahlreicher „Körperdiskurse" in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten war. Das sich verfestigende Dogma der fleischlichen Auferstehung war nicht nur Dreh- und Angelpunkt einer christlichen Identitätsausformung in Abgrenzung zu (neu-)platonischen und gnostischen Vorstellungen körperloser Seelenexistenzen, die von rigidem Dualismus beherrscht sind, sondern erzeugte auch anhaltendes Konfliktpotential innerhalb der christlichen Kirchen selbst, wie nicht zuletzt die über Jahrhunderte hinweg immer wieder aufflammende Auseinandersetzung um die (in der Folge mehrmals anathematisierte) Lehre des Origenes belegt. F U H R E R vermag zu zeigen, dass sich die enormen Schwierigkeiten, traditionelle antike Seelen- und Körperbilder mit dem revolutionären Konzept einer körperlich-fleischlichen Ewigkeitsexistenz in Einklang zu bringen, auch in den Schriften Augustins - bis hin zu seinem Lebensende - widerspiegeln. Die vielschichtigen Funktionen und Bedeutungen, die dem (leidenden) Körper in der frühchristlichen Askesebewegung zukommen, stehen im Zentrum des letzten Themenschwerpunktes. Spätestens seit dem Toleranzedikt von Mailand (313) und der daraus resultierenden Gleichberechtigung des Christentums neben der heidnischen Religion wurde viel von der normativen Symbolkraft des Märtyrerkörpers auf eine andere Trägerfigur erweitert - den Asketen und seine disziplinierende Körperarbeit. Angesichts des Fehlens eines „äußeren" Feindes und des fortgesetzten Ausbleiben des Weltenendes wird der Kampf des Asketen um seine christliche Identität und Heilig-
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keit gleichsam in ihn selbst verlagert und als Kampf zwischen Körper und Geist/Seele dramatisiert und fassbar gemacht, wobei der ambivalente, „verhasste" und „umsorgte" Körper gerade in der Distanzierung und Verleugnung, der Abspaltung und kontinuierlichen „Selbstabtötung" unverzichtbares Werkzeug für die Heiligung der Seele bleibt. Zweifellos eignen dem Körper des Asketen kommunikative Qualitäten in hohem Maße (z.B. Habitus, Gestus, Kleidung, Schönheit, Unverwesbarkeit des Leichnams, der Körper als Medium des Gesprächs mit Gott), seine Disziplinierung repräsentiert ein Heraustreten aus den sozialen Bindungen der Welt und ihren Hierarchien (z.B. Staatsgewalt, Geschlechterhierarchie, Klassenzugehörigkeit) und die Integration in die exklusive Schar der „wahren" Christen (Engel). Wie der Körper des Märtyrers vermag auch er Aufhebung und Neukonstituierung von (politischen) Machtstrukturen zu kommunizieren. Bemerkenswert erscheint hierbei, dass die sozialen Praktiken der asketischen Körperdisziplinierung (Verweigerung von Ehe und Nachkommenschaft, Militärdienst, Steuerzahlung etc.) zentralen antiken Wertvorstellungen zwar diametral entgegengesetzt sind - Asketen sind „Aussteiger" - , die diesen Praktiken zugrundeliegenden Körperkonzepte - etwa in Fragen einer die Nichtigkeit des Körpers repräsentierenden sexuellen Enthaltsamkeit - hingegen in stärkerem Maße an antike (platonisch-neuplatonische oder stoische) Vorstellungen anschließen. Im Vergleich zur eher eindimensionalen Wertschätzung des Märtyrerkörpers scheinen die ambivalenten und divergenten Einschreibungen des Asketenkörpers in die spätantiken Diskurse die komplexere und innerkirchlich spannungsgeladene Wirklichkeit der nachkonstantinischen Zeit widerzuspiegeln. Der Umstand, dass verschiedene Körperkonzepte und divergente asketische Praktiken in zunehmendem Maße subtile Trennlinien zwischen Orthodoxie und Häresien, aber auch zwischen östlichen und westlichen Kirchen etablier1 ten, die sich in Prozessen partieller Desintegration niederschlugen, 18
So wurden radikale östliche Askeseformen im Westen nicht toleriert und zum Teil von Bischöfen verboten. Gründe für diese Sonderung lagen auch in den (z.B.
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war seinerseits Voraussetzung für eine gesamtgesellschaftliche Etablierung und Durchsetzung des asketischen Körperideals. Während radikal körperfeindliche Praktiken, Wüstenaskese, bizarre Selbstfolter sowie sozial subversive Wanderaskese nur minderheitsfahig waren, fanden durch gegenläufige Prozesse von Stigmatisierung und Charismatisierung gleichsam geläuterte gemäßigtere Askeseformen (recessus in villam, stabilitas loci, hierarchische Klosterstrukturen) durchaus breiteren Anklang und Akzeptanz als normatives Ideal spätantiker Lebensführung. 19 CHRISTOPH MARKSCHIES konzentriert sich in seinem Beitrag „Körper und Körperlichkeit im antiken Mönchtum" auf die radikalen Formen asketischer Körperdisziplinierung, die das asketische Gesamtphänomen gerade in ihrer extremen Übersteigerung im Kern fassbar machen. Dabei zielen seine Ausführungen darauf ab, die in ihren (religiösen wie sozialen) Symbolbezügen dicht aufgeladene und vielfaltige Auseinandersetzung der Asketen mit ihrem Körper, deren Theorie und - für den modernen Leser oft kaum glaubhafte - Praxis vorwiegend aus literarischen Quellen erschließbar ist, soweit wie möglich auch in ihren lebensweltlichen Konkretisierungen zu erfassen. Der erste Teil seines Beitrags ist daher der Engführung von literarischen Zeugnissen und archäologischen Befunden über die (radikal-) asketische Praxis palästinensischer, ägyptischer und syrischer Mönche vom 3. bis zum 5. nachchristlichen Jahrhundert gewidmet. Die Ausgrabungsfunde und die damit in Zusammenhang stehenden medizinalanthropologischen Untersuchungen stützen auf erstaunliche Weise die Glaubwürdigkeit der (oft legendenhaft überformten) Berichte und Erzählungen von bizarr anmutenden Praktiken der Körperdisziplinierung, die in Vernachlässigung der Kleidung oder Nacktheit, im Verzicht auf Körperpflege, vor allem aber in extremer Beschränkung von hygienischen) Unterschiede der asketischen Praktiken im Osten (z.B. Pachomius) und Westen (z.B. Johannes Cassian); vgl. auch die Aussage des nach seinem „Wüstenaufenthalt" zutiefst frustrierten Hieronymus, epist. 17, 3: melius esse . . .inter feras habitare quam cum talibus Christianis. 19 Vgl. F E I C H T I N G E R (1997).
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Nahrungsaufnahme und Körperübungen wie dauerhaftem Stehen (auch im Schlaf) oder dem Bemühen, den aufrechten Gang durch eine bewusst zu kleine Zelle in eine demütige Haltung zu zwingen, ihre Schwerpunkte findet. Im zweiten Teil fragt MARKSCHIES nach den religiös fundierten Motivationen für diesen „unerbittlichen Kampf gegen den eigenen Körper", an dem er augenfällige Parallelen zu Trainingspraxis und Wettkampfgesinnung antiker Athleten feststellt. Als Hauptmovens fur die asketischen Übungen wird auch neben der imitatio Christi und der in der Nekrosis präfigurierten Verheißung des Auferstehungsleibes das „engelsgleiche Leben" herausgearbeitet; der irdische Leib soll durch rigoroseste Disziplinierung, die auch überschüssige Energien als Wurzel der Leidenschaften abführen soll, dem ätherischen Feuerleib der Engel weitestgehend angenähert werden. Die Verneinung von Körperverachtung oder Körperhass als genereller Motivation wird allerdings auch für diese radikalasketischen Praktiken durch zahlreiche Befunde von Kritik an Hyperaskese bestätigt. Sie machen deutlich, dass nicht die Zerstörung des Körpers das Ziel war, weil sie ihn untauglich für die Experimente und Übungen, untauglich gerade für die intendierte Transformation machte. Es gehört zu den systemimmanenten Paradoxien der Askese, dass die von religiöser Scham geprägte Missachtung und Unterdrückung des Körpers und seiner (elementarsten) Bedürfnisse zu einer geradezu exzessiven Beschäftigung mit dem Körper als Medium der Lebensgestaltung und Identitätsinszenierung führt. Ebenso paradox mutet es an, wenn am Ende von M A R K S C H I E S ' Beitrag aufgezeigt werden kann, dass das „harte und in vielen Punkten auf uns leicht absurd wirkende Programm des Kampfes gegen den eigenen Körper, das im antiken Mönchtum mit aller Energie umgesetzt wurde," in der Lebenswirklichkeit der spätantiken Asketen eine weitgehend gesundheitsfördernde und sogar lebensverlängernde Wirkung ausgeübt hat. Vielleicht haben somit auch werbewirksam idealisierte Beschreibungen des Eremiten Antonius, der sich selbst nach zwanzigjähriger Wüstenaskese bester Konstitution, einer schlanken Gestalt, eines intakten Gebisses und voller Seh- und Körperkraft erfreut, ihr lebensweltliches Fun-
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dament. Der leidende Körper des Asketen erscheint damit freilich in neuem Licht.
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Δthan, vita Anton. 14; 93.
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„Was wir also gehört und berührt haben, verkünden wir auch euch ...". Zur narrativen Technik der Körperdarstellung im Martyrium Polycarpi und der Passio Sanctarum Perpetuae et Felicitatis1
Einleitung 1995 erschienene Studie The Suffering Seif beschäftigt sich mit einem auffalligen Phänomen der Kultur der frühen und hohen Kaiserzeit: In Texten ganz verschiedener literarischer Gattungen finden sich detaillierte Schilderungen physischer Leiden; als einschlägige Beispiele nennt P E R K I N S unter anderen Aelius Aristides, Mark Aurel und Ignatius von Antiochia und stellt die These auf, dass es dabei um nichts weniger als um die „Konstruktion eines neuen kulturellen Subjektes" („the construction of a new cultural subject") gegangen sei. Einen wichtigen Anteil an einer derartigen neuen Subjektskonstitution hatten nach P E R K I N S Texte und insbesondere Erzählungen, in denen das menschliche Subjekt als „leidender Körper" repräsentiert wurde. JUDITH P E R K I N S '
1
Eine erste Fassung des Beitrages wurde auf der Tagung „The ancient novel in
context" (ICAN 2000, Groningen, 25.-30. Juli 2 0 0 0 ) vorgetragen; den Diskussionsteilnehmern verdanke ich wertvolle Hinweise. Für kritische Lektüre und Diskussion danke ich außerdem DOROTHEE ELM (Erfurt), PETER HABERMEHL (Berlin), JÖRG RÜPKE (Erfurt), HELMUT SENG (Konstanz) und ganz besonders GÖTZ DISTELRATH (Konstanz). 2
PERKINS 173: „It has been my contention in this study that the early Roman em-
pire saw the construction o f a new cultural subject. Narratives issuing from different cultural points - medicine, Christian martyr literature - brought into cultural consciousness a representation of the human self as a body in pain, a suffering body."
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Bei näherem Hinsehen, d.h. genauerer Lektüre der einzelnen Texte, zeigt sich allerdings, dass der kaiserzeitliche Diskurs über physisches Leiden und Krankheiten weniger einheitlich war, als es PERKINS' Darstellung vermuten lässt. So macht KATHARINA LUCHNER in einer noch unveröffentlichten Münchner Dissertation deutlich, dass das Thema ,Krankheit' in der kaiserzeitlichen Textproduktion mit je nach Gattung ganz unterschiedlichen stilistischen Mitteln bearbeitet und inhaltlich verschieden instrumentalisiert wurde. Es stellt sich somit die Frage nach den historisch spezifischen Repräsentationstechniken, mit denen das - folgen wir darin PERKINS - neue Thema vermittelt wurde. Denn erst durch eine historische Betrachtung der sozialen Praktiken der Textproduktion und -rezeption wird die Suche nach der Wirkweise von Diskursen konkret. Im Folgenden soll diese Frage an zwei frühe, d.h. noch aus der Zeit vor der Verfolgung durch Decius stammende, christliche MartyΛ
riumsberichte gestellt werden: Durch eine detaillierte Lektüre der erzählerischen Passagen des Martyrium Polycarpi und der Passio Sanctarum Perpetuae et Felicitatis wird in einem ersten Schritt herausgearbeitet, welche spezifischen erzähltechnischen Mittel bei der Darstellung der physischen Leiden der Märtyrer und Märtyrerinnen angewendet wurden. Beide Texten gehören zu einem frühen Typ der Märtyrerliteratur, bei dem die Ereignisse, dem Ablauf der cognitio extra ordinem folgend,4 von der Verhaftung bis zur Hinrichtung mehr oder weniger detailliert erzählt werden.5 Um das Ergebnis vorwegzu3
Zum Problem der Datierung christlicher Martyriumsberichte und der Aussonderung einer vordecenischen Textgruppe vgl. BARNES (1968). Gut zugänglich sind die wichtigsten Texte in der Ausgabe von BASTIAENSEN; vgl. auch MUSURILLO, RUHBACH u n d BREMMER/DEN BOEFT.
4
Zur cognitio extra ordinem vgl. BUTI. Die rechtliche Seite der Christenprozesse ist nach wie vor Gegenstand von Diskussionen, wobei über die Analyse von DE STE. CROIX aufgrund der Quellenlage nicht hinauszukommen ist. Für die aktuelle Diskussion vgl. die Beiträge in VON HAEHLING, insbesondere BIRLEY. 5
Seit dem 2. Jahrhundert sind Martyriumsberichte in verschiedenen Formen überliefert: durchgehende Erzählungen in Briefform (Martyrium Polycarpi, Martyrium Lugdunensium), die Kombination von eigenen Aufzeichnungen der Märtyrer mit
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nehmen: Es wird sich zeigen, dass diese Texte paradoxerweise eine direkte, aus einer einzigen Erzählperspektive formulierte Ekphrasis der Qualen ihrer Protagonisten bei öffentlicher Folter und Hinrichtung vermeiden. Statt dessen entwickeln sie eine Fülle raffinierter, indirekter' Beschreibungstechniken, die vorfuhren, wie die gequälten Körper der Märtyrer aus ganz verschiedenen Perspektiven gesehen und gedeutet werden. In einem zweiten Schritt wird versucht, die historischen Bedingungen dieser Erzählweise zu verstehen. Dies geschieht aus zwei Perspektiven: Zum einen lassen sich die beiden Texte als narrative Realisierungen verschiedener Martyriumkonzepte begreifen, d.h. als Positionen innerhalb eines rein christlichen Diskursfeldes.6 Andererseits einem rahmenden Herausgeberbericht (Passio Perpetuae) und reine Verhörprotokolle (ältestes Beispiel: Acta Martyrum Scilitanorum). In der älteren Forschung wurde versucht, zwischen hagiographischen Berichten (oft als passiones oder martyria bezeichnet) und reinen, angeblich auf tatsächlichen Gerichtsprotokollen {commentarii) beruhenden acta (die deshalb als historisch zuverlässigere Quellen zu gelten hätten) zu unterscheiden. Das Standardwerk hierzu bleiben die Arbeiten von DELEHAYE; für einen Überblick über die Forschung und zur Diskussion der Unterscheidung zwischen passiones und acta vgl. BASTIAENSEN IX-XL. Da jedoch von Anfang an Mischformen existierten (auch das Martyrium Polycarpi und die Passio Perpetuae erhalten kurze protokollartige Verhörpassagen) und sich auch die ,reinen' Verhörprotokolle bei genauerer Lektüre als literarisch gestaltete Dialoge erweisen, ist es inzwischen - nach langer Diskussion, die spätestens am Anfang des 20. Jahrhunderts von REITZENSTEIN angestoßen wurde - üblich geworden, von einer , Literatur des Martyriums' zu sprechen (z.B. HABERMEHL 1 7 8 - 1 8 6 ) , die als solche zu untersuchen sei; dies fordert z.B. DEHANDSCHUTTER ( 1 9 9 5 ) . Die Konsequenzen dieser Erkenntnis werden jedoch bei der Interpretation der Texte immer noch selten umgesetzt. 6
Der Begriff des , Diskursfeldes' ist aus den Arbeiten des Sozialanthropologen entlehnt. Ausgehend von den Arbeiten FOUCAULTS und BOURDIEUS, plädiert SCHIFFAUER 3 1 9 dafür, Religion nicht als fest umrissenes Symbolsystem zu begreifen, sondern als Diskursfeld, „als ein Feld, in dem in Aushandlungs-, Auseinandersetzungs- und Inszenierungsprozessen Deutungen entwickelt und durchgesetzt werden." Dadurch wird die „Dynamik des religiösen Denkens" betont: „Ein Diskursfeld ist eine Arena, in der verschiedene Akteure symbolische Kämpfe austragen. Eine Religionsgemeinschaft wird damit weniger als Gruppe konzipiert, die ein Symbolsystem teilt, sondern als ein offenes Netzwerk von sich immer neu gruppieSCHIFFAUER
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sind die Berichte in spezifischer Weise Teil der kaiserzeitlichen Urbanen Kultur, die von der Institution der , Spiele' (ludi, munera)7 ebenso geprägt war wie von der oberschichtlichen , Sorge um sich' (souci de soi),s in deren Zusammenhang sich im übrigen auch die von PERKINS analysierte Rede über physische Leiden stellen lässt. Die christlichen Texte, so meine These, konstruieren weder eine einheitliche, gegen alle ,Anderen' abgegrenzte christliche ,Identität', noch sind sie als Beispiele eines in seiner Einheitlichkeit phantasmatisch rekonstruierten , suffering self zu verstehen; vielmehr scheint es mir in diesen Berichten darum zu gehen, in erzählerischer Form evident zu machen,9 wie eine im Dialog mit der umgebenden Kultur erst im Entstehen begriffene spezifisch christliche Sicht der Welt sich im tödlichen Konflikt mit eben dieser Welt bewähren soll: die Berichterstatter verwandeln die Schande des öffentlichen Spektakels in den Triumph der Wahrheit der christlichen Weltsicht. Um eine derartige Evidenz zu erzeugen, war ein Verfahren nötig, das die neue Sichtwei-
renden Gläubigen, in dem über Deutungen und Bedeutungen gestritten wird" (ebd. 320). Dies ist m.E. ein gerade fur die Beschreibung des frühen Christentums äußerst geeignetes Modell. 7 Vgl. dazu W I E D E M A N N ; FLAIG 38-93; K Y L E . 8 Grundsätzlich lässt sich in der Oberschicht der frühen Kaiserzeit ein gesteigertes Interesse an der (Selbst-)Beobachtung und Reflexion psychischer und physischer Funktionen feststellen, das seinen Ausdruck in der Produktion und Rezeption von medizinischen und philosophischen Schriften ebenso wie in einer bestimmten, vom (vorwiegend stoischen) Ideal der Vernunft geprägten Lebenspraxis findet. FouCAULT prägte dafür die schon antike Bezeichnung ,souci de soi'. Für einen in vielen Details allerdings problematischen Versuch, diesen vorwiegend philosophischen Diskurs mit jüdischen und christlichen Martyriumstexten in Beziehung zu setzen, vgl. SHAW ( 1 9 9 6 ) . 9
SCHIFFAUER 14f. betont, dass es innerhalb eines religiösen Diskursfeldes wesentlich darauf ankommt, die Evidenz einer bestimmten Lehre herzustellen. Er unterscheidet dabei drei Bereiche: 1) die argumentative Evidenz' (die innere Logik der vertretenen Positionen); 2) die ,soziale Evidenz' (die gegenseitige Bestätigung eines bestimmten Wirklichkeitsentwurfes innerhalb einer Gemeinde); 3) die ,lebensgeschichtliche Evidenz' (die Lehre muss für den einzelnen plausibel an die individuelle Lebenserfahrung anknüpfbar sein).
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se über Anknüpfung an Bekanntes etablierte und gleichzeitig die Differenz zu nichtchristlichen Diskursfeldern markierte. Die Geschichte des frühen Christentums zeigt, dass die Berichterstatter ihr Ziel in zwei Richtungen verfehlen konnten: Manchen ihrer Zeitgenossen schien bekanntlich die Gestalt des Märtyrers oder der Märtyrerin derart attraktiv, dass sie sich vorbehaltlos mit ihr identifizierten und sich zum Befremden ihrer paganen und jüdischen und zur Besorgnis ihrer gemäßigteren christlichen Zeitgenossen freiwillig zum Martyrium drängten. 10 Auf eine weitaus größere Zahl jedoch machte die Angst vor den Qualen der Folter und Hinrichtung, die gerade in den frühen Berichten keineswegs verschwiegen werden, verständlicherweise einen so starken Eindruck, dass sie in Zeiten massiver Verfolgung als lapsi (,Abgefallene') für die Kirchenführer ein schwerwiegendes Problem darstellten, das seinerseits wiederum in Martyriumsberichten diskutiert wurde.11 Obwohl die Ursachen für diese verschiedenen Verhaltensweisen sicher auch in nicht mehr rekonstruierbaren persönlichen Erlebnissen lagen, prägten gerade in der frühen Zeit, als eigentliche Verfolgungen noch selten waren, schriftliche oder auch mündliche Berichte den Horizont, in den die persönlichen Erfahrungen gestellt wurden. Unverfänglich war deshalb das Verfassen derartiger Erzählungen erst in dem Moment, wo alle Verfolgungen zur 1 Λ
Kirchengeschichte geworden waren. 10
Vorher jedoch waren diese
Bereits das Martyrium Polycarpi (4, 3) polemisiert gegen die voreilige Bereitschaft zum freiwilligen Martyrium. Darin muss man jedoch nicht unbedingt mit BUSCHMANN (1995) und (1995a) ein frühes Zeugnis für den Montanismus sehen. Für eine diesbezügliche Kritik an BUSCHMANN vgl. DEHANDSCHUTTER (1999). Die Zeugnisse zum Phänomen des Hindrängens zum Martyrium sind zusammengestellt und in ihrem Quellenwert diskutiert bei BUTTERWECK. '1 Ein Beispiel dafür findet sich im Martyrium Pionii (bes. 18, 13) aus Smyrna, einem wahrscheinlich aus dem 3. Jahrhundert stammenden Text, der in vielen Details an das Martyrium Polycarpi anknüpft; neben den Kommentaren der oben in Anm. 3 genannten Ausgaben vgl. dazu ROBERT. Außerhalb der Martyriumsberichte ist natürlich Cyprian, De lapsis zu nennen. 12 Seit Laktanz, De mortibus persecutorum und Eusebius von Caesarea wird die vorkonstantinische Kirchengeschichte als Abfolge von 10 Verfolgungen (von Nero bis Diokletian) konzipiert; s. dazu HANDRICK; TABBERNEE.
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Texte ein nicht ungefährliches Experimentierfeld, auf dem versucht wurde, zu erzählen, was es bedeutete, ,zwischen den Welten' zu leben. Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich nur mit einem sehr begrenzten Ausschnitt dieses Feldes, das m.E. das Interesse von Religions- und Literaturwissenschaft mindestens ebenso sehr verdient wie jenes der Theologie und Kirchengeschichte.
1. Das Martyrium des Polykarp von Smyrna: Die Lesbarkeit von Wunde(r)n Der Brief über das Martyrium des Bischofs Polykarp von Smyrna ist sieht man von den umstrittenen Briefen des Ignatius von Antiochia ab13 - der älteste christliche Text, dessen Inhalt sich ausschließlich auf Bericht und Deutung der Hinrichtung eines Christen als , Märtyrer' konzentriert.14 Es ist offensichtlich, dass es sich um ein, wie beispielsweise VAN HENTEN formuliert, „durch und durch literarisches Werk", d.h. einen erzählerisch gestalteten Text handelt.15 Diese Tatsache, kombiniert mit dem Problem, dass der bei Eusebius von Caesarea (hist. eccl. 4, 15) zitierte Bericht in Details von der übrigen handschriftlichen Überlieferung des Martyriums abweicht, führte in der älteren Forschung zu der Annahme, dass es sich bei der uns erhaltenen Fassung nicht um den originalen Bericht handle, sondern um eine durch zahlreiche Interpolationen ergänzte spätere Bearbeitung.16 Die 13
Allgemein: SCHOEDEL (1985); TREVETT (1992); zum Martyrium bei Ignatius: BOMMES. Von HÜBNER wurde die Debatte über Datierung und Echtheit wieder angestoßen. Zum Verhältnis von Ignatius und Polykarp: SCHOEDEL (1993). 14 Tatsächlich ist der Polykarp-Brief der erste Beleg für die Verwendung des Wortes μάρτυς und verwandter Begriffe im Sinne von ,Blutzeuge'; zur Diskussion des Begriffes vgl. die bei BUSCHMANN (1998) 98f. zusammengestellte Literatur; grund l e g e n d : BROX. 15
V A N HENTEN 7 1 4 .
16
Bekannt und einflussreich ist insbesondere VON CAMPENHAUSEN, der sich be reits auf eine Reihe von Vorgängern stützte, vgl. dazu und zur Diskussion insgesamt BUSCHMANN ( 1 9 9 8 ) 3 7 f .
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Hauptargumente waren allerdings weniger philologischer denn kirchengeschichtlicher Natur: die mit theologischen Kommentaren und Wunderberichten durchsetzte Erzählung, BUSCHMANN spricht von „Erbauungsliteratur",17 die in auffalliger Weise zu den Passionsberichten des Neuen Testaments parallel gefuhrt wird und bereits eine 1 fi frühe Form des Märtyrerkultes voraussetzt, entsprach nicht der Vorstellung vieler Kirchenhistoriker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, nach der die ältesten und ursprünglichsten Martyriumsberichte reine Prozessakten sein sollten, aus denen sich die tatsächlichen historischen Ereignisse exakt ablesen ließen. Inzwischen ist sich die Forschung jedoch weitgehend einig, dass christliche Martyriumsberichte sich zwar formal an römische Gerichtsprotokolle mehr oder weniger anlehnen, gleichzeitig jedoch von Anfang an eine eigenständige Erzählweise entwickeln, deren rhetorische Techniken und inhaltlichen Motive in den historischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Texte begründet sind.19 Unter diesen Voraussetzungen gelang es DEHANDSCHUTTER und, auf dessen Ergebnissen aufbauend, B U S C H MANN, zu zeigen, dass sich der aus der Synopse der handschriftlichen Überlieferung und Eusebius gewonnene Text auch ohne Interpolationshypothese durchaus verstehen lässt. Der folgenden Lektüre aus17
B U S C H M A N N ( 1 9 9 8 ) 4 8 .
18
S. unten Anm. 71. 19 S. oben Anm. 5. 20 DEHANDSCHUTTER (1979); BUSCHMANN (1998), vgl. auch ders. (1994). Die bis in jüngste Zeit maßgebliche Ausgabe ist BIHLMEYER. Davon ausgehend, erarbeiteten MUSURILLO, DEHANDSCHUTTER ( 1 9 7 9 ) u n d O R B Ä N ( i n : BASTIAENSEN u . a . [ 1 9 9 5 ] 3
45) eigenständige Ausgaben. Während MUSURILLOS Text und Übersetzung sehr kritisch zu beurteilen sind und ORBΔN nur an wenigen Stellen von BIHLMEYER abweicht, bringt die Ausgabe DEHANDSCHUTTERS insgesamt 35 Δnderungsvorschläge, die bei BUSCHMANN (1998) 17f. aufgelistet sind. Er beachtet allerdings nicht die von DEHANDSCHUTTER (1990) gegenüber seiner Ausgabe von 1979 aufgrund des damals übersehenen codex Atheniensis nachgetragenen Lesungen, die bei einer (text)kritisch fundierten Lektüre unbedingt berücksichtigt werden müssen. Insgesamt ist BUSCHMANN (1998) als Kommentar zwar ausgesprochen reichhaltig, in vielen Details aber sehr problematisch, vgl. dazu und zu BUSCHMANN (1994) die Rezensionen: BAUMEISTER ( 1 9 9 6 ) und ( 2 0 0 0 ) ; SEELINGER; HABERMEHL ( 2 0 0 0 ) .
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gewählter Passagen wird deshalb die Arbeitshypothese zugrunde ge legt, dass der Text in der Form, wie ihn die handschriftliche Überlieferung bietet, in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts verfasst wurde.21 Es ist hier nicht der Ort, den komplizierten Aufbau des gesamten 22
·
Briefes ausfuhrlich zu besprechen. Der eingangs geschilderten Fragestellung folgend, werde ich mich auf die erzählerischen Passagen beschränken, in denen von den physischen Leiden der Märtyrer die Rede ist. Allerdings ist es nicht möglich, Erzählbericht und kommen21
Aufgrund der Bemerkung in Mart. Polyc. 18, 3 über eine noch bevorstehende Feier des Jahrestages des Martyriums wird angenommen, dass der Brief unmittelbar nach den Ereignissen verfasst wurde. Eine genauere Datierung (sowohl des Todestages als auch der Abfassung) als 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts ist jedoch aufgrund der Quellenlage nicht möglich. Die u.a. von BUSCHMANN (1998), 38f. und 367-373 und DEHANDSCHUTTER (1979) vertretene Frühdatierung (zwischen 155 und 160) basiert auf den Angaben in Mart. Polyc. 21 (das Martyrium fand am 23. Februar unter dem Prokonsul Statius Quadratus statt) und der aus Aelius Aristides, Hieroi Logoi 47, 22, 41 (vgl. 50, 63, 71) sowie CIL VI 160 und XIV 67 erschlossenen wahrscheinlichen Prokonsulatszeit des Statius Quadratus. Die Spätdatierung in die 60er Jahre (vertreten von z.B. VON CAMPENHAUSEN, neuerdings wieder TREVETT [1996] 26-45) stützt sich auf Eusebius, hist. eccl. 4, 15, 1; vgl. Chronicon ad annum 167 (GCS 47), 205; RONCHEY datiert den Text ins dritte Viertel des 3. Jahrhunderts. Argumente sind angebliche Anachronismen, darunter die sog. ,antimontanistische Tendenz' des Martyriums. Während letzteres aus dem Satz Uber Quintus (Mart. Polyc. 4) zuviel herausliest (vgl. dazu oben Anm. 10), erweisen sich die anderen Anachronismen als nicht stichhaltig, s. dazu die Rez. von DEN BOEFT/BREMMER (1995). Den besten Überblick über die Diskussion bieten VAN HENTEN und D E H A N D SCHUTTER (1993). Verkompliziert wird das Problem zusätzlich durch die Bezeichnung ,Großer Sabbat' fur den Todestag Polykarps; am wahrscheinlichsten ist damit das Pesach-Fest gemeint; damit wird eine weitere Evangelien-Parallele hergestellt, wobei zu beachten ist, dass - wie z.B. VAN HENTEN 715 betont - die Parallelführung nicht deckungsgleich erfolgt (Jesus stirbt nach den Evangelien an π α ρ α σ κ ε υ ή ) ; unwahrscheinlich sind die Annahmen, es handle sich um eine erst seit dem 4. Jahrhunderts belegte christliche Bezeichnung für ,Sonntag' (vgl. G.W.H. LAMPE, A patristic Greek lexicon, Oxford 1968, 1220) oder aber, der Sabbat werde als ,groß' bezeichnet, weil gleichzeitig ein paganes Fest, evtl. die Terminalia (die aber nur für Rom belegt sind) gefeiert wurde (RORDORF 245-249); vgl. zu dieser Diskussion den Überblick bei BUSCHMANN (1998) 166-169. 22
Eine schematische Darstellung des Aufbaus findet sich bei BUSCHMANN ( 1 9 9 8 ) 41 f.
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tierende Bemerkungen des Verfassers zu trennen - genau dies ist eine der Besonderheiten des Erzählstils von Martyriumsberichten, um die es im folgenden geht. Unmittelbar nach dem Brief-Präskript und einer kurzen, das Briefthema umreißenden Einleitung, folgt eine enkomiastische Passage, in der summarisch das standhafte Verhalten einer ganzen Gruppe von Märtyrern geschildert wird, die in der gleichen Verfolgung wie Polykarp getötet wurden. Der Bericht, der fur unsere Fragestellung von Interesse ist, wird durch eine rhetorische Frage eingeleitet: To γαρ γενναΐον αυτών και ύπομονητικόν και φιλοδέσποτον τις ουκ αν θαυμάσειεν; Denn wer würde nicht ihren Edelmut, ihr Standhalten und ihre Liebe zum Herrn bewundern? (2, 2 ) 2 3
Die nun folgende Schilderung soll die Leser und Leserinnen offensichtlich nicht nur zur Nachahmung (vgl. 1, 2a), sondern auch zur Bewunderung herausfordern. Damit vollzieht sich, worauf B U S C H MANN zur Recht hinweist, der Übergang zu ,,epideiktische[n] Gattungselemente[n]".24 Doch wie konkretisiert sich dies im folgenden Bericht? Der Text beginnt mit einer eigenartig indirekten Schilderung der Geschehnisse: Οι μάστιξιν μεν καταξανθέντες, ώστε μέχρι των εσω φλεβών και αρτηριών την της σαρκός οίκονομίαν θεωρεΐσθαι, ύπέμει ναν, ώς και τους περιεστώτας έλεεΐν και όδύρεσθαι... Die einen, durch Geißelhiebe zerfleischt, sodass bis zu den Adern und Blutgefäßen im Innern der Bau des Körpers sichtbar wurde, hielten stand, sodass auch die Zuschauer Mitleid hatten und weh klagten ... (2, 2)
23
Griechischer Text und Übersetzung dieses und aller folgenden Zitate von
BUSCHMANN ( 1 9 9 8 ) ü b e r n o m m e n . 24
BUSCHMANN ( 1 9 9 8 ) 9 5 .
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Der christliche Autor vermeidet die direkte anschauliche Beschrei bung des physischen Leidens aus einer einzigen Erzählperspektive, wie sie in einer epideiktischen Passage eigentlich zu erwarten wäre.25 Statt dessen fugt er - in einem im unpersönlichen Infinitiv Passiv formulierten Konsekutivsatz - eine Anspielung auf die anatomische Epideixis zeitgenössischer medizinischer Schriften und Vorträge ein und schildert anschließend die Wirkung des Anblicks der gequälten Körper auf die Zuschauer. Der Blick, der hier auf die Körper der Märtyrer fällt, ist gebrochen; der Verweis auf die anatomische Epideixis ist umso provokativer, wenn man weiß, dass die an medizinischem Wissen außerordentlich interessierten gebildeten Zeitgenossen eines Polykarp sich vermutlich trotz allem scheuten, ins Körperinnere von Menschen zu blicken26 - es sei denn, sie waren Publikum einer öffentlichen Hinrichtung. Diese Technik der indirekten Beschreibung, die es vermeidet, dass der Blick des Lesers durch die Erzählperspektive des Autors auf den gequälten Körper fallt, wird im gesamten Abschnitt 2 fortgeführt. Im Mittelpunkt der erzählerischen Aufmerksamkeit stehen die Reaktionen auf das Erleben und Mitansehen der Qualen: Die Märtyrer stöhnen nicht. Dies wird von den Anwesenden mithilfe ihres Vorwissens über das Martyrium sofort gedeutet:
25
Es ist m.E. nicht möglich, aus der als inkonsistentes System Uberlieferten antiken Theorie der Rhetorik klare präskriptive Regeln abzuleiten, nach denen der Verfasser seinen Bericht modelliert haben soll. Die Tatsache allerdings, dass seit dem 1. Jahr hundert n. Chr. in literarischen Texten und rhetorischen Traktaten (ebenso wie in der durch die ludi geprägten Festkultur der Urbanen Zentren) das Visuelle eine auffallig zentrale Rolle spielt, legt es nahe, auch christliche Texte im Hinblick auf diese Phä nomene zu untersuchen, was in diesem Beitrag durch die Frage nach der Körperfee schreibung und deren optischer Perspektivierung unternommen wird. Zu diesem Zug der kaiserzeitlichen Kultur allgemein vgl. GOLDHILL 154194; zur Ekphrasis in der rhetorischen Theorie DÜBEL. 26 Zum epideiktischen Stil medizinischer Fachliteratur und zu öffentlichen Sektionen vgl. VON STADEN. Sowohl anatomisch exakte Beschreibungen als auch tatsächliche Sektionen beschränkten sich mit wenigen, umstrittenen Ausnahmen auf Körper von Tieren.
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... έπιδεικνυμένους άπασιν ήμΐν, δτι εκείνη τη ώρα βασανιζό μενοι της σαρκός άπεδήμουν οί γενναιότατοι μάρτυρες τοΰ Χριστοί), μάλλον δέ, δτι παρεστώς ό κύριος ώμίλει αύτοΐς. ... Sie zeigten uns allen, dass die sehr edelmütigen Märtyrer Christi in jener Stunde der Folterung außerhalb des Körpers weilten, mehr noch, dass der Herr ihnen zur Seite stand und ihnen zuredete. (2, 2)
Das Verfahren erreicht seinen Höhepunkt, wenn sich der Berichter statter anmaßt nun sogar ohne äußere physische Indizien anzuführen zu beurteilen, was die Märtyrer individuell erleben: Και τό πΰρ ην αύτοΐς ψυχρόν τό των άπανθρώπων βασανι στών προ οφθαλμών γάρ είχον φυγείν τό αίώνιον και μηδέπο τε σβεννύμενον, και τοις της καρδίας όφθαλμοΐς ένέβλεπον τά τηρούμενα τοις ύπομείνασιν άγαθά, α οΰτε ούς ήκουσεν οΰτε οφθαλμός ειδεν οϋτε έπι καρδίαν άνθρώπου άνέβη, έκεί νοις δέ ύπεδείκνυτο ύπό τοΰ κυρίου, οιπερ μηκέτι άνθρω ποι, άλλ' ήδη άγγελοι ήσαν. Kalt war ihnen das Feuer der unmenschlichen Folterknechte. Denn sie hatten vor Augen, dem ewigen und niemals erlöschenden Feuer zu entfliehen, und mit den Augen des Herzens erblickten sie die Güter, die für die Standhaltenden aufbewahrt sind und die kein Ohr gehört, kein Auge gesehen und die in keines Menschen Herz gekommen sind, die aber vom Herrn jenen gezeigt wurden, die nicht mehr Menschen, sondern schon Engel waren. (2, 3) Ohne dass die Märtyrer selbst zu Wort kommen, weiß der Berichter statter, dass sie nicht leiden, weil sie selbst wiederum wissen, ja sehen, dass ihr Martyrium sie vor einer ewigen Strafe bewahrt. Der Inhalt dieser ,Vision' der Märtyrer wird als erschließbar dargestellt, d.h. als auf einem von Märtyrern, Berichterstattern und christlichen Zuschau ern geteilten Wissen beruhend.27 Statt der direkten Ekphrasis physi 27
Für die einzelnen Motive vgl. den Kommentar von BUSCHMANN (1998) 106; das Motiv, dass Märtyrer unmittelbar nach dem Tod mit ewigem Weiterleben belohnt
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scher Qualen finden wir also einen Bericht darüber, wie individuelle Qual durch Kenntnis von traditionell vermittelten Mustern sich in ein ,schriftgemäßes' Martyrium verwandelt. Ebenso wie die bislang analysierte Eingangspassage vermeidet auch der Bericht über Polykarps Hinrichtung - er wird auf Verlangen des Volkes zur Verbrennung bei lebendigem Leibe verurteilt - sorgfaltig, dass der tatsächliche physische, der Folter ausgesetzte Körper Polykarps für den Leser direkt sichtbar wird. Die Techniken, die es ermöglichen, von seinem eben doch körperlichen Martyrium zu erzählen, sind jedoch andere als in dem eben betrachteten Textabschnitt. Solange Polykarp sich noch nicht in der ausgesprochen erniedrigenden Situation der öffentlichen Hinrichtung befindet, berichtet der Text beiläufig auch einige äußerliche Details. So staunen die bei seiner Verhaftung in seinem Landhaus Anwesenden über das hohe Alter und die ruhige Haltung des Bischofs (7, 1-3). Auf dem Weg zum Gerichtsprozess verletzt er sich den Fuß (8, 3), beim Verhör durch den Prokonsul blickt Polykarp „mit finsterer Miene" auf die Menge (9, 2), schließlich ist sein „Gesicht von der Gnade Gottes erfüllt" (12, 1). Sobald jedoch der Scheiterhaufen errichtet ist, wird Polykarps Äußeres nicht mehr direkt geschildert. So wird nicht gesagt, dass Polykarp nackt war. Statt dessen wird umständlich erzählt, wie er sich selbst auszieht, und nebenbei bemerkt, dass er früher nie habe selber seine Sandalen ausziehen müssen, weil immer einer der Gläubigen ihn berühren wollte (13,2). Seine Autorität und Tapferkeit bewirken, dass er nicht mit Nägeln, die seinen Körper verletzen würden, festgemacht wird. Statt dessen werden ihm lediglich die Hände gefesselt (13, 3 14, 1). Nachdem der gefesselte Bischof auf dem Scheiterhaufen stehend ein Gebet gesprochen hat (14, 1-3), wird versucht, ihn bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Dies scheitert, weshalb der Märtyrer werden, findet sich auch in 2 Mcc 7, 9.14 u.ö.; Ign. Pol. 2, 3 und späteren Martyri umsberichten; zum ,Sehen mit den Augen des Herzens' vgl. Eph 1, 18; 1 Clem 36; zum Motiv der Güter, die jenseits aller menschlichen Wahrnehmung sind, vgl. 1 Cor 2, 9 und DEHANDSCHUTTER (1993) 307f. zur Frage der PaulusKentnisse des Ignati us von Antiochia.
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schließlich durch Dolchstoß getötet werden muss (15, 1 - 16, 1). Diese Ereignisse und ihre physischen Auswirkungen auf Polykarps Körper werden jedoch, mit Ausnahme der Beschreibung des durch den Dolchstoß ausgelösten Blutschwalls, nicht direkt erzählt. Statt dessen sehen die Leser Metaphern und Wunder, die ihrerseits wiederum auf bereits vorhandene, jüdisch-christliche Traditionen verweisen: Polykarp ist - bevor das Feuer entzündet wird - „wie ein edler Widder, der aus einer großen Herde zum Opfer ausgewählt worden ist" (14, 1). Der eigentliche Höhepunkt des Martyriums wird folgendermaßen geschildert: Άναπέμψαντος δέ αύτοΰ τό αμήν και πληρώσαντος την εύ χήν, οί τοϋ πυρός άνθρωποι έξήψαν τό πΰρ. Μεγάλης δέ έκ λαμψάσης φλογός, θαϋμα ε'ίδομεν, οις ίδεΐν εδόθη· οϊ και έτηρήθημεν εις τό άναγγεϊλαι τοις λοιποϊς τά γενόμενα. (2) Τό γαρ πΰρ καμάρας είδος ποίησαν, ώσπερ οθόνη πλοίου υπό πνεύματος πληρουμένη, κύκλω περιετείχισεν τό σώμα τοϋ μάρτυρος· και ην μέσον ούχ ώς σαρξ καιομένη, αλλ' ώς άρτος όπτώμενος ή ώς χρυσός και άργυρος έν καμίνω πυρούμενος. και γάρ εύωδίας τοσαύτης άντελαβόμεθα, ώς λι βανωτοϋ πνέοντος ή άλλου τινός των τιμίων αρωμάτων. (16, 1) Πέρας γοϋν ίδόντες οί άνομοι μη δυνάμενον αυτό τό σώμα υπό τοϋ πυρός δαπανηθήναι, έκέλευσαν προσελθόντα αύτω κομφέκτορα παραβΰσαι ξιφίδιον. Και τοΰτο ποιήσαντος, έξ η λθεν περιστερά και] πλήθος αίματος, ώστε κατασβέσαι τό πΰρ καΐ θαυμάσαι πάντα τον οχλον, εί τοσαύτη τις διαφορά μεταξύ τών τε απίστων καί των εκλεκτών ...
28
Zur Verbindung von Martyrium, Opfer und Eucharistie vgl. BUSCHMANN (1998) 268f. (mit weiterer Literatur), der vor allem auf die Parallele der Briefe des Ignatius von Antiochia (Rom. 2, 2 und 4, 1) und auf Origenes, Exhort, ad mart. 28 verweist. Der Vermutung BUSCHMANNS, in dieser Verbindung stecke eine antimontanistische Haltung, kann ich nicht folgen. Wesentlich erscheint mir, dass die Metapher ebenso wie das Gebet Polykarps nicht nur auf Ignatius von Antiochia verweisen, sondern auch deutlich an jüdische, sehr wahrscheinlich schriftlich vermittelte Traditionen anschließt: PassaTradition (Ex 12); das Gebet Asarjas im Feuerofen (Dn 3, 2445 LXX), Verknüpfung von Martyrium und Opfer (Dn 3, 39f. LXX), vgl. dazu VAN HENTEN 7 1 9 7 2 2 .
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Als er das Amen hinaufgesandt und das Gebet vollendet hatte, zündeten die dafür zuständigen Menschen das Feuer an. Mächtig loderte die Flamme empor; ein Wunder sahen wir, denen es gegeben war, es zu sehen, und uns war es vorbehalten, die Geschehnisse den Übrigen zu verkünden. (2) Denn das Feuer nahm die Form einer Wölbung an, wie ein vom Wind aufgeblähtes Schiffssegel, und umhüllte ringsum den Leib des Märtyrers. Er befand sich mittendrin, nicht wie Fleisch, das brät, sondern wie Brot, das gebacken wird, oder wie Gold und Silber, das im Schmelzofen gereinigt wird. Auch empfanden wir einen solchen Wohlgeruch wie von duftendem Weihrauch oder von irgendeinem anderen der kostbaren Rauchwerke. (16, 1) Als endlich die Gottlosen sahen, dass sein Leib nicht vom Feuer verzehrt werden konnte, befahlen sie, dass der Vollstrecker zu ihm träte und den Dolch hineinstoße. Doch als er dies tat, kam [eine Taube und]29 eine solche Menge Blut hervor, dass das Feuer verlosch und die ganze Menge sich verwunderte, welch ein Unterschied zwischen den Ungläubigen und den Auserwählten besteht. (15, 1 - 16,1) Jetzt, in dem Moment, wo nur die Auserwählten (die Berichterstatter und durch sie die Leser und Leserinnen des Textes) Polykarp sehen, erwähnt der Text zum ersten Mal in der Hinrichtungsszene den Körper des Märtyrers (σώμα), der von einem schützenden ,Gewölbe' umhüllt ist. Da dieses ,Gewölbe' mit dem nur in Kleinasien für ,Grabkammer' gebräuchlichen Wort καμάρα bezeichnet ist, 30 wird so für einen kurzen Augenblick Polykarp als Leichnam in einer Grabkammer sichtbar. Voraussetzung dafür ist allerdings die Einfuhrung einer ,visionären', exklusiv christlichen Perspektive: „ein Wunder sahen wir, denen es gegeben war, es zu sehen." Unmittelbar nach dem Wunder, das auf die sehr wahrscheinlich schriftlich vermittelte jüdische Martyriumstraditi29
Zu den Gründen für die Tilgung des Motivs s. unten Anm. 34. DEN BOEFT/BREMMER (1991) 109 weisen auf diese bemerkenswerte Tatsache hin; die Belege sind zusammengestellt bei KUBINSKA 9499. Besonders interessant ist eine Inschrift aus Smyrna, die einen über oder unter der καμάρα gelegenen Auf enthaltsraum (δίαιτα) erwähnt, in dem sich die Angehörigen zu Gedenkfeiern ge troffen haben müssen (ebd. 96; CIG 3269; PETZL, Nr. 195, vgl. auch Nr. 192). 30
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on verweist,31 wird der Körper Polykarps durch die Metaphern ,Brot' und ,Gold und Silber' ersetzt, gleichzeitig wird eine weitere, ebenfalls den Auserwählten vorbehaltene Sinneswahrnehmung eingeführt: sie riechen „einen solchen Wohlgeruch wie von duftendem Weih rauch."33 Durch eine unmittelbar darauf folgende Wiederholung der Schilderung des Ereignisses aus der Perspektive der ,Gottlosen', nochmals fallt der Begriff σώμα, wird eine zweite Sichtweise installiert und gleichzeitig von der ersten deutlich abgehoben („...wir, denen es gegeben war, es zu sehen ..." - „Als endlich die Gottlosen sahen..."). Im Augenblick des Todesstoßes schildert der Text zuerst aus neutraler Erzählperspektive, dass ein Blutschwall das Feuer löscht, und berichtet dann den Effekt dieses Ereignisses auf die ,Menge', die über die Differenz zwischen ,Ungläubigen' und ,Auserwählten' staunt. In diesem Moment scheinen die anfangs der Szene erzählerisch getrennt geführten Sichtweisen auf das Ereignis zusammenzufallen; oder, um genauer zu sein: Die Auserwählten sehen zwei Wunder (das
31
Das Wunder, dass Polykarp nicht verbrennt, erinnert deutlich (auch mit terminologischer Übereinstimmung) an die Rettung der drei jungen Männer aus dem Feuerofen Nebukadnezars (Dn 3 , 26f. MT; 9 3 LXX/Th), so dass nach VAN H E N T E N 722f. direkte Abhängigkeit wahrscheinlich ist. 32 Das Brot verweist wohl noch einmal, wie schon das Gebet Polykarps, auf den Zusammenhang von Martyrium und Eucharistie (s. oben Anm. 28); es fehlt allerdings in der Version des Eusebius. Der reinigende Schmelzprozess als Prüfung ist ein verbreitetes, bereits in der Tradition vorgefundenes Bild, z.B. Dn 11, 30 12, 3; 1 Pt 1, 6 ; vgl. dazu B U S C H M A N N ( 1 9 9 8 ) 3 0 1 . 33
Das Motiv des Wohlgeruchs stützt sich auf eine besonders breite Tradition und wird selbst wiederum zum Topos in Märtyrerakten (vgl. dazu L A L L E M A N D 1 8 6 192). Der vorliegenden Stelle zugrunde liegt vermutlich die alttestamentliche Vorstellung vom Wohlgeruch des Opfers (Gn 8, 21), gleichzeitig ist aber auch an die (davon wohl nicht unabhängig denkbare) Vorstellung vom Wohlgeruch als Zeichen von göttlicher Präsenz bzw. Erkenntnis des Göttlichen (2 Cor 2, 1 4 1 6 ; Eph 5, lf.; vgl. Ign. Eph. 17, 1 f.) zu denken, die auch in paganer Religion verbreitet war. Ausfuhrliche Diskussion und Zusammenstellung von Belegen bei B U S C H M A N N ( 1 9 9 8 ) 3 0 1 3 0 9 .
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Gewölbe und die Tatsache, dass Polykarp nicht verbrennt), die ,Ungläubigen' nur das letztere.34 Fassen wir zusammen: In den epideiktisch-narrativen Passagen vermeidet es der Autor des Polykarp-Martyriums, den gequälten Körper von Märtyrern aus der ungebrochenen Perspektive eines Augenzeugen (der mit einem allwissenden Autor identisch wäre) zu beschreiben. Statt dessen bevorzugt er indirekte Darstellungsweisen: der Körper der Märtyrer ist ein ,Indiz' (1,1: „Denn fast alles, was vorging, geschah, damit der Herr uns von oben das dem Evangelium gemäße Martyrium zeige"), das durch richtiges Vorwissen, das aus der (wohl schon mehrheitlich) schriftlich vermittelten Tradition stammt, gedeutet werden kann und soll; sein physischer Zustand ist für den Leser zuerst vorwiegend aus im Text geschilderten Publikumsreaktionen erschließbar; endlich verschwindet der gequälte Körper Polykarps am Höhepunkt seines Martyriums gleichsam, da er nur noch indirekt (als sich in einer anderen Dimension der Wahrnehmung befindlich) beschrieben wird: in Wunderbildern, die von jenen, denen es gegeben' ist, gesehen werden können, und Metaphern, die ihrerseits wiederum auf vorgegebene Traditionen verweisen. Einzig im Moment des Todes des Märtyrers fallen alle im Text etablierten Perspektiven mit jener des Berichterstatters und der Leser zusammen. Dadurch wird nochmals deutlich, dass die ,Auserwählten', und mit ihnen die Leser des Textes, mehr und anderes sehen als die ,Ungläubigen', gleichzeitig aber deren Sichtweise (und damit deren ,Realität') durchaus kennen.
34
Gerade aufgrund der analysierten Perspektivierung der Ereignisse durch den Erzähler scheint es mir plausibel, dass das Wunder der Taube, das im Bericht des Eu sebius fehlt, zu tilgen ist. Zu diesem Schluss kommt mit ganz ähnlichen Argumenten auch B A U M E I S T E R (1996) 291.
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2. Passio Sanctarum Perpetuae et Felicitatis: Visionen und ihr Publikum Die so genannte Passio Sanctarum Perpetuae et Felicitatis berichtet über Verhaftung, Verhör und Hinrichtung einer Gruppe junger Christinnen und Christen - Zeitgenossen Tertullians - unter Septimius Severus im Jahre 203 n. Chr. im Amphitheater Karthagos. Anders als im Falle Polykarps ist die Datierung der Ereignisse relativ sicher. 35 Der Text selbst stellt uns allerdings vor Probleme: Er besteht in seinem Kern aus einem Gefangnistagebuch der Märtyrerin Perpetua, in dem sie über ihre Auseinandersetzungen mit ihrem Vater, der sie vom Martyrium abhalten will, ebenso berichtet wie über ihre ,Träume', in denen ihr das bevorstehende Martyrium in visionären Bildern gezeigt wird. Darauf folgt ein kurzer Bericht über eine Vision des Märtyrers Saturus. Schließlich rahmt der Text eines anonymen Herausgebers die nach seiner Auskunft authentischen Passagen der Märtyrer mit einer Einleitung und einem Bericht über die Hinrichtung. Die Passio ist in einer lateinischen und einer griechischen Fassung überliefert, die nur geringfügig voneinander abweichen, was zu der bis heute nicht mit letzter Gewissheit geklärten Frage nach der Sprache der Originalversion führte. Ich schließe mich im Folgenden der in der Forschung aus guten Gründen vorhandenen Tendenz an, der lateinischen Fassung den Vorzug zu geben. Bezeugt ist der Text bereits bei Tertullian, der ihn •50
allerdings ungenau zitiert.
Immerhin beweist dies, dass der Bericht
35
Diskussion bei A M A T 1 9 - 2 2 . Die heute gängigen Textausgaben ( M U S U R I L L O ; A M A T ; B A S T I A E N S E N , in: ders. u.a. 109147, Kommentar: 412452) basieren vorwiegend auf VAN BEEK (1936), vgl. ders. 1938; vgl. die Zusammenstellung aller Ausgaben bei AMAT, 9294. 36
37
Überblick über die Diskussion bei H A B E R M E H L 3 Anm. 8 und A M A T 5 1 - 6 6 . Tert. anim. 55, 4. Tertullian führt an der Stelle an, dass Perpetua unmittelbar vor dem Traum im ,Paradies' nur Märtyrer gesehen habe. Dies bezieht sich eindeutig auf die Vision des Saturus (Pass. Perp. 11, 9f.), in der Perpetua allerdings als Prota gonistin, die mit Saturus zusammen ins Jenseits kommt, anwesend ist. Wenn Tertul lian schreibt, dass Perpetua im ,Paradies' Märtyrer gesehen habe, so widerspricht 38
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über das Martyrium der Perpetua und ihrer Gefährten bereits wenige Jahre nach den Ereignissen in Africa gelesen wurde, auch wenn wir die genaue Abfassungszeit der beiden Versionen nicht kennen. Für unsere Frage nach der Erzähltechnik von Martyriumsberich ten sind die Einleitung des Herausgebers ebenso wie sein Bericht über die Hinrichtung von Interesse, wobei immer zu berücksichtigen ist, dass sich diese Passagen implizit und explizit auf das Tagebuch der Perpetua,39 insbesondere die dort aufgezeichneten Visionen beziehen; diese Tatsache wurde m.E. in den bisherigen Interpretationen40 kaum beachtet. Noch deutlicher als im Falle des Martyrium Polycarpi finden sich im Text selbst Hinweise auf das dem Bericht zugrunde liegende Kon zept des Martyriums ebenso wie über die Form der vom Herausgeber erwarteten Rezeption seines Werkes. So fragt der Herausgeber41 zu dies also nicht dem uns überlieferten Text. Vgl. zur Diskussion HABERMEHL 2 4 6 , zur Bedeutung der Passio Perpetuae fiir christliche Jenseitsvorstellungen BREMMER. 39 Natürlich wurde die Authentizität der Tagebücher immer wieder bestritten; für einen Überblick über die Diskussion vgl. VlEROW 6 0 2 6 0 7 . Obwohl m . E . die Beweise, die gegen eine Autorschaft der Perpetua und des Saturus vorgebracht werden, nicht stichhaltig sind, ist eine nachträgliche Überarbeitung der ,Tagebücher' angesichts der auch für protokollartige acta anzunehmenden literarischen Gestaltung (vgl. dazu oben Anm. 6) zumindest nicht auszuschließen. Für meine Argumentation, die sich im Wesentlichen auf die Berichte des Herausgebers konzentriert, ist die Frage nach der Autorschaft Perpetuas sekundär. 40
Für ältere Literatur vgl. die Bibliographien in HABERMEHL und A M A T . Als neuere Monographie ist HABERMEHL zu nennen, der eine literarische Interpretation bietet; SALISBURY liest den Text als Tatsachenbericht; am meisten Interesse fand die Passio im Zusammenhang der Frage nach den Geschlechterrollen und/oder den Visionen der Perpetua, z.B. SHAW ( 1 9 9 3 ) ; MILLER 1 4 8 - 1 8 3 ; CASTELLI; TREVETT ( 1 9 9 6 ) ; VLEROW. Zur literarischen Gestaltung insbesondere der acta: HALPORN; ZU den Jenseitsvorstellungen: BREMMER. 41
Si vetera fidei exempla et Dei gratiam testificantia et aedificationem hominis operantia propterea in litteris sunt digesta ut lectione eorum quasi repraesentatione rerum et Deus honoretur et homo confortetur, cur non et nova documenta aeque utrique causae convenientia et digerantur? (1, l).Vgl. zur Person des Herausgebers (hinter dem unbeweisbar Tertullian vermutet wurde) und zu dieser Passage, die (möglicherweise wegen ihres schwer verständlichen, zumindest in Ansätzen ,mon-
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Beginn des Textes rhetorisch, warum „neue Zeugnisse" (nova documenta) nicht ebenso niedergelegt und gelesen würden wie „alte Denkmale des Glaubens" (vetera fidei exempla) - damit müssen wohl Prophezeiungen und Visionen gemeint sein, die bereits im christlichjüdischen Schriftgut enthalten sind.42 Deshalb werde er nun „neue Visionen" (visiones novas), die ebenso anerkannt würden wie die alten Prophezeiungen, „niederlegen" (itaque et nos ... digerimus ...), zumal sie sich durch eine größere Nähe zu den erwarteten „Endzeiten der Welt" (ultima saeculi spatia) auszeichneten. Diese starke Betonung der visionären Qualitäten der Märtyrer mag zwar vom ,montanistischen Klima' Karthagos beeinflusst sein,43 findet sich aber grundsätzlich von Anfang an in allen Martyriumsberichten.44 Als Hintergrund für die folgende Analyse der Erzähltechnik der Körperdarstellung in der Passio ist jedenfalls im Auge zu behalten, dass der Text besonderen Wert auf die Verknüpfung von Martyrium und (wahrer) Vision legt und zumindest Gleichrangigkeit mit schon bestehenden Schriften beansprucht. Während sich der erste Teil der Einleitung auf die Textproduktion bezieht, findet sich an deren Ende ein Passus, in dem der Herausgeber zu erkennen gibt, wie er sich die Rezeption seines Textes vorstellt:
tanistischen' Inhalts) nur in einer lat. Handschrift erhalten ist, HABERMEHL 215f.; A M A T 189. Der Erzählstil des Herausgebers wird in Interpretationen der Passio meist vernachlässigt, eine Ausnahme ist HABERMEHL 187220. 42 Vgl. dazu z.B. AMAT 187f.; HABERMEHL 215 Anm. 2 bemerkt zu Recht, dass es für den modernen Leser unklar bleibt, ob und, wenn ja, gegen wen der Verfasser hier polemisiert. 43 Die Tatsache, dass der Text, wie beispielsweise Predigten des Augustin (serm. 180; 181; 182) zeigen, in die Liturgie der Großkirche aufgenommen wurde, zeigt, dass sein Inhalt zumindest nicht als montanistisch wahrgenommen wurde. Zur Dis kussion vgl. AMAT 3841; TREVETT (1996). 44 So schon im Bericht über den Tod des Stephanus (Act 7, 56); Polykarp wird sein Martyrium in der Vision als Brennen des eigenen Kopfkissens gezeigt (Mart. Polyc. 5, 2); ebenso finden sich entprechende Berichte im Martyrium Lugdunensium (Eus. hist. eccl. 5, 1, 10; 3, 2; 3, 9).
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et nos itaque quod audivimus et contrectavimus, annuntiamus et vobis, fratres et filioli, uti et vos qui interfuistis rememoremini gloriae domini et qui nunc cognoscitis per auditum communionem habeatis cum sanctis martyribus, et per illos cum domino nostro Iesu Christo, cui est claritas et honor in saecula saeculorum. Amen. Was wir also gehört und berührt haben, verkünden wir auch euch, Brüder und Söhne, damit ihr, die ihr zugegen wart, euch wieder erinnert der Herrlichkeit des Herrn und ihr, die ihr jetzt davon erfahrt im Hören, Gemeinschaft erlangt mit den heiligen Märtyrern, und durch sie mit unserem Herrn Jesus Christus, dem Herrlichkeit ist und Ehre bis ans Ende aller Ewigkeiten. Amen. (1, 6) 45
Unschwer lässt sich am Anfang eine Anspielung auf den 1. JohannesBrief erkennen, wo es heißt: „[...] was wir gehört, mit unsern Augen gesehen, betrachtet und mit Händen betastet haben." (1 Jo 1, lf.; vgl. 1, 3 ) 4 6 Auffällig ist, dass im lateinischen Herausgebertext jedoch das , sehen' fehlt, während die griechischen Handschriften das Zitat vollständig wiedergeben. Falls es sich nicht einfach um einen Überlieferungsfehler handelt, ließe sich daraus ableiten, dass der Herausgeber die Ereignisse vielleicht tatsächlich nur aus zweiter Hand kannte, vor allem aber, dass er selbst sich gar nicht unbedingt als Augenzeuge der berichteten Ereignisse darstellen wollte, obwohl sein detaillierter Bericht der Hinrichung der Märtyrer eindeutig aus der Perspektive eines Augenzeugen geschrieben ist.47 Was die vom Herausgeber im Folgenden deklarierte Erzähl- und Wirkungsabsicht betrifft, so ist der Unterschied zum Polykarp-Brief augenfällig. Von Mimesis ist hier nicht die Rede, sondern wir finden eine ganz andere Vorstellung: Durch die Lesung des Märtyrertextes sollen auf fast,mystische' Weise die Grenzen von Raum und Zeit überschritten werden, allein durch das Hören des 45
Übersetzungen aus HABERMEHL 6 - 2 9 . ... δ άκηκόαμεν, δ έωράκαμεν τοις όφθαλμοις ημών, δ έθεασάμεθα και αί χείρες ήμών έψηλάφησαν... 47 Während einige Herausgeber den lateinischen Text aufgrund der griechischen Version vervollständigen, vermutet BASTIAENSEN, in: ders. u.a. 414, dass der Her ausgeber kein Augenzeuge war und dies an dieser Stelle betonen wollte.
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Textes soll es möglich sein, Gemeinschaft (communitas) mit den Märtyrern und damit mit Christus zu erlangen. Dies entspricht wohl der ganz am Anfang der Einleitung (1, 1) geäußerten Überzeugung, dass es durch „die Lesung" der „alten Zeugnisse" „gleichsam zu einer Vergegenwärtigung der Geschehnisse" 48 komme. Obwohl derartige Aussagen sowohl aus moderner als auch aus antiker Sicht einen besonders anschaulichen Bericht der Ereignisse erwarten lassen, vermeidet der Herausgeber in seiner Beschreibung der öffentlichen Hinrichtung, ähnlich wie der Verfasser des PolykarpBriefes, eine direkte, aufs Optische zielende Schilderung der physischen Erscheinung der Märtyrer - mit einigen auffalligen Ausnahmen, von denen im Folgenden die Rede sein soll. Bei der Schilderung des Zuges der jungen Christinnen und Christen „erlaubt sich", wie HABERMEHL in seiner Interpretation formuliert, der Herausgeber die einzige Ekphrasis des Textes, die auch den Lesern und Leserinnen einen Blick auf den noch unversehrten Körper der Perpetua ermöglicht: 49 Illuxit dies victoriae illorum, et processerunt de carcere in amphitheatrum quasi in caelum hilares, vultu decori, si forte gaudio paventes non timore. (2) sequebatur Perpetua lucido vultu et placido incessu ut matrona Christi, ut Dei delicata, vigore oculorum deiciens omnium conspectum. (18, 1-3)
48
Repraesentatione ist eine Konjektur für das handschr. überlieferte repensatione, die aufgrund des παρουσία der griech. Überlieferung plausibel ist. AMAT behält als einzige Herausgeberin repensatione, das sie mit „nouvel examen" übersetzt, gibt im Kommentar aber keinerlei Erklärung des Sinnes. Interessanterweise erscheint repraesentatio bei Quintilian inst. 8, 3, 61 als eine der möglichen Übersetzung für griechisch ενάργεια. In den Progymnasmata wird die Technik der Ekphrasis eng mit der Qualität der Enargeia verbunden, vgl. dazu D Ü B E L (s. auch oben Anm. 25). 49
Auch HABERMEHL 218 betont, dass unter den Stilmitteln, die der Herausgeber anwendet, nur an dieser Stelle die Technik der Ekphrasis eine Rolle spielt; in der Anmerkung (218 Anm. 13) kommentiert er: „Das ist freilich auch ein erzähltechni scher Kunstgriff, der die Hörer involvieren soll: ihr Blick folgt dem des Theaterpu blikums."
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Licht brach der Tag ihres Sieges an, und sie zogen vom Kerker zum Amphitheater wie in den Himmel, heiter und schön von Angesicht, zitternd, wenn überhaupt, vor Freude und nicht vor Furcht. Perpetua schritt dahin mit leuchtendem Antlitz und ruhigem Gang, wie eine Gattin Christi, wie Gottes Liebling; die Kraft ihrer Augen zwang alle Blicke nieder.
Diese begeisterte Beschreibung der strahlend schönen Perpetua erinnerte damalige Rezipienten des Textes mit großer Wahrscheinlichkeit an vergleichbare Beschreibungen der Heldinnen griechischer Romane. So lesen wir etwa bei Chariton folgende Beschreibung seiner Hauptfigur Kallirhoe, die nach ihrer Ankunft in Babylon aus einem Wagen steigt und von einer staunenden Menge umringt wird: Έξέλαμψε δέ τό Καλλιρρόης πρόσωπον, και μαρμαρυγή κατ έσχε τάς άπάντων όψεις, ώσπερ έν νυκτι βαθεία πολλοϋ φω τός αίφνίδιον φανέντος· έκπλαγέντες δέ ol βάρβαροι προσ εκύνησαν... Und da strahlte Kallirhoes Antlitz hervor und ein Glanz blendete aller Augen, wie wenn in tiefer Nacht plötzlich ein starkes Licht aufleuchtet. Sprachlos vor Staunen warfen sich die Orientalen zu Boden, um ihr zu huldigen ... (5, 3, 9) 50
Durch diesen Vergleich wird aber gerade auch die Eigenart der christlichen Erzählweise deutlich: Es ist nicht einfach das Strahlen ihres Gesichtes, das die Zuschauer blendet, sondern Perpetua blickt zurück. Indem der Erzähler nun die Reaktion des Publikums auf diesen Blick schildert („die Kraft ihrer Augen zwang aller Blicke nieder") gelingt ihm eine eindrückliche Darstellung einer Subversion von Machtverhältnissen.51 Gleichzeitig erreicht er damit, dass sich seine eigene Per50
Übersetzung aus KYTZLER. Für einen weiter reichenden Vergleich griechischer Romane und christlicher Erzählungen vgl. PERKINS 4 1 7 6 und COOPER. 51 Dies heben besonders die Interpretationen von S H A W ( 1 9 9 3 ) und CASTELLI her vor. CASTELLI interpretiert die Passio aus einer theoretischen Perspektive der Gender Studies, in deren Mittelpunkt die insbesondere in feministischer Filmtheorie
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spektive und damit auch jene seiner Leser vom Blick des nicht christlichen Publikums klar unterscheidet, der Blick auf die schöne Perpetua ist nur dem christlichen (Lese-)Publikum erlaubt, während die Märty rerin in der erzählten Realität Karthagos in diesem Moment vor den schamlosen Blicken der Menge verschont bleibt. Dies ist jedoch nicht mehr der Fall bei der Schilderung des Tier kampfes der Märtyrerinnen Perpetua und Felicitas. Hier scheint der Erzähler geradezu dazu einzuladen, mit den Augen der schaulustigen Menge auf die beiden Frauen zu blicken. Doch lesen wir genau: Nachdem erzählt wurde, dass die beiden ausgezogen und in Netze ge hüllt werden, heißt es: Puellis autem ferocissimam vaccam ideoque praeter consuetudinem conparatam diabolus praeparavit, sexui earum etiam de best ia aemulatus. (2) itaque dispoliatae et reticulis indutae producebantur. horruit populus alteram respiciens puellam delicatam, alteram a partu recentem stillantibus mammis. (3) ita revocatae et discinctis indutae. prior Perpetua iactata est et concidit in lumbos. (4) et ubi sedit, tunicam a latere discissam ad velamentum femoris reduxitpudoris potius memor quam doloris. (20, 1-5) Für die jungen Frauen hingegen hielt der Teufel eine ganz wilde Kuh bereit, die aus eben diesem Grund wider alles Übliche ausgewählt worden war, auch suchte er durch das Tier ihr Geschlecht zu verhöhnen. Sie wurden also ausgezogen und in Netze gehüllt. Mit Entsetzen sah das Volk, dass die eine noch ein zartes Mädchen war, die andere aber mit ihren tropfenden Brüsten eben entbunden hatte. So brachte man sie beide zurück und kleidete sie in ungegürtete Gewänder. Zuerst wurde Perpetua niedergerannt und sie entwickelte Kritik an der Macht eines rein ,männlichen' Blickes steht. Allerdings ist gerade im Falle der zurückblickenden Perpetua nicht nur das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern, sondern mindestens ebenso sehr jenes zwischen männlichen und weiblichen Zuschauern auf der einen, zum Tode verurteilten , Verbrechern' auf der anderen Seite zur Disposition gestellt. 52 HABERMEHL 206f. hebt diesen Aspekt des Textes hervor. Er spielt natürlich auch in den oben Anm. 51 genannten Interpretationen eine zentrale Rolle.
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stürzte auf ihre Lenden. Und als sie sich aufgesetzt hatte, zog sie ihr an der Seite aufgerissenes Kleid nieder, um ihren Oberschenkel zu bedecken, mehr auf ihre Scham achtend als auf ihren Schmerz. Indem der Erzähler beschreibt, wie das Volk schaut, mit Mitleid reagiert und dadurch eine Verbesserung für die Märtyrerinnen erreicht, fallt nicht ein schaulustiger, sondern ein mitleidiger Blick auf die Frauen, ein Blick also, mit dem sich eine christliche Leserschaft identifizieren könnte. Außerdem fallt die Perspektive des Berichterstatters nicht wirklich mit jener des Volkes zusammen, da er selbst ja dem Publikum beim Schauen zusieht. Diese Distanzierung gibt er allerdings bei der folgenden Szene auf, in der er beschreibt, wie Perpetua auf ihre Lenden stürzt und ihr zerrissenes Gewand niederzieht. Auch hier ist jedoch eine von der unmittelbar optischen Wirkung wegführende Rezeptionsmöglichkeit eingebaut. Das Detail des Niederziehens des Gewandes findet sich nämlich als Topos in der zur Kaiserzeit äußerst beliebten Szene der Opferung der Polyxena. 53 Dass die Betonung dieses Details als Verweis auf den paganen Mythos gemeint ist, wird umso wahrscheinlicher, wenn man bedenkt, dass Hinrichtungen oft durch entsprechende Kostümierung der Verurteilten als mythische Szenen inszeniert wurden und dass verschiedene christliche Texte selbst wiederum auf diese Praxis Bezug nehmen. 54 Am Ende der Tierkampfszene wird der Leser schließlich mit der Tatsache konfrontiert, dass er nun zwar durch den mehrfach gebrochenen Blick des Berichterstatters Perpetuas Kampf mit den Tieren ,gesehen' hat, diese selbst aber etwas Anderes erlebte: Et populi duritia devicta, revocatae sunt in portam Sanavivariam. (8) illic Perpetua a quodam tunc catechumeno Rustico nomine qui 53
Der Szene bei Ovid, Met. 13, 439-480 (bes. 479f.) liegt u.a. Eur., Hec. 521-583 zugrunde; vgl. auch Verg. Aen. 3, 321-324; Sen. Tro. 1132-1164. Es ist m.E. gut möglich, dass die Szene bei Euripides zu den in der Kaiserzeit beliebten Wiederaufführungen einzelner Szenen griechischer Stücke gehörte; vgl. dazu allgemein HELDM A N N . 54
Belege zusammengestellt bei COLEMAN; vgl. auch BRENNECKE.
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53
ei adhaerebat, suscepta et quasi a somno expergita (adeo in spiritu et in extasi fiierat) circumspicere coepit et stupentibus omnibus ait: Quando, inquit, producimur ad vaccam illam nescio quam? (20, 7f.) Und die Grausamkeit des Volkes war bezwungen, und man brachte sie zurück ins Tor des Lebens. Dort wurde Perpetua von einem Mann namens Rusticus, der in jenen Tagen Katechumene war und ihr anhänglich folgte, in Empfang genommen; und sie erwachte wie aus einem Schlaf (so völlig war sie im Geist und in der Verzückung gewesen) und begann um sich zu blicken, und sie fragte zu aller Erstaunen: „Wann werden wir dieser Kuh oder was weiß ich vorgeführt?" Die Erwähnung der porta Sanavivaria ebenso wie die Bemerkung, dass Perpetua wie aus einem Schlaf erwacht sei, verweisen mit aller Deutlichkeit auf die letzte Traumvision der Perpetua. Dort aber hatte es geheißen, dass sie, in einen Mann verwandelt, als Athlet einen schwarzen Ägypter im Ringkampf besiegte. Die Vision endet mit folgenden Worten: 55 et coepi ire cum gloria ad portam Sanavivariam. Et experrecta sum. (14) et intellexi me non ad bestias, sed contra diabolum esse pugnaturam; sed sciebam mihi esse victoriam. (15) hoc usque in pridie muneris egi; ipsius autem muneris actum, si quis voluerit, scribat. (10, 13 - 15/ Und in Herrlichkeit schritt ich zum Tor des Lebens. Und ich erwachte. Und ich erkannte, dass ich nicht mit den Tieren, sondern mit dem Teufel kämpfen werde; doch ich wusste, der Sieg werde mein sein. Das habe ich bis zum Tag vor den Spielen getan. Was aber bei den Spielen selbst geschehen ist, mag aufschreiben, wer immer willens ist.
55
Für eine ausfuhrliche Interpretation dieser Vision vgl. ROBERT (1982); HABER-
MEHL 9 7 - 1 7 0 .
54
Katharina Waldner
Christliche Rezipienten des Textes konnten also in der vom Heraus geber geschilderten Tierkampfszene etwas ganz Anderes sehen als die Zuschauer im Amphitheater: Nicht ein ,zartes Mädchen' und eine ,wilde Kuh', sondern den Kampf einer männlichen Perpetua, eines Athleten, mit einem schwarzen Ägypter, der selbst wiederum für den Teufel steht.56 Durch den Bezug auf die letzte Vision Perpetuas wird darüber hinaus der zwar schändliche, aber in seinen Folgen vorerst harmlose Tierkampf (die Kuh stößt die beiden Frauen zu Boden, es gelingt ihnen jedoch, wieder auf die Füße zu kommen) zum Kampf mit dem Teufel und damit für die christlichen Rezipienten des Textes als Martyrium sichtbar. Ähnlich wie im Falle Polykarps geht so eine exklusiv christliche Perspektivierung der Ereignisse dem Tod der Märtyrer, der von allen Anwesenden gemeinsam gesehen wird, voraus. Der Herausgeber versäumt es nicht, vor dieser letzten Szene seines Berichtes auf die Brutalität der , Augen' des , Volkes' aufmerksam zu machen: et cum populus
illos in medio postularet,
eorum
oculos
corpore
surrexerunt osculati
et se quo
invicem,
suos comites volebat
ut gladio penetranti
homicidii
populus
adiungerent,
transtulerunt,
ut martyrium per sollemnia
pacis
ante
in ultro iam
consummarent.
( 2 1 , 7 ) Und da das Volk darauf bestand, sie in der Arena zu sehen, damit es dem Schwert, das in ihren Leib dringt, seine Augen als Komplizen der Bluttat zugeselle, standen sie von sich aus auf und gingen dorthin, w o das Volk sie haben wollte, nachdem sie zuvor einander geküsst hatten, um ihr Zeugnis durch das Sakrament des Friedens zu besiegeln.
Nach dieser an Deutlichkeit nicht zu übertreffenden Distanzierung vom schaulustigen Blick des Publikums schildert der Herausgeber den 56
Zu der auch in weiteren Texten verbreiteten Stilisierung des Martyriums als Kampf mit dem Teufel vgl. BUSCHMANN (1998) 114f. mit Belegen (z.B. Mart. Polyc. 3, la; 17,1; 19,2; Mart. Lugd. 5, 1, 5 u.ö.); vgl. auch HABERMEHL 163.
Zur narrativen Technik der Körperdarstellung
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Tod der Märtyrer aus der Perspektive eines Augenzeugen. Doch christliche Leser erhalten auch in dieser Szene durch die Erzähltechnik des Verfassers die Möglichkeit, zusätzlich noch etwas anderes zu sehen: So werden in der Todesszene lediglich Saturus und Perpetua namentlich aus der Gruppe hervorgehoben, indem der Herausgeber auf die allererste Vision in Perpetuas Tagebuch verweist (4, 2-10): Wie dort Saturus vor Perpetua als erster die mit Folterwerkzeugen bestückte Leiter bestiegen habe, so sei auch in der Arena Saturus vor Perpetua gestorben (21, 8). Der Tod Perpetuas selbst wird zwar aus direkter Erzählperspektive geschildert, allerdings scheint die starke Betonung der Tatsache, dass Perpetua „die irrende Rechte des ungeschulten Gladiators" selbst an ihre Kehle führte ( 2 1 , 9 ) - zumindest im Hinblick auf die Rezeption durch ein gebildetes Publikum - nochmals einen Vergleich mit der Opferung der Polyxena nahezulegen.57 Auch in der Passio Perpetuae et Felicitatis finden wir also die Technik der mehrfachen Perspektivierung, sie teilt mit jener des Martyrium Polycarpi allerdings nur die Strategie der Publikumsbeschreibung. Auffallend sind die Unterschiede: Während bei Polykarp durch Metaphern und Wunderbericht eine die alltägliche Realität transzendierende exklusiv christliche Ebene der Beschreibung eingeführt wird, erreicht der Herausgeber der Passio einen ähnlichen Effekt, indem er seine Beschreibung der auf normaler Ebene sichtbaren Ereignisse, insbesondere der physischen Leiden, so formuliert, dass sie mit den Visionen der Perpetua gewissermaßen , überblendet' werden können. 57
HABERMEHL 214 weist zu Recht daraufhin, dass der Kommentar des Herausgebers (21, 10\fortasse tanta femina aliter non potuisset occidi, quae ab inmundo spiritu timebatur, nisi ipsa voluisset) den Tod Perpetuas in bedenkliche Nähe zum Selbstmord rückt, d.h. zu einem Martyrium, das nicht durch die Gnade Gottes, son dern durch Eigenwillen (oder schlimmer: den Willen des Teufels) ermöglicht wor den wäre. M.E. wird diese Lesart (und damit die Gefahr eines ,unorthodoxen' Mar tyriums) jedoch durch die Kombination mit den Visionen, die eindeutig zeigen, dass Perpetua „hoch in der Gnade" (in magna dignatione, 4, 1) steht, aufgehoben. Auch die Anspielung auf die Opferung der Polyxena fuhrt von einer Lesung als Selbst mord weg, indem sie betont, dass die christliche Heldin den paganen Heroinen an Tapferkeit gleich kommt.
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Im Vergleich zum Polykarp-Martyrium spielt der Verweis auf Motive der jüdisch-christlichen Tradition, aus denen das Martyrium gedeutet werden soll, in den erzählerischen Passagen eine geringe Rolle. Das Wissen, das zur nichtigen' Sichtweise des Martyriums führt, gewinnt der Leser aus der Lektüre der dem Bericht vorangestellten Visionen der Märtyrer.58 Eine weitere Besonderheit der Erzähltechnik der Passio stellen die angenommenen impliziten Verweise auf einen paganen Mythos, die Opferung der Polyxena, dar.
3. Gemeinschaft im Lesen: Die Evidenz des Martyriums Die enge Verwandtschaft gerade der frühen, vorwiegend narrativen christlichen Martyriumsberichte mit Passagen der jüdischhellenisti schen Geschichtsschreibung, die von den Auseinandersetzungen mit verschiedenen fremden Machthabern berichten, ebenso wie mit Tex ten und Themen der jüdischen Apokalyptik ist augenfällig und wurde oft festgestellt.59 Während auf inhaltlicher Ebene in vielen Vorstellun gen und einzelnen Motiven eine enge Verwandtschaft besteht,60 ist 58
Die Visionen selbst speisen sich natürlich ihrerseits aus traditionellem Material; insbesondere HABERMEHL geht diesen Bezügen nach; neben dem Alten und Neuen Testament ist sehr wahrscheinlich der Hirte des Hermas als bekannt vorauszusetzen, eventuell auch die Acta Pauli et Theclae und das Martyrium Lugdunensium ( H A B E R MEHL 1 6 2 ) . 59
Besonders klar wird der Zusammenhang herausgearbeitet von BAUMEISTER
( 1 9 8 0 ) 6 - 6 5 ; v g l . a u c h FREND 2 2 - 5 7 . 1 3 3 - 1 5 4 ; VAN ΗΕΝΤΕΝ. 60
Besonders auffällig sind die Parallelen innerhalb der Textgruppe, die aus dem 2. und 4. Makkabäerbuch, den Briefen des Ignatius von Antiochia, dem /. Clemens-
brief, dem Martyrium Polycarpi (s. oben Anm. 28) und dem Martyrium Lugdunensium besteht. Da jedoch die Makkabäerbücher unsicher datiert sind und sich relativ wenige Anspielungen erkennen lassen, die als wörtliche Zitate gelten können, geht VAN HENTEN plausibel davon aus, dass die Verwandtschaft der Texte grundsätzlich darauf beruht, dass alle im gleichen kulturellen Milieu, nämlich in den ersten zwei Jahrhunderten in Kleinasien, entstanden sind, und zeigt detailliert die Bezüge auf. Dabei versucht er zwischen expliziten und impliziten Zitaten, Anspielungen, Paraphrasen und Verarbeitung von martyrologischer Tradition zu unterscheiden (ebd.
Zur narrativen Technik der Körperdarstellung
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andererseits eine auffallige formale Differenz festzustellen: Christli che Martyriumsberichte wurden seit dem 2. Jahrhundert in Schrift stücken, zuerst Briefen, verbreitet, die offenbar einzig und allein zu diesem Zweck, nämlich ein Martyrium zu berichten, verfasst worden waren. Von Anfang an erfolgte dabei die Erzählung der Ereignisse nicht um ihrer selbst willen, sondern diente dazu, eine ganz bestimmte Botschaft zu vermitteln,61 die mit ganz konkreten Erwartungen der Rezeption des eigenen Textes durch die Adressaten verbunden wurde. Dies ist im Falle des Martyrium Polycarpi durch die Briefform und die expliziten Äußerungen des Autors, bei der Passio Perpetuae durch die Einleitung des Herausgebers deutlich formuliert. Die in diesem Beitrag herausgearbeiteten Besonderheiten der Erzähltechnik lassen sich auf einer ersten Ebene in dem eben skizzierten Zusammenhang innerchristlicher Kommunikation verstehen. Dabei werden nicht nur, wie beispielsweise B U S C H M A N N betont, kommentierende und narrative Passagen verbunden, sondern die Berichte selbst erweisen sich als implizite narrative Realisierungen der in den Texten auch explizit formulierten ,martyrologischen Anliegen'. Gerade anhand der oben analysierten Techniken der Körperdarstellung lässt sich dies sowohl für das Martyrium Polycarpi als auch für die Passio Perpetuae zeigen. Der Verfasser des Martyrium Polycarpi betont am Anfang des Briefes, dass das Martyrium des Bischofs „gemäß dem Evangelium"
705). Er distanziert sich damit von PERLER, der versucht, eine literarische Abhän gigkeit der christlichen Texte von 4 Mcc nachzuweisen. BOYARIN sieht in der bei BOWERSOCK formulierten Ablehnung, die christlichen Texte mithilfe der jüdischen Tradition zu erklären, und in der damit verbundenen Forderung, christliches Marty rium konsequent im kulturellen Kontext der Urbanen Zentren der Kaiserzeit zu ver stehen, m.E. irrtümlicherweise eine grundsätzliche Ablehnung des Einflusses der jüdischen Martyriumstradition und setzt dagegen seinerseits das Konzept eines jü dischchristlichen Martyriums. 61
B U S C H M A N N ( 1 9 9 8 ) 4 7 4 9 .
62
Obwohl BUSCHMANN (1998) 47 davon spricht, dass „die epideiktische Märty
rererzählung" in den Dienst „symbouleutischer Argumentation" gestellt ist, zeigt er in seinem Kommentar nicht, wie sich dies konkret auf die Erzählweise auswirkt.
58
Katharina Waldner
verlief: „Denn fast alles, was vorging, geschah, damit der Herr uns von oben das dem Evangelium gemäße Martyrium zeige" (1, 1). Es wurde oben ausgeführt, dass die indirekte Körperdarstellung in verschiedener Weise auf schriftlich (oder zumindest traditionell) vermittelte Deutungsmuster rekurriert: Die in der Perspektivierung von den ,Ungläubigen' deutlich abgesetzten christlichen Zeugen des Martyriums und der Berichterstatter selbst sehen das, was sie bereits wissen oder, umgekehrt formuliert, deuten das, was sie sehen, gemäß dem vom Verfasser vorausgesetzten, allen Christen gemeinsamen Wissen richtig.63 Dies gilt sogar für das Wunder, das in seiner Metaphorik in auffalliger Weise nach Vorbildern aus der jüdischen Tradition modelliert ist, während die ebenfalls in der Metaphorik enthaltenen Hinweise auf Grab und eucharistisches Opfer auf den gemeinsamen christlichen (auch rituellen) Hintergrund verweisen.64 Am Ende des Berichtes konstatiert der Verfasser nochmals, an die Einleitung anknüpfend, dass das Martyrium des Polykarp „dem Evangelium gemäß" (κατά τό εύαγγέλιον) verlief, und fügt hinzu, dass deshalb alle begehren würden, es „nachzuahmen" (μιμεΐσΟαι) (19, 1). Hier wird deutlich, wel che Funktion der Schreiber seinem eigenen Bericht zuweist: so wie das Evangelium und alle anderen bereits vorhandenen Texte (auf die sich die christlichen Gruppierungen berufen) es ermöglichen, das Martyrium des Polykarp im Hinblick auf das Evangelium zu deuten, genauer: zu erkennen, dass Polykarp die Gnade eines Martyriums 63
Eines der Ziele des Briefes ist m.E. eben, zu erweisen, dass es ein solches gemeinsames Wissen gibt, das sich in einer Extremsituation bewähren kann. Denn tat sächlich lässt sich mit BAUMEISTER (1996) 291 fragen, was ,gemäß dem Evangeli um' gerade bei der von BUSCHMANN u.a. (s. oben Anm. 21) vertretenen Frühdatie rung des Martyrium Polycarpi heißen soll. Das Problem lässt sich vielleicht klären, wenn man das Martyrium selbst als Beginn einer Diskussion um ,authentische' Überlieferung auffasst, die ihre Fortsetzung z.B. in einem bei Eusebius von Caesarea (hist. eccl. 5, 20, 6) überlieferten Fragment eines Briefes des Irenaus von Lyon findet, w o es heißt: „Alles, was Polykarp erfahren von denen, die Augenzeugen waren des Wortes des Lebens, erzählte er im Einklang mit der Schrift;" vgl. dazu auch DE HANDSCHUTTER (1993) 506; zu der zeitlichen Nähe von Polykarp-Martyrium und E v a n g e l i e n : BOWERSOCK 13f. 64
S. oben Anm. 28.
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„gemäß dem Evangelium" zuteil wurde, so wird sein eigener Bericht es zukünftigen Märtyrern erlauben, ihr Geschick - das als solches ebenfalls von Gott gewährt wird65 - als Mimesis des Martyriums des Polykarp zu verstehen. Dies ist mit ,nachahmen' gemeint und keinesfalls eine theatrale Nachahmung,66 zu der, dies sei nur nebenbei bemerkt, eine direkte Körperdarstellung weit mehr einladen würde als das praktizierte Verfahren; das freiwillige Martyrium des Quintus, das vor diesem Hintergrund als Beispiel für eine aktive Mimesis gesehen werden kann, wird denn auch explizit abgelehnt (4, 1-3).67 Der Briefschluss (20) lässt keinen Zweifel, dass der Verfasser des Briefes, ein an dieser Stelle mit Namen genannter Markion, seinen Text bzw. seine Botschaft damit, wenn nicht auf gleicher Stufe, so doch in unmittelbarer Nachfolge zu der Autorität apostolischer Briefe sah:68 Die Gemeinde in Philomelion, die um den Bericht gebeten hatte, soll ihn „auch den weiter entfernt wohnenden Brüdern" schicken, „damit auch jene den Herrn rühmen, der eine Auswahl trifft unter den Knechten." Der Ruhm des Bischofs Polykarp, der allerdings nur einer der „Sklaven" des Herrn ist, soll sich somit gleichzeitig mit einer ganz bestimmten in der Erzählung zum Ausdruck gebrachten Sichtweise des Martyriums verbreiten; es ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu vermuten, dass dabei an eine Verlesung des Briefes in Gemeindeversammlungen gedacht ist. Hier jedoch wurde der Brief wieder in seine mündliche Dimension zurückgeführt; gerade seine narrative Qualität
65
DEHANDSCHUTTER (1979) 279 betont zu Recht, dass die in Mart. Polyc. 2, 1 formulierte Aussage, dass alle Martyrien nach dem Willen Gottes geschehen, das zentrale Anliegen des Textes ist. 66 VAN HENTEN 715 weist darauf hin, dass die Parallelen des Martyrium des Polykarp zu der Passion Jesu nie völlig deckungsgleich sind, „sodass der gebührende Abstand zwischen Polykarp und Jesus Christus gewahrt wird." Auch dadurch wird m.E. vermittelt, dass es im Falle des Martyriums nicht um die aktive Nachahmung eines Vorbildes gehen soll. 67 Die Stelle ist also auch ohne die Annahme eines montanistischen Hintergrundes verständlich (s. oben Anm. 10). 68 Vgl. dazu BUSCHMANN (1998) 358.
60
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dürfte dabei als Medium für die Botschaft des Textes von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Es ist bemerkenswert, dass die älteste erhaltene christliche Martyriumserzählung durch ihre briefliche Form ein lokales Ereignis und seine christliche Interpretation als Botschaft „an alle in der Fremde wohnenden Gemeinden der heiligen und katholischen Kirche an jedem Ort" richtete (so das Präskript). Unabhängig von der tatsächlichen Verbreitung des Briefes69 wird dadurch dem lokalen Ereignis von Anfang an überregionale Bedeutung zugesprochen. Es ist zu vermuten, dass derselbe oder zumindest ein vergleichbarer Text bei der im Brief erwähnten jährlichen Gedenkfeier am Grab des Polykarp in Smyrna verlesen wurde (18, 3). Lokales christliches Totengedenken, das sich rein äußerlich von paganen Bräuchen kaum unterschied,70 erhielt so von Anfang an eine überregionale Dimension. Der im Text repräsentierte Körper Polykarps scheint dabei in gewisser Weise den tatsächlichen Leichnam des Märtyrers zu ,ersetzen'. Denn es wird berichtet, dass zwar zuerst einige Christen versuchten, an den Leichnam des Bischofs zu kommen, um „an seinem heiligen Fleisch Anteil zu haben" (κοινωνήσαι τω άγίφ αύτοΰ σαρκίφ; 17, 1), doch als als man sie daran hindert und der Leichnam kremiert wird, sammeln sie die Gebeine, die „kostbarer als Gold und Edelsteine sind," bestatten sie und treffen sich von nun an an diesem Ort „zum Gedächtnis derer, die zuvor den Kampf bestanden haben, und zur Übung und Vorbereitung
69
Die Tatsache, dass der Brief zuerst an die Kirche in Philomelion gerichtet ist, zeigt, ebenso wie das Präskript des Martyrium Lugdunensium, das das Schreiben an die Gemeinden in Asia und Phrygia richtet (Eusebius, hist. eccl. 5, 1, 3), dass zuerst regionale Verbreitung zwischen einander aus personellen Gründen verbundenen Gemeinden stattfand. Auch die Tatsache, dass D E H A N D S C H U T T E R ( 1 9 7 9 ) 1 9 4 1 9 8 Anspielungen auf das Martyrium Polycarpi in den Acta Pauli et Theclae, dem Martyrium Lugdunensium, den Acta Carpi und im Martyrium Pionii findet, weist auf vorerst lokale Rezeption hin. Obwohl sich erst in den Acta Cypriani Bezüge auf das Martyrium Polycarpi nachweisen lassen, ist schon früher ein Einfluss der kleinasia tischen Tradition in Africa wahrscheinlich; vgl. dazu H A B E R M E H L 1 6 2 ; zu überre gionalen Kontakten allgemein: M A R K S C H I E S 1 9 7 2 0 8 . 70
Vgl. dazu K A R P I N S K I
4 0 6 4 .
Zur narrativen Technik der Körperdarstellung
61
71
für die, denen dies bevorsteht" (18, 2f.). Gedächtnis und Paränese, die sich leicht durch den Text des Briefes vermitteln lassen (und die somit nicht an einen bestimmten Ort gebunden sind), treten anstelle des κοινωνήσαι τω άγίω αύτοϋ σαρκίω. In der an die Diskussion um die Herausgabe des Leichnams anschließenden Passage über die Ver ehrung der Märtyrer heißt es außerdem, dass die richtige Verehrung der Märtyrer darin bestehe, sie als „Schüler und Nachahmer des Herrn" zu lieben, verbunden mit dem Wunsch, T) deren „Teilhaber und Mitschüler, bzw. jünger" zu werden (17, 3). Die Lektüre des Tex tes, die im Falle einer Verfolgung eine korrekte Mimesis des richtigen Martyriums (und damit auch wahre Schülerschaft) ermöglicht, und keineswegs ein irgendwie gearteter Reliquienkult macht diesen Wunsch erfüllbar. Die Passio Perpetuae geht in dieser Hinsicht noch einen Schritt weiter und macht dadurch die Bedeutung von Texten für die früh christliche Konzeption des Martyriums noch klarer fassbar: Ganz di 71
An diese Passage knüpft sich eine außerordentlich breite Diskussion über die Möglichkeit eines frühen Märtyrerkultes, vgl. DEHANDSCHUTTER (1993) 502f. und die bei BUSCHMANN (1998) 324f. 363 zusammengestellte Literatur. Versucht man jedoch von dem, was man über späteren Reliquienkult weiß (vgl. dazu BROWN), ZU abstrahieren, so bezeichnet κοινωνία eine Gemeinschaft', die analog gedacht ist zu der Paulinischen Vorstellung der κοινωνία am Leib Christi durch die Eucharistie (1 Cor 10, 16) und die in Martyriumsberichten auf die Gemeinschaft' des Märtyrers zu Christus übertragen wird (Mart. Polyc. 6, 2). Mit κοινωνήσαι τω άγίφ αύτοϋ σαρκίω wäre also ein Erinnerungsmahl an den Toten gemeint, das analog zur Eucharistie gedacht ist (ähnlich BUSCHMANN [1998] 329). Eine solche, an sich nur paganes Totengedenken fortsetzende Erinnerungsfeier würde aber in gefährliche Nähe zur eigentlichen Eucharistie geraten und damit den lokalen Lehrer und Bischof vor dem allen gemeinsamen ersten Lehrer privilegieren. Das Martyrium Polycarpi distanziert sich möglicherweise davon, und weniger von einem Märtyrerkult, den es in dieser Zeit wohl tatsächlich noch nicht gegeben hat. Zum Begriff der κοινωνία vgl. MARKSCHIES 1 7 8 f . 72
Der Martyriumsdiskurs bei Ignatius von Antiochia, der den Begriff μάρτυς ver wendet, ist geprägt von der Vorstellung, dass erst das Martyrium ihn zu einem wahren μαθητής (,Schüler' bzw. Jünger') mache (z.B. Ign. Rom. 4, 2; Magn. 9, 2 u.ö.), vgl. dazu BOMMES; zum Kontakt zwischen Ignatius und der Gemeinde in Smyrna vgl. TREVETT (1992) 99-105.
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rekt und selbstbewusst stellt der Herausgeber in der Einleitung seinen (bzw. den von ihm edierten) Text auf gleiche Ebene mit den in der Tradition bereits vorhandenen prophetischen Schriften. Zweifellos stellt er sich auch eine entsprechende Rezeption vor: die gemein schaftliche Lektüre in christlichen Versammlungen. Die Lesung soll Gott ehren und die Gemeinde in ihrem Glauben festigen, darüber hinaus soll sie diejenigen, die die Ereignisse selbst miterlebt haben, an die „Herrlichkeit" des Herrn erinnern, jenen aber, die nicht dabei gewesen sind, soll das Hören des Textes ermöglichen, „Gemeinschaft mit den heiligen Märtyrern" (communionem cum sanctis martyribus) und so mit Christus zu erlangen (1, 6). Während im Martyrium Polycarpi die Lektüre des Textes die Praktiken der Mimesis und der Schülerschaft ermöglicht, die ihrerseits zum richtigen Martyrium und damit zur κοινωνία (,Gemeinschaft') mit den Märtyrern und Christus fuhren, fallt im Herausgebertext der Passio Perpetuae der Lektüre eine noch größere Bedeutung zu: Durch das Hören des Textes selbst ist die communio mit den Märtyrern und Christus zu erlangen. Obwohl man also durchaus mit einem lokalen Totengedenken fur die karthagischen Märtyrer rechnen muss, ist für den Herausgeber des Textes allein die gemeinschaftliche Lektüre der „neuen Zeugnisse" (nova documenta) wesentlich (1, 1). Ein Grab oder gar die toten Körper der Märtyrer werden in diesem Zusammenhang nicht erwähnt; auch hier erscheint - noch deutlicher als im Falle Polykarps - die Lektüre des Textes anstelle eines an ein Grab gebundenen ,Märtyrerkultes'. Dies hat den Vorteil, dass der Bericht eine Gemeinschaft von Lesern und Märtyrern stiften kann, die über den unmittelbar lokalen Rahmen der vom Geschehen direkt Betroffenen weit hinausgeht oder zumindest hinausgehen könnte. Doch auch für jene, die vor Ort waren, ermöglichte die Lektüre des Textes eine ganz bestimmte Perspektivierung der Ereignisse: Nur durch die Lektüre der Kombination von Visionsberichten und Erzählung der Hinrichtung durch den Herausgeber se73
Der Gedanke, man könne aufgrund des Textes Märtyrer ,nachahmen', fehlt hin gegen in der Passio\ gerade dies machte sie vielleicht auch fiir eine .orthodoxe' Re zeption geeignet.
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hen sie die Geschehnisse, und insbesondere die Körper der Märtyrer, aus gemeinsamer christlicher Perspektive, die sich von jener der Volksmenge im Amphitheater klar unterscheidet. Gleichzeitig wird durch diese Kombination die Wahrheit der Visionen der Perpetua und des Saturus unmittelbar einsehbar, was beweist, dass der Geist Gottes in den „letzten Tagen" (in novissimis enim diebus) der Welt in der Gemeinde Karthagos lebendig ist (1, 4). In je unterschiedlicher Weise stellen also beide untersuchten Texte eine Gemeinschaft von Lesern her, deren Stiftung zwar mit dem lokalen Totengedenken verbunden sein mag, die sich aber gerade durch ihre schriftliche Dimension unabhängig erweist von der Existenz physisch unversehrter, lokal bestatteter Körper von Märtyrern. Das Existieren dieser von Anfang an gleichzeitig lokal und überregional gedachten Gemeinschaft wiederum, zu der die Märtyrer selbst in herausgehobener Position gehörten,74 bewies die , Wahrheit' der durch die Erzähltechnik klar herausgehobenen christlichen Sichtweise der Ereignisse im Stadion von Smyrna und im Amphitheater von Karthago; die gemeinsame Lektüre ließ diese Wahrheit gerade in der unanschaulichen Beschreibung der Körper, die die Eigenheit der christlichen Sichtweise narrativ erfahrbar machte, evident werden.75 Wollte eine derartige Etablierung der christlichen Sichtweise plausibel sein, so konnte sie dies - obwohl sie sich von der umgebenden Kultur gerade durch die erzählerische Trennung der Perspektiven scharf abgrenzte - nur durch Anknüpfung an Bekanntes; denn die Produzenten und Rezipienten der Texte teilten zweifellos die Vorurteile und Sehgewohnheiten ihrer paganen Mitbürger ebenso wie deren Bildungskanon. Die analysierten Darstellungstechniken lassen sich deshalb nicht nur innerchristlich als gemeinschaftsstiftende Abgrenzungs-, sondern ebenso sehr als Anknüpfungsstrategien verstehen. Der 74
Gerade in der Passio Perpetuae scheint sich durch die Vorstellung der durch die Lesung vermittelten communio mit den Märtyrern bereits jene völlig neue Sicht des Verhältnisses zwischen Lebenden und Toten anzukündigen, die BROWN (1991) 14 55 im Zusammenhang des Heiligenkultes beschreibt. 75 Zur Herstellung von Evidenz in religiösen Diskursfeldern s. oben Anm. 9.
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in dieser Hinsicht in unserem Zusammenhang wichtigste Punkt ist die in beiden Texten vorhandene Betonung des spektakulären Charakters der öffentlichen Hinrichtung. Obwohl diese Betonung natürlich als Kritik der paganen Spektakelkultur gelesen werden soll,76 entsteht bei der Lektüre der christlichen Texte gleichzeitig der Eindruck, dass sich die neue Religion dem sozialen Diktat der Urbanen kaiserzeitlichen Kultur, nach dem es ausgesprochen wichtig war, gehört und gesehen zu werden,77 zumindest auf der Ebene der Erzählung, nicht entziehen konnte (und wohl auch nicht wollte). Aufschlussreich ist eine kurze Szene aus dem Tagebuch der Perpetua, in dem die Märtyrerin versucht, ihrem Vater die Bedeutung des Bekenntnisses „Christiana sum" zu erklären: Pater, inquam, vides verbi gratia vas hoc iacens, urceolum sive aliud? et dixit: Video. (2) et ego dixi ei: Numquid alio nomine vocari potest quam quod est? et ait: Non. sie et ego aliud me dicere non possum nisi quod sum, Christiana. (3, If.) „Vater, siehst du beispielsweise das Gefäß, das hier liegt, ein klei ner Krug oder so?" Er antwortete: „Ja, ich sehe es." (2) Und ich sagte zu ihm: „Kann man es denn etwa anders benennen als das, was es ist?" Und er antwortete: „Nein." „So kann auch ich mich nicht anders nennen als das, was ich bin, eine Christin."
Der Krug unterscheidet sich äußerlich sichtbar von allen anderen Gegenständen. Die Christin Perpetua hingegen, eine junge Frau aus der 78 karthagischen Oberschicht, kann sich rein äußerlich von ihren nicht 76 77 78
Pass. Perp. 21,7; Tert. spect.; vgl. dazu z . B . B A R N E S (1996). S. dazu oben Anm. 25.
Sie wird bezeichnet als Vibia Perpetua,
honeste nata, liberaliter
instituta,
ma-
tronaliter nupta („Vibia Perpetua, aus vornehmen Hause, klassisch gebildet und standesgemäß verheiratet") (2, 1), später wird erwähnt, dass Perpetua auch Grie chisch sprach (13, 4). Gehörte sie allerdings wirklich zu den honestiores, wie z.B. B A R N E S (1971) 70f. vermutet, so stellt sich das Problem, warum ihr Vater von Be amten mit Ruten geschlagen (6, 5) und sie selbst ad bestias verurteilt werden konnte (6, 6); zur Unterscheidung von honestiores und humiliores vgl. RLLLNGER.
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christlichen Alters und Standesgenossinnen kaum unterschieden ha ben, abgesehen vielleicht davon, dass sie im Stadtbild noch unsichtba rer war als jene, da ihr als Christin die Möglichkeit, zumindest bei religiösen Festen öffentlich gesehen zu werden, verwehrt war. In der Stadt sichtbar - genauer: lesbar - wird Perpetua und damit ihre durch das Bekenntnis „Christiana sum" und die Taufe79 neue soziale Zugehörigkeit jedoch in dem Moment, wo sie das Martyrium auf sich nimmt und einen Bericht darüber verfasst, bzw. jemand anderes ihre Texte publik macht. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätten die paganen Mitbürgerinnen Perpetuas alles (bis zum Selbstmord) getan, um der Schande eines derartigen öffentlichen ,Auftritts' (sowohl real als OA
auch in einem Text) zu entgehen. Doch während Perpetua bei ihrer tatsächlichen Hinrichtung zweifellos den Schmähungen der Volksmenge ausgesetzt war, ersparte ihr der Bericht über ihre Hinrichtung eben diese Schande und verwandelte sie in einen Triumph. Denn durch die oben herausgearbeiteten Techniken der indirekten Darstellung der physischen Leiden der Märtyrer versuchen die Berichterstatter zu vermeiden, dass die gequälten Körper der Christen vor den Augen der christlichen Leser der Texte in gleich erniedrigender Weise ausgestellt werden wie in der Arena des Amphitheaters. Die christliche Erzählweise bewegt sich geschickt in den von der herrschenden Kultur vorgegebenen Koordinaten: der Bühnencharakter des Amphitheaters wird genutzt, die mit dem ,Auftritt' auf dieser Bühne verο |
79
Perpetua und ihre Gefährten werden als adolescentes catechumeni bezeichnet (2, 1); sie werden in der ersten Phase ihrer Inhaftierung, noch vor dem Verhör, getauft (3, 5); zur Verbindung von Taufe und Martyrium vgl. BERGER 392297. 80 Obwohl der körperliche Schmerz (im Sinne einer Genugtuung fur die Geschä digten) im antiken Strafsystem eine Rolle spielte, war gerade bei der im Rahmen der ludi öffentlich inszenierten Bestrafung das Motiv der Schande, also der völli gen sozialen Ausgrenzung, zentral; s. dazu z.B. KYLE. 81 Dies gilt zuerst einmal fiir die Repräsentation der Ereignisse in den Texten; ob wohl es Hinweise darauf gibt, dass Hinrichtungen auch von den Opfern selbst als , Auftritt' wahrgenommen und vom Publikum entsprechend rezipiert wurden (Luki an, Peregrinus 13; Kelsos bei Origenes, Cels. 8, 65; M. Aurel, med. 11, 3), geben unsere Quellen gerade für die vordecenische Zeit keine Auskunft über die Ausmaße
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bundene Schande jedoch zugleich mit der direkten Beschreibung der ausgestellten Körper vermieden. Die triumphalen Bilder, die in der Passio Perpetuae die Qualen der Märtyrer überblenden, stammen aus dem Fundus der paganen Kultur: der siegreiche Athlet, in dessen Gestalt Perpetua in ihrer Vision über den , schwarzen Ägypter' triumphiert ebenso wie die Anspielungen auf Heldinnen der griechischen Romane und mythologische Heroinen. Dies gilt auch, wenn auch auf etwas andere Weise, für das Martyrium Polycarpi. Auch dort wird durch die mehrfache Erwähnung der υπομονή (,Standhaftigkeit') sowohl Polykarps als auch der anderen Märtyrer das Bild des Agons aufgerufen (2, 2; 3, 1; 19, 2). Polykarps Auftritt im Stadion von Smyrna scheint zusammenzufallen mit einem wichtigen lokalen Fest, zu dem auch der Prokonsul anwesend ist. Dieses Fest wird jedoch nicht benannt, und so entsteht der Eindruck, die große Menschenmenge im Stadion ebenso wie der Prokonsul und der darüber hinaus anwesende Asiarch hätten sich nur versammelt, um Polykarp zu sehen. Dessen Auftritt wiederum erinnerte unweigerlich an die zahllosen Auftritte von Rhetoriklehrern, Philosophen und Sophisten, die das außerordentlich wohlhabende Smyrna, das erfolgreich beanspruchte, die Geburtstadt Homers zu sein, als Ol
•
Äd
Zentrum der Bildung im 2. Jahrhundert berühmt machten, zumal Polykarp im Text mehrfach als ,Lehrer' bezeichnet wird (16, 2; 19, l). 85 Die nachdrücklich geschilderte Gelassenheit des Märtyrers sollte gederartiger ,Selbstinszenierung'; zu diesem Aspekt des Martyriums vgl. auch POTTER (1993); BOWERSOCK. 41-57. 82
Die Stilisierung der Märtyrer als Athleten findet sich von Anfang an durchgängig im jüdischchristlichen Martyriumsdiskurs, in 2 Mcc 6, 18 7, 41 ebenso wie bei Ignatius von Antiochia (z.B. Eph. 3, 1), im Martyrium Polycarpi (19, 2a) und be sonders ausgeprägt im Martyrium Lugdunensium. Zu der in diesem Zusammenhang zentralen Qualität der υπομονή (,Standhaftigkeit') vgl. SHAW (1996) 278-291. 83 Vermutlich handelt es sich um einen Landtag des κοινόν, vgl. DEININGER 59f. 84 Zur Geschichte Smyrnas vgl. CADOUX. 85 Das Modell des öffentlich auftretenden philosophischen Lehrers und sein Ver hältnis zu Schülern hält BOWERSOCK 4453 zu Recht für eine der Grundkomponen ten gerade des kleinasiatischen Martyriumsdiskurses; vgl. auch HAHN.
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bildete Zeitgenossen an die Erzählungen vom Widerstand zahlreicher Philosophen gegenüber ungerechten Herrschern erinnern, ein in der OiT
Kultur der Kaiserzeit weit verbreiteter Topos. Während in den paganen Texten jedoch, wie
DIEFENBACH
her-
an
ausgearbeitet hat,
die Würde des gefolterten Philosophen durch die
Herrschaftskritik wiederhergestellt wurde, kritisierten die untersuchten christlichen Berichte die Herrschenden nicht explizit. Sie etablierten statt dessen eine eigene Sicht auf die Geschehnisse, die sich von der Perspektive der ,Ungläubigen' klar unterscheidet, während durch die eben geschilderten Verfahren gleichzeitig erkennbar bleibt, dass die Christiani
durchaus auch der Urbanen Kultur der Kaiserzeit angehör-
ten und die Perspektive der , Anderen' ebenso wenig leugneten wie die Schmerzen des Martyriums. Die Berichte über das, was man ,gehört und berührt' hatte, machten so evident, dass nicht alle das Gleiche sahen. Keineswegs die Aussicht, in der Arena eines Amphitheaters zu enden, wohl aber das in den Martyriumsberichten zum Ausdruck kommende Beharren auf der grundsätzlichen Interpretierbarkeit der Realität und insbesondere des Körpers könnte das Christentum in einer Zeit attraktiv gemacht haben, in der sich Mächtige und weniger Mächtige ihre Sicht der Wirklichkeit immer wieder neu gegenseitig bestätigten, indem sie , Spiele' veranstalteten, in denen zahllose menschliche und tierische Körper für alle sichtbar vernichtet wurden.
86
V g l . dazu DIEFENBACH.
87
DIEFENBACH, 11 Of.
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Timon Binder
Der Körper in der Vernichtung Kommunikationsstrategien der frühchristlichen Märtyrerliteratur am Beispiel der Passio Montani et Lucii
Vivere nos etiam cum occidimur; nec vinci morte, sed vincere: das ist Bekenntnis und Ausdruck des Selbstverständnisses der hingerichteten Märtyrer in der frühchristlichen Passio1 Sanctorum Montani et Lucii? In ihr werden die Geschehnisse um die Verhaftung und Hinrichtung von acht Christen dargestellt und in christlicher Deutung inszeniert. Diese Akte geriert sich als Brief der inhaftierten Christen an die christliche Gemeinde in Karthago. In einem recht einfachen Stil, doch mit komplexem Aufbau (möglicherweise von einem Schüler Cyprians)3 geschrieben, dürfte sie etwa im Frühjahr 259 entstanden sein; als dramatisches Datum ist das Ende des Jahres 258 anzusetzen. Der zweite Teil der Akte ist der Bericht eines Augenzeugen, der auf Anweisung des Märtyrers und Diakons Flavianus die weiteren Geschehnisse bis zur Hinrichtung aufzeichnet. Nicht zuletzt die vielfaltigen Analogien und Bezüge auf die bereits einige Jahre zuvor entstandene Passio Perpetuae et Felicitatis (203 n. Chr.)4 stellen den Text in den erweiterten intertextuellen Rahmen der Passionsliteratur. Dass dieser Text besonderes Interesse auf sich zu ziehen vermag, liegt (unter an1
Der Titel Actus et Visio Montani et Lucii ist ebenfalls handschriftlich bezeugt.
2
Hier und im Folgenden zitiert nach MUSURILLO, hier XXXIV-XXXVI.215-239;
v g l . H L L § 4 7 2 . 6 . 3
Zum Stil vgl. auch DELEHAYE 56f. Parallelen und Ähnlichkeiten lassen sich hinsichtlich (literarischer) Form und Aufbau, Sprache und Motivik erkennen. Vgl. z.B. Flavianus' Streit mit seinen Schülern, die ableugnen, dass er ein Kleriker ist, die Vision des toten Cyprian etc. (einzigartig aber die Schilderung der visionären Begegnung mit Julianus, 11, 15). Durch diese Analogien und die Verwendung eines festen Motivarsenals ist es frei lich nur schwer möglich, Aussagen über die Historizität zu treffen.
4
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derem) zum einen an seiner literarischen Form und Erzählstruktur, anhand derer sich Aspekte der Bedeutung von Intentionalität und Persuasivität untersuchen lassen, zum anderen in der an vielen Stellen besonders betonten Darstellung des Körpers als eines wichtigen Kommunikationsmediums, über das Sinnbotschaften vermittelt werden können. Körper und Körperlichkeit werden in diesem Text in unterschiedlicher Weise und Deutlichkeit dargestellt; dabei wird auf das Motiv- und Topoirepertoire der literarischen Form der frühchristlichen Märtyrerakten verwiesen. Ausgehend von dieser Beobachtung sollen Aspekte von Kommunikation und Körperlichkeit an diesem Text aus der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts aufgezeigt werden. Es soll herausgearbeitet werden, wie (nicht nur die Seele, sondern auch) der leidende Körper des Märtyrers in diesem Text frühchristlicher Passionsliteratur gerade in seiner im Text inszenierten Vernichtung Heil erlangt, siegreich den (irdischen) Schauplatz des Geschehens verlässt und im Tode triumphiert. Dabei liegt der Schwerpunkt zum einen auf den literarischen Verfahren und Strategien der intentionalen Inszenierung, zum anderen aber auch auf dem Nachweis typischer Momente der Akten an dieser Quelle. Ebenfalls kurz zur Sprache kommen sollen die in den Märtyrerakten über den als Kommunikationsmedium und Symbol funktionalisierten Körper vermittelten Antagonismen zwischen Christentum und Heidentum sowie das Selbstverständnis des frühen Christentums.
I. Die Passio Sanctorum Montani et Lucii Ein von langer Hand angestachelter Volksaufstand in Karthago führt zu einer harten Verfolgung, in deren Folge acht Christen inhaftiert werden. Diese wollen durch ihr Zeugnisgeben, ihr Leiden, durch die Literarisierung ihres Schicksals für kommende Generationen Zeugnis ablegen (1, 1). Nachdem eine versuchte Verbrennung der Märtyrer fehlgeschlagen ist und der Statthalter eine erste Niederlage erlitten hat {Domino propugnante confractus, 4, 1), werden die Märtyrer wieder
Der Körper in der Vernichtung
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ins Gefängnis gebracht. Trotz der großen Versuchung - aufgrund der menschenunwürdigen Umstände und der tormenta carceris (4, 5) empfinden die Christen dort keinerlei Furcht und zweifeln nicht an ihrem Glaubensbekenntnis. Standhaft ertragen die Inhaftierten die unbeschreiblichen Folterungen und Qualen, die ihnen im Gefängnis zuteil werden. Da der Tod als leicht erachtet wird und zum Sieg des Herrn (4, 5-7) beiträgt, freuen sich die Märtyrer über die Gefangennahme ebenso wie über ihren bevorstehenden Tod (6, lf.). Die Stunde der Hinrichtung wird mit vielerlei Ausrufen der Begeisterung und Euphorie begrüßt. Jedoch wird wie in einer dramatischen Inszenierung die Stunde der eigentlichen Hinrichtung noch hinausgezögert. Innerhalb der langen Zeit des Hungerns und Dürstens in der Kerkerhaft haben einige der Märtyrer Visionen, die zum einen auf die große Bedeutung des innerchristlichen Zusammenhalts und der Glaubensstärke hinweisen, zum anderen auf die strahlenden Belohnungen, die den Christen im Martyrium zuteil werden. Damit endet der Brief des Flavianus (12), und ein zweiter Autor nimmt die ihm von einem der Märtyrer übertragene Aufgabe wahr und beschreibt nun die Szenerie der Hinrichtung: Diese findet am locus victimae (13, 1) statt, wo bereits eine große Menschenmenge aus Heiden und Christen zusammenströmt, um dem Spektakel beizuwohnen. Der Märtyrer Flavianus geht unter großer freudiger Anteilnahme (auch des Schreibenden) zum letzten Verhör. Er nutzt die Gelegenheit zu einer kurzen Rede, in der er einen der Hauptunterschiede zwischen Christen und Heiden herausstellt: vivere nos etiam cum occidimur; nec vinci morte, sed vincere (19, 6). Das Volk wird ungeduldig und verlangt nach dem Beginn der Folterungen. Voller Freude über sein nun nicht mehr rückgängig zu machendes Martyrium bittet Flavianus den Verfasser, die von ihm, Flavianus, geschauten Visionen seinen eigenen Worten hinzuzufügen. Dadurch wird der Verfasser selber zum Augenzeugen, zum Märtyrer im ursprünglichen Sinne, der durch sein literarisiertes Erleben den Rezipienten des Textes die (hier kommentierten und gedeuteten) Geschehnisse nachvollziehen lässt. In mehre-
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ren Visionen erhält Flavianus Informationen über sein unmittelbar bevorstehendes Martyrium von bereits fur ihren Glauben gestorbenen Märtyrern, dem Bischof von Karthago Cyprian sowie von Successus.5 Sogleich wird er denn auch verhaftet und zum Richtplatz gefuhrt (21, 9f.). Flavianus erleidet das Martyrium in besonders ausgezeichneter Art und Weise. Im einsetzenden Regen, so wird beschrieben, vermischt sich das Wasser mit dem Märtyrerblut wie bei Christus (22, 6). Diese Funktion des Regens nennt Flavianus ausdrücklich, woraus deutlich wird, dass die Verbindung und der Wunsch zur imitatio Christi explizit vorhanden waren. Im Schluss würdigt und preist der Verfasser die Glaubenskraft und die Taten der Märtyrer und verweist dabei auch auf seine Aufgabe, diese Geschehnisse als Augenzeuge der Nachwelt zu erhalten, damit man nicht nur aus den alten Beispielen, sondern auch aus den neuen lerne.6 Betrachtet man das Vokabular dieser Akte, so fallen sofort der enge Bezug zur Körperthematik, ihre symbolische Verwendung sowie die Bildhaftigkeit der Sprache auf. Neben sehr vielen Verben der Bewegung, die jeweils ein Vorankommen der Geschehnisse kennzeichnen, finden sich in beiden Teilen häufig Formulierungen, die den Körper als Bedeutungsträger in der Darstellung hervortreten lassen. Andererseits wird aber auf die detailgenaue Schilderung der grausamen Folterung und Hinrichtung im Gegensatz zu anderen Akten, z.B. dem Martyrium des Polycarp (155/56 n. Chr.)7 und dem Martyrium Lugdunensium (177 n. Chr.), verzichtet.
5
Auch in Pass. Mar. Iac. 6, 7-10 erscheint dem Märtyrer Cyprian. Ο martyrum gloriosa documenta! Sie dienen den Nachfahren zur Erinnerung und Erbauung, ut quemadmodum de scripturis veteribus exempla, dum discimus, sumimus, etiam de novis aliqua discamus (23), wodurch der Traditionszusammenhang zu älteren Akten oder allgemeiner Schriften hergestellt wird; vgl. ebenso Pass. Perp. 1, lf.
6
7
Für diese Frühdatierung sprechen sich etwa MUSURILLO XIII und BUSCHMANN 2024 aus.
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Die dadurch aufgeworfenen Fragen nach Bedeutung und Aussa gekraft der Darstellung von Körperlichkeit werden im Folgenden untersucht. Aussagen über den Körper des oder der Märtyrer finden sich hier in unterschiedlichen Zusammenhängen: Zum einen wird Körperlichkeit im Verhältnis zwischen Christus und dem ihm nacheifernden Märtyrer thematisiert, zum anderen in der konkreten Situation der Hinrichtung sowie in der antagonistischen Schilderung der einander gegenüberstehenden Kontrahenten Märtyrer und römischer Statthalter oder Staat. In dieser Konfrontation wird, wie zu zeigen ist, ein bewusster Gegensatz auch in der Schilderung von Körperlichkeit aufgebaut und dabei auch auf einer transzendenten Ebene der real geschilderte Kampf als Kampf zwischen Christus und dem Teufel thematisiert. Wie wird also der Körper des Märtyrers, insbesondere in der aus der Art und Weise der Darstellung resultierenden Abgrenzung etwa zu dem der Nichtchristen, gezeichnet? Welche Veränderungen sind an ihm in der Situation des Martyriums zu erkennen? Welche Aussagewirkung und -kraft entfalten diese Bilder von Körperlichkeit? In verschiedenen Gruppen sollen deren einzelne Phänomene vorgestellt werden: Ausgangspunkt ist dabei der Unterschied in der Darstellung von Märtyrerkörper und Körper des jeweiligen römischen Statthalters; Aussehen, Mimik und Gestik, Handlungen und Bewegungen sowie Sprache sollen aus dieser Grundbeobachtung heraus untersucht werden, um die Transformation des Märtyrerkörpers und die Umwertung der sozialen Situation zum Triumph herauszuarbeiten.
II. Der Körper des Märtyrers - Charakterisierung Der Märtyrertod ist eine grausame, Menschen verachtende und im besonderen Maße auf Vernichtung abzielende Todesart. Glühende Metallplatten, Streckungsapparaturen, mit denen Gelenke und Glieder ausgerenkt werden konnten, oder Metallklauen, mit denen man das
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Fleisch von den Knochen reißen und die Muskeln, aber auch heraushängende innere Organe zerfetzen konnte, stellen nur einige der mögQ liehen Foltermethoden dar. Dabei scheint ein wichtiges Ziel gewesen zu sein, den Körper des Hinzurichtenden vollständig aufzulösen, zu zerteilen und zu vernichten.9 Daher soll nun der Blick auf das Aussehen der Märtyrer gerichtet werden.
1. Aussehen der Märtyrer In auffallender Weise werden in der Passio Sanctorum Montani et Lucii Körperteile und Sinnesorgane der Märtyrer beschrieben. a) Vor der Hinrichtung hören und erfahren die verurteilten Christen von der geplanten Verbrennung ihres Körpers, die noch bei lebendigem Leibe erfolgen soll (3, 1). Das unbedingte Verlangen nach dem Martyrium wird in einem Vergleich mit körperlichen Wünschen dargestellt: ... ut sitientibus potus, esurientibus eibus, desiderantibus martyrium obvenit (9, 2). Das unbedingte körperliche Bedürfnis nach Speise und Trank steht also analog zum Verlangen nach dem Martyrium. Dem Körper fehlt demnach etwas, solange er das Martyrium noch nicht erleiden durfte. Diese Metaphorik wird an anderer Stelle noch 8
Ausführlicher zu Folterqualen etwa Eus. hist. eccl. 6, 41, 18; 8, 10, 5; Tert. Scap. 4, 3; Pass. Iren. Sirm. 4, 3. 9 Für die römische Obrigkeit war die Vernichtung des Märtyrerkörpers von großer Wichtigkeit, um eine Reliquienverehrung zu verhindern, vgl. Mart. Lugd. 57: Die Körper der hingerichteten Märtyrer werden aus Hass und Wahnsinn auch tot noch drangsaliert (nicht beerdigt); selbst zerstückelte oder verbrannte Leichen dürfen nicht bestattet werden (Bewachung durch Soldaten); 62: Die Leichen werden zur Schau gestellt, dann verbrannt, die Asche wird in die Rhöne gestreut, damit nichts zurückbleibt (Reliquie, Kultstätte). Kultische Verehrung der Märtyrergräber z.B. Mart. Polyc. 18, autoritätszuweisender Anspruch der Beerdigungsstätten z.B. Pass. Fructuos. 6, 2; Act. Tryph. 6; Pass. Bonif. 2: Der Körper wird freiwillig geopfert und erhält durch seinen Tod große Bedeutung, insbesondere bei der Reliquienverehrung: ... servi Christi agonizantur adversus diabolum in partibus Orient is, tradentes corpora sua carnificibus, ut non abnegent Christum: perge igitur ad illas partes, et affer nobis reliquias, id est, corpora Sanctorum Martyrum', Pass. Epipod. 12 u.a.
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einmal aufgegriffen: Trotz oder gerade wegen des Hungers und Dur stes bekennen alle beim Verhör feierlich, Christen zu sein. Dazu passt auch die Aussage, die in der Haft durch ihr Leiden Erkrankten seien eben mit Hilfe der von Gott arrangierten Unterstützung in der Erwartung des Martyriums wieder genesen (9, 3: eos ... qui... aegritudinem incidebant, ab infirmitate revocavit). So geht auch der mit charakterlichen wie körperlichen Tugenden bzw. Vorzügen geschilderte mitinhaftierte Lucius, als die Christen nach vielen Monaten entbehrungsreicher und körperlich erschöpfender und zermürbender Gefangenschaft10 (12, 3) zur Hinrichtung geführt werden, aufgrund der eingetretenen körperlichen Schwäche voran zur Rettung (13, 4); Montanus hingegen wird als corpore et mente robustus (14, 1) beschrieben. Gerade die geplante Verbrennung verweist dabei - im Hinblick auf die vielen Belege dieser Form der Hinrichtung für Christen - auf die besondere Tötungsart, die auf eine völlige Vernichtung körperlicher Existenz zielt. b) Das Martyrium selbst, d.h. die eigentliche Hinrichtung bzw. Verbrennung eines Märtyrers, wird aber keineswegs als dessen Vernichtung dargestellt, sondern lediglich der Körper, so wird eigens betont, wird ausgelöscht: audivimus, quod heri corpus nostrum minaretur urere.... exurere nos vivos cogitavit (3, l). 11 Durch den Begriff des corpus nostrum ergibt sich eine interessante Konnotation, denn hier scheint das Bild der Christenheit als corpus (Christi) evoziert zu sein, 10
Auszugehen ist davon, dass auch in diesem Text eine Vorstellung vom Gefäng nis als einer domus diaboli besteht, wie sie Tert. mart. 1, 4f. darstellt. Vgl. die Ge genüberstellung des schrecklichen Kerkers und der himmlischen Wohnung in Pass. Montan. 17, 1. Die Gefangenschaft wird von Tertullian (mart. 3, 3) als exercitationes virtutum animi et corporis gesehen. 11 Darauf verweisen auch Formulierungen wie accensus paene in exitum nostrae carnis ignis exstinctus est (3, 3); ausgelöscht wird das Feuer durch das eigene Blut der Märtyrer. Das Blut des Märtyrers steht metonymisch für die passio (ROBERTS 39). Es dient dabei als Garant für den Eintritt in den Himmel, vgl. Tert. anim. 55, 4f. Das (vergossene) Blut trägt weitere Bedeutungen in sich: So ist es Zeichen für die Entwicklung und das Wachsen der Christenheit (vgl. Tert. apol. 50, 13: semen est sanguis Christianorum), ihm wird aber auch heilende Wirkung etwa bei Epilepsie zugeschrieben.
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das der römische Staat in diesen Darstellungen zu vernichten suchte und das hier für diese Gruppe von Märtyrern steht. Parallel zu dieser Darstellung wird im Martyrium Lugdunensium die Märtyrerin Blandi1 'J
na gekreuzigt und wilden Tieren ausgesetzt. Christus zeigt sich in ihr und sie, d.h. ihr aufgehängter Körper, wird zum Zeichen fur den lebenden Gott. Im Martyrium des Polycarp aus der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts wird die unzerstörbare Schönheit des heiligen Fleisches explizit hervorgehoben,13 ja der Körper des hingerichteten Polycarp verströmt beim Verbrennen sogar Wohlgerüche.14 Auch diese Parallelstellen zeigen, dass die körperliche Vernichtung zwar intendiert ist und in einigen Fällen auch zu funktionieren scheint, dass dies aber nur auf dem Hintergrund eines Christus ähnlichen Leidens gesehen wird. Sowohl Körper als auch Geist bleiben trotz der stattfindenden Hinrichtungen in ihrem Bedeutungsgehalt und in der Vermittlung von Sinnbotschaften unerschütterlich und heil. So kehrt auch Montanus mente invicta (16) ins Gefängnis zurück. Der Körper kann allein durch göttliches Wirken unverletzt bleiben. Im vorliegenden Text erlaubt Gott zunächst nicht, dass der Körper des gläubigen Flavianus durch Folterungen in irgendeiner Weise zu Schaden kommt. Diese Ambivalenz findet sich an vielen Stellen: Einerseits kann durch göttliches Eingreifen der Körper vor den Folterungen geschützt werden, sodass diese entweder gar nicht stattfinden oder aber wirkungslos bleiben, andererseits wird der Körper aber notwendigerweise gefoltert, damit eine imitatio Christi erst möglich ist und das Martyrium erreicht werden kann. Die Unversehrtheit des Körpers in und nach dem Martyrium wird von Montanus in einer seiner im Text beschriebenen Visionen explizit herausgestellt. Der Bischof und Märtyrer Cyprian erklärt darin, dass im Martyrium die Seele in den Himmel aufsteige, der Körper somit auch ein anderer als zuvor sei {alia caro patitur) und, indem man die 12
Mart. Lugd. 39. Mart. Polyc. 13. S. auch oben S. 29-74 den Beitrag von KATHARINA WALDNER, hier S. 34-44. 14 Mart. Polyc. 15. 13
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Seele ganz Gott weihe, keine körperlichen Schmerzen spüre (21, 4). So können denn auch die den Körper bedrängenden Mittel gegen jegliche Erwartung als positiv geschildert werden: Die gloria vinculorum wird ebenso wie das ferrum honorabilius... auro (6, 2) gepriesen. c) Nach dem Tod existiert nun aber der Märtyrer auch körperlich weiter. Durchgehend lässt sich, vor allem in den Visionen, eine Lichtmetaphorik erkennen: Die Mienen der Märtyrer, sowohl der bereits gestorbenen als auch der dem Tod unmittelbar entgegengehenden, werden darin als hell strahlend beschrieben (s.u.). Nicht nur ihre Kleider werden strahlend weiß, sondern auch ihr Fleisch verändert sich und wird heller als ihre Kleidung. Das Fleisch ihrer Körper wird (ebenso wie die Kleidung) durchsichtig und eröffnet den Blick durch den transparenten Körper in das Innerste ihres Herzens (11, 4f.). Die Reinheit, die den für seinen Glauben gestorbenen Märtyrer erwartet, kann aber, wie die dunklen Flecken in Montanus' Herzen zeigen, als Resultat und Folge von irdischer Zwietracht unter den Christen getrübt sein, während derjenige, der bereits im Martertod sich auszeichnete, in strahlendem Glänze erscheint. So erzählt z.B. der mitinhaftierte Victor nach seiner Vision, ihm sei ein Knabe im Gefängnis erschienen, der sich durch unbeschreiblichen Glanz auf seinem Antlitz ausgezeichnet habe. In einer weiteren Vision erscheint Flavianus der bereits hingerichtete Märtyrer Successus in strahlendem, engelsgleichem Glänze und prophezeit diesem baldiges Martyrium (21, 8f.). Ganz im Gegensatz zur detailreichen Ausgestaltung des Märtyrerkörpers ist das Aussehen der heidnischen Peiniger knapp beschrieben: Ihre Körperlichkeit wird reduziert auf den ferox vultus (2, 1). Allein dadurch charakterisiert, stellt sich der Peiniger als entpersonalisiert dar, während sich in früheren Akten, die im Kommentarienstil geschrieben sind, jeweils reichliche Details zu den (pseudo-)historischen Daten und Namen finden lassen. Dieser Gesichtsausdruck wird denn auch im Text als verantwortlich für die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes (2, 1) gezeichnet. Im weiteren Verlauf des Textes wird der Statthalter nicht mehr näher beschrieben, der carnifex wird ohne Attribute oder Bilder dargestellt, als ihm der Versuch, die
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Christen mit dem Schwert zu töten, misslingt. Einzig in der Parallelisierung mit dem Teufel findet die römische Obrigkeit eine weiter gehende Charakterisierung. Letztlich treten aber die Peiniger unter den auftretenden verschiedenen wundersamen Erscheinungen in der Darstellung regelrecht in den Hintergrund und bilden nur noch die Folie für die aussagekräftige Darstellung der religiösen Bedeutung des Martyriums.
2. Gestik und Mimik Da der Tod der Diener Gottes als leicht erachtet wird und dieser zum Sieg des Herrn beiträgt, ist die Freude bei den Märtyrern über die Gefangennahme ebenso verständlich wie die Freude über den bevorstehenden Tod durch das Schwert (6, lf.; s.o.). Daher sind ihre Mienen heiter, hilares (passim, z.B. 6, 1); sie werden in Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Hinrichtung und in den beschriebenen Visionen hell strahlend (7, 3: vultusperlucidus; 13, 2: martyres Christi... vultus hilaritate testantes; 21, 8: vultu ... claro). Zudem deutet das Lächeln des Märtyrers die (Erwartung der) im Martyrium stattfindende(n) Gemeinschaft zwischen ihm und Gott an, sodass sich für ihn die Gelegenheit zu Verkündigung im und durch das Martyrium bietet.15 Die Verurteilten gehen denn auch heiter, gelassen und ruhig zum Richtplatz, indem sie ihre innere Überzeugung, dass sie sich über die von ihnen als Sieg begriffene Hinrichtung freuen,16 körperlich zeigen: Erat illic videre martyres Christi felicitatem gloriae suae vultus hilaritate testantes: ita ut possent ceteros provocare ad propriae virtutis exempla, etiamsi tacerent. [...] cohortatibus suis singuli plebem Dei corroboraverunt (13). So können die Märtyrer, auch ohne zu reden, allein durch ihre Gestik und Mimik andere zur Nachahmung ihres beispiel15
Vgl. z.B. Act. Carp. 38f.: Carpus lächelt, als er ans Kreuz geschlagen wird, da er die δόξα κυρίου gesehen hat und nun endlich der menschlichen Sünder enthoben wird; BUTTERWECK 192. 16
Vgl. Mart. Apoll. 7; Mart. Pion. 4, 7 , 2 1 ; Act. Carp. 10.
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haften und vorbildlichen Verhaltens ermuntern (13, 3) und durch ihr Lächeln den Richter oder Peiniger verunsichern, da diesem der Inhalt (der christlichen Lehre) verborgen bleibt.17 Neben dem in zahlreichen Texten zu findenden, typischen Gesichtsausdruck ist das gemeinschaftliche Gebet, das sich, wie anzunehmen ist, ebenfalls in körperlichen Gesten und (wohl) lautem Beten ausdrückt, ein häufiges Motiv der Märtyrerliteratur. Mit Gebeten erreichen die Märtyrer im körperlichen Ausdruck die von ihnen gewünschte göttliche Hilfe, die in diesem Text das Feuer erlöschen lässt und die Körper der Märtyrer unversehrt erhält (3, 1-3). Demgegenüber sind Gestik und Mimik des Peinigers außer im bereits beschriebenen erstarrten Gesichtsausdruck so gut wie nicht vorhanden.
3. Bewegung und Handlung Bewegungen und Handlungen der Märtyrer sagen ebenfalls etwas über die Bedeutung von Körperlichkeit aus. Im Text finden sich, auffalligerweise auch im Gegensatz zur Darstellung der heidnischen Peiniger, sehr viele Verben der Bewegung, die jeweils auch ein Voranschreiten der Handlung signalisieren. So tritt in den Visionen dem Märtyrer z.B. Cyprian entgegen, die Märtyrer wandeln mit Christus (5, 2), man kommt am Richtplatz an, Montanus gelangt mit Cyprian und Lucius an einen hellen Ort, ein Knabe fuhrt in der Vision die Märtyrer durch das Leiden (7, 5), es erscheint eine wichtige Person oder tritt dem Märtyrer entgegen, der Märtyrer eilt freudig zum Martyrium (z.B. 18, 4). Auch der eigentliche Gang zum Martyrium in den Tod wird als Gang beschrieben, und zwar, indem die Märtyrer, gegen das Dunkel der Nacht in ihre Glaubensfrömmigkeit gehüllt, aufsteigen wie in den Himmel (4, 2). Das bedeutet freilich nicht, dass die traditionelle Vorstellung vom passiven Erleiden des Martyriums aufgegeben wird. 17
V g l . BUTTERWECK 1 9 2 .
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Im Mittelpunkt der Handlungen steht auch in diesem Text der Kampf gegen die weltlichen Mächte, personifiziert in der Gestalt des römischen Statthalters oder Henkers. Aus diesem Kampf (mit spirituellen Waffen) 19 geht der Märtyrer als Sieger hervor.20 Die Märtyrer erlangen trotz und in der Parallelisierung mit den weltlich-heidnischen Soldaten eine ganz andere Qualität: Sie „stehen nicht menschlichen Gegnern gegenüber, sondern dem Teufel selbst, ihr Auftreten vor Gericht ist nicht ein irdisches, juristisches Geschehen, sondern ein kos91 misches Ereignis [...]". Dass mit dem Teufel die römische Obrigkeit in Gestalt des Statthalters gemeint ist, lässt sich aus den vielen eindeutigen Parallelisierungen in der Märtyrerliteratur klar erkennen. Ganz explizit wird in der Passio Perpetuae et Felicitatis auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Die in der Arena gegen wilde Tiere kämpfende Märtyrerin Perpetua erkennt den Teufel als eigentlichen Gegner der sich für den Glauben opfernden Christen: et intellexi me non ad bestias, sed contra diabolum esse pugnaturam. Tertullian spricht von einer vis in occulto,24 die hinter dem grausamen Verhalten der Christenverfolger stecke. Es sei geradezu konstitutiv für die Macht der Dämonen, gegen die Christen zu kämpfen. „Mit dem [...] Verständnis der Verfolgung als eines Kampfes des Teufels gegen die Gläubigen hat Tertullian einen für die altkirchliche Martyriumstheo18 19
Wie z.B. auch explizit in Pass. Mar. Iac. 1, 3.
V g l . BÄHNK 7 1 .
20
So besteht auch im Martyrium des Apollonius das glorreiche Ende des Martyriums im Sieg über den Teufel in der Gestalt des Statthalters Perennis als Stellvertreter Roms; vgl. z.B. Mart. Apoll. 47. Vgl. auch Eus. hist. eccl. 5, 1, 23 (Mart. Lugd.): „Sanctus machte den Widersacher zunichte und zeigte zur Belehrung der übrigen, dass da, wo die Liebe des Vaters wirkt, nichts zu furchten ist und dass nichts schmerzlich ist, wo sich Christi Herrlichkeit entfaltet" (Übers. HAEUSER, BKV, München 1932). 21 BÄHNK 69 zu Tert. mart. 22 Vgl. etwa aus der Fülle an Belegen Mart. Polyc. 3; Mart. Lugd. 27; Mart. Agap. 4, 1; Mart. Apoll. 47. 23 Pass. Perp. 10, 14; vgl. 20, 1. 24 Tert.apol. 2, 14. 25 Tert. apol. 27, 4.
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logie insgesamt zentralen Deutungszusammenhang aufgegriffen." Der römische Statthalter ist die Verkörperung des Teufels, der Kampf findet letztlich nicht gegen eine weltliche Macht statt, sondern ist ein kosmischer Kampf zwischen Gott und Teufel. Auch stellt sich in dieser Terminologie der Kampf gegen die feindliche Macht nicht als Individualkampf heraus, sondern als kollektive und gemeinschaftliche Schlacht. Interessanterweise bediente sich die lateinische Kirche des Westens viel stärker dieser (körperorientierten) Wettkampf- und Militärterminologie als der griechischsprachige Osten und stellte die »
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christliche Existenz insgesamt als eine militia spiritualis dar. Schon vor dem eigentlichen Martyrium erringen die Christen hier einen ersten Sieg. Zum Martyrium und vor allem zur Erlangung des himmlischen Heils gehört die Auseinandersetzung mit den weltlichen Mächten notwendigerweise und konstitutiv dazu. Sed nulla causa armorum est, nisi quando miles armandus est, nec armatur nisi quando congressio est et in coronis nostris ideo praemium est, quia certamen ante praecessit, nec datur palma, nisi congressione perfecta (4, 6). Daraus leitet sich ab, dass nur der Kampf gegen den weltlichen Peini ger den gläubigen Christen zum Martyrium fuhrt. Die Eintracht der Christen ist denn auch nach Tertullian der Kampf gegen den Teufel: ... Λ 0
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BÄHNK 58f. Vgl. auch HUMMEL 74, der ebenfalls schon darauf hinweist, dass die Vorstellung in der Alten Kirche existierte, der Teufel sei der eigentliche Gegner im Kampf gegen die weltlichen Mächte, die nur als Gehilfen und Werkzeuge des Satans zur (versuchten) Vernichtung der milites Christi eingesetzt würden; vgl. Apc 2, 10; Ign. Rom. 5, 3; Herrn. Sim. 8, 3, 6; Just. apol. 1, 5; 2, 7; Mart. Polyc. 3, 1; 17, lf.; Eus. hist. eccl. 5, 1, 4f. 16. 23. 27. 3 5 . 4 2 ; 5, 2 , 6 ; Min. Fei. Oct. 27.
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28
B Ä H N K 6 1 .
Tertullian bezeichnet prinzipiell alle Christen als milites Christi (castit. 12, 1; coron. 12, 5; mart. 3, 1; orat. 19, 5). Durch das Changieren zwischen den Bedeu tungsschattierungen (explizit idol. 19, 2: ... signo Christi et signo diaboli...) des Be griffs „Soldaten" sowie von sacramentum und signum als Treueeid, Feldzeichen auf der einen und Taufe und Kreuzeszeichen auf der anderen Seite stellt er den militäri schen Gehorsam parallel zur Treueverpflichtung zu Gott im Kampf gegen die bösen Mächte der Welt (ieiun. 17, 8: adversus mundipotestates) dar. Zur militärischen und agonistischen Metaphorik vgl. Tert. mart., scorp. und fug. sowie BÄHNK 64 Anm. 97f.
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pax vestra bellum est illi (sc. diabolo).29 Dieser Vergleich mit einer militärischen Schlacht findet sich vielerorts in den Akten (vgl. das Martyrium der Blandina in Eus. hist. eccl. 5, 1, 42). Bereits in der Stoa finden sich militärische Begriffe, die dort den inneren Kampf des Menschen um Sittlichkeit darstellen, sodass mit dieser Begriffsverwendung ein größerer Traditionszusammenhang evoziert wird.31 Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass Bewegung und Fortschritt im eigentlichen Sinne beim Widerpart der Christen nicht stattfinden; nur von geplanten Handlungen, von allgemeinen, zudem als unpersönlich dargestellten Aktionen wird berichtet. Sämtliche Handlungen der römischen Staatsmacht bleiben im Versuch stecken oder können zumindest ihr Ziel nicht erreichen, so z.B. beim durch die Handlungen des Flavianus und die Reaktionen des Publikums (15) misslungenen Versuch des carnifex, die Christen mit dem Schwert zu töten. Ebenso schlägt die Verbrennung (3) fehl. Auch das als real dargestellte Faktum der Behandlung durch die römischen Beamten erhält durch die Formulierung fame nos et siti tentare molitus (6, 10) einen religiös aufgeladenen Sinn. Das Martyrium und seine mögliche Beendigung, nämlich in der Folter dem christlichen Glauben abzuschwören 29
Tert. mart. 1, 5. Nach Tertullian „hat Gott selbst mit dem Martyrium die Möglichkeit dargeboten, durch welche diejenigen, die durch die Taufe dem Teufel bereits entrissen sind, endgültig zu Siegern über diesen werden können," BÄHNK 72; vgl. Tert. scorp. 6, 1, ausfuhrlich fug. 1, 2; 2, 2: ... ita earn [die Verfolgung] per diabolum, si forte, non α diabolo evenire credimus. Das Martyrium selbst stellt somit eine Prüfung für den gläubigen Christen dar: utique per tormenta ignium et suppliciorum, per martyria fidei examinatoria (scorp. 7, 3 f.). 30
Vgl. Sen. epist. 96, 5: vivere militare est\ 5 1 , 6 ; dial. 1, 3, 6; 1, 4, 5; 1 , 5 , 1; Μ. Aurel, med. 2, 17; Epict. diss. 2, 18,27 u.a. Im NT: 1 Th 5, 8; 1 Cor 9, 24f.; 2 Cor 6, 7; 10, 3-6; Rm 6, 13f.; 13, 12; Eph 6, 10-18; Col 2, 1; 1 Tm 1, 18; 2 Tm 2, 3-5; Hbr 10, 32; 1 Pt 2, 11; dazu im AT 4 Mcc 17, 11-16; 11,20; 15,29; 16, 16; 17, 11. Bilder und Begriffe aus Wettkampf und Militär sind in austauschbarer Weise verwen det in heidnischer, hellenistischjüdischer und neutestamentlicher Tradition, vgl. BÄHNK. 60f. Der Tod wird z.B. Mart. Pion. 22 als Sieg im großen Kampf bewertet. 31
Da Christen als Soldaten gegen die heidnischweltlichen Soldaten im Rahmen eines Martyriums kämpfen müssen, lehnt es Tertullian auch ab, dass weltliche Sol daten gleichzeitig milites Christi sein können (idol. 19; differenzierter coron. 11).
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und das Bekenntnis zum Christentum preiszugeben, erscheinen als (körperliche) Versuchungen des Teufels und seiner Erfüllungsgehilfen.
4. Sprache und Rhetorik Verfolgt man die Kommunikation, die sich mittels Sprache vollzieht, innerhalb der Akte, so lassen sich die Äußerungen, die zwischen den Christen stattfinden, klar von der ,Kommunikation nach außen' abgrenzen. Häufig zu verzeichnen sind Prophezeiungen innerhalb von Visionen und Lobpreisungen Gottes. In seiner Vision befragt Flavianus Cyprian nach dem Martyrium (s.o.). Auffallig sind hier die kommentierenden Einwürfe des diese Vision niederschreibenden Verfassers (21, 5). Er ist begeistert von der Ermunterung zum Martyrium, die Cyprian dem angehenden Märtyrer zuteil werden lässt. Ο martyrum gloriosa documenta! Charakteristisch sind auch die Ermunterungen zum standhaften Ertragen der Folter und Qualen. Montanus ermahnt die beteiligten Christen: State fortiter, fratres, et cons tanter militate ... Hoc enim est propter Christum pati, Christum etiam exemplo sermonis imitari, et esse probationem maximam fidei. Ο exemplum grande credendi! (14). Ganz deutlich wird hier, dass der Text persuasiv wirken soll. Die Le serschaft soll durch den Text bezeugt finden, wie stark der christliche Glaube wirken kann und wie fest der Zusammenhalt innerhalb der christlichen Gemeinschaft ist. So sind auch in der Kommunikation ,nach außen' bei der Folter die Peiniger allein durch die Aussagen des Flavianus retusi et revicti34 und versuchen durch eine Verschärfung der Folterungen (vergeblich), Flavianus in seiner festen Haltung zu er-
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Vgl. 21, 8f. Der Tag, an dem die gefesselten Märtyrer enthauptet werden sollen, wird ebenso gepriesen wie das Schwert, das ihnen wertvoller als Gold erscheint (6, 35). 33
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20,1; vgl. auch Pass. Perp. 3, 3.
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schüttern. Hingegen erhalten die Märtyrer sprechende Namen wie Victor oder Successus. Die im Text als konkret beschriebene und inszenierte Situation der Hinrichtung bietet denn auch Gelegenheit zu Verkündigung im und durch das Martyrium.35 Zur Erlangung des erstrebten ewigen Lebens müssen die göttlichen Gebote erfüllt werden: Nec alio modo vitam aeternam accipere et cum Christo regnare poterimus, nisi fecerimus quodpraecepit faciendum, qui et vitam promisit et regnum. Auf einer gedoppelten Ebene (Heiden im Text, Leser der Akte) erreicht auch der im Text zu Wort kommende Redner sein Publikum, indem er mit hervorgehobener Stimme Christen wie Heiden anspricht und so auf eine Wirkung zielt, die gerade die Nichtchristen betrifft: Dabei ist die Lautstärke der Stimme als körperliches Merkmal offensichtlich dafür ausschlaggebend, wer die Rede außer den Christen36 noch hören kann: Flavianus spricht... clara voce, ita ut non tantum ad totius plebis aures sed ad gentiles quoque ipsos sonus vocis evaderet (15, 1). Wer die Wahrheit erkennen wolle, müsse sich zum Christentum bekehren und bekennen (19, 6). In einer letzten Rede, die Flavianus bezeichnenderweise von bereits erhöhter Stelle aus in testamenti modum37 vornimmt, ermahnt er die Brüder zur gegenseitigen dilectio (23, 3).38 Verschwiegen bzw. nicht thematisiert werden in diesem Text die Folterungen an sich.39 Explizit wird darauf hingewiesen, dass die Märtyrer über die im Gefängnis zu erduldenden Foltern und Leiden schweigen. Die Foltern seien unbeschreiblich und daher mit Worten nicht darstellbar. Man scheue sich nicht, die Brutalität des Ortes zu nennen, doch liege gerade in der Schwere des Leidens die Möglichkeit, die Größe Gottes zu zeigen (4, 4f.). So kann Körperlichkeit, die 35
V g l . z . B . Act. Carp. 3 8 f . ; BUTTERWECK 192.
36
Diese werden interessanterweise mit dem Begriff der plebs bezeichnet. Ein Hinweis auf die imitatio Christi! 38 Vgl. Jo 15,12. 39 im Gegensatz zu ausfuhrlichen Schilderungen etwa in Mart. Polyc., Mart. Lugd., Act. Carp. 37
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in Beschreibungen von Folterungen, wie sie vor allem in den griechi schen Texten en detail zu verzeichnen sind, besonders ausdrucksstark wirkt, gerade dadurch, dass sie, wie hier, in auffälliger Weise im Rahmen der Folter nicht thematisiert ist, (ebenfalls) den mit dem Leiden verbundenen Triumph vermitteln. Sprachliche Äußerungen fehlen beim Peiniger. Dies fügt sich in das Bild des entpersonalisierten Bösen, wenn auch dies im Vergleich zu anderen, insbesondere früheren Akten, wo die Verhöre als Dialoge ausgestaltet sind, einigermaßen untypisch ist. Wie wird nun aus der konkreten Gestaltung von Körperlichkeit in ihren verschiedenen Ausprägungen das grausame Geschehen umgedeutet und umgewertet?
III. Transformationen des Körpers und Umdeutung der Geschehnisse Durch das und im Martyrium wird der gepeinigte Körper einem dauernden Transformationsprozess zur Vernichtung hin unterzogen. In ihn werden Hass und Aggressivität der nichtchristlichen Bevölkerung eingeschrieben.40 Trotzdem oder gerade dadurch gelingt dem Christentum eine Umdeutung insofern, als es das Martyrium nicht nur als Sieg der Seele über den verletzbaren bzw. verletzten Körper darstellt, sondern auch als Triumph des Körpers über Folter und Tod. Das heißt, dass die körperlichen Qualen, die der Märtyrer zu erdulden hat, in einem kausalen Zusammenhang zum Seelenheil stehen. Wer diese Folterungen übersteht und besteht, rettet Körper und Seele. Über den Körper und dessen Vernichtung im Martyrium kann also erst das christliche Ziel der imitatio erreicht werden. Dabei ist der Körper das vermittelnde Verbindungsglied zwischen dem christlichen Menschen und der heidnischen Welt. Der Körper repräsentiert die Welt und steht deshalb im Mittelpunkt, weil er das ist, was von heidnischer Seite ein-
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zig angegriffen werden kann.41 Das Fleisch des christlichen Menschen ohne die Begriffe Fleisch und Körper gleichsetzen zu wollen - stellt eine ständige Gefahr dar, da es den Angriffen der Welt ausgesetzt ist.42 Im Rahmen einer Hinrichtung nun kann nach christlicher Deutung das Schicksal des Märtyrers nur von Gott beeinflusst werden: Er allein sei in der Lage, der Grausamkeit des römischen Statthalters Einhalt zu gebieten, er allein könne die Verbrennung verhindern (3, 3). So lässt sich auch an diesem Beispiel göttlichen Eingreifens für die Gläubigen leicht erkennen, wie ihr vermeintlich grausamer Tod im Kampf (z.B. 4, 4f.) umgewertet wird zum expliziten Sieg Gottes in den Märtyrern.43 Die Größe Gottes steht in Beziehung zur Schwere des Leidens; je mehr der Märtyrer erleidet, umso größer ist die Belohnung, die ihn auch in Form der Herrschaft mit Christus erwartet: ... si cum Christo esse et regnare cupimus, quae ad Christum et ad regnum ducant, illa faciamus (11, 7). In der Größe der Versuchung der Christen liegt die Möglichkeit, die Größe dessen, der in den Märtyrern siegt, zu zeigen. Dabei ist der Teufel zwar der Gegner im Kampf,44 aber nicht dessen Urheber, insofern als das aufgebürdete und freudig willkommen geheißene Leiden (6, 3-5) und der erwünschte Tod als Wille Gottes erscheinen (7, 1); dieser sieht die Leiden und greift im Einzelfall lenkend ein (8, 3). 41
Vgl. Cypr. domin. orat. 16: Nam cum corpus e terra et spiritum possideamus e caelo, ipsi terra et caelum sumus et in utroque id est corpore et spiritu, ut Dei voluntas fiat oramus (und weitere ausführliche Darlegung des Antagonismus Seele Körper, der die schlechten Eigenschaften und Begierden symbolisiert, vgl. den bei Cyprian zitierten Text Gal 5, 17. 19-23); 31. Cyprians Sprache zeigt eine „physicality [...] that crackles with the sense of the flesh as a charged boundary, under constant threat of violation" (BROWN 194).
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BROWN 194: „outpost of the self tensed to receive the myriad blows of the world." Der Körper steht dabei als Mikrokosmos für den bedrohten Zustand des Staates; v.a. im syrischen Raum ist der Körper das Zeichen drohenden Weltuntergangs, der unmittelbar die Fundamente der Gesellschaft ins Wanken bringen wird, „threatening to dissolve the solid foundations of the social order" (BROWN 196). 43
S. oben Anm. 12; Mart. Lugd. 39 (Blandina) und Mart. Polyc. 13; 15. S. oben Anm. 29.
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Mit der Hinrichtung eines Märtyrers wird ein Opfer, also die Darbringung eines Körpers, vollzogen; dies geht aus der Ortsbezeichnung locus victimae hervor. Diese scheint nun aber von den Christen bzw. vom Verfasser gewählt worden zu sein, da die römischen Behörden hier ja kein Opfer vollbringen, sondern lediglich einen Straftäter hinrichten und somit keine Veranlassung für solch eine Bezeichnung hätten haben können. Vielmehr ist auch hier anzunehmen, dass die oder der Verfasser mit dieser Bezeichnung ganz bewusst den Ort der Hinrichtung als Ort der Opferung für den Glauben zu erweisen versuchen.45 Der Märtyrer ist das Opfer, das sich für die Errettung aus der irdischen Welt im Kampf mit dem Teufel wie Christus vorbildhaft hingibt.
IV. Sieg und Niederlage Durch diese Konstruktion, die den Tod als Sieg und Triumph des Körpers über die Foltern umdeutet und gerade den Sieg erst im Tod als überhaupt erringbar sieht, stellt sich das Christentum in einen Antagonismus zu Vorstellungen, die den Tod als äußerste Form der menschlichen Niederlage ansehen. Die Größe Gottes kann in seinem Kampf in und mit den Märtyrern erkannt werden. Das Ausharren im Leiden verhilft den Märtyrern letztlich zur Krone des Martyriums. Die Märtyrer erscheinen in ihrer körperlichen Hingabe an den Tod als Agenten Gottes, der durch sie und ihretwegen letztlich triumphiert: nam et occidi servis Dei leve est, et ideo mors nihil est, cuius aculeos comminuens contentionemque devincens dominus per trophaeum crucis triumphavit (4, 5). Unter dem Schutz Gottes wird so jede Art der Folter zu einem glanzvollen Sieg. Der Tod wird als nichtig erachtet (4, 7).
45
Dass christliche Märtyrer auch als Opfer (und nicht, wie häufig, als Athleten) bezeichnet werden, lässt sich z.B. mit Act. Tryph. 6, Pass. Symph. 7, Pass. Maur. 5 (Märtyrer als Lamm) und Pass. Vict. 3 (hostia) belegen.
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Indem die von den Märtyrern herbeigesehnten Bestrafungen und Fesselungen zunächst ihre Wirkung verfehlen, erringt der Märtyrer bereits einen ersten Sieg, da sich Gott als der Mächtigere zeigt. Unde prostrato diabolo victores sumus in carcerem reversi, et ad alteram victoriam reservati. Hoc itaque proelio victus diabolus (6, 4f.). Gott allein kann Foltern zulassen und so die Möglichkeit zur imitatio geben oder versuchte Verletzungen des Körpers abwehren. Insbesondere in diesen Arten der Hinrichtung und Folter wird die gesellschaftliche Komponente, die den Darstellungen des Körpers eigen ist, deutlich. Durch Körpersymbolik wird das Verhältnis der Gesellschaft zum Einzelnen kommuniziert.46 Gerade bei inszenierten Hinrichtungen, wo die Macht des Staates oder in gewissem Sinne auch die der Gesellschaft besonders augenfällig dokumentiert werden konnte, ergibt sich die Chance bzw., aus heidnischer Perspektive, die Gefahr, dass bei erfolglosen Tötungsversuchen, wie sie in den Märtyrerakten äußerst zahlreich beschrieben werden, eben diese Autorität des Staates unterminiert wird und sich so der gesamte öffentliche Akt von seiner Intention her ins Gegenteil verkehrt. Die personale Konfrontation zwischen verurteiltem Märtyrer und dem römischen Richter bietet dabei für jenen die Möglichkeit, die Oberhand über den Peiniger zu erlangen, indem der häufig beschworene innerchristliche Zusammenhalt gepflegt und ständig erneuernd bekräftigt wird (so 10, 3f.).47 Ein Prozess kann daher nicht nur ein Kampf um die Wahrheit sein, sondern auch ein Machtkampf. Für die Märtyrerakten sind die Darstellungen der Ohnmacht des Peinigers geradezu konstitutiv.49 46
47
V g l . G A G E R 3 4 7 .
Vgl. auch im heidnischen Bereich etwa Philostr. vita Apoll. 8, 6: Apollonios vor
Domitian. 48
POTTER 64: „A trial was a contest about truth and could become one about
power." 49
S o auch JONES 29. Hier eröffnen sich die Themenkreise ,Apokalyptik' und
,Selbstverständnis der verschiedenen christlichen Gruppierungen'; so sind insbeson dere montanistische Elemente recht zahlreich in den Akten zu finden. Ein möglichst rasches Weltenende wird einerseits von den Christen gefordert (Tert. orat., spect., resurr.), andererseits beten die Christen für den Bestand des Imperium (Tert. apol.
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Die auch hierdurch konstituierte Identität des Märtyrers wird dann in nachkonstantinischer Zeit zum festen Bestand dessen, was christ lich ist.50 Verwiesen sei außerdem auf den Text in seiner über die reine Schilderung der Geschehnisse hinausgehenden Wirkung und Wirkab sicht. Dabei ist dem Phänomen gesonderte Beachtung zu schenken, dass die literarische Form der Akten, so man die Akten mit ihrem fest stehenden Motiv und Topoirepertoire als eigene literarische Form oder Gattung ansieht,51 von ihrer Intention her durch die inhärente Deutung des geschilderten Geschehens stark auf Persuasivität hin aus gerichtet erscheint.52 Die Akten bieten von den frühesten uns erhalte nen Texten an (Mart. Polyc.) Narration und deutende Kommentierung des vermittelten Geschehens in nicht trennbarer Verbindung auf unter schiedlichen Erzählschienen und Erzählebenen. So gibt Flavianus dem wegen apologetischer Argumentation zur Verdeutlichung der Loyalität der Christen, vgl. BÄHNΚ 94f.). Tertullian interpretiert die Bedrängnis und Verfolgung nicht als Zeichen des nahenden Endes, auch wenn es diese Tradition gibt: Dn 12, 7; Mt 24, 9; Mc 13, 9; Lc 21, 12; Apc 6, 9-11; 12, 17; ApcPetr 2. Verknüpfung von Verfolgungserfahrung mit der Erwartung des nahen Endes bei Mart. Lugd. (Eus. hist. eccl. 5, 1, 5). Es zeigt sich, dass Tertullian „die Vorstellung der Verfolgung als Element endzeitlicher Bedrängnis nicht zur Deutung der aktuellen Verfolgungserfahrung der karthagischen Christinnen und Christen übernimmt" (BÄHNK 104). Gehäufte Aussagen über den Zusammenhang zwischen Verfolgung und nahem Ende finden sich bei Cyprian nur in den Jahren 252/53 (epist. 58, 1, 2; 2, 2; Fort. 1); Gründe mögen dafür u.a. die unterschiedliche Heftigkeit und das andere Ausmaß der partiellen Verfolgungen zur Zeit Tertullians und der reichsweiten Verfolgung unter Decius gewesen sein. 50
Das Martyrium „supplied a history and a dominant image of what is to be Christian" (CLARK 99). Ebenso wie der Märtyrer zeigt auch der Asket durch sein freiwilliges langes Martyrium „shifts of thoughts about the body" hinsichtlich des Verhältnisses von Körper und Seele, aber auch in Bezug auf den Körper aus Fleisch und Blut. 51
Dagegen POTTER 1 4 8 : „At no point in the first three centuries AD can we say that there is a specific genre of 'martyr-act'; rather there is a habit of recording martyrdoms, and the form that this record could take varied enormously from place to place, and time to time." 52 Zur Funktion der Akten explizit Pass. Epipod. 1.
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Verfasser des Textes den Auftrag, auch sein Martyrium aufzuschrei ben. Es scheint, dass die unmittelbare Nachfolge des Flavianus durch den Nachvollzug des Martyriums in der schriftlichen Abfassung ge doppelt wird, dass also auch der Akt des Niederschreibens eines Martyriums in eine direkte Verbindung zu einem wirklich erlebten gebracht wird. Der Augenzeuge, der Verfasser des Textes, wird zum Mitmärtyrer der getöteten Christen, indem er das Martyrium in schriftlicher Form nachvollzieht.53 Auch in diesem Text schließt sich an den Brief des Märtyrers die Aufzeichnung der weiteren Geschehnisse durch einen anonym bleibenden Erzähler an. Betont wird (10), dass der Verfasser dieses zweiten Teils als Augenzeuge den Ereignissen beigewohnt hat und von Flavianus ausdrücklich mit der Niederschrift des Geschehens beauftragt wurde (12, 1; vgl. 12, 5). Deutlich wird hier das (im übrigen topische) Bemühen, Authentizität und Glaubwürdigkeit zu vermitteln, obwohl nur schwerlich von der Realität der beschriebenen Ereignisse ausgegangen werden kann.54 Durch die Formulierung necessaria55 reliqua subiunximus (12, 1) wird deutlich, dass sich gerade auch aus dem zweiten Teil erkennen lässt, was konstitutiv für die Akten wichtig ist; aus ihm geht hervor, was mit der Darstellung intendiert ist, näm53
Hier schließen sich etwa Fragen an, in welchem Verhältnis das ,echte', d.h. das aus einer Verfolgungssituation (mit Verhören, Prozess etc.) resultierende Martyri um, das freiwillige Martyrium (das aufgrund des explosionsartigen Anstiegs der Zahl der Christen, die sich dafür ,meldeten', ja sogar von Cyprian u.a. eingedämmt werden musste), das Martyrium im Verfassen von Märtyrertexten und das Martyri um im Sinne von (körperlichem?) Miterleben eines solchen Geschehens (z.B. beim Vorlesen in der liturgischen Praxis) stehen. Weiter wäre zu fragen, wie die Situation des realen und zeitgenössischen' Augenzeugen, der einer Hinrichtung als Zuschau er beigewohnt hat, zu beurteilen ist. 54
Das Martyrium eines Montanus mag durchaus stattgefunden haben. Dann wür den jedoch die Ausführungen über die Verfolgung (2, lf.) als unnötig erscheinen müssen, ist doch der Brief an die christliche Gemeinde eben in Karthago gerichtet. Ebenso wie dieser Aspekt verweisen auch die formale wie motivische Stereotypie (sowie die Schilderungen von Visionen und Wundern) auf eine (zumindest zu einem großen Teil) fiktive Darstellung. 55
So bei R U I N A R T ;
M U S U R I L L O hat
necessario.
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lieh die Vermittlung der im Text gedeuteten und kommentierten Ge schehnisse an die Nachwelt in der Würdigung und im Lobpreis der vorbildhaften Märtyrer;56 dies wird u.a. durch eine funktionalisierte Körpersymbolik erreicht. Der Körper des Märtyrers steht im Spannungsfeld zwischen der diesseitigen realen Welt und dem erstrebten Reich Gottes, für das der Märtyrer nach christlicher Vorstellung auch körperlich aufersteht. Durch seine Kämpfe gegen den Teufel, der durch den römischen Staat und dessen Erfüllungsgehilfen (Statthalter, Präfekten) repräsentiert wird, kann der Märtyrer in der Vernichtung seines Körpers gerettet werden, im Akt der Hinrichtung den Leidensweg Christi nachvollziehen und ihm siegreich triumphierend nachfolgen. Es zeigt sich, dass die vielfaltigen Strategien, wie - neben anderen Aspekten - der Körper und zu welchem Zweck Körperlichkeit thematisiert sind, in der vermeintlich schematisch und stereotyp angelegten literarischen Form der Märtyrerakten mehrschichtige Aussageebenen schaffen und so einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des frühen Christentums leisten.
56
Vgl. ebenso Pass. Perp. 1, lf.
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WALDNER, K., ,Was wir also
Alfred Breitenbach
Ambrosius von Mailand: Ein Bischof für die Kranken? Eine Beurteilung anhand des Lukaskommentars und der Schrift De officiis1
Frühe Lebensbeschreibungen des Ambrosius von Mailand zeichnen das Bild eines sozial engagierten Bischofs. So berichtet etwa Paulinus von Mailand, sein ehemaliger Stenograph, dass Ambrosius zum Zeitpunkt seiner Weihe den Armen und der Kirche seinen gesamten Besitz überschrieben und sich während seiner Amtszeit in besonderer Weise Λ
um die Armen und Gefangenen gesorgt habe. Die soziale Aktivität des Mailänder Bischofs ist auch ein fester Bestandteil moderner Darstellungen über das Wirken des Ambrosius und seinen Einsatz für die Gemeinde; dieser Einsatz äußerte sich u.a. in der Organisation der Hilfe für finanziell und sozial Bedrängte.3 Die Kranken werden wie selbstverständlich häufig mitgenannt, wenn man die Zielgruppen seiner karitativen Tätigkeit aufzählt.4
1
Die Fragestellung hat sich während der Mitarbeit am Projekt Jmitatio Christi als Körperkonzept" unter Leitung von Prof. Dr. BARBARA FEICHTINGERZIMMERMANN im Rahmen des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs (SFB 485) „Norm und Symbol" an der Universität Konstanz ergeben. Für Anregungen danke ich besonders P D D r . HELMUT S E N G ( K o n s t a n z ) . 2
Paul. Med. vita Ambr. 38. Allgemein zur Pastoral in der Vita Ambrosii des Pau linus von Mailand NAVONI 4345.
3
Z.B. DASSMANN (19861994) 270. DASSMANN (1978) 370: „Annenfürsorge, Kranken [...] und Gefangenenbetreu ung, sowie die Pflege der Gastfreundschaft ließen sich ohne caritative Organisation nicht mehr bewältigen. [ . . . ] Auch wenn über das Vorhandensein und die Zahl von kirchlichen Häusern für Kranke, Waisen und Fremde im 4. Jh. für Mailand keine ge nauen Angaben vorliegen [...], auf dem Bischof ruhte die letzte Verantwortung. 4
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Das erwähnte Engagement für Gefangene und der Verzicht auf Besitz zugunsten der Armen ist in Biographien und auch in den Schriften des Ambrosius selbst immer wieder belegt, und die Bedeutung des Jungfrauen- und Witwenstands für ihn kommt in den diesen Gruppen gewidmeten Abhandlungen zum Ausdruck; Krankenbetreuung und -fürsorge durch Ambrosius lässt sich dagegen seltener nachweisen. Die verschiedenen Lebensbeschreibungen schildern allenfalls Wunderheilungen durch den Bischof,5 die als hagiographische Topoi nur von untergeordneter Relevanz für die Frage sind, welche Bedeutung den Kranken im Rahmen der sozialkaritativen Tätigkeit des Ambrosius zukommt. Im Folgenden soll untersucht werden, was uns Ambrosius selbst über christliche Krankenfursorge mitteilt. Aus seinem umfangreichen CEuvre wurden der Lukaskommentar sowie die Schrift de officiis ausgewählt. Der erste, hinführende Teil dieses Beitrags skizziert knapp die Krankenfursorge in der frühen Kirche, stellt einige Forschungsergebnisse zur Bedeutung des (kranken) Körpers bei Ambrosius zusammen und fuhrt in die ausgewählten Schriften ein. Im zweiten Teil folgt eine Analyse der Aussagen, die Rückschlüsse auf die vorliegende Fragestellung zulassen. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und weiterfuhrende Fragen formuliert.
Erster Teil: Hinfiührung 1.1. Die Kranken in der frühen Kirche Gut 350 Jahre sind seit Jesu Predigt vergangen, als Ambrosius den Lukaskommentar und de officiis schreibt. In extenso kann die Krankenfursorge, die die offizielle' Kirche und christliche Privatpersonen Mahnungen und Unterweisungen an seine kirchlichen Mitarbeiter beweisen den Ernst, mit dem Ambrosius dem sozialen Elend zu begegnen versuchte." 5 Z.B. Paul. Med. vita Ambr. 10.28.44; Anon, vita Ambr. 67f. (COURCELLE 99, 700-706; vgl. BANTERLE 205).
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in dieser Zeitspanne betrieben haben, hier nicht behandelt werden; man hat sie auch schon ausführlich erörtert.6 Es soll jedoch schlaglichtartig die Entwicklung aufgezeigt werden, die zur Situation am Ende des 4. Jahrhunderts hinfuhrt. Die Grundlage frühkirchlicher Krankenfursorge bilden verschiedene Schriften des Neuen Testaments: Die Krankenheilungen Jesu und seine Aufforderung zum Krankenbesuch, die Teil der Endzeitrede des Matthäusevangeliums ist,7 finden eine Fortsetzung bzw. Anwendung in den Briefen des Paulus, wo die „Heilungsgaben des Geistes"8 erwähnt sind und wo als ein Kriterium zur Aufnahme in den Witwenstand genannt ist, dass sich die betreffende Frau auch der in Not Geratenen angenommen haben soll.9 Die Apostelgeschichte zeigt, dass der engere Kreis um Jesus die Krankenheilungen im Auftrag seines Meisters fortgesetzt hat,10 und der Jakobus-Brief deutet an, dass schon zur Zeit seiner Entstehung am Ende des ersten Jahrhunderts eine institutionalisierte Krankenfursorge in der christlichen Gemeinde vorhanden war.11 Auch in frühen Kirchenordnungen lässt sich eine stattliche Zahl an Belegen für die Sorge um die Kranken finden. Die Hippolyt von 1 Λ
Rom zugeschriebene so genannte Traditio Apostolica (3./4. Jh.) und die Apostolischen Konstitutionen (4. Jh.) erwähnen ausdrücklich die 6
Untersuchungen über die Rolle der Diakone sind etwa von KLAUSER und KALSBACH, über Diakonie von PHILIPPI angestellt worden. Die einschlägigen Stellen, ins besondere aus den Kirchenordnungen, mag man dort einsehen. S. ferner unten S. 149170 den Beitrag von STEPHEN LAKE, der zudem eine umfassende Darstellung christlicher Krankenfursorge in der frühen Kirche im Westen vorbereitet. 7 Mt 25, 36.43. 8 1 Cor 12, 9: αλλφ δε [sc. δίδοται] χαρίσματα ίαμάτων έν τω ένΐ πνεύματι. Vgl. SCHRÄGE 1 5 0 1 5 2 . 9
1 Tm 5, 10: εί θλιβομένοις έ π ή ρ κ ε σ ε ν ; im Allgemeinen nimmt man an, dass hier die Krankenpflege eingeschlossen wird. Vgl. KRAUSE 6f.; DÖNNIE 175194 (Literatur). 10 Vgl. z. B . A c t 3, 110. 11
Je 5, 1316. Vgl. zur Stelle MUSSNER 218225. Die Datierung Ende des 2. Jahrhunderts bei STEIMER (2002) 700. Vgl. aber jetzt MARKSCHIES 5356, der mit erheblichen Eingriffen in den Text im 4. Jahrhundert rechnet. 12
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Sorge um die Kranken als Teil der Gemeindearbeit.13 Manchmal wird diese Aufgabe den Diakonissen zugeschrieben,14 an anderen Stellen den männlichen Diakonen.15 Bei den frühen kirchlichen Schriftstellern kann man zwar die Fra ge stellen, ob sie tatsächlich von körperlicher Krankheit sprechen, wenn sie Menschen als έν θλίψει oder ασθενείς bezeichnen.16 Justin der Märtyrer aber erwähnt im zweiten Jahrhundert ausdrücklich, dass von einer Sammlung in der Gemeinde auch die durch Krankheit Lei 1 7
denden profitieren sollen. An der Wende vom dritten zum vierten Jahrhundert stellt Laktanz die Sorge um die Kranken sowie die Pflege anderer Hilfsbedürftiger 152 ausdrücklich in den Rahmen der misericordia - freilich in einer Aufzählung, die durch ihre Anlehnung an das Neue Testament bereits stereotyp ist oder es zumindest werden sollte. Er sagt, es sei ein großes Werk der Barmherzigkeit, Gefangene aus Feindeshand freizukaufen,
68f.227. Vgl. etwa Traditio Apostolica 24 (SC 1 l bis , 98): Si quis accepit utferat viduae et infirmo et ei qui operant dat ecciesiae, in die ferat...; Constitutiones Apostolicae 3, 4, 1 und 4, 2, 1 (SC 329, 126 und 172) sprechen ausdrücklich von den β ο η θ ε ί α ς . . . χρήζουσιν διά πενίαν η διά νόσον bzw. den νοσοΰσιν, ebd. 2, 25, 2 (und 2, 27, 6 [SC 320, 228 und 242]) von den θλιβομένοις (vgl. unten Anm. 16). 14 Für Belege aus der syrischen Didaskalie vgl. K L A U S E R 895-897; K A L S B A C H 919f. möchte diese Erscheinung, den Krankendienst der weiblichen Diakone, auf das Gebiet der syrischen Didaskalie eingeschränkt wissen. 15 K L A U S E R 8 9 5 ; PHILIPPI 624f. 16 Die oft vorgenommene Gleichsetzung von θ λ ΐ ψ ι ς mit Krankheit gerät gerade in dem Fürbittgebet 1 Clem 59, 4 (vgl. O. M I C H E L 19) in Schwierigkeiten. Denn dort wird um Rettung für die έν θλίψει (τους έν θλίψει ημών σώσον) und gleichzeitig um Heilung fur die Schwachen (τους ασθενείς ίάσαι) gebetet. Selbst der Begriff α σ θ ε ν ή ς muss nicht als körperlich schwach oder krank verstanden werden: Vgl. B A U E R (1995) 56 zu 2 Polyc. 6 , 1 . 17 Just. apol. 1, 67, 7: τοις διά νόσον η δι' α λ λ η ν αίτίαν λειπομένοις ( S C H W E R 697). Eine parallele Stelle bei Tertullian verzichtet jedoch auf diese Gruppe als Nutznießer von Spenden: Tert. apol. 39, 5 (vgl. auch G N I L K A 283f.). 13
18
M I L L E R
V g l . S C H W A N I T Z 1 3 f f .
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Kranke und Arme zu besuchen und zu unterstützen.19 Und an anderer Stelle heißt es in Auseinandersetzung mit Ciceros Beschreibung der largitas in seinem Werk de officiis,20 es zeuge „von höchster Mitmenschlichkeit und großer Barmherzigkeit, sich um diejenigen KranΛ |
ken, die keinen Beistand haben, zu sorgen und sie zu pflegen." Die sozial verstandene Philanthropie der griechischen Kirchen väter, die den Apostaten Julian wahrscheinlich veranlasste, staatliche 22
·
Xenodochien einzurichten, die Caritas, humanitas oder miseri23 cordia der lateinischen Christen, galt also prinzipiell allen Hilfsbedürftigen, darunter auch den Kranken. Die Bedeutung des Christentums fur die Entwicklung der Krankenfursorge wird im Allgemeinen anerkannt. Auch ihre Institutionalisierung durch ein Krankenhaus wird den Christen zugeschrieben, insbesondere den Christen des Ostens.24 19
Lact. epit. 60 (65), 7 (CSEL 19, 746): Redimere ab hoste captivos magnum misericordiae opus est, aegros item pauperes visere atque refovere. Der biblische Bezug wird durch den Kontext - Laktanz behandelt die Merkmale der Barmherzigkeit (misericordia) - deutlich: Vgl. ebd. 60 (65), 6 (CSEL 19, 746): Si quis victu indiget, inpertiamus, si quis nudus occurrerit, vestiamus, si quis a potentiore iniuriam sustinet, eruamus. pateat domicilium nostrum vel peregrinis vel indigentibus tecto. pupillis defensio, viduis tutela nostra non desit. 20
Vgl. Cie. off. 2, 61-64. Zur Bewertung Ciceros bei Laktanz vgl. BUCHHEIT. Lo CICERO untersucht die Beurteilung der beneficia und der liberalitas Ciceros durch Laktanz, der vor allem kritisiert, dass liberalitas bei Cicero zweckgebunden ist. Von dieser Tendenz ist aber auch die christliche Adaption der Pflichtenlehre nicht frei (vgl. unten Abschnitt 2. 2. 1). 21
Lact. inst. 6, 12, 24 (CSEL 19, 529): Aegros [...] quibus defuerit qui adsistat, curandos fovendosque suseipere summae humanitatis et magnae operationis est. Vgl. inst. 6, 11, 18 (CSEL 19, 522): largire caecis debilibus claudis destitutis; quibus nisi largiare moriendum est. 22
Julian, epist. 84 (1, 2, 145 BIDEZ). Ausführlicher dazu HILTBRUNNER (1988)
6 1 l f . V g l . KABIERSCH 7 3 - 8 1 ; THRAEDE 4 4 - 4 7 . 23
V g l . PETRE ( 1 9 3 4 ) 3 8 0 . 3 8 7 - 3 8 9 z u A m b r o s i u s u n d PETRE ( 1 9 4 8 ) z u d e n ( a u c h
unten behandelten) Begriffen beneficentia (175-199), humanitas (200-221) und misericordia 24
( 2 2 2 - 2 3 9 ) .
Vgl. NUTTON 791 f. Zur Bedeutung des arianischen Konflikts bei der Entwicklung von Einrichtungen für Bedürftige vgl. MILLER 74-88; seiner Darstellung zufol-
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Die prominente Rolle, die Origenes der Christus-MedicusMetaphorik25 sowie zahlreichen anderen Vergleichen aus der Medizin in seinen Werken gab, mag die Ursache dafür sein, dass die vielleicht erste antiorigenistische Schrift, der Dialog Über die Auferstehung des Methodios von Olympos (t 311), im Krankenhaus des Arztes Aglaophon spielt. Helena (257-337), die Mutter Kaiser Konstantins, soll nach einer späten Quelle26 ein Gerontokomeion in oder bei Konstantinopel gegründet haben, und Pachomius (292-347) hat in der Regel seines ägyptischen Klosters, die Hieronymus ins Lateinische übersetzte, ein Xenodochium sowie die Aufnahme auch kranker Besucher 27
vorgesehen. Das soziale Engagement des kappadokischen Bischofs und, vermittelt über Gregor den Wundertäter, auch Origenes-Schülers Basilius von Cäsarea ist bekannter und besser bezeugt. Die beiden Quellen, die über das Krankenhaus des Basilius berichten, ein Brief des Basilius selbst (epist. 94) und die Trauerrede des Gregor von Nazianz auf seinen Freund, erwähnen Krankenpfleger und Ärzte, die in den Herbergen fur Fremde und Kranke tätig seien.29 Hier sei die Krankheit Gegenstand der Philosophie, das Unglück werde gepriesen und Mitleid Λ Ο
ge haben die dogmatischen Streitigkeiten des 4. Jh. dazu geführt, dass die einzelnen Parteien um die Gunst der mittleren und unteren Bevölkerungsschichten konkurrierten und diese mit Hilfe karitativer Einrichtung zu gewinnen versuchten. 25
V g l . d a z u j e t z t FERNANDEZ.
26
1 0 . Jh.: P s . - K o d i n o s , Origines
27
P a c h o m i u s , Regula
28
3, 5 ( 2 1 6 PREGER). HlLTBRUNNER ( 1 9 8 8 ) 6 1 9 .
5 1 f. ( 2 6 f . BOON). HlLTBRUNNER ( 1 9 8 8 ) 6 1 8 .
Z u m K o n z e p t d e r P h i l a n t h r o p i e v g l . DAILEY; HUNGER 7 - 1 1 ; KABIERSCH. V g l .
a u s m e d i z i n h i s t o r i s c h e r S i c h t FRENSCH 4 f . ; SCHULTE-HERBRÜGGEN 6 9 - 7 2 ( z u d e m
dort 71 erwähnten, in Edessa durch Ephräm den Syrer gegründeten Hospital vgl. MILLER 2 1 f . u n d z u m , K r a n k e n h a u s ' d e s B a s i l i u s e b d . 8 5 8 8 ) . 29
Bas. epist. 94 (Übers, von HAUSCHILD): „Wem tun wir Unrecht, wenn wir Herbergen (καταγώγια) bauen fur die Fremden, welche auf der Durchreise hier anwesend sind, sowie fur die, welche krankheitshalber (δι' ά σ θ έ ν ε ι α ν ) irgendeiner Pflege bedürfen, wenn wir solchen Menschen die erforderliche Erquickung bereitstellen, Krankenpfleger (νοσοκομοϋντας), Ärzte (ίατρεύοντας), Lasttiere und Begleiter?"
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auf die Probe gestellt, 30 und Basilius habe durch sein Verhalten ge lehrt, „zur ,Therapie' auf die Körper zuzugehen." 31 Nicht nur im Osten, in Kappadokien, wurde die Krankenpflege in einem außerordentlichen Institut eingerichtet, auch im Westen gab es erste Krankenhaus-Gründungen. Eine der Frauen um Hieronymus, Fabiola, gründete in oder bei Rom in den neunziger Jahren des vierten Jahrhunderts eine Stätte zur Aufnahme und Pflege Kranker. 33 Dass diese dem Krankenhaus des Basilius recht nahe kommt, legt die Bezeichnung als νοσοκόμιον nahe. Die sonst üblichen Aufnahmehäuser fur Bedürftige aller Art werden in der Regel auch im Westen mit dem griechischen Fremdwort xenodochium beschrieben. Ferner erinnern Hieronymus' Worte über die Krankenfürsorge der Fabiola an die Beschreibung der Krankenpflege des Basilius, wenn er über sie schreibt: Et primo omnium νοσοκόμιον instituit, in quo aegrotantes colligeret de plateis et consumpta languoribus atque inedia miserorum membra refoveret. Describam nunc ego diversas hominum calamitates, truncas nares, effossos oculos, semiustos pedes, luridas manus, tumentes alvos, exile femur, crura turgentia et de exesis ac putridis carnibus vermiculos bullientes? quotiens morbo regio et paedore confectos humeris suis ipsa portavit? quotiens lavit purulentam vulnerum saniem, quam alius aspicere non audebat? Sie richtete zunächst ein ,nosokomeion' ein, in dem sie Kranke von der Straße versammelte und die Glieder dieser Elenden, die durch Auszehrung und Hunger erschöpft waren, pflegte. Soll ich 30
Greg. Naz. or. 43, 63: νόσος φιλοσοφείται και συμφορά μακαρίζεται και τό συμπαθές δοκιμάζεται. 31 Ebd.: τό προσιέναι τοις σώμασι έπι θεραπειςι. 32 Vgl. hierzu auch unten S . 1 4 9 1 7 0 den Beitrag von STEPHEN LAKE, insbesondere S . 1 6 1 1 6 7 . 33
Zu Fabiola vgl. FEICHTINGER 194199 und wiederum unten S . 149170 den Bei trag von STEPHEN LAKE. Das Datum ist unklar; nach P L R E 1, 323 starb sie um 397/400; nach N U T T O N 791 gründete sie ihr Hospital im Jahr 397, nach DISSEL KAMP 65 f. starb sie „399 oder 400" und errichtete „kurz vor ihrem Tode" das „Xe nodochium".
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jetzt die verschiedenen Leiden dieser Menschen beschreiben, ver stümmelte Nasen, leere Augenhöhlen, halb verbrannte Füße, blasse Hände, aufgeblähte Bäuche, dürre Oberschenkel, geschwollene Unterschenkel und die Würmer, die am ausgefressenen und eitrigen Fleisch erscheinen? Wie oft hat sie auf ihren eigenen Schultern die getragen, die an Gelbsucht litten oder durch Unsauberkeit krank waren! Wie oft wusch sie das eitrige Geschwür der Wunden, das ein anderer nicht einmal anzuschauen wagte!34 Auch ein weiteres Mitglied des Kreises um Hieronymus, Pammachius, nahm sich der Kranken an.35 Offenbar war mit dem vierten Jahrhundert eine Zeit angebrochen, in der nicht nur in der Lehre, sondern auch mit Taten die Sorge um die Kranken durch die Christen vorangetrieben wurde. Doch geht Hieronymus schon über die Zeit des Ambrosius, der im Jahr 397 starb, hinaus. Bei der Betrachtung der Schriften des Ambrosius sollte man aber unter den geschilderten Bedingungen den Blick auch darauf richten, ob Einrichtungen für die Kranken wie die des Basilius, mit dem Ambrosius korrespondierte, und die im Umfeld des Hieronymus, über dessen Kreis Ambrosius unterrichtet gewesen sein dürfte, 36 einen Reflex in den Schriften des Mailänder Bischofs finden.
1. 2. Ambrosius: Ein sozialer Bischof und die Kranken 1.2. 1. Bischof fur Bedürftige Die eingangs zitierten Aussagen über die Zielgruppen der sozialkaritativen Tätigkeit des Ambrosius haben angedeutet, dass er sich nach allgemeiner Ansicht für Bedürftige verschiedener Art wie auch für die Kranken einsetzte. Ausführlichere Untersuchungen über das seelsor-
34
Hier, epist. 77, 6.
35 36
NUTTON 7 9 1 . V g l . PAREDI; TESTARD ( 1 9 8 8 ) .
Ambrosius von Mailand: Ein Bischof für die Kranken?
109
• 17
gerliche Wirken des Ambrosius unterstützen die oben genannten zusammenfassenden Ausführungen. So ordnet VINCENZO MONACHINO 38 die (fraglos auch in Mailand vorhandene) Krankenfursorge zwar zu Recht in die allgemeine Armenpflege ein und bekennt, dass wir über die organisierte Caritas in der Mailänder Kirche nur wissen, dass sie in den Händen der Diakone lag. Wenn MONACHINO allerdings suggeriert, die Krankenhäuser in Caesarea und Rom machten das Vorhandensein derartiger Einrichtungen in Mailand wahrscheinlich, muss dem entgegenhalten werden, dass man solche Pflegeeinrichtungen offenbar als neuartig empfand und sie wahrscheinlich in Texten nachweisen könnte, wenn es sie in Mailand gegeben hätte. Das soziale Engagement erschließt er weitgehend aus der Schrift de qfficiis, wo der Bischof neben üblichen Formen christlicher Fürsorge für verschiedene Gruppen Bedürftiger doch gerade auf außergewöhnliche Maßnahmen wie das Einschmelzen von Altargerät für den Loskauf der Gefangenen hinweist. Auch andere Arbeiten, die sich der Sozialgeschichte widmen oder das Leben des Ambrosius darstellen, greifen allgemeine Aussagen über die Armenfürsorge auf,40 besonders diejenigen aus de qfficiis, und nennen die dort genannten Zielgruppen der kirchlichen Caritas, unter ihnen häufig auch die Kranken.41 IQ
37
Zusammenstellung der wichtigsten Literatur bei DASSMANN (1998) 181 mit Anm. 1 und 2. 38
MONACHINO 2 6 4 - 2 7 9 .
39
Vgl. unten Kapitel 2. 2. Anders als MILLER, der 86 u.ö. betont, Gregor von Nazianz weise nirgends darauf hin, dass das von Basilius von Caesarea eingerichtete Krankenhaus etwas Neues sei, glaube ich, dass man aus dem Bericht zumindest herauslesen kann, dass diese Einrichtung etwas Ungewöhnliches und auch Neuartiges war; das bedeutet nicht, dass dies die erste Einrichtung dieser Art gewesen sein muss. 40
Z . B . MAZZARINO 2 6 - 3 0 .
41
Z.B. SAVON (1997) 48f.; PASINI 168, der allerdings implizit politische Gründe geltend macht, um eine gerechte Verteilung von Reichtum als wichtigen Gegenstand der Predigt des Ambrosius zu begründen, und sich u.a. auf in psalm. 118 serm. 8, 54 (CSEL 62, 184f.) beruft (vgl. unten Abschnitt 2. 1. 6). Die Kranken fehlen jedoch in der Studie v o n HUHN.
110
Alfred Breitenbach
Die große Rolle, die offenbar der Schrift de ojjiciis für die Bezeugung kirchlicher , Sozialarbeit' zur Zeit und unter Ambrosius in Mailand zukommt, rechtfertigt und begründet eine detaillierte Untersuchung der einschlägigen Textpassagen dieses Werks.
1.2.2. Leib und Medizin Nicht nur die pastorale Sorge des Bischofs Ambrosius empfiehlt ihn für die vorliegende Untersuchung, sondern auch die Tatsache, dass man sowohl den Stellenwert der Medizin als auch das Verhältnis von Leib und Seele in seinem CEuvre bereits geprüft hat.42 Ist aber die Bedeutung erfasst, die der Mailänder Bischof dem Körper als solchem beimisst, kann man auch seinen Umgang mit dem kranken Körper leichter verstehen. Die Schwachheit und Vergänglichkeit des Leibes wird für Ambrosius durch die Anfälligkeit für Krankheiten sichtbar.43 Gerade in der Menschwerdung und der durch sie beabsichtigten Erlösung des Menschen zeigt sich aber: Die Verbindung von Leib und Seele ist untrennbar und für die Natur des Menschen konstitutiv,44 ungeachtet einer Höherwertigkeit der Seele in dieser Komposition. Im Paradies wusste der Mensch noch nichts von der Schwäche und Trägheit des Leibes; erst durch den Sündenfall wurde er der Seele zur Last.45 Der durch die Sünde bedingte „Zwiespalt Geist - Fleisch" besagt u.a., dass körperliche Anfechtungen, darunter die Krankheit, die Seele schwächen;46 so ist aber der von Gebrechen geplagte Leib auch Mittel für die Seele, durch Askese und duldendes Ertragen Heil zu erwerben.47 Man muss daher versuchen, das Hindernis Leib, das den Weg der 42
SEIBEL; BROWN 3 4 9 - 3 7 2 .
43
SEIBEL 17 mit Hinweis auf Hex. 6, 6, 39.
44
SEIBEL 3 6 - 3 8 ( m i t H i n w e i s a u f in L u c . 2 , 7 9 ) . 9 7 f .
45
Vgl. SEIBEL 85f. (mit Hinweis auf in Psalm. 118 serm. 4, 2 [CSEL 62, 68f.]).l 18f.
46
47
V g l . SEIBEL 1 3 0 . 1 3 6 . V g l . SEIBEL 1 8 9 .
Ambrosius von Mailand: Ein Bischof für die Kranken?
111
Seele zu Gott beschwerlich macht, in den Griff zu bekommen;48 die Mensch und Fleischwerdung Christi gab die Hoffnung, dass die Zügelung des Fleisches möglich ist. Medizinische Sachverhalte zieht Ambrosius vorwiegend heran, um die Teleologie der Schöpfung zu erweisen; Arzt und Kranker dienen dagegen meist dazu, das Verhältnis Gottes zum Menschen zu verdeutlichen. Bei Schlussfolgerungen sollte man vor allem die letztgenannte Bildebene nicht 1 : 1 in die Realität übertragen,49 also etwa die misericordia als Beweggrund ärztlicher Therapie annehmen.50 Ähnlich verhält es sich mit der compassio, deren Bedeutung beim Aufruf zu tätiger Nächstenliebe unbestritten ist. Ob Ambrosius zu dieser tätigen Nächstenliebe aber tatsächlich eine Krankenfursorge zählt,51 die über deren traditionelle Ausübung hinausgeht, muss eingehender untersucht werden. Wichtig ist die Beobachtung, dass neben der Fürsorge durch den Arzt und die anderen Menschen als entscheidende Bedingung für die körperliche Heilung der Glaube vorausgesetzt wird.52 Schließlich sei auf die Studie DÖNNIES hingewiesen, der eine Zielgruppe der misericordia, die alten Menschen, und deren Rolle bei ausgewählten Kirchenvätern der Spätantike untersucht. Das Alter ist auch für die Kirchenväter eine Zeit, in der körperliche Gebrechen zu-
48
V g l . B R O W N 3 5 6 .
49
Vgl. etwa MÜLLER (1964) 42: „Die Wertschätzung des Arztes muss also seiner idealen Aufgabe gegolten haben, der Erhaltung des Körpers als ,Kleides der Seele'. Diese Anschauung tritt immer stärker neben Christus, den Arzt, und bestimmt we sentlich Bild, Forderung und Inhalt des Berufs. Beides musste aber in Relation tre ten: ärztliches Handeln konnte nicht anders als gottgebunden sein." Es handelt sich bei Ambrosius' Äußerungen um Bilder aus der Tätigkeit des Arztes, die das Han deln Gottes verdeutlichen sollen, und nicht um „Vorschriften" für den Arzt (vgl. MÜLLER [1964] 66; eine Relativierung findet erst ebd. in den Ergebnissen 79-81 statt). 50
S o M Ü L L E R ( 1 9 6 4 ) 5 2 .
51
NAGEL 30-34. Ein Großteil der angeführten Stellen ist dem Lukaskommentar de officiis entnommen. 52
und
MÜLLER (1964) 72-75, auch mit unten ausführlicher behandelten Passagen aus in
L u c . ; N A G E L 3 7 .
112
Alfred Breitenbach
nehmen.53 Dabei sind die Ergebnisse der Arbeit, die Ambrosius be treffen, sehr aufschlussreich: Es gibt so gut wie keine Aussage des Mailänder Bischofs zu eigenen Altersbeschwerlichkeiten, sei es, weil er keine hatte,54 sei es, dass „es ihm [...] gelungen war, seine körperlichen Empfindungen vollends zu sublimieren."55 Letztgenannte Annahme könnten Aussagen stützen, die der körperlichen Krankheit geradezu heilbringende Wirkung zusprechen, etwa dass „die Krankheit des Fleisches die Sünde fernhält"56 oder dass die Schwäche des Alters den Hochmut (iactantia) verdrängt und Demut (humilitas) lehrt.57 Natürlich ist trotz dieser Haltung eine kirchlich organisierte Krankenfursorge für Mailand anzunehmen, wobei in dieser Hinsicht den WitCO
wen eine erhebliche Bedeutung zukam; nicht zu unterschätzen dürfte aber die Entwicklung sein, die aus der karitativ tätigen Witwe eine Asketin und Klosterfrau werden lässt.59
1.3. Lukas und Cicero Anhand einer exegetischen und einer systematischen Schrift des Ambrosius soll exemplarisch untersucht werden, welchen Stellenwert der Mailänder Bischof der Sorge um die Kranken gibt. Als systematische Schrift wurde die ethische Abhandlung de officiis, als exegetische der Kommentar zum Lukasevangelium ausgewählt. 1) Schon sehr früh, spätestens seit Eusebius, den Ambrosius in seinem Lukaskommentar streckenweise ausführlich benutzt, haben kirchliche Schriftsteller den Verfasser des Lukasevangeliums mit dem 53
DÖNNI 65-69.
54
Vgl. aber Paul. Med. vita Ambr. 38.
55
56 57
DÖNNI 5 4 f .
Ambr. paenit. 1, 13, 63 (CSEL 73, 148); DÖNNIE 68.
DÖNNI 6 9 .
58
DÖNNI 179-184.
59
183. Insofern ist die Schlussfolgerung von SCHWEIKARDT/SCHULZE, aus dem Diakonissenamt habe sich sozusagen automatisch ein Stand von Krankenpflegern ergeben, nicht unproblematisch.
DÖNNI
Ambrosius von Mailand: Ein Bischof für die Kranken?
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Arzt Lukas60 des Kolosserbriefs (Col 4, 14) identifiziert und in der Folge nach Zeichen für die ärztliche Tätigkeit des Lukas in den beiden ihm zugeschriebenen neutestamentlichen Schriften gesucht. So war noch ADOLF HARNACK. überzeugt davon, „dass in keinem anderen Evangelium die Thätigkeit Jesu als des Arztes für Leib und Seele so geflissentlich und so liebevoll nacherzählt ist, wie in dem dritten Evangelium."61 Diese Betonung ärztlicher Tätigkeit empfiehlt den ambrosianischen Lukaskommentar für eine Untersuchung der Rolle kranker Menschen in der Exegese des Kirchenmanns. Einen zweiten Grund bilden die Adressaten des Werkes: Während im Allgemeinen ein gebildetes Publikum als Adressat von Kommentaren angenommen werden darf, ist der Lukaskommentar möglicherweise ein Sonderfall, da er in weiten Teilen aus bereits vorhandenen Predigten erstellt worden ist.63 Insofern darf man auch die Gemeinde, der die Perikopen über die Heilungen vorgetragen und ausgelegt wurden, zumindest als ursprünglichen Adressaten der Ausführungen des Ambrosius ansehen. Dass Ambrosius in seinen Kommentar auch Handlungsanweisungen einstreut, hat etwa G E R D DÖNNIE für den Umgang mit alten Familienmitgliedern gezeigt.64 Allerdings steht auf der anderen Seite die starke Tendenz des Ambrosius zur allegorischen Auslegung auch der heilenden Tätigkeit Christi.65 Es wird sich zeigen müssen, inwieweit
60
V g l . d a z u HARNACK 3 7 - 4 0 [ 1 - 4 ] .
61
HARNACK 3 7 f . [ l f . ] .
62
FUHRER 4 3 7 .
63
GRAUMANN 1 0 A n m . 3 5 ; 1 6 - 2 7 .
64
DÖNNIE 189f. mit Hinweis auf Ambr. in Luc. 8, 75f. DÖNNIE stellt 139 fest, dass die Heilige Schrift von der Frühkirche „nicht nur als Arbeitsunterlage der Theologen verstanden" wurde, „sondern auch als ein Buch, dem durchaus Anweisungen für das Verhalten im Alltag zu entnehmen sind." 65 GRAUMANN 333: „Ambrosius versucht [...] auf dem Weg der Allegorese das Heilen aus seiner jeweiligen Partikularität zu lösen und als symbolisch verdichtete Darstellung des umfassenden Heilswirkens und als proleptische Vorwegnahme der endzeitlichen Heilszueignung in der Auferstehung aufzuschließen."
114
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der moralische Schriftsinn in seiner handlungspragmatischen Dimen sion gegenüber einer spirituellen Auslegung zur Geltung kommt.66 2) Die Anlehnung des Ambrosius an Ciceros Pflichtenlehre in seinem gleichnamigen Werk bietet die Möglichkeit, auf dem Weg der Gegenüberstellung67 mit dieser nichtchristlichen Abhandlung Veränderungen im Bild des Kranken bei Ambrosius zu erfassen. Hinzu kommt, dass Ambrosius die um die Jahre 386-389°° verfasste Schrift 69 an seine geistigen Söhne oder Kinder70 richtet. Damit dürfte er angehende oder junge Kleriker ansprechen;71 das ist fxir die folgende Untersuchung deshalb von Bedeutung, weil in diesem Fall die Kranken nicht nur als abstrakte Gruppe, sondern als Objekt der kirchlichen Pastoral und des Gemeindelebens in den Blick genommen werden und die Krankenfursorge nicht nur im theoretischen Raum bleibt, sondern im Kanon der konkreten Aufgaben der Gemeindekirche steht.72 Man kann daher auch den Umgang mit zwei verschiedenen Adressatengruppen beobachten: Die dem Lukaskommentar zugrunde liegenden Predigten richten sich an die Gemeinde, die Schrift de officiis mit ihrer christlich geprägten Ethik an angehende Priester. Die 66
Die Bearbeitung eines exegetischen Werkes des Ambrosius sieht sich natürlich einer Fülle von Literatur und bereits behandelten Problemen ausgesetzt; dazu gehören auch die Grundsätze der ambrosianischen Exegese, etwa der mehrfache Schriftsinn; vgl. SAVON (1977) zu den Beziehungen der ambrosianischen Exegese zu der Philons von Alexandrien; PIZZOLATO zu exegetischen Grundtendenzen des Bischofs; GRAUMANN 115 zum Forschungsstand Uber ambrosianische Exegese; CORSATO 1364 zur exegetischen Technik des Ambrosius mit neuerer Literatur und Berücksichtigung der unterschiedlichen ,Schriftsinne'. 67
Forschungsüberblick bei SAUER IVI. Vgl. SAVON 246; TESTARD (1984) 4449; auch der Lukaskommentar fällt in die se Zeit, vgl. M. ZELZER (1998) 90. 69 Ambr. off. 1, 1; vgl. M. ZELZER (1987) 219. Zu Ciceros Sohn Marcus als Adres sat von dessen Schrift de officiis (Cie. off. 1, 1) vgl. TESTARD (1962); TESTARD (1995) 7f.; DYCK 1016. 68
70
Ambr. off. 1,2.
71
Z u A m b r o s i u s ' A d r e s s a t e n v g l . TESTARD ( 2 0 0 0 ) V I I ; SAUER 1 4 ; TESTARD
( 1 9 8 4 ) 2 6 2 8 . 72
Zur intendierten weiteren Verbreitung vgl. K. ZELZER 189 mit Anm. 40.
Ambrosius von Mailand: Ein Bischof für die Kranken?
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unterschiedlichen Adressaten können die Aussagen auch über die Rolle der Kranken beeinflussen.
Zweiter Teil: Die Kranken in Ambrosius' Lukaskommentar und de officiis 2. 1. „Ein Arzt muss gesucht werden ...": Die Auslegung des Lukasevangeliums Die Bücher 1-3 des Lukaskommentars behandeln den Prolog, die Kindheitsgeschichte sowie den Stammbaum Jesu. Mit dem vierten Buch beginnt die Kommentierung des Auftretens Jesu in der Öffentlichkeit. Die Bedeutung des Einschnitts, den das vierte Buch bildet, markiert auch die Einleitung durch ein „Birmenproömium".73
2. 1. 1. Krankheit als Prüfung Das vierte Buch behandelt im ersten Teil die Versuchungen Jesu in der Wüste (4, 7-36). Ambrosius schließt diesen Teil mit Bemerkungen zum Sieg Jesu über den Teufel ab und weist die Gläubigen darauf hin, dass auch ihnen, nach bestandener Versuchung oder Prüfung, 74 als „Preis ... das Reich Gottes und Christi Erbe winke";75 Versuchung sei
G R A U M A N N 294f. Anm. 1. Im Folgenden werde ich mich zunächst auf die Kran kenheilungen im vierten und fünften Buch des Lukaskommentars beschränken. Sie zeigen beispielhaft, welche Bedeutung den Kranken und der Heilung für Ambrosius im Rahmen einer EvangelienErklärung zukommt. 74 Im Vorhergehenden betont Ambrosius, dass Jesus einen wirklichen, schwachen Körper gehabt habe (in Luc. 4 , 16; vgl. auch SEIBEL 1 5 9 ) . Dieser ist zum einen das Instrument, mit Hilfe dessen er den Teufel überlisten kann (ebd.: fames domini pia fraus est), zum anderen bietet er den Gläubigen aber auch ein erreichbares Vorbild; vgl. G R A U M A N N 305307; BARTELINK 134f. 75 Vgl. Ambr. in Luc. 4, 37. Ähnlich Orig. in Luc. hom. 29, 7 (FC 4, 2, 304). 73
Alired Breitenbach
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gleichsam die causa victoriae, die materia triumphorum.76 Das be deutet aber: Ohne Versuchung und Prüfung keine Bewährung. Damit ist zugleich die exegetische Linie für das Thema Krankheit vorgegeben: Ambrosius stärkt die Hoffnung seiner Leser, indem er biblische Beispiele überstandener Prüfung anführt, 77 so auch Lazarus und den reichen Prasser: Dives ille, qui temptationem non sensit in saeculo, in poenis est apud inferos, pauper ille Lazarus, qui ita paupertate morboque adflictus est et adtritus, ut vibices eius a canibus lamberentur, vitae istius labore miserabilis coronam gloriae quaesivit aeternae (vgl. Lc 16, 19-31); multae enim tribulationes, non quorumcumque, sed iustorum (Ps 33, 20). Denique quos diligit dominus saepe castigat (vgl. Hbr 12, 6; Prov 3, 12). Jener Reiche, der in der Welt keine Prüfung verspürte, wird in der Hölle bestraft, jener arme Lazarus, der so durch Armut und Krankheit angegriffen und geplagt wurde, dass die Hunde seine Beulen leckten, erwarb sich mit der Mühe dieses armseligen Lebens die Krone ewigen Ruhmes; zahlreich sind nämlich die Mühen nicht aller, sondern der Gerechten. Und die der Herr liebt, die züchtigt er oft.78 Ambrosius führt ebenfalls das Exemplum des Hiob an. Hiob werden Besitz, Nachkommenschaft und auch Gesundheit geraubt. Körperliche Gesundheit steht also in einer Reihe mit Bereichen wie Wohlstand und Familie: Non unum telum diabolus habet, frequentat spicula, ut aut praemio vincat aut taedio. Primo cupiditate vulnerat, secundo pietate, tertio sanitate; mentis enim pariter et corporis pugnat ulceribus.
76
Ambr. in Luc. 4, 37.
77
Vgl. G r a u m a n n 314.
78
Ambr. in Luc. 4, 38.
Ambrosius von Mailand: Ein Bischof für die Kranken?
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Der Teufel hat nicht nur ein Geschoss, er vermehrt seine Pfeile, auf dass er entweder um Lohn oder aus Überdruss siegt. Zunächst verwundet er durch Begierde [sc. nach Besitz], dann in der from men Liebe [sc. zur Familie], als drittes an der Gesundheit; denn er kämpft gleichzeitig mit Wunden des Geistes und des Körpers. 79
Der dreistufige Angriff des Teufels an dieser Stelle bot sich für Ambrosius in besonderer Weise als Vergleich an, denn auch in der Wüste versuchte der Teufel Jesus dreimal; Ambrosius hatte das vorher80 mit den Stichworten gula, iactantia und ambitio umschrieben und diese Verlockungen als tela bezeichnet. In der Bewertung der Krankheit löst sich Ambrosius hier vom Tun-Ergehen-Zusammenhang und wählt sich dabei als Bezugspunkt das Buch Hiob, die Schrift des Alten Testaments, die als einzige die Einordnung der Krankheit in diesen Zusammenhang in Frage stellt.81 Wer krank ist, der wird einer Prüfung unterzogen; wer diese Prüfung besteht, der kann den Siegespreis davontragen. Dies wird unterstrichen durch das Beispiel der Märtyrer, deren Ruhm erst durch das Leiden entsteht: „Nimm weg die Kämpfe der Märtyrer, und du hast ihre Siegeskronen weggenommen! Nimm weg die Marter, und du hast ihre Ο Λ
Seligkeiten weggenommen!" Krankheit kann für einen Menschen also schlicht eine Prüfung sein; sie muss nicht die Folge sündhaften Verhaltens bedeuten. Wie das Beispiel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus zeigt, hat irdisches Wohlergehen nicht selten ewige Verdammnis zur Folge.83 79
Ambr. in Luc. 4, 39.
80
Ambr. in Luc. 4, 17; vgl. GRAUMANN 3 0 8 . 3 1 3 .
S E Y B O L D / M Ü L L E R 63-69.76f. Ambr. in Luc. 4, 41: Tolle martyrum certamina, tulisti coronas; tolle cruciatus, tulisti beatitudines. 83 Vgl. B A S K I N 226f. mit Hinweis auf Ambr. in Luc. 4, 38. Zur Singularität des Hi obBildes des Ambrosius in der patristischen Literatur vgl. D A S S M A N N ( 1 9 9 1 ) 400 402 und B A S K I N 223 f. Nur am Rande sei bemerkt, dass die Bereiche der Prüfung des Hiob auch mit der Lebenssituation Christi verglichen werden. Christus hat freiwillig keinen Besitz erworben, um ihn nicht verlieren zu können; er hat freiwillig keine Kinder in die Welt gesetzt, damit er als der Vater aller Menschen gelten konnte. 81
82
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Alfred Breitenbach
2 . 1 . 2 . Ohne Glauben keine Heilung A u f die Versuchung folgt die Perikope von Jesu Predigt in der Synagoge. Der Kirchenvater geht dabei auf die Heilung des aussätzigen Syrers Naaman ein und stellt heraus, dass der Glaube und der Wille des Menschen, geheilt zu werden, grundlegend fur eine körperliche Heilung seien: Evidenter hic sermo nos domini salutaris informat et ad Studium venerandae divinitatis hortatur, quod nemo sanatus ostenditur et maculosi morbo corporis absolutus nisi qui religioso officio studuit sanitati [...] Cur igitur non curabatfratres, non curabat cives, non sanabat propheta consortes, cum sanaret alienos, sanaret eos qui observantiam legis et religionis consortium non habebant, nisi quia voluntatis est medicina, non gentis, et divinum munus votis elicitur, non naturae iure defertur? Offenkundig belehrt uns diese heilsame Rede des Herrn und er mahnt uns zum Eifer in der Verehrung des Göttlichen, denn keiner wird als geheilt und von der Krankheit eines aussätzigen Körpers befreit gezeigt außer dem, der sich in religiösem Streben um Gesundheit bemüht hat. [...] Warum also sorgte der Prophet sich nicht um die Brüder, nicht um die Bürger, heilte nicht seine Schicksalsgenossen, während er andere heilte, diejenigen heilte, die nicht das Gesetz beachteten und nicht die gleiche Religionszugehörigkeit hatten? Doch nur deswegen, weil die Heilung (medicina) Sache des Willens, nicht des Geschlechtes ist und ein göttliches Geschenk durch Bitten, nicht durch das Recht der Natur erreicht wird. 84
Aber, und das ist bemerkenswert, körperliches Leid als mögliche Prüfung schließt Ambrosius mit den Worten aus: „Vergeblich würde man den mit Wunden am Körper in Versuchung fuhren, der alle Leiden des Körpers verachtete." (Ambr. in Luc. 4, 39). 84 Ambr. in Luc. 4, 49.
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Krankheit kann also geheilt werden, man muss es nur wollen. Dies kann (und soll) im christlichen Glauben geschehen, denn die Wirkung der Heilung ist in erster Linie von göttlichem Willen abhängig.85 Ambrosius schließt die Bemerkung an, diese „einfache Auslegung" {simplex expositio) sei zwar lehrreich, doch er wolle auch das keineswegs tief verborgene Geheimnis ansprechen, das in diesen oz·
#
Worten liege. Und er fuhrt eine allegorische Auslegung an, die unter anderem Naaman als den Typus der künftigen getauften Heiden ver87 steht, eine Auslegung, die in der älteren christlichen Tradition steht.
2. 1.3. Krankheit des Körpers ist Krankheit der Seele Die ersten Heilungen an einem Besessenen und an der fiebrigen Schwiegermutter des Petrus versteht Ambrosius als Anzeichen eines universalen Heilsanbruches: Dass sich Jesus zuerst dem Mann und oo
dann der Frau zuwendet, sei eine Parallele zur Schöpfung. Auch dass das erste Heilswirken an einem Sabbat stattfindet, ist für Ambrosius Zeichen des Anknüpfens an das Schöpfungsgeschehen und gleichzeiÄO
tig der Macht Jesu über das alttestamentliche Gesetz. Die Heilung eines Menschen90 von einem bösen Geist deutet Ambrosius als Heilung der Seele, die Befreiung der Schwiegermutter des Petrus vom Fieber als Heilung des Körpers. Gott ist so der Arzt des Körpers und der Seele.
85
Vgl. Ambr. sacr. 1, 15; myst. 4, 19 und oben Abschnitt 1. 2. 2. Ambr. in Luc 4, 50. 87 Vgl. Orig. in Luc. hom. 33, 5 (FC 4, 2, 335); in Joh. comm. 6, 242-245 (SC 157, 314-316); BAUER (1998) 705f. 88 Ambr. in Luc. 4, 57. 89 Ambr. in Luc. 4, 58; vgl. SEIBEL 152f. 90 Dieser Besessene kann nach in Luc. 4, 61 auch das Volk der Juden symbolisieren. 86
120
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Diese Differenzierung wird zwar erwähnt, aber nicht weiter verfolgt: Die Begriffe Fieber und Arzt91 werden vielmehr allegorisch ausgelegt: Fortassis etiam in typo mulieris illius socrus Simonis et Andreae variis criminum febribus caro nostra languebat et diversarum cupiditatum inmodicis aestuabat inlecebris. Vielleicht krankte unser Fleisch, nach dem Bild jener Frau, der Schwiegermutter des Simon und Andreas, an allerlei Fiebern der Vergehen und war erhitzt durch die maßlosen Lockungen der verschiedenen Begierden. 92
Ambrosius fuhrt anschließend als Beispiele fur Sündenfieber93 das „Liebesfieber" (libido),94 die Genusssucht (luxuria) und den Zorn (iracundia) an. Das alles seien zwar corporis vitia, schlimmer aber sei, dass sie nicht nur die Glieder (ossa), sondern Geist, Gemüt und Sinne {mens, animus, sensus) in Mitleidenschaft zögen. Dieses Sündenfieber also, das Leib und Geist zugleich erfasse, bedürfe der Heilung. Quaerendus est medicus, ein Arzt müsse gesucht werden, „der die Wunden des verletzten Geistes heilt."95 Unausgesprochen wird Jesus Christus als dieser Arzt suggeriert, der den Menschen von den Sünden befreit.
91
Vgl. Ambr. in Luc. 4, 58: sabbato medicinae dominicae opera coepta. Ambr. in Luc. 4, 63. Zur Allegorie Eva - Fleisch an dieser Stelle vgl. SEIBEL 78f. 93 Vgl. Hier, in Matth. 1, 8, 14f. (SC 242, 158). 94 Die Deutung des Fiebers als Ausdruck leiblicher Begierden war gerade im Westen im 4. Jahrhundert offenbar verbreitet; vgl. HORN 903 mit Hinweis auf Aug. serm. 9, 9 (CCL 41, 126): sic avaritia, sic libido, sic odium, concupiscentia, luxuria, sic nugacitas spectaculorum, febres sunt animae tuae und zum Fieber aufgrund sexueller Ausschweifung Hier, tract, in Marc. 1, 13-31 (CCL 78, 470). 92
95
Ambr. in Luc. 4, 67: Quaerendus est medicus. Sed quis iste tantus est, qui sauciae mentis medeatur ulceribus? Quis tantus est homo, qui possit aliis subvenire, cum sibi ipse non possit?
Ambrosius von Mailand: Ein Bischof fiir die Kranken?
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2. 1.4. Heilung des Körpers ist sekundär Im fünften Buch bespricht Ambrosius, dem Lukanischen Evangelientext folgend, eine Reihe von Heilungen und Heilungswundern. Bei der Heilung eines Aussätzigen (Lc 5, 12-15) weist der Kranke zunächst eine Eigenschaft auf, die Ambrosius schon früher als notwendig für die erfolgreiche Gesundung benannt hatte: Er ist gläubig.96 Anschließend wird darauf hingewiesen, dass die fehlende Ortsangabe die geographische Ungebundenheit und Universalität der Heilungen Jesu bezeichne. Der Aussätzige wird zunächst als Gläubiger vorgestellt, der sich an den Inkarnierten mit den Worten „Wenn du willst, so kannst du mich gesund machen" wendet. Mehrmals betont Ambrosius die Übereinstimmungen mit der Schöpfung, so auch wenn er die Worte Jesu „Ich will, sei rein" mit den Schöpfungsworten „Er sprach, und es ward" parallelisiert. An das Wort, so Ambrosius, habe sich auch die Tat angeschlossen: Der Aussatz wich von dem Kranken. Die Art der Heilung, die Berührung des Kranken, ist nach Ambrosius Zeichen der Überwindung des Gesetzes, drückt aus, dass Jesus über dem Gesetz steht. Der Aussatz, so Ambrosius gegen Ende der Auslegung dieser Perikope, sei der Aussatz der Gottlosigkeit. Die folgende Erzählung von der Heilung eines Gelähmten (Lc 5, 17-26) stellt die Aussageabsicht des Ambrosius noch einmal konzentriert dar: Das Gebet ist das Heilmittel für die Kranken, das der Erlöser ihnen und ihren Helfern vorschreibt. Anstelle von Ärzten solle jeder Kranke „Fürbeter, die um sein Heil bitten, hinzuziehen," damit durch sie „die aufgelöste Zusammenfugung unseres Lebens und die trägen Spuren unserer Taten mit dem Heilmittel des himmlischen 07
Wortes wiederhergestellt werden." Wiederholt weist Ambrosius auf die Notwendigkeit des Gebets im Falle der Krankheit hin (in Luc. 5, 96
Ambr. in Luc. 5, 2. Ambr. in Luc. 5, 10: Primum omnium [...] unusquisque aeger petendae precatores salutis debet adhibere, per quos nostrae vitae conpago resoluta actuumque nostrorum clauda vestigia verbi caelestis remedio reformentur.
97
122
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11: disce qui aeger es inpetrare) und legt in einem entscheidenden Satz dar, wie er die Heilungen des Evangeliums seiner Gemeinde nahe bringt: Et quamvis historiae fidem debeamus non omittere, ut vere paralytici istius corpus credamus esse sanatum, cognosce tarnen interioris hominis sanitatem, cuipeccata donantur. Obgleich wir den Glauben an die Geschichtlichkeit des Vorgangs nicht übersehen dürfen, dass wir also glauben wollen, dass der Körper dieses Gelähmten wirklich geheilt wurde, erkenne trotzdem die Gesundheit des inneren Menschen, dem die Sünden vergeben werden.98 Von größerer Bedeutung ist für Ambrosius die Heilung des inneren Menschen; er möchte zwar nicht so weit gehen und die reale, körperliche Heilung leugnen, wichtiger aber ist, dass körperliche Gesundheit Ausdruck geistig-seelischer Reinheit ist. So kann Ambrosius die leibliche Heilung neben der Sündenvergebung, die Heilung der Seele neben der des Körpers, als Zeichen für Erlösung und für leibliche Auferstehung sehen: Heilung eines Kranken ist hier Zeichen für die Auferstehung des Fleisches."
2. 1. 5. Die am Leibe Kranken: Kein Thema der Predigt des Ambrosius Eine Fülle von weiteren Textstellen führt diese Auslegungstendenz weiter: Mit Blick auf das Schriftwort „Nicht die, die gesund sind, brauchen einen Arzt, sondern die, denen es schlecht geht," 100 bemerkt der Bischof u.a., der neue Arzt Christus behandle mit seinem Medikament zwar auch die (körperliche) Wunde, vor allem aber die Ursa98 99 100
Ambr. in Luc. 5, 12. Ambr. in Luc. 5, 13. Ambr. in Luc. 5, 18; vgl. Lc 5,31.
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che der Wunde, also die Sünde;101 den (ehemaligen) Zöllner Levi lässt Ambrosius darum bitten, der Arzt Jesus möge ihm den Eiter seiner 1
Sünden mit dem großen Messer herausschneiden; Heilungen werden als Befreiung von der Begierde und Abwendung der Blindheit des Unrechts sowie als Zurüstung für den Himmel interpretiert,103 die Krankheit als Behinderung des Strebens nach Gerechtigkeit;104 die blutflüssige Frau und die Tochter des Jairus sind Bilder für die Kirche, die nun zum Glauben gefunden hat und so geheilt ist.105 Nur gelegentlich kann die körperliche Heilung in ihrem Eigenwert erahnt werden, doch dann bleibt eine solche Aussage eher verloren stehen.106 Wenn Ambrosius im Kontext von Krankenheilungen paränetische Aufforderungen an die Gemeinde richtet, sind erstaunlicherweise die Kranken nicht das Ziel der Fürsorge; so werden nach der Heilung einer verdorrten Hand am Sabbat (Lc 6, 6-11) auch die Gesunden aufgefordert, wie der Kranke ihre Hand auszustrecken, und zwar: ad illum pauperem qui te obsecrat; ut proximum iuves; ut viduae praesidium feras, eripias iniuriae quem vides iniustae contumeliae subiacere; ad deum pro peccatis tuis.107 Der Arme, der Nächste, die Witwe und der Unrecht Erleidende sind die Gruppen, an die Ambrosius denkt, nicht aber die Kranken. Zwar weist Ambrosius bei der Heilung des Dieners des Hauptmanns von Kapharnaum darauf hin, dass diese ein Vorbild 101
Ambr. in Luc. 5, 19. Ambr. in Luc. 5, 27. 103 Ambr. in Luc. 5, 46 zu Lc 6, 17-19. 104 Ambr. in Luc. 5, 56; vgl. 9, 29 das (vielleicht auf Origenes zurückgehende) Bild vom carcareum corpus. 105 Ambr. in Luc. 6, 56f.; vgl. ebd. 6, 69. Auch die gekrümmte Frau von Lc 13, ΙΟΙ 7 ist Ambr. in Luc. 7, 173 quasi ecclesiae figura; 8, 24 wird ihre Heilung als Sündenvergebung gedeutet. Vgl. BONNEY 126f. 106 So Ambr. in Luc. 6, 69 am Ende der Satz et si qui corporalis gerunt ulcera passionis, his medicinam suam libenter indulgent. Doch auch hier ist körperliches Leiden nur in einem übertragenen Sinne zu verstehen; nach weiteren Hinweisen auf körperliche Heilung in 6, 70 folgt 6, 71 der Satz ubique igitur mysterii ordo servatur, ut prius per remissionem peccatorum vulneribus medicina tribuatur, postea alimonia mensae caelestis exuberet [...]. 107 Vgl. Ambr. in Luc. 5, 40. 102
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für die Sorge auch um die Niedrigen (humiliores) sei;108 dass es sich um eine Krankenheilung handelt, ist dabei jedoch nur ein Akzidens, denn in dem Diener zeigt sich doch der populus nationum, qui mundanae servitutis vinculis tenebatur, aeger letalibus passionibus beneficio domini sanandus;109 die allegorische Auslegung der Perikope vom barmherzigen Samariter schließt mit einem Lob der compassio ab,110 in dem Ambrosius auffordert, den zu lieben, „der mitleidet mit der Mittellosigkeit des anderen wegen der Einheit des Körpers;"111 die zwei Denare, die der Samariter pro sanitate hominis vulnerati hinterlässt, bedeuten die beiden Testamente, durch die unsere Wunden · · geheilt werden. 119 Der Blinde bei Jericho ist fur Ambrosius wohl ein Beispiel für einen Armen {pauper), seine Heilung verdankt er jedoch 111 seinem Glaubensbekenntnis. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Verweis, dass man seine humanitas für pauperes et debiles einsetzen solle.114 Dies könnte man tatsächlich als Aufforderung zur Sorge auch um körperlich Geschwächte verstehen, würde nicht schon bald darauf die Ansicht vertreten, dass die Krankheit gewissermaßen positive Folgen zeitigt; denn wenn Lc 14, 21 auch an Kranke die Einladung zu einem Festmahl ergeht, heißt das möglicherweise, dass „keinen (sc. seine)
108
Ambr. in Luc. 5, 84. Ambr. in Luc. 5, 83. 1,0 Vgl. oben Abschnitt 1 . 2 . 2 . 1 '' Ambr. in Luc. 7, 84: qui inopiae alterius corporis unitate compatitur (Ambrosius hatte zuvor das Bild von dem Haupt Christus und den Menschen als Gliedern gebraucht); eine moralische Aufforderung dagegen in der Auslegung paenit. 1,11; vgl. 109
MONSELEWSKI 5 6 . 112
Ambr. in Luc. 9, 18. Ambr. in Luc. 8, 83: ut crederemus nisi confitentem non posse sanari zu Lc 18, 35-43. 114 Ambr. in Luc. 7, 195 zu Lc 14, 12f.; ein sich anschließender Hinweis darauf, dass es Zeichen der Habsucht sei, wenn man nur denen gegenüber gastfreundlich ist, die es einem zurückerstatten können, erinnert an de officiis (s. unten Abschnitt 2. 2. 113
4).
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körperliche Schwachheit vom Reich (sc. Gottes) ausschließt und der seltener sündigt, dem die Anreize zu sündigen fehlen."115
2. 1.6. Zusammenfassung Dass sich der Jesus des Lukasevangeliums der Kranken annahm und sie heilte, ist für den Ausleger Ambrosius kein Anlass, seine Gemeinde oder seine Leser zur Fürsorge für die kranken Gemeindemitglieder aufzurufen. Selbst wenn er ausdrücklich die Heilung körperlicher Gebrechen bespricht, ist körperliche Krankheit nur eine Nebensache. Die fides historiae wird nicht in Frage gestellt, eine Krankheit wurde wirklich geheilt. Aber der Gedanke an das innere Heil, die seelische Gesundheit stellt das körperliche Wohlbefinden weit in den Schatten.116 „Hinfälligkeit und Krankheit schwächen das mit Misstrauen betrachtete, da begehrende Fleisch, verhindern Sünden durch Gelegenheit zur Sünde und haben daher Anteil am Heilsgeschehen."117 Berücksichtigt man den Wert, den Ambrosius im Allgemeinen auch dem moralischen 1 1 Κ
Gehalt der Schrift beimisst, sucht man bei ihm beinahe vergeblich die Sorge um den kranken Nächsten. Auch wenn andere exegetische Schriften hier nicht systematisch untersucht wurden, scheint es eine Ausnahme zu sein, wenn Ambrosius vereinzelt auf die Kranken in der Endzeitrede des MatthäusEvangeliums eingeht.119 Der Schwerpunkt der Kommentierung lag für den Bischof offenbar auf der einen Seite darin, die Ausrichtung des 115
Ambr. in Luc. 7, 202: quod nullum debilitas corporis excludat a regno rariusque delinquat cui desint inlecebra peccandi. 116 Zur propädeutischen und auch negativen Bewertung der historischen bzw. Lite ralInterpretation bei Ambrosius vgl. CORSATO 3140. 117
DÖNNIE 6 8 .
118
V g l . PIZZOLATO 2 4 4 2 5 2 , b e s . 2 4 7 ; CORSATO 4 0 4 9 .
119
Ambr. in Psalm. 118 serm. 8, 54 (CSEL 62, 184f.): sed et ille particeps Christi est, [...] qui ad ledum aegrotantis adsidet, non ut capiendae hereditatis tendat aucupium, sed ut morbi vim sollicito mitiget ministerio, ut sedulo fessum sermone demulceat.
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Lebens eines Christen zu formen, und auf der anderen Seite darin, po litisch notwendige Hilfsmaßnahmen wie Gefangenenbefreiung oder aktuelle moralische Fragen wie Askese oder Formung des Witwenund Jungfrauenstandes zu besprechen. Die Kranken sind in seiner Exegese ein Randthema.
2. 2. Pflichten gegenüber den Kranken? - De Officiis Ambrosius erwähnt die Kranken in seiner Schrift de officiis an vier Stellen. Diese Textstücke sollen in den folgenden vier Abschnitten innerhalb ihres jeweiligen Zusammenhangs vorgestellt und analysiert werden.
2. 2. 1. Warum misericordial Zu Beginn seines Werkes teilt Ambrosius die Pflichten, officia,120 in mittlere und vollkommene, media und perfecta ein. Zu den vollkommenen Pflichten zählt die misericordia.121 Sie mache vollkommen, da sie den vollkommenen Vater nachahme, und sie sei sogar eine der vornehmsten Pflichten, da man sich durch die praktizierte Barmherzigkeit als wahrer Christ erweise. Daher solle man „die Erzeugnisse der Natur, die die Früchte der Erde fur alle hervorbringt, für ein Gemeingut halten" und „das, was du hast, einem Armen schenken und [sc. auf diese Weise] den unterstützen, der Gestalt und Los mit dir teilt." 122 120
Zum Ausdruck officium im christlichen Schrifttum SAUER 9 (mit 2 1 7 Anm. 52); Aug. epist. 82, 21. Vgl. zu Ambrosius' Rechtfertigung der Wortwahl Ambr. off. 1, 25f. Zur Wortwahl Ciceros vgl. POHLENZ 14f. mit Anm. 2; HÄRTUNG behandelt officium nicht (vgl. aber 160-163 mit Anm. 2). 121 Der Ausdruck findet sich in Ciceros Pflichtenlehre - stoischer Lehre und Tradition folgend - nicht; vgl. BECKER 80f., bes. 81: „Misericordia ist bei Ambrosius aber auch und vor allem Synonym zu beneficentia [...]" mit Belegen und SAUER 1 ΟΤΙ 12. 122 Ambr. off. 1, 38.
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Die misericordia ist aber auch dem Gebenden von Nutzen, denn: „Wenn du einen Nackten bekleidest, ziehst du dir selbst das Kleid der Gerechtigkeit an; wenn du einen Fremden unter dein Dach fuhrst, wenn du einen Bedürftigen aufnimmst, verschafft dir jener die Freundschaft der Heiligen und die ,ewigen Zelte'. Dieser Lohn ist ι
nicht geringfügig: Du säst Körperliches und empfängst Geistiges." Es ergeben sich drei Gründe dafür, warum sich Christen um die Armen und unter ihnen um die Kranken oder Schwachen sorgen sollen. 1) Die Einteilung in vollkommene und mittlere Tugenden entspricht der stoischen Trennung in κατόρθωμα und (μέσον) καθήκον. 124 Während jedoch Cicero seine der Einleitung folgenden Ausführungen ausdrücklich nicht auf das perfectum officium bezieht,125 betont Ambrosius, das perfectum officium sei das Ziel eines jeden Christen.126 Nach ihm ist misericordia der Versuch der Christen, 1Ί1 sich einer Eigenschaft des göttlichen Vaters anzunähern.
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Ambr. off. 1, 39; vgl. die Parallelen zur Endzeitrede des Mt-Evangeliums (Mt 25,31-46). 124
Cicero gibt zwei Einteilungen, zunächst off. 1, 7: unum genus est, quodpertinet ad finem bonorum, alterum, quod positum est in praeceptis, quibus in omnes partes usus vitae conformari possit; Cicero will sich mit dem Zweiten beschäftigen. Eine zweite Einteilung folgt in off. 1, 8: atque etiam alia divisio est officii, nam et medium quoddam officium dicitur et perfectum. 125 Vgl. die vorige Anm. und Cie. off. 3, 14: haec enim officio, de quibus his libris disputamus, media Stoici appellant; ea communia sunt et late patent [...]. illud autem officium, quod rectum idem appellant, perfectum atque absolutum est et, ut idem dicunt, omnes numeros habet nec praeter sapientem cadere in quemquam potest so wie DYCK 78f.; zum Ausdruck omnes numeros habet ebd. 513f. 126 Zur Verschiebung der Begriffe medium und perfectum officium durch Ambrosius vgl. K. ZELZER 181 f.; HlLTBRUNNER (1964) 185. 127 Vgl. Lc 6, 36; Mt 5, 48. SAUER 11 zu off. Ambr. 1, 36f.: „Officium perfectum [...] ist imitatio Christi." Zu einer zweiten Definition von officium medium und perfectum durch Ambrosius in off. 3 , 1 0 vgl. SAUER 1 lf.
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Ι Λ Ο
2) Die menschliche Gemeinschaft verbindet; daher ist der Christ verpflichtet, die fur alle entstehenden Erzeugnisse der Natur auch allen zur Verfügung zu stellen. 3) Misericordia übt man nicht um ihrer selbst willen. Denn wer barmherzig ist, tut dies nicht nur aus Barmherzigkeit, sondern weil er sich einen jenseitigen Vorteil davon erhofft. Ambrosius verdeutlicht dies an einer späteren Stelle, an der er über das richtige Maß der misericordia spricht. Ziel sei nicht, die eigenen Verwandten zu bereichern, sondern sich durch die Frucht guter Werke das ewige Leben zu erwerben und sich um den Preis der Barmherzigkeit von den Sünden loszuI 90
kaufen. Man hat allerdings auch beobachtet, dass Ambrosius, durchaus im Geiste Ciceros, ebenso diesseitigen Ruhm einkalkuliert hat. 130 Bei der Begründung für christliche misericordia finden aber auch die Kranken selbst Erwähnung, denn Ambrosius nennt das Exemplum des Hiob: 131 Mirare virtutem eius qui poterat dicere: Oculus eram caecorum, pes claudorum. Ego eram infirmorum pater, velleribus agnorum meorum calefacti sunt humeri eorum. Foris non habitabat peregrinus, ostium autem meum omni venienti patebat (Jb 29, 15f.; 31, 128
Cie. off. 1, 20 De tribus autem reliquis latissime patet ea ratio, qua societas hominum inter ipsos et vitae quasi communitas continetur; cuius partes duae, iustitia [...] et huic coniuncta beneficentia und besonders 1, 22 [...] quae in terr is gignantur, ad usum hominum omnia creari, homines autem hominum causa generates, ut ipsi inter se aliis alii prodesse possent, in hoc naturam debemus ducem sequi, communes utilitates in medium adferre, mutatione officiorum, dando aeeipiendo, tum artibus, tum opera, tum facultatibus devincire hominum inter homines societatem. Vgl. auch 1, 46. 129 Ambr. off. 1, 150: Neque enim propterea te Domino dicasti ut tuos divites facias sed ut vitam tibi perpetuam fruetu boni operis acquiras et pretio miserationis peccata redimas tua. Vgl. SAUER 94; DAVIDSON 2,484. 130 SAUER 94 mit Hinweis auf Ambr. off. 2, 68 [...] quanto illud praestantius si dilectionem multitudinis liberalitate acquiras [...]. 131 Zu Hiob bei Ambrosius vgl. oben Abschnitt 2. 1. 1; THAMIN 249 sieht in Hiob das ambrosianische Äquivalent zu Atilius Regulus; vgl. Rossi 160 Anm. 47.
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20. 32). Beatus plane de cuius domo numquam vacuo sinu pauper exivit neque enim quisquam magis beatus quam qui intellegit super pauperis necessitatem et infirmi atque inopis aerumnam. Bewundere die Tugend des Hiob, der sagen konnte: ,Ich war das Auge der Blinden und der Fuß der Lahmen. Ich war der Vater der Schwachen, mit den Fellen meiner Schafe sind ihre Schultern gewärmt worden. Draußen wohnte kein Fremder, sondern meine Tür stand jedem offen, der kam.' Wahrlich selig [ist der], von dessen Haus niemals ein Armer mit leerer Tasche fortging, denn keiner ist seliger als der, der ein Auge hat fur die Not des Armen und für die schwere Lage des Schwachen und Mittellosen. 132
Die Armen, pauper es, sind der Oberbegriff für alle Bedürftigen, 133 die Zielgruppe der christlichen misericordia. Ambrosius führt nach der Erwähnung dieses Oberbegriffes verschiedene Einzelfälle von Armut im christlichen Verständnis an: Nacktheit, Fremdheit, Bedürftigkeit. 134 Diese biblisch geprägten Beispiele werden gefolgt von dem Exemplum des Hiob, das belegen soll, wie wenig diesseitiges Wohlergehen über das jenseitige Los der Menschen aussagt. Im Kontext des Hiobzitats werden auch körperliche Gebrechen genannt: Lahmheit, Blind132
Ambr. off. 1, 39. Vgl. PLETRL 277f. ,Armut' und ,Arme' sind in der frühchristlichen Literatur vielschichtige Begriffe, denn sie können im biblischen Sinn auch die Bedeutung von ,Niedrigkeit' haben (vgl. z.B. D. MICHEL 73; KECK 76-80); eine terminologische Genauigkeit, die der Sonderbedeutung der unterschiedlichen lateinischen Bezeichnungen von Armut im paganen Schrifttum gerecht wird (vgl. BOLK.ESTEIN 327-329 zu den Begriffen pauper, egens, inops, tenuis), wird man daher nicht erwarten. Für Tertullian wurde die uneinheitliche Anwendung der Armuts-Termini - trotz seiner Kenntnis der Bedeutungsunterschiede - festgestellt (SCHÖLLGEN 258f.). Ambrosius expliziert sein Verständnis von Armut daher an dieser Stelle. Vgl. zu einer Differenzierung in juristischen Texten GRODZYNSKI mit interessanten Beobachtungen (vor allem 151f. [egestas, inopia]; 153 [miser]; 157 [tenuiores]; 160 [mediocris]·, 211). 134 Vgl. Mt 25, 35f.: ξένος ήμην και συνηγάγετέ με, γυμνός και περιεβάλετέ με. Zu einer ähnlichen Reihe vgl. Ambr. off. 2, 109; zur Aufnahme von Fremden als Zeichen der Caritas' und der Gleichsetzung des Fremden mit Christus vgl. G A U D E ΜΕΤ 345. 13j
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heit135 und Schwachheit. Ambrosius kommentiert das Zitat mit der Bemerkung, dass es wichtig sei, die aerumna infirmi, die schwere La ge des Schwachen, zu berücksichtigen. Welche Schlüsse kann man aus diesem Abschnitt ziehen? Zunächst stellt man fest: Ambrosius gebraucht weitgehend biblische Formulierungen; aus der Endzeitrede des Matthäus hat er aber die Kranken ausgespart. Selbst in stereotypen Formeln sind also die Kranken nicht wirklich präsent. So kurz und knapp die Bemerkungen des Ambrosius sind, sie deuten andererseits doch an, dass die Armen und unter ihnen auch die Kranken und Schwachen in die stoischchristliche Pflichtenlehre des Mailänder Bischofs Eingang gefunden haben. Dies ist ein Unterschied zu Cicero: Weder in der Hinfuhrung 1, 11-17, in der er die Kardinaltugenden vorstellt, noch in der Einleitung zur zweiten Tugend 1, 20-22, die er in iustitia und beneficentia unterteilt, finden Arme oder Kranke Erwähnung.
2. 2. 2. Sind Kranke Arme? Eine systematische und ausführlichere Explikation des Begriffs der pauperes durch Ambrosius verspricht die zweite Stelle, an der er die Kranken erwähnt. Von entscheidender Bedeutung für die Rolle des Kranken bei Ambrosius ist nämlich seine Behandlung der Tugend beneficentia im ersten Buch von de officiis.136 Die beneficentia, Wohltätigkeit, unterteilt Ambrosius in benevolentia und liberalitas, Wohlwollen und Freigebigkeit. Beides, Gesinnung {bene ν eile) und Tat (bene facere), müsse miteinander einhergehen, damit die beneficentia zur vollkommenen Tugend werde.137 135
Diese Leiden werden auch biblisch häufig zusammen genannt; sie galten als sehr bedauernswert, und Jesus bezog sie in seine Heilstätigkeit mit ein (vgl. LESKY 440f.443446). 136 Ambr. off. 1, 143174; vgl. SAUER 92102. 137 Ambr. off. 1, 143; vgl. BECKER 72. Das schließt eine unterschiedliche Wertung nicht aus, vgl. ebd.: „aber das Bestimmende ist für ihn eindeutig die benevolentia.
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Ambrosius gibt zunächst einige Richtlinien, die die beneficentia » TO
leiten sollen. Sie soll nicht mit betrügerischer Absicht und nicht aus Prahlsucht139 geübt werden, und sie soll sich an den konkreten Um ständen der Notlage 140 orientieren. Dabei hält sich Ambrosius in Grundzügen an Cicero, der bei der Aufzählung der cautiones, die für liberalitas bzw. benignitas zu beachten seien, ebenfalls betont, man solle nicht mit der Absicht zu schaden (nocere) oder aus Ruhmsucht (gloria, ostentatio)141 Wohltaten erweisen. Die dritte cautio bezieht auch bei Cicero den Empfanger und konkrete Umstände mit ein. 142 Ambrosius nennt anschließend die Zielgruppen für die beneficentia (off. 1, 148159). An erster Stelle stehen die Glaubensgenossen, fideles, domestici fidei oder iusti. Sie verdienen vor allem die beneficentia der Christen,143 als zweite Gruppe werden die näheren Famili enangehörigen, proximi seminis tui, genannt.144 Eine dritte Gruppe umfasst die (Priester)Kirche.145 Sie ergänzt nicht nur die liberalitas, sie ist die Quelle (bonus fons), aus der diese hervorgeht, die Voraussetzung, die die gute Tat überhaupt erst zu einer solchen macht." 138 Fides ist die erste, hier wohl als ,Aufrichtigkeit' zu verstehen, denn sie wird der fr aus, dem Betrug, gegenübergestellt (Ambr. off. 1, 144-146; vgl. 146: Hoc primum quaeritur ut cum fide conferas, fraudem non facias oblatis [...]). 139 Misericordia ist die zweite Richtlinie, sie wird durch ihr Gegenteil iactantia, Prahlerei, näher bestimmt (Ambr. off. 1, 147). 140 Als weitere Gesichtspunkte für die Verwirklichung von beneficentia sind hier fides (jetzt als Glaubwürdigkeit zu verstehen), causa, locus und tempus genannt (Ambr. off. 1, 148). 141 Cie. off. 1,42-44. 142 Cie. off. 1, 45: Ein dilectus dignitatis wird gefordert, der die mores des Empfängers, den animus erga nos, die communitas ac societas vitae sowie die ad nostras utilitates officia ante collata in die Entscheidung mit einbeziehen soll. 143 Ambr. off. 1, 148. Es folgt off. 1, 149 eine kurze Bemerkung, mit der Ambrosius daraufhinweist, besonders müsse die misericordia dann zur Geltung kommen, wenn die Sachlage klar und die Person bekannt seien sowie wenn die Zeit dränge. 144 Ambr. off. 1, 150. 145 Die Gliederung ist äußerst undurchsichtig. Einer Warnung vor habgierigen Verwandten folgt der Satz consilium prompsimus, auetoritatem petamus, dessen Bezugspunkt nicht ganz klar ist. Es schließt sich zumindest 1, 151 ein Einschub an, in dem Ambrosius erneut die Interdependenz von benevolentia und liberalitas hervor-
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In einem verhältnismäßig kurzen Abschnitt folgen drei weitere Personengruppen, die die liberalitas der Christen fur sich beanspruchen dürfen: Consideranda etiam in largiendo aetas atque debilitas - nonnumquam etiam verecundia quae ingenuos prodit natales - ut senibus plus largiaris qui sibi labore iam non queunt victum quaerere. Similiter et debilitas corporis, et haec iuvanda promptius; tum si quis ex divitiis cecidit in egestatem et maxime si non vitio suo sed aut latrociniis aut proscriptione aut calumniis, quae habebat amisit. Beim Geben sollen auch Alter und Gebrechlichkeit berücksichtigt werden sowie zuweilen auch die Würde, die Menschen von vornehmer Geburt erkennen lässt, so dass du den Alten mehr gibst, die sich ihren Lebensunterhalt nicht mehr durch Arbeit beschaffen können. Ebenso auch die körperliche Gebrechlichkeit, auch sie muss bereitwilliger unterstützt werden; dann: Wenn einer seinen Besitz verloren hat und in Armut geraten ist, und besonders, wenn dies nicht durch sein eigenes Verschulden geschehen ist, sondern er entweder durch Raub oder durch Ächtung oder durch falsche Anklagen das, was er besaß, verloren hat.146 Eine letzte Gruppe, der man in besonderem Maß beneficentia schuldet, sind diejenigen, von denen der Christ selbst Wohltaten empfangen hat. 147 Die Bedeutung dieser Stelle wird erneut im Vergleich mit Cicero deutlich. Auch er stellt Überlegungen darüber an, welche Reihenfolge beim Erweisen von Wohltaten beachtet werden soll. Er legt verschiehebt. Das Schriftzitat 2 Cor 8, 11-15, das er zur Begründung heranzieht, wird im Anschluss auf verschiedene Weise interpretiert; wenn er 1, 153 ,de personis' eine Gruppe, die einen materiellen Überfluss hat, einer anderen Gruppe, die einen spirituellen' Überfluss hat, gegenüberstellt und die gegenseitige Hilfe beider propagiert, liegt die Gemeindesituation nahe. Vgl. auch TESTARD (1984) 258 Anm. 28, der an monastische Kreise denkt. 146 147
Ambr. off. 1, 158. Ambr. off. 1, 160-164.
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dene Kriterien zugrunde, etwa die Liebe (